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BINDING T.TST OCT 1 1951
ARCHIV
FÜR DAS STUDIUM DER NEUEREN
SPRACHEN UND LITERATUREN
BEGRÜNDET VON LUDWIG HERRIG
HERAUSGEGEBEN VON
ALOIS BRANDL UND OSKAR SCHULTZ-GORA
73. JAHRGANG, 139. BAND
DER NEUEN SERIE 39. BAND
BRAUNSCHWEIG UND BERLIN
DRUCK UNDVERLAG VON G E 0 R G WE ST E R M A N N
1919
Inhalts -Verzeichnis des 139. Bandes
der neuen Serie 39. Bandes
Abhandlungen ^^^^
Albert Ludwig, Homuiiculi und Androiden. III. (Scliluß) 1
Ludwig Geiger, Ludwig Börne und Rahel Varnlia};en 26
T. ü. Aclielis, Zu Lessings Aufsatz Romulus und Rimicius 137
M. Konrath, Eine altengliscbe Vision vom Jenseits ' . . . . 30
Fritz Fiedler, Dickens' Gebrauch der rhythmischen Prosa im ^jShristmas carol' . . 47
Georu Herzfeld, August Wilhelm Schlegel in seinen Beziehungen zu englischen Dich-
tern und Kritikern 149
Bernhard Fehr, John Keats im Lichte der neuesten Forschung 163
G. Cohn, Bemerkungen zu 'Adolf Tobiers A,ltfranzös. Wörterbuch', Lieferung 1 u. 2 . . 51
Leo Jordan, Die Frage der Echtheit von Cyrano Bergeracs Sonnenreise. — Die Sonnen-
reise und die Sssays ron Montaigne. II. (Schluß) 72
Felix Rosenberg, tioethes 'Braut von Corinth' in Frankreich 179
H. Jarnik, Zur Interpretation von I. Creangä's Harap Alb. 111. (Schluß) 198
Kleinere Mitteilungen
Zu einem Briefe Goethes. Von Ludwig Geiger (j) ,. . . . 83
Tiecks Shaktspeare-Buch : ein neuer Fund. Von H.Lüdeke 210
Venantius Fortunatus und die ags. Elegien 'Wanderer' und 'Ruine'. Von A. Brandl . 84
Ein staatsiechtlichcr Satz .ällfrics aus lateinischer Quelle. Von F. Liebermann ... 84
Ansprache am Shakespeare - Tag im Deutschen Theater zu Benin 1919. Von Hermann
Kügler 85
Eine Vorahnung von Flugzeug und U-Boot Von F. Lieberniann 87
An Prof. Frederic J. Carpenter, Barrington, Illinois. Von A. Brandl ....... 213
Byroniana 111. Der Vtrfasser des Uriel. Von Fr. Bader 214
Randnoten zu Emil Levys provenza'ischen Wörterbüchern (Nr. 1 — 8). Von Adolf Kolsen 87
F>z. fletirs = fltiores? Von L. Spitzer 89
AltproT. lieis. Von M. L. Wagner . 94
Lat. fundibvhmi > * funibulum und intestinae > istentinae. Von M. L. Wagner ... 96
Sobre el castellano enhiesto. Por Vicente Garcia de Diego 96
Berichtigung. Von LeoSpitzer 97
Hur can von der Hell. VonW. Mulertt 217
Ein provenzalisches Sprichwort. Von O. Schul tz-Gora 222
Cleomades-Fragmente. Von KarlChrist 222
Zum Planch des Bertnm Oirbonel. Von O. Schultz-Gora 225
Italienisches zum Tartuffe. Von Max J. Wolf f 226
Von Goethe über Heine zu Victor Hugo. Von ErichLoewenthal 227
Beurteilungen und kurze Anzeigen
Josef Eisenmeier, s. Anton Marty.
Friedrich G und Ol f, Goethe. (Albert Ludwig) 228
Daniel Jones, An outline of English phonetics. (A. Brandl) 98
Alfred Kastil s. Anton Marty.
W. J. Keller, Goethe's estimate of the Greek and Latin writers as revealed by bis works,
Ifttters, diaries, and conversations. (Albert Ludwig) 232
Oskar Kraus, s. Anton Marty.
Anton Marty, Gesammelte Schriften, herausgegeben von Josef Eisenmeier, Alfred
Kastil, Oskar Kraus. I.Band, 1. Abteilung. — 1. Band, 2. Abteilung. Schriften
zur genetisclien Spraehpliilosophie. — 2. Band, 1. Abteilung. Schriften zur deskrip-
tiven Psychologie und Sprachphilosophie. (Beruhard Fehr) 100
Bernhard Fehr, Studien zu Oskar Wildes Gedichten. (Friedrich Brie) 237
II Codice Vercellese con' onfelie e pnesie in hngua anglosassone, per concessione del ven.
C'ipitoo Metropolitano di Vercelli, la prima volta fnteramente riprodotto in fototipia,
a cura delia Bibliotheca Vaticana, con introduzione del Prof. Dott. Massimiliano Foerster
dell'Uu.versitä di Lipsia. (Wolfgang Keller) 23S
III
Seite
Harnlfl Lindkvist, s. Richard Bolle.
Richard Rolle's Meditatio de passicuie Domini according to ms. Uppsala C 494 edited with
iutroduction and notes by Harald Lindkvist. (F. Liebermann) 235
Karl Arnholdt, Die Stellung des attributiven Adjektivs im Italienischen und Spanischen.
(EuLen Lerch) 242
Helene Burkhardt, Studien zu Paul Hervieu als Romancier und als Dramatiker. (Kurt Glaser) 258
R. E. Curtius, Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich. (\^ Klemperer) . 256
Dautis Alagherii De monarchia libri III rec. Ludovicus Bertalot. Friedrichsdorf in monte
Tauno apud 1-rancofurtum apud editorem. (Berthold Wiese) . 120
E. Gamillscheg und L. Spitzer, Die Bezeichnungen der Klette im Galloromauischen.
tK. Jaberg) 110
Walther K Dehler, Romain Rolland, Henri Barbusse, Fritz von Unruh. (H. Geizer) . . 258
Paul Lehmann, Aufgaben und Anregungen der lateinischen Philologie des Mittelalters.
(F. Liebermaun) 259
Carl Reinholdt, Die Wundergeschichten des Cod. Pal. germ. 118. (Alfons Hilka) . . 261
Werner von der Schulenburg, Ein neues Porträt Petrarcas. (Berthold Wiese) . . . 121
L. Spitzer, s. E. Gamillscheg.
E. \Valberg, Quelques remarques sur l'ancien fran^ais 'ne garder Teure que .,.'.
(O. Schultz-Gora) 116
Alice Weil , Die Sprache des Gilles de Chin von Gauthier de Tournay (Laut- und Flexions-
lehre). (Alfred Pillet) 106
Verzeichnis der bei der Redaktion eingelaufenen Druckschriften,
mit folgenden kurzen Anzeigen:
Allgemeines
Th. Litt, Geschichte imd Leben. Von den Bildungsaufgaben geschichtlichen imd sprach-
lichen Unterrichts 123
Max Lenz, Für die Hamburgische Universität 123
Mitteilungen des Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums, hg. vom Vereins-
vors^tand, redigiert vom Schriftführer S. frankfurter 124
Sieben -Sprachen -Wörterbuch : deutsch, polnisch, russisch, weißruthenisch, litauisch, let-
tisch, jiddisch, hg. im Auftrage des Oberbefehlshabers Ost 124
Neuere Sprachen
Beiträge zur Literatur- und Theatergeschichte, Ludwig Geiger zum 70. Geburtstag (5. Juni
1918) als Festgabe dargebracht . 124
C. G. Brandis, Beiträge aus der Universitätsbibliothek zu Jena zur Geschichte des Re-
formationsjahrhunderts • 128
Luise Sigmann, Die englische Literatur von 1800 — 1830 im Spiegel der zeitgenössischen
deutschen Kritik 128
Heinz Kindermann, Hermann Kurz und die deutsche Übersetzungskunst im 19. Jahr-
hundert . . 128
Germanisch
Gr. Neckel, Studien zu den germ. Dichtungen vom Weltimtergaug 129
Niederländisch
V. Ziegesar, Niederländischer Sprachführer mit besonderer Berücksichtigung der flämi-
schen Mundart. Taschenwörterbuch für Reise und Haus . . i 129
Deutsch
Ernst Wasserzieher, Woher? Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache . . 129
Otto L. Jiriczek, Seifriedsburg und Seyfriedsage 130
Dar kloane Catechismo von z'Böloseland, vorträghet in z'gapr^cht von Siben Kameün un
a viar halghe Gasang 130
F. Lienhard, Einführung in Goethes Faust 131
R. Höniger, üas Deutschtum im Ausland vor dem Weltkrieg. 2. Aull 131
Christian F. Weiser, Das Auslanddeutschtum und das Deutsche Reich. Betrachtungen
und Vorschläge 131
Englisch
Sir Degrevant, hg. von Karl Luick 133
E. Vettermann, Die Baien-Dichtungen und ihre Quellen 133
Hedwig Reschke, Die Spenserstanze im 19. Jahrhundert 133
IV
Ssite
Kftrl Reuning, Das Altertümliche im Wortschatz der Speiisenmchahmungen im 18. Jahr-
hundert 134
Shakespeare in deutscher Sprache, hg., zum Teil neu tibersetzt von Friedrich Gundolf.
X.ßand -. 134
Walther Fischer, Die persönlichen Beziehungen R. M. Milnes', ersten Barons Houf-hton,
zu Deutschland, unter besonderer Berücksichtigung seiner Freundschaf t mitVarnhagen
van Ense 135
W. B. Yt-ats, Das Land der Sehnsucht (The land of heart's desire), ein dramatisches
Märchen in einem Aufzug, aus dem Irischen übertragen von F. Weekley imd E. L.
Stahl 131)
Gustav Krüger, Unenglisches Englisch. Eine Sammlung der üblichsten Fehler, welche
Deutsche beim Gebrauch des Englischen machen. 2. stark verm. Aufl 136
A. Brandeis und Th. Reitterer, A first Eiiglish primer . 136
Englisches Tornisterwörterbuch mit genauer Angabe der Aussprache. 4. Aufl 136
Romanisch
W. V. Wartburg, Zur Benennung des Schafs in den romanischen Sprachen 265
Karl Ritter v. Ettmayer, Vademecuin für Studierende der romanischen Philologie . . 265
Elise Richter, Fremdwortkunde 266
Eug. Lerch, Die Verwendung des romanischen Futurums als Ausdruck eines sittlichen
Sollens ■ 267
Französisch
Repetitorien zum Studium altfranzösischer Literaturdenkmäler, hg. von K. v. Ettmayer.
Nr. 2: E. Winkler, Das Rolandslied 269
E. Platz, Les noms fran^ais ä double genre 269
A. Zünd-Burguet, Exercices pratiques et m^thodiques de prononciation fran^aise.
Deuxiöme (^dition revue et corrig^e par H. Wen gl er 270
Provenzalisch
A. K Olsen, Zwei provenzalische Sirventese nebst einer Anzahl Einzel Strophen .... 270
Spanisch
L. Spitzer, Katalanische Etymologien 271
Homunculi und Androiden.
(Schluß.)
III. Die Epigonen.
Die Typen der künstliclien Menschen waren durch die Romantik
geschaffen, die Folgezeit hat nichts wesentlich Neues hinzu-
getan, aber sie hat die einmal eröffnete Bahn auch nicht wieder
verlassen: von Zeit zu Zeit ist immer wieder ein neuer Vertreter
des Geschlechts hier oder dort aufgetaucht, und neuerdings sind
sie sogar wieder ziemlich häufig geworden. Das hängt mit den
Zeitströmungen zusammen. Goethes Homunculus, Tiecks Vogel-
scheuche waren schon zu spät gekommen, um unmittelbar als
dichterische Erzeugnisse gewürdigt zu werden: die dreißiger
Jahre sahen eine gründliche Abwendung von der Romantik, man
war der Phantastereien müde, die Dichtung sollte der Zeit dienen.
Von ihr aber führte jetzt kaum noch eine Brücke zu diesen Erfin-
dungen: in der Philosophie herrschte ein stolzer Idealismus; wer
sich gesättigt hatte an Hegeischen Gedanken, der brauchte sich
nicht mehr zu wehren gegen das Gefühl, als bloße Puppe an einem
verborgenen Draht gelenkt zu werden: die souveräne Freiheit
des menschlichen Geistes schien ein für allemal festgestellt. Und
doch hat selbst diese Zeit, die Wende des vierten und fünften
Jahrzehnts, ihren Homunculus: die Gestalt eignete sich doch gut
dazu, das Gemachte, Künstliche im gesellschaftlichen und lite-
rarischen Leben zu verspotten: ein derber Humor konnte die
Nöte eines chemischen Leibes, dessen Bestandteile auch andere
Auffrischung nötig haben, als Speise und Trank sie gewöhn-
lichen Menschenkindern gewähren, wirkungsvoll schildern, die
geistige Bildungsgeschichte eines solchen Wesens war wie ge-
funden, um äußerliche Abrichtung bloßzustellen. Aber hätte ein
Geschlecht, das vom Roman die Spiegelung seines bürgerlichen
Lebens zu verlangen begann, inmitten der Gestalten der Wirk-
lichkeit sich ein Erzeugnis des Laboratoriums gefallen lassen? Es
scheint mir bezeichnend, daß der erste nachgoethische 'Munkel'
der Held von Tmmermanns Münchhausen ist; seine absonder-
liche Herkunft ist also eine seines Namens ^^äirdige geniale Auf-
schneiderei.
Wenn die Verhältnisse in Deutschland der dichterischen Ge-
staltung des Automaten- und Homunculussymbols nicht sehr
günstig waren, so konnte ein anderes Land als ein eher geeigneter
Boden erscheinen. Die dreißiger und vierziger Jahre sahen bei
uns ein erstes Erstarken der Industrie; ihre Heimat war Eng-
land, und wer hellsichtig in den deutschen Fabrikherren und
Archiv f. n. Sprachen. - 139. 1
2 Homuneuli und Androiden
Großkaufleuten die kommende maßgebende Macht sah, der konnte
in englischen Zuständen wie im Spiegel die Zukunft des eigenen
Volkes erschauen. Auch hier begegnen wir Immermann in un-
serem Stoffkreise; es ist charakteristisch, daß er im Tulifäntchen
einen Engländer als Ersinner und Erbauer jener ehernen Mauer
einführt, die das Schloß des Riesen Schlagadodro umgibt. Aus ge-
waltigen Platten ist sie ohne Nägel, ohne Schrauben zusammen-
gefügt; ein einziger dünner Stift, im Schwerpunkt ins Scharnier
eingesetzt, hält sie: 'das Jahrhundert will Ersparnis aller über-
fiüss'gen Kräfte'. Den Stift kann aber ein Däumling entfernen,
und dann stürzt der mechanische Riesenbau zusammen und er-
schlägt Besitzer und Erbauer. — Richard M. Meyer hat in Karl
Immermann. Eine Gedächtnisschrift (Hamburg u. Leipzig 1896)
dargelegt, wie hier in einem Symbol die furchtbare Abhängigkeit
sich spiegelt, in die eine hochentwickelte Technik den Menschen
von dem allerunbedeutendsten Zufall bringt. Der Erbauer des
AVunderwerkes wird seines 'maschinengrübeltiefen Volkes tiefster
Grübelmaschinist' genannt und rechtfertigt die Bezeichnung da-
durch, daß er sich zu seiner persönlichen Bedienung einen 'Dampf-
bedienten' und eine ihm förmlich angetraute 'Dampffrau' gemacht
hat; ganz wie Menschen sehen sie aus und gehaben sich auch so,
nur der Dampf, der aus einer Röhre am Hinterkopf entweicht,
verrät ihr Wesen. 'Sieh, so hoch stieg die Mechanik in Alt-Eng-
land,'meint der Dichter — wir aber dürfen an Ruskins Groll über
die utilitarische Wirtschaftslehre und ihre Auffassung des Ar-
beiters als Automaten denken (Unto this last § 8), um zu ermessen,
wie treffend unseres Dichters Satire ist. Noch war sie Warnung,
wies auf England als abschreckendes Beispiel — in Deutschland
handelte es sich erst um Anfänge des Industrialismus, dessen Ge-
fahren das Volk der idealistischen Philosophie noch von sich ab-
wenden mochte.
Aber der Stern Hegels sank; das Zeitalter der Naturwissen-
schaften zog herauf, und ihre Erfolge richteten in den Köpfen
bedenkliche A^erheerungen an. Ein populärer Materialismus be-
gann viel weitere Kreise zu ziehen als jemals der alte: die Leute
waren ja bildungsbeflissen geworden, und die Kirche hatte nicht
mehr die Macht über die Gemüter wie trotz allem noch zu den
Zeiten Lamettries. Wenn Kraft und Stoff die Welt regierten,
dann lag abermals für die Satire das Symbol nicht fern: H am er-
lin g hat es in den Mittelpunkt seiner großen Dichtung Homun-
kulus (1888) gestellt.
Ein satirisches Epos, bei dem Atta Troll Pate gestanden hat,
aber vom letzten 'freien Waldlied der Romantik' trennt es ein
Zeitalter des Realismus: verschwunden ist der Märchencharakter
des Liedes von den Taten und Meinungen des großen Pyrenäen-
Homunculi und Androiden 3
baren; die Phantastik ist nicht geringer geworden, aber sie ent-
stammt der etwas kalten Phantasie eines Zeitalters der Technik.
Auch dies Zeitalter hat seine Romantik geboren, und von ihren
Erzeugnissen wird weiter unten die Rede sein; Hamerlings Ho-
munhulus gehört nicht dazu, weil sein Dichter den Geist seiner
Zeit bekämpfen, aber sich nicht von ihm poetisch befruchten
lassen wollte. Trotzdem weht durch die Erfindungen des Ge-
dichts nicht bloß der Hauch der Satire: wenn es ernsthaft erzählt,
was im Rahmen des Immermannschen Münchhausen nur als über-
mütige Lüge möglich war, so dankt es das der Stimmung, die seit
den sechziger und vor allem den siebziger Jahren die Fortschritte
der Technik bereitet hatten.
Will man den Abstand des Homunkulus von romantischen Er-
findungen mit Händen greifen, so lese man die Episode des
zehnten Gesanges,^ in der der Held, selbst ein Homunkulus, andere
künstliche Wesen schafft. Er steckt einen Stab in die Erde, dem
er 'wie einem Metronom (nach Meltzl)' jeden Grad von Schwin-
gungsschnelligkeit zu geben versteht. Zunächst tönt der Stab,
dann erzeugt er Wärme, dann rotes, gelbes, grünes, violettes Licht,
bei Millionen und Billionen Schwingungen in der Sekunde treten
die Erscheinungen des Magnetismus, der Elektrizität auf:
'Und nachdem er in undenkbar- Er auch ein Homunkel, traun.
Schnellstem Schwung zuletzt erreichi Wenn auch auf ganz anderm Wege,
hat Auf unendlich kürzerm Wege
Jene Zahl von Billionen Hergestellt — ä la minute —
Schwingungen in der Sekunde, Als der andre, der ihn machte.
Deren Resultat das Leben, Froh der Vaterschaft war Munkel,
Reißt er von der Erde Grund sich Und in seinem Stolz, in seiner
Plötzlich los und — Läuft von Freude setzt' er in die Welt noch
dannen: Viele ähnliche Homunkel,
Denn er lebt — er lebt und denkt! Die in ihr umher nun laufen.'
Das ist ganz und gar die Lehre des Materialismus, nach der Leben
und Denken Bewegungsfunktionen des Stoffes sind — wie weit
stehen da Tiecks Vorstellungen von den siderischen und telluri-
schen Kräften ab, die Herrn von Ledebrinna zum Menschen
machen!
Eür den Helden selbst ist Hamerling einen andern Weg ge-
gangen: ein Gelehrter hat ihn wie Wagner in der Retorte her-
gestellt, das Erzeugnis ist aber bei weitem nicht so liebenswürdig
ausgefallen wie jenes in Fausts ehemaliger chemischer Küche, mit
dem es nur das Übergewicht der intellektuellen über die körner-
lichen Eigenschaften teilt — solche des Gemüts sind gar nicht
vorhanden. Der Erzeuger sieht ein, daß, wenn so ein Männlein in
die Welt passen soll, man besser die TTatur der Kunst helfen läßt;
5. Auflage (Hamburg 1896), S. 289.
4 Homunculi und Androiden
er hypnotisiert also sein Geschöpf, reduziert es im Tiegel wieder
auf das 'embryonale Urprinzip'; dieser erste 'Rein materiell er-
zielte, Destillierte LebensstofP' wird als 'Rationell gemischtes.
Zartes Protoplasma-Klümpchen' auf geheimnisvolle Weise in den
Mutterschoß einer armen Dorfschulmeisterfrau verpflanzt, und so
kommt denn 'Munkel' scheinbar wie ein anderes Menschenkind
zur Welt.
Jetzt ist das Experiment gelungen: bald eilt der junge Munkel
von einem äußeren Erfolge zum andern. Es ist ja die Zeit der
Gründerjahre, des Tanzes um das goldene Kalb: das ist der rechte
Boden für dieses Gewächs. Ein Produkt der Berechnung, des
Messens und Wagens, kennt er auch nichts andres, als was sich der
Berechnung fügt; bald sieht er, daß das Gold der große Wert-
messer ist, und wie er sich erst einmal über die zum Erwerb taug-
lichen Mittel klar ist, strömt es ihm überreichlich zu. Von seiner
Herkunft hat er zunächst keine Ahnung; es erinnert ein wenig
an Immermanns Münchhausen, wie er spürt, daß seine Moleküle
sich voneinander lösen wollen, wie sein Erzeuger ihn auf 'eng-
begrenztem Stoff- und Kraftweg' mit Salben, Salzen, Tinkturen
usw. wiederherstellt und ihm dabei sein Geheimnis enthüllt.
Über den ersten Schreck hilft die Überzeugung fort, daß der durch
Wissensmacht Geschaffene dem bloß Erzeugten überlegen sein
muß ; jetzt wird Munkel erst Lebenszweck, was er vorher nur aus
unbewußtem Trieb erstrebte. Er wird Gründer, bringt es zum
Billionär; der große Bankkrach kostet ihm zwar sein Vermögen,
öffnet ihm aber erst recht eigentlich freie Bahn, indem er ihn aus
den beengenden Verhältnissen des alten Europas löst. Nicht mehr um
den persönlichen Erwerb geht es ihm jetzt: er will den 'Homun-
kulismus im höchsten Stile verwirklichen'. So wandert er nach
Eldorado aus und wird dort zum Staatengründer: aus einem
Reiche der Unschuld macht er ein Reich der Seelenlosigkeit, das
nach chemisch-physikalisch-physiologischen Grundsätzen regiert
wird ; nachdem es zugrunde gegangen ist, stiftet er das Affenreich
der bloß intellektuellen, rein äußeren Bildung; als Judenkönig
will er der Messias des Verstandes werden, schließlich die Welt
zum Pessimismus überreden und den großen allgemeinen Selbst-
mord herbeiführen. Die Leute sollen eben sich nach seinem Bilde
formen; er weiß, daß ihm etwas fehlt, und das soll nun überhaupt
nicht mehr vorhanden sein. Freilich, die wirklich lebendigen
Kräfte der Menschenseele erweisen sich doch immer stärker als er:
Revolutionen stürzen ihn von seinem Herrschersitz, ein liebendes
Paar überläßt sich in seliger Selbstvergessenheit dem Willen zum
Leben und vereitelt damit alle Weltverneinungspläne. So zieht
sich denn Munkel in tiefste Einsamkeit zurück: das Wissen soll
ihm die Macht über die Menschheit geben ; aber als er seinem Ziel
Homunculi und Androiden 5
nahe zu sein scheint, erreicht ihn das SchicksaL Der Blitz trifft
sein lenkbares Luftschiff, steuerlos treibt er außerhalb des Be-
reiches der Schwerkraft im Äther, und nun, unwiderruflich der
Erde fern, sieht er, was irdisches Leben in seinem eigentlichen
Sinn bedeutet, erkennt er, was ihm gefehlt hat. Die Liebe ist
die große, schaffende Weltmacht, an ihr hat das Erzeugnis der
Retorte keinen Anteil, drum ist ihm Menschenleid und -freude
fremd geblieben, drum ist er gescheitert: Macht über Menschen
hat auf die Dauer eben nur einer, der selbst ein voller Mensch ist.
Die große Dichtung ist schwer befrachtet mit politischer, ge-
sellschaftlicher, philosophischer, literarischer Satire — gegenüber
all dem, was sich Hamerling vom Herzen schreiben wollte, tritt
das Motiv der Wesensart des Helden einigermaßen zurück. Munkel
ist zu sehr Sinnbild der Gründerzeit, zu sehr Typus des materia-
listischen Geld- und Machtjägers, um sich von seinesgleichen, die
aber keine Homunculi sind, wesentlich zu unterscheiden. Wenn
er seiner Art nach ein Zwitterding ist, so sollte er es doch dich-
terisch nicht sein: so ist er aber auf der einen Seite zu sehr
Mensch, auf der anderen wieder seelenloses Kunsterzeugnis, keines
von beiden ganz, und das läßt die Teilnahme an ihm nicht recht
erwarmen. Daß die Gestalt ganz andere Möglichkeiten barg,
wußte der Dichter; er stellt noch ein zweites MaP den Schöpfer
Munkels (der große Gelehrte ist übrigens nur ein flüchtiger
Schemen) seinem Geschöpf gegenüber, mit seinen mahnenden
Worten holt er sich aber eine gründliche Abfuhr:
'Hast du Kunde nicht vernommen Vampirgleich, gespenstig, plötzlich
Von Mohammed, dem Propheten, Vor ihn treten, eine Seele
Weshalb er, in Ton, in Farben Von ihm heischend — eine Seele,
Nachzubilden Mensehenwesen Und da er, der Stümper, ihnen-
Streng verboten seinem Volke? Diese nicht vermag zu geben,
Weil die Statuen, die Bilder, In geheimnisvoller Art sich
Lehrt er, von dem Mann, der frevelnd An ihm rächen, Unheil bringend
Nachgeäfft die schöpferische Und ihn ins Verderben stürzend!' . . .
Gottesurkraft, Menschen formend.
Aber bei dieser Andeutung bleibt es; der Meister gibt sich zu-
frieden und behält Munkels Geheimnis, das er enthüllen wollte,
für sich; das Motiv verpufft — dem Dichter war die satirische
Tendenz wohl wichtiger als ein tragischer Konflikt zwischen dem
Homunculus und seinem Erzeuger.
Es ist anziehend, zu sehen, wie Hamerling in der Art, wie er
sein chemisches Männlein entstehen läßt, an Goethe anknüpft,
dabei aber zu gleicher Zeit in mancherlei Erfindungen sich von
dem technischen Zeitalter, in dem er lebte, angeregt zeigt. ^ Es war
unausbleiblich, daß die gewaltigen Erfolge der Technik die Phan-
^ Gesang VII.
6 Homunculi und Androiden
tasie befruchteten: daß sie förmlich berauschend wirkten, zeigt
das Beispiel Jules Vernes, dessen große Erfolge in den sech-
ziger Jahren begonnen hatten. Hier war keine Rede von Satire:
ein guter Erzähler beutete ohne besonderen literarischen Ehrgeiz
die Fülle der Möglichkeiten aus, welche die Entwicklung der
Eisenbahnen und Dampfschiffe, der Luftschiffahrt, die Wunder
der Elektrizität und des Magnetismus eröffneten; behaglich folgten
die Leser ihm um, über und unter die Erde — mehr als einer
seiner Träume ist im Laufe der Zeit zur schier alltäglichen Wirk-
lichkeit geworden. Der Acker, auf dem er zunächst ziemlich
allein gepflügt hatte, wurde allmählich auch von anderen an-
gebaut, und zu den Themen, die sich diesen technischen Phan-
tasten anboten, gehörte auch dasjenige des Automaten. Der Zu-
sammenhang ist anders als einst in der Zeit der Romantiker: war
man damals von philosophischen Spekulationen ausgegangen,
hatte man sich anregen lassen von mechanischen Spielwerken, so
ging man diesmal von sehr nützlichen und prosaischen Beobach-
tungen aus. In der Technik spielte allerlei Automatisches eine
beträchtliche Rolle; man hörte von selbsttätigem Aus- und Ein-
schalten, von automatischen Sicherungen, im täglichen Leben sah
man überall, in Postämtern und auf Bahnsteigen, am Kaufmanns-
laden und im Vergnügungsgarten jene Kästen, die für uns heute
die Automaten schlechtweg sind, in den Straßen der Städte
tauchten die automatischen Restaurants auf: da ließen sich leicht
die Gedanken weiterspinnen — konnte man nicht allerlei nütz-
liche, aber manchmal auch lästige Lebewesen durch Automaten
ersetzen? Jetzt wurden Immermanns Dampfbediente zeitgemäß!
Schon Hamerlings Held umgibt sich^ mit allerlei Automaten;
ähnlich ist bei Anatole France^ der Gasthof mit automati-
scher Bedienung eine Erscheinung hochgesteigerter Kultur; sehr
hübsch ist eine Episode in einer Erzählung des Engländers G. K.
Chesterton:^ automatische Diener werden angepriesen 'a cook
who is never cross, a butler who never drinks, housemaids who
never flirt'. Das alles ist noch im Bereich der Möglichkeit; aber
wer gesehen hat, wie in eine rätselhafte Maschine vorn die weißen
Papierballen verschwinden, hinten die Tageszeitung fertig ge-
druckt und zusammengefaltet hervorkommt, der kann sich auch
allerhand Wunder aussinnen: Heinrich Seidel plaudert ein-
mal sehr ergötzlich von der eisernen Kuh, die Milch unmittelbar
aus Gras und Heu produziert: auf der einen Seite wird der
Futtertrichter mit Gras gefüllt, auf der anderen fließt aus einem
Rohr die köstlichste Milch, an einer besonderen Stelle gibt es
sogar Kuhdung (Kinkerlitzchen Nr. 3).
1 Gesang III. » L'ile des Pingoiiins S. 156 (1907).
^ In The invisible man (Sammlung The innocence of Father Brown).
Homunculi und Androiden 7
Der "Wettbewerb des mechanischen Kunsterzeugnisses mit dem
organischen Lebewesen ist nun nicht erst in dieser Zeit dichterisch
behandelt worden. Schon ein Andersensches Märchen, Die
Nachtigall, erzählt von einem Kaiser von China, der einen Wett-
gesang zwischen einer wirklichen Nachtigall und einem künst-
lichen Spielwerk veranstaltete. Er und sein Hof ziehen den
Kunstvogel vor, weil man ihn öffnen und sehen kann, wie die
Walzen sich bewegen; die wirkliche Nachtigall wird in Ungnade
verbannt. Freilich: eines schönen Tages versagt das Räderwerk
des Automaten, und niemand kann helfen; der Kaiser wird krank
und liegt von aller Welt verlassen zu Bett: da tönt ins Ohr des
Sterbenden sieghaft und trostreich das ewige Lied der Nachtigall.
Man sieht, der Märchendichter der Zeit des Vormärz ist opti-
mistisch; seine Satire trägt einen gutmütigen Zug, sein Humor ist
milde und freundlich. Das Hoffmannsche Grauen vor dem Auto-
maten liegt ihm fern; er spottet der guten Leute, die den Kunst-
ersatz der Sache vorziehen — sie tun es, weil sie selbst verbildet
und verkünstelt sind, während die schlichten Fischer gar wohl
merken, daß dem Gesänge der künstlichen Nachtigall der eigent-
liche Reiz fehlt, und der Sieg bleibt denn auch dem schlichten
Waldvogel.
Man wird, um den Wandel der Zeiten zu veranschaulichen,
dem Andersenschen Märchen eine moderne Geschichte von K. H.
Strobl gegenüberstellen dürfen, die sehr bezeichnend Der
Triumph der Mechanik'^ heißt. Da verlangt ein amerikanischer
Erfinder von dem Bürgermeister einer Stadt die Konzession für
eine Fabrik automatischer Spielsachen; als sein Gesuch ab-
geschlagen wird, droht er, eine Milliarde automatischer Kaninchen
auf die Stadt loszulassen. Man lacht ihn aus, er aber macht seine
Drohung wahr. Überall erscheinen Kaninchen: sie dringen in die
Wohnungen, springen auf Tische und Stühle, liegen in den Betten
und bedecken die Straßen, unzählig und unvertilgbar, da sie un-
zerbrechlich sind. Vor diesen Tieren mit den stumpfen, roten
Glasaugen, dem höhnischen Zug um den Mund, dem 'starren
Lächeln lebloser Dinge', macht die Stadt "alle Gefühle durch vom
spöttischen Achselzucken über ohnmächtigen Zorn bis zu Bestürzung,
Verzweiflung, Grauen und Ekel. Als Hopkins gar verkündigt, seine
Kaninchen würden auch noch fressen, als er vor den Augen einer
großen Versammlung den Beweis führt, da tut man ihm den
Willen. Gewiß: das fressende Kaninchen war, wie Hopkins nach-
her dem Bürgermeister sagt, ein natürliches — zur Sache tut das
aber nichts: diese guten Leute hat das Grauen vor dem Mechani-
schen gepackt; ihren gepeinigten Gehirnen wird die Vorstellung
Tn Bedenksame Historien, Berlin 1907.
8 Homunculi uud Androiden
glaubhaft, diese entsetzlichen Geschöpfe könnten auch noch
fressen, und da bricht der letzte Widerstand zusammen: die Natur
dient nur dazu, die Kunst vollkommen triumphieren zu lassen.
Hier hat sich ein grotesker Humor eines Problems bemächtigt,
das für unsere Zeit wieder sehr bedeutsam geworden ist; der
Siegeszug der Technik hat uns eine Mechanisierung des Lebens
gebracht, und zwar eine Mechanisierung von unten auf, im Gegen-
satz zu jener aus philosophischen Theorien abgeleiteten, gegen die
sich die Romantiker wehrten. Demgemäß ist auch das Symbol,
unter dem wir diese Erscheinung begreifen, ein anderes geworden.
Die Romantiker sprachen vom Marionettenspiel des Lebens, von
den Fäden, an denen die Puppen gelenkt werden; wie fremd uns
dies Symbol geworden ist, haben wir alle gefühlt, als es G e r h a r t
Hauptmann in seinem Festspiel zur Jahrhundertfeier wieder
hervorholte. Wir haben uns dagegen gewehrt, daß unsere große
nationale Vergangenheit uns im Bilde des Puppenspiels vorgeführt
wurde, und das geschah nicht nur aus vaterländischem Empfinden,
sondern auch aus dem Gefühl, daß wir wahrhaftig keinen Grund
haben, der Zeit Goethes, Schillers und der Romantik die innere
Freiheit und Selbstbestimmung zu verkleinern. Als wir den hun-
dertsten Todestag Schillers begingen, ist es uns ja sehr deutlich
bewußt geworden, daß wir die Männer von Jena und Weimar
brauchen, weil sie den Ausgleich gefunden hatten zwischen Not-
wendigkeit und Freiheit. Ganz anders als die Geschlechter der
Vergangenheit sind wir eingefügt in die gewaltige Organisation
des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens; vorbei ist das Still-
leben, das einst der einzelne im wesentlichen auf sich selbst gestellt
führen konnte; das Maschinenzeitalter hat im öffentlichen wie im
privaten Leben den Großbetrieb als den einzig lohnenden er-
scheinen lassen; sein Symbol aber ist die Maschine, die durch
ihre mechanische Tätigkeit soundsoviel Arbeiter ersetzt, deren
Leistung dabei billiger, gleichförmiger, unermüdlicher, kurz un-
persönlicher ist als die der Menschenkraft. Der einzelne erscheint
als Rädchen, das sich dreht, weil es sO sein muß, weil andere
Räder es treiben, die selbst wieder von einer Kraft in Bewegung
gesetzt werden. Diese Kraft ist dem einzelnen fremd, unkontrol-
lierbar; automatisch scheint ihm das ganze Wesen, von dem er
selbst ein -^dllenloser Teil ist.
'Was ist das Höchste, das wir im gesellschaftlichen, im geschäft-
lichen Umgang am Menschen schätzen? Doch nur das Korrekte, die
gesetzmäßige Funktion. Wer ist der Brauchbarste? Der heute ar-
beitet wie gestern, der gestern gearbeitet hat, wie er morgen arbeiten
wird . . . Was schätzen Sie an Ihren Untergebenen? Die maschinen-
mäßig verläßliche Funktion .. .', das ist eine Stelle aus einem 'phan-
tastisch-satirischen' Roman Sehie FjXzeUenz der Automat, in dem
Homunculi und Androiden 9
Leo Gilbert^ versucht hat, der Zeit einen Spiegel vorzuhalten.
Er läßt einen genialen Techniker einen x\utoniaten konstruieren,
einen vollkommen menschenähnlichen Androiden; eine Unzahl
von Räderwerken lassen ihn gehen, sprechen, essen; er ist so ein-
gerichtet, daß er auf gewisse Schlagworte reagiert, seine Ansichten
vorträgt, auf wahrscheinliche Einwürfe wahrscheinliche Ant-
worten bereit hat. Warum denn auch nicht: 'unser Geistesleben
besteht aus feststehenden Verbindungen zwischen Eindrücken,
Empfindungen und Begriffen',^ 'jeder Durchschnittsmensch besitzt
eine Anzahl von Ideen, eine beschränkte Zahl; die variiert er nach
Belieben ... es ist also nichts einfacher, als einem Automaten vier
oder sechs oder sagen wir zwanzig leitende Grundideen zu geben,
Grundlagen seiner Tüchtigkeit, und in seinem Räderwerk Spiel-
raum zu lassen für die zahllosen möglichen, mannigfaltigsten
Kombinationen dieser zwanzig Ideen' ! ^ Der Erfinder will seinen
Automaten verkaufen, er hat ihn zum erstenmal einigen Inter-
essenten vorgeführt — als er ihn nachher abstellen will, geschieht
das Unerwartete. Der Android ist so eingerichtet, daß er etwaige
Angriffe mit Maschinenkraft zurückweist; der Erfinder bekommt
es zu spüren: ein Stoß schleudert ihn zu Boden, der Automat ver-
läßt das Zimmer.
Er tritt jetzt als Großindustrieller auf; die Ideen, die ihm
sein Schöpfer mitgegeben hat, befähigen ihn zu einer glänzenden
Laufbahn. Er wird ein hochangesehener Mann, Direktor einer
industriellen Gesellschaft, macht seinem Erbauer seine Braut ab-
spenstig und bringt es schließlich zum Minister. Als seine Tätig-
keit den Staat mit einer nationalen Katastrophe bedroht, gelingt
es endlich seinem schon halb verzweifelten Erfinder, ihn nacli
hartem Kampf unschädlich zu machen.
Die angeführten Stellen zeigen zur Genüge, worauf Gilberts
Satire hinauswill: die meisten Menschen sind Automaten, in die
gewisse feste Ideen hineingepackt sind und die nun auf gewisse
Schlagworte reagieren; der wirkliche Automat paßt also zu ihnen
als ihr eigentlicher und rechter Typus. Er paßt auch in das
Getriebe des Lebens und des Staates hinein: wo alles maschinen-
mäßig zugeht, wird die vollkommene Maschine alle Ansprüche
aufs beste erfüllen. Eine gewisse Macht wird man also der Satire
nicht absprechen; allerdings ist Gilbert kein Dichter: für das
Dämonische, das in der Gestalt seines selbständig handelnden
Androiden steckt, für das Entsetzliche der Vorstellung der
menschlichen Maschine langt seine Kraft bei weitem nicht aus.
Doch hat die Idee ihren Dichter gefunden : das moderne Epos
^ Berlin u. Leipzig 1907; L. Gilbert ist Dejckname für Silher-
stein; das Zitat S. 113.
2 S. 10.5. 3 S. 116 u. 117.
10 Homunculi und Androiden
hat für seine Mythologie zu diesem Symbol gegriffen. In S p i t -
telers Olympischem Frühling haust Ananke, der Weltherr, in
so etwas wie der Zentrale eines ungeheuren Maschinenbetriebes,
Tasten und Klappen sprechen von verborgenen Drähten, die aus
aller Welt Ecken die Kunde der Geschehnisse zu ihm leiten; er
selbst prüft am Rechentisch den Gang des Lebens, der Gestirne
Gleichgewicht. Will er genaueren Bericht, steckt er einem 'klugen
Eisenmann' einen Zettel ins Ohr, dreht eine Kurbel und
nach einer schwangern Zeit
Begann ein schauerlicher Eingeweidckarnpf
Im Eisenmann, mit Krämpfen und mit Fußgestampf.
Dann klappt' er mit den Kiefern, würgte und gebar
Aus seinen Zähnen einen langen Streifen dar.
Und auf dem Streifen stand, in Kleinschrift aufgeschrieben.
Die Antwort auf Anankes Frage und Belieben.^
Neben diese allgemeine Kennzeichnung automatischen Trei-
bens stellt sich aber der Automat selbst als Sinnbild von Anankes
Wesen. Das Lied des Sängers Zagreus^ berichtet vom Welten-
freiheitskrieg. Die schöne Kora ist in die Gewalt Kirkes, der
Tochter Anankes, gefallen; sie schmachtet in der Unterwelt, in
Kirkes sonnenloser Burg Metempsychose. Einer ihrer Brüder
nach dem andern hat sie zu erlösen gesucht; keinem ist es ge-
lungen, unter Kirkes Tieren, die alle die verwandelte Kora sein
wollen, die Schwester herauszufinden. Da versucht Alastor, der
jüngste Bruder, das letzte Mittel. Olymp und Erde, alles Leben-
dige, führt er zum Sturm auf Anankes 'Mörderweltburg', schon
ertönt der Siegesruf: 'Die Welt ist frei.'
Doch jetzt, von einem tückischen Denkblitz schlau beraten,
Versteckte sich Ananke in den Automaten,
Den unbeseelten Eisenriesen, dessen Herz
Aus Stein beschaffen, seine Panzerhaut von Erz.
Ein Wellbaumschwung durch ewig fleißige Räderwerke
Beköstigt seiner Armscharniere Hammerstärke.
Sein Blick ist rotes Feuer und sein Atem Dampf . . .
Auf ihn treffen die Angreifer :
'Gleichgültig, frei von Leidenschaft und Nervgefühlen,
Schlug er des Keulenwirbels nimmermüde Mühlen.
Doch wessen Leib und Leben traf sein Kolbenschlag,
Und schöpft er aus gigantischer Stärke, der erlag.'
Nach siebentägigem Kampfe gegen das leblose Eisen liegt auch
Alastor zerschmettert:
'Und rückwärts flutete das Erdenvolk mit Grauen.
Also verendete der Weltenfreiheitskrieg,
Da das Geschöpf des Schöpfers Mörderburg erstieg.
1 Anankes Halt Bd. II der neuen Ausgabe (Jena 1910), S. 2.37.
2 Die Fahne Ollin fällt TT, 272 ff., besonders 279 f.
Homunculi und Androiden 11
Von neuem knirscht das Weltall in Anankes Zangen,
Und Kora schmachtet noch, in Kirkes Haft gefangen.'
Wie verhält sich Ananke zum Automaten? Die Antwort ist
nicht ganz einfach : in der erstzitierten Stelle erscheint Ananke als
Weltherrscher, im Liede des Zagreus wird er ebenfalls so genannt,
und es sieht beinahe so aus, als benutze er den Automaten fast
willkürlich zu seiner Verteidigung. So ist es aber wohl nicht
gemeint: der Automat ist das Sinnbild des erbarmungslosen Welt-
geschehens, gegen das es keinen Widerstand gibt, Ananke ist nur
das ausführende Organ, der personifizierte Ausdruck des un-
abänderlichen Zusammenhangs der Dinge. Als darum die schöne
Hera, verbittert und verzweifelt, sich gegen die Weltordnung, die
ihr den Tod auferlegt, zur Wehr setzen will, da fragt sie nicht
nach Ananke, sie macht sich auf die mühselige Pilgerfahrt zum
Automaten. Der Tod selbst — auch er nennt sich des Automaten
Diener — schärft ihr das Ohr, daß sie aus dem Grund das
dröhnende Tosen hervordringen hört wie von Myriaden Maschinen,
er öffnet ihr die Augen, daß sie den 'Horst' des Automaten auf
dem Unheilsberge 'Böse' erspäht; endlich steht sie vor einem
Mauerring von Stein, vom Dach lockt höhnisch der Zuspruch:
'Kommet alle.' Der Automat selbst erscheint als eherner Koloß
mit Kieselmaske auf ungeschlachtem Eisenriesenroß; pfeifend und
feuerschnaubend bewegt er sich im Kreise, gleich Eädern rollen
die Hufe seines Rosses. Seine Bahn aber bedecken winzig kleine
Geschöpfe, vernunftbegabt scheinen sie, streiten sich um Recht
und Unrecht, Weisheit und Wahn: der Automat zermalmt sie,
gleichgültig seinen Weg fortsetzend.
'Das war das Stück, vor welchem geistlos, schreckentkräftet,
Die Fürstin stand, den Angstblick auf den Brei geheftet.
Da stieß der Tod sie mit dem Ellenbogen: "Juch!
Fang an, klag' jetzt dem Automaten dein Gesuch!"
Da senkte sie das Haupt, erhob den Wanderstab
Und kehrte rückwärts den Enthoffnungsberg hinab.'^
Die Großartigkeit, mit der hier eine Auffassung des Welt-
geschehens ins Mythologische gesteigert worden ist, wird niemand
bestreiten; die neue Mythologie, die einst die Romantiker for-
derten, ohne sie doch anders als andeutungsweise geben zu können,
ist hier in einer mächtigen Dichtung gestaltet; freilich von dem
bitteren Pessimismus des Automatensymbols hätte sich ein
Novalis schaudernd abgewandt, und auch Spitteler schließt sein
Werk mit dem trotzigen 'Dennoch' von Heroldes' Erdenfahrt.
Denkt man an frühere Behandlungen unseres Motivs, so mag E. T.
A. Hoffmanns Gestalt auftauchen: der Alpdruck, von dem er sich
1 llera und der Tod, ebenda II, 337 f.
12 Homunculi und Androiden
durch die Schilderung der seelenlosen Puppe befreite, ist hier zu
einem kosmischen Symbol gestaltet; was dort Einzelfall war, ist
zur Form des gesamten Lebens geworden, unter der nun auch das
Individuum begriffen werden kann. Hera, geschändet von des
Automaten Hohn, flucht allem Lebendigen, da kriecht ihr ein
Schlänglein über den Weg — sie schleudert es halb mechanisch
beiseite:
'Ein Sieggedanke: "Ha, auch ich bin Automat!
Mit Energie geladen, kraftgespannt zur Tat!
So habt's denn: Ihr bleibt stumm und kalt bei meinen Leiden,
Hei nun, so will ich mich an euren Qualen weiden" . . .' ^
Hera ein Automat — wenn auch natürlich nur in übertragenem
Sinne; ist das aber denkbar, so kann man auch vom Automaten
als Menschen reden, und wir sind wieder bei dem Problem der
künstlichen Schöpfung.
Die dichterische Anteilnahme daran ist in neuerer Zeit, wie
oben schon angedeutet, gerade durch die Besonderheit unseres
technischen Zeitalters gefördert worden. Nicht immer war wie
bei Hamerling der Zorn des Dichters Muse. Wenn schon nicht
zu verkennen ist, daß die Technik mit der romantischen Ver-
gangenheit des Waldhorns und der Postkutsche gründlich auf-
geräumt hat, wenn die Entwicklung des modernen Lebens in alle
Verhältnisse eine Uniformierung gebracht hat, die man in der
Vorzeit nicht kannte, so sind anderseits auch wieder der Phan-
tasie und dem Erleben ganz ungeahnte Möglichkeiten erschlossen
worden. Jedes neue technische Wunder eröffnete dem Blick neue
Fernen; wenn jemals, so weiß die Naturwissenschaft in unseren
Tagen, daß ihre Ergebnisse nur vorläufig sind, daß hinter jeder
beantworteten Frage sich eine neue erhebt. Gevnß, die große
Menge ahnt davon nichts, ist zufrieden, wie herrlich weit man es
doch gebracht habe; um so begieriger spüren unbefriedigte Ge-
müter nach Anzeichen dafür, daß unter der gleichförmigen Decke
der Zivilisation noch immer seltsame Abgründe sich auftun. Wir
haben es mit angesehen, wie in unserer anscheinend so nüchternen
Zeit eine lebhafte Anteilnahme erwachte für alles von der Norm
Abweichende: dem Unerklärlichen, den Nachtseiten der mensch-
lichen Natur hat man zur Zeit der Romantik kaum begieriger
nachgespürt. In den sechziger Jahren war Verne eine Einzel-
erscheinung gewesen — jetzt haben wir ganze Gruppen von
Phantasten; man lese einmal nach, wie die Literaturgeschichte
der Vergangenheit über HofFmann urteilte, sehe z. B., was der
seinerzeit für breite Schichten der Gebildeten einfach klassische
A. a. O. TT, :^39.
Homunculi und Androiden 13
V i 1 m a r^ urteilt: 'wer seinem Kater Murr, seinen Teufelselixieren
. . . Geschmack abgewinnen kann, für den ist schwerlich Schiller
und Goethe noch vorhanden, geschweige denn ein Nibelungenlied
oder ein Homer' — heute ist Hoffmann zu hohen Ehren ge-
kommen, mit Poe der Schutzpatron einer ganzen Reihe unserer
Jüngsten.
Unter solchen Umständen ist auch unser Motiv recht üppig
gediehen, und zwar in allen seinen Formen. Gewiß war nirgend
die Überlieferung ganz erloschen: beginnen wir mit Gestaltungen
des Automatenmotivs, so wollen wir nicht vergessen, daß Hoff-
nianns Beliebtheit in Frankreich auf der Opernbühne deutliche
Spuren hinterlassen hat. Allbekannt ist, daß der Sandmann bei
Hoffmanns Erzählungen, der Oper Offenbachs, Pate gestanden
hat, und noch andere Titel wären zu nennen: Adams Nürnherger
Puppe, A u d r a n s Puppe, das Ballett Coppelia von Delibes —
all das sind aber literarisch gar zahme Erzeugnisse, denen man
einen Ehrgeiz, dichterisch aus dem Motiv etwas herauszuholen,
nicht nachsagen wird. Noch in romantischer Zeit taucht in einer
1828 zuerst veröffentlichten Novelle Leitners, Meister Kun-
hert,^ der dämonische Automatenerbauer auf, aber er ist kein
Prometheus, sowenig wie die Opernpuppen etwas anderes sein
sollen als eben Puppen. Die neuere Phantastik aber hat den
letzten Schritt getan: sie hat die Androiden lebendig werden
lassen.
In satirischer Wendung haben wir dies Motiv schon bei Gil-
bert kennengelernt: er dürfte beeinflußt gewesen sein von einem
genialen Vorgänger, der als Dichter sich des Stoffes bemächtigte,
von dem Franzosen Villiers de l'Isle Adam. Sein großer
Roman L'i^ve future ist 1886 erschienen, augenscheinlich in seinen
technischen Umständlichkeiten durch Verne bestimmt, aber weit
über den bescheidenen Vorgänger hinausragend. Der Dichter
braucht für sein großes "Werk einen Faust, und da er nicht in die
romantische Vergangenheit zurückgehen, sondern seiner Zeit den
Spiegel vorhalten will, hat er Umschau gehalten unter den Größen
der Gegenwart, und da schien ihm der 'Zauberer von Menlo-Park',
Edison, dessen Ruhm damals gerade die Welt durchlief, eben
recht. Der geniale Erfinder sieht einen Krebsschaden der Zeit in
der Gefährdung der Ehe — die Dirne ist die Todfeindin der
Familie. Er hat erlebt, wie ein glückliches Leben durch ein käuf-
liches Geschöpf zerbrach, und was den ungetreuen Gatten ver-
führt hat. das war nicht der Geist einer Aspasia, der Leib einer
Phryne, sondern die gemeine, dürre Alltäglichkeit irgendeines
Weibes, die es durch raffinierte Toilettenkünste verstand, seine
23. Auflage S. 46.5. 2 Neudruck Novellen und Gedichte 1880.
14 Homunculi und Androiden
Sinne aufzupeitschen. Sie ist tot — in einer Schublade bewahrt
Edison ihre Reize auf: an diesen unsagbar verächtlichen Dingen
ist ein Menschenglück zugrunde gegangen, und der Fall ist wahr-
lich nicht vereinzelt, er ist typisch für die moderne Zivilisation.
Wenn aber erlogenes Dirnentum die Heiligkeit der Ehe gefährden
kann, ist es dann nicht besser, mit der Täuschung Ernst zu
machen, zum Schutz des Familienglücks ein Weib künstlich zu
konstruieren? Das wäre dann doch eine ehrliche Wahrheit; schön
wie die Venus könnte solche Androide sein, und wenn die Weis-
heit der Philosophen, die Kunst der Dichter geplündert werden,
um ihre Sprechwalzen auszustatten, dann kann ein ideales Weib
erstehen an Stelle des verächtlichen Schädlings.
Nur — wer wird den Anfang machen wollen mit der künst-
lichen G-eliebten? Der Mann findet sich. Ein englischer Lord ist
an eine Geliebte gekettet, die im Louvre im Bilde der Venus von Milo
ihr Ebenbild erkennen darf; aber dieser Frau fehlt jedes Innen-
leben: sie ist gemein in Fühlen und Denken, verständnislos, die
bare Prosa und noch dazu schlechte Prosa. Ihr Geistiges ver-
leidet Lord Ewald ihren Leib — ja, wer diese Seele von diesem
Körper trennte! Edison verheißt dem Freunde etwas ganz Ähn-
liches; seine unbegreiflichen Künste vermögen die Androide, die
er konstruiert hat, zum genauen Abbild alles Physischen jener
'bourgeoisen Venus' zu machen. Lord Ewald will sich mit seiner
Geliebten auseinandersetzen, zum letztenmal trifft er sie im Park,
der Edisons Laboratorium umgibt; er ist in begreiflicher Auf-
regung, und da scheint es ihm. als ob nun, da es sich um die
Trennung handelt, etwas natürliches Gefühl in seiner Partnerin
erwacht. Hat er ihr doch unrecht getan? Soll er sich der Puppe
hingeben, wenn das lebendige Weib ihm Verständnis und Liebe
verheißt? Mag Edison doch seinen Automaten behalten: ins Ohr
der Lebendigen stammelt er von neuem Liebesworte — das ist
Edisons Triumph, denn Lord Ewald hat nicht zu Miß Alicia
Clary, sondern zu seinem Geschöpf, der Androide, gesprochen.
Der Triumph ist aber nur scheinbar. Gewiß, Edisons Werk
ist gelungen, seine Androide wäre, so wie sie von ihm konstruiert
ist, von lebendigen Frauen zunächst nicht zu unterscheiden —
aber nie hätte sie Lord Ewalds Herz gewinnen können. ^ Das
Wunder in Wielands Idris hat sich in moderner Form wieder-
holt: eine geheimnisvolle Mitarbeiterin Edisons, die infolge be-
sonderer Schicksale zur psychischen Abnormität geworden ist,
tritt in mystische Verbindung mit der Androide und macht sie
zu mehr als einem kunstvollen Automaten. Das bedeutet, daß
Edisons ehrgeizigster Traum doch eigentlich tragisch zerrinnt,
der Meister versteht am Ende sein eigenes Geschöpf nicht, das
sich in etwas von ihm nicht Gewolltes gewandelt hat; der Dichter
Homunculi und Androiden 15
selbst gerät aber auch in einige Verlegenheit, was denn nun mit
dieser beseelten Androide werden soll: er hat sich gar einfach
durch einen Schiffsbrand geholfen. Alles in allem bleibt also, in
unserem Zusammenhang gesehen, der Roman vor dem Ziele
stecken : Villiers de l'Isle Adam hat sich gewiß die Aufgabe nicht
leicht gemacht, sein Schiff fährt schwer befrachtet mit philo-
sophischen Erörterungen über das Problem des körperlichen und
geistigen Lebens, über die Frage der Persönlichkeit, über Schein
und Wahrheit, als Ballast erscheinen geradezu die technischen
Auseinandersetzungen, die von hundert Lesern vielleicht einem
verständlich sein werden, und trotz alledem greift der Dichter
schließlich zum rein zufälligen Wunder; das Dämonische fliegt
von außen dem Werke der Mechanik an, statt seine eigene Aus-
geburt zu sein.
Immerhin bleibt L'Eve future die geistig bedeutsamste Auto-
matendichtung der neueren Zeit. Zwar verwendet auch H u y s -
maus A rebours des dekadenten Helden Freude an der künst-
lichen Nachbildung des Lebendigen als charakteristischen Zug,
doch immerhin nur nebenbei; zwar haben andre die letzte Mög-
lichkeit des Motivs herausgeholt — doch ihnen fehlt jenes etwas,
das die Erfindung aus dem Bereich der Anekdote in das der Dich-
tung hebt. Das gilt von zwei Novellen des in vielen Sätteln ge-
rechten K. H. Strobl. Die jüngere, Das Aderlaßmännchen, '^ ist
eine bloß wunderliche Vermischung des Motivs vom lebendigen
Toten mit dem des automatischen Wesens; klarer durchgeführt
ist die ältere Erzählung Der Automat von Horneck.^ Da will in
der Zeit Josefs 11. ein österreichischer Adliger auf seinem mähri-
schen Schloß den mittelalterlichen Feudalherrn spielen; dazu
gehört aber auch der Gefangene im Burg\'erlies, dessen Ketten-
geklirr in sein üppiges Schlafgemach hinauftönen soll. Da er nun
Menschen doch nicht mehr einsperren kann, soll ihm ein berühmter
Automatenbauer einen Androiden schaffen, dessen Bewegungen,
ihm die erwünschte seltsame Musik schaffen sollen. Der Meister
warnt: 'Wir geben diesen mechanischen Figuren einen Antrieb
zum Leben, dessen täuschende Gestalt und vielleicht ein Stück
dieses Lebens selbst. Aber wir können ihnen nichts von unserem
Herzen und von dessen Weichheit geben . . . Ihr Leben hat noch
immer die Grausamkeit der toten Dinge. Und wenn diese Grau-
samkeit erweckt würde, so könnte Furchtbares geschehen ... Es
ist nicht ratsam, diese merkwürdigen Wesen, die zmschen uns
und der unbelebten Welt stehen, schlecht zu behandeln. Sie
könnten erwachen und sich rächen.' Der Graf hört nicht; so wird
^ In Die knöcherne Hand, München 1914.
2 In Die Eingelungen des Arphaxat, Minden i. W. 1904.
16 Homunculi und Androiden
ihm denn sein Automat geliefert; er wird, mit Ketten beladen,
ins Burgverlies geworfen und sogar von Zeit zu Zeit ausgepeitscht.
Da ruft eines Tages der Beschließer den Grafen zu seinem Ge-
fangenen, mit dem eine seltsame Veränderung vor sich gegangen
sei; in der Tat, sein Gesicht, bisher rührend hilflos in seinen
Zügen, ist jetzt erfüllt von unerbittlich grausamem Ausdruck. Als
er näher hinzutritt, wirft der Beschließer, den der Graf tödlich
gekränkt hat, die schwere Eisentür hinter ihm zu. Man sucht
schließlich den Schloßherrn; gegen Abend findet man ihn wahn-
sinnig in den Ketten des Automaten, im Bette des Grafen aber
'lag, die seidene Decke bis zum Halse heraufgezogen, mit harm-
losem und zufriedenem Gesichtsausdruck — der Automat'.
Auch die Homunculi haben modernen Nachwuchs aufzu-
weisen; der Goethische dürfte der unmittelbare Vater von Karl
Goldmanns 'Weisem Jungfräulein' ^ sein. Das haben in Rom
zwei mj^stische Naturkundige zustande gebracht; 'die Substanz,
das Ingrediens aller irdischen Erscheinung', haben sie 'erst aus
der zartesten Materie extrahiert, dann in eine gröbere gebannt';
die Gestalt eines lieblichen Jungfräuleins hat es angenommen,
und nun schwebt es von geheimnisvollen Dämpfen umgeben in
einer Flasche gar wunderlich auf und ab. Als die geformte Sub-
stanz steckt es hinter allen Erscheinungen, kennt also wie der
Homunculus des Paracelsus alle Geheimnisse; drum werden alle
Theologen, Philosophen, Naturforscher Roms eingeladen, das
Wunder zu beschauen und es nach der Wahrheit ihrer Lehre zu
fragen. Sie kommen, ein Vertreter jeder Richtung fragt und
wird zur Freude der anderen spöttisch heimgeschickt — da ver-
einen sich endlich alle in den Schrei 'Was ist Wahrheit?', und ein
tragisches Gelächter ist die Antwort: der Schöpfer aber zer-
schmettert sein Wunderwerk.
Das weise Jungfräulein ist gar keine unebene Base ihres
klassischen Vetters, wenn auch nicht zu verkennen ist, daß sie
weniger um ihrer selbst als um der Pilatusfrage und der beson-
deren Art der Antwort willen geschaffen ist. Dagegen hat nur
die Freude an den modernen Wundern das Kino zu unserm Motiv
geführt: ein Drama Homunkulus war 1916 Zugstück der Licht-
bildtheater und füllte- mit seinen sechs Teilen gleich mehrere
Abende. Auch die Opernbühne hat den älteren Automaten-
spielen eine Homunculusoperette zugesellt: Der hünstliche Mensch
von Willner und Österreicher wurde mit der Musik von
Leo Fall 1915 im Berliner Theater des Westens zum erstenmal
aufgeführt.
Neben die chemischen Männlein und Fräulein treten auch in
Berlin 1912.
Homuuculi und AndroicU'u 17
neuerer Zeit von der Natur selbst auf geheimnisvolle Art ge-
schaffene Homunculi. Etwas wie ein Mittelding zwischen mecha-
nischer Figur und Alraun ist Pinocchio oder, wie er deutsch heißt,
Zäpfel Kern, der Held von Le avventure di Pinocchio. Storia dl
an harattino. Das italienische Original von C o 1 1 o d i ist mir
nicht zugänglich, es soll in Italien als Jugendschrift große Ver-
breitung erlangt haben, indessen dürfte für unsern Zweck die
deutsche Bearbeitung von Otto Julius Bierbaum^ genügen.
Danach bringt ein geheimnisvoller Mann ein Tannenscheit zu
einem Schreiner, aber es ist ein Scheit besonderer Art: es trägt
von vornherein einen Namen, 'weil es aus einem Tannenzapfen
oder genauer aus einem Kern in einem Tannenzapfen gekommen
ist. Aus einem Kern voller Leben'. Als lebendig erweist sich
denn auch das Scheit sehr bald; ein Schnitzer macht eine Mario-
nette daraus, und diese benimmt sich alsbald wie ein kleiner
Mensch. Das Buch erzählt, wie er durch mancherlei Schicksale
aus einem unbesonnenen, zu allem Schabernack aufgelegten, nur
seinen Trieben folgenden Kobold zum verständigen, aufopferungs-
fähigen Kerlchen wird — zum Schluß verzichtet der Verfasser
darauf, ihn zum wirklichen Menschen zu machen, weil er ein
Bild des Menschen sein und deshalb im Fabellande bleiben soll.
Das wirkt etw^as erkältend, wie denn schließlich die ganze Er-
findung, losgelöst wie sie erscheint von ihren volksmäßigen Wur-
zeln, etwas Gewaltsames hat; aber eigentlich dichterische An-
sprüche lagen wohl auch dem A^erfasser sehr fern. Ob der be-
hauptete Erfolg in Italien dauernd gewesen ist, weiß ich nicht;
von deutschen Bearbeitungen kenne ich außer der Bierbaums noch
zwei^ andere — daß irgendeine rechten Anklang gefunden hat.
glaube ich nicht.
Den richtigen Alraunen ist es nicht besonders ergangen; mehr-
fach behandelt ist das Motiv zwar im Laufe des 19. Jahrhunderts
worden, so von Otfried Mylius (Karl Müller) im Glas-
männchen,^ von Baumbach in Trug-Gold,^ aber das war in
der guten alten Zeit: dort erscheint es als törichter Aberglaube
ungebildeter Leute, hier wird ein Liebhaber okkulter Weisheit
mit einer schnöden Zaunrübe betrogen. Aber auch hier ist die
Gegenwart zur wirklichen Phantastik zurückgekehrt: Heinz
Hanns Ewers hat der alten Fabel in seinem Roman Alraune,
die Geschichte eines lebenden Wesens^ eine besondere Wendung
gegeben.
1 Zäpfel Kerns Ahentetier, Köln o. J. [1912].
- Uippeltitsülis Ahenteuer, Kattowitz, Phönix-Verlag, und Die Geschichte
vom. hölzernen Bengele (bearbeitet von Gramann), Freiburg i. Br. 1913.
» 1853, jetzt beiReclam. « 1883, Kap. ITT.
5 München 1911.
Archiv f. n. Sprachen. 139. 2
18 Homunculi und Androiden
Bei einer Einsegnungsfeier — man muß schon sagen, aus-
gerechnet bei einer solchen Feier — wird von einem der An-
wesenden die Alraunensage erzählt, und es genügt, um den
Wandel der Zeiten zu ermessen, wenn man diese Darstellung mit
der Achims von Arnim vergleicht. Da ist von keiner Ideali-
sierung mehr die Rede: 'der Verbrecher, splitternackt am Kreuz-
wege gehängt, verliert in dem Augenblick, in dem das Genick
bricht, seinen letzten Samen. Dieser Samen fällt zur Erde und
befruchtet sie . . .' Die Erzählung erweckt in Erank Braun, dem
Helden des Romans, den Gedanken, ein solches Wesen zu schaffen;
er gewinnt seinen Oheim, den berühmten Physiologen Jakob ten
Brinken, für den Plan: mit dem Samen eines Verbrechers soll eine
Dirne, in der sich die Zeugungskraft der Erde symbolisiert, künst-
lich befruchtet werden; so geschieht es, und Alraune ten Brinken
wird geboren.
Sie ist kein Wurzel wesen, wie es die Sage verlangt; aber wenn
Ewers vom Alraun berichten läßt, daß er Glück in Prozessen und
im Kriege brachte, viel Geld ins Haus zog und seinen Besitzer
liebenswert machte, daß er bei alledem dennoch Leid und Qualen
schuf, auf die anderen Hausgenossen Unheil herabrief und seinen
Herrn zu Geiz, Unrecht und allen Verbrechen trieb, so trifft das
alles zu auf den Einfluß, den Alraune ausübt. Ihr Wesen hat
etwas Koboldhaftes, von Menschlichkeit Unberührtes; es ist, als
ob, dämonische Naturkräfte in ihr und durch sie wirken. Ihr
'Vater', der alte ten Brinken, wird ein gewaltiger Grundherr,
alle seine Unternehmungen, selbst die anscheinend unmöglichen,
gedeihen, der Boden speit ihm förmlich Schätze; aber er verliert
im Banne Alraunens auch alles Gefühl für Ehre und Menschlich-
keit, wird zu ihrem willenlosen Sklaven und endet durch Selbst-
mord. Ähnlich ergeht es ihren Spielkameraden und Verehrern
— im einzelnen haben wir nicht nötig, Alraunens Schicksale und
ihren Untergang zu erzählen; es genügt, aufzuweisen, daß Ewers
versucht hat, aus der alten Eabel doch etwas mehr als den Namen
seiner Heldin zu entnehmen. Daß bei dieser Mischung moderner
Physiologie und mittelalterlicher Dämonie etwas sehr Erfreu-
liches herausgekommen ist, kann man nicht behaupten: diese
Ewerssche Alraune ist ein Zufallsprodukt, ihre mystischen Eigen-
schaften sind ihr einfach zudiktiert, damit der Verfasser Gelegen-
heit erhält, allerhand wenig erfreuliche, für natürliches Empfin-
den recht widerliche Dinge zu erzählen.
Das ist es ja überhaunt. was einen bei diesen modernen Dich-
tungen häufiff nicht recht froh werden läßt: sie wirken nicht als
dichterische Bekenntnisse wie Hoffmanns und Poes Phantasien,
sie sind nicht aus einer mit gläubiger Seele erfaßten Natur-
anschauung hervorgegangen wie romantische Erzeugnisse — sie
Homunculi und Androiden 19
machen einen etwas kalten Eindruck, als habe der Verfasser nur
aus Gründen, die mit innerem Erleben wenig zu tun haben, nach
dem Stoff gegriffen; es gilt die Aufmerksamkeit zu erregen durch
seltsame Erfindungen, eine Modeströmung auszunützen und sie
um der Wirkung willen zu übertreiben.
Ein wenig ist das auch der Eindruck, den die beiden Schöp-
fungen hinterlassen, die (den Verfassern wohl unbewußt) das
Tiecksche Vogelscheuchenmotiv erneuert haben. Hermann
Eßwein erzählt in seinem Herr Krautmann,^ wie in einem
glühendheißen Sommer sich ein Lebensmüder in der Nähe einer
Vogelscheuche erschießt. Da geschieht etwas Wunderbares: der
'zuckende Todestanz und Unglückstaumel . . . dies wilde Kampf-
spiel eines Untergehenden war von besonderer Kraft. Des Todes
geheimnisvolle Wandlungsmächte, erhöht durch den in diesem
Sommer unerhörten Einfluß der Gestirne, brausten und zitterten
in der hageren, schwarzen Gestalt, brachen als Ströme dunkler
Kraft aus seinen Augen und Haaren . . . und weckten wunderlich
tolles, überhitztes Leben ringsum in der vegetativen und anima-
lischen AVeit . . . aus dem Blute des Sterbenden rinnt es und quillt
es wie ein fieberndes Sichweithinwegwünschen und einer wirren
Sehnsucht dumpfes Drängen': das alles läßt dann irgendwie den
Herrn Krautmann lebendig werden. Die Vogelscheuche zieht
die Beine aus dem Boden und stapft, die Landstraße entlang, 7mx
Stadt, 'irgend etwas Lichtem und Gutem hingegen'. Aber der
Homunculus scheitert in seinem dumpfen Drang; während ein
unheimliches Gewitter tobt, gerät er in ein vornehmes Restaurant,
der Oberkellner naht dem seltsamen Gast, da löst ein Blitzschlag
'mit einem jähen Ruck die übernatürliche Spannung, die den
Herrn Krautmann aufrecht gehalten', er bricht zusammen, und
die alte Vogelscheuche, die für eine knappe halbe Stunde der
schmerzlich um ein bewußtes Seelenleben ringende Herr Kraut-
mann gewesen war, wird hinausgekehrt in die Müllgrube.
Ein merkwürdiges Gegenstück ist die ungefähr gleichzeitige
Novelle von Oskar H. A. Schmitz, Herr von Vepmster und
sein Vojmnz:^ der am Leben zu Grunde gehenden stellt sie die
das Leben besiegende Vogelscheuche gegenüber. Gespenster
sind halbabgestorbene Seelen, Seelenreste, und vne alles in der
Natur nach Steigerung seines Lebens strebt, so auch die Ge-
spenster; sie wollen heraus aus dem Schattendasein, wollen sich
einsaugen in Wirtskörper und so in die Wirklichkeit gelangen.
Herr von Pepinster hat in seinem Feld eine Vogelscheuche auf-
stellen lassen und, einer Laune folgend, sie mit eigenen, eben ab-
^ In Megander, der Mann mit den zween Köpfen, München 1912.
2 Die neue Rundschau (1912) Bd. II, 1709 ff.
20 Homunculi und Androiden
gelegten Kleidungsstücken ausgestattet. In diesen ist noch so
etwas wie aufgespeicherter Lebensinstinkt, gerade genug, um
ein Gespenst, das in den Popanz fährt, einigermaßen wesenhaft
zu machen. So wird die Vogelscheuche lebendig und ein Doppel-
gänger des Herrn von Pepinster. Der ist ein Ästhet, ein Zu-
schauer des Lebens; er weiß dem Popanz, der sich an seine
Schritte heftet, keine Widerstandskraft entgegenzusetzen und
verliert sich selbst. Sein Doppelgänger tritt an seinen Platz,
Herr von Pepinster wird zur Vogelscheuche.
Am meisten Aufmerksamkeit unter allen Homunculi und
Androiden hat aber in neuerer Zeit der Golem erregt, der durch
einen großen buchhändlerischen Erfolg sogar in aller Mund ge-
kommen ist. Arnims Golemfigur hat damit nichts zu tun, der
Isahella von Ägypten war kaum ein augenblicklicher, sicher
nicht ein nachhaltiger Erfolg beschieden: wer las denn noch
Arnim, nachdem die Zeit der Romantik vorbei war! Nur ein
Nachhall seiner Schöpfung findet sich in Annette von Droste-
Hülshoffs Gedicht Die Golem (Mehrzahl, entstanden 1844) :
die Figur wird hier als Symbol für Menschen gebraucht, die mit
der Jugend auch deren Ideale, deren warme Empfindung ver-
loren haben und nun nur noch ein totes Abbild ihres einstigen
besseren Selbst sind. Abgesehen von diesen die Sage nur ver-
wendenden, nicht darstellenden Versen sind die modernen Golem-
dichtungen ohne Zusamenhang mit dieser ersten von neuem aus
der jüdischen Überlieferung erwachsen, und zwar aus einem
anderen Zweige der Sage. Von polnischen Juden hatte Jakob
Grimm seine Wissenschaft; die beiden jüdischen Schriftsteller,
die etwa gleichzeitig unabhängig voneinander die Sage er-
neuerten, Gustav Philippson^ und Abraham T e n d 1 a u, ^
schöpften aus dem Sagenkreis des Hohen Rabbi Low, des be-
rühmten Prager Rabbi, dessen Grab noch heute auf dem Prager
«ludenfriedhof gezeigt wird. Beide erzählen in herzlich schlechten
Versen mit einzelnen, hier gleichgültigen Abweichungen dieselbe
Geschichte: der Rabbi hat sich aus Lehm einen Golem gemacht,
ihn durch den Schem belebt und verwendet ihn als Diener; nur
am Sabbat wird der Schem herausgenommen, damit der Knecht
den Tag des Herrn nicht entweihe. Doch einmal vergißt es der
Rabbi; er ist schon in der Synagoge, als ihm sein Versäumnis
einfällt (die Folgen werden verschieden geschildert) — eiligst
stürzt er nach Hause, zum Glück ist der Sabbat noch nicht völlig
angebrochen, und so gelingt es ihm noch rechtzeitig, seinem
Diener den Schem zu entreißen. Seitdem hat er den Ton nicht
mehr belebt — der Brauch der Prager Altneusynagoge, das Ein-
^ Der Golem {Allgemeine Zeitung des Judentums, 5. Jahrg.), Leipzig 1841.
* Das Buch der Sagen und Legenden jüdischer Vorzeit, Stuttgart 1842.
Homunculi und Androiden 21
leitungslied zum Sabbat zweimal zu singen, die Tonfigur des
Golem auf ihrem Boden^ sollen Erinnerungen an den Vorfall sein.
Wie alt die Sage ist, läßt sich nicht feststellen. Tendlau,
der ein guter Kenner dieser Dinge war, bemerkt, daß er nur
aus mündlicher Überlieferung von ihr wisse; nach Nathan Grün^
erwähnt sie der erste Biograph Löws, Maier Perls, im Jahre
1718 nicht, weil sie eben allgemein bekannt war, wozu man viel-
leicht ein Fragezeichen machen darf. Für die Verbreitung der
Sage spricht, daß die Sippurim, die große Sammlung von Ghetto-
sagen, jüdischen Mythen und Legenden, deren erster Band ohne
Jahr, aber ebenfalls in den vierziger Jahren in Prag erschien,^
sich förmlich entschuldigen, daß sie die Geschichte erzählen, man
könne sonst denken, sie sei übersehen.
Doch nicht nur in diesen jüdischen Kreisen sah die Mitte des
Jahrhunderts ein kurzes Aufleben des Golemmotivs. Zeitlich
gehört schon das Gedicht der Droste hierher, allerdings nur
zeitlich, da sie, deren Lebenskreise sich mit denen der Grimms
und Arnims berührten. Isabella von Ägypten wohl zweifellos
kannte. Dagegen liegt der Zusammenhang mit der Prager Über-
lieferung auf der Hand bei der 1842 im ersten Bande des Jahr-
buches Lihussa veröffentlichten Erzählung Der Rabbi von Prag
von Therese v. M., hinter welchem Decknamen sich nach
W u r z b a c h^ die Gattin des Herausgebers Paul Aloys Klar
verbergen soll. Der Stoff der Novelle ist Kaiser Rudolfs Besuch
bei dem berühmten Rabbi, ein Liebesverhältnis eines Adligen zu
einer Jüdin spielt hinein; der Golem ward verwandt, aber es ist
bezeichnend für die Stimmung der Zeit, daß er nichts anderes ist
als eine automatische Figur, ein mechanisches Kunststück, das
sich durch ein Uhrwerk bewegt und gegängelt werden muß, um
nicht Tische und Gläser umzuwerfen. In welchem Verhältnis
zu dieser Erzählung des deutsch-böhmischen Dichters U f f o
Hörn Drama Der Babbi von Trag steht, läßt sich nicht sagen.
Es fand sich in seinem Nachlaß vor; Wurzbach, der vermutet,
daß es der Novelle seinen Stoff entlehnt habe, kennt es aber
nur dem Titel nach, und ob es in die posthume Ausgabe der Ge-
sammelten Werke^ aufgenommen worden ist, habe ich leider
nicht feststellen können. Endlich haben noch die fünfziger
Jahre einen verspäteten Nachzügler dieser Rabbi-Löw-Dichtun-
gen gesehen: den Operntext Ein Steinwurf oder Opfer um Opfer,
den kein Geringerer als Friedrich Hebbel^ 1858 für Rubin-
1 Die Figur ist bei der Renovierung vergebens gesucht worden; vgl.
N. Grün, Der Hohe RaMi Low und sein Sagenkreis (Prag 188.5) S. 39.
- A. a. 0. 37. ' Herausgegeben von Poscheies.
* Vgl. Grülparzer-JahrUich Bd. 13.
5 Braunau 1906 — 08. 6 Siakularausgabe. Erste Abteilung. Dramen IIT.
22 Homunculi und Androiden
stein verfaßte, ohne daß freilich dieser sich für die Komposition
begeistern konnte. Auch hier ist der Rabbi rationalistisch ge-
faßt: er gilt als im Besitz übernatürlicher Kräfte, ist es aber
nicht; sein getreuer Joel fordert ihn auf, in der Not der Juden-
verfolgung den 'Bleichen' zu rufen, 'der in einem Winkel kauert',
den Golem, der 'den heiigen Schem im Munde, Nimmer faul und
nimmer satt. Mehr erschlägt als Goliath' — aber es wird nicht
klar, ob eine solche Figur, selbst nur als mechanisches Kunst-
werk, überhaupt vorhanden ist.
Es scheint, als ob dann die Kunde vom Golem auf Jahr-
zehnte verschollen ist: jedenfalls ist nicht zu sagen, wie sie zu
einem Dichter gedrungen ist, bei dem man einen derartigen Stoff
von vornherein eigentlich nicht suchen würde, zu Detlev von
Liliencron. Vielleicht ist ihm die Volksausgabe der Sip-
purim^ in die Hände gefallen, vielleicht sind Prager Freunde
die Vermittler gewesen; jedenfalls deckt sich seine Ballade Der
Golern^ im wesentlichen mit der böhmischen Überlieferung. Nur
der Ton ist anders genommen: Liliencron war gar nicht feierlich
gestimmt, als sich ihm die Legende zum Gedicht formte. Er
schildert mit kurzen, derben Strichen, wie der Rabbi sich seinen
Golem aus Holz schnitzt, wie der Diener fegt, kocht, Stiefel
wichst und Fenster putzt, bis der Herr dann einmal vergißt, ihm
den Schem herauszunehmen. Was geschah? 'Rasend wurde,
dwatsch der Golem, Ein Berserker ward der Kerl'; mit humo-
ristischer Übertreibung wird geschildert, wie er tobt, Häuser in
die Wolken 'wuppt', den Hradschin auf den Kopf stülpt; ein
groteskes Bild gibt das Ringen des Rabbis mit seinem Geschöpf
ab: 'hopsa, hopsa, was für Sprünge', bis endlich der Schem ge-
packt ist und der Golem zerschmettert daliegt. Gar lakonisch
schließt der Dichter:
'Nicht noch einmal hat der Rabbi
Einen Golem sich geschnitzelt,
Jede Lust war ihm vergangen :
Allzu klug ist leicht zu dumm.'
Für Liliencrons burschikosen Mangel an Feierlichkeit ent-
schädigen genugsam die folgenden Bearbeiter, die das Motiv mit
schwerem Ernst auffassen. Der nächste ist Arthur Holit-
scher, der Verfasser einer 'Ghettolegende in drei Aufzügen'
Der Golem. ^ Sein Rabbi — er trägt einen neuen Namen — ist
ein faustischer Übermensch, ein Gottsucher und Gottringer; den
Golem hat er sich geschaffen aus der Fülle seiner Macht heraus,
in prometheischem Kraftgefühl, und seine Gemeinde, die das
1 Herausgegeben von J. Brandeis. 2. Auflage. Prag IJ
2 Gesammelte Werke Bd. III {Bunte Beute).
s Berlin 1908.
Homunculi und Androiden 23
gesehen hat, traut ihm nun auch das letzte Wunder zu: wer den
Golem aus Ton und Lehm schaffen konnte, der muß auch dem
toten Menschen den Odem wieder einflößen können. Der Rabbi
vermißt sich des Versuches, aber da, auf der Höhe seines Lebens,
trifft ihn Gottes Hand. Während er vergeblich sich müht, dem
Tode das Leben abzuringen, entgleitet ihm, was er für unver-
lierbar hielt. Die urwüchsige Kraft des Golem hat sein Töchter-
lein Abigail gereizt, im lockenden Spiel erweckt sie in dem halb-
lebendigen Gebilde neue Gefühle. Ein dumpfes Bewußtsein
seiner selbst erwacht in dem Golem; er weigert dem Rabbi den
Dienst, und Abigail fordert von dem Vater, daß er ihn nun ganz
zum Menschen mache. Aber der Rabbi weiß jetzt, daß er über
die Kraft hinausgewollt hat; dem Golem fehlt zum Menschen,
was ihm selbst zum Gott fehlt: da begeht Abigail Selbstmord,
der Golem aber reißt sich selbst den Schem, der ihm das Leben
gibt, von der Brust; kann er nicht als Mensch leben, so findet er
doch den Weg zum freien Tode, zum Tode des Menschen. Der
Rabbi bleibt allein zurück: Gott ist der Starke, er hat ihn zer-
brochen.
Die Auffassung des Stoffes erinnert an die Prägung, die ihm
Mary Shelley gegeben hat: hier wie dort der Sturz des Über-
menschen, die Empörung des Geschöpfes gegen den Schöpfer;
wenn aber der englische Roman seine Spannung in dem romanti-
schen Schauer der Ereignisse suchte, so liegt der Reiz des Dramas
wesentlich in der Romantik der Zustände. Eine seltsame Luft weht
in ihm: ein mystischer Wunderglaube hebt diese Menschen hin-
weg über ihre eingeschränkte, gedrückte äußere Lage, ihre geistigen
Führer sind versunken in asketisches Studium und spüren nicht,
wie man um sie her schielt nach den Freuden der Welt; hier ist
uns alles fremd nach seinem Dichten und Trachten: es sind eben
Menschen und Dinge des Ghettos. Als sein Erzeugnis erscheint
uns denn auch der Golem: ein oder mehrere Grade seltsamer als
die anderen, aber auch sie sind nicht Vollmenschen, sondern in
der Dumpfheit ihres Wesens befangene Kreaturen. Wie sich das
auf der Bühne als darstellbar und wirksam bewähren würde, steht
dahin; Holitscher aber hat jedenfalls den Weg eingeschlagen, der
für die moderne Golemdichtung bezeichnend ist: der Golem ist
ihm ein Mittel, die Ghettoromantik zu schildern.
Wo aber ist die zu Hause, wenn nicht im alten Prag, der
Stadt, in der Rabbi Low gelehrt, in der Kaiser Rudolf IL ihn zu
geheimnisvoller Zwiesprache auf den Hradschin entboten hat?
Holitscher hat merkwürdigerweise Prag gemieden: sein Werk
spielt in irgendeiner deutschen Stadt im frühen Mittelalter. Da
mag es denn als Fortschritt gelten, wenn der zweite, der den
Stoff für die Bühne erobern wollte, ihn wieder nach Prag in die
24 Homunculi und Androiden
Zeit des Astrologenkaisers verlegt — das ist freilich auch das
einzige Gute, was man über die ungeschickte Dilettantenarbeit,
das 'kabbalistische' Drama Der Bahbiner von Prag von Jo-
hannes Heß (Karlsruhe 1914) sagen kann.
Völlig als Zubehör zum alten romantischen Prag erscheint der
Golem in den letzten beiden dichterischen Gestaltungen des Mo-
tivs — das Kinodrama Der Golem (1915) sei nur nebenher er-
wähnt — , nämlich in Gustav Meyrinks erfolgreichem Roman^
und in Auguste Hauschners Novelle Der Tod des Löwen}
Freilich im engeren Sinne gehört Meyrinks Buch gar nicht in
den Rahmen dieses Aufsatzes: es wird in ihm kein Golem er-
zeugt, noch gehört ein künstlicher Mensch zu seinen Personen.
Die Geschichte wird erzählt und insofern fortgebildet, als in
jedem Menschenalter einmal ein Fremdling im Prager Juden-
viertel auftauchen soll als Vorzeichen besonderer Ereignisse —
eben der Golem. Seine Erscheinung wird aufgefaßt als ge-
schaffen durch die besondere Art des Ghettos und seiner Leute,
er wird ein Symbol dieses seltsamen Lebens und Treibens, das
Meyrink schildert wie keiner vor ihm, im besonderen scheint der
Held des Romans, der Träumer, der Fremdling im Leben, das er
mit vierzig Jahren nach einer langen Nacht des Wahnsinns wie
von neuem anfängt, in dem Golem das Sinnbild des eigenen
Daseins, ein zweites Ich erkennen zu sollen.
Um so wirklicher ist der Golem Auguste Hauschners:
dem bloßen Symbol stellt sie die Legende in ihrer örtlichen und
zeitlichen Bedingtheit gegenüber. Dabei hütet sie sich, den
Golem auch nur zu einer Hauptperson zu machen; ihr geht es um
die Gestalt des einsamen Habsburgers, dem ein Löwe der beste
Freund ist. Der tief unbefriedigte, nach Macht und Erkenntnis
suchende Rudolf IL begehrt von Rabbi Low den Schlüssel zur
tiefsten Weisheit der Kabbala. Um seines Volkes willen entschließt
sich der Rabbi zu dem Frevel, den Fremden, Uneingeweihten in die
Geheimnisse seines Gottes blicken zu lassen — sein Werk scheitert
an der eigenen Tochter, die sein mystisches Schauen stört. Des
Kaisers Blick fällt auf sie, und in ihm, der schon von der letzten
Lebenskraft zehrt, erwacht eine wilde Begier: da tritt ihm des
Rabbis gewaltiger Diener, der Golem, entgegen; seiner Kraft, die
vor keiner irdischen Majestät zurückscheut, erliegt Rudolf; als
ein Gebrochener verläßt er das Haus des Rabbi. Das aber ist
nur eine Episode in der farbenreichen Dichtung, die das Prag
Rudolfs in Bildern voll eigentümlich flackernder Beleuchtung
heraufbeschwört: die persönliche Umgebung des Kaisers und
seine Gelehrten, den Hradschin und die Judenstadt, Politik und
1 Leipzig 1915; zuerst 1914/15 in den Weißen Blättern.
2 Berlin 1916.
Homunculi und Androiden 25
kabbalistische Mysterien, im Mittelpunkt von alledem Rudolfs
rätselvolles Wesen in seinen letzten Tagen — vor dem großen
Vorbild Grillparzers braucht sich die Verfasserin mindestens
nicht zu schämen. Der Golem aber ist meisterhaft verwertet als
das, was er in solchem Zusammenhang sein kann, als Episode.
Seine Grestalt bleibt im Zwielicht, taucht auf und verschwindet;
daß er das Wunderwerk des Rabbi ist, wird mehr angedeutet als
gesagt. So gelingt es, der Gestalt das Unheimliche, Maschinen-
mäßige zu schaffen, das sie haben muß — auf dem Boden, wo sie
entstanden ist, in der geheimnisvollen Atmosphäre von Magie
und dunkler Mystik, ist die Sage erneuert und ihr Geschöpf
poetisch geworden als ein Wahrzeichen des alten, romantischen
Prag.
Wir sind am Ende: in langer Reihe sind sie an uns vorüber-
gezogen, Vorläufer, Zeitgenossen und Nachfolger des Goethi-
schen Homunculus — eine recht bunte Gesellschaft. Das Motiv
ist nicht derart, daß es leicht aufgegriffen wird — das könnte
man höchstens von den Geschöpfen der Opernbühne und des
Kinos sagen, bei denen dort der Reiz der von Menschen nach-
geahmten mechanischen Bewegung, hier die Möglichkeit phan-
tastischer Bilder und spezifisch kinematographischer Über-
raschungen bestimmend war • — aber es paßt sich doch gar ver-
schiedenen Stimmungen und Naturen an. Darum wird sich ja
kaum ein Generalnenner finden, unter dem all die einzelnen
Variationen zusammenzufassen wären. Hier eine spielende Freude
an der Vortäuschung des Lebens, dort ein grübelndes Sinnen
über seine Bedeutung und seine Bedingungen, hier Beseelung der
Natur, dort Entsetzen über ihre Leblosigkeit, hier Einkleidung
bitterer oder gutmütiger Satire, dort Symbol für menschliches
Tun und Treiben: in mannigfaltiger Form hat das Problem die
Dichter als Einzelpersönlichkeiten gereizt. Gruppenweise zu-
sammengefaßt, wie es hier versucht ist, spiegeln diese künstlichen
Menschen aber doch auch in ihrer Weise den Geist der Zeiten
wider, als deren sehr echte Kinder sie sich erweisen. Darum
dürfte diese allgemeine Musterung doch nicht ganz unlohnend
gewesen sein.
Berlin-Lichtenberg. Albert Ludwig.
Ludwig Börne und Rahel Varnhagen.
Mit zwei u n ged r u ck ten Briefen.
Friederike Rahel Yarnhagen von Ense, die berühmte Brief-
schreiberin, gehörte zu den eifrigsten Be^vunderern Börnes.
Sie hatte ein unendliches Behagen an der Zeitschrift 'Die Wage'
gefunden, war mit Börne in Verkehr getreten, hatte bei ihrem
Aufenthalt in Frankfurt die persönliche Bekanntschaft des Jour-
nalisten gemacht und sich auch als Mitarbeiterin an seinem perio-
dischen Unternehmen beteiligt. Die persönliche Bekanntschaft
erneute sie, als sie sich 1825 in Frankfurt befand. Damals erhielt
sie folgendes bisher unbekannte Schreiben Börnes, dessen Original
sich in der Königlichen Bibliothek zu Berlin (Varnhagensche
Sammlung) befindet.
29. August 1825.
Gnädige Frau!
Sie haben gestern den Wunsch geäußert, einiges von meinen ungedruck-
ten Schriften zu besitzen, und ich habe mich im stillen sehr über diese
Äußerung gefreut. Die Dankbarkeit hätte gefordert, Ihrem Wunsche nicht
zu entsprechen, aber diese Tugend fiel mir zu schwer. Doch bin ich so vor-
sichtig, erst die Beharrlichkeit Ihrer Wünsche auf die Probe zu stellen,
und darum teile ich Ihnen nur einen Aufsatz mit. Wenn Sie standhaft
bleiben, werde ich mit meinen Mitteilungen fortfahren. Ich habe diesen
Aufsatz gewählt, weil er Steffens betrifft, den wir gestern etwas berührten.
Er ist schon vor zwei Jahren geschrieben, und die Stuttgarter Zensur hat
ihn nicht durchgehen lassen. Warum nicht — darüber bitte ich Sie nach-
zudenken, sobald Sie die Zeit haben. Mir ist es unerklärlich geblieben. Ich
kann es Ihnen nicht verschweigen, daß Sie meine Ruhe gestört haben. Ich
lebte so zufrieden mit meinem Schicksale, und jetzt haben Sie die heftigste
Begierde in mir erweckt, in Berlin eine grüne Kernsuppe mit Ihnen zu
essen. Möge der Himmel diese neue Sehnsucht stillen, wie er schon manche
gestillt.
Darf ich Sie bitten, mich der Hof rätin Herz in Erinnerung zu bringen?
Ich grüße Sie aufs freundlichste
Ihr ergebener
Dr. Börne.
Über den Aufsatz, von dem in unserem Briefe die Rede ist,
soll gelegentlich der Antwort der Rahel etwas ausführlicher ge-
handelt werden. Diese Antwort vom 11. September ist gleichfalls
bisher völlig unbekannt gewesen. Das Original des gleich ab-
zudruckenden Schreibens ist in dem Versteigerungskatalog der
K. E. Henricischen Buchhandlung in Berlin aufgeführt; die Ver-
steigerung soll vom 14. bis 16. März 1918 in Berlin stattfinden.
Dieser Brief ist ein ungemein merkwürdiges Schriftstück, ganz
in der Weise der Rahel geschrieben, sehr geistvoll, mit seltsamen,
schwen^erständlichen Ausdrücken. Er lautet folgendermaßen:
Ludwig Börne und "Rahel Varnhagen 27
Berlin. Sonntag früh 11 Uhr, den 11. Sept. 1825.
Endlich schönes Frankfurter Wetter. Machen Sie es sich zunutze, lieber
Dr. Börne, daß ich Sie aus Ihrer Ruhe gestört habe, und reisen nun, mir
und vielen zu Nutz und Freude, gleich ab.
Noch ist das Wetter köstlich, die Wege herrlich, der Mondschein tritt
bald Avieder ein. Sie kommen auf lauter gute Wirtshäuser, (in Fulda i m
Erbprinzen', dem Schlosse gegenüber, wenn es auch anders
lieißen sollte. In Gotha in den 'Drei Mohren'.
In Naumburg, dicht an der Stadt vor dem Jakobstor im 'Blauen Stern'.
In Wittenberg in der 'Traube'). Diners bekommen Sie jetzt allent-
halben. (In Treuenbrietzen im 'Blücher'. In Beelitz im 'Eatskeller', zwei
Schritt von der Post.) Ich möchte Ihnen Ihre Pakete machen, Ihnen alle
Unbequemlichkeiten wegräumen und übernehmen. Ihre Gedanken im Kopf,
mit einem Griff der Hand, mit scch.s eindringlichen Worten zum Entschluß
knoten. Knoten, das Wort steht da. Sie, ich bin es gewiß, werden auch
seine besseren Seiten einsehen. Wie ich nur so auf Ihr Herkommen dringen
kann? Weil ich nicht allein den Vorteil davon haben werde — würde
will ich gar nicht mehr aufkommen lassen. Weil es ein großer für Sie
wäre, und dann gleich für viele. 'Nur Schweigen ist schädlich', Sie würden
hier unfehlbar schreiben. Sie fehlen mir, ich fehle Ihnen. Sie sind mein
pair in innerer Seele, ich könnte auch sagen: ich will, ich kann wie Klär-
chen in Egmont die Fahne sein, die Euch alle führt. Aber ich bin auch die
Trommel, die Schlachtmusik, der Feldprediger, die restaurierende Marke-
tenderin, die Wäscherin, die Pflegerin, die Aufhetzerin, der Sporn, führe
den Balsam in der Feldapotheke. Will auch zerstreuen, Komödienbillette
schaffen, Früchte, besseren Wein. Will auch Sänger einladen, dumme, an-
genehme Leute, kurz, verführen und helfen aus allen meinen Kräften. Ich
bin auch öfters Ihrer — nämlich nous allons de pair et c'est la vraiment
etre pair l'un pour l'autre — und das bin ich nur welche ganz bestimmte
Hilfe und Anregung ; Vormund, Besorger auch Varnhagen ; welcher täti-
ger Anerkenner; und das ist doch auch nur wieder einer.^
Es bildet sich Kreis an Kreis, schließt sich Freund an Freund! Und
daß nur so viel Geselliges, Dummes vergeht, regt ja am meisten zum
Denken auf: mich, also auch Sie. Hier bleiben sollen Sie ja nicht: ich sehe
es aber hier an, und Sie werden es einsehen als ein russisches Bad der
Seele. Alle Stockungen werden gehoben: die wenigstens, die das deutsche
Klima dem Geist zu- und entgegenweht. Sie schreiben mir, wann Sie
kommen, und daß es bald ist. Wer mit Ihnen unzertrennlich, kann Sie ja
begleiten und findet in allen Fällen seine Eechnung.
Gewiß bin ich zu ehrlich, daß ich Ihnen Ihr köstliches Manuskript wie-
der zurückschicke, denn am Ende lassen Sie es trotz meiner inständigen
Bitte nicht drucken. Welcher Jammer, welcher Schaden, daß dieser milde,
scharfe Ausspruch schon zwei Jahre verschlossen daliegt, der einen so ge-
rechten Hunger, ein so dringendes Bedürfnis hätte stillen können. Welchen
Ärger mußte man aushalten: wie vielfältig dachte ich einzelnes aus diesem
Aufsatz, alles kann ich sagen, ohne daß ich es je würde haben zusammen-
fassen können! Und so ging's allen, nur einem nicht, und der eine ver-
schließt's. So kann ich es nennen, wenn ich nicht annehme, was ich nicht
kann, daß Stuttgart der einzige Ort ist, wo gedruckt wird. Wenn es eine
Möglichkeit ist, so lassen Sie es noch schleunigst abdrucken; es ist noch
^ Der dunkle, orakelhafte Satz, der genau nach dem Original wiedergegeben
ist, soll wohl bedeuten: 'Ich bin Ihnen häufig gleich, manchmal aber gehöre
ich und ebenso Varnhagen zu dem großen Haufen, die Ihnen nicht voll-
ständig gleichstehen, aber doch vermögen, Ihnen etwas zu sein und etwas
zu nützen.'
28 Ludwig Börne und Rahel Varnhagen
ganz an der Zeit: die Mehrheit ist über diesen Punkt nicht erhellt. Soll
es aber liegenbleiben — ich sollte Ihnen diese von mir ausgeschmückte
Alternative gar nicht zeigen: es ist ganz wider meine kluge Einsicht — ,
so senden Sie es mir zurück oder vielmehr bringen es. Ich lasse es dann
abschreiben und gebe es so viel Mensehen als möglich, und es ist in der
Art sehr viel möglich. Das Druckenlassen von diesen Möglichkeiten immer
die schönste. Wo Sie solche -\- von Bleistift finden, da hat es mir überaus
gefallen ; wo Sie solche X finden, noch besser. Ein paar undeutliche Stellen
traf ich noch, ich habe sie zu Ihrer Beurteilung angedeutet. Was Sie vom
Irrtum sagen, da stimme ich aus voller Brust bei. Aber ich könnte doch
mit einem in die Wunde treffenden Worte sagen, welcher nicht zu erdulden
ist und welcher nur vom lieben Gott, aber nicht von seinen Gesellen, uns,
geduldet werden darf. Der willkürliche nämlich, der, welcher eine Aktion
vor dem Forschen erfordert, nämlich aus dem Felde des Forschens zu treten
oder, wie Sie zeigten, den Geist oder die Vernunft aussperrt oder kettet:
dieser ist auch noch daran zu erkennen, daß ihm Dunkel vorhergeht, folgt,
begleitet und aufbläst; der nennt die Vernunft mit dem Beiworte die so-
genannte oder vornehme. Sie ist so genannt, weil sie vernimmt; das ein-
zige uns bekannte intellektuelle Vernehmen; sie ist vornehm, weil sie das
Vornehmste ist; das, welches alles anderen wohl gleichgeltenden verliehenen
Gaben beleuchtende Ordnende. Ein — so aussehender Strich mit Bleistift
bedeutet diesen letzten Gedanken.
Seit heute vor acht Tagen, wo ich ein eblouissement hatte und davon
starke Migräne, konnte ich bis jetzt ohne Kopfweh nicht schreiben; daher
erst heute diese Zeilen der Freundschaft, des Dankens, des Mahnens. Sie
schicken mir, noch ehe Sie kommen, mit der fahrenden Post (Frau von
Varnhagen, Französische Straße 20). Hier zeige ich Ihnen alles, was ich
mir aufgeschrieben habe, und gestatte und beantworte Ihnen jede Frage,
ga est-il chien.^ Sie kriegen Weintrauben, Feigen, Orangen, Ananas ä foi-
son.2 Lassen Sie sich nicht einreden von Herrn Dr. Neuburg, der hat
nichts gesehen: keinen Blumenmarkt, keinen Fruchtmarkt, keine Gärten.
Im Frühling reise ich mit Ihnen zurück. Mehr weiß ich in der Geschwindig-
keit nicht, aber es ist dafür alles wahr. Fr. Hoffr.* ist sehr empfang- und
empfindlich für Ihr schönes Andenken und grüßt Sie herzlich und ladet Sie
auch ein. V. bestürmt Sie, zu kommen, mit besten, schönsten Grüßen. Es
soll Ihnen nicht reuen. Wie schön sprechen Sie über Reue! Ich sage
immer: Reue kommt vor der Tat, nicht nach der Tat. Nie habe ich das
bereut, was ich wirklich wollte. N i e kann uns nur der Ausgang recht
geben. 'Hast du darum recht, weil's dir der Ausgang sagt?' läßt Lessing
in Emilia Galotti sagen. Noch eine Stelle aus Angelus, die ich am meisten
liebe und die meine Devise ist und die weit oben stehen sollte, müssen Sie
jetzt wissen und fühlen:
'Die Unschuld acht' ich nur.
Der Gott hat Witz beschert,
Die aber den nicht hat,
Ist nicht des Namens wert.'
Und damit Gott befohlen.
Fr. Varnhagen.
Sie schreiben mir in jedem Falle gleich.
Der am Schluß erwähnte Angelus ist der bekannte, von Rahel
^ehr geliebte Schriftsteller des 17. Jahrhunderts Angelus Silesius.
1 Ungebräuchliche Redensart, eigentlich in dem Sinne = ist das nicht
gemein? ^ Iq Fülle. » Frau Hof rätin (Herz).
Ludwig Börne und Rahel Varnhagen 29
Die Verse stehen unter dem Bilde der Rahel, das dem bekannten
Buche 'Rahel, ein Buch des Andenkens' beigegeben ist. Die in
dem Briefe angeführte Fr. Hofr. ist die Hofrätin Henriette Herz.
Dr. Neuburg ist ein Frankfurter Arzt, der mit Börne gut bekannt
war. Die Worte des Briefes: 'Wer mit Ihnen unzertrennlich' be-
ziehen sich auf die wohlbekannte Frankfurter Freundin Börnes,
Frau Jeanette Wohl. Der Aufsatz, der aus Zensurrücksichten
zwei Jahre lang ungedruckt bleiben mußte, ist, wie aus Börnes
Briefen hervorgeht, die wichtige Studie 'Die Apostaten des Wis-
sens und die Neophyten des Glaubens', der wirklich 1823 ent-
standen, aber erst 1827 zuerst im Morgenblatte gedruckt wurde.
Hier kommen wirklich jene Stellen über Reue und Irrtum vor,
auf die Rahel anspielt. (Vgl. die von mir geleitete historisch-
kritische Ausgabe von Börnes Schriften, Bd. II, S. 181 — 189.)
Die Stelle aus Lessings 'Emilia Galotti', Akt 2, Szene 4, lautet:
'Aber, gute Claudia, hattest du darum recht, weil dir der Aus-
gang recht gibt?' Von dem brieflichen Verkehr zwischen Börne
und Rahel ist nichts weiteres bekannt. Die Reise nach Berlin, zu
der Rahel den Frankfurter Schriftsteller so dringend aufforderte,
erfolgte erst drei Jahre später, im Jahre 1828. Sie hatte nicht die
Wirkung, die Beziehungen zwischen den beiden zu stärken, son-
dern brachte eine Entfremdung zwischen beiden hervor. Diese
erfolgte aus zwei Gründen. Zunächst deswegen, daß Börne zu
Berlin sich wesentlich in Kreisen bew^egte, die Rahel unsj^m-
pathisch waren, nämlich in denen der Henriette Herz und Ma-
riane Saaling, sodann, weil Rahel und ihr Gatte Varnhagen Börne
den kurz vorher erschienenen Aufsatz 'Einige Worte über die an-
gekündigten Jahrbücher der wissenschaftlichen Kritik, heraus-
gegeben von der Sozietät der Wissenschaftlichen Kritik zu Ber-
lin' übelnahmen. Börne selbst hat diese Empfindlichkeit und die
seltsamen Svenen, die sich daraus ergaben, in seinen Briefen aus
Berlin 1828, die von mir im Jahre 1907 veröffentlicht wurden,
spöttisch genug geschildert.
Ludwig Geiger.
Eine altenglische Vision vom Jenseits.
Dem Beispiele Max Försters (Aiiglia XLII, 145) folgend, lege ich
hiermit den Fachgenossen auch einen bisher migedruckten, alt-
englischen Text vor, den ich vor Jahren im British Museum aus
der Cotton-Handschrift Otho C I abgesclmeben hatte. Er schließt
sich dort auf fol. 143 b des zweiten Teils an jene drei Geschichten
aus den 'Vitae Patrum' an. die Aßmann in Grein -Wülkers Biblio-
thek der ags. Prosa III, 195 herausgegeben hat. Wie diese und
die vorhergehenden Dialoge Gregors, ist auch er mit zerstreuten
lateinischen Glossen versehen, und zwar von der Hand desselben
alten Mönches von Worcester, dessen Tätigkeit wir in verschiedenen
anderen Handschriften beobachten können (vgl. AVolfgang Keller,
Die literarischen Bestrebungen von AVorcester in angelsächsischer
Zeit S. 20). Das beweist, daß sich die Handschrift zur Zeit, als
die Glossen eingetragen wurden, d. i. um das Ende des 12. Jahr-
hunderts, in der Klosterbibliothek zu Worcester befunden haben
muß (vgl. das Vorwort von H. Hecht zu seiner Ausgabe der Dialoge
Gregors in der Bibliothek der ags. Prosa V, S. VIII und meine
Bemerkungen in diesem Archiv 106, S. 176).
Dem Inhalte nach erweist sich der Text..als Übersetzung eines
Berichtes des Bonifatius^ an Eadburga, Äbtissin des Nonnen-
klosters auf Thanet, über die wunderbaren Visionen, die ein geist-
licher Insasse des Klosters der Äbtissin Milburga (zu Wenlock in
Shropshire), während er infolge einer schweren Krankheit im Schein-
tode lag, gehabt und dem Bonifatius in Gegenwart von Zeugen
später wiedererzählt haben soll.
Er wurde — so gibt er an — von seinem Schmerzenslager weg,
des Körpers entledigt, von Engeln, deren Glanz sein Auge blendete,
in die Lüfte gehoben und sah unter sich den ganzen Erdkreis von
emporzüngelnden Flammen mit Vernichtung bedroht, wenn sie die
Engel nicht durch Christi Kreuzeszeichen gestillt und auch ihn vor
der Glut geschützt hätten. Und eine ungeheure Menge von Seelen,
die aus ihren Leibern wanderten, waren da versammelt und eine
unzählige Schar böser Geister und ein glänzender Chor himmlischer
Engel, die mit den Teufeln um die Seelen stritten. Auch seine
eigenen Sünden, die er seit seiner Jugend begangen und nicht ge-
beichtet oder vergessen oder gar nicht als solche erkannt hatte,
traten wider ihn auf und klagten ihn, jede mit eigener Stimme, an.
Eine sagte: 'Ich bin deine sündhafte Begierde'; eine andere: 'Ich
bin deine Euhmredigkeit' ; eine dritte: 'Ich bin deine Lügenhaftig-
1 Bibliotheca Rerum Germaiücarum edidit Philippus Jaffe. Tomus III.
Monumenta Moguntina. 10. Epist., p. 53.
Eine altenglische Vision vom Jenseits 31
keif, und so fort. Die Teufel aber stimmten in die Beschuldigungen
mit ein und bekräftigten sie, führten auch einen damals noch
lebenden Mann herbei, den er, noch im weltlichen Stande, einst
verwundet hatte, und dessen offene Wunde laut wider ihn zeugte.
So häufte man und rechnete ihm vor die Zahl seiner Sünden, und
die Feinde erklärten, er sei ihnen zweifellos verfallen. Dagegen
aber erhoben seine geringen Verdienste, ihn entlastend, ihre Stimme.
Eines sprach: 'Ich bin der Gehorsam, den er seinen geistlichen
Oberen leistete'; ein anderes: 'Ich bin das Fasten, womit er gegen
die fleischlichen Begierden ankämpfte', und so weiter: eine jede
Tugend, von den ihn verteidigenden Engeln noch vergrößert, in
lautem Widerstreit mit dem entgegengesetzten Laster. Unterdes sah
er in der Unterwelt sehr viele feurige Brunnen(schachte), die Flam-
men ausspien; drin flatterten in Gestalt schwarzer Vögel die Seelen
ungKicklicher Menschen, die weinend und heulend ihi' eigenes Ver-
schulden und die gegenwärtige Strafe dafür beklagten; sie setzten
sich ein wenig und klebten an den Rändern der Brunnen, dann
fielen sie wieder jammernd hinab. Und einer der Engel sagte ihm:
'Diese kurze Ruhe bedeutet, daß der allmächtige Gott diesen Seelen
am Tage des Gerichtes Linderung der Strafe und ewige Ruhe ge-
währen wird.' Aus der untersten Tiefe aber, unter den Brunnen
herauf, hörte er das erschreckliche Seufzen und Weinen klagender
Seelen: derer, wie der Engel ihm sagte, die zu ewiger Qual in den
Flammen verdammt sind. Darauf sah er einen wunderlieblichen
Ort, an dem eine Menge der schönsten Menschen in Freude lust-
wandelten, die ihn einladeten, zu ihnen zu kommen, wenn es ihm
g^estattet wäre; und ein wundersam süßer Duft, der Odem jener
seligen Geister, ging davon aus. Das sei, erklärten die Engel, das
berühmte Paradies Gottes.
Auch einen grausigen Fluß von brennendem Pech, heiß auf-
wallend, schaute er da; über dem lag ein Holz(stück) statt einer
Brücke. Dahin eilten die heiligen Seelen, um ans jenseitige Ufer
zu gelangen. Einige kamen ohne Schwanken hinüber, andere aber
verloren das Gleichgewicht und fielen hinab in den Fluß. Und
zwar wurden einige von ihnen ganz darin untergetaucht, andere nur
teilweise, bis zu den Knien, bis zur Mitte, oder bis zu den Schultern.
Alle aber stiegen reiner und schöner, als sie vorher gewesen waren,
aus dem siedenden Pechfluß heraus ans andere Ufer. Und einer
der seligen Engel sagte, das seien die Seelen, die von geringen
Fehlern noch nicht völlig gereinigt aus dem Leben geschieden seien
und einiger Züchtigung von seiten des barmherzigen Gottes be-
dürften, um würdig vor ihm erscheinen zu können. Jenseit des
Flusses erblickte der Visionär glänzende Mauern von wunderbarer
Länge und Höhe, Das sei, sagten die Engel, jene heilige und
ruhmreiche Stadt, das himmlische Jerusalem, worin die heiligen
32 Eine altenglische Vision vom Jenseits
Seelen sich ewig freuen würden. Und jene Seelen und die Mauern
der glorreichen Stadt waren von solch strahlendem Glänze, daß
seine davon getroffenen Augen sie nicht anschauen konnten.
Es kam da in jene Versammlung unter anderen auch die Seele
eines Mannes, der im Lehen Aht gewesen war. Um die stritten
sich die bösen Geister und die Engel. Da trat plötzlich eine große
Schar glänzend weißer Seelen für ihn ein und sagten, der Mann
sei ihr Vorgesetzter und Lehrer gewesen und habe sie alle durch
seine Führung Gott gewonnen; um diesen Preis sei er aus der
Gewalt der Teufel losgekauft worden. Und unter dem Beistand
der Engel entrissen sie seine Seele den Teufeln, die sich auf Befehl
der Engel in die obenerwähnten Feuerschlünde stürzten, aber bald
wieder emportauchten und den Kampf um die Seelen von neuem
aufnahmen. Er konnte auch von den damals noch lebenden Men-
schen beobachten, wie den Tugendhaften unter ihnen immer
schützende Engel zur Seite waren, während den Sündern ein böser
Geist zugesellt war, der sie beständig verführte und, so oft sie sich
in Wort oder Tat verfehlt hatten, es den anderen bösen Geistern
wie zu ihrer Belustigung verkündete und nicht wartete, bis eine
neue Sünde begangen wurde, sondern jede einzelne zur Kenntnis
der anderen brachte. So sah er auch ein Mädchen, die in einer
Mühle mahlte und sich verstohlenerweise einen neben ihr liegenden
schön verzierten Spinnrocken eines fremden Mädchens aneignete,
was daim von fünf der häßlichsten Teufel mit ungeheurer Freude
in der Versammlung angezeigt wurde. Ferner sah er die traurige
Seele eines kürzlich verstorbenen Klosterbruders, der ihm sterbend
aufgetragen hatte, seinen leiblichen Bruder zu bitten, daß er eine
ihnen beiden gemeinsam gehörende Sklavin um seiner Seele willen
freilasse. Der habsüchtige Bruder aber erfüllte diese Bitte nicht,
worüber sich denn die genannte Seele bitter beklagte.
Nun endlich hießen die seligen Engel ihn unverweilt wieder in
seinen Körper zurückkehren und alles, was ihm gezeigt worden war,
gläubigen und in guter Absicht fragenden Menschen offenbaren,
Spöttern aber vorenthalten. Einer entfernt lebenden Frau sollte er
ihre Sünden vor Augen führen und ihr sagen, sie könnte Gott
durch Buße wieder versöhnen; und einem Priester namens Begga
(Bojia) sollte er alle seine geistigen Gesichte erzählen und sich
von ihm weisen lassen, wie er sie den Menschen offenbare; sollte
ihm auch die Sünden, die ihm von den unreinen Geistern vor-
geworfen worden waren, beichten und nach seinem Ermessen büßen;
und sollte sich von ihm bezeugen lassen, daß er aus Liebe zu Gott,
ohne daß es jemand wußte, viele Jahre hindurch einen eisernen
Gürtel um die Lenden getragen habe.
Nichts — erklärte der Visionär am Ende seines Berichtes —
von allem, was er während seiner Entrückung gesehen, erschien
Eine altenglisclie Vision vom Jenseits 33
ihm so widerlich und übeh'iechend, außer den Dämonen und dem
lodernden Feuer, wie sein eigener Körper. In diesen kehrte er auf
Befehl der Engel beim Anbruch des Morgens zurück, während er
ihn beim ersten Hahnenschrei verlassen hatte.
So weit nun geht der englische Text mit dem lateinischen Original
zusammen. Der Schluß des Briefes des Bonifatius ist in der
i'bersetzung gekürzt. Übergangen ist bemerkenswerterweise auch,
was von Oeolred, dem König der Mercier, im Original erzählt wird,
der übrigens, wie Bonifatius bemerkt, zur Zeit der Vision zweifellos
noch am Leben war (er starb 716). Der Visionär sah ihn in der
Unterwelt, von Engeln wider den Ansturm der Teufel beschirmt,
die wutschnaubend forderten, daß man ihnen gestatte, ihren grau-
samen Mut an ihm zu kühlen; denn sie beschuldigten ihn einer
Unmenge verruchter Schandtaten und sagten drohend, er verdiene,
ins sclireckUchste Höllenverlies eingeschlossen und dort seiner Sünden
wegen ewig gepeinigt zu werden. Voll Trauer mußten die Engel
nachgeben und den über ihn gehaltenen Schirm (gleichsam in Form
eines großen Buches) entfernen. Da strömten frohlockend aus allen
Teilen der Welt Teufel herbei und zerfleischten den Unglücklichen
unter mannigfachen Qualen.
Die Wahrheit dieser Vision, meint Bonifatius, hätte das nach-
folgende plötzliche Ende des lasterhaften Königs bestätigt. Über
dieses Ende spricht er in einem anderen Briefe (bei Jaffe Nr. .59,
S. 174). Da wird dem Ceolred, König der Mercier, und Osred von
Deira und Bernicia Schändung der Nonnen und Zerstörung der
Klöster vorgeworfen; und weil sie in ihren Sünden verharrten, seien
sie von Gott mit plötzlichem Tode und ewiger Verdammnis bestraft
worden. 'Nam Ceolredum' — heißt es — 'ut testati sunt, qui
praesentes fuerant, apud comites suos splendide epulantem, malignus
Spiritus, qui eum ad fiduciam dampnandae legis Dei suadendo
pellexit, peccantem subito in insaniam mentis convertit; ut sine
poenitentia et confessione, furibundus et amens cum diabolis ser-
mocinans et Dei sacerdotes abhominans, de hac luce sine dubio ad
tormenta inferni migravit.'
A. Ebert, i^llgemeine Geschichte der Literatur des Mittelalters
im Abendlande I, 616, und C. Fritzsche, Die lateinischen Visionen
des Mittelalters bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts (Roman. For-
schungen II, 275 f.), haben schon angedeutet, daß die von Bonifatius
hier geschilderte Vision — abgesehen von einzelnen Sonderzügen —
nur eine Verschmelzung älterer Visionen, insbesondere der von
Gregor dem Großen in den Dialogen und von Beda in seiner
Kirchengeschichte erzählten, darstelle. So ist das Eingangsmotiv des
Scheintodes infolge einer schweren Krankheit herkömmlich.
Furseus (Beda V, cap. 36) ist (abweichend von unserer Vision,
die vom ersten Hahnenschrei bis zum Tagesanbruch gedauert hat)
Archiv f. n. Sprachen. 139. 3
34 Eine altcnglischo Vision vom Jenseits
vom Abend bis zum Hahnenschrei, des Körpers entkleidet, ins Jen-
seits entrückt (a vespera iisque ad galli cantum corpore exutu^). Er
wird von Engehi in die Lüfte getragen und sieht unter sich die
Welt und, aus der Tiefe aufsteigend, vier Feuer, die sie verzehren
werden. Sie vereinigen sich zu einer ungeheuren Flamme, die ihn
selbst zu ergreifen droht; aber die Engel teilen sie und schirmen
ihn. Er ist Zeuge des Streites zwischen den Engeln und Teufeln
um die Seelen, hört das Weinen und Heulen der armen Sünder
und das triumphierende Gelächter der Teufel, wenn sie einen Sünder
ergriffen haben. Darunter ist einer, den er im Leben gekannt hat.
Auch ihn selbst klagen die bösen Geister an, während die guten
ihn verteidigen. In einer anderen Vision, die Beda (V, cap. 12) von
einem Nordhumbrier Dricthelm erzählt, hört der Visionär klägliches
Geheul und dazwischen schallendes Gelächter und sieht, wie die
bösen Geister arme Seelen herbeischleppen und in einen feurigen
Abgrund werfen. Er sieht ferner ein liebliches, von Licht um-
flossenes und von Blumenduft erfülltes Gefilde und auf demselben
Scharen (conventicula) weißgekleideter Menschen (ebenso der römische
Soldat bei Gregor, Dialog. IV, cap. 36). Das sei aber noch nicht
das Himmelreich, sagt ihm der führende Engel. Li unserer Vision
ist es das Paradies.
Die BrÜL-ke über einen grausigen Fluß kommt schon in der
Visio Pauli, dann Avieder bei Gregor vor (Dialog. IV, 36). Hier
wird der Fluß 'niger atque caliginosus, foetoris intolerabilis nebulam
exhalans' genannt. Nur die Gerechten können die Brücke un-
gefährdet übersclireiten, die Ungerechten aber fallen in den Fluß
hinab. Nach der Visio Pauli werden sie darin je nach ihrer Schuld
versenkt: die einen bis an die Knie, die anderen bis an den Nabel,
andere wieder bis an den Kopf. Ebenso in unserer Vision. Der
Fluß ist hier aus brennendem Pech. Die Seelen aber, die hinein-
fallen, kommen geläutert und gereinigt aus demselben heraus: es
sind die mit läßlichen Sünden aus dem Leben geschiedenen, und
der Pechfluß erweckt hier die Vorstellung des Fegefeuers. Das
Holz, das an Stelle einer Brücke darüberführt, ist als schmales
Brett oder Balken zu denken, 'quia angusta valde est semita, quae
ducit at vitam' (Matth. VII, 14), wie Gregor (Dialog. IV, 37) sagt.
In der Visio Pauli wird dem Apostel ferner ein Brunnen
(puteus) gezeigt, dessen Öffnung mit sieben Siegeln verschlossen ist.
Als er geöffnet wird, entströmt ihm ein übler Geruch. Er ist von
ungeheurer Tiefe, Weinen und Seufzen, wie lauter Donner er-
klingend, erfüllen ihn. Wer da hineingeworfen wird, dem wird keine
Barmherzigkeit Gottes zuteiL
Auch Beda spricht von einem 'puteus flamminivomus', in der
Vision des Nordhumbriers Dricthelm (V, cap. 12). Der steigt mit
semem Führer in die von Finsternis völlig umfangene Tiefe. Da
Eino altcnglische Vision vom Jenseits 35
sieht er Flammenkugeln, eine nach der anderen, aufsteigen, 'quasi
de puteo magno', und wieder dahin zurücksinken. Und während
diese Feuerkugehi ohne Aufhören bald in die Höhe, bald wieder
den Tiefen des Schlundes ('ima baratri') zustreben, sieht er, daß
sie voller Seelen von Menschen sind, die, wie Funken mit dem
Rauch, bald emporgeschleudert werden, bald zurückfallen. Auch
Gestank ohnegleichen, mit den feurigen Dünsten aufsteigend, erfüllt
den ganzen Raum. Teufel ziehen fünf Menschenseelen mitten in
jenen brennenden Schlund ('in medium baratri illius ardentis'), und
das "Weinen der Menschen und das Gelächter der Teufel klingt im
Ohre. Dann steigen aus jenem flammenspeienden x^bgrund ('de
abysso illo flamminivoma') schwarze Gestalten herauf, mit feuer-
sprülienden Augen und feurigem, stinkendem Atem aus I\Iund und
Nase (vgl. in unserer Vision am Schlüsse: 'ut in omnibus visionibus ...
nihil tam durum foetorem evaporans, exceptis daemonibus et igne
flagrante, videret'), und wollen ihn mit glühenden Zangen ergreifen,
sein Führer aber vertreibt sie.
Beda denkt sich also einen flammenspeienden Schlund ('bara-
trum'), einen Abgrund ('abyssus'), auch 'fornax tenebrosa' genannt,
der wie ein (ausgeschachteter) Brunnen aussieht und die Höllen-
mündung ('os gehennae') vorstellt. Die 'ignei putei horrendam
eructantes flamman', in deren hervorbrechenden Flammen arme
Seelen in Gestalt schwarzer Vögel herumflattern, wie unsere Vision
es darstellt, sind wolil ebenso gedacht. Sie bedeuten aber hier nicht
die Hölle, sondern das Fegefeuer, aus dem es für die Seelen am
jüngsten Tage Erlösung gibt; und zwar, wie es scheint, das stra-
fende, quälende Feuer, während der Pechfluß das läuternde und
reinigende Feuer andeuten soll. Die eigentliche Hölle ist in unserer
Vision unter den Brunnen, 'in imo profundo, quasi in inferno
inferiori'; denn, wie es in einer Redaktion der Visio Pauli (H. Brandes,
Engl. Stud. VII, 47) heißt: 'Bene debemus scire et credere, quod
sint duo inferna, scilicet unum superius, et aliud inferius. Superius
infernus est ignis purgatorii . . . Lifernus mferius, ubi sunt omnes
anime, qui dampnate sunt . . .'
Gregor erwähnt den Brunnen nicht, er spricht von 'ollae (Kessel)
tormentorum' und verknüpft damit eine eigentümliche Vorstellung.
Im IV. Buche der Dialoge, cap. 35, erzählt er, ein gewisser Eumor-
phius habe vor seinem Ende seinen Diener zu einem Nachbarn
Stephanus geschickt und ihm sagen lassen, er möge schnell kom-
men, das Schiff, das sie nach Sizilien führen solle, sei schon bereit.
Auf halbem Wege sei dem Diener ein Mann begegnet, der ihm
sagte, Stephanus sei eben gestorben; und als er nach Hause kam,
habe er auch seinen Herrn Eumorphius tot gefunden. Darauf er-
klärt Gregor seinem Unterredner Petrus, was es mit dieser Fahrt
nach Sizilien für eine Bewandtnis habe: 'Quod vero se ad Siciliam
36 Eine altenglische Vision vom Jenseits
duci testatus est, quid sentiri aliud potest, nisi quod prae ceteris
locis in eins terrae insulis eructante igne tormentorum oUae patue-
runt? Quae, ut solent narrare. qui noverunt, laxatis quotidie sinibus
excrescunt, ut mundi termino appropinquante, quanto certum est
illuc amplius exurendos colligi, tanto et eadem tormentorum loca
amplius videantur aperiri. Quod omnipotens Deus ad correptionem
viventium in hoc mundo voluit ostendi, ut mentes infidelium, quae
inferni tormenta esse non credunt, tormentorum loca videant, quae
audita credere recusant.'
In cap. 30 des IV. Buches der Dialoge steht folgende Ge-
schichte: Ein Beamter, der in Sizilien die festgesetzte Abgabe
(canon) an Getreide usw. einzutreiben hatte, wird auf der Bückfahrt
nach Italien mit seinem Schiff an die Insel Lipari angetrieben.
AVährend nun die Matrosen mit der Ausbesserung der Schäden
beschäftigt sind, besucht er einen auf der Insel wohnenden frommen
Mann, der ihm sagte: 'Wißt Ihr, daß der König Theodorich ge-
storben ist?' Auf seine Verwunderimg darüber — denn sie hatten
nichts davon vernommen — erwidert ihm der fromme Mann, es
sei doch wahr, und erzählt ihm, am vergangenen Tage um die
neunte Stunde sei der König zwischen dem Papste Johannes und
dem Patrizier Symmachus einhergeführt und 'in hanc vicinam Vul-
cani oUam' geschleudert worden. Für 'ollam' lesen einige Hss.
'insulam' (Migne, Patres Latini, Series I, Tom. 77, p. 369), was von
der griechischen Übersetzung (ibid.) bestätigt wird: 8V ty yeitvia-
^ovoy vriao) tov ßovXwxvov tv up vjvoKaiOßevoj fCVQi avtod'i
SQQicpr). Gemeint ist die Lipari benachbarte Insel Vulcano. Es
scheint demnach, als ob die schwefliges Feuer ausspeienden Krater
Siziliens und der umliegenden vulkanischen Inseln die Vorstellung
von Feuerschlünden in Gestalt von Brunnen(schachten), aus denen
mit den Flammen zugleich übelriechende Dünste aufsteigen und die
zum Orte der Qualen führen, erzeugt oder doch genährt hätten.
In unserer Vision endlich gebieten die Engel dem Visionär, er
solle seine Gesichte nur gläubigen ('credentibus') und in guter Ab-
sicht fragenden Menschen ('intentione divina interrogantibus') offen-
baren, Spöttern ('insultantibus') aber vorenthalten. Ahnlich heißt
es bei Beda in der Vision des Furseus (III, 19): 'Ordinem autem
visionum suarum illis solummodo, qui propter desiderium compunc-
tionis interrogabant, exponere volebai' Und in der Vision Dricthelms
(V, 12): 'Haec et alia, quae viderat, idem vir Domini non omnibus
passim desidiosis ac vitae suae incuriosis referre volebat, sed illis
solummodo, qui vel tormentorum metu perterriti, vel spe gaudiorum
perennium delectati, profectum pietatis ex eius verbis haurire
volebant.'
Was nun die altenglische Übersetzung anbelangt, so ist sie denn
doch recht unbeholfen. Des Bonifatius' — freilich auch keineswegs
Eine altenglische Vision vom Jenseits 37
klassisches — Latein hat dem Übersetzer offenbar große Schwierig-
keit gemacht. Dem lateinischen Periodenbau steht er ziemlich ratlos
gegenüber: er zerhackt ihn, sucht sich oft mit einem nachhinkenden
and he scecle eac pcet . . . und dergleichen zu behelfen, reißt be-
deutsamere Wörter, die er irgendwo unterbringen will, aus dem
Zusammenhang, und so unterlaufen ihm denn gelegentlich auch
böse Mißverständnisse.
"Wie dem Übersetzer mit dem Latein, so scheint es dem alten
Glossator stellenweise mit dem Altenglischen ergangen zu sein:
glossiert er doch den Infinitiv fleojan (lat. volitasse) mit 'muscas'
und schreibt über das je der Partikel jena 'vos'l Wenn man übri-
gens so gewöhnliche Wörter wie pa mit qui oder Uli, iviä mit
contra, bidon mit extra oder sine, je mit vos verdeutlichen zu
müssen glaubte, so läßt das doch auf eine sehr gesunkene Kenntnis
des Altenglischen schließen. Das lateinische Original des ae. Textes
hat der Glossator nicht vor sich gehabt.
Sprachlich zeigt der ae. Text überwiegend die Formen der
jüngeren westsächsischen Schriftsprache. Doch nicht ausschließlich:
so finden sich im besonderen viele io neben eo\ ferner e als Um-
laut von eä {lej, ned-, cejan, steinende, unjehersunines, neben
hyran, -hyrsum); ia in hijardlice (neben heardlice), compar. hiard-
ran, jesiah praet., hlaf subst. und Formen wie spcece (neben
sprcBce), jespecen; jeseje, optat. praet. (daneben jeseaje, part, praet.
^esejen; meniu (neben menejo); hlo (lieö) als nom. plur., hlom
{heom) dativ plur.; auch öfters in für wests. on und einmal mid
mit dem Akkusativ [mid ealne lichaman). Einiges davon ist mer-
cisch und kann einem Schreiber zu AVorcester leicht aus der Feder
geflossen sein, anderes nicht streng westsächsisch; aber die vielen
io für und neben eo, und ganz besonders Formen wie hijardlice,
hiardran, jesiah, hiaf, nieniu sind charakteristisch fürs Kentische.
Sollte das vielleicht auf eine lu-sprünglich kentische Vorlage deuten
und sollte darin etwa auch der (jrund für die obenerwähnte und
sonst nicht wohl zu erklärende Übergehung der Geschichte vom
Mercierkönig Ceolred zu suchen sein?
Bemerkenswert ist übrigens noch, daß sich dieselben sprach-
lichen Eigentümlichkeiten wie in unserem Text und ganz die gleiche
Ubersetzungstechnik auch in dem in der Handschrift vorhergehen-
den Leben des Malchus (nach Hieronymus) finden, so daß der
Schluß auf einen Verfasser für beide Stücke naheliegt.
Die Cotton-Handschrift hat durch den Brand in den Blättern,
auf denen unser Text steht, durch Risse, Sprünge, Falten, Löcher
und geschwärzte Stellen arg gelitten. Ich habe versucht, mit Hilfe
des lateinischen Originals und Berücksichtigung der Arbeitsweise
des Übersetzers die Lücken zu ergänzen, und habe zur Bequemlich-
keit des Lesers meine Vermutungen in Ivlammern gleich mit in
38 Eine altenglische Vision vom Jenseits
den Text gesetzt. Auch einzelne Fehler in der Handschrift, wo sie
offensichtlich oder durch den gewöhnlichen Sprachgebrauch des
Übersetzers als solche gekennzeichnet sind, habe ich im Texte ver-
bessert und die betreffende Lesart der Handschrift in den Fuß-
noten angegeben.
Ich lasse nun den ae. Text mit dem lateinischen Original (nach
Jaffe) folgen.
Her sa3ad on Jjissum bocum \>rpt . domne . wynfrid sende I)is jewrit
diu
serost to J)issu[m] ^ leodura bi sumiD« prcoste se wses ^»raje ford fercd. 7
jchwyrfdc \)a eft to his llchanian . he s.-ede \])(et he bicomej ^ to J)isse jicode. 7
^at he spsece wid done preost. 7 he me rehtc Jia [wundorlica]n2 jcsihde f)a
5 {)e he jeseah J)a he wtes buton lichaman. 7 I^is he me rehte eall his ajene
wordo . he cwcp^ {ocet him jeeodc {)uih nedbadc f)«< his lichama wsere seoe jfi-
worden. 7 he wres senminja ])y jaste bensemed. 7 him |)uhte l>a't hit wsere
on {)a3re onlicnysse Jje him man f)a eajan weccende mid |)iece hrsejle for-
brujde. 7 {^a semninja was seo bevvrijennys onwej anumcn. 7 {>a wses hiw
10 setywed on 3esihde ealle ])a ymg Jje him nsefre aer jesejen wseron ne on-
wrijen. 7 hiw w?es sejhwset swide uncud {)a3s f)e he jeseah. 7 J>a fet nyxtan
Wies eall seo swearte bewri jennis aworpen fram his eajum . J3a {luhte him f)«^
eall |)es middaneard wa^re 3esamnod biforan his lichaman jesihdc. 7 he
sceawode eall folc. 7 ealle eordandselas. 7 ssestreamas undcr änre jesihdc. 7
im
15 him J)uhte ]i(et {)a en3las wseron swilce hij byrnende wseron })a J)e hine
Iseddon iit of J)am lichaman. 7 he ne mihte nsenij {jinja locian on hij for
baere micclan beorhtnesse be hij mid ymbseted wseron. 7 hij sunjon swide
wynsumum stefnum. 7 swide scswejum. 7 hij cwsedon. Dominc ne in ira
Beatissimae virgini, imo dilectissimae dominae Eadburge, monastice nor-
midae conversationis emeritae, VVynfrethus exiguus in Christo lesu intimae
caritatis salutem.
Rogabas me, soror carissima, ut admirandas visiones de illo redivivo, qui
nupcr in monasterio Milburge abbatissae mortuus est, et revixit, quae ei
ostensae sunt, scribendo intimare et transmittere curarcm, qiicmadmodum istas
veneranda abbatissa Hildelida referente didici. Modo siquidem gratias om-
nipotcnti Dco rcfcro, quia in hoc dilectionis tuac voliintatem eo plenius liqui-
diusque, Deo patrocinium praestante, implere valeo. Quia ipse cum supradicto
fratre redivivo, dum nuper de transmarinis partibus ad istas pervenit regiones,
locutus sum ; et ille milii stupendas visiones, quas, extra corpus suum raptus,
in spiritu vidit, proprio exposuit sermone.
Dicebat quippe, se per violentis egritudinis dolorem corporis gravedine
subito exutum fuisse. Et simillimum esse collatione, veluti si videntis et
vigilantis hominis oculi densissimo tegmine velentur; et subito auferatur ve-
lamen, et tunc perspicua sint omnia, quae antca non visa et velata et ignota
fuerunt. Sic sibi, abiecto terrenae velamine carnis, ante conspectum Univer-
sum collectum fuisse muudum: ut cunctas terrarum partes et populos et maria
sub uno conspectu contueretur. Et tam magnae claritatis et splendoris angelos
eum, egressum de corpore, suscepissc, ut nullatenus pro nimio splendorc in
eos aspicere potuisset. Qui iucundis et consonis vocibus cancbant: Domine,
ne in ira tua arguas me, neque in furore tuo corripias me. Et suble-
' Ergänzt nach Wanley. ^ Loch.
Eine altengliache Vision vom Jonseits 39
tua arguas mo . ncqtie in furore tuo corripias mc* l>cei is. Drihtcn ne
nrfiiias corripias
\)Tca \>u US in J)innum yne . ne {)u us ne stcor in f)inrc hatheort-
nyssc. 7 lic sa?dc J)f?/ liij hinc abrudon up in {)one lyft. 7 lie jescali fyr
beornan ynib calles ]3yscs niiddancardes ymblivvyrfte. 7 sc loj waes ford
blaestcnde mid swide ünnisetre micclnyssc. 7 l'C wjes swide cjcslic up astijende. 6
7 UcTs call Ijcs middancard J)a ic hine sccawode buton swilce he wseie on
anes cloowcn[c9]- oniicnysse 7 call bis weorc. 7 ic jescah licet 'j^cet
fyr woldc blsestan ofcr ealiie middancard . jif se enjcl ne sette cristcs
rodetaccn onjean pam [fyre 7 l>\^onfie ^cstildo liit. 7 se lej swidrode* on
intollerabiliter depressus
(fol. 144) micclum dsele. 7 ic wais unargefuedlice 3c{)r8ested on minum 10
eajum for {)isscs^ miclan byrncs cje. 7 nie wses eaira swidost seo 3csilid
forstyntcd" for J)ara scinendra jasta beorhtncsse. 7 {>a ä!thrän {)sere bcorhtan
protectns
jesihde an enjel minuw hcafde 7 ic wcard {)urh ^rpt jcscyld 7 jcsund
jchcaldcn fram {)ara k'ja sccaddijnesse. 7 he ssede on {)8ere tidc f)e he wses
of his lich[am]an.'^ Ipcet Jjydcr wsere jcsamnod of lichamum swa miccl mcncjo 15
ford fercdra sawla swa he ne wende 1>ceI calles mennisecs cynnes n0er[e]
inmimerabiiis
swilc unrim mcnejo swilc jxet wses. 7 he ssede eae Ixr.t J)Eer wsere micel
mcniu xt awcrjcdra ^asta. 7 eae J)am beorhtum enjlum Jjc {)[?ejr^ scscjcne
wseron . Inj hsefdon miccl jefüt wid da awyrijdan jastas bi [|3am earmj^cstan
sawlum J)c {)ser wseron üt 3onjende of lichaman. 7 I^a deoflu wae[ron wrojendcj'" 20
{)a [s]awle 7 hij wa?ron licapiende liiora synna pund on liifj 7 t>a cnjlas
wseron bc]lädicnde 7 ühtijcnde hiora synna. 7 sc man saidc ])cet he sylf jchj'rde
vabantme — dixit — inaerasursum. Et incircuitutolius mundi igncm ardentcm
videbam et flamniam immcnsae magnitudinis anhelantem et tcriibilitcr ad
supcriora asccndcntcm, non aliter pcne quam ut sub uno globo totius mundi
machimam complcctentcm, nisi cam sanctus angclus, inpresso signo sanetae
crucis Christi, compcsccrct. Quando cnim in obviam minacis flamme Signum
crucis Christi e.xpresserat, tunc flamma magna ex parte dccrcscens rescdit.
Et istius flammac tcrribili ardore intollerabiliter torquebar, oculis maxime
ardentibus et splendorc fulgcntium spirituum vehcmentissime rcverbcratis;
doncc splcndidac visionis angclus manus auae inposiiionc caput meum quasi
protegcns tangebat et me a lesione flammarum tutum reddidit. Praeterea
rcfcrebat: illo in tcmporis spatio, quo extra corpus fuit, tam magnam ani-
marum migrantium de corpore mullitudinem illuc, ubi ipse fuit, convcnisse,
quam totius humani gcncris in tcrris non fuisse antea existimarct. Innu-
mcrabilcm quoque malignorum spirituum turbam nee non et clarissimura
chorum supernorura angelorum adfuisse, narra\it. Et maximam inter se
miscrrimos spiritus et sanctos angelos de animabus ogredientibus de corpore
disputationen liabuisse, daemones accusando et peccatorum pondus gravando,
angelos vero relcvando et excusando. Et se ipsum audisse, omnia flasj-itiorura
suorum propria peccamina — quae fecit a iuventute sua et ad confitendum
' Der lat. Text mit fränkischen Schriftzeichen. 2 ^yig, cleowm. ^ Sprung,
nur der obere Teil der Buchstaben eikonnbar. * Am unteren Ran(le mi-
tigauit, als Glosse zu siciärode. ^ Am Rande, undeutlich. ^ Ms. forsttjnded.
■^ Nur der letzte Strich von m erhalten. ^ Nur r und der obere Teil von p
erhalten. ^ Loch. ^o Ausschnitt: am rechten Rande aide 7 /"'j; etwas
tiefer stehend, zwischen ivce und anie, pa; am rechten Rande der folgenden
Zeile lädiende und als Glosse daneben excus.
40 Eine alteuglische Vision vom Jenseits
ealle his' jodwrecnysse 2 7 his ajene synna {)a {)e he of his 3io3ode jefre-
mede odde ^cft he on receleaste jefremode J)«< he nolde his synna ändettan. 7
f)<«/ he on ofer5itolne3s[e]3 jefremode odde l>cet he eallunga nyste ^cet hit
contra.
to synne^ odlenjde. 7 selc Jjara- synna cejde his ajenre stefne wid
cowstanter
5 hine. . 7 hio hine hijardlice Jjreadon. 7 anra jehwilc {)ara synna J)e he of
his iujode jefremede on aini3um hade \>ser waes ford jeboren on hiora
midnesse. 7 hio wjeron |)us sprecende . sum cwsed. Ic eom {)in 3itsun3
illicite cotitra
\)e ])U unalyfedlice 3e3itsodest wid jodes bebodu. Sum cwced. Ic eom
idel 3ilp f)e J)u mid mannum 3ylplice ahofe. Sum cwaä. Ic eom leasun3
10 in {)sere |)u jefirenadest {)8er {)u wa^re li3ende. Sum cwceä. Ic eom unnyt
Word {)e {)u idelice 3espra?ce. Sum cwced. Ic eom jesihd {)urh |)a ^u
3efirenadest. Sum cwced. Ic eom 3emanes.5 7 unjehyrsumnes {)ser {)u ealdum
jastlicum mannu/;/ un3ehyrsum waere. Sum cwceä. Ic eom drupunj. 7
sleacnis . Jie |)u wiere receleas in hali3ra 3ewrita 3eornesse. Sum cwcrä. Ic
persecuUis es
15 eom swiciende 3e{)oht. 7 unnyt 3ymenß J3e Jju odra manna lif eahtodest. 7
extra
{)in a3en lif forlete 7 ic J)e ofer jemet on cyrican. 7 buton cirican 3ebis-
3ode. Sum cwceä. Ic eom slapolnis mid J)am Jau wjere 3eJ)ricced ]i(Bt J)u
late arise 3ode to ändettenne. Sum cwceä. Ic eom unnytnis.'' 7 hij him
on ssedon maneju I)in3 |)issum 3elic. 7 ealle J)a {)e he on his lifes dajum
20 lifijende 3efremod[e 7 I^a J^Je^ he areceleasode to ändettenne (fol. 144b)
[mj^anije sj-nna f)aT cirmdon swide ejeslice wid hine Jja \>q he na-fre ne
wende ^cet hio to synnum odlenjdon. 7 I)a awyrijdan 3astas wa-ron 3eswe3e
eallu»^ |)am synnum. 7 hi3 wa;ron hine swide heardlice wrejende. 7 hij
wseron secjende ealle J)a stowe 7 ealle {)a tide f)e hij J)a mända?de on
aut neglexit aut oblivioni tradidit vel, ad peccatum pertinere omnino nes-
ciebat • — ipsius propiia voce contra illum clamitasse et eum dirissime
accusasse. Et specialiter unum (piodque Vitium quasi ex sua persona in
medium se obtulisse, dicendo, quoddam: Ego sum cupiditas tua, qua inlicita
frequentissime et contraria praeceptis Dei concupisti; quoddam vero: Ego
sum vana gloria, qua te apud homines iactanter exaltasti; aliud: Ego sum
mendacium, in quo mentiendo peccasti; aliud: Ego sum otiosum verbum, quod
inaniter locutus fuisti; aliud: Ego visus, quo videndo inlicita peccasti; aliud:
Ego contumacia et inoboedientia, qua senioribus spiritalibus inoboediens fuisti;
aliud: Ego torpor et desidia in sanctorum studiorum neglectu; aliud: Ego
vaga cogitatio et inutilis cura, qua te supra modum sive in ecclesia sive extra
ecclesium occupabas; aliud: Ego somnolentia, qua oppressus tarde ad con-
fitendum Deo surrexisti; aliud: Ego iter otiosum; [aliud: Ego sum neglegentia
et incuria, qua detentus erga Studium divinae lectionis incuriosus fuistij; et
caetera his similia. Omnia, quae in diebus vitae suae in carne conversatus
peregit et confiteri neglexit, multa quoque, quae ad peccatum pertinere omnino
ignorabat, contra eum cuncta terribiliter vociferabant. Similiter et maligni
Spiritus, in omnibus consonantes vitiis, accusando et duriter testificlando et
loca et terapora nefandorum actuum memorantes, eadem, quae peccata dix-
erunt, conclamantes probabant. Vidit quoque ibi liominem quendam, cui, iam
' Von ealle Ins nur der untere Teil sichtbar. - Ms. jodwyrcnisse. * Ms.
oferjitolness. * Oder synnum ? Vgl. unten, S. 22. Ms. to synna. ^ = jetnähnes.
^ Ms. jamen. "> L. unmjt siäl = iter otiosum. *• Loch. ^ Linker Rand.
Eine altenglische Vision vom Jenseits 41
.•vedydon. 7 he \rxr jeseah eac sumne {iara manna J)e he a?r 3ewund[ode] > {)a
hwile Jje he lifijende wses. 7 se man lyfde ^a jyt. 7 to jewitnesse his yfela
recewrfe
he wa's {)ider jelseded. 7 sio wund waes open. 7 J)«/ blöd wses steinende 7
he waes cejende his ajenre stefne. 7 he [wjses hi[m]2 edwit cwedende.
7 [he wfes him witende (?) \jxs]^ blödes jyte swide wfelhreowlice. 7 he 5
tealode. 7 heapode micel m[an] 7 b^ ealdan feond trymedon 7 saedon Jx«^
excusabant virtus
he wsere hira 3ew[ealdes. ac {)a bejladedon me min J)a lyttlan m8e3(e)nu*
J)a \)e ic earma 7 unmed[ema yefjre* jedyde. Sum cwcsä. Ic eom fsesten
{)e he his lichaman on aclsensode wid dam yfelan jeornissum. Sum cw«^.
fudlt
Ic eom hluttor jebed. l)cBt he jeat in drihtnes jesihde. Sum cw«^. Ic eom lO
iftürmoriini ohseqiiium infirmis
untrunira {)ejuun3 ^a he mildelice siocum 3edyde. Sum cw«;^. Ic eom sealm
san3. J)one he 3ode jedyde to böte his unnyttra worda. 7 swa him ce3de
excusando
anra jehwilc J3a?ra mfe3na 7 wajs hine beladijende wid his synnuw. 7 |)as ^
wseron eac miccli3ende J^a en3ellican 3a8tas. 7 me wa^ron |3as maijnu
protegendo
bescyldi3ende l>a J)e her trymedon. 7 me wjer[o]n' J)a ma'jnu^ miccle 15
maran 3eJ)uht l:>omie ic ajfre wende l>cBt ic hi3 on minum m<T3ne 3efremman
mihte. 7 he ssede eac l^cet he jeseaje on ^issum nioderan middan earde
fyrene seadas. 7 ])a wa^ron swide e3eslice üp bl?estende. 7 he jeseah
muscas (!) q»'
fleojan injemanj I^am fyrenan leje J)a earman 3astas. |)a wa^ron on sweartra
fu3ela önlicnessuw. 7 hi3 waron hiofijende. 7 wepende. 7 3ristbiti3ende mid 20
menniscre stefne . hiora a3ene 3ewyrhtu.'' 7 \)(pf andwearde wite. 7 hi3
in saeculari habitu degens, vulnus inflixit — quem adhuc in hac vita super-
esse referebat — ad testimouium malorum suorum adductum; cuius cruentatum
et patens vulnus et sanguis ipse, propria voce clamans, inproperabat et in-
putabat ei crudele effusi sanguinis crimen. Et sie cumulatis et conputatis
sceleribus, antiqui hostes adfirmabant: cum, reum peccatorum, iuris eorum et
conditionis indubitanter fuisse. E contra autem — dixit — excusantes me,
clamabant parve virtutes animae, quas ego miser indigne et inperfecte perigi.
Quaedam dixit: Ego sum oboedientia, quam senioribus spiritalibus exhibuit;
quaedam: Ego sum ieiunium, quo corpus suum contra desiderium carnis
pugnans castigavit; alia: Ego oratio pura, quam effundebat in conspectu
Domini; alia: Ego sum obsequium infirmorum, quod clementer egrotantibus
exhibuit: quaedam: Ego sum psalmus, quem pro otioso sermone satisfaciens
Deo cecinit. Et sie una queque virtus contra emulum suum peccatum, excusando
me, clamitabat. Et has illi inraensae claritatis angelici spiritus magnificando,
defendentes me, adfirmabant. Et istae virtutes universae valde mactae et
multo maiores et excellentiores esse mihi videbantur, quam umquam viribus
meis digne perpetrate fuissent. Inter ea referebat, se, quasi in inferioribus, in
hoc mundo vidisse igneos puteos horrendam eructantes flamman plurimos.
Et erumpente tetra terribilis flamma ignis, volitasse et miserorum hominum
' Loch. 2 Zwischen he und wtss Falte; nur e, hi und der untere Strich
der «-Rune erhalten. ^ Großer Sprung im Pergament, der sich auch über
die drei folgenden Zeilen erstreckt. Erkennbar nur der obere Teil eines h (?),
/, p, f. * Ms. pfft lijltla mcpjen. * Die Ergänzung cpfre ist unsicher, er-
halten ist nur re und darüber ein Akzentstrich. ^ Ms. pas pe pe (?). ' Loch.
** Von pa mrpjmi nur der untere Teil der Buchstaben erhalten. " Ms. fyrhtu.
42 Eine altenglische Vision vom Jenseits
ripa
jcsseton liwilum lythwon ou {)£era seada ofrum. 7 hij fiollon oft fefre
lii;;enrlo
heofijcnde in f)a scadas . {)a cwsed him an to of |)am haljan cnjlum . {)C08
lyttlo rest j^tacnad ])cpj selmihtij drillte« sylcd J)issum sawlum cclnissc. 7
roste xher f)am toweardan domosdsejc. 7 sc man j^'liyrdc undcr {)am sea-
5 dum in J)3ere nioderan helle swide ejcslice jränunje > 7 swide micelne wöp
liigentiuw
[|jseral ^ hiofijendra sa[wla . {)a cwsed him] ^ tö an Jjsera enjla . {)eos 3ranun3
(fol. 145) 7 {)es wop jie J)u her jehyrest in {)isse nioderan helle. |)r?< syn-
don {)a sawla Jie hiom nsefre to ne cymd jodes seo ärfoste miltsc . ac hio
sccall cwylraian sc cca loj. 7 he l3a?r jrseah eac sumc stowe on^ swide
10 wudorlicre fsejernisse 7 I>3er blissode swide fsegera sawla menigu . {)a ladedon
f;audiiiTO
hij hine ^cet he come to hiora ^efean. 3yf him alyfed wsere . Jia com
J)anon swide miccl swcj 7 se wses on swide micelre swetnysse . |)is {)onne
wfes J)aera cadijra 3asta orod . Iseos stow l>onne wses be J)an |3a onjlas him
ssedau^ Ixft hit wfes sc mjera niorxna wanj. 7 he {)8er 3escah fyren[e] ea
15 sio waes jcfyllcd mid weallonde picc.^ 7 hio wfes call iuneweard bymcnde. 7
hio wfes on wundorlicre fyrhtu. 7 lA^r wj)e]s^ an treow ofer f)a ea on
brycje onlicnysse . ]oon«e efstari Jja haljan sawla [to ]3?erc] ^ bricje fram \>am
jemote l>e Inj tet wseron. 7 hij jyrndon \)cet liij ofer foren ])a ea . \)()n?ie fcrdojn]
hij sunie swide anrsedlice ofer j)a bricje 7 sume hij wurdon asüdene of {)am
20 triowe \-)(xt hij bcfcollan in Ipa tintrcjan ea. Sume hij befiollan in fotes
deopnesse . sume mid ealne lichanian . sume odda cneowu . sume oddone
middel . sume odda helan . Jjon^ze symble wses J)ara sawla aejhwilc biorhtre
l)onne hio a?r wa^s syddan hio eft coman up of Jaa^re picenan ea . f)a cwsed
Spiritus, in similitudiue nigrarum avium per flammam, plorantes et ululantea
et verbis et voce humana stridentes, et lugentes propria merita et praesens
supplicium; conscdisse paululum, hcrentes in marginibus puteorum ; et iterum
hciulantes cecidisse in puteos. Et unus ex angelis dixit: Parvissima haes
rcquies indicat, quia onmipotens Dens in die futuri iudicii his animabus
refiigerium supplicii et rcquiem perpetuam praestiturus est. Sub illis autem
putcis, adhuc in inferioribus et in imo profundo, quasi in Inferno infcriori,
audivi horrendum et tremcndum et dictu difficilem gemitum et fletum
lugontium aniiiiarum. Et dixit ei angclus: Murmur et fletus, quem in
inferioribus audis, illarum est animarum, ad quas numquam pia miseratio
Domini pervcniet; sed aeterna illas flamma sine fine cruciabit. Vidit quoque
mire amoeuitatis locum, in quo pulche rimorum hominum gloriosa multitudo
miro laetabatur gaudio; qui cum invitabant, ut ad eorum gaudia, si ei licitura
fuissct, cum eis gavisurus, veniret. Et inde mirae dulcedinis fraglantia
veniebat; quia beatorura alitus fuit ibi congaudentium spirituum Quem locum
sancti angeli adfirmabant famosum esse Dci paradisum. Nee non et igncura
piceumque flumen, bulliens et ardens, mirae formidinis et teterrimae visionis
cernebat. Super quod lignum, pontis vice, positum erat. Ad quod sanctae
gloriosacque animae, ab illo secedentes conventu, properabant, dcsidmo
altcrius ripae transire cupientes. Et quacdam non titubantes constanter
1 Ms. eslic jranunj : ej nicht mehr zu erkennen. ^ Nur einzelne Striche
sichtbar. ' Sprung: der untere Teil der w-Rune, der obere des / und ß
erhalten. * oh im Ms. vor sume. ^ Vom ce nur der erste Strich erhalten.
^ Ms. deutlich uiie für pice. '^ Sprung: nur p und ein schwacher Stiich
danach erkennbar. ** Loch.
Eine altcnglische Vision vom Jenseits 43
an enjol to him bi J)am feallondum sawlum . {)is syndon |)a sawla J)e aeftcr
Iiinsidc sumerc artestrc clsensunje biliofiad 7 jedes niiltsunje . licet hij syn
him wyrdc to brinjcnne. 7 he ssede {)<yf he J^ser jcseje seinende weallas . f)a
■\v£eron on miceh-e biorhtncsse. 7 on wundorHcre lenju. 7 on örmjettre
heannesse . {)a cwsedon J)a haljan enjlas . J)is is sio halijo 7 sio mserlice 5
exiiltxiMt
ceaster hierusalem . in f)8ere sefejniad symble J)a eadijan sawla. 7 J)a haljan
jastas. 7 l>onne {)a sawla conian ofer J)a ea {)e ic a'r bij s?ede {)on«e efstan
hij eallum m?ejne widdissa wcalla . he |5onr?e ssede liest ^ hij wseron swide
bcorhte scinende. 7 he s?ede licet him wurde for {)isse miclan beoihtncsse
his eajena jcsihd forstynted . licet he nsenij I)inja locian ne milite on J)a lo
beorh[t|nesse . ssede eac lest Ixr cumen wsere sumes mannes sawul to f)ara
jcmote . se weard dcad in abboddomes fjejnunje. 7 sio wses swide wlitij
jesejen . pa jejripon ]3a deoflu Jja sawle. 7 hij ssedon licet hio wgere hiora
hlytes^ 7 hiora anwealdes . J^a andswarode him an of {)am haljan' cnjkim. 7
cwö?(f. Ic eow nu jecyde hrade* je earman jastas licet J)ios sawul [ne bid lö
eowj^res jewealdcs . Jia mid 1y Ic l'is (fol. 145b) jecweden wais. J)a com {)ser
fserlice micol hcap swide liwittra sawla 7 {)us wteron cwedende . {)es abbod wses
ure ealdor 7 us ealie he jestrynde jode mid his lare. 7 he bid alysed for {)issum
weordo. 7 he ne bid eowres anwealdes . {)a jefuhton {)a enjlas widdam deoflum.
eriperent
7 {>a enjlas {)a jeeodon ^ on {)a deoflu J)«^ hij jeneredon la sawle of {)ara 20
corripuit
wcrijdra'^ jasta anwealde . {)a J)reade se halja enjel |)a deoflu 7 cwceä.
trausibant. Quacdam vero labefactae de ligno cadebant in Tartareum flumen;
et aliae tinn:ucbantur pene, quasi toto coipore mersae; aliae autcm ex parte
quadam, vcluti quedam usque ad genua, quacdam usque ad corpus medium,
quaedam vero usque ad ascellas. Et tamen una quaeque cadentium niulto clarior
speciosiorque de flumine in alteram ascendebat ripam, quam prius in piceum
bulliens cccidisset flumen. Et unus ex beatis angelis de illis cadentibus
animabus dixit: Hae sunt animae, quae post exitum mortalis vitae, quibusdam
levibus vitiis non omnino ad purum abolitis, aliqua pia miserentis Dei cast-
gatione indigebant, ut Deo dignae offerantur. Et citra illud flumen specula-
tur muros fulgentes clarissimi splendoris, stupendae lougitudinis et altitudinis
inmensae. Et sanetos angelos dixisse: Haec est enim illa sancta et inclita
civitas, caelcstis Hierusalem, in qua istae peri^otualiter sanctae gaudebunt
animae. lllas itaque animas et istius gloriosae civitatis muros, ad quam post
transitum fluminls festinabant, tarn magna inmensi luminis claritate et fulgore
splendentes esse dixit, ut, revcrberatis oculorum pupillis, pro nimio splendore
in eos nullatenus aspicere potuisset. Narravit quoque, ad illum conventura
inter alias venisse cuiusdam hominis animam, qui in abbatis officio defunctus
est; quae speciosa nimis et formosa esse visa est. Quam maligni Spiritus
rapientes contendebant sortis eorum et condicionis fuisse. Respondit ergo
unus ex choro angclorum dicons: Ostendam vobis cito, miserrimi spiritus,
quia vestrae potcstatis anima illa probatur non esse. Et his dictis, repente
intervenit magna cohors candidarum animarum, quae dicebant: Senior et
doctor noster f uit iste, et nos omnes suo magisterio lucratus est Deo ; et hoc
' Nur der obere Teil des durchstrichcnen p erhalten. 2 ^m Rande:
particip. 3 Nur der obere Teil von jaw erkennbar. * Am Kande: cito.
^ Sprung. Wegen der Ergänzung vgl. 4 Zeilen weiter unten. ^ Ms. jeoden.
^ Das e durch untergesetzten Punkt getilgt und a von späterer Hand
darübergeschrieben.
44 Eine altenglische Vision vom Jenseits
sine
Wite 36 nu \:>fet je 3euamon {)a9 sawle buton rihte . 3ewitad jena earman
jastas nu in l)cet ece fyr, 7 J)a se enjel l>ia jecweden bfefde . J)a ahofan
{)a awyrijdan deoflu swide ormaitlicne hiaf 7 lii3 wurpan hi3 sylfe mid
cwealmiicre füllte on {)a byrn[endan seajdas.i 7 hij coman eft sefter lyttlum
5 fiiice in f)«^ 3emot 7 hi3 flito[n bi] ~ manna sawla jewyrhtum. 7 bij fliton
eac bi Jjara manna 3ewyrhtum Jje in l^issum life mislice lifiad. 7 he seede
eac [o]n3 f»a tid |)e he wses buton lichaman . {>«;' he mihte* sceawian J)a
men {)a Jje wa-ron mid synnum besmitene. 7 eac {sä |)e wgeron mid hal3um
m8e3num 3ode Jjeowigende. 7 mid ärfajstnyssum hsefdon a^lmihti3ne 3od. 7
protecti
10 he jeseah \)CBt Jja 5odesmen wajron symble biscyldede^ fram {)am en3lum.
7 {)a en3la8 wa?ron to him 3ej3eodde mid sibbe 7 mid lufu. 7 he ssede
bi J)am mannu?» {)e wasron 3efylde mid manfullum synnu»? J)fe/ ^aer
Uli
wasron symble deoflu to Jiam 3eJ)eodde. 7 he S8e,3de l>onne se man
syn3ode . odde on worde . odde on da^de . jicet J)a deoflu ^cet sinjallice ssedon
15 J)am wyrrestan deoflum. 7 \>(et hi3 hit brohtan mid hleahtre in hira midnesse. 7
he saede {)on«e se man firnode ])(et J)a deoflu brohtan selce synne on sundran
repente
Jjam odrum deoflum to jewitnesse. 7 he sfede ])(st se diofol semnin3a
docuit
Jja synne 3elserde I)one man 7 J)«^ he hi3 eft semninja jecydde {)am
deoflum. 7 he ssede f)«;" he 3esea3e 3rindan^ her on worulde an msejden on
20 anre cweorne'' . pa 3esiah hio lic3an oj^res mfe3dnes lorh wid 1113 swide faejre
awrittenne mid fa3um ffese . {)a forstael hio hine . J)a wasron J)a deoflu sona
gaudio
jefylled mid swide ormiftlice 3efean. 7 {j'^r urnon sona fif Jja wyrrestan deofla.
culpa
7 ssednn {)a stalu to scylde in {)ara odra deofla jemote. 7 hi3 wre3don
pretio redemptus est, et vestri iuris non esse dinoscitur, et quasi cum angelis
contra daemones pugnam inirent. Et adminiculo angelorum eripientes illam
animam de potestate malignorum spirituum liberaverunt. Et tum increpans
augelus daemones dixit: Scitote modo et intellegite, quod animam istam sine
iure rapuistis; et discedite, miserimi spiritus, in ignem aeternum. Cum vero
hoc dixisset angelus, ilico maligni spiritus levaverunt fletum et ululatum
magnum; in momento et quasi in ictu oculi pernici volatu iactabant se in
supra dictos puteos ignis ardentis; et post modicum intervallum emersi,
certantes in illo conventu iterum de animarum meritis disputabant. Et diver-
sorum hominum merita, in hac vita commorantium, dicebat se illo in tempore
speculari potuisse. Et illos, qui sceleribus obnoxii non fuerunt et qui, sanctis
virtutibus freti, propitium omnipotentem Deum habuisse noscebantur, ab
angelis semper tutos ac defensos, et eis caritate et propinquitate coniunctos
fuisse. Ulis vero, qui nefandis criminibus et maculate vitae sordibus polluti
fuerunt, adversarium spiritum adsidue sociatum et semper ad scelera suadentem
fuisse; et quandocumque verbo vel facto peccaverint, hoc iugiter quasi ad
laetitiam et gaudium aliis nequissimis spiritibus in medium proferens mani-
festavit. Et quando homo peccavit, nequaquam malignus spiritus sustinuit
moram faciens expectando, donec iterum peccaret; sed singillatim unum
quodque vitium ad notitiam aliorum spirituum offerebat. Et subito apud
1 Nur einzelne Striche erkennbar. - Lücke. * Falte im Pergament.
* //e mikfe sehr undeutlich. * Ms. biscyldende. ^ Pergament geschwärzt,
nur j, r, dem deutlich. '' Nur cimor deutlich, das übrige geschwärzt.
Eine altenglische Vision vom Jenseits 45
[)a stale to scylde. 7 sanlon ])cet \)mt ma'jden \va?re fyrenful. 7 ssede eac
^cef he {)fer jeseje sumes ealdes preostes saw[le] ^ in micelre unrotnesse . se
wjea lyttle ivr d[e]ad. 7 {)am he Jsejnade [sylf jer {)an]2 on his feorhadle.^ 7
he me'(fol. 146) {)a bead Jia he waes sweltende. |)«; ic bsede his [lices broilor
^^(Bt he]* friode ^cat^ nisennen for hine ^cBt wses hiom baem ^[emsene . {)a ^e- 5
cydd]e^ he hit him . ac his lices brodor for his jitsunje aja'jlde his be]ne^
7 nolde hij jefyllan * . {)a wa^s his sawul on J)8ere hexlan sworetunje [7
wa-ls" wrejende hire I)one unjetreowan brodor. 7 hio hefi3lic[e] hine
[J)rea]de. '" 7 I^a Jjis wa^s call J)uss ^especen 7 jesceawod . {)a bibudon I)a
mora
eadijan enjlas '^mt his sawul ahwyrfde eft buton yldinje to his lichaman. 7 he lo
J)a 3ecyd[djeii call ^cet him {jajr jeteawed waes jelyfedum niannum. 7 {)am
J)e hit bismorodan . ^oime forwyrnde he {)a»i J)a?re sejene. 7 sumum wife he
jerehte hire synne . sio wa^s eardijende in feor J)iode. 7 he hire jecydde ^(st
hio niihte jeearnian jif hio sylf wolde ^cet hire wa?re gelmihtij jod miltsiende.
7 sumum maessepreoste he jerehte ealle {)as jastlican jesihde . I^a-s maese- 15
preostes nama waes bo^ia. 7 se hine jdaerde ^cet he J)as jesihde mannum
cydde. 7 he jecydde |)am preoste ^cet he waes iu for manejum wintrum
cinctus
bi^yrded for jodes lufan mid iserne jyrdelse. 7 naes him {)a^8 naenij man
jewita. 7 he saede |)a he eft sceolde to his lichaman. ^oit he J)a naenije odre^*
wiht swa swide onscunode on ealre J)aere jesihde ])e he jeseah . swa his 20
hominem peccata suasit, et ilico apud daemones perpetrata demonstravit.
Inter ea narravit, se vidisse puellam quandam in hac terrena vita, molentem
in mola. Quae vidit iuxta se iacentem alterius novam colum sculptura variatam ;
et pulchra ei visa fuit, et furata est illam. Tunc, quasi ingenti gaudio repleti,
([uinque teterrimi spiritus hoc furtum aliis in illo referebant conventu; testi-
ficantes, illam furti ream et peccatricem fuisse. Intulit quoque: Fratris
cuiusdam, qui paulo ante defunctus est, animam tristem ibi videbara. Cui
antea ipse iu infirmitate exitus sui ministravi et exsequias praebui; qui mihi
moriens praecepit, ut fratri illius gerniano, verbis illius testificans, demandarem,
ut ancillam quandam, quam in potestate communiter possederunt, pro anima
eins manu mitteret. Sed germanus eins, avaritia impediente, Petitionen eins
non implevit. Et de hoc supra dicta anima per alta suspiria aceusans fratrem
infidelem et increpans graviter querebatur ...
Tum demum beati angeli praecipiebant ei, qui haec omnia, extra corpus
suum raptus, spiritali contemplatione vidit et audivit: ut sine mora ad pro-
prium rediret corpus; et universa, quae illi osteusa fuerunt, credentibus et
intentione divina interrogantibus manifestare non dubitaret, insultantibus autem
narrare denegaret ; etut cuidam mulieri, quae inde in longinqua regione habita-
bat, eins perpetrata peccata per ordinem exponeret et ei intimaret, (piod omni-
potentem Deum potuisset per satisfactionem repropitiari sibi, si voluisset; et
ut cuidam presbitero nomine Beggan istas spiritales visiones cunctas exjioneret
et postea, quemadmodum ab illo instructus fieret, hominibus pronunciaret ;
propria quippe peccata, quae illi a spiritibus inmundis inputata fuerunt, con-
fessa, supra dicti presbiteri iudicio emendaret; et ad indicium angelici prae-
cepti preabytero testificaretur, quia iam per plurimos annos zonam ferream
circa lumbos, nullo hominum conscio, amore Domini cogente, habuerat.
1 Falte. 2 Ausschnitt am unteren Rande. ^ Am Rande darunter:
extrema. * Großer Riß. ^ Nicht sicher zu erkennen. ^ Riß im Perga-
ment. ^ Riß. 8 Ms. jefyllen. » Sprung, i" Sprung. " Loch. '2 oder
n(Bnij oder wihtl Ms. ncenijre odru wiht.
46 Eine altcnglische Vision vom Jenseits
ajcnnc lichamaii . ne him nan Jiinj SAva ladlic {)uhte ne swa forsewenlic. 7 he
najfrc jostanc hiardran fülnc8[sel ' I^oune hvii Jjuiitc licet sc lichama stunce
butau I^am dcoflum 7 I>am byrncndura fyre ])e he J)8er 3cseah. 7 him J)a
wa^s bibodcn Ipcei he 2 hwyrfde to his lichaman in dsejred. 7 ser he eode of
5 his lichaman ast {)am forman häncrcde.^
Proprium corpus dicebat sc, dum extra fucrat, tarn valde perliori-uisse, ut in
Omnibus illis visionibus nihil tam odibilc, nihil tarn dcspcctum, nihil tarn
durum foetorem evaporans, exceptis demonibus et igne flagrante, videret,
quam proprium corpus . . .
lussus tarnen ab angclis, primo diluculo redit ad corpus. Qui primo galli-
cinio exicbat de corpore . . .
\
1 Ms. fi'dnes. 2 Sprung, nur der obere Teil des h erhalten. ^ ^m
Rande: gaUican.
Bemerkungen zu einzelnen Stellen.
S. 38 6. Es ist schwer zu sagen, was sich der Übersetzer bei nedbad
gedacht hat. Die gewöhnliche Bedeutung 'Notpfand, gewaltsam genommenes
Pfand' gibt hier keinen Siun. Wenn wir die lateinische Vorlage in Betracht
ziehen ('Dicebat, se per violentis egritudinis dolorem corporis gravedine
subito exutum fuissc'), so sehen wir, daß 'egritudo' wiedergegeben wurde
mit ßcet his Ucliayna wäre seoc jeuorden. Dem 'corporis gravedine subito
exutum fuisse' entspricht: 7 he iccbs semninja py jaste bencpmed. So bleibt
also nur noch 'violens' und 'dolor' übrig, 'dolor' scheint ganz übergangen;
beim 'violentis' der Vorlage mag dem Übersetzer etwas wie 'violentia' in den
Sinn gekommen sein. Man erinnert sich der öfters belegten Phrase nyde
jebmlrd, so daß nedbad hier etwa 'schwere (körperliche) Bedrängnis' oder
dergleichen bedeuten könnte. Im bildlichen Sinne kommt das Wort auch in
einer Homilie 'on the Harrowing of Hell', herausgegeben von H. Huhne,
Mod. Phil. I, vor; s. E. H. Swaen, Engl. Stud. 49, S. 350.
S. 38 9. beivrijennys = 'velamen'.
S. 39 '4. scm^cfijwes = 'laesio'. scseddig ist bei Bosworth- Toller aus
^Ifrics Grammatik (Zupitza 63, 15) belegt, wo die Hs. U sceaddig bietet.
S. 39-2. lihtijende, 'relevando', von *lihtian für lihtan.
S. 40 13. drupunj = 'torpor', von an. drupa. Hier ein ae. Beleg für
das Wort.
S. 40 lö f. Hier scheint im Texte etwas in Unordnung geraten zu sein.
Die Worte: pa pu oära manna lif eahtodest (mit der Glosse persccufus es) . 7
pin ajen lif forlete haben in der lat. Vorlage nichts Entsprechendes und
passen auch nicht zum vorhergehenden siciciende jepoht 7 u»nyt jymeyi.
Was in der Vorlage weiter unten, nach Ego Her otiosum steht: Ego surn
neglrgentia et incuria etc., ist in der Übersetzung ganz übergangen.
S. 40 17. mid pam auf slapolnis bezogen ('somnolentia, qua oppressus ...');
doch vgl. S. 421^: ßeos stow he pan enjlas sadon . ..
S. 41 6. tealode, zu ialian (übersetzt lat. 'computare'), mit ««-Umlaut..
S. 42 12. suej beruht entweder auf einem Mißverständnis des Über-
setzers oder einem Versehen des Schreibers; man würde, entsprechend dem
lat. 'fragrantia' ('fraglantia'), stenc erwarten.
S. 44 4. fliht hier feraininum.
S. 44 2ü. lorh als masculinum.
Greifswald. M. Konrath.
Dickens' Gebrauch der rhythmischen Prosa
im 'Christmas carol'o
Rhythmische Prosa besteht nicht bloß in gleichmäßigem Wechsel
von Hebung und Senkung durch eine beträchtliche Strecke
sonst ungebundener Rede hin (Kettenrhythmik) oder in gleich-
mäßiger AViederkehr irgendeiner Gruppierung von Hebung und
Senkung (Parallelrhythmik). AVürde dieses rein sinnliche Kriterium
genügen, so müßte oft die gewöhnlichste Geschäftsrede dm-ch ganze
Satzreihen hin als rhythmische Prosa bezeichnet werden. So ist
aber der Begriff nicht gemeint. Er setzt vielmehr voraus, daß die
Rhythmisierung nicht etv^'as Zufälliges oder Willkürliches sei, son-
dern etwas Künstlerisches, ein Mittel zu besserer Hervorhebung
poetischen Inhalts, eine organische Außenform für innere Gehoben-
heit. In solchem Sinne sprechen wir von der rhythmischen Prosa
vieler Bibelstellen, besonders der Psalmen, der Üssiandichtungen,
des Nietzscheschen 'Also sprach Zarathustra'. Natürlich ist solche
Gehobenheit des Inhalts nur ein relatives Kriterium, durch dessen
Hinzutritt das absolute Kriterium, nämlich die Wiederkehr der
Hebungen und Senkungen in einer der obengenannten zwei For-
men, ohne Zweifel etwas Vages erhält. Aber in allen künstle-
rischen Dingen ist mit einer gewissen Unbestimmtheit der Grenzen,
mit einem sehr individuellen Element des Schaffens und des Auf-
fassens zu rechnen. Verzichtet man darauf, die Zweckmäßigkeit
in der Rhythmisierung der Rede mit zu beachten, so ist es fast
unmöglich, bei den alltäglichsten Plu-asen rhythmische Prosa zu
vermeiden.
Mit richtiger Absicht hat Dickens im Xm C weit mehr als in
irgendeinem früheren Werke das Prinzip verfolgt, aus gewöhn-
licher, rhythmusloser Prosa da, wo das Übernatürliche hereinspielt,
in Rhythmik und zugleich in eine gewähltere Rhetorik überzugehen;
meistens ist es allerdings einfache Rhetorik, die sich nur durch
Vornehmheit in der Wortwahl auszeichnet.
Dickens braucht dieses Stilmittel, um aus der Welt der Wirk-
lichkeit, ja krasser Wirklichkeit, mit der seine Geschichte anhebt,
den Leser glaubwürdig ins Traumhafte, Wunderbare und Bedeut-
same hinüberzuschieben. Er verwendet es zuerst da, wo er bei
Scrooges einsamem Abendessen ein unheimliches Rumpeln im Kel-
ler erwähnt; es ist das Vorspiel zur Erscheinung des Geistes. Nie-
mals hatte Dickens früher einen Geist beschworen, höchstens dü-
stere Regungen des Gewissens ausgemalt. Es war eine neue
Aufgabe, der er sich hier unterzog, über die Wirklichkeit hinaus-
zugreifen, und es ehrt sein Geschmacksgefühl, daß er hiezu auch
einen neuen Redeton anschlug.
48 Dickens' Gebrauch der rhythmischen Prosa im 'Christmas carol'
Die Kettenform, in der die Ankündigung von Marleys Geist
beschrieben ist, wird durch eine Reihe blankversartiger Gebilde
dargestellt; manchmal sind es drei oder vier Jambenpaare, manch-
mal auch sechs oder mehr, die durch eine geringe Unterbrechung
der Rhythmik oder durch einen markanten Satzschluß voneinander
geschieden sind:
The cellar-door flew open with a booming sound,
And then he heard the noise much louder on the floors below;
Then coming up the stairs.
'It's humbug still I' said Scrooge. 'I won't believe it.'
His colour changed though, when, without a pause,
It came on through the heavy door,
And passed into the room before his eyes.
lipon its Coming in, the dying flame leaped up,
As though it cried, 'I know himi Marley's Ghost!'
And feil again. (Ed. Tauchnitz, S. 24.)
Ahnliche Kettenformen begegnen bei der Ausmalung der visionären
Tischszene im Hause des Schreibers Cratchit:
At last the dishes were set on and grace was said.
It was succeeded by a breathless pause,
As Mrs. Cratchit, looking slowly all along the carving-knife,
Prepared to pluuge it into the breast;
But when she did,
And when the long expected gush of stuffing issued forth,
One murmur of delight arose all round the board,
And Tiny Tim, excited by the two young Cratchits,
Beat on the table with the handle of his knife.
And feebly cried Hurrah I (S. 67.)
Ebenso bei der Beschreibung der Allegorien von Ignorance und
Want durch den Geist:
'They are Mau's,'
Said the Spirit, looking down upon them.
'And they cling to me, appealing from their fathers.
This boy is Ignorance. This girl is Want.
Beware them both and all of their degree;
But, most of all, beware this boy, for on his brow
I see that written which is Doom,
Hnless the writing be erased. Deny it!' ...
'Slander those who teil it ye!
Admit it for your factious purposes and make it worse!
And bide the end!' (Ö. 84),
Auch in den Worten des erschütterten Scrooge an den Geist der
zukünftigen AVeihnacht:
'Ghost of the Future!' he exclaimed,
'I fear you more than any spectre I have seen.
But as I know your purpose is to do me good,
And as I hope to live to be another man from what I was,
I am prepared to bear you Company,
And do it with a thanliful heart.
Will you not speak to me?' (S. 85—86),
Dickens' Gebrauch der rhytliniischen Prosa im 'Christinas caror 49
in der Schilderung des Zimmers, in dem der Tote liegt:
A pale light
Rising in the outer air,
Fell straight upon the bed;
And on it, plundered and bereft,
Unwatched, unwept, uncared for,
Was the body of this man. (S. 94.)
Weitere Belege dieser Art bieten die malerische Beschreibung der
wilden Heidelandschaft (S. 73), der Vorwurf, den der Geist der
gegenwärtigen Weihnacht gegen Scrooge erhebt (S. 36 — 37), das
feierliche Versprechen des bekehrten Scrooge an den letzten Geist
(S. 103).
Die Parallelform dagegen in Ossianischer Gestalt ist selten zu
beobachten, am ehesten in der Weise, daß zwei Redegruppen von
je vier Füßen aufeinander folgen, z. B. in der Klage von Marleys
Geist über seine Ketten:
'I ivear the c//ain I /brged in Zife' (replied the Ghost).
'I made it Zink by Zink, and ^ard by ya.rd.
I ^rirded it on of my own free iviU,
And oi my own free iriW I irore it . . .' (S. 27 — 28)
und in der Schilderung seines unsteten Daseins:
,; '. . . I cannot rest, I cannot stay,
I cannot linger anywhere . . .' (S. 28);
Ferner in der Frage des in Seelenangst versetzten Scrooge an den
^®^^''- 'But H'hy do spirits ?i'alk the earth,
And why do they come to we?' (S. 27);
Auch in seiner Bitte an den Geist:
'Old Jacob ilfarley, Zell me more.
Speak comfort Zo me, Jacob.' (S. 28.)
Doppelte Wiederholung einer rhythmischen Gruppe von vier Füßen
ist zu beobachten, wo Dickens selbst beschreibt, wohin Scrooge
von dem Geist der gegenwärtigen Weihnacht geführt wird:
Much they saw and far they went,
And many homes they visited,
But always with a happy end. (S. 82.)
Überblickt man den Bau in diesen Hauptstellen mit rhythmischer
Prosa — von den kürzeren und fraglichen Belegen abgesehen — ,
so ergeben sich für Ketten- und Parallelformen charakteristische
Unterschiede.
Die Kettenform hat offenbar einen wesentlich epischen Cha-
rakter. Die Sätze dehnen sich vor uns, als wollten sie uns auf
Flügeln der Phantasie hintragen. Der dramatische Blankvers lag
dem Dichter im Ohr, aber seine Fünffüßigkeit ist vermieden; meist
sind sehr lange Gebilde ausgesponnen. Nur ausnahmsweise ist der
Archiv f. n. Sprachen. 139. 4
50 Dickens' Gebrauch der rhythmischen Prosa im 'Christmas carol'
Anfang ein trochäischer. Zweisilbige Senkung wird fast niemals
eingeschoben; auch schwere Senkungen werden gemieden.
Inhaltlich erinnert das erste Beispiel dieser Kettenform — An-
kündigung von Marleys Geist — an die Beschreibung, die zu An-
fang des Hamlet von der Erscheinung des Vaters gegeben wird,
und es ist wohl möglich, daß von dort die Anregung zu Dickens
gelangte, für eine Weile zum Stil der Verstragödie sich zu erheben.
Die zweite Stelle in Kettenrhythmik gemahnt insofern, als der
Inhalt eine visionäre Tischszene ist, an Macbeth, und zwar in paro-
distischer Umformung. Jedenfalls hat Shakespeare, mit dem Dickens
nicht umsonst sich so intim beschäftigt hatte, wesentlich geholfen,
dieses'^halbe Versgewand ihm aufzudrängen.
Die Parallelrhythmik hat mehr lyrischen Charakter. Sie wird
tatsächlich zum Ausdruck auffälliger Stimmungen verwendet. Häu-
fig ist sie verbunden mit Wortwiederholung oder doch mit par-
allelem Satzbau, auch mit Alliteration. Da sie regelmäßig in vier-
füßigen Gebilden auftritt, einmal sogar mit großer Annäherung an
Endreim {went : end S. 82), haben eher die Verse der Hecate in
Macbeth III, 5 und der Hexen daselbst auf Dickens gewirkt, als
etwa die rhythmische Prosa des Ossian.
Man kann nicht sagen, daß diese Verwendung rhythmischer
Prosa in Dickens' Manuskript im ersten Entwurf weniger aus-
geprägt wäre als in seiner eigenen Korrektur oder in dem von
Forster für die Presse besorgten Text. Von vornherein waren die
Wunderszenen des Xm C in dieser gesteigerten Ausdrucksweise
abgefaßt, und es lag Dickens fern, sein neues Kunstmittel im Über-
maß bis zur Manieriertheit zu gebrauchen.
Berlin-Steglitz. Fritz Fiedler.
Bemerkungen
zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch',
Lieferung 1 und 2.
'Tu der im Arch. f. n. Spr. 137, 83 begonnenen Anzeige der von
^ E, Lommatzsch herausgegebenen Sammlungen Adolf Toblers
zu einem Altfranzösischen Wörterbuche folgt hier die Fort-
setzung, deren Abdruck der Raum dort nicht gestattete. In den
unverändert gebliebenen Bestand derselben sind nur die Bemer-
kungen zur Präposition a, die zur Einschränkung des Umfanges
der Besprechung damals fortgelassen worden waren, nachträglich
eingefügt worden. Eine abweichende Meinung über einige Ein-
zelheiten aus dem von Tobler gesammelten Stoffe wird zur
Sprache kommen. Hinzu werden auch neben Godefroys Wörter-
buch noch mögliche Ergänzungen zum Wortschatze, zu den Be-
deutungen und zu den Wendungen, sowie dort, wo eine Ver-
mehrung der dargebotenen Belege wünschenswert oder wenigstens
nicht überflüssig erschien, weitere solche treten. Ein * bezeichnet
Wörter, die Tobler nicht, Godefroy hingegen aufführt, ein **
solche, die keiner von beiden^gibt; entsprechende Kennzeichnung
hinzugefügter Bedeutungen * unterbleibt. Chretien de Troyes'
Dichtungen sind im allgemeinen nur dann, wenn W. Foersters
Wörterbuch zu diesen im Stiche läßt, angezogen. Einige Belege
entstammen auch Denkmälern, die erst nach Toblers Heimgang
herausgegeben worden sind; auch auf Texte des 15. Jahrhunderts
wird hin und wieder herabgegangen, auch wenn manche unter
den Zugaben aus diesen strenggenommen nicht in den Rahmen
der Sammlungen Toblers (vgl. Lommatzsch, Einleitung S. .")
unten) gehören.^
; a, s. m. Buchstabe a, auch: ' A! dist li prestre, 'a' dist li lous, MFce,
j(, Fab. 81, 3; Car a, qui est letre seconde De vo non (sc. Maria), senefie a'ie
^'. Contre l'assaut et Venvaie De Vanemi, TrBelg. I, 208, 88; Por ce secont a,
jl virge . . . , Me deveis vos copcr le corde Dont je suis asprement loy6s, ib.
> 212, 210.
.f bildl., auch: Dieu . . . , Qui nous fait si d'un a un h Que totiz jours notis
.'■- sommes gahe Et perdons tout (Worte des Teufels), Mir. ND. 36, 579; (?)
'■ Vous en saves l'a et avant, Froiss., Po6s. I, 192, 3566 (Scheler vergleicht
dtsch. 'von A bis Z').
a! interj. klagend, als haa: Uaa, sire Chevalier, je te requier merci, Pr.
Clig. 322, 20.
1 Aus dem 15. Jahrhdt. weist A. Delboulle, Rev. d'hist. litt, de Fr. I,
178 ff. u. 486 ff. in Ergänzungen zu Godefroy die neufranzösischen Wörter
a'bat (als ce qui ahat), ahject, ahnegation, abord, abriter, ahruption, aca-
riätre, activer, acfivite, adjuraiion nach.
52 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
abwehrend: '77a." fet uns autre, 'ne vos chaut. Leissiez cest truant ...',
Gd'Angl. 591.
scheinheilig bewundernd: 'A, Dens sire!' fet li gupiz, Hant par est eist
oisels gentiz!' MFce, Fab. 13, 13.
ffl praep. Nur weniges finde Erwähnung. Innerhalb der einzelnen Ru-
briken kann man häufig noch Scheidungen vollziehen.
1. lokal. Ankunftsort. Zu a terre 2, 3: aler a terre 'landen' Gd'Angl.
2409. Zu a terre 2, 4: venir a terre 'zur Erde sinken' {pasmez) Clig. 5766,
'absiizen' Graal C 8678; (im Kampfe vom Pferde fliegen) Erec 2206, Clig!
4065, 4940. Neben a terre 'zur Erde, zu Boden' (auch Clig. 1778, ChLy.
4493, ChCharr. 4313, Gd'Angl. 1469, 1715, MFceFab. 92, 5, Am. Am. 3024,
JBlaiv. 1918, 4010, JCond. I, 359, 146 . . .) gleich oft a la terre: Erec 3059,
ChLy. 6271, MFceFab. 15, 30, Am. Am. 2973, JBlaiv. 512, 702, BComm.
1135, JCond. II, 16, 489 ...
Ziel (abstrakt), 2, 13 (vgl. 6, 3; 6, 18), hierher auch Et ses euers est en
tel destrece, Qu'il ne set a quel fin il (er) viegne (d. h. wie die Sache für ihn
auslaufen möge), Julian 747; issi que ... (die Heiden) de la malvaisi error
venissant a la verai fin de religion, Afr. Pr.-Leg. K 8, 8 und Wendungen
wie venir a victoire Prior. Veg. 6127, 7256, venir a naissance Julian 3541,
venir a vaillance 'sich Geltung erringen' TrBelg. II, 80, 35, venir au repentir
'Eeue fassen' Erec 2538, ferner venir a ce: Por qu'estes chenuz? Est tiostrc
aaiges a ce venuz (soweit gediehen) ? Ly. Ys. 2866, venir a ce que . . . :
Pour le le honte que il avoit De die qu'il fu a che venus Que fameilleus estoit
et nus, Chastoiem. 2, 147; car espoir qu'il venra A ce qu'il se repentira De
son meffait, Mir. ND. 14, 423, vient a . . . und go vient a 'es kommt zu etw.,
d. h. etwas kommt heran, tritt ein', Tant que vint a la nuit oscnre, ChLy.
4838; Clig. 6164, Tant que vint a la fin d'este, Clig. 1052; tant . . . que vint
a l'anuitier, ChSax. 1384; tant . . . que ce vint au Chief de Van Abent. Gaw.
(ed. H. 0. Sommer, 1913) 67; Quant vint a la tierce semainne, Erec 2126;
quant vint a l'ajornee, JBlaiv. 4217; quant vint al quart jor, Afr. Pr.-Leg.
F 18, 3; Quant vient au tens que . . . , Ly. Ys. 1945; quant ce vint au des-
sevrcr, Clig. 4384; Quant vint au prendre le congie, FlBl. 1168; quant vient
a Vesprouver, ArtChev. 14; Quant ce vint au chief de dis anz, Gd'Angl.
1359; quant ce vint au vespre, Pr.- Julian XXII, 7; quant ceo vint a l'assem-
blee, MFceFab. 65, 41; quant ce vint a son tens (da sie gebären mußte),
ChSax. 110; quant ce vient a la saison Dou tournoi, JCond. I, 200, 1028;
quant ceo vint al departir, MFeeElid. 935; 8'estoit venu a l'esiovoir, Ch-
Charr. 5259; Dire li vueil, puis qu'a ce vient (es gilt dies), Mir. ND. 8, 897;
auch mit a c. Inf. 'es kommt dazu, handelt sich, gilt': quant vint a« tailes
oster, Clig. 3322; et quant vient a ferir de pres et a houter ou de glaive ou
de qnelconque autre chose, ArtChev. 29 (lat. cum ad pila venitur) ; puis
qu'a ce faire vient, Mir. ND. 22, 1165; puis qu'a faire vient, ib. 30, 1405
und vieles andere. Vgl. Zustand, Lage, 4, 15 ff.
Zu ö la montance, 2, 19 s. Verm. Beitr. 3 ^, 67 Anm.
Ort wo, ... 2, 21. Neben chcoir a auc. as picz 2, 40 auch . . . au pie: Or
n'alcz ja plus delaiant Qu'au pie ne Van ailliez cheoir, ChLy. 3977, ebenso
bei venir, ib. 1862. a une part 'a.uf einer Seite, seitwärts, abseits': Pres de
cel ynunt a une part . . . ZTnc cite fist faire uns reis, MFce, DAm. 11 ; vi une
part, que il lo voie, Li ont son cheval cstaMe, Chev. a l'esp. 234 (das häufige
a une part 'abseits, beiseite', auf die Frage wohin?, ist 5, 32 berührt), a
terre 'am Boden' Gd'Angl. 1892. MFceFab. 52.23, Abent. Gaw. 127 . . . ; a la
terre, dsgl., Erec 5065, Am. Am. 1547, Abent. Gaw. 40, 123 ... (zu 'zu Boden'
s. oben), a Vair 'im Freien': La fors a Vair vous deduires, Chast. 12, 122.
Zu estre a auc. 3. 10 ff.: estre a Dieu 'bei Gott sein': Et teiz i at qui plo-
rent por ce k'a deu ne sunt, PoMor. 95 d.
Ort, dem man etwas entnimmt, dtsch. 'von, aus': S'amie fcra (er) Ves-
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 53
previer Devant toz a la ptrche prandre, Erec 577, 813, 828; A un leignier
prent un grant fast, Julian 1604; Une foiz devoit il de Vaiice al ptic pulsier,
PoMor. 70a; A la riviere n'ay peu Pulsier ... Goute d'yauc, Mir. ND. 29,
2422; Ci dit del lou e de Vuignel, Ei ieveient a un duitel. Li lous en la
siirse bcveit ..., MFceFab. 2, 2; pour boire a la fontaine, DitRobDi. 176a.
Zu a ostel, 3, 16, auch, a muison 'zu Hause': A maisun est e si se tapist
(ecce absconditus est domi), LRois S. 35 (Ler.) ; S'amie remest a maisun,
MFceMil. 123; 'nach Hause': Tant qiie jeo revienc a maisun, MFceBiscl. 96;
Va a maisun, MFceFab. 76, 83.
anhaften, hängen au, 2, 38, s. Verni. Beitr. 4, 37.
Anwesenheit unter einer Mehrheit von Personen: Alez s'en est li Cheva-
liers Mien escient tut us premiers, MFceBiscl. 216.
Entfernungsmaß, 4, 27, als Maß bis zu welchem auch, zu den Zielangaben
gehörig. Weitere Wendungen: desoz le pin trova Celui qu'ele ne cuidoit
pas Trover a si petit de pas, ChLy. 6668; a comhien Peut il pres estre? —
A main^ d'une liue, chier maistre. Mir. ND. 25, 412; Luinz de la porte al
trait d'un arc, MFceElid. 799; et si les voyoient passer a tm trait ou deux
d'arc pres d'eux, Journ. d'un Bourg. de Par. 1429, bei Buchon, Chron. et
M6m. I, 679b; A. ii. arcliies ti a mains De la forest dont il issirent ...,
Veng. Rag. 3832.
Alarmrufe, 5, 43, auch. Or ga trestuit a moi! (los auf mich) ChCharr.
1188; Or tost a luil Gd'Angl. 984; A lui! fait il, sil me batez . . . ! Purg.
Patr. 2291; a eulx! a eulx! Pr.-Clig. 299, 14; hareu! hareu! o cest tirant!
Judkn. 82, 68; Or as chevaus por lui secorre! Clig. 3549; Or as chevau^!
BComm. 3749; or as armes, seignor! Graal C 5875; Or as armes! Mer.
5743; Ore as armes sans plus atendre! Julian 2149; As armes! Veng. Rag.
2681; As armeg! Pr.-Jul. XII, 1; Or a Vassaut! Gaydon 4568; Bonnes genz,
venez! a l'assault! Mir. ND. 22, 1349; Or a Vassaut! Froiss. Po€s. II, 421,
LXXXVII; en criant a Vassaut! et a Varme! Jean de Troyes 1465 bei Bu-
chon, Chron. et M6m. I, 256 a.
Verkäuferrufe: As pos! as pos! Eust. M. 1072, 1082, 1113.
Richtung, Ziel des Trachtens, 6, 3, so auch A vie parmenable bee L'ame
n'a a el sa pensee, Bari. 1822; n'as pas, joti cuic, garde A chou qui parant
est defors, ib. 1352; Ne pren pas garde a ta voisine, Se son chief muche et
encortine (s. Aufmerksamkeit richten, achtgeben auf), Clefd'Am. 2265;
A ceu tent et a ceu t'enforce ke tu praignes deleit en nostre signor, Serm.
Bern. (F.) 156, 9; Puis qu'a ce ta voulente prise S'est, je n'y contrediray
pas, Mir. ND. 19, 1201. avoir le euer, 6, 8, auch mit a u. Inf.: A Jiouneur
conquerre et a pris Avoit le euer, JCond. I, 306, 108. Weitere Verba oder
Wendungen mit a u. Inf.: A lui garir ont grant antante, Erec 5200; Chas-
cuns a Dieu prier avoit s'entente mise, Jdnkn. 111, 22 d; Li XXXIIII es
(sc. chapitres) devise quele entente on doit mettre a faire les liburnes, (Qua
diligentia fabricentur liburna«) ArtChev. S. 162; a penitence faire vous mei-
tez (Imp.), Mir. ND. 21, S. 247; Et per le lox que eil an orent A meuz faire
s'estudiarent, Prior. Veg. 186; Si ne met je pas m'esttidie A dire que ...,
Froiss. Poes. III, 158, 4; A querre m'arme s'efforsoient, Reimps. 37, 12 in
Oxf. Ps. S. 286; (conari) ArtChev. S. 5; (moliri) ArtChev. S. 133; A Cliges
(unter den Lanzenstechenden) esgarder estrive (strengt sie sich an), Clig.
2912; Onques en jour de son vivant Ne fu qu'il ne fust estrivant A mal faire,
Mir. ND. 14, 730; ceulx qui sont en la vie active, qui contendent ci aval a
detenir celle vierge (sich anstrengen) , Mir. ND. 26, S. 229. S. auch H. Solt-
mann. Franz. Stud. I, 378; 393; J. Soergel, Hom. Forschungen 14, 241 f.
Im besonderen zu demorer, fair-e demore a . . . 'zögern zu', 6, 17: demorer
a mit sbst. Inf.: La dame demora molt au respondre, Pr.-Jul. XXI, 6:
ebens50 rfl. tarder: La reine au dire se tarde, Clig. 1575; faire demor ...:
Et eil ne voet faire demour A faire ce qu'il ot empris, JCond. I, 319, 502;
54 Bemerkungen zu "Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
delaier: Et par cel jugement pot on veir c'on pot bien perdre par delaier a
requerre son droit, Cout. Beauv. Cap. 9, 7 ; vaz li dire Qu'a venir ne delaie
mie, Mir. ND. 16, 17; detriier: Je ... Vous requier que . . . ne nons detriez
A faire aide, Mir. ND. 13, 547; sejorner: Ne a ce faire ne sejorne (Imp.),
Prior. Veg. 7114; tardor, targier (bez; rfl.), atargier: a prendre le salut de
voz ames ne tardez, Mir. ND. 21, S. 247; A venir doiz un poy targier, Clef
d'Am. 3215; Ne se targa pas a fiiir, Fab. Avian 350, 22; et tu ki es tu Jci ne
t'atarzes a offrir? Serm. Bern. (F.) 125, 30 (vgl. auch A folie n'est pax
tardi Cohars qui se prant a l'ardi, Ly. Ysop. 1800) ; nietre mit Zeitdauer-
angabe (das zweite Beispiel als einziges altfranzösisches auch bei Godefroy
V, 316 c) : Trop a niis (sie) a li atorner, Erec 2669;^ Trop avons mis A aler
chez ma fille Anthure, Mir. ND. 6, 241; Je croi que trop lonc tens a mis
A moi venir reconf orter, Chast. S. Gille 146; Egar! que met taut a venir
De la ou est ma chamieriere? Mir. ND. 15, 666; Sire, il m'est avis qu'avons
mis Grant piecc a revenir ici, ib. 38, 662; Quant Lanceloz s'öi nomer, Ne
mist gueires a soi torner, ChCharr. 3686; faire longuement: Trop me fisies
longuement, Amis, a mi proiier ent, Ad. Halle XXXI, 3, 1. demorer, tarder
(se), sejorner a c. J. belegt auch J. Soergel, Rom. Forschungen 14, 249.
Erreichtes Ziel . . . , 6, 18, so auch: estre ars a cendre (zu Asche), Jdnkn.
121, 245. Wunschformeln: ce soit a hon destin! ChSax. 2706; ce soit a mal
eur! JBlaiv. 277; cc soit a hon cur! Mir. ND. 7, 506; a huen eur! Erec
2776, JBlaiv. 1204, Eönsch, Kindh. Ev. S. 61; a mal eur! Gd'Angl. 676 (in
F.s Anm. weitere Belege), Ferg. 122, 23.
Belauf: D'andeus parz a trois ganz se content, 8i furent par igal de
nonhre (sich belaufen auf), Clig. 2882; As cans ont lor gens aesmes, A trois
cens prisent lor armes (schätzen auf), Julian 2400; ..., s'c7i i ot d'armez
Bien .XXX., a tant les a esmez Li Chevaliers, ne mie a mains, !Mer. 2254;
s. Tobler s. v. aesmer.
Person, an die man sich wendet, 6, 28; zu avoir auc. r. a auc. 42 u.
50 ff.: Regardez ou femme truissiez, A qui hoir masle avoir puissiez. Mir.
ND. 29, 6; zu cmpetrcr, 7, 7, auch conqucrre: Et si despande Vor cuit et les
mangons (Art Goldmünzen). Qu'il a conquis au riche rot Charlon, Am.
Am. 2551.
Gesellschaft, 8, 1 1 , so auch Repairies est en son päis A che que il avoii
conquis, Chastoiem. 2, 90; Lc roy Loey fist passer A grant navie outre la
mer, Eust. M. 2253 (neben Vnc autre fois entra en mer Od grant navie por
passer, 2265) ; prendre compaignie a auc, MFceFab. 11, 42, Chastoiem. 6, 66
(neben od auc. Bari. 1966); prendre soistie a auc.: A luxure prenez soistie,
Dav. Proph. 221, 1141. Abschiedswunschformel: alez a Dieu! und va a
Dieu! 'mit Gott, unter Gottes Geleit': Alez a Deu qui vos conduie, Graal
C 1673; A Deu alez, hiaus sire! Am. Am. 310; Ales a Diu, car je m'en vois!
Veng. Rag. 5355; Alez a Deu, dame! Tr. Belg. I, 236, 329; Alez a Dieu,
mon chier enfant, Qui vous doint la venir a joie! Mir. ND. 1, 1134; Or alez
donc a Deu, hiaus sire! ChLy. 4627; Bien a.s deservi le congie. Or va a
Dieu! Chastoiem. 10, 92.
Zur Bildung eines Dativs, 9, 1. Zu Alex. 108 b, Z. 17, vgl. Sp. 3, 14.
Nach Adjektiven: eis nons Juliiens est comuns a toutes gens, Pr.-Jul.
XXVIII, 6; (der Teufel) li pramist (dem Adam) si grant honur Que pers
sereit al creatur, MFceFab. 53, 50; Por ce s'il a vous n'est iveus En richete
et en lignie, Tr. Belg. I, 131, 30; li Jone hoinme diliganment esleu . . . por-
ront legierement cm, hrief temps estre parail as Ions Chevaliers a/nctensi<
(iuniores ... veteres illos milites facile coaequabunt) , ArtChev. S. 60; La
quinte meniere samhlauhle Est a la quarte, Prior. Veg. 7 i09; cumparez est
1 Die von Foerster, Krist.-Wb. 184 angegebene Bdtg. 'zuviel Zeit ver-
wenden auf trifft nicht zu.
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 55
as jumenz nunsavanz e semblanz est faiz a eis, Oxf. Ps. 48, 12; contraire est
du tout son dit A ce que vous nous aviez dit, Mir. ND. 31, 2529; Buns Sins
est a tuz (Bonus Dominus Omnibus), Cambr. Ps. 144, 9 (vgl. Certes, mes
sires m'iert muH iotis, Tr. Belg. I, 233, 235) ; Suefs li Sire a trestuz (Suavis
Dominus universis), Oxf. Ps. 144, 9; Deu est a toutes genz soues, Reimps.
ib. S. 355; Se il est pechierre de soi Et ü soit soues a la gent, Chastoiem.
21, 137; Nostre sires est doulz et deionaires a touz, Lothr. Ps. 144, 9; se
(der König) de son Corps estoit ncs Ions et par defors Fast au pueple fei
et malvais, Chastoiem. 21, 143; au pueple quHl governoit Est crüels,
Chastoiem. 22, 6 (vgl. Crüels lor a este et fels, ib. 74) ; Tu dois tous jours
faire ce qui est pourfitable a toi et nuisant a ton anemi, ArtChev. S. 130;
ce sera Chose a toz moult profitauhle Et moult ione et moult aidauhle, Prior.
Veg. 8609; Agaiz qu'as autres sont aidanz, ib. 9930; Dameldeu est a moi
aidis, Keimps. 117, 7 in Oxf. Ps. iS. 340; tel preiere Ki a la gent ne seit
nuisahlc, E ki a deu seit acceptahle (Var. pleisahle), MFceFab. 55, 15; mille
chose n'est plus plus perilleuse a ceus qui folement cachent que . . . , Art
Chev. S. 123 ; Detis . . . , a cui totes clioses sont sozjetes . . . , a cui tota
poesta est sojcta, Afr. Pr.-Leg. D 27, 5; gent qui ne sont obeissant a lor
dvc ne a lor cJtevetaines, ArtChev. S. 82; a Deu n fud pas ohcdient, LRois
289 (L.) ; por ceu k'il (sc. nostre sacrefices) moens soit a deu acceptaules,
Serm. Bern. (F.) 140, 5; Jo Marie ai mis en memoire Le livre de VEspurga-
toire En Romanz qu'il seit entendaMes A laie gent e cuvenables, MFcePurg.
■2300; parier si raisnahlement Que il seit plaisihle a la gent, MFceMil. 4;
totes choses . . . Que a nostre ost sont necessaires, Prior. Veg. 5475 u. a. Ad-
jektiva mehr.
Besitzanzeigend, 9, 23. Zu chape a moine 9, 41 : chape a pastor, Gaydon
7328; chape a provoire, Clig. 4682; loges a pastours, ArtChev. 156. serf,
teir, Serm. Bern. (F.) 122, 7; Li aver, li serf a Vavoir, Tr. Belg. II, 255,
serjant a auc, a auc r.: et dcvient sers a l'anemin ki de luy se lait sormon-
206; N'estoit pas sers a son argent, Car ses argens si le servoit Que Vamor
Dieu li deservoit, Ruteb. (Jub.) III^; 249, 28; Serjanz est c Vavoir, Li avoirs
est ses sire, PoMor. 502 d; Car qui serf a pitie se moustre N'est pas
serf, non, Mir. ND. 20, 311 (oder als Adj. aufzufassen, wie in Trop a este
a pechier serve, Rut^b. IP, 275, 339). Vor Sachbezeichnung auch: Mes
c'est li mireors au euer (sc. d. Auge), Clig. 712.
2. temporal. Zeitpunkt, in dem etvv. eintritt . . . , so auch : a un jor
'eines Tages', Clig. 2361, LRois 357 (cum esset quaedam dies), a une nuit
'eines Nachts' LRois 415, a une matinnee JBlaiv. 3340, a un vespre JBlaiv.
2066, a un avesprenient HCap. 554, au matin ChLy. 428, (am nächsten Mor-
gen) Erec 1428, au matinet Am. Am. 2798, (am nächsten Morgen) Julian
3918, a la ma^inee MFceYon. 301, au main Clig. 2760, (am nächsten Morgen)
Erec 1430, au soir Veng. Reg. 2932 (vgl. Sp. 11, 19), au vespre Am. Am.
1073, as vespres (ad vesperas) ArtChev. 157, a la vespree Mir. ND. 4, 90,
hui main a V esclairier Am. Am. 3369, a Vajornee JBlaiv. 2554, a Vavespre-
mcnt dcl jor Bari. 1389, a l'anuitier Prior. Veg. 5078, a Vanuitie Bari. 5383,
o cel soir Clig. 1557, a cel ajornant BComm. 2430, Ce fu un venredi a nuit
Julian 2895, a prima Afr. Pr.-Leg. G 28, 6, a tierce Pr.-Julian XXIX, 4,
A prime e a tierce e a none E au vespre la saluez JoiND. 1114, c ore de
prime ChCharr. 2211, a la prime sonnee Am. Am. 2164, a ccle ore que prime
sonne Erec 2304, a Celle heure et a edle foiz Mir. ND. 33, 737, c ceste ore
LRois (L.) 370, a ce jour d'ui Mir. ND. 6, 90, a droite ore Bari. 1398;
a Aii. heures apres mynuit Pr.-Clig. 296, 43; au vendredi Mir. ND. 2, 794;
a une feste Clig. 2700, a un quaresme ChBaris. 60, a la pentecuste MFce
Lanv. 11, a pentecuste MFceChvrf. 4, a cest nöel Julian 1421, a cele feste
qui . . . ChLy. 5 u. a.
Künftiger Zeitpunkt, 10, 37. Zu a demain 'für, auf morgen': '... se je
56 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
vif jusqu'a demain, Je ferai savoir a Oorvuin Coment ma force est hui
creüe', 'A demain soit! Cil en seront coart revoit Qui a demain vos en fau-
dront', Meraug. 5579 (Var. au d.) ; Ccst mar-iaige ne quier ja refuser. A
demain soit sans plus de demorer, JBlaiv. 3540.
Zeitliches Entfernungsmaß, 10, 50, dsgl. Savoir vous fas . . . , Qu'a quin-
zaine de Penthecouste Les Senliz le tournoy sera, Mir. ND. 29, 892 Li jur
est a-sis a un mois (einen Monat, sc. von jetzt ab, gerechnet), Ipom. 7730;
Lur (1. Li jur, vgl. Mussafia, Wiener Stzgs.-Ber. CXXI, XIII, S. 67) est
asis a quinzeine, ib. 8018.
Nach Verfluß von, 11, 3: auch A poi de ure estevus li ciels devint taut
ohscurs (in, nach kurzer Zeit), LRois (L.) 319.
Zeit, in die etwas hineinfällt, 11, 7. Zu a cel tans 'damals': gleich-
bedeutend a cel jor: A cel jor antre moi et vos Estiiens juenes et petites,
Erec 6288; A cel jor, comant qu'il soit ores, Qui le chastel vosist def andre,
Ne fust mie legiers a prandre, Clig. 1238. Zu a hien courte saison 'inner-
halb s. kurzer Zeit': Et aries tant d'onneur (Land) a hien courte saison
Que de quatre royames croisteroie vo nom, Bast. 4326; Sathans perdera la
droiture Que sur vos a a hrief termine (innerhalb kurzer Frist), Mir. ND. 1,
1123; d'errer ne fineray Jusqu'a tant qu'au roy reseray, Et ce sera a terme
court, ib. 21, 141.
Zeitdauer, auf die sich etw. erstreckt, 11, 22, so auch a piece ('auf eine
längere Weile hin', Tobler, Verm. Beitr. 2, 1) a grant piece: Ne vous aroie
a piece tous noumes, Enf . Og. 4485 ; a grant piece n'en fu li cuens retez, Am.
Am. 2062; A moult grant piece i aurez gent deduit, ib. 2560; a grant pose
'auf eine lange Weile hin': Outre ne seront (die Schafe über das Wasser)
a grant pose, Chastoiem. 10, 93; a tens 'auf eine bestimmte Zeit': Mais
tant me dist li lamentans Qu'il n'estoit ilec (im Purgatoire) fors qu'a temps,
Mir. ND. 14, 1165; a jamais 'auf immer': par quoi il esperoit d'en faire
teile occision qxi,'il eyi seroit « james perpetuelle memore, Pr.-Clig. 297, 3.
3. modal. Zu den adverbialen Ausdrücken, 12, 4, gäbe es viele nach-
zutragen, was hier unterbleibe.
au plus que ... Zu au plus droit, 12, 45: Vers Karadigant s'averti Lu-
cans tout au plus droitement, Claris 14098.
Begleitender Umstand, a hon vent, 13, 9, vgl. Sp. 16, 50.
Reich vermehrbar wäre auch die Reihe a ton talent 'deiner Neigung
entsprechend' 13, 37.
'nach, zu schließen nach' 14, 7, auch: Mult fu malades a sun dit, MFce
Fab. 36, 4; Mais molt satnhloit hien a sa eiere Que chaceure a/ooit molt
chiere, Julian 853 ; Qiiar il samhle a vo parier Qu'il n'i ait pas courtoisie,
Tr. Belg. I, 60, 25; car il m'est vis A la couleur de vostre vis Qu'cstes tout
sain, Mir. ND. 21, 488.
'nach etwas als Vorbild' : a sa samhlanche et a s'ymage Eist (Gott)
homme, Bari. 1548; Pour chou . . . A fait Dex l'omme a sa figure K'il con-
neust son creatur, ib. 1600; Faciamus hominem ad ymaginem et similitu-
dinem nostram (I Mos. 1, 26), C'est a dire en la concordance: Faisons homme
a nostre semblance. Mir. ND. 20, 1155; ... fisrent li prince rommain lor
navies a la fourme d'iceles (ad earundem, sc. navium, instar classem . . .
texuerunt), ArtChev. 162; ... Refurent lors ainsi forgies Les nez des Ro-
mains . . . A lor forme et a lor samhlance. Prior. Veg. 10263; Puis (plutei)
sont apele uns instrumens fais a la samhlance d'un hyaume ou d'un vaissel
parfont (plutei qui ad similitudinem absidis contexuntur) , ArtChev. 147;
. . . TJns fers qui est aguz et lez Et corhcs et est a Vinstance D'une fauz et
a sa samhlance, Prior. Veg. 11321.
'im Verhältnis zu, . . .', 14, 19. Zu den ersten Fällen: Tant en i ot (an
Heiden,), nus nes porroit nomhrer, A .i. des noz en puet on .iii. conter, Otinel
1615; A un anoi qtie j'ai cent en anroie, Froiss. Poes. I, 77, 845.
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 57
Merkmal zwei Sbst. verbindend, 15, 15. Determinativpron. a,n erster
Stelle: Velui a cele bände d'or Parmi cel escu de hellic, ChCharr. 5794;
celui de joste . . . a cel escu vert, ib. 5803; cez deus de lez A (auf) cez deus
chevaus pomeles As eseuz d'or as lions bis, ib. 5813; a celui a le mance,
JCond. I, 193, 888.
Merkmal bei Vbn. (erkennen an, ...), 15, 29. Weitere Vba. oder Wen-
dungen: avoir conoissance : a ton gracieux maintien je ay ferme congnois-
sance que ..., Pr.-Clig. 302, 9; apargoivre: Nos poons bien aparccvoir A
ce qu'ele est et bele et sage Qu'ele est de mout jantil lignage, Erec 4754;
Fl. Bl. 107; rfl. : Qu'aparceüe m'an sui bien As contenances de chascun Que
de deus cuers avez fet un, Clig. 2294; aviser: AI cri a son aste avise, Julian
2549; A la parole et as dis Vavisa, JBlaiv. 3024; prover 'den Beweis für
etw. finden an' : Bien le provai Au sanblant que an li trovai, Charr. 4395.
Zu pert que, 15, 52, persönl. paroir: Mal pert a (= al) douz chant de la
bocJie La dolour qui au euer li toiche, Ly. Ys. 2429. Fernere Belege für
entendre: Clig. 3097 PB; Amad. 6028; für savoir: Mir. ND. 25, 1110; 33,
1736, für paroir: PoMor. 551b; Ruteb. ed Jub.^ I, 7, 44; Ly. Ys. 3491;
A la vostre oevre Est bien purant (C, parut PM,) selonc la letre Ke an vos
doit fors de Vuis metre, Bari. 2107, für mostrer: II moustre bien a sa ma-
niere Qu'il est un vraiz fols et estouz, Mir. ND. 33, 1484.
Preis, 17, 3, bei achater: dui serf que li cuens ot norris Et achatez a de-
niers, Am. Am. 2392, bei avoir: Qu'aussi furent li mes plenier Con s'an eu,st
buef a denier, Clig. 5040; Cil a qui li chevals esteit Otreie a l'autre qu'il
l'avreit AI pris que li huem le metreit Ki ..., MFoeFab. 47, 11; A trois
tournois y arons vin Et bon et gent, Mir. ND. 35, 231.
'für, als", 17, 22 und 'zu, als', 18, 4: zur Auffassung s. Meyer-Lübke,
Synt. § 403 f. Zu savoir auc. « . . . , 17, 41: auch savoir se a . . . : Cele qui
a mesfete se savoit (sich schuldig wußte), ChLy. 1789. Weitere Verba:
esmer: De tes paonaz (Fußsoldaten) bien armez Foison et as moillors asmez,
Prior. Veg. 6896; conter: A neant porroies conter Quanque tu dire me
savroies, ChCharr. 2744; Por ce qu'a pris li iert conte, ib. 3258; Par felonie
m'espargnas, Que ja ne t'iert a el conte, ib. 4343 ; jugier : Ainceis lou jugomes
a vice, Dav. Proph. 233; Nuns jugeroit ce a proesce, Ly. Ys. 614; reputer:
Si que je le repnte a fait, Mir. ND. 14, 1299; Ne la repute pas a greve (die
penitence), ib. 30, 897; quanque me dis et ennonces Je repute et tiens a
frivoles, ib. 39, 625; confermer: Conferme toutes ses paroles A voir, Clef
d'Am. 479; esprover: Dame, nos avons esprove Cel cevalier al plus proudome
Qui soit en l'enpire de Rome, Julian 2260.
Bestimmung, Verwendung zu, als, 18, 4. Zu avoir a ferne, prendre a
ferne . . . , 18, 7 ff.: avoir a per (Gemahlin) ChLy. 5488, avoir a moillier e a
per JBlaiv. 2600, avoir a mari Mir. ND. 4, 428; 21, 1417, avoir a per et a
mari BComm. 2679, prendre a espouse Gaydon 9753, prendre a moillier
JBlaiv. 2344, Enf. Og. 7902, prendre a oissour FlBl. 2100, 3128, regoivre a
seignor ChLy. 3653, recoivre a ferne Erec 4701, requerre a moillier LRois
102, MFoeFab. 73, 13, Mont. Rayn. I, 32, 238, doner a feme Clig. 6751, ChLy.
5702, doner a espouse DitRobDi. 234 b, doner a signor Pr. -Julian XX, 11,
otreiier a segnur Ipom. 3860; ferner, vor Concr. u. vor Abstr. : Un gargon . . .
Li a baillie a escuiier, Gd'Angl. 1646; Ainz le m'a anvoie a hoste Mes frerc,
Graal C 5928; Mut l'amereicnt a seignur, Ipom. 6902; Mut le desirent a
seignur, ib. 10450; choisir a rei, MFceFab. 19, 2; 12; Et si est esprove a
droit Qu'il (sc. li brans) vos a choisi au meillor (sc. Chevalier), Chev. a l'Esp.
763; Sur tuz se fist lever a rei MFceFab. 34, 11; A toz biens fere s'atorna,
Tant qu'a provoire s'ordena, Jdnkn. 101, 312; prendre a cumpaignun, MFce
Fab. 37, 2; 70, 72; (zu einem Arzte) dites moi, sire, Se vous vouldries a
apprentiz Prendre Panthalcon mon filz. Mir. ND. 22, 38; receivre a rei,
l/Rois 191 ; en tel maniere qu'elle vous regoive . . . a son amy et a son che-
58 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
valier, Abent. Gaw. S. ZS; . . . , Si an trai a garant Macrohe, Erec 6738;
Dieu et saint Piere Trai a garant que n'i ai courpe De morir, Watr. 213,
457; Veriie en trai a garant, JCond. II, 35, 1132; et se les braies eonquer,
Oui en trairai a tesmoignage? MRayn. I, 101, 111; ..., 8'en trai Vestoire
a garantie, Joufr. 3794; Et veez encor ivy ses armes que je empörte a tes-
moing, Abent. Gaw. S. 29; . . . , Si li mostra a antresaingne Les deus panz,
Gd'Augl. 2947; Li drap de soie sont fors tret Et estendu a parement
(Schmuck), ChLy. 2341; ne povons pas nostre estage Avoir au siede a hire-
tagc (als dauernden Besitz, für immer), JCond. II, 67, 596; si com il aviont
a costume, Afr. Pr.-Leg. K 17, 3; Si cum a costume avoit, Rönsch, Kindh.-
Evang. 22, 26; ainsi comm,e Hz avoient a coustume, Abent. Gaw. S. 66; si
k'a constume avoit, PoMor. 532 d; ainsi qu'elles avoient a costume, Abent.
Gaw. S. 78; Com chil qui ne l'avoit a us, Chastoiem. 2, 99. Das Beispiel
Sp. 18, 19 paßt nicht in den Zusammenhang.
Bestimmung, Verwendung für, zu, 18, 27. Diesen Sinn hat a auch in
den letzten beiden Belegen des vorhergehenden Absatzes ('mit abstr.' 18,
22 wäre übrigens an seinem Orte nicht erst am Platze), dazu an Stellen wie
et a chiaus servent li dizenier qui sont estaMis a livroisons d'yaue, ArtChev.
S. 94; Et Van li a Veve donee As mains, Gd'Angl. 2565"; L'eve li donent a
ses mains, MFceLanv. 178.
Zwei Subst. verbindend, 18, 33, so auch armeure a Chevalier, Clig. 6697;
les garnemenz a homme, Mir. ND. 37, 1290; cel habit a femme, ib. 37, 1302;
pastures a cheval, ArtChev. S. 141; voie a cheval, BCond. 209, 122; dix che-
vaulx a somme. Mir. ND. 36, 434; pot a vin, ib. 26, 288; torchon a piez, ib.
39, 377; moulin a vent, Journ. d'un B. de Par. 1411 bei Buchen, Chron. et
Mem. I, 608 b; chape a pluie, Sp. 18, 38, auch Gd'Angl. 1632; MRayn. VI,
98, 100.
Nach Subst. mit Inf., 19, 4, auch el seisein lue ara chambra a desporter,
el settem' ara . . . trois chamhres a fenestres qui ferront el verger a acodar
(zetas aestivales ... triclinia accubitalia) , Afr. Pr.-Leg. F 15, 14; i. espital
as povr^s norrir, ib. K 29, 14; Puis desarme le Saisne . . . De la cote a armer
et do vermeil escu, ChSax. 383Q;dy qu'il m'envoie Un parement a armer
gent Tout blanc. Mir. ND. 33, 1931.
Nach Adj., 19, 10. digne a . . . auch: Li signifer porlent les signes, Alauz
(V. e'slire) i sont, a ce sont dignes. Prior. Veg. 2600; le duc qui a ce dignes
Est, ib. 4590, auch mit a u. Inf.: Clefd'Am. 1004 (s. God.) ; Sire, pas ne seroie
Digne a vous deschaucier, Chron. anglon. III, 195 (bei Ebeling, Auberee
S. 64 zu V. 39).
Nach Adj. mit Inf., 19, 17. Das Beispiel aus SMagd. paßt nicht dorthin.
In den beiden letzten Beispielen des Absatzes ist das Subjekt nicht wie in
den übrigen das Ziel, sondern der Träger der Handlung, die die Infinitive
angeben, welch letztere im ersten Satze Transitiva mit eigenem Objekt, im
zweiten ein Intransitivum sind. Weitere Adjektiva gleicher Konstruktion:
c'est une oroison moult belle Et haulte a dire (sc. la kyrielle). Mir. ND. 40,
2244; un chant ... Qui soit delictable a öir, ib. 35, 1612; femme . . . a re-
gard'er deliteuse, JCond. I, 244, 17; Legiers est a ploiier (sc. nostres sires),
PoMor. 406 b; Ne fust mie legiers a prandre (sc. li chastiaus), Clig. 1240;
Li sois estoit legiere a clore, Eust. M. 1^40; Neis l'escorce et la racine En
est (sc. von der neire espine) mult dure a depescier (Var. Est molt tresforz),
MFceFab. 49, 15: A'e veez vos con eist fer sont Roit a ploiier et fort a frain-
dre? ChCharr. 4621; Vez cy choscs fortes a croire, Mir. ND. 14, 1215; La
chose est tant plus preciouse Come a trouer est plus penouse, Ly. Ys. 2610;
Li fais est lais a escouter, JCond. II, 184, 86; C'est der a voir, Mir. ND. 4,
258- tot ICO laisem, per co quar trop scroit long a recontar, Afr. Pr.-Leg.
J 20 14. Belege auch durch Soltmann, Franz. Stud. I, 405 und Hilding
Kjell'mann, La constr. de l'inf. d6pendant d'uue loc. imp. en fr., Upsala 1913,
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 59
S. 288 ff. Wie lent a u. Inf., Sp. 19, -37, so isnel: car häyne de citoiens entre
yaxis est ignele a encliner soi a estre destrmt de lor anemis (nam civile
odium ad inimieorum perniciem praeceps est), ArtChev. 101; Soltmann a.
a. O.: Ron II, 4181.
Zweck, Ziel, 19, 39, so auch a ren plus non est cre^tians mas que . . . (ad
nihil aliud christianis est iunctus nisi ut ...), Afr. Pr.-Leg. M 60, 11. a la
fin quc c. Cj., Clefd'Am. 850, 1102; Bast. 4416 (nach Sch.s Vermutung, Hs.
a fin, — 1); Mir. ND. 2, 880; 5, 845; 40, 2034; DitRobDi. 228 c; Froiss.
Po6s. 39, 1312, a celle fin que c. Cj., Clefd'Am. 991 ; Mir. ND. 1, 824; 38, 590;
Froiss. Po6s. I, 79, 901; Chd'Orl (Jann.) II, 1, 159 (Rond. 144), a fin teile
que c. Cj., Mir. ND. 25, 1136; Journ. d'un Bourg. de Par. 1425 bei Buchou,
Chron. et Mem. I, 669a, a fin que c. Cj., DitRobDi. 217b; {nfin qve) Mir.
ND. 5, 85; 40,2085, afin de c. Inf., Mir.ND. 7, 397; 32,133; 34,635; Froiss.
Poes. III, 102, 25; (a fin de . . .) ib. 123, 862. Zu a que faire . . . ? 19, 45:
Et a que faire en retenroit Plus que mestierne li seroit? Chastoiem. 24, 181;
A quoy faire vous mentiroie? Mir. ND. 33, 2032.
An die folgenden Abschnitte sei nicht mehr angeknüpft. S. zum Inf.
nach a auch die Zusammenstellungen in den von Tobler oder oben angezoge-
nen Arbeiten von Lachmund, Soltmann, Soergel und Kjellmann, außerdem
Erw. Stimming, D. Acc. c. Inf. im Frz., Halle 1915, S. 101 u. 110.
aaa tir , vb. rfl. mit dem Belege Qtii durement se sont de ce aaati
Que ..., BComm. 2161. Eine auffällige Zusammensetzung, wohl nur ein
Erzeugnis des Schreibers, der vielleicht Qui durement se sont de ce aati
{ — 1) vor sich hatte. Als ursprüngliche Lesart ist denkbar Qui durement
se sont de ce entraati (sich untereinander, gegenseitig vornehmen, anhei-
schig machen).
aairier , vb. rfl., übertr. auch : Si couvient le cors sivir Men euer la
ou i s'aaire, AdHalle (ed. Berger) XXIV, 5, 2.
* aai s e m e nc e , s. f.. JCond. II, 17, 548; von God. im Vorwort zum
1. Bd. nachgetragen.
aai s i er , vb. trs., mit pers. obj. 'pflegen', servir et aaisier auc: Car
hien doit li uns l'autre servir et aaisier, ChSax. 2428; Celle nuyt furent
les Ai. Cousins seruis et aeisie assez plus que s'il fussent en l'ostel le roy
Artus, Abent. Gaw. S. 11^; Celle nuyt fu Gauuain seruis et aaisies de toutes
les ehoses que ceulx de leans porent avoir, ib. S. 25.
aäison, s. f. mit dem Belege Clers et prestres et moines de grant
aäison, RMont. 93, 14. Tobler vermutet Irrtum für aaisison 'Pflege'. Auch
aorison 'Beten, Beteifer, Frömmigkeit', vom intr. aorer abgeleitet, könnte
gemeint sein; or wurde, wenn das o etwas klein geraten war, einem a
ähnlieh.
aancrer, vb., tr., bildl. auch: Dane li vueil je fere savoir Qu'il (sc.
mes cuers) est dedenz li aencres, Merang. 411 Var. intr. od. rfl. auch Ses
galies fist aancrer, EustMoine 1955.
aate, adj., von Dingen auch: Li her la prist, se. d'un sengler une es-
palle, si la manjat en haste. II la fist tant, cum s'el fust mult aate, Wilh.-
Lied 1408 2 (Suchier "biegsam, mürbe').
aatie, s. f. 'Eifer', faire aatie in envers noiis fönt aatie, JCond. II, 25,
783 nach Scheler, und zutreffend, rivaliser, faire concurrence.
aatine , s. f.: par ahatines auch Tr. Belg. I, 263, 612; par grant aatine,
Watr. 26, 791.
aatir,\h. rfl. 'sieh ereifern': Tr. Belg. II, 181, 138 stellt sich zu Gay-
don 114, Sp. 33, 6, weitere Belege für aatir se de c. J. bei God. oder Wilh.-
1 H. Oskar Sommer, Die Abenteuer Gawains, Ywains und Le Morholts
mit den drei Jungfrauen, Halle 1913.
2 H. Suchier, Les changun de Guillelme, Halle 1911.
60 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
Lied 1400; Watr. 87, 122; 298, 88; das Beispiel aus Chron. Ben. zeigt ob-
jektloses trans. aatir.
'sich eifrig an etw. machen': De tres crueuse plainte se va aatissant,
Bast. 3960.
'sich zum Kampfe entgegenstellen', auch contre auc, ein Beisp. bei God.,
ferner Vautre partie Qui contre lui est ahastie A grant hruit d'estrumens
diviers, JCond. I, 103, 192.
'sich gleichstellen', auch : dcti euer . . . A vous nous volons aatir, JCond.
II, 29, 927; hierher aucli der Beleg, ib. II, 24, 777 {envers auc.) zu ziehen.
aati, pt. pf., adj. 'bedacht auf, auch mit a c. Inf.: je te chasti Que ton
euer n'aies aati A desroi faire ne outrage, Watr. 9, 252.
aatise, s. f., eine dritte und vierte Stelle GLiege 5456, {atise) 26520.
ah ai , s. m., übertr. 'Schelten, Anfahren' oder 'Bedrohung' : Apries U
ciens par abayer Fait le larron si esmayer Qu'il s'en fait paoureus et mos.
Baus prinees . . . , Fai ensi que par ton abbay Soient li mauvais en esmai,
Si qu'il ne t'osent aprocier, JCond. I, 152, 45; a ycel temps ... Aloit par
Alemagne ... Une grant compangnie de gens de male aboy : On les nomoit
Normans, GLiege 21941 ('Bedrohung, Bedrängung', Scheler jedoch: de mau-
vais cri, mal fam6).
abaieor, s. m., s. A. Delboulle, Rev. d'hist. litt, de Fr. I, 180 (14. J.).
ab aiier , vb. intr. übertr. auch : eii lor languaige abaiant si b enirent
le grant seignor tot poissanz, Makk. XV, 29; jangier et abaiier auch JCond.
II, 72, 755; abaiier vers auc, LEois (ed. Ler.) 129; abaiier sur auc, Watr.
370, 102; (mit personfic. Abstr. als Sbj.) Car Seurtez . . . Me fait hardi sanz
esmaier (sagt Hardement), Et tu (sc. Orgueil) ne sez fors abaier Seur ton
furnier et a la porte, Watr. 348, 191.
ab ais s i er , vb. trs., objektlos: plus essalcet la prosperiteiz Ice n'a-
baisset li aduersiteiz de la necessiteit, Job 318, 34.
mit sächl. Obj. 'herunterlassen, herabdrücken, niederlassen' auch: selone
ce qu'il les drescent ou abaissent (sc. les tres, die Balken) senefient ce que
on fait (erigere - — deponere), JMeun., ArtChev. S. 84; Quant Von les
abaisse ou asce (sc. les trez), Prior., Veg. 4701; quant on abaisse Vun chief
(des Balkens), Vautre se hatice (deprimere — erigere). JMeun., a. a. 0.
S. 152; Prior., Veg. 9622; li vens contraires reflecist et abaisse les gavelos
(inflectit ac deprimit), JMeun., ib. S. 107; Et li vanz contraires abaisse
Les javeloz n'aler nes laissc. Prior., Veg. 6431; abaissiez lur hatereaz (mit
gebeugtem Nacken), Dial. Greg. 163, 14; et lo haterel ... despitat abaissier
a (vor) la creature, ib. 163, 19; abaisse la (sc. ccle flaische) uisousement et
si troueras quelle chose ele at deuenz (nach unten richten, umkehren, lat.
inclinare), Dial. Greg. 84, 12; abaissier le pont bildlich in Car par lui (sc.
Salute, Sallust) n'est pas abaissies Li pons de la haute science, Hs. in
Alexius S. 209.
'unterwerfen', etwas einem Zwecke (auc. r. a c. Inf.) : Les alkanz somunt
a folie la force del cors, mais cant il Vabaissent a faire les pies oeures, si
achatent guaangnes de pieteit. Job 311, 22.
'beschwichtigen, zur Ruhe bringen': Des! ... cest torment (Sturm) nos
abeissiez, Gd'Angl. 2361.
'zu Boden werfen, niederdrücken, unterdrücken, ablassen von' por le mal
abaissier, PdMor. 327 d ; A son pooir doit abessier Le mal et doit verite
dire, JCond. II, 275, 258; Par lui iert li tors abaissiez, Drois soustenuz et
essauciez, Watr. 203, 119; Verror que nos cuidians que tu abaissa^es, Afr.
Pr. Leg. C 6, 10; Por Vanuiouse guerre finer et abaissier, ChSax. 84; Leur
Tay (der Heiden) durement abessa et acrut la loy crestienne, JCond. II, 294,
176; Parier (sc. doit du bien), le mal lessier Et les paroles abessier Dont
preudons puet estre honnis, Watr. 371, 130.
'(seine Ehre) herabsetzen': Ja tant m'onor n' abaisserai, Se Dieu piaist.
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 61
quo Sans vos m'en aille, Veng. Rag. 3070; (jmds. Wert) ce sera chose qui plu^
ahaissera ton pris, Abent. Gaw. S. 93.
mit pers. Obj.: Tierabsenken, hinabstoßen' Tu nos as abaissiet el liu
d'affliction, si nos at coiicrz li umhrcs de mort, Job 314, 20.
'erniedrigen' auch : Dame, . . . hien m'avez agaitie Et sormont4 et del
tout ahaissie, Am. Am. 2083 ; Oloriex sire peres, . . . 8i me garde hui cest
jor, que ne soie ahaissiez, ChSax. 3344; Dunt ele n'ert desparagee Ne avilee
n'aheissee, Ipom. 2338; (der Esel zum Pferde) Ores t'ai abaissie fortune,
Ce est sa rnaniere commune, Ly. Ysop. 2335.
rfl. 'sich senken': .</. petit est pansive, s'est ses voiis ahaissiez. Ch.Sax.
3917; (mit sächl. Subj.) ele (die ferre] ne pot soustenir si grant fais, ainz
füi (gab nach) et s'ahaissa (tanto ponderi solo cedente subsedit), JMeun,
ArtChev. S. 151.
'zu Boden fahren': Ainz qu'elle (sc. Vespee) fust a la terre ahaissie,
Uavoit li ctiens et prinse et enpoingnie. Am. Am. 1552.
'sich herablassen, erniedrigen' auch : ki s'ahaisset de son greif, il serat
essalciez (qui se humiliat exaltabitar), Serm. Sap. 295, 20; Par taut couient
ke la pen^e soi ellieuet ensi de sa saineteit, ke ele soniousement soi ahaisset
en humnlifeit, Job 307. 40; Bele dorne est, ne s'ahaisseroit si! Ad. Halle
XVII, V, 4.
'sich legen' auch: Maintenant s'est le duel et le cri ahaissie, Pr. Clig.
330, 25.
'sich neigen, untergehen (v. d. Sonne)': Bien vees que solels s'abesse,
Veng. Rag. 1643; Et ja soit ce que li solax s'alest, Eust.-Leb. 65c.i
intr. 'sich senken' (v. Meere) : Une heure hausse, une autre abesse (sc.
la mers). Mir. ND. 29, 1806; (v. einem Körperteil) Moult li abaisse et
angoisse li ncs Et li retranche durement li parlers (dem aussätzigen Ami),
Am. Am. 2059.
'sich legen' auch: Maintenant abeisse et acoise Par le pales tote la noise,
Clig. 5905 A ; Signurs . . . , fetes noise aheiser, BHaunst. 2258 ; Vueillez
pour nous a Dieit requerre Que Vorage qui (1. qu'i, i ^ il) fait abesse, Mir.
ND. 27, 1321; comme eile sentist le tempz resioir, les venz abaissier et les
oisillons chanter Pr. Clig. 335, 5; Car lors la tresgrant cruautey
Et la tresgrant desloiautey Des forz venz est moult apaisie Et demoree
et abaissie. Prior., Veg. 10732; Quant le gieu sera abessie Et ta dame ara
delessie A chanter ou a caroler, Clefd'Am. 1574 (oder refl.) ; mais cella (sc.
dolor) deves temer qui non a fin et qui non abaisse per nul temps (exstin-
guitur), Afr. Pr.Leg. M 18, 11; duchi que li forsenz de la persecucion fust
abaissies (ad persecutoris rabiem declinandam) , ib. M 53, 21.
'sich neigen, untergehen' (v. d. Sonne) : Car li solav^s ahaissir uait, Chev.
II Esp. 9524.
'herunterkommen' auch: Par soi meisme s'apergoit Que sa force est molt
retrencie Et sa cors (Hof) est trop ahaisie, Bari. 9838; Car vostre cors est
abaisie De gent, ib. 9870; Por monter, non por abessier (nicht damit es ab-
wärts mit ihnen gehe), Prior., Veg. 2313; Certes tous les preudommes du
monde abaisseroient et avilleroient de uosfre mort, Abent. Gaw. S. 54.
abaliier, vb. (auch Menganz, dormanz, ahaloianz. Prior. Veg. 5887:
il se vont abaloiant, ib. 10001) ist kein selbständiges Zeitwort, sondern
csbaniier in anderer Form.
ab and er, vb., vgl. ahrundcr.
ab andon, s. m. : d'ahnndon: chis s'en fuyt d'ahandon, Geste Li^ge II,
5995 (Seh.: ä coeur-joie, de plein §lan). doner en abandon: Et le vous don
(sc. mon euer) Pour tous jours en abandon Tres liement, Froiss. Po€s. TT,
52 1772. estre a auc. en abandon: c'est la fontaine Qm sourt clere et de
1 Andreas C. Ott, Das altfrauzösische Eustachiuslebeu, Erlangen 1912.
62 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altt'ranzös. Wörterbuch'
grant randon Et est a tous en abandon (z. Verfüg, stehen), JCond. II, 309,
118; Tant vous seront niieuls soir et main Les fortunes en abandon, Froiss.
Po€s. II, 182, 717.
** ah andone , s. f. (wenn auch -e leicht zu beseitigen): Point le
hlanc cheval de randonne, Entrc yulz sc ficrt u ubandomie, Eich' 4920.
aha n doner, vb. trans. 'darbieten, preisgeben, loslassen', ohne be-
gleitenden Dativ der Person: La ncf toi de piain ahandone (der Schiffs-
führer) Et la leisse toute an halance. Gd'Angl. 2318; en ahandonnant lor
gent (ihre Streitkräfte entwickeln, vorgehen lassen, expositis copüs);
JMeun, ArtChev. S. 145; guant ... ont lor jant ahandonnee, Prior. Veg.
9099; Et lors lor defendit Vantree Que jai estoit ahandonee, Prior. Veg.
9922; Farne qui sa houche ahandone, Le soreplus de legier done, Graal C
3825; et hahandonne la renne de son destrier, Pr.-Erec 293, 14.
auc. r. a auc. r. 'etwas einer Sache preisgeben, aussetzen': ansois est
plus ahandonnes a peril (sc. li passages de mer) (discrimini propior),
JMeun, ArtChev. S. 168; Aingois est plus ahandonez A peril que a hien
donez (sc. es nez li passages, die Schiffahrt), Prior. Veg. 10739.
a auc. faire auc. r. 'freistellen': Dieus, qui a Vomme vie donne, Bien
faire et mal li ahandonne; Auquel qu'il veut faire s'accort, BCond. 212, 20.
a auc. auc. r. a faire 'überlassen' : . . . qu'il vous vueille plaire . . . Qu'en
Heu de vous le coronnez (euren Sohn) Et du tout li ahandonnes Vostre roy-
aume a gouverner. Mir. ND. 34, 888.
son euer a auc. r. oder a faire auc. r. 'sein Herz, sich einer Sache hin-
geben' : Ains pensse ... A ce que grant don puist donner; A ce voit an
ahandonner Son euer qui est en honnour duis, JCond. II, 316, 86; Et si
voellies ahandonner Vo euer a largement donner, ib. I, 317, 461; ahandonner
Son euer a largement donner, ib. II, 310, 149; Si dois ton euer ahandonner
A hiel despendre et hiel donner, ib. I, 375, 129.
'aufwenden, in Tätigkeit setzen' auch: large d'ahandonner En armes la
viertu dov cors, BCond. 188, 22; mit a c. Inf.: . . . , Si ahandonne son avoir
A courtoisie et honte faire, JCond. I, 319, 506.
refl. 'sich darbieten, hingeben', absolut auch: Cur cascuns por lui s'ahan-
done (sich aufopfern), Julian 1540; La contesse tant s'ahandone Qtie devant
ax trestos li done ün anel d'or (sich gehen lassen, so weit gehen zu), ib.
2071; Si (derart) li ot fait ahandonner (Refl.-Pr. fehlt wegen li) Ses cuers
. . . Que dedens les .iii. ans premiers Tout son meide (bewegl. Habe) aleuwe
et despense, JCond. I. 321, 581; Trop sui hardis Quant si plainnement m'a-
handonne Que mon euer entirement donne Et Varreste sus mon contraire,
Froiss. Po6s. II, 56, 1884; En hon espoir est ma plaisance nee, Qui ne nie
voelt nesunement guerpir, Ains s'est dou tout en moi ahandonnee Et me
semont de mon coer resjöir (sich frei entfalten, od. dgl.), ib, II, 204, 337.
que c. Cj.: Et j'oitroy Perdre d'Espaigne la couronne. Biau sire, stelle
(meine Frau) s'ahandonne Qu'avec li gisez cJiarnelment, Mir. ND. 28, 674.
en auc. r.: Cui li cuers en ce s'ahandone, Prior. Veg. 8177; Ki en largece
s'ahandone. Ja en ricliece ne morra, Eies 378.
o c. Inf., sehr häufig, beispielsweise auch: Clefd'Am. 2906; JMeun, Art-
Chev S. 14; Prior. Veg. 2664; 7348; 7446; 9982; Brakelmann, Chans, frg.
S. 57, X, 36; JCond. I, 377, 184; Mir. ND. 21, 65; 40, 1181; Pr. Free 290,
25; Pr. Clig. 326, 26.
de c. Inf. auch: Je qui conoix ma propre enfermeteit ne m'ose mie ahan-
doner d'entrer en cest puix, S. Bern. (F.) 178, 8; La ou Deu platt si s'ahan-
done De l'ome faire riche ou povre, Prior. Veg. 158.
'losstürzen, losstürmen' abs. : Et va ferir Bufor qi s'iert ahandonez Par-
devant toz les autres .ii. arpans mesurez, ChSax. 3400.
^ en c. Plur. 'hinein in ...': Et Juliens s'i alandorie Es Turs, Julian
2414; Ens es Turs de piain s'ahandone, ib. 1730.
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 63
abandoni als adj., abs. : Et Sarrasin se denrengierent, Qui lor vinrent
(ibandonne, JCond. I, 28, 1581; in der Liebessprache: Trop sui abandonnee,
. . . Mais che fait bonne amours qui m'en donne doctrin, Bast. 2630 (vgl.
Sclielers Anin. zu 2595) ; je seroie trop habandonec se je requcroie ce dont
fai este requise, Pr. Clig. 290, 42; Par terre fis ma destinee Set anz con
garce abavdover, Que nvs n'an aloit refusez (sich preisgebend, garer ^ ee
Buhldirne), Gd'Angl. 1152.
a CMC: e'est un bourgeois Larges, a touz habondonne, Qui 'maint bian
diner a donne, Mir. ND. .35, 62.
vers aue.: Car vers vous sitie (d. i. sui ie) totis abandones, Aiol 1454.
ffl c. Inf.: Lors cuers est plus habandoneis As biens liement rechevoir,
JCond. TI, 34, 1088; oz ordonee, A toz biens faire abandonee. Prior. Veg.
6480 (ib. 3022: de c. Inf.).
•* abas tardissement, s. m., s. A. Delboulle, Eev. d'hist. litt, de Fr.
I, 178 (14. J.).
abastir, vb. trs., auch: De son fol plait, s'el l'abasti, El ne Inrroit por
nul cJiasti, Yder 5471.
*abat, s. m., s. A. Delboulle, ib. (15. J.).
ab at e i z , s. m. 'Trümmer': (nach Zer.störung der Mauer durch die
Belagerer) L'on doit sanz delnier entandre Qui vuet Vabateiz defandre En
faire apres un mur autre, Prior. Veg. 9726.
abatre, vb. trans. mit sächl. Obj., auch 'niederreißen': Et doit Von les
maisons abatre. Prior. Veg. 9728; Wistasces ... a fait le palais abatre,
Eust. Moine 2146; 'fällen': Et de ce meisme se convient il garder que on
ne tnille ne ne soiece pas les ^res si tosf nue li arhre snnt abafu (continiio
ut deiectae fuerint trabes), JMeun., ArtChev. S. 163; On ne doit au soier
entandre Prs tantost qu'il {li trev) abatu sont, Prior. Veg. 10383; 'mähen":
Et savons bien soier et batre: S'avez gangnages a abatre, Voulentiers en
rnnrchanderons Et si les vous abaterons Bim et tost, dame, Mir. ND. 26,
202.
a. le bendel d'auc, a auc. übpitr. 'jemanrlem die Binde von den Auepn
reißen, jemanden aus seiner Verblendung reißen': si se pourpense (sc. Agra-
vain), que s'il puet, il abattra de son frere (sc. Gauvain) cest bandel, car il
m'a fait honnir et avillier ... quant il devant moy a enpris ceste aventure
a wiener a cliief, qui suis ainsnes de luy et plus fors et vlus vistes qu'il
n'est ... Je luy feray cognoistre sa musardie' . . . (Er will ihn unerkannt
unterwegs zum Zweikampf stellen) 'Et ainsi . . . ly pourray ie legieremenf
abatre cest bandel qu'il a si grant encommencie, car ie scay bien ati'il n'a
ne le Corps ne la force pour durer encontre moy', Abent. Gaw. S. 98.
übertr. 'niederschlagen' auch: Por tort lever et droit abatre, Ipom. 9710:
Ha, dioux! voiremrnt abnies vnus tout ornueil et exaulcies hum-Hi^e. Ab'^nt.
Gaw. S. 101; se vous voulez Mon ennoy estaindre et abatre, Froiss. Po6s.
TU, 85, 16; Ceste despntisons l'i antre Te sera hui molt chier vendue, Se
ta parole est abatue (unterliegt), Bari. 6326.
'entreißen, entziehen': (der Sünder) M'a dit (mir, ND.) que, se ne le
sequeurs, Teile deshonneur me fera Que le nom il m'abatera De mere de mi-
sericorde. Mir. ND. 8, 835.
mit pers. Obj. 'niederwerfen' auch: abatre auc. a terre, JBlaiv. 1918:
'sich selbst': Et de son cop mesme s'abat, Watr. 260, 923.
bildl. 'erniedrigen, herabsetzen': Ki nos dex as por viex tenus Et par
parier si alatus, Bari. 7300; Celle l'ahiert et semont et abat (Lubias ihren
Gatten Ami), S'elle nnques puet el le ciinrhTcra, Am. Am. 403: Devant Vc-
vesque s'en ala Lubias, Ami encuse et trehuche et abat, ib. 2114.
'erlegen' auch : Nous deux menons ma dame esbatre Aux oisiaux sau-
vages abatre, Mir. ND. 37, 1322.
64 Bemerkungen zu "Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
(?) refl. 'stürmen": Tant (soweit) s^cst Juliens ahafiis Que rescous a les
abatus Qui al füir erent cheu, Julian 1688 (Tobler ändert in embatus).
ahauhir, vb. trans., ~ de euer auch: Akres ce fu moult tost toute
Vost estormie Et la (jens tourmcntee et de euer ahaulie, BComm. 1510; ~ i
d'auc. r. 'verlegen um': On demande niout souvent k'est amours, Dont mains
on est dou respondre ahaubis, Ad. Halle XIII, I, 1.
abc, s. m., auch: en la fyn del abicee, Nie. Bozon, Cont. Moralisßs
S. 161; Li abeces par ekivoche et li significations des lettres par Huon le
Roi de Cambrai, hrsg. v. Art. Längfors, Helsinski 1911 (s. auch Längfors,
Rom. 41, 237).
ab e , s. m. 'Trachten', estre en abe de c. Inf. : Cardinal, evesque et abe
Et maint autre sont en abe De prendre l'argent et haper, JCond. II, 225, 60.
ab elir , vb. : abelist a auc. c. Inf. : car moult m'abelli Lui öir, quant il
m'aime tant, Mir. ND. 17, 1134; Et si li plot et abeli Especialment m'en-
voier A vous . . . , ib. 17, 1258; ^ a auc. a c. Inf.: Beispiele Sp. 21, 50.
** abelissenient, s. m. 'Behagen, Gefallen' : Et souffreray en gre
le huy Du peuple et l'escharnissement Et touzjonrs abelissement Aray a tel
(solch entbehrungsreiches) vie souffrir (Gefallen finden ...), Mir. NT). 17,
178.
ab enge, s. f., auch valMssant une ahenche, G^ste Lißge 23941.
aberie, s. f. 'Baumpflanzung', s. Ad. Tobler, Zeitschr. f. rom. Phil.
V, 155.
** ab e s tiier , vb. rfl. : Dont grandement m'abestioie, Froiss. Po6s.
II, 3, 84 (Scheler: s'avilir).
abestir, vb. trans., auch: Ces coquars prestres abetir Pour leur pro-
strise me cuidoient (dumm machen), Mir. ND. 14, 298.
ab ev r a g e, s. m., '(sich) Tränken, Trinken': Oar de malvaise iaue li
abruvaiges Est si con de venin l'usaiges. Prior. Veg. 4224.
abevrement, s. m., auch: Apres veult David tesmoingnier Le bailUer
et le despoillier Et aussi son abruvement, Mir. ND. 20, 1229.
abevreoir, s. m., 'Trog' auch li abuvroirs (lat. hingegen aquatio
'Wasserholen') , JMeun., ArtChev. S. 95; Li abruvaour voiremant Et totes
choses ausimant Qui a nostre ost sont necessaires, Prior. Veg. 5473.
abevrer, vb., Inf. sbstviert: De Vabruver dist il tnoult bei, sc. David,-.
Dederunt in escam meam fei (vorher abruvement). Mir. ND. 20, 1233.
potiono, abuvrer, poissonner, Cath. Lille S. 100.
trans., objektlos: . . ., si oste ja les seles Et f orbist et estrille et aboivre
et aaisse, Aiol 6461.
abevrer auc. d'un boivre, d'un buvrage usw. : Quant ele l'avra abevree D'un
boivre qui la fera froide, Clig. 5458; tu fus au jour des noces abuvre d'un
buvrage de tel vertu que . . . , Pr.-Clig. 337, 20; en la meie sei abevrerent mei
d'aisil (in siti mea potaverunt me aceto), Oxf. Ps. 68, 26 (dsgl. Cambr. Ps.) ;
en ma sei m'ont abevre de vin aigre, Afr. Pr.-Leg. E 11, 7; En vostre testa-
ment nouvel, Crestien, avez confesse Vostre Crist de femme estre n4, . . . De
fiel et d'aizil abruve, Mir. ND. 20, 1207; pour abuvrer Touz ses suhgiz d^yauc
delicieuse, Mir. ND. 31, S. 254, Serv. II, 25.
bildl. auch: et si serons aboureit del ruit de ton deleyt, Serm. Bern.
(F.) 110, 39; De eompunction Vahreuvas, sc. ton pueple, Eeimpsalter LIX, 3
in Oxf. Ps. S. 300; vostre sens est grans et ymaginatis et abuvres en tels
oevres, Froiss., Po§s. I, S. 323 (Scheler: expert) ; deus coers ... Si abuvres
de tout revel . . . Que . . ., ib. II, 61, 2074; Et si fort en sui abuvres, sc. de
CG mal, Que ib. II, 134. 4531; je n'ai mie Uart ne l'arest sus tel ou-
vrage; Abuvre l'ai d'autre bevrage Et Nature aillours me Vadrece, ib. II,
51, 1727; Belle me seroit la journee, ße la pastoure a blons cheviaus Estoit
de moi enamouree Et de tel buvrage abuvree Que je sui pour Vamour de lui,
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch" 65
ib. II, 329, 21; (das Mittel Subjekt:) II est en bo7is Heus refuse, Par ce vice
qui tant Vdbeuvre, ib. III, 234, 6.
intr. 'sich tränken' : si que on y puet seurement aler et abevrer (ut aqua-
toribus liber praestetur accessus, den Wasserholern) , JMeun, ArtChev.
S. 144; Si que Von i puct stiremant Aler abuvrer voiremant, Prior. Vesr.
9042.
refl., auch: Ne nus ne s'i aboivre (beim Stürzen in die Rhone) qui (od.
que) chier escot n'i pait, ChSax. 2186 Var.; in Vbdg. m. paistre se auch 8i
se veut paistre et abeuvrer Qu'il se puist ades enivrer, 3 Ringe 373, 343.
** ahhorr er , vb. Irans., s. A. pelboulle, Rev. d'hist. litt, de Fr. I
179 (14. J.).
ahile, adj., de c. Inf.: ceulz qui ahile Sont de parier a toutes fins
D'Amours et des meurs feminins, Froiss., Po6s. III, 176, 3.
*aiilement, adv. (God. hah., auch Compl.) : Ils saillent hahillement
sur pies. Pr.-Erec 258, 42; comhien qu'ilz soient chutz, Hz sont habillement
sallis sur pies, Pr.-Clig. 316, 8; Hz se relievent habillement, ib. 320, 25; et
habillement s'en va mestionner son buvrage, ib. 329, 14.
abilite, s. f., auch: Quant eile (sc. Humilite) voit qu'ilz sont en grace
Par leur sens ov pnr leur bonte Ou par nncnnr habilite, Froiss. III. 257,
2468; — de c. Inf.: Les enfans aprent a aler Et lor donne Vabilite De parier
par soiitievete, ib. I, 98, 403.
abilit er , vb., s. auch Scheler, Gloss. zu Froiss. Po^s.
abillement , s. m. 'Kleidung, Gewand' ; 'Kleidungsstück', auch : un
rice aiillement de drnp d'or, Pr.-Erec 286. 43; puis se adouba de ses bons
abillemens, Pr.-Clig. 286, 1 ; quant il fu atourne de ses habillemens, ib. 292,
15; manda a son escuier qu'il lui aportast sa robe chapeau chainture chaus-
sez saullers et aultres abillemenz, ib. 321, 5.
ab Uli e r, vb. traus. : Designans fut nommeis, celui le pape abilhe,
Geste Lifire .5785 (Scheler: investir).
abitacion, s. f. 'fleischlicher Verkehr, Beischlaf : Et que a fame
n'eusce habitacion Ne compaingnie tel com avoir doit on, Am. Am. 1198.
* ab i t a g e , s. m. 'Wohnung, Behausung' : A Dieu plaise que ce (der ge-
suchte Eremit) soit eil Que je voy la en Heu [d'Jessil Devant son petit habi-
fage, Mir. ND. 17, 1229.
'Lebensgewohnheit': 8i est le meilleur que g'y voie De fouz terriens hert-
fages Guerpir, Car de telz habitages A mainte ame male merite: Si vault
viiex que m'en desherite Et relenquisse tels deliz, Mir. ND. 17, 160.
abifer, vb. intr. 'sich aufhalten, um jemdn. sein': Et hons de nafion
vilaine . . . entour prodome a'biter Ne doit, JCond. II, 191, 56; 'sich befinden'
mit Abstr. als Sbj. auch: Povr ce bien que (t^ qui) en lui abbitte, JCond.
I. 165, 62.
'fleischlich beiwohnen', mit dem Zusatz charnelment : Saciez que ce saint
homme nin damr espotisn. .1/r.s onquez charnehnent a son Corps n'abitn.
Alexius Q 174b; D'une moye suer se vanta Qu'a U charnelment habita, Mir.
ND. 28, 1720.
abifüer, vb. rfl. 'sich kleiden': Puis qu'abituees nous sommes Et ves-
fues con fussions hommes, Partir nous fault sanz faire noise. Mir. ND. 37,
1313; Lors abit de femme laissames, Co^nme hommes nous habituasmes, ib.
3186.
*ab ject. adj., .s. A. Delboulle, Rev. d'hist. litt, de Fr. I, 179 (15. J.).
*ablatif, s. m., s. A. Delboulle, ib. (14. J.).
** ab lüi r , vb. trans. 'abwaschen': Srs mains et son viaire de claire
rawe abluist, GLi^ge 10366.
* ablv t i on , s. f. 'Abwaschung' : par nblution o vin chaut, Mondev.
Chir. 823; par ablutions remolUtives, ib. 1567: ablucion, ib. 1616; 1683; aMu-
sions, ib. 1624.
ArchiT f. n. Sprachen. 139. 5
66 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
* a b 0 l e r , vh. trs., ^6 'entflammt, erregt': Li scnescals de Bruges astoit
tous abolleis, GLißge 2273 Var.
'schreien?': Et entre dois orent (hörten sie) «ne vois qui abolle, GLiöge
7637.
** ab omable , adj. 'verabscheuenswert' : De trestout le pechiet qui tant
fut abomable, GLißge 10663.
ab ondanc e , s. f. 'Überfluß', auch . . . qui donet avondanci a tot cres-
tin . . . (tribuitque copiam, Unterhalt, omni Christiano), Afr. Pr.-Leg. M 53,
19; avoir abondance de ..., Prior. Veg. 4306; 5594; 5614: 8625; a grant
habundance, Afr. Pr.-Leg. F 15, 18; cn a.: viandes enveia a eis en abundance
(cibaria misit eis in abundantia), Oxf. Ps. 77, 29; par a.: il n'est mie Farne
en vie A qui de tant monteplic (sc. la plaisance) Qu' eile fait par habundance
A moi selonc m'esperance, Froiss. Po6s. II, 300, 63; outre a. 'übergroß, un-
gewöhnlich': sa beaute oultre habondance, ib. II, 328, 56. Zu d'abondance
s. auch Scheler, Gl. zu Froiss. Po€s.
ab ond er , vb. intr. 'überfließen, überlaufen': quant (sc. li fosse) so-
ronder Comenceront et abonder De Viaul et de la sorecrue, Prior. Veg. 8750.
'heranströmen' : Et lors sont tuit apparoillie . . . Por conbatre a la
jant qu'abonde Et qui lor jant chacent a force, Prior. Veg. 6598.
'reichen, sich erstrecken', auch: Lors soit essise et ordonee L'aberge (das
Lager) en forme quarree Ou en triangle ou en raonde, Selonc ce que la place
abonde, Prior. Veg. 5316.
'an Fülle zunehmen, wachsen, sich vergrößern': 8i abonde (die zuerteilte
Speise) entre lor mains, Que cascuns fu saous et plains, Drei Freunde 463;
Et li don abondent et croissent A cex qui adone l'ost descroissent Et s'an
vont, Prior. Veg. 2303; Et plus y pense et plus m'abonde Vouloir et desir de
l'avoir, Mir. ND. 34, 294.
'sich mehren, zahlreich werden': Les oeilles d'els fedunuses, aljundanz en
lur eissemenz (oves eorum foetosae, abundantes in egressibus suis, nXri^-v-
vovTn). Oxf. Ps. 143, 16; Lor berbis sunt fructifians, En lor issues habun-
dans, Reimps. ib. S. 355.
'fruchtbar sein': Ta femme en ta maison sera, Funt (1. Unt) come vigne
habunderait, Reimps. 127, 3 in Oxf. Ps. S. 348; vgl. abondant.
'überwiegen, gewaltig sein': Car li travauz trop ne habonde De porter
avec lui la fonde, Prior. Veg. 1269.
'vorhanden sein, sich befinden' (mit Ortsbestimmung) : Li solaz (Sonne)
qui est eaz dou monde, En cui toute clartey abonde, Ly. Ysop. 362; La se-
sieme compagnie habonde Et la septisme en ceste seconde (sc. bataille),
Prior. Veg. 3123.
'zu teil werden': Cest signe pues veoir toudis De ceulz qui chacent les ri-
chesses . . . Et les grans honors de cest monde, Et com plus a homme en
abonde, Plus s'i solasce et glorefie, JCond. II, 54, 152.,
'hinreichen, genügen': Diabios . . ., avondeisc tei co que tu as confondu la
bona gent (iam sufficiat tibi et confuudere), Afr. Pr.-Leg. L 22, 5; A rendre
gracies per vosfros beneficios neguna parolla de ma bochi no abonde (ad re-
ferendas ... gratias nullus mihi oris suf fielt sermo), ib. M 37, 6.
'mächtig sein, Kraft, Vermögen haben' auch: Tant com chascuns est en
ce monde, II s'efforce a ce qu'il habonde A avoir des biens temporax. Mir.
ND. 21, 286.
trans. 'fließen lassen, ergießen' : Royne des cieulx . . . , Vueilliez vostrc
grace habender En mon euer, qui le puist monder Du grant pechie, Mir. ND.
4, 1132.
'in Fülle da sein lassen, spenden' und schlechthin 'spenden, verleihen':
Car Diex abonda leur viande; Cascuns a plus quHl ne demande, Manek. 7685 ;
Nus biens est, se Diex ne Vahonde, ib. 4724; celui qui fait croistre Les biens
dessus terre et liabondc, Qui seul gouverne tout le monde, Mir. ND. 24, 664.
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 67
'vermehren, erhöhen': (Gott) Vostre honneur acroisse et habonde, Mon
scigneur chier, Mir. ND. 27, 1667.
abondant, als adj. 'in Fülle vorhanden, gewaltig': Car en Dieu est la pities
gratis Et redemptions luibundans, Reimps. 129, 7 in Oxf. Ps. S. 348.
•in Überfluß lebend': Kar mult raempUde est la nostre aneme, re-
proce a^ ahtindanz e despisement as orguilliis (opprobrium abundantibus et
despectio superbis, toTs evffijiovat, vgl. Joh. Stöcklein, Arch. f. lat. L-ex. 7,
230), Oxf. Ps. 122, 5; Car nostre arme est motilt remplie De despisement et
d'envie; Reprochiers fu as haiundans, As orguülous despisemens, Reimps. ib.,
in Oxf. Ps. S. 347.
'fruchttragend, fruchtbar' : La tue ferne si cume viz ahundant es lez de la
tue maisitn (uxor tua sicut vitis abundans, in lateribus domus tuae, evd-rj-
vovart, vgl. J. Stöcklein, a. a. O. S. 212), Oxf. Ps. 127, 3.
'überzählig' : Cil . . . Doit entor liii toz jors avoir Chevaliers Jiardiz et vail-
lanz . . . Et des ahondanz doivent estre, Prior. Veg. 6981 {z= bons Chevaliers
sorhabundans, JMeun, ArtChev. 114, bonos equites supernumerarios, Veg.).
d'nhondant, s. auch Scheler, Gloss. zu Froiss., Po6s.
ahonde, ^ d'auc. ii. auch: On voit trop le siede habonde, Entre povres et
entre riches, De ehieres sauvages et niches. De quoi on voit chascun parer,
JCond. II, 220, 90; avoir le euer abonde de . . . : Mais qui a le euer abonde
Des .ii. (sc. mestiers) , on voit bien avenir Qu'il le fönt a honnour venir,
JCond. I, 105, 266.
ab 00 t er , vgl. auch ahaater.
** abord, s. m., s. A. Delboulle, Rev. d'hist. litt, de Fr. I, 180 (15. J.).
** ab or de e , s. f. 'Anhieb, Anfang' : puis couce la lance et de prime
abordee il en tresperca l'un, Pr.-Clig. 299, 15.
ab o s er , vb. trs., vgl. God. abouser, embouser.
ab o t , s. m., vgl. God. about.
ab 0 t er , vb. rfl., auch: Li oeil Deu a ceauls qui le doutent, Qui s'i affient
et aboutent, Reimps. 32, 17 in Oxf. Ps. S. 282.
* ab o t ir, vb. intr., 'angrenzen an (a)', s. A. Delboulle, Rev. d'hist. litt,
de Fr. I, 180 (14. J.).
** ab 0 u t 0 ir , s. m., s. A. Delboulle, Rom. 31, 351.
abracier, v. rfl., 'sich umarmen' : Des braz se sont entrabrachiez,
Meraug. 4610 T.
ab r as e r 2., vb. trs., auch: La iri de Deu abrase lo perdurablo fue d'en-
fer qui dnre perdurahlament (aeternas gehennae . . . flammas accendit), Afr.
Pr.-Leg. J 28, 13.
bildl. auch: toz abrasas d'iri s'en allet (ira accensus), ib. J 28, 2.
abregier, vb. trs. 'abkürzen' (übersetzt abbreviare auch JMeun, Art-
Chev. 72), (das Leben) auch: Ei mort, . . . Ne lessez pas pur ma richeise . . .
Que vus ncn abreggez mun jur! Ipom. 5248; Li jorz de ceuz qui serant
dampna sont abregie (breviabuntur), Afr.- Pr.-Leg. M 15, 9; 'verringern, ver-
kleinern': Por quele cause abregerent Les legions eil qui taut seurent (Ka-
pitelüberschrift, nachher in der Form Apres ce la raison dions D'a/petisier
los legions), Prior. Veg. 2009.
'beschleunigen': Piques, pour mon fait abregicr, G'iray prier, ains que
plus tarde, Froiss. Po4s. IIT, 184, 14; en attendant sa tresdesiree revenue
que dieux veulle ahregier, Pr.-Clig. 317, 37; — Inf. sbstviert: le plus beau
sens qui soit en nostre fait c'est de l'abregier, ib. 325, 24 (^ N'i a que . . .
dcl feire hnstivement, Clig. 5375).
'jmdn. schnell abfertigen, jmds. Angelegenheit schnell erledigen': (der
König, im Begriffe, seine Pilgerreise anzutreten) Seigneurs, il est maishul
Saison D'alcr m'en, de vous preng congiS, Puis que tant vous ai abregie,
Qu'avez regcnt, Mir. ND. 34, 928; Vous nie chargiez d'un fait Qui n'est mie
trop legier, Mais nient moins, pour vous abregier, Je vous en diray mon avis,
ib. 39, 76 ; Par aventure a cy aucun Qui nous en pourra de legier Un nommer,
5*
68 BoniPrkungeu zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
povr 1WV.1 ahregicr, Bonffisnnt homc (der ein für den Kaiserthron geeigneter
Mann ist)? ib. 38, 812. Denkbar auch intr. Bdtg., aber warum dann vous,
nous dabei?
rfl. 'sich beeilen', de c. Inf.: prient qu'il s'abregece de faire.le sarcus, Pr.-
Clig. 328, 4.
*airenoncier, vb. intr., 'entsagen': Apres li demandet st el rcnon-
ciave n totes les ydoles. El respondet: Abrenoncio (abrenuntio) , Afr. Pr.-
Leg. M 51, 4.
* abr eviation , s. f.. s. A. Delboulle, Rev. d'hi.st. litt, de Fr. I, 180
(14. J.).
abr iv e r , vb.. ^e de c. Inf. auch: Et il en est outre passes, Cil qui de
sivre est abrives, Ferg. 87, 13.
abroiier, vb. trs., 'in der Schlinge fangen, bildl. jmds. Meinung entkräften
oder jmdn. ad absurdum führen?': Ea, bele riens cortoise et debonaire, J'ai
trop mespris . . . , Quant giierredon cuidoie d'amors trere Autre qu'ades ser-
vir et depr'ier; Gar de legier ine puet on abroier, Que tres bien doit grief mal
souffrir et trere Cil qui d'amors a si bon essemplaire, Gaut. Dargies XII, 12,
S. 27 (Gl.: 'für "abrier". döfendre, justifier?').
**abroutir, vb. trs., s. A. Delboulle, Rev. d'hist. litt, de Fr. I, 181
(14. J.).
ab s c 0 ndr c , vb. rfl. : droit a soillie (1. solelh) abscon (bei Sonnenunter-
gang), GLi6ge 4843.
** ab s c 0 11 s , s. m., 'Versteck': mettre se en abscons, GLi6ge 37932
(Seh.: s'embusquer).
*absconser, vb. trs., GLi6ge 23012 (Seh.: cacher) ; Taut que fondee
fut Liege qui Vabsconsat (sc. Tongres), ib. 5911 (Seh.: öclipser, mettre dans
l'ombre) .
ab s enc e , s. f., auch : nostri oil no sentiront nostra absenci, quar nos
nos regarderem des euz del euer, Afr. Pr.-Leg. M 54, 22; Vorlöge ... les heit-
res nous aprent . . . En l'absense meisme dou soleil, Froiss. Po4s. I, 53, 11;
Et mieuls vous vaurra ce a faire secretement en l'absence de li qu'en le prc-
sence, ib. I, S. 279.
**absenser, vb. rfl., 'sieb entfernen': Plusieur bon Chevalier y pen-
sent, Qui de letirs terres s'en absensent, Meliador 3755.
abs enter, vb. rfl., auch: Mes se taist et de vous s'absente Et seuls a
par soi se demente, Froiss. , Po6s. I, 39, 1301; Chascun qui pourra s'en ab-
scente (sc. de la forest de Longue Attente), Car l'entree en est perilleu^e Et
l'issue fort danqereuse, Rond. des Graf. v. Nevers in Chd'Orl. (ed. d'Hßric.)
II, 163.
** ab s en t ir , vb. rfl., 'sich entfernen': soy absentit, GLi6ge II, 11189;
JStavelot 99, 107 (nach A. Risop, Stud. z. Conj. auf -ir, S. 5, Anm.).
absolucion, s. f., auch : et ge les assoudrai de eele absolucion dont
Diex assolt ses apostres, l'Erberie bei Rut. III, S. 188; Proiies a ma dame
merchi En genous de tous les meffais . . . , S'en queris absolution, JCond. II,
10, 295; Et se nuls d'amer se retrait, Devant go Ic'il ait sun bon fait, En fiti
eil ert escumenge . . . Asouz ert eil ki plus avra; A Credehulle a ma maison
Chartre ai de l'absolucion, Tporn. 10570; Aurai je or aisoludon? Froiss. Po€s.
11, 61, 2089.
* abstrair c , vb. rfl., s. A. Delboulle, Rev. d'hist. litt, de Fr. I, 182
(14. J.).
** abstrus, adj., s. A. Delboulle, ib. (14. J.).
abuisser, 1. abuissier.
nbus, s. m., 'Mißbrauch, übler Brauch': cc scroil granf ahus a vng fils
de roial estrc d'aler tout seul quant il le puelt faire aultrement, Pr.-Erec
269, 37.
** ab u s e e m ent, adv., 'mißbräuchlich' : notis ne nous complaindons
pas de ceste infortune abusecment, Pr.-Clig. 330, 24.
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 69
ah US er , vb. trans., 'täuschen': Je tien et croy que par raison Nous leur
motisterrons clerement Qu'il sont abuse laidement Par ce Jhesu, Mir. ND.
20, 1016; a Vexaliation de lu foy et Vinstruction de ceux qui ont este en ceste
matiere dtceus et ahuses a Voccamon d'icelle fenime, Chron. Puc. d'Orl., bei
Buchon, Chron. et M6m. I, 462 b; une femme qui se faict appeller Jehanne
la Pucelle . . . a donne a entendre au simple peuple, pour le seduire et ahuser,
qu'elle estoit envoyee de par Dieu, ib. 465 b ; H precede les hommes en beaulte
science et coiirtoisic, sc (1. si) srroie bicn abusee de le hair (auf dem Irrwege
sein), Pr.-Clig. 290, 19.
rfl. 'sich irren': et ausi il ne s'ahusevoit mie s'il me nonmoit amie, Pr.-
Clig. 294, 34.
ab u t e r, vb. trans. Ces eoquars prestres abetir Pour leur presirise nie
cuidoient. Je croy qu'abute Hz avoient Qu'amende n'oseroie d'eulx PrendrA
pour ce qu'estoient deux, Mir. ND 14, -300 (Bonnardot: buter une id6e en son
esprit, croire fermement).
acarier, vb. trans., 1. acarer, s. A. Tobler, Zeitschr. f. roman. Phil.
IV, 375.
acato7ier, vb. rfl., vgl. God. aquastroner.
accepcion, s. f., 'Ansehung', auch: En totes cestes choses est esgauz
li dispensacions nostron seignor senz accepcion de persone (absque persona-
rum acceptione), Afr. Pr.-Leg. D 15, 28; (Gott) qui vout salvar totes les genz
qui croient en lui senz accepcion de persona (sine personarum acceptione) , ib
F 25, 15; s. auch A. Delboulle, Rev. d'hi.st. litt, de Fr. I, 184.
acces, s. m., 'Zutritt', auch: Le roy si m'envoie savoir Se de parier
pourra avoir Acces a vous, Mir. ND. 39, 1665.
'Krankheitsanfair auch: la parole et la voiz M'afebloient trop malement.
Je siti en acces vruiement, . . . maine moy lost couchicr, Mir. ND. 36, 283; Je
vous vois ordener tandis TJn colis de quoy humerez, Quant hors de vostre ac-
c^s serez, ib. 36, 340.
ac cident , s. m., auch: sinthoma (d. i. symptoma), accident ou signe
de maladie, Cath. Lille 127; et congnoist bien ad ce qu'elle leur voit souvent
changier couleur que ce sont accidens d'amotirs procedans, Pr.-Clig. 296, 19;
vostre paine est causee d'un accident d'amours, ib. 309, 36.
accident el, adj., s. auch A. Delboulle, Eev. d'hist. litt, de Fr. I, 184.
accion, s. f., 'Handlung' auch: es legions A toz jors plusours actions
Que (nom.) letrez Chevaliers requierent, Prior. Veg. 3296; Doulx Jhesus, qui
touz jours user Seitlz a nous rn taute accion D'amour et de dileccion. Mir.
ND. 25, 627; Et misent toutes nations Enclines a leurs actions (die Römer),
Froiss. Po^s. II, 5, 136; Pluisours imaginations A uns homs: ce n'est pas
mcrveilles, Car il est de moult actions. Forgi4s, qui ne sont pas pareilles,
M^s diverses et despareiUes (Scheler: car il ^t formö par diverses influen-
ces), ib. II, 385, 3.
'Handlungsweise, Verhalten' : . . . , Si le tienc (sc. die violette) a trop plus
hautaivne Et de trop plus noble action Que rose ne soit, Froiss. Po6s. II,
242, 241. S. ferner Schelers Gl. (maniere d'agir, proc^de).
aceindre, vb. trans., 'umgeben, umgehen, umflügeln', mit pers. Obj.
auch: quant . . . convint Pompee . . . bresier les achaintes dou mur dont Ju-
lius Cesar avoit aehainle s'ost. JMeun, ArtChev. S. 77; se tes adversaires n
plus grant multitude de gens que tu n'as, il porra achaindre la bataille au
coste destre ou a senestre (a lateribus aut dextram aut sinistram alam cir-
cumvenit), ib. S. 117.
bildl. auch: Frans cuers gentius esleus Pour toutes valours achaindrc,
AdHalle XI, IV, 2.
intr. 'ringsum erscheinen': Choisirent de Herupe la nobile compaingne,
Dont lor fu bien avis qne toz li mons againgne, ChSax. 2500.
acelee men t , adv., 'verstohlen'. Anfechtbare Besserung aus c che-
leement: il passa la outre tot a cheleement, God. Bouill. 158; acheleement ist
70 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
kein wahrscheinliches Wort. Es liegt wohl Verderbnis für la outre trestof
cheleement vor. tres verlor sich nach der gleichklingenden Schlußsilbe von
outre; a celee half dann mit seinem a die wahrgenommene Silbenlücke füllen.
acensir , vb. trans., übertr. auch : Li valles se maintient ensi K'a nulle
son euer n'acensi Deus ans puis que eil furcnt mort, JCond. I, 309, 184; Tu
OS trop ion euer accenssi A avarisce, ib. II, 315, 50.
aeerin, adj., 'stählern, stahlgleich, fest wie Stahl', übertr. auf Men-
schen : . . . , 8'assaillissent tuit enterin, Tuit agu et tuit acerin Lor enemis
plus aigremant, Tuit fres, sanz point de lessemant, Prior. Veg. 6660.
acertefiier, vb. trans., auch : Mes mon esperit tres agu . . . M'acerte-
fie et dist tout oultre Et par pluisours signes me moustre Que e'est ma dame
Sans mentir, Froiss. Poös. II, 57, 1948; Cur tout ensi Vires li signefie A son
retour et li acertefie Ne plus ne mains, ib. II, 213, 119.
acertener, vb. trans., mit sächl. Obj. auch: Et mon voloir acertenai
Au conseil gu'ele m'eut basti (GL: certifier, informer), Contd'Am. 32, 5
(Beauni. II, 1, 247) ; Tote voe est il provee Chose et hien acertenee Que . . . ,
Prior. Veg. 10312; Car iV est hien chose provee Et de lonc tans acertenee
Que ..., ib. 10852.
auc. r. a auc., 'jemdm. etw. versichern': Dites vous que la doy avoir Pour
tout certain? — öil, je le vous acertain, Mir. ND. 19, 706; Tu as, ce m'est
avis, pesance Des maux qu'as faiz et repentance: Est il certainf — Sire, öil,
ce vou^ acertain, ib. 33, 1132; Didier, c'est voir, je facertain, Que des hien-
f alz que d'eulz avons Loer Dieu pour eulz en devons, ib. 36, 48; Sire, pour
voir vous acertain, Se tien seurement savoie Que . . . , Cc que j'en sgay vous
en diroie, ib. 17, 556.
mit pers. Obj.: äuc. d'auc. r. (oder auc. que) a.uch: Est il certainf — Öil,
je vous en acertain. Mir. ND. 33, 588; apres ce qu'il eust este acertene du
fait de lui et de Fenice, Pr.-Clig. 337, 46; Alixandre doncques acertene par
son enqueste que toux les milleurs Chevaliers du monde estoient . . . a la court
du roy Artus, ib. 284, 8; comme il (Gl.) fust acertene qu'il (d. König) estoit
assez pres d'illec, ib. 318, 6; je fui comptente de laissier mon pays et moy
acertenee qu'il estoit de hauli Heu et de hon hostel (abs. Part.-Gonstr.) de
m'en venir avec luy en celle terre, Pr.-Erec 291, 15.
ac er t er , vb. trans., auch auc. r. a auc. nach Ce vous arai tost acerte,
BGond. 176, 31 B, wo Scheler jedoch irrige Verknüpfung von asserter, Fre-
quentativ von asserere, 'affirmer, soutenir', mit certus durch den Schreiber
annimmt.
ac esmer , vb. trans., mit sächl. Obj.: Et pour qu'il (der Baum) est
acesmez D'azur . . . , Watr. 88, 167.
rfl., mit de u. sbstvtm. Inf. : A cez paroles se trest sus Li Chevaliers, qui
per joster A pris l'escu; de Vencontrer S'acesme, Meraug. 2287. Paarungen:
rfl. acesmer et afaitier, Veng. Eag. 1056 {por c. J.), ^ et atorner, Ipom.
3164 (de c. J.).
ach aahl er , vb. trans., auch: Ses fors hras sur euls tant desploie,
Tous les achaahle et desront, Dame a la Lycorne 4967.
** achan g onnir , s. A. Delboulle, Rom. 31, 351; A. Thomas, ibid.
39, 221.
acharner, vb., ^(' a ... : en ce tenips estoient les Arminacs plus
acharnes a cruaute qite oncques mais, Journ. d'un Bourg. de Par. 1420, bei
Buchon, Chron. et M6m. I, 643 a. Zum rfl. s. auch A. Delboulle, Rev. d'hist.
litt, de Fr. I, 488.
achater, vb. trans., auc. r. d'auc. 'jmdm. etw. abkaufen' auch: Pansc
que d'aiis achatera Les rohes, puis lor redonra. Gd'Angl. 3251.
auc. r. a auc. 'jmdm. etw. abkaufen': en verite le vos di ..., Que cest
ceval jo Vachatai Loialment a un damoisel, Julian 824.
ache, s. f., 'Eppich', auch: selinum, une herhe, ache, Cath. Lille 125.
** a c h e m i n e m e n t , s. m., 'Aufbruch' : Apres Vacheminement de la
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 71
gente damoiselle Enide la reyne . . . oncques plus joieuse ne fu, Pr.-Erec
263, 32.
ach eminer, vb. trans., mit sächl. Obj. und Angabe des Ziels: Le jotir
aquist la bienveillance De mainte gent par sa vigour, Qui ot jut lonctamps
en langonr, Or est garie et tierminee Et a honnour aceminee, JCond. I, 193,
826. ^ la voie auch: Sans arrest nous acheminames Üevant notis la voie
tout droit, Watr. 258, 852.
ach e vir, vb. trans. agovir, Veng. Hag. 1519 ist assevir, assovir
(Meyer-Lübke, E. W. 724, 734), zum Reim agovie : prie vgl. pri : merchi,
Veng. Rag. 4293, pri : issi, ib. 5679.
achevir ist eschivir in Si deit Vum achevir orgoil, Ipom. 6367.
acidio s , adj., 'träge' auch: Eons accidieus n'a courage D'öir les Mens
nis recorder, JCond. II, 224, 50.
acier, s. m., 'Stahl', bildl. : Antre Ini (sc. Baudöin) et Berart sont d'a-
cier dur trempe, ChSax. 3181.
'Stahlspitze der Lanze': Parmi (durch die Schilde) en passent les acers
Des bons espez clers e furhiz, Ipom. 9558.
acliner, vb. trans., bildl. auch: N'onques a soulas ne a feste Ne vous
vi acliner la teste, Watr. 219, 628.
a. son ciier a auc. : Baudöins la regarde a cid son euer acline, ChSax.
I,XIX u. Var. R (ed. Menzel S. 87).
rfl., nhs. -.En orisons s'est aclinee, Julian 2979; — sor auc. r.: Sor le hor-
don est si fort aclinez Que les esclices fist contremont voler, Gaydon 9918;
— joste auc, vers auc. : Sire, dist li dus Naimmes qui joste lui s'acline, Cest
B. voz nies, ChSax. 1622; Et ses iras a son seignor rue (sie), Vers lui molt
doucemcnt s'acline, Si fait son duel sor sa poitrine, Julian 3683.
übertr. : Qu'a ntile autre rien ne ni'aclin Forsqti'a ma douce amie bele.
.Salud'Am. (Zeitschr. f. rom. Ph. 24, 361) 91; Jeo quidoue si halt munter, Or
me covient a rettirner E acliner a ma nature (od. intr.), MFceFab. 73, 81
Var.; Baudöins la regarde a cui ses cuers s'acline, ChSax. LXIX, u, Ms. A;
Aclines a bonne oevre toi, Gentis princes, Watr. 143, 169; Chascuns l'on-
neure et l'encline, Et li autres peules s'acline Vers lui pour son commant a
faire, JCond. II, 103, 6 (Scheler: montrer de l'empressement) ; — a c. Inf.:
Com plus est hons puissans veus, Tant est ses pris plus bas cheus, Se il a mal
faire s'acline, Watr. 143, 168; Dame, bien me doi acliner A faire tout vostre
voloir, ib. 271, 1264; li firmamens s'acline A faire pape du dauffin, ib. 303,
216; — ■ a ce que c. Cj.: Et priem Dieu . . . qu'a ce se veulle acliner Qu'il vous
otroit sa gloire fine, Watr. 230, 1020; — estre aclinez a c. J. : Tous li mons
le (fem.) doit encliner, Quant a bien faire est aclinee, JCond. II, 209, 189.
acline 'untertan, gefügig': Biax sire nies, vous arez ma contree, En poi
de terme est la terre aclinee, RCambr. 3651.
ac 0 ar d er , vb. intr., auch: Et quant Juliens la regarde Et voit que
onques n'acoarde, . . . , Julian 4200.
rfl., auch: Mes tous m'aloie acouardant, Froiss. Po€s. II, 190, 3499.
ac o ar dir , vb. rfl., auch : Juliens qui molt est hardis Ne s'est lors m,ie
acoardis, Julian 1594; Et les hardis (sc. facli) acouardir, JCond. II, 32, 1047;
tantost s'en racouardi, Froiss. Poes. II, 122, 4109.
trs. auch: Les plus hardis acouardist (sc. amors) Et les plus couars en-
hardist, BCond. 277, 251.
acoardi : avoir le euer ^ : S'il a le euer aeouardi, On ne li doit pas re-
procier, JCond. I, 301, 131. ^
(Fortsetziiiii; folgt.)
Berlin. Gr. Colin.
1 in Arch. 137, 84, Z. 32 v. o. 1. 116, 11.1 statt 106, 111; ib. S. 88, Z. 21
v. o. ist die Stelle ChCharr. 4867 zu streichen.
Die Frage der Echtheit von Cyrano
Bergeraes Sonnenreise. — Die Sonnenreise
und die Essays von Montaigne.
(Schluß.)
Nur noch ein paar kürzere Parallelen bringen Gedanken aus den
Essays, die auch schon in der Mondreise gebraucht waren:
in der Mondreise wird (S. 142 meiner Ausgabe) erzählt, wie der
Dämon des Sokrates Campanella lehrte, durch Nachbildung des
Gesichtsausdrucks alle Gedanken der von der Inquisition An-
geklagten in sich nachzubilden, ein Scherz, der auf materialisti-
scher Anschauung beruht. In der Sonnenreise sehen wir Campa-
nella (Jacob, 315 ff.) diese physiognomische Gedankenlesekunst
praktisch ausüben. Er beantwortet Dyrconas Fragen, ehe sie
gestellt sind, und erklärt (S. 316): farrange toutes les parties de
mon Corps dans un ordre semhlahle au vötre; car etant de toutes
parts situe comme vous, fexcite en moi par cette disposition de
matiere la meme pensee etc. Auch Montaigne spricht in dem
Kapitel de la Physionomie (III, 12) von den traict et fagon de
Visage, et ces lineaments, par lesquels on argumente aulcunes com-
plexions internes et nos fortunes ä vcnir, ohne allerdings so weit
zu gehen wie Cyrano, der die Anregung zu dieser 'praktischen
Physiognomik' in erster Linie von Campanella selber erhielt, wie
in einem späteren Aufsatz gezeigt werden wird.
Zu den Liebesäpfeln schreibt Cyrano: (Jacob 311) Les peres et
les meres, qui, comme voiis savez, au gouvernement de leurs
familles ne sc laissent conduire que par Vinteret, fäches que leurs
enfans, aussitöt quils avoient goute de ces pommes, prodiguoient
ä leur ami tout ce quils possedoient, brülerent autant de ces
plantes quils en purent decouvrir. Hier steckt eigene Erfahrung,
aber auch, wie in der Mondreise, Montaigne II, 8, de Vaffection
des peres aux enfants dahinter.
Neben diesen schon in der Mondreise in Rudi-
menten zu findenden Parallelen erscheinen in
der Sonnenreise ein paar neue, darunter zwei
überaus charakteristische. Ein paar nebensächliche
Parallelen seien zuerst genannt: Montaigne treibt schon eine Art
Sonnenkult. Unter den falschen Religionen, sagt er, ie me
feusse, ce me semhle, plus volontiers attache ä ceulx qui adoroient
le soleil,
La lumiere commune
L'ceil du monde . . .
i
Die Frage der Echtheit von Cyrauo Bergcracs Sonnenreise 73
Ja, es konnte Cyrano zu seinen Beschreibungen anregen, daß
Montaigne gleich darauf sagt: cest la piece de cette machine . . .
la plus esloignee de nous, et par ce moyen si peu cogneue. Aus
demselben Kapitel konnte er noch allerhand für seine Sonnen-
bewohner herholen: Xenophones faict Dieu rond — wie eine Kugel
bewegt sich Dyrcona auf der Sonne (Jacob 258): je roulois sou-
vent comme une boule. — Epiciire faict les dieux luisants, trans-
parents — so wird Dyrconas Körper vor Erreichung der Sonne
durchsichtig: (Jacob 254) nous etions, ma cabane et moi, devenu
transparens usw. ^
Von ganz anderer Bedeutung ist, daß Cyrano
sich von Montaigneschem Geist, nicht bloß von
seinen Exempeln beeinflussen ließ: einmal vermut-
lich in der Abschätzung von Gedächtnis und Verständ-
nis, ein andermal sicher, wiederum mit wörtlichen Anklängen,
in der Beurteilung des Gebets.
Montaigne ist wie Rabelais, wie alle Humanisten und wie wir
es noch heute sind, ein Verächter der bloßen Erinnerung. Er will
für ein Kind einen Erzieher: qiii eust plustost la teste bien faicte
que bien p leine (I, 25); er soll die scholastische Methode
vor allem bessern: On ne cesse de criailler ä nos aureilles, comme
qui verseroit dans un entonnoir; et nostre charge, ce nest que
redire ce quon nous a dict? ie vouldrois quil corrigeast cette
partie . . . Quil ne luy demande pas seulement compte des m.ots de
sa legon, mais du sens et de la substance . . . Sgavoir par coeur nest
pas sgavoir; cest tenir ce quon a donne en garde ä sa memoire;
was könnte man nicht noch alles anführen aus diesem großartigen
Kapitel und aus dem vorhergehenden gegen die Pedanten: Nous
ne travaillons qua remplir la memoire . . . que disons nous? que
jugeons nous? . . . Äutant en diroit bien un perroquet!
Daß Cyrano, der sich gegen Autoritäten immer gesträubt hat,
diese Kapitel mit Begeisterung las, liegt auf der Hand. Hier fand
er: (I, 25) Les principes d'Aristote ne luy soient principes . . . La
verite et la raison sont communes ä un chascun . . . ainsi les
pieces empruntees d'autruy, il les transformera et confondra pour
en faire un ouvrage tout sien. Das ist ja dann wohl auch Cyranos
Arbeitsmethode geworden.
So mag das Kapitel folgende Sonnenszenerie beeinflußt
haben: (Jacob 331 ff.) drei Flüsse gibt es dort, der breiteste das
Gedächtnis, dann die E i n b i 1 d u n g s k r a f t, der schmälste
die Urteilskraft. An den Ufern des Gedächtnisflusses stehen
Elstern, Papageien usw. qui gafouillent ce qu'elles ont appris.
Was sie am vorhergehenden Abend zu sich nahmen, geben
sie am Morgen wieder von sich, so schlecht ist ihr
74 Die Frage der Echtheit von Cyrano Bergeracs Sonnenreise. —
Magen. Dickflüssig scheint der Fluß, rollt dahin mit viel Spek-
takel. Tausend Echos wiederholen die Laute. Wesen bilden sich
in ihm, die wie Frauen aussehen, andere qui ont la tete cornue
et carree, et ä peu pres semblable ä cette de nos pedans. Ceux-lä
ne s'occupent qua crier, et ne disent pourtant que ce quils se sont
entendu dire les uns aux autres. Montaigne hatte gewettert:
(I, 24) nos pedantes (sie) vont pillotants la science dans les livres,
et ne la logent quau bout de leurs levres, pour la degorger seule-
ment et mettre au vent.
Von dem Flusse der Einbildungskraft wurde schon oben
erzählt, wie Cyrano in diesem einzelne seiner Ideen lokalisiert:
or portable, remores, salamandres. Die Arme der Einbildungs-
kraft und des Gedächtnisses verschlingen sich. Ist ein Arm des
Gedächtnisses breiter, il etaignoit aussitöt celui-lä und umgekehrt:
ist der Arm der Einbildungskraft stärker, il tarissoit ceiui de la
Memoire. Proche de la coule d'une lenteur incroyable la Riviere
du Jugement: son canal est profond, son humeur semble froide;
et lorsquon en repand sur quelque chose, eile seche au Heu de
mouiller usw. Bilder, die in ganz rabelesker Weise erfunden
und Montaigne geistesverwandt sind, wenn sie nicht, was wahr-
scheinlich ist, durch ihn angeregt wurden.
i
So ist es nicht zu verwundern, daß sich beide noch in einem
treffen, in der Verurteilfung mechanischer Wie-
dergabe auswendig gel ernter Gebete. II semble ...
sagt Montaigne (I, 56), que nous nous servons de nos prieres
comme d'un iargon, et comme ceulx qui employent les paroles
sainctes et divines ä des sorcelleries et effects magiciens; et que
nous facions nostre compte que ce soit de la contexture, ou son,
ou suitte de mots, ou de notre contenance que despende leur effect:
car ayants l'ame pleine de concupiscence, non touchee de repen-
tance ny d'aulcune nouvelle reconciliation envers Dieu, nous luy
allons presenter ces paroles que la memoire preste ä nostre langue,
et esperons en tirer un expiation de nos fautes.
Cyrano seinerseits läßt im Plaidoyer der Vögel über den Men-
schen sagen: il leve en haut tous les matins ses yeux . . . colle ses
mains ouvertes, la pointe au Ciel, plat contre plat, . . . se casse les
jamhes par la moitie, en sorte quil tombe sur ses gigots (das ist
in heiterer Art dargestellt, was Montaigne mit contenance be-
zeichnet) puis auec des paroles magiques qu'il bourdonne, j'ai pris
garde que ses jambes rompues se rattachent^ etc. (Jacob 287).
1- Nach bourdonne ist wahrscheinlich eine Lücke. Zu Freimütiges wurde
ausgelassen. , ;
Die Sonnenreise und die Essays von Montaigne 75
Der Vergleich mit dem Rezitieren magischer Formeln ist
wolil von Montaigne genommen. Jedenfalls ist der Geist der-
jenige des Meisters.
Damit haben wir eine Übersicht über die Art und Weise, wie
Cyrano Montaigne in der Sonnenreise benutzt hat. Eine syste-
matische Durcharbeitung mag noch ein paar Entlehnungen för-
dern. Allein eine Stelle wörtlicher Entlehnung wie diejenige zu
dem Thema fortis imaginatio generat casum sichert einmal, daß
Cyrano Leser der Essays war und nicht nur indirekt von ihnen
gehört hatte, sichert weiterhin, daß auch die anderen Parallelen
nicht bloß Zufallsparallelen sind, sichert schließlich, daß die
Sonnenreise, da sie in all diesem die gleichen Arbeitsmethoden
wie die Mondreise zeigt, als echt angesehen werden muß. Da ich
nun schon erkennen ließ, daß nicht alle Stellen echt sind, sondern
daß mehrere die Tätigkeit stärkerer Redaktion erkennen lassen,
so soll in einer Tabelle, die der Seitenzahl der Ausgabe Jacob
folgt, alles bisherige zur Beurteilung der Echtheit einer Partie
Erforschte eingereiht werden und zugleich Bedenken geäußert
werden, wo solche angebracht sind.
5. Echtheit der einzelnen Teile der Sonnenreise
und Spuren redaktioneller Tätigkeit.
Ed. Jacob, 205 — 237. Einleitung = echt. Es wird an
das Ende der Mondreise angeknüpft, so wie es in den Handschrif-
ten sich findet, nicht aber an das von Le Bret stammende Ende
der Drucke. Fast auf jeder Seite finden sich Varianten zu den
Briefen (vgl. oben). Auch zur Mondreise iind zum Pedant Jone
Parallelen. Keinerlei Spuren redaktioneller Tätigkeit.
237 — 273. Die Reise zur Sonne = echt, aber vermut-
lich stark retuschiert. Keinerlei Parallelen zum Briefstil. Da-
gegen Weltanschauung durchaus gassendistisch : S. 240, 241. Das
Feuer als Urprinzip, le Soleil, cette grande äme du Monde, stammt,
wie in einem späteren Aufsatz gezeigt wird, von Campanella.
Starke, zujn Teil wörtliche Entlehnungen aus den Essays (fortis
imaginatio generat casum). Auch der Tanz der Atome echt
Cyrano. Dagegen ist wohl stilistisch von fremder Hand gefeilt
und gelegentlich gefaßt worden. So scheint Jacob 259 unecht.
Vgl. mignardes langueurs, den ungeschickten Übergang: Tout
cela veut dire, en deux mots, que je me couchai.
Dagegen ist auf S. 261 kaum eine Lücke anzunehmen, wie
Jacob dies tut.
273 — 296. Histoire des Oiseaux = echt, gelegentlich
Beziehungen zu den Briefen, starke Parallelen zur Mondreise,
76 Die Frage der Echtheit von Cyrano Bergeiacs Sonnenreise. —
zahlreiche, zum Teil wörtliche Entlehnungen aus den Essays:
fortis iniaginatio, Freundschaft, Tod, Gebet usw. Im Gebet
(Jacob 287) nach paroles magiques quil hourdonne vermutlich
Auslassung des Herausgebers.
296 — 314. Baumreich = echt. Zahlreiche Parallelen
zu den Briefen und zu Montaigne. Echt Cyranosche Erfin-
dung.
314 — 321. Der Kampf vom Feuertier und vom
Eistier = echt. Das Feuertier, der Salamander, bereits in
den Briefen, die Remora, das Eistier, wird von Montaigne in den
Essays besprochen und kommt mit einem Beispiel, das Montaigne
zitiert, schon im Pedant Joue vor. Brun sieht in diesem Kampfe
die verlorene Histoire de VEtincelle Cyranos. Dies ist vollkom-
men unbegründet. Das Ganze eine Illustrierung zu Campanellas
Lehre.
321 — 327. Begegnung mit Campanella = echt ...
gelegentlich redigiert (S. 319 oben Lücke).
Von der Begegnung mit Campanella ab mehren sich die Ent-
lehnungen aus dessen Werken. Es soll in einer besonderen Arbeit
dargestellt werden, wie Cyrano Teile der Lehre des süditalieni-
schen Dominikaners verarbeitete, und auch hier wird sich zeigen,
wie dieser Einfluß durch das ganze Werk von der Mondreise
an durchgeht, was ein letzter Beweis für die Echtheit des
Schlusses ist.
327 — 333. Das Schlummerreich, die drei Flüsse
= echt. Beziehungen zu den Briefen wie zu Montaigne. Hier
sind es die petits corps innes der Sonnenbewohner, die durch die
drei Flüsse umgeformt zu Sonnenstrahlen werden (Campanella-
sche Lehre + Gassendische Atomistik), die Erde besch einen und
auf sie die Wunderkraft der Flüsse übertragen: il se laissent
attirer aux plantes pour vegeter; les plantes se laissent brouter
aux animaux pour sentir; et les animaux se laissent manger aux
hommes, afin quetant passes en leur substance, ils viennent n
reparer ces trois facultes de la Memoire, de Vlmagination du
Jugement. (Die drei Flüsse!)
335 — 336. Der Tod des Philosophen gibt kaum An-
haltspunkte zu seiner Beurteilung. Die Erfindung ist echt cy-
ranoisch.
337 — 345. Das Liebesreich — echt: starke Entlehnun
gen aus Campanellas Ciiiitas Solis.
345—347. D e s c a r t e s.
Hier kommt nun der schwierigste Punkt: Descartes war der
Gegner Gassendis. Ihm setzt Cyrano, der Gassendist, Essay-
Leser, Anti-Aristoteliker, ein Denkmal!? Mancherlei spricht da-
Die Sonnen r-cise und dio Essaya von Montaigne 77
für, daß die Stelle echt ist, mancherlei dagegen, eine Entschei-
dung ist a priori nicht zu fällen.
Für die Echtheit des Schlusses, der ja kein Abschluß ist,
spricht, daß Cyrano in einer zweifellos echten Stelle sich als
Leser Descartes entpuppt: in der Sonnenreise (218) stoßen die
abergläubischen Bauern auf die Physique des Descartes: quand
ils apergurent fous les cercles par lesquels ce Philosophe a dis-
tingue le mouvement de chaque Planete, tous d'une voix hurlerent
que cetaient les cernes que je fragois pour appeler Beizehut. In
der Tat sind die Principia des Descartes voll solcher Holzschnitte.
Aber die Bauern 'lesen' weiter (219): ä Vendroit dont je parle, il
11 a une figure de cette pierre metallique, oü les petits corps qui se
deprennent de sa masse pour accrocher le fer sont representes
comme des hras. Mit diesem Zeichen habe man Pferde getötet-
Ich habe die Figur in den Principia nicht gefunden, wohl aber
zahlreiche Hände beim Experimentieren. Also Descartesleser ist
Cyrano gewesen, daran ist kein Zweifel. Allein vom Leser zum
Anhänger ist ein weiter Schritt. Die angeführte Stelle ist kein
Zeugnis der Anhängerschaft; sie bedeutet: selbst die Figuren des
zahmen, akademischen Herrn Descartes, der nicht im Gerüche des
Freidenkertums steht, werden für Zauberformeln gehalten.
Das stärkste Argument für die Echtheit ist, daß Des-
cartes (t 1650) als eben verstorben bezeichnet wird, was für den
Redaktor, der erst gegen 1660 seiner Tätigkeit oblag, die Ak-
tualität der Anregung nimmt.
Das wichtigste Argument, das gegen die Echtheit der letzten
Seiten vorgebracht werden könnte, ist die Tradition, daß ein
Cartesianer die Sonnenreise herausgab. Allein der Hei:ausgeber
hat v.'cnig Spuren hinterlassen: in der Sonnenreise ist
Cyrano der schärfste Gegner Descartes, keine
der in den Principia A^orgetragenen Descartes-
schen Lehren wird angenommen. Die Sonnen-
reise ist so uncartesianisch wie möglich. Und
gerade darum wird man um so mehr geneigt sein,
in den gelegentlichen cartesianischen Spuren
eine Tätigkeit des Redaktors zu sehen.
Ohne hier systematisch vorzugehen, will ich doch die Haupt-
punkte nennen, an denen Cyrano und Descartes Antipoden sind.
Ich benutze die französische Ül:)ersetzung der Principia, die Des-
cartes einleitete, also autorisierte:
Der Grundgedanke der Sonnenreise, wie sie uns vorliegt, mit
ihrem Vogelreiche und ihrem Pflanzenreiche, mit ihrer ständigen
Unterscheidung dreier Seelenstufen der rlwe vegetative (= Pflan-
zen), sensitive (= Tiere) und intellectuelle, der menschlichen
Seele, ist entgegengesetzt cartesianischer Denkweise; denn Car-
78 Die Frage der Echtheit von Cyrano Bergeracs Sonnenreise. —
tesius dachte anthropozentrisch und machte die Tiere zu Ma-
schinen. Aus diesem Rahmen soll in der Sonnenreise das Philo-
sophenreich herausfallen. Ist es von Cyrano, so wollte er hier
Gelegenheit zu einer Auseinandersetzung mit Descartes haben,
die nicht zu dessen Grünsten ausfallen konnte, wenn sie erhalten
wäre. Denn wie in der Mondreise — ich habe dies in meiner Ein-
leitung gegen Brun, Loewenstein und andere gezeigt — , ist auch
jede Seite der Sonnenreise anticartesianisch, vom Verlassen der
Erde ab, wie ich nun zeigen will:
Cyranos Maschine beruht (S. 238) darauf, daß sich in einem
Ikosaeder aus Kristall ein leerer Raum bildet; durch das
horror vacui getrieben, dringt die Luft von unten ein, um den
leeren Raum zu füllen, der sich aber immer erneuert, so daß der
Kasten gehoben wird. Die Erklärung der Bewegung durch den
leeren Raum, wenn auch in etwas anderem Sinne, ist gassen-
distisch. Vgl. S. 79 meiner Ausgabe. Cyrano bleibt in der
Sonnenreise bei dieser Theorie; denn in der Nähe der Sonne geht
die Reise viel langsamer (S. 255) la mauere en cet etage est fort
deliee pour le grand vide dont eile est pleine etc.
Die Leugnung des leeren Raumes ist eine Grundlage cartesia-
nischer Denkweise. Der 16. Abschnitt Tl. Teils der Principia ist
betitelt: Qu'il ne peut y auoir aucun vuide au sens que les Philo-
sophes prennent ce mot. Cyrano kannte diese Theorie sehr wohl,
denn vor der Begegnung mit Descartes läßt er sich in eine Dis-
kussion gerade über diesen Gegenstand ein: (S. 325) 'Mais, lui
(Campanella) dis-je, il me semhle que ce Philosophe (Descartes)
a toujours impugne le vide' etc. Campanella antwortet, Des-
cartes würde hierzu selber Rede und Antwort stehen, und verrät
so den Sinn, den Cyrano der Begegnung mit Descartes geben
wollte.
S. 240, 241 (Jacob) wird über das Feuer gesprochen: ce que
Von nomme chaleur est une hrouine d'atomes de feu. Das Feuer
ist ein Element, das aus besonderen Atomen gebildet wird. Dies
ist, wie ich in meiner Einleitung (78, 78 ^) ebenfalls gezeigt habe,
gassendistisch. Brouine ist das in diesem Zusammenhang ge-
brauchte lukrezische pruina (frz. hruine). Descartes' Anschauung
ist geradeso falsch, chemisch gefaßt, wie diese (vgl. Teil IV der
Principia Nr. 80) . Aber er würde nie das Feuer aus Atomen
bilden lassen, da er die Atomlehre ja bekämpft, aus dem Grund-
satz heraus, daß es für Gott nichts Unteilbares gibt: (IT, 10)
Quil ne peut y auoir aucuns atomes ou petits corps indiuisihles.
Diese von Descartes stets geleugnete Atomlehre ist aber wiederum
eine der Grundlagen, nicht nur der Mondreise, sondern auch der
Sonnenreise; ich kann es unterlassen, Belegstellen anzuführen.
Nur die eine sei abermals erwähnt: Dyrcona trifft einen wunder-
Die Sonnenreise und die Essays von Montaigne 79
baren Baum auf der Sonne. Der Baum zerfällt in lauter kleine
Männerchen (S. 261). Plötzlich, aus einem mit der Erzählung
eng verknüpften Grunde, beginnen diese einen Tanz und bilden
einen Jüngling, in denen der Sprecher als letzter (die Seele)
durch den Mund schlüpft: la liaison de toutes les parties qui
acheverent ce parfait microcosme se fit en im clin d'oeil. Der
junge Mann erklärt, die fortis imaginatio, verbunden mit der
puren Materie, bedingte ihren leichten Gestaltwechsel. Die Lö-
sung des Rätsels aber, das längst von meinen Vorarbeitern gelöst
wurde, vermittelt eine Stelle der Mondreise (vgl. S. 74 meiner Ein-
leitung): aus den verschieden geformten Atomen entstehen die
Elemente, das Feuer aus runden Atomen (S. 195 meiner Ausgabe)
wie in der Sonnenreise (Jacob 241), das Feuer treibt die anderen
Atome zur Bildung der Körper: TJn peu moins de certaine figure
ceüt ete un orme . . •; u.n peu plus de certaines autres figurcs,
ceüt ete ... un moineau, un singe, un komme. Daß hier die
Ordnung von Epikurs Chaos zugrunde liegt, habe ich gezeigt.
Cyrano faßt, vermutlich Gassendi folgend, diesen Bau aus Atomen
ganz modern: petit-etre que notre chair, notre sang et nos esprits,
ne sont autre chose qu'une tissure de petits animaux qui s'entre-
tiennent, nous pretent mouvement par le leur etc. Ich brauche
nicht auszuführen, daß der Tanz der Männerchen zur Bildung
eines Jünglings nichts anderes ist, als die Illustrierung der
oben angeführten Theorien. Diese echt epikurischen Theorien
sind Descartes entgegengesetzt, einmal wegen der Atomistik, das
andere Mal, weil hier Descartes streng bei dem Schöpfungsgedan-
ken bleibt: (Principia I, 20) Que nous ne sommes pas la cause de
nous meme, mais que cest Dieu — wogegen Cyrano ganz be-
wußt ketzerisch, vielleicht absichtlich gegen Descartes polemi-
sierend, als der Jüngling wieder zerfallen und die Seele die Form
einer Nachtigall annahm: Ce Rossignol, creature de soi-
meme.
Brauche ich noch zu erwähnen, daß Descartes die Bewegung
der Erde leugnet: (Principia ITI, 19) que je nie le mouvement de
la terre, Die Erde ruht in ihrem 'Himmel', mit diesem dreht sie
(Tourbillons-Theorie). Natürlich ist diese Hypothese nur eine
Umgehung, vielleicht eine Konzession an die Kirche. Aber Cy-
rano und Descartes sind auch hier Antipoden.
Und so ist es in allem, wenn sie sich auch in Einzelheiten,
bald zufällig, bald auch auf Grund der Lektüre Cyranos treffen:
die Sonne ist bei Descartes (111, 21) flüssig, das Feuer (ein Ele-
ment!) braucht, wie bei Cyrano. keinen Gegenstand, an dem es
brennt (IIT. 22; Cj^rano ed. Jacob 241: cc qui hrüle ti'est pas le
feu, mais la matiere oü il est attache; et que le feu du Soleil ne
peut estre mele d'aucune matiere). — Daß Descartes die Sonnen-
80 Die Frage der Echtheit von Cyrano Bergoracs Sonnenreise. —
flecken (III, 32) sich um die Sonne drehen läßt = une de ces
petitcs terres qui volUgent n Ventour du Soleil (Jacob 245), daß
die Entstehung dieses Macules, wie schon Brun nachwies {These
S. 302), bei beiden gleich erklärt wird (Principia III, 94 fF.).
Aber diese Sonne hat bei Descartes ein Zentrum (III, 61), bei
Cyrano hat sie keins (Jacob 258), ein Umstand, der das
Gewicht aufhebt, der Materie also auch diese Eigenschaft nimmt.
So ist also der Einfluß Gassendis noch allmächtig, auch die
Sonnenreise beruht auf der gleichen philosophischen Anschauung
wie die Mondreise. Ein paar Anregungen aus den Principia ge-
nügen nicht, die Behauptung 7ai stützen, Cyrano sei auf dem Wege,
Cartesianer zu werden. In allem Wesentlichen ist er
noch Anticartensianer, und die Besprechung mit dem Ver-
storbenen, wenn sie von Cyrano ist, hätte Kontroversen enthalten,
wie das ja auch ganz deutlich aus den Seiten 325 ff. der Ausgabe
Jacobs hervorgeht. Cyrano kann nicht seine Reise nach der Sonne
auf dem Prinzip des leeren Raumes aufbauen und ihn auf der Sonne
mit Descartes leugnen. Als sollte Descartes zum Erkennen seiner
Irrtümer geführt werden. Hat das Cyrano etwa durch-
geführt, und hat es der Herausgeber unterdrückt,
eben weil es die herrschende Philosophie be-
kämpfte? Le Bret hatte in der Mondreise geschrieben: Son
Histoire de VEstincelle & de Ja Ttepuhlique du Soleil, oü en mesme
Stile qiiil a prouue la Lune hahitahle, il prouuoit le sentiment
des Pierres, <& le raisonnement des Brutes, estoit encore au-dessus
de tout cela. Le Bret sagt kein AVort davon, daß die Sonnenreise
ein Torso sei; wo ist die Histoire de rEstincelle? Wenn sie Brun
im Kampfe von Feuertier und Remora finden will, was ganz
un wahrscheinlich ist, wo ist dann das Steinreich, die
logische Fortsetzung des Pflanzenreichs? Le
Bret kannte also vermutlich mehr, als 1662 herausgegeben wurde.
Hinterließ Cyrano also das Werk als Torso, dann doch nicht in
der Form und in dem Grade, wie es heute erhalten ist.
Resultate.
Die Vergleiche mit älteren Werken Cyranos, mit Montaignes
Essays, Gassendis I^ehren haben gezeigt., daß die Sonnenreise
eine authentische Dichtung Cyranos ist. Auch die Beziehungen
zu Campanellas de sensu rerimi und zur Civitas Solis zeigen dies.
Auch ihr Einfluß geht durch beide Romane. In einer späteren
Arbeit soll dies noch gezeigt werden. Für die Sonnenreise ist
die Hauptfrage schon ohne diese letzten Nachweise gesichert.
'Letzte Nachweise' ist nicht in dem Sinne gebraucht, als ob nun
damit alles erschöpft sei, was Cyranos beeinflußte und was er
i
Die Sonnenreise und die Essays von Montaigne 81
verarbeitet hat. Noch fehlt so mancher Nachweis für Einzel-
heiten, aber die Grundlinien sind gezogen.
Cyranos innere Entwicklung, die Haupteinflüsse, die diese be-
dingten, die Werke, die ihnen entflossen, kennen wir heute so
gut, wie die Wissenschaft eine fremde, innere Entwicklung er-
schließen kann. Er hat kein Geheimnis aus seinen Ideen, aus
seinen Studien gemacht- Sie flössen, allerdings immer von seiner
Einbildungskraft umgeformt, dem Gesamtwerk assimiliert, in
seine Dichtungen. Wörtlich, wenn es sich um Reden handelte,
bis zum Punkte, bei dem die Wahrscheinlichkeit seiner Darstel-
lung gelitten hätte. Da machte er sich dann kein Gewissen dar-
aus, eine Anekdote, die Montaigne von sich und einem Greis er-
zählte, dem König Codrus anzudichten, oder von Cardan etwas
zu zitieren, was in dessen Werken nicht zu finden ist.
Was lag daran? Er wollte une ceuvre d' Imagination schaffen;
nicht ohne Sinn verlegt er auf der Sonne die von ihm umgestaltete
Wirklichkeit und die Fabeln der Alten in den fleuve d'Iniagina-
iion. Aber hinter seiner Reniora, seinem Feuertier, seiner Ima-
gination steckte Positives. Und hinter seinen Bildern bald antike,
bald moderne Ideen. Weltanschauung vermittelte jede Seite fa.st
seines Romans. Oft schrullig, oft heute verlassen, physikalisch,
chemisch, mathematisch unmöglich. Oft aber auch überaus weit-
sichtig, modern, modernste Ideen vorausahnend, ohne daß man
ihm einen Vorgänger weiß, wenn nicht Gassendi mündlich solche
Gedanken verbreitete, die er sich hütete schriftlich auszusprechen.
Mut hatte Cyrano, nicht nur auf dem Paukboden. Er ge-
traute sich die Dinge zu sagen, genau wie Montaigne, sein gei-
stiges Vorbild. Entschlossen war er an der Wende der Zeiten
den beiden großen neuen Parteien beigetreten, die den geozentri-
schen und anthropozentrischen Standpunkt der Antiken
äv^oojtog /LisToav djtdvvcov wie der Kirche bekämpften. Hier
focht er für die Grundlagen unserer heutigen ÜlDerzeugungen :
die Erde ein verlorener Winkel, der Mensch die höchste Stufe
einer Entwicklung, die Natur ein großes Wunderbares, bis zu
einem geuassen Punkt Begreifbares. Das Ganze schwer denkbar
ohne ein göttliches Wesen, das das All schuf und die Zügel hält
— mit diesem All sich deckt. Denn All und Gottheit müssen
ewig und unendlich sein (Campanella).
Fast zehn Jahre nun. seit der Entdeckung der Münchener
Handschrift der Mondreise, habe ich Cyranos Werke zum Gegen-
stand meiner Forschung gemacht. Ich verdanke ihm die Freude
wissenschaftlicher Funde, viele angenehme Stunden über seinen
Werken, den Wegweiser zu den größten Geistern seiner Zeit. Er
offenbarte mir, wenn nicht sein Innerstes, so doch wesentliche
Seiten seines Inneren. So wird es eine schöne Pflicht, fröhlicher
ArchiT f. n. Sprachen. 130. 6
82 Die Frage der Echtheit von Cyrano Bergeracs Sonnenreise
Forschung frohe Zusammenfassung sein, ihm das Buch zu schrei-
ben, das er verdient, und das besser wie eine Komödie oder die
Arbeiten von Brun und Dübi, die nur äußerer Entwicklung gal-
ten, sein Wesen veranschaulicht. Diese Biographie zu schrei-
ben, habe ich ein Recht, denn die wesentlichsten Seiten seines
Denkens sind durch meine Arbeit erst geklärt worden, wie die
Beziehungen zu Gassend i, die nur behauptet worden, die an-
geblichen zu Descartes, die sich auf ein Minimum reduziert
haben; die Beziehungen zu Montaigne aber, die literarisch
tiefsten und folgenschwersten, sind allen anderen entgangen. Die-
jenigen zu Campanella, nicht die losesten, werde ich dem-
nächst aufweisen.
Das Recht aber, ihm einmal dies Buch zu schreiben, das sein
Wesen erfaßt, nicht am Äußeren hängen bleibt, wird nach dem
Gesagten zur Pflicht!
München. Leo Jordan.
l
Kleinere Mitteilungen.
Zu einem Briefe Goethes.
Auch Briefe haben ihre Schicksale, und die Herausgeber von Briefen
wissen ein Liedchen davon zu singen, in welch liederlicher Weise Briefe
herausgegeben, und namentlich darüber, wie einzelne Stellen aus Briefen
zitiert werden. Ein recht charakteristisches Beispiel liegt in der nexien
Veröffentlichung vor: 'Veröffentlichung des Vereins für die Geschichte von
Ost- und Westpreußen. Briefe an und von Johann George Seheffner, her-
ausgegeben von Arthur Warda. Erster Band, erster und zweiter Teil.
München u. Leipzig, Verlag von Duncker & Humblot, 1918.' W. Dorow,
der bekannte Schriftsteller und Herausgeber von vielen Hunderten von
Aktenstücken, beabsichtigte eine neue Hamann-Ausgabe. Zu dieser hatte
er von Hamanns Freund J. G. Seheffner viel Material erhalten und wandte
sich zu demselben Zwecke an Jean Paul, F. H. Jacobi und andere. Von
letzterem erhielt er reichliches Material. In derselben Absicht ging er
auch Goethe an. Dieser antwortete am 29. August 1818 mit einem Schrei-
ben, das bei Dorow, Denkschriften und Briefe IV, 167 und danach zugleich
mit Benutzung des Goetheschen, von Stadelmann geschriebenen Konzepts
in der Weimarer Ausgabe, Bd. 29, S. 274 f., gedruckt ist. In diesen Fas-
sungen (also nach dem Konzept und nach dem Original, welches letztere
allerdings jetzt verschollen ist) lautet der Schluß: 'Von Hamann'schen
Schriften besitze ich Manches, wovon ich ein Verzeichnis übersende, sobald
ich nach Hause komme.' (Der Brief ist aus Karlsbad geschrieben.) Diese
Stelle teilte nun Dorow am 9. November 1818 Seheffner mit (die oben an-
geführte Brief Sammlung Bd. I, S. 165). Diese Mitteilung ist nicht ganz
genau. Statt des Sätzchens 'wovon ich ein Verzeichnis übersende' heißt
es nämlich 'und übersende ein Verzeichnis'. Dann aber folgt in dem Briefe
Dorows an Seheffner noch die Stelle: 'Teile gern alles mit, was Sie noch
brauchen können'. Hat Goethe nun wirklich diese Worte geschrieben?
Eine bestimmte Antwort auf diese Frage wird man nicht leicht erteilen
können, da, wie bereits erwähnt, das Original nicht mehr vorhanden ist.
Im Konzept standen sie sicher nicht. Aber der Kenner Goethescher Briefe
weiß gar wohl, daß Goethe in dem Mundum mancherlei hinzufügte. An-
dererseits aber muß man sagen, daß, wenn sich die Stelle wirklich im
Original befunden hätte, kein Grund einzusehen wäre, warum Dorow sie
nicht in seinen Abdruck aufgenommen haben sollte. Daher wird man wohl
annehmen können, er habe sie absichtlich seiner Mitteilung an Seheffner
beigefügt,, und kann leicht einen Grund für diesen Zusatz vermuten. Dieser
Grund könnte sein, daß der Schreiber Goethes Willfährigkeit Seheffner als
mahnendes Beispiel vorhalten und ihn, der freilich schon vielerlei gegeben,
veranlassen wollte, ihm alles anzuvertrauen, was er besaß. Ich will nicht
so weit gehen, dieses eigenartige Verfahren Dorows geradezu als eine
Fälschung zu bezeichnen, aber immerhin i.st es ein willkürliches Umspringen
mit einem Texte, das man in keiner Weise gutheißen kann. Natürlich ist
es ein einzelnes Beispiel. Aber es ist so typisch für die Mitteilung von
Briefstellen, daß es als ein warnendes Exempel hervorgehoben zu werden
verdient.
Berlin. Ludwig Geiger.
84 Kleinere Mitteilungen
Venantius Fortimatus und die ags. Elegien 'Wanderer' und
'Ruine'.
Im Jahre 569/70 schrieb der dem fränkischen Hofe nahestehende Fortu-
natus zu Poitiers für die thüringische Prinzessin Radegunde den lateini-
schen Versbrief 'De excidio Thoringiae" (Leos Ausg. 1881, S. 271 ff.). F.r
schildert die Zerstörung der Herrscherburg, den Fall der Mannen, das
Walten der Fortuna, die Seefahrt der Flüchtigen über winterliches Meer
und namentlich auch die Erinnerung an frühere Liebe zu einem väterlichen
Freunde mit Küssen — in einer Weise, die manchmal bis auf Einzelheiten in
den genannt^en Elegien wiederkehrt. Beigefügt hat der englische Dichter
die Spezialangaben über Bath in der 'Ruine' und t^je Klage über die Zer-
störung im ganzen middangeard, womit der 'Wanderer' wohl auf den Sturz
der Augelreiche um 870 anspielt. Näheres in der 2. Aufl. meiner ags. Lite-
raturgeschichte, bei deren Vorbereitung mir der Fund begegnete. Da der
Dichter des Originals ein Geistlicher war, dürfte auch der ags. Nachahmer
diesem Stande angehört haben. Der Theorie, wonach die ags. Elegien aus
der germ. Totenklage hervorgegangen seien, geht es dabei nicht gut. Da-
gegen erweist sich das, was man für die Zusanunenhänge der frühags.
liiteratur mit fränkischen Personen und Dingen vorgebracht hat, als sehr
beachtenswert; so Imelsmanns Eadwacer-Forscbung und die Beobachtung,
daß die erste Redaktion der ags. x\nnalen mit einem Besuch des damaligen
Westsachsenkönigs am Frankenhofe, wo die weltliche Geschichtschreibung
blühte, zeitlich zusammenfiel.
Berlin. A. B r a n d 1.
Ein staatsrechtliclier Satz jEIMcs aus lateinischer Quelle.
Aus einer zu Köln im 12. Jahrhundert angelegten Sammlung, die in
einer Handschrift zu Trier um 1200 erhalten ist, gab Floß^ ein ungewöhn-
lich langes Privileg Leos VIII. für Otto I. von angeblich 964 heraus, daö*!
einige Zeilen enthält über den vom Volke erwählten König und die Un-
möglichkeit, daß es den einmal eingesetzten abschüttle. Diese lauge Form
erkannte Waitz^ als weitere Verfälschung einer an sich schon unechten
Urkunde,* die in kürzerer Form schon vor Floß bekannt war. Giesebrecht^
sah in dem Fälscher einen kaiserlichen Parteigäng-er ans der Zeit des Tn-
vestiturstreites und wies darauf hin, daß der Satz 'niemand kanu sich selbst
zum König machen' usw. auch in der Streitschrift eines Kardinals gegen
die Gregorianer* sich vorfindet. Fälscher und Pamphletist benutzen ferner
gemeinsam das jenem Satze vorangehende Concilium Toletanum VI.
von 638.
Jener staatsrechtliche Satz aber ist älter als das 11. Jahrhundert. Be-
reits 990 oder bald nachher übersetzte ihn nämlich ^Ifric^ als ein higspell
für seine Palmsonntag-Predigt. Dieser steht an sieben Punkten dem Texte
der Streitschrift näher als dem der Urkunde.
1 Papstwahl unter den Ottonen; Urk. 162; vgl. Darst. 103.
2 Giesebrecht, Gesch. dt. Kaiserzeit I (1863) 831.
3 Jaffß-Löwenfeld, Regesta pont. Rom. n. 3704.
« Ed. Francke, Mon. Germ, hist., Lih. de Ute, imp. et pont. II (1892) 422.
5 Bomil. ed. Thorpe I 212.
Kleinere Mitteilungen 85
Kardinal um 1098. ^Ifric.
Inpriiuis' quidem nemo 2 potest Ne mseg nan man hine sylfne to
SB ipsum regem facere, sed populus cynge gedon. Ac paet folc hsefd cyre
creat' sibi regem, quem elegit;' sed to ceosenne pone to cyninge pe him
cum rex j ille fuerit factus et con- sylfum licad; ac siddan he to cyninge
firmatus in regno, iam habet "^ po- gehalgod bid, ponne haefd h6 anweald
testateni in hominibus, ^ et nullo ^ ofer pset folc, and hi ne magon hia
modo potest populus iugum eius geoc of heora swuran asceacan.
de cervice sua repellere.
Sachlich bemerkenswert scheint an der Übersetzung nur, daß der angel-
sächsische Mönch die Königsweihe als Bestätigung in der Regierung be
trachtete.
Berlin. F. Liebermann.
Ansprache am Shakespeare-Tag im Deutschen Theater
zu Berlin 1919.
In ruhigen Zeiten pflegt die Deutsche Shakespeare-G-esellschaft in unserem
klassischen Weimar den Tag zu begehen, an dem Shakespeare starb und
wahrscheinlich auch geboren wurde. Solche jährliche Erinnerung an den
fremden Dramatiker, von dem unser eigenes Poesietheater ausgegangen ist,
die Menschenverkörperung Goethes und Schillers und Grillparzers und vieler
neuerer Bühnendichter bis auf den heutigen Tag, ist uns so zur Gewohnheit
geworden, daß wir sie auch diesmal, wo uns Weimar durch die Unruhen
und Verkehrsschwierigkeiten versperrt ist, nicht missen mögen. Als eine
Schar von Schönheitsfreundeu lassen wir es uns nicht nehmen, am Shake-
speare-Tage mit geistigen Blumen, mit einem Kranze dankbarer Erinnerung
aufzuziehen und gegenüber allen materialistischen Strömungen uns als Ver-
ehrer des Ewig-Großen zu bekennen. Kein Lügenfeldzug englischer Presse
soll uns davon abhalten und uns in Philister verwandeln. Wir empfinden
tief die Grausamkeit, mit der viele unserer Kommilitonen noch immer von
den Landsleuten Shakespeares in den Gefangenenlagern festgehalten werden,
wo doch schon längst Deutschland die Waffen niedergelegt hat. Hinter
Stacheldraht führen sie ein Leben, richtiger ein Vegetieren der Verödung
und müssen vergessen, während wir uns über den Niedergang des Vater-
landes wenigstens durch angestrengte Berufsarbeit in Hörsaal und Seminar
hinwegzuhelfen vermögen. Unerhört in der Weltgeschichte finden wir es, daß
immer noch die Hungerblockade gegen unser Volk fortgesetzt wird, obwohl
sich die Festung längst ergeben hat. Aber nicht mit dem modernen England
der Politiker und Imperialisten haben wir es hier zu tun, sondern mit einem
Dichter der Renaissance, dessen Genie der ganzen Welt angehört, und dem
am meisten, der es am tiefsten ausschöpft. Unsere eigenen Klassiker sind
uns heut« gegenwärtig, wie sie aus den Dramen des Stratforders unser
deutsches Poesietheater ableiteten, den Götz und den Faust, die Räuber und
den Wallenstein, deren Nachfolger in ununterbrochener Reihe immer noch
unsere Bühnen zieren, unsere Gebildeten erheben, dem Deutschen welt-
geschichtliche Aufgaben vor Augen führen.
1 I. q. fehlt Floß. 2 n. enim se i. po. Fl. » primum si. creavit r. F.
* voluerat F. 5 fac. fuerat rex ohne et c. in r. F. « habuit F.
' Omnibus F. * iam non po. F.
86 Kleinere Mitteilungen
Was könnte ich Ihnen in dieser Stunde Besseres bieten als einige von
den Aussprüchen, die. damals, als die deutsche Literatur in Maienblüte auf-
schoß, im unvergeßlichen Straßburg an der Seite von Erwins Münster der
begeisterte Anreger Herder an Goethe richtete, um ihm Verständnis und
Liebe zu Shakespeare ins Herz zu pflanzen. Uns drückt eine schwere Zeit;
Müdigkeit und Verzagtheit wollen uns schier übermannen; mühsam wehren
wir uns gegen die dumpfe Schlaffheit, die der schlimmste Begleiter des Un-
glücks ist. Da soll uns der Herold deutschen Literaturaufstiegs den Mut
bestärken. Das Elsaß französisch zu wissen hat damals unsere Geist«s-
führer nicht abgehalten, mit den Waffen des Ausländers Shakespeare die
deutsche Poesie, bis dahin so ärmlich und kümmerlich, auf den Thron zu
setzen. Das uneinige und zerrissene Deutschland vor anderthalb Jahr-
hunderten war imstande, eine Literatur zu schaffen, an der sich das ganze
Volk in wenigen Jahrzehnten emporgerankt hat zu den Taten der Be-
freiungskriege. Ich verzichte also auf alle eigene Weisheit, indem ich Ihnen
solche Sätze aus Herders Shakespeare-Aufsatz von 1771 und dessen end-
gültiger Fassung von 1773 einfach vorlese:
'Shakespeare, der Sohn der Natur, Vertrauter der Gottheit, Dolmetscher
aller Sprachen und Leidenschaften und Charaktere, Führer und Verwickler
des Fadens aller Begebenheiten, die menschliche Herzen treffen können' usw.
Dann ein Wort des gereiften, älteren Goethe aus Dichtung und Wahrheit:
Shakespeares Einfluß hat uns zu 'höheren, freieren und ebenso wahren
als dichterischen Weltansichten und Geistesgenüssen vorbereitet und uns
erst heimlich und mäßig, dann aber immer offenbarer und gewaltiger be-
herrscht. . . . Ich habe jederzeit, was man zu seiner Ehre, zu seinen Gunsten,
ja ihn zu entschuldigen gesagt, gern unterschrieben. Die Einwirkung dieses
außerordentlichen Geistes auf mich ist früher dargestellt. . . . Die Verehrung
Shakespeares ging bei uns bis zur Anbetung.'
Genug der Sätze aus deutscher Vergangenheit. Wie damals, handelt es
sich heute darum, die Geister straff zu halten und künstlerische Er-
oberungen zu machen. Noch lange ist Shakespeare in der Darstellung nicht
ausgeschöpft. Es ist deutscher Ehrgeiz, anderen Völkern in der Ausmünzung
seiner Gestalten und Gedanken voranzugehen. Vieles ist in diesem Theater
schon in solcher Richtung geleistet worden. Unvergeßlich bleibt uns das
Jahr, in dem hier Abend für Abend ununterbrochen nur der durch Schlegel
und Tieck ins Deutsche umgewandelte Shakespeare auf der Bühne erschien.
Doppelt warm danken wir es Professor Reinhardt, daß wir heute in diesen
Räumen zu Gaste sein und solche Szenen aus Shakespeare sehen können, in
denen seine derbere Komik Triumphe feiert. Schwank und Posse haben auf
der englischen Bühne sich toller ausgetobt als auf unserer. Eine Keckheit
und Tollheit steckt in den Shakespeareschen Rüpeln, die mit vollem Saft
und voller Kraft herauszubringen noch zu den Aufgaben unserer Schau-
spielkunst gehört. Wir haben die Darsteller dazu; das wird sich bei der
Aufführung zeigen. Möge solche gesunde Realistik sich weit bei uns ver-
breiten, um unserem Theater die Lebendigkeit, die Frische, auch den Übermut
zu erhalten, der als Gegensatz zur Tragik das Theaterleben ergänzen muß.
Auch die Bühneneinrichtung der Shakespeare-Zeit besaß Vorteile, die für
die heutigen Methoden der Aufführung noch nicht ganz ausgebeutet sind.
In weiten Kreisen herrscht sogar noch der Glaube an den leeren Balken-
boden, auf dem Shakespeare seine Dramen nur mit Hilfe des Dichterwortes
Kleinere Mitteilungen 87
aufgeführt habe, und an das Brett, dessen Aufschrift jedesmal den Schau-
platz der Handlung bezeichnet habe. Lichtbilder von den erhaltenen Skiz-
zen, die wir von Londoner Bühnen der Shakespeare-Zeit besitzen, mögen die
wirkliche Kenntnis von jenen Verhältnissen endlich in weitere Kreise tra-
gen und vielleicht geschickt« Originalgeister in unserer Mitte veranlassen,
die Mittel zu neuen Shakespeare- Wirkungen zu entdecken.
Wir haben viel Demütigung, die unser Volk vor anderen Völkern er-
fahren hat, wieder gutzumachen; wir können es zur Zeit nicht besser tun,
als wenn wir viel geschmähte Barbaren auf den Wegen der Kunst und
Dichtung mutig vordringen und die anderen vielleicht mit Glück
überholen.
Berlin. • Hermann Kugle r.
Eine Torahnung von Flugzeug und U-Boot.
Der greise Fred. Harrison lenkt (in Fortnightly Review, March 1918,
p. 328) die Aufmerksamkeit auf die epische Satire Scriileriad, die Rieh.
Owen Cambridge 1751 in Nachahmung der Dunciad Popes veröffentlichte.
Darin wird ein Luftkampf beschrieben, den ein Kupferstich von Boitard
illustriert :
The one a German of distinguish'd fame:
His rival from projecting Britain came.
They spread their wings, and with a rising bound,
Swift as the wind together quit the ground; IV, p. 137.
Das andere wissenschaftliche Wunder der Neuzeit sei das Unterseeboot:
from the flood
A bark emergent rose; with oars well-timed,
Cut the smooth wave, and o'er the surface skimmed,
Then sank again, but still her course pursu'd; II, p. 312.
Der Dichter zitiert in den Anmerkungen für beide technische Wunder die
Mathematical Magick (1648) des Bischofs Wilkins, der ein Kollege Newtons
und ein Schwager Cromwells war und selbst schon das Wort submarine
anwendet.
Berlin. F- Liebermann.
Randnoten zu Emil Levys provenzalischen Wörterbüchern
(Nr. 1—8).
1, Im P e t. D i c t. verzeichnet L e v y asenhorar (v. a.) und asenhorir
(v. n.) 'dominer, maitriser', nicht aber asenhorivar (v. n.). Letzteres be-
gegnet in dem Gedichte des R. d'Aurenga A mon vers, Str. VIII. Anders
nämlich als Rayn. Choix 5, 406 und MW. 1, 69, Str. II, wo der fragliche
Vers 8 statt 7 Silben hat, wird die Stelle gemäß den Hss. Aa, die da Ca
seignoriu aufweisen, lauten:
Et es paraula certana
Ca midonz laisset en patz
C aseignoriu vas totz latz
'und es ist bestimmt wahr, daß er (Gott) meiner Herrin ruhig überließ,
überall zu herrschen'. Aseignoriu ist dann 3. Pers. praes. conj., und ein
Verbum senhorivar, von dem as. das Kompositum wäre, verhielte sich zum
Adj. senhoriu 'herrisch' etwa wie aizivar (refl. 'sich nähern') zu aiziu
('nahe') .
88 Kleinere Mitteilungen
2. Für escobrir setzt Levy, Sw. 3, 174 unter 1 frageweise die Bedeutung
'freimachen' an. Einen neuen Beleg für escobrir in ähnlichem Sinne scheint
mir die letzte Strophe des Gedichtes B. Gr. 323, 1 (ed. Appel, P. Regier,
S. 98) darzubieten, deren gegenwärtiger Wortlaut den Herausgeber selbst,
gemäß seiner Anmerkung S. 107 zu 5, 53, nicht befriedigt. Für den in
Frage kommenden Vers das que ses aus C {E) mit coherta aus ABQ kom-
binierend, würde ich lesen:
E cobezetatz abrazec
Un' arsor, qu'es escoberta,
Don vezem manht ric abrazar
und übersetzen : 'Und Habgier entfachte eine Glut, die freigemacht ist
(um sich gegriffen hat), von der wir manchen Reichen erglühen
sehen.'
3. Der Satz aus R. V i d a 1 , Äo fo 318, in dem das Wort esvelh dem Hrsg.
Cornicelius 'dunkel' vorkommt und Levy, Sw. 3, 359a 'Schwierig-
keiten bietet', ist wohl so zu deuten: 'Und ich werde euch sagen, was nicht
alle euch sagen könnten, und frische in dieser Beziehung auf, was
Girant de Bornelh sagte, und rufe euch nachdrücklich ins Gedächtnis zu-
rück . . .' Statt n'esvelh könnte, da die Handschrift an der Stelle undeut-
lich zu sein scheint (s. Cornicelius' Varianten S. 55), im Original
iuich resveUi, gestanden liabeu; vgl. die Var. resveilhar aus Hs. e zu Gi-
rant de Bornelh Nr. 65, 1 Per solatz revelhar. Auch nfrz. reveüler
und it. risvegliare begegnen im Sinne von 'erneuern, auffrischen'.
4. In den beiden Zitaten G. d e 1 a B a r r a 2 196 u. 1434 ist L e v y, Sw. 5,
285 unter mirar 4 beide Male der Vers Qu'om s'i pogra per cert mirar 'nicht
klar'. Gewiß ist davor je ein Punkt zu setzen, que als Frageadverb
(s. Schu 1 tz - G or a, 'Zwei altfrz. Dichtungen' 3 II, 333 und meine 'Dich-
tungen d. Trobad.' Nr. 31, 58) aufzufassen und zu verstehen: 'Wie könnte
man sich wahrlich darin spiegeln!'^
5. Für natural 12 'Angehöriger, Getreuer', Sw. 5, 365, kann wohl auch
das durch Kannegießer, Gedichte S. 73 mißdeutete Geleit von Gr. 389,
18 als Beispiel dienen, das ich nach MW. 1, 72 und Hs. V (Arch. 36, 448)
so rekonstruiere: Mos vers venra (tenra), c'an fin e paus (V : filipaus),
A Rodes, don son naturaus und verstehe: 'Mein Vers wird seinen Weg
zu (dem Grafen von) Rodez nehmen, dessen Getreuer ich bin, denn er
hat dadurch (bekommt durch den Vers) Frieden und Ruhe.' Daraus ließe
sich dann schließen, daß R. d'Aurenga, der Verfasser des Gedichtes, mit
einem Grafen von Rodez befreundet war. -
6. Ses orgolh (Sw. 5, 520, 4) wird im ersten Beleg mit Appel 'ohne
Überhebung' bedeuten, da ja, was nach Levy der Zusammenhang erfordert,
durch ses ganda ausgedrückt wird. Im zweiten Beleg ist ses orgolh
ebenfalls 'ohne Stolz' ; man lese da pair'e und verstehe sa e sal e ses orguelh.
1 Anders deutet diese Stellen Stimming, B Born 3, S. 213 zu V. 26.
2 Eine Gräfin von Rodez sollte Raimbaut in der tornada von Gr. 389, 8
direkt erwähnen (s. Appa, Po6s. prov. inöd. S. 119/20 und Bergert, Damen,
S. 121). Indes heißt es da nicht ma chansos ... tengra vas Rodes a vos,
comtessa, sondern mit der bis jetzt allein die richtigen Reime os, iva, ai:
iva, ai aufweisenden Hs. C (MG. 357) vas Rodes en lai ('dorthin' oder
'weg, fort'), während mit comtessa ein zweites Geleit beginnt.
'
Kleinere Mitteilungen 89
7. Das Verbum perdezirar = afrz. pardcsirer 'dösirer extremement' und
perdeziraire, Subst. oder Adj., 'einer, der zuviel wünscht' sind wohl in
Levys Wörterbüchern noch nachzutragen. Bei Dejeanne heißt der
ihm, gemäß der Anm. S. 218, unverständlich gebliebene V. 55 von Marca -
brus Gedicht V- Desirat per desiraire. Gibt man dem Geleit die Gestalt:
Desirans per desiraire A nom qui-n vol Amor traire, so läßt sich ver-
stehen: 'Ein begehrlicher Anmaßender (oder ein anmaßender Leidenschaft-
licher) heißt derjenige, der die Minne daraus (aus ihrem Heim) herausholen
will.' Zu avcr nom mit dem Nom. des Namens s. Schultz-Gora, Prov.
E.-B.3, § 171, und zu desirans, für das in einer Vorlage vielleicht desirät
stand, Gir. de B., Nr. 7, 45: Tan sui soirejafujzens e dezirans.
8. Das bei L e v y noch fehlende Verbum pervaler = afrz. parvaloir 'avoir
une grande valeur' ist Jaufre Rudel 3, 58 zu entnehmen, wo Stim-
min g , der einzigen Hs. e gemäß. Bona es Vamors e molt per vau ,
Jeanroy aber in seiner Ausgabe von 1915 zu Unrecht pro vau schreibt.
In den Text gehört m. E. pervau.
Berlin. Adolf Kolsen.
Frz. fleurs = fluores ?
Archiv 1917, S. 361, Anm. 1 will El. Richter frz. ä fleur d'eau einerseits
aus flos 'die Blüte, das Beste, das Oberste', anderseits aus f^or 'der an der
Oberfläche schwimmende Ausfluß' erklären. Es wären also mehrere Etyma in
eins zusammengelaufen, eine Möglichkeit, die schon Schuchardt theoretisch für
möglich gehalten hat und El. Richter selbst wieder für hocke (ZffSpr. 45, 131)
erwägt. Dabei bemerkt El. Richter: 'Anderseits ergibt fl^ior ja ebenfalls
fleur Ausfluß, Fluoreszenz: fleur d'alun, de soufre == "Schwefelblumen"
drückt in einer Lautreihe beides aus. Fleur de vin "Schimmel" usw., alles,
was an oder unmittelbar unter der Oberfläche schwimmt.' Etwas zurück-
haltender drückt sich Meyer-Lübke, Hist. Gran/m. der frx. Sprache^, S. 112,
aus: 'Nur o-eu scheint [im Hiatus] zusammengezogen zu werden: fleur 'Men-
struation' FLUORE, doch ist das Wort erst seit dem 16. Jahrhundert belegt
und gehört vielleicht nicht dem Erbwortschatz an.' Immerhin erscheint
REW 8. V. fluor 'Menstruation' rum. flort (letzteres wie auch im DicUonarul
Uinbii romtne s. v. flori), frz. fleur. Nun haben wir aber auch ein altprov.
flors 'Menstruation', keineswegs ein *flo'drs, span. flor 'Menstruation' (schon
bei Nebrija und Oudin), ferner versteht man die rumänische zweisilbige P"'orm
/k)o nicht; endlich besitzen wir ein ital. fiori 'il mestruo' bei Francesco Redi
(17. Jh., nach Petrocchi ; vgl. abruzz. fmri 'mestruo' Finamore, furbesco fiore-frole
'mestruo', Mirabella), das schon Littre als Beweis gegen die Etymologie
fluores anführt, während Dict. gen., dem offenbar REW und auch Pu9cariu
im Dict. limbii rom'ine folgen, fluores annimmt, was nun wieder auf Du
Gange zurückgeht, der s. v. flores sagt: 'Nostri Fleurs dicunt, non a
floribus sed a fluore: ita enim ooi'v mulierum vertunt Latini Medici.' Nun
1 Auch im Lat. ist eine Kontraktion von flüör zu flor undenkbar (vgl.
über die Nichtzusammenziehbarkeit von ü und ö Sommer, Haijdb. d. lat.
Laut- u. Formenl.^ S. 117). — Für ein vlt. flore aus fluore könnte man sich
allerdings auf die Entwicklung von quattuor, battuo, futtuo und tuum be-
rufen, die aber die Betonung ' -- bzw. — ', nicht -' aiif weisen.
90 Kleinere Mitteilungen
ist aber frz. fleurs nicht erst aus dem 16. Jahrhundert belegt, wie Dict. gen.
und REW angeben, sondern aus dem 14. Jahrhundert (Littre), engl, flowers
ist nach New Eniß. Dict. schon 1400 in dieser Bedeutung belegt, altprov.
flors rückt uns noch weiter hinauf, und noch weiter das flores bei Michael Scotus
(t 1250, vgl. Du Ganges Beleg: . . . quod Flos nominatur in vulgari, et
Menstruum in Scriptlira).
Um also ein fluor als Etymon anzusehen, müssen wir hinnehmen: 1. daß
keine zweisilbige flo-or-Yonn belegt ist, die unzweideutig für fluor spräche,^
2. daß ital. fiore, rum. florz und mit. flores aus frz. fleurs umgesetzt wäre,
was mit dem Datum des ersten Auftretens des mittellateinischen Wortes in
Widerspruch steht. Dtsch. Blume 'Menstruation' {ütsch. Wb. s. v. blume, 6:
ihrer blume fluß) könnte ja übersetzt sein, worauf vielleicht auch die Zu-
sammenstellung blume und fluß (wie fleur und flucur bei Gh. Estienne) weist.
Ahnlich müßte es mit alb. l'ul'e 'Blume', 'Menstruation' stehen, das Treimer,
Mitt. d. rum. Inst. I, S. 352 bespricht (nach seinen Worten '"Menstruation"
ist eine anscheinend unverständliche Nebenbedeutung und lag aller Wahr-
scheinlichkeit nach auch in l'ul'e ursprünglich nicht drinnen' müßte auch
angenommen werden, daß er an eine Lehnübersetzung nach rum. flori
denkt).
Wir müssen uns also mit flores 'Blumen' als Etymon begnügen. Wie ist
die Bedeutungsentwicklung zu erklären? Littre meint: 'ainsi dit parce qu'on
a compare les menstrues, ä cause de leur couleur rougc, ä une ficur.' Sicher
ist, daß die von El. Richter angeführten fleur d'alun, fleur de soufre auf flos
'Blume' zurückgehen {fleur de vin vollends geht auf griech. avd'vs o'irov
'Kahm, Schimmel', lat. flos vini dass. zurück und vergleicht sich mit rum.
flori 'Schimmel', kat. florirse 'schimmelig werden', neuprov. flouri 'moisi').
Man vergleiche, was M. Berthelot in der Grande Encyclopedie s. v. fleur
VI sagt: 'Le mot fleur est employe par Dioscoride et par Pline pour de-
signer ccrtains produits metalliques ou salins: flos ceris, de cuivre ... flx)s
salis, efflorescence saline . . . Ghez les alchimistes, le mot a pris un sens
plus comprehcnsif et dans lequel intervient le double sens des mots flos et
ard-oe, qul designent ä la fois la fleur d'une plante et la couleur ou principe
colorant d'une dissolution. G'est ce que montrent certains passages de Sy-
nerius. 11 insisto notamment sur la Sublimation des matieres volatiles, ap-
pelees esprits ou fleurs des metaux, assimilees aux ames des plantes et de-
signecs par les noms de celles-ci, conformement aux principes de la nomen-
clature des prophetcs egyptiens. Ge sont, pour nous, des oxydes et des
sulfures sublimes et cntraines par les gaz, pendant les Operations chimiques.
On dit encore fleurs aujourd'hui, dans un sens analogue aux alchimistes:
fleurs argentines d'antinwine, fleurs de xinc, fleurs de soufre . . . Les noms
fleurs de safran et safrans designaient diverses matieres minerales colorces,
des sulfures d'arsenic, par exemple . . . Les fleurs d'alun sout l'alun de
plume; les fleurs de cobalt sont une efflorescence minerale rose, annon^ant
les mines de cobalt. Rappeions encore que le mot fleur s'applique de nos
jours au veloute des fruits, ä la farine la plus fine, aux mycodermes qui se
forment ä la surface du vin et de la biere älteres, etc. Une fois le mot
fleur prononce, il etait developpe de toute maniere, avec des sens meta-
phoriques. De meme, dans d'autres passages, certaines substances minerales
sont appelees plantes ou herbes; on assimile leur accroissement ä celui des
vegetaux, et les teintures metalliques fugaces sont assimilees aux couleurs
Kleinere Mitteilungen 91
vegetalcs ... La connaissance de ces analogies et de ces assimilations est
indispensable pour bicn entendre les textes alchimiques.'
Aber von den alchimistischen Bezeichnungen der Minerale ist es weit zu
der der periodischen Blutabsonderung des weiblichen Organismus, und schließ-
lich leuchtet auch ein Vergleich des Menstruationsblutes mit einer Blume
nicht von voinherein ein. Dozent Dr. J. Fischer, Direktor des Wiener Frauen-
krankcninstituts 'Charite', weist mich auf Ploss, Das Weib'' I, 338:
'Bei den Nayecs in Malabar heißt das von einer Prinzessin während dieser
Zeit ausgeschiedene Blut tiri-apickerdu, das bedeutet heilige Blüthen.
Auch die Letten bezeichnen nach Alksnis die Menstruation mit dem
Worte Blüthen (seedi), und danach ist auch einer ihrer Namen für den Uterus
gebildet, nemlich scedu mähte, d. h. Blüthenmutter. . . .
Das erste Eintreten der Menstruation wird . . . von den Xosa-Kaffern das
Aufknospen der Blume genannt (Kropf).
Der Serbe nennt sie die weibliche Blüthe. . . .
Der getreue Eckarth [ein Hebammenbuch in Romanform 1715] spricht
von einer Rosenblüth und von den rothen Amaranthen.'
Krauß' Antliropophyieia VI, 216 belegt für Sumadija (Serbien) dobijaii
ru^u 'die Rose (= Periode) bekommen', VII, 286 für Pletemica (Slavonien)
die Redensart 'ein Weib, das ihre Blume (svoj cvit) hat'.
Der letzte Beleg bei Ploss könnte auf die Farbe des rosa Menstniations-
blutes anspielen,! sonst wird aber der Gedanke nicht abzuweisen sein, den
Fischer mir nahelegt: Das Mädchen, das zu menstruieren anfängt, wird mit der
aufblühenden Blume verglichen. Nicht nur der Dichtung (von Goethes 'Heide-
röslein' bis zu Bierbaüms 'Rosen') ist das Mädchen eine Blume: das geläufige
Wort deflorieren, mhd. deti bluomen nemen, für 'entjungfern' heißt doch 'die
Blume des Mädchens wegnehmen' (nämlich die Blume der Unberührtheit,
vgl. ital. fiore 'perfezione virginale' bei Ariost etc. nach Diz. univ. ital.)!
Bedenkt man, daß die weibliche Menstniation der Brunstzeit der Tiere ent-
spricht, 30 wäre bei ursprünglichen Völkern eine Bezeichnung wie 'Blüte'
sehr entsprechend. Fischer erinnert auch daran, daß für sexuelle Vorgänge
gern Vergleiche aus dem Pflanzenleben angewendet werden (Leibesfrucht,
doiHü 'zeugen' usw.). Ich möchte hier noch erwähnen, daß nach Krauß,
VIII, 110 der Arzt A. Pareo ('Thesaurus Chirurg.', Frankfurt 1610, S. 532)
bemerkt: 'ut flos fructum in plantis, sie in mulierum genere hie fluor foetus
conceptionem seiet praecedere.' ^ Wie auch Michael Scotus ausdrücklich be-
1 Vgl. ein scherzhaftes deutsches Frau von Rothenburg, die neuprov. Re-
densart lis Angles an desbarea 'se dit d'une femme qui a ses mois', rotige
cou)ne un angles 'allusion ä l'habit rouge des soldats anglais' (Mistral), fer-
ner die von Krauß (VII, 93) noch erwähnten frz. ecraser des tomates, sauce
lotuate, passer la mer rovge, fleurs rouges, cardinales (der Kardinalspuipur
hat auch sonst die rote Farbe bezeichnen müssen: im Don Quijote wird cardenal
von einer roten Wunde gebraucht, Rabelais spricht von cardinaliser beim
Rotkochen von Krebsen) usw.
2 Barbusse in dem eine Philosophie des Sexuellen darstellenden Roman
L'enfer bezeichnet sogar den weiblichen Geschlechtsteil als 'Frucht' (S. 42):
Et ils avai'ent presque ce quils voulaient, dans eette ombre ouverte, dans
cette ombre wie, au centre d'elle, ... — daiis cette ombre qui, au fand, est
im fruit. — Über einen — unsexuellen — Vergleich von Blüte und Mensch
hat Lommatzsch hier 135, 170 aus Anlaß von afrz. fleuri gehandelt.
92 Kleinere Mitteilungen
zeugt, liätten wir es also bei fleurs 'Menstruation' mit einer volkstüm-
lichen Bezeichnung zu tun — im Gegensatz zu den aus Alchimistenkreisen
stammenden fleur d'alwi, fleur de soufre. Anderseits ist auch in diesen
Kreisen jede rote Absonderung des menschlichen Leibes seit alter Zeit als
'Blüte' bezeichnet worden, ^ wie die von Fischer mir mitgeteilte Stelle aus
Galen beweist, die sogar an eine lat. Lehnübersetzung flos 'Menstruation'
(aus ärd-os) denken läßt:
fivd'tn: ov fiövov mvra rä sie Tri aT£(fni'a, nÄ/.n
y.nl T« älkn Tinvxn ovtcos 6i OnnL,£i y.nX t«
ons'ouara Ss iuanvrtog iviore xnlsl, aiane^
x(d et> 7(p SevTiftM Toiv yvi niy.euor, nkkä y.nl
in k ov 9" r] ftnr n , (os kv xiony.ms ■ xal mvouma
§£ nrd'ijoft T« iovd'Qa xrtl v(paifia Xeyai er
TM s' Tföv emSrifiicov.
[Pdlriiov Tcöv ' iTiTTOxonrovi yXmoacbv s^Tjyriais ed. Kühn XIX, 81). Als
Repräsentanten der Blumen gelten wohl meist solche mit relativ einfachen
Farben, daher als Blume y.nl ft'>x^f in volkstümlicher Rede entweder die
Lilie als die weiße Blume (fleur [de lis]) oder die Rose als die rote erscheint.
Daß die 'Menstruationsblumen' tatsächlich als Rosen aufgefaßt werden, zeigt
außer dtsch. Rosenblüth, serb. dobijafi ndM noch die Variante zu der Stelle
des andalusischen Volksliedes:
Tendi 'r panitelo 'n er cnao
Y nie se yenö de rosas
bei Rodriguez Marin Cantos populäres espanoles II, 101 :
En tm praito berde
Tendi mi pahuelo;
Como salieron, — mare, tres rositas
Conio tres hiseros,
wobei schon Demöfilo (Coleccion de cantes flamencos 117) 'la costumbre que
tienen los gitanos de presentar, al dia siguiente de la boda, la camisa de
la desposada, para que las familias conocidas puedan cerciorarse de la vir-
ginidad de la ex-doncella' ^ zur Erklärung erwähnt hat. Vgl. auch span. flores
= rote Blumen in der Bedeutung 'roter König, roter Schnui)fen'.
Eine andere Frage ist es, ob fluor und flor- infolge ihrer Synonymität
wie ihres lautlichen Gleichklanges nicht schon im Lateinischen des Mittel-
alters zusammengefallen sind: die Etymologie Isidors, der flos durch fluor
etymologisiert (XVII, 6, 21), würde dafür sprechen. Dann stellten die ro-
manischen Völker ein flores dar, das — unter dem Einfluß in der gleichen
Richtung wirkender Volksanschauungen — irrtümlich mit fluores zusammen-
geworfen wurde. Ein etymologisches Wörterbuch, das die lautliche Vor-
1 Vgl. heute auf eine mit Pickeln besetzte Nase: deine Nase blüht, un
nex. flenri de boiifons, gr. «;«'/'.'//,/<«, span. flores 'roter König, roter Schnup-
fen' oder (Niceforo, 'Le genie de l'argot' S. 267) Le printemps est de la bäte,
tout est en fleur 'annonce que l'une d'entre elles [les prostituees] est tombee
malade et devra passer ä Thopital'.
2 Ähnliche Wertschätzung des Menstrualblutes in Deutschland: Strack,
Das Bild im Qlaubeu und Aberylaubeu, S. 30 führt den Satz der 'Hauß-
Apothek' an: 'Bevorab wird die erste jungferliche Blume, auf dem Hemd
oder einem Leinwand verwahret, in hohem Wert gehalten.' Vgl. span. flor
de la camisa 'Menstruation'.
Kleinere Mitteilungen 93
stufe der Wörter anführt, müßte daher flores, ein die Begriffsahnen buchen-
des AVörterbuch fluores als Etymon angeben. Umgekehrt scheint ja frz.
fJeurs blanches, kat. flors hlanques 'weißer Fluß' ein nach fleurs 'Blumen' und
'Menstruation' ausgeglichenes flueurs blancltes (= Leukorrhoe) zu sein (vgl.
le flreur de sang = la flueur de sang bei Jonain, Pat. saintotaj.) und steht
bei Maupas (vgl. den großen Larousse) im Wortspiel mit fleurs 'Blumen'. Zu
diesen volksetymologischen Wortspielen hatte das Volk noch einen besonderen
Grund : die euphemistische V e r h ü 1 1 u n g s t e n d e n z , die Niceforo, Le
genie de l'argot, S. 270f. vortrefflich beschreibt:
'Le sang de la menstruation, ainsi que le sang de la drfloration, est
sacre, puisqu'il represente le sang de la race et puisqu'il coutient un prin-
cipe spirituel: l'äme du vivant (c'etait aussi l'opinion des Juifs, des Romains,
des Arabes). II represente aussi le totem, c'est-ä-dire l'ancetre et le pro-
tecteur du clan, qui reside dans le sang de chaque individu. Quand le sang
s'ecoule, c'est l'etre totemique, c'est uu dieu, c'est ce (jui est sacre, qui se
repand; donc le sang est sacre, il est tabou. De lä le rituel special sur-
veillant et reglant l'effusion du sang de la part des membres du clan, et
toutes les interdictions concernant soit le sang feminin, soit les objets et les
gestes de la vie sexuelle . . . Havelock Ellis a rappele avec une grande
justesse, au chapitre dedii' a la pudeur, dans le premier volume de ses
Etudes de psychologie sexuelle . . . la repulsion qu'eprouvent les femmes, et
meme les hommes d'aujourd'hui, ä prononcer le nom clair des menstruations.
Le nom mOme de menses n'est-il pas deja par lui-meme un euphemisme, un
doublet? . . . Schuring (Parthenologia 1739 i) a donne la terminologie usitee
pour designer cette fonctiou, auterieurement au XVlIIe siecle. Chez les
peuples latins et germaniques les femmes recouraient ä des metaphores
suggerees par le mot fleur, ,parce que, dit-il, c'est la fleur qui presage la
possibilite du fruit.' ^ Les paysannes allemandes l'appelaient Roscnkranx
(couronnes de roses); nos dames italiennes contemporaines l'appellent mar-
chese (marquis);^ les fran^aises: les anglais, ou les affaires; les dames alle-
mandes disent: fai re^u une lettre; les femmes du bas peuple en Italie,
disent: je suis empechee. . . . Cette interdiction linguistique est tellement
ancree dans nos moeurs que, pour la plupart des cas, les mores elles-memes
n'osent pas en parier ä leurs filles. Plusieurs d'entre elles [junge Ameri-
kanerinnen] furent mCme tres epouvantees par la premiere apparition du
sang — tout comme l'heroine d'Edmond de Goncourt qui s'effraie — dans
Chcrie — de voir s'epanouir la fleur de sa puberte.*
1 Desselben Autors Oijnaecologia gebraucht sowohl fluxus mensium wie
fluor für 'Menstruation',
2 Vgl. die obige Deutung, die übrigens in dem stilistischen Gebrauch
der Wendung la fleur de sa puberte durch Niceforo nochmals durchschim-
mert. Ähnlich schreibt Krauß VIII, 140 über den Brauch in Nicastro (Ka-
labrien), daß 'das Mädchen nur in dieser Zeit, welche die aufgebliite [sie!]
Blmne ihrer Jugend anzeigt, den grünen Unterrock ablegt, um den schar-
lachroten anzuziehen, der den Verlobten (Bräuten) und den Ehefrauen ge-
bührt.'
3 Wohl Umdeutung aus marca 'Merkzeichen' (vgl. argotfrz. marquise
'Dirne' zu marque, dem mittelalterlichen Dirnenabzeichen, worüber zuletzt
Dauz t, L'argot de la guerre, S. 169).
^ Euphemistisch werden auch 'Blumen' verwendet in der mir aus Schle-
sien bekannten Redensart Blümchen pflücken für 'urinieren' : es handelt sich
!)4 Kleinere Mitteilungen
Wir stehen hier vor der alten Frage, die Schuchardt in die für jeden
Linguisten beängstigende Alternative 'Elementarverwandt oder geschiclitlich
verwandt?' gepreßt hat: der Bedeutungsübergang 'Blüte' > 'Menstruation' ist
allenthalben durch die elementare Anschauung gegeben, durch elementares
Schamgefühl auf weiten Gebieten nahegelegt — anderseits bietet sich in
einer Sprache der Gleichklang fluor-, flor-. Welchem der beiden Umstände
werden wir das romanische *flores 'Menstruation' zuschreiben? Kon liquct
et non liqucbit.
Nach dem Gesagten kann denn auch frz. ä fleur d'eau, das übrigens
nicht erst seit Rabelais, wie El. Richter angibt, sondern seit dem 14. Jahr-
hundert (vgl. Littre) belegt ist und dem ein ital. a fior d'acqua, span. u
flor de agua, mall, a la flor del man 'auf Erden', wörtl. 'auf der Erd-
oberfläche' Rondayes mallorquines, zur Seite stellt, nur mit Littre als ßos in
der Bedeutung 'superficie' erklärt werden: ä fleur de wie ä niveau de. Es
ist nicht auffälliger wie ital. fior di latte. Vielleicht gehört hierher der bei
Froissart belegte Ausdruck sus fleur de coursier (God.), wenn er 'auf der
Oberfläche des Zelters', nicht 'auf dem besten der Zelter' bedeutet. Fraglich
ist, ob frz. effleurer, ital. sfiorare hier anzuführen ist (zu fleur, fiore 'Ober-
fläche'?): es wird nämlich wahrscheinlich 'entblättern, abstreifen' und dann
'oben hinstreifen' bedeutet haben (vgl. lt. deflorare).
Bonn. L. Spitzer,
AltproT. lieis.
Die Nebenform Ifijeis neben Ifijei im Altprovenzalischen hat bisher eine
ausreichende Erklärung nicht gefunden. Das -s ist noch nicht befriedigend
erklärt, meint z. B. Schultz-Gera, Prov. Elementarb.3, S. 73, § 115.
Feststehen dürfte, daß die -s-lose Form die ältere ist. Der Boeci hat sie
einmal, V. 253: qui amor ab lei pren, die St. Fides, V. 162: fa estar de lei
marritz, dann aber schon V. 444: Deus li reddet per leis la luz. Ursprüng-
lich Obliquus, ist l(i)ei(s) bald auch Subjektskasus geworden.
Die ältesten Grammatiken kennen die Form lieis weder als Nominativ
noch als Obliquus. Die Leys dagegen behaupten (II, 224) : 'Item havem Hey
o Heys. Lieys es tostemps del feminin e no ha plural, e deu hom dire en lo
nominativ singular lieys ab s et en los autres cazes Hey o lieys. quar loncs
uzatges o requier empero miels es dig en los oblics lieys can vocals se sec e
Hey can consonans se sec.' Tatsächlich kommt lieis fast immer für den
Subjektskasus vor (doch auch lei bei Bern. Marti) ; aber die Forderung der
Toulousaner, lei vor Konsonant und leis vor Vokal zu gebrauchen, wurde
nicht eingehalten.^
Im Neuprov. ist lieis, ebenso wie lui, verschwunden, beide finden sich
aber um eine fiktive Beschäftigung, die zur Entschuldigung des Zurück-
bleibens einer Persönlichkeit angeführt werden mag (wie etwa das geläufige
sich die Hände ivascheyi gehen für 'auf den Abort gehen'), selbstverständlich
hier ebenso spöttisch wie etwa im frz. Kriegsargot telephnner ä Guillaume
'aller ä la seile' (Dauzat 1. c. S. 142). — Die geläufigste deutsche Umschrei-
bung für Periode, das nach meiner Beobachtung nur Männer, und Menstruation,
das nur Arzte e'obranfhon. erwähnt Niceforo nicht: U>i/rofilse>>K
^ Siehe Wilh. Bohnhardt, Das Personalpron. im Altprov. Mar-
burg 1888 (Ausg. u. Abh. LXXIV), S. 12 u. 28.
i
Kleinere Mitteilungen 95
nach Chabaneaui noch in Texten aus Limoges vom Ende des 15. Jahr-
luinderts, geraten aber vom Beginn des 16. Jahrhunderts an gänzlich außer
Oebrauch.
Daß l(i)ci wie rum. e?, it. lei einem illaei entspricht, das ülui nachgebildet
ist, wird wohl heute von niemand bestritten.
Was aber ist Ueis't Tob 1er, der ZRPh III, 159 lei, liei aus illaec er-
klärte, sah in lieis: illaece. Da aber illaec als Etymon nicht mehr in Frage
kommt, fällt auch illaece von selbst.
Die ältere Annahme, es handle sich um illae ~\- ipsu, hat in As coli,
AGI XV, .314 u. 396 — 97 einen Verteidiger gefunden. Und diese Annahme
stützt sich vor allem auch darauf, daß leifs) auch mit geschlossenem e
bindet;- doch sind solche Reime mit ei selten. ^
Und müßte es nicht auffallen, daß eine solche Verbindung illae -\- ipsu
nur im Provenzalischen auftritt, und noch dazu als unzweifelhaft jüngere
Form?* Auch würde es merkwürdig sein, daß nirgend ein illui -\- ipsu
daneben auftritt.
A. Thomas endlich erklärt Ro XII, 332 lieis aus dem Genitiv illaeius,
der ein Seitenstück zu dem Gen. masc. illius wäre. Aber wieder wird man
fragen: Weshalb kommt dieses illaeius (gegen das ja an sich nichts ein-
zuwenden wäre, um so weniger, als es inschriftlich belegt ist) nur hier vor,
noch dazu als jüngere Form, warum gibt es keine entsprechende Maskulin-
form, endlich, wie schon Meyer-Lübke, Rom. Gr. II, S. 95 einwendete:
'was soll ein Genitiv auf einem Gebiete, das den Dativ kaum kennt?'
Da es sich um eine ausschließliche Form der provenzalischen Dichter-
sprache handelt und da dieser mit lautlichen Mitteln nicht beizukommen
ist, da endlich, was von größter Wichtigkeit ist, dem lieis kein * luis ent-
spricht, wird man versuchen müssen, die Form aus dem Provenzalischen
selbst heraus zu erklären.
Das Pronomen bezieht sich in erster Linie und an unzähligen Stellen
auf die angebetete Dame, den hauptsächlichsten Gegenstand, um den sich
die ganze altprovenzalische Kunstlyrik dreht, und zwar dann, wenn von
der Dame in der dritten Person die Rede ist. Wendet sich der Dichter au
die Geliebte selbst, so gebraucht er, zumal es meist eine über ihm stehende
Dame ist, fast ausnahmslos das ehrerbietige vos. ' Ist es also nicht nahe-
liegend, die Form lieis als eine Kreuzung der beiden Pronomina für die
Geliebte liei X, vos anzusehen? Mag diese Erklärung auch nicht tatsäch-
lich beweisbar sein, so hat sie doch das eine für sich, daß sie die nur pro-
venzalische Form mit den Mitteln des Provenzalischen deutet, daß sie be-
greiflich macht, weshalb neben lieis kein * luis steht, daß sie eine Form der
Kunstsprache aus den kulturellen Voraussetzungen dieser erklärt.
Charlottenburg. M. L. Wagner.
1 Chabaneau, Gramm, limousine. Paris 1876. S. 178 u. Anm. 4.
- P. L i e n i g , Die Grammatik der prov. Leys d'amors, verglichen mit
der Sprache der Troubadors, S. 43; Stengel, Die beiden ältesten prov.
Grammatiken, S. 116.
3 Lienig, a. a. 0.; Crescini, Manuale 2, S. 100, Anm. 1.
•* Appel, Prov. Lautlehre (Leipzig 1918), § 54, scheint die alte Er-
klärung noch aufrechtzuerhalten, da er von lieis in dem Kapitel 'Ursprüng-
liche Doppelkonsonanz im provenzalischen Auslaut' spricht.
5 Bohnhardt, a. a. 0., S. 99.
96 Kleinere Mitteilungen
Lat. fundibulum > *funibulum und intestinae
> istentinae.
Im REW 3583 führt Meyer-Lübke als romanische Abkommen von
lat. fundibulum 'Trichter' an: prov. fenjfonilh, span. fonil, pg. funü, und
fügt hinzu: '-nd- zu -n- ist als Katalanismus oder als Gaskognismus erklär-
bar, Ausgangspunkt also etwa Bordeaux, wozu auch die Verbreitung in den
uprov. Mundarten paßt.'
Auffallend ist aber doch, daß die Form mit -n- so weit verbreitet ist, die
ganze Pyrenäenhalbinsel bedeckt (aus dem Romanischen auch bask. unila,
Diez, Wtb. 451) und daß dieselbe Form auch im Norden auftaucht. Denn
mittelengl. foncl, das im Oxford Dictionary für das 15. Jahrhundert belegt
wird (> ne. funnel) und breton. founil setzen doch wohl ein afrz. fofujnil
voraus, wie schon Diez annahm.^ Ist es wahrscheinlich, daß eine von Bor-
deaux ausgehende Dialektform sich die ganze Westromania erobert hat,
ohne daß von der -?irf-Form auch nur irgendwo Spuren geblieben wären?
Mir scheint es, daß eine schon für das Vulgärlatein anzusetzende Be-
einflussung durch das entsprechende griechische Wort xroium- (ngr. -/ovii)
vorzuziehen ist, die um so unbedenklicher ist, als griechisch-lateinische
'Wortehen' (um mich eines einst von Schuchardt geprägten Ausdruckes zu
bedienen) nichts Seltenes sind. Man denke an einen so merkwürdigen Fall
wie ovy.coTov — ficatum.
Auch in der metathetischen Form fijstentinae für intestinae, die reich-
lich belegt ist (PI e r a e u s , Sprache des Petron. S. 41; Ahlquist, Stud.
z. Mulomedicina Chironis S. 115, Anm. 1; Meyer-Lübke in Gröbers
Grdr. 12, S. 477, § 44) und im Südital. und Sardischen sowie im Alt-
spanischen und in Tirol sich fortsetzt, sehe ich den Einfluß des gleich-
bedeutenden griech. errepa. Für Meyer-Lübke, HG I, S. 483, § 582
war die Umstellung 'dunkel'. Dunkle Umstellungen, bei denen weder be-
stimmte lautliche Vertauschungen noch Einfluß von Suffixen in Frage
kommen, sind aber meist solche, bei denen ein anderes Wort sich eingemischt
und die Umstellung begünstigt hat, vgl. M.-L., a. a. 0. § 583.
Zu beachten ist auch, daß es sich bei all den erwähnten Wörtern um
Küchenausdrücke handelt; und daß auf diesem Gebiete der griechische Ein-
fluß besonders stark war, ist bekannt.
Charlottenburg. M. L. Wagner.
Sobre el castellano enhiesto,
Como es sabido, la etimologia fastigium, propuesta por Diez, Etym.
Wort. 451, para las formas ibericas y para el francea faiste"^ > faiie, no ha
tenido fortuna, y parece definitivamente aceptado como base de todaa las
formas francesas y espanolas el aleraän first 'altura'. Realmente ella parece
asegurada por formas con r, como el antiguo franccs freste y el provenzal
frest.^ Pero la cuestiön no es saber si la voz germanica diö origen a algunas
formas, sino si todas las formas romänicas proceden de ella, o bien al lado
1 Leider umfaßt die Karte cntonnoir des AL nur den Süden.
2 Icti kenne nur fest {fa/st), feste, s. Godefroy 111, 7<Üa, nUc, IX, 613c
und REW. Nr. 3321. (Sch.-G.)
3 Ein prov. frest ist recht problematisch, s. Levy, S.-W. III, 599. (Sch.-G.)
Kleinere Mitteilungen 97
de los derivados j^ermänicos subsisten formaa do un ori^en latino. Dcsde
lueg-o no es imposible (lue im diptongo ie castellano se produzca de i original
por influencia de etimologia populär, como en spiculu esplego espliego,
aunque este trato por ser anormal es indicio desfavorable para cl origen
germänico: first piido dar en castellano *fesf-o, con reducciön normal de
rs > s, y nißesto por atracciön material de ftesta. Pero las formas de la
peninsula iberica parecen referirse a una composiciön primitiva con in, y
deben referirse a una forma adjetiva. En efecto los casos raros de firsto
se contienen en la fräse en ßesto, que puede ser un anälisis coineidente,
como en el vulgär ninjer en cintci 'embarazada' por encinia inciv ei a. La
misma forma sustantiva enfcsfa 'altura, cima' del portuguos, debe tener un
origen adjetivo, que se conserva en el aragonos, 7nonte enfi.ef<to 'alto, elevado'
(Huesca). En los mas antiguos textos esi)anoles se nos descubrc como base
la forma enfiestu de valor adjetivo, por 'erguido, derecho': 'E ((uando [el
Rey] se yrguiesse no deue pararse mucho enfiesto nin acoruado' Parhdas,
11, 5, 4; 'Otro si que anden apuestamente, non muy enfiesfos nin otrosi
coruos' 11, 7, 8. El moderno castellano cnhiesto y el leones enjicsto con-
servan fielmeutc esta significaciön. El verbo enhestnr castellano, como el
salmantino cnjipsfar (Gabriel y Galan, Extremenas, päg. 46) son formaciones
a base de los adjetivos citados. Si, como parece, estos son el tipo primitivo,
no seria absurdo admitir que pudiescn referirse a una base infestxi. Es
cierto que no hay pruebas seguras de un latin infestu que ofrezca la sig-
nificaciön de 'levantado, erguido', pero la existencia de fastus y fasfigium
no haria absurda tal suposiciön. Aunque admitiesemos el distinto origen
bhr^ y dhrs de fastgium e infestu s (Walde, Lat. Wort. s. v.), aün seria
preciso aclarar oscuras relaciones, y ver si en las significaciones de infestus
qite nos descubren frases como infestis pilis, infestis signis, no liay,
ademäs de la idea de 'enemigo, hostil" otras ideas que pudieran ser la base
del espanol enfiesto enhiesto, frecuentemeute aplicado como en las frases
latinas a armas, banderas, etc. 'erguidas, enarboladas, enhiestas'.
Zaragoza. Vicente Garcia de Diego.
Berichtigung.
S. 109 Artikel gh jamherluccu Z. 3 lies disgiungerlo .statt disgiungesto ;
Z. 6 1. mammalucco st. mammalucca; Anm. 1 Z. 2 1. giammirgu st. giamo-
nirgk; S. 110 Z. 20 v. o. 1. jamuli st. jamuti; Z. 22 v. o. 1. G. Meyer st.
H. Steyer; S. 2.34 Z. 12 v. o. 1. Frommans Zeitschr. st. Frommann, Zeitschr.;
Anm. 1 Z. .3 1. Meyer st. Müller.
Bonn. Leo Spitzer.
Archiv f. n. Sprachen. 139.
Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Jones, Daniel, An outline of English phonetics. Leipzig, Teubner
(1908; the greater part was in print in July 1914). XII,
221 S. M. 10.
Das Buch will hauptsächlich einem praktischen Zwecke dienen, nämlich
der Verhütung von Fehlern, die Ausländer zu machen pflegen, wenn sie
Englisch sprechen. Bescheiden nennt es sich 'outline'. Tatsächlich ist es
die vollständigste Anleitung zu genauer ne. Aussprache, die wir zurzeit
besitzen, und vielfach fördert es zugleich die allgemeine Lautphysiologie
sowie die anglistische Sprachgeschichte.
Als Standard schwebt dem Verfasser die Aussprache vor, die man in
den großen südengliscben Staatsinternaten hört. Und zwar unterscheidet
er dabei zwischen Rezitation, Konversation und vertraulicher (familiär)
Rede: erstere ist zu stattlich, letztere zu flüchtig; nur höfliche Uragangs-
rede soll gelehrt werden. All das ist einwandfrei. Es kommt dabei zum
Ausdruck, was Oxford und Cambridge, Eton, Harrow und andere Schulen
für die Spracheinigung der gebildeten Engländer in London vorgearbeitet
haben. Die Bühne befleißt sich einer deutlicheren elocution, z. B. beim r;
die Kanzel läßt sich Zeit zu viel mehr Wort- und Satzakzenten, wovon auf
S. 96 f. eine Reihe Proben gegeben wird; bei rascher, formloser Verständi-
gung aber fallen viele Vokale unter den Tisch, so daß von einem Satz wie
Won't yon have another cup of tea oft nicht mehr übrigbleibt als einige
Geräusche, das Wörtchen tea und ein Frageton. Zu solch extremer Laut-
gestaltung rhetorischer oder unvollkommener Art mag der Nichtengländer
allmählich durch den Gebra.uch vordringen, denn ihre Grenzen sind sub-
jektiv; aber die Mittelstufe bleibt naturgemäß die Hauptsache.
Indem sich Jones anschickt, die Hervorbringung der Laute zu beschrei-
ben, geht er mit Recht wesentlich von Sweet aus. Fast zu sehr hält er
sich an dessen allgemeine Zungendirektive front, lack, high, low usw., die
doch erst vom geübten Phonetiker frei getroffen werden und nur bei ex-
tremen Stellungen, aber nicht bei mid u. dgl., Klarheit geben. Soweit
meine Erfahrung reicht, geht man praktischer vom nächstverwandten Laut
kontinenta.ler Art aus, z.B. für o: von o:, für den Vokal in come von dem
in deutsch kämm oder franz. femme, (ma)dame, um dann möglichst einfach
zur Produktionsweise des englischen Lautes überzuleiten; also von so zu
saw, indem man die Zungenwurzel senken läßt, von kämm, zu come, indem
man eine leise Aufkrümmung des Zungenrückens verlangt. Dagegen lehrt
Jones o: in folgender gewiß viel umständlicherer Weise: 'The tongue is low
down in the mouth and very slightly raised at the back, but not so high
as the half open position . . . ; the lips are rounded so as to leave only a
small opening ...; the soft palate is raised; the lip of the tongue is gene-
rally, though not necessarily, slightly retracted from the lower teeth; the
lower jaw is lowered very considerably' (S. 82). Ich fürchte, trotz so
vieler Worte wird ein deutscher Schüler da meist nur zu einem Mittelding
zwischen a: und o: gelangen, wie man es besonders in hannoverischen und
bayrischen Dialekten hört. Jones hört ja gern auf einen vernünftigen
Wunsch. — In manchen Dingen aber ist Jones auch über Sweet hinaus-
gegangen. Statt Sweets narrow und wide gebraucht er tense und lax, was
mir ein Fortschritt scheint. Für ij transkribiert er nach Passy i:, für uii-
entsprechend u:, indem er gegenüber der kontinentalen Gepflogenheit, diese
Laute straff zu sprechen, schlaffe Vokalbildung einschärft; dann müßte frei
lieh wenigstens bei o: die stark abweichende Straffbildung des Engländers
hervorgehoben werden. Bei 1(1) vor Geräuschlaut oder im Auslaut fordert
I
i
Bpurteilunppn und kurze Anzoigen 99
Jones nicht Eückbewcgung der Zungenspitze, sondern deren Anlegung an
die Zahnschneiden verbunden mit einem ?<-Laut — Sweet sagte a grunting
sound; ich werde fortan Jones folgen. Bei w schreibt Jones vor: rounding
and pushing forioard tlie Ups und raising tlie hack of the tongue in the di-
rection of the soft palate (S. 64) ; da bleibe ich lieber bei Sweets AuAveisung:
'u mit Zurückziehung der Zungenwurzel'. Im übrigen weiß ich wohl, daß
wir beide so ziemlich im Dunkeln tappen, bis uns einmal eine verbessert(»
Zungenpliotographie deutliche Maße schafft.
Es ist dankenswert, daß Jones seine Vorschriften nicht bloß durch viele
Pliotographien von Lippenstellungen erläutert, sondern auch durch solche
von Palatogrammen. Experiment und Dokument gehören zum Hausrat ge-
sunder Phonetik. Einen weiteren, sehr einfachen und lehrreichen Versuch
möchte ich dazu vorschlagen, um p gegenüber 7), t gegenüber d zu verdeut-
lichen. Tennis und Media stehen einander nicht bloß als stimmlos und
stimmhaft gegenüber (S. 25, 28), sondern bekanntlich auch dadurch, daß
die Tennis — selbst wenn sie nicht aspiriert ist — einen intensiven Luft-
druck voraussetzt, die Media einen schwachen. Veranschaulichung: Glas-
röhrchen, aufgesetzt auf dünnen Gummischlauch, lotrecht gestellt und mit
farbiger Flüssigkeit, z. B. tintigem Wasser, gefüllt; das andere Ende des
Gummischlauches zwischen die Lippen (bei p, b) oder zwischen Zungenspitze
und Vordergaumen (bei t, d) gesteckt; dann veranlassen p und t einen
starken Ausschlag der Wassersäule in der Glasröhre, h und d einen ganz
r.nbedeutenden. Besonders wichtig für 'genigliche Sachsen', deren Tenues
meist sehr zaghaft sind.
Die allgemeine Lautphysiologie wird vielleicht am meisten auf einem
Gebiete gefördert, für das bereits Jespersen ('Handb. d. Phon.'^ 1912,
S. 169 ff. : Assimilationen) viel gesammelt hat, nämlich durch die Dar-
li'giingen über Angleichung zusammenstoßender Laute. Die Gleitelaute, zu
deren Kenntnis die Studien Scriptures über Grammophonkurven und Gutz-
inanns Beobachtungsmethoden vieles beitragen konnten, sind weniger be-
achtet. Die englische Sprachgeschichte gewinnt durch die Zusammen-
stellung der o-Wörter mit «-Aussprache wie come (S. 84 f. — ich weiß
sie nirgends so vollständig aufgezählt), durch die reiche INIaterial-
sammlung über die Akzentlage bei zwei- und mehrsilbigen Fremdwörtern
(S. 112 ff.) und namentlich durch das Kapitel über die Wörter mit zwei
gleichen Akzenten, das mir, zusammen mit Jespersens Darlegungen
(S. 220 ff.), für diese Frage grundlegend scheint. Nachtrag: man sagt
immer Oxford Street mit nur einem Akzent auf dem ersten Wort, aber'
Oxford Circus, Oxford Terrace u. dgl. mit Hauptakzent auf beiden Wörtern.
Bei 'Rhytmus' (S. 123 ff.) stellt sich die große Abneigung des Engländers
heraus, zwei haupttonige Silben oder Wörter aufeinander folgen zu lassen;
daher heißt es z. B. (the Jrllow Js) goöd for nöfhing. aber [he is a) goöd
fnr ndthing felloiv; auch Upper Oxford Terrace, shört-sighted man u. dgl.
Für Satzmelodie, 'Intonation', ist Jones ebenfalls sehr freigebig; viel mehr
als Storm in 'English philology'^ war; es wundert mich, daß bei diesem
Material, das mit dem bloßen Ohr doch schwer abzuschätzen ist, die — aller-
dingrs unvollendeten — Forschungen von W. Effenberger (1908) unverwendet
blieben.
Künftige Phonetiker werden sich auch mit der akustisch auskalkulierten
Vokalhervorbringungsmaschine von Stumpf (Berliner Akad. d. Wiss. 1918)
nuseinanderzusetzen haben. Es ist dies der erste Apparat, von dem ich
wirkliches i, e, a usw. gehört habe.
Die Leistung von Jones verdient aufmerksames Studium und weite Ver-
breitung. Je mehr der Leser bereits vom Englischen weiß, desto mehr
wird sie ihm sagen.
Berlin. A. B r an d 1.
100 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Anton Marty, Gesammelte Schriften, herausgegeben von Josef
Eisenmeier, Alfred Kastil, Oskar Kraus. 1. Band, 1. Abtei-
lung. Mit einem Lebensabriß und einem Bildnis. Halle
a. d. S., Niemeyer, 1916. IX, 329 S. — 1. Band, 2. Abteilung.
Schriften zur genetischen Sprachphilosophie. 1916. IX, 329 S.
— 2. Band. 1. Abteilung. Schriften zur deskriptiven Psycho-
logie und Sprachphilosophie. 1918. XXI, 364 S.
Ist eine Betrachtung des Gedankens, unabhängig von seinem sprachlichen
Ausdruck, möglich? Marty beantwortet die Frage in bejahendem Sinne.
Nach ihm gibt es ein Denken des Begriffsinhaltes vor und neben dem sym-
bolischen Denken, dem Denken dies stellvertretenden Zeichens. Diese
Stellungnahme grenzt die Gebiete der Logik und der Grammatik deutlicher
ab, als es bis jetzt geschehen ist, und gibt auch dem Philologen zu denken,
der lernen muß, sein eigenes Gebiet der Ausdruckslehre von dem Gebiet der
Urteilslehre zu trennen und der, wenn er diesa Trennung scharf durch-
geführt hat, manchen Erscheinungen des Sprachlebens gerechter werden
wird. Verschiedene Form bedeutet noch lange nicht verschiedenes Denken.
Martys Schriften gehen mit besonderer Vorliebe derartigen Fragen nach,
und so wird auch der Philologe die Herausgabe seiner Gesammelten Schrif-
ten mit Freuden begrüßen.
Die erste Abteilung des ersten Bandes enthält ein Verzeichnis
der von Marty veröffentlichten Schriften in zeitlicher Reihenfolge — e.s
sind deren 29 — , von denen neun in dieser Abteilung abgedruckt werden,
die aber für uns weniger Interesse^ haben. Vorausgeschickt wird von Oskar
Kraus eine lebensgeschichtliche Einleitung, die uns in liebevoller Weise
ein Bild dieses mutigen, scharfsinnigen Denkers entwirft, der als Mensch
so aufrichtig und so schlicht war und der sein körperliches Leiden und
seine schwermütige Veranlagung in harter wissenschaftlicher Arbeit zu
tberwinden suchte. Einen eigenartigen Lebensweg ist er gegangen. Ge-
boren 1847 in dem trauten Städtchen Schwyz, in der Stiftsschule zu Ein-
siedeln erzogen, am Seminar in Mainz weiter ausgebildet, empfing er die
Priesterweihe, las im Herbst 1870 zum erstenmal die Messe und wirkte zu
gleicher Zeit am Schwyzer Lyzeum als Professor der Philosophie; denn
schon früh hatte er sich mit Philosophie beschäftigt und sich von dem
Priester-Professor Brentano in Würzburg angezogen gefühlt, der ausschlag-
gebend anf ihn wirken sollte. Als Brentano 1873 seine Professur nieder-
legte, weil er aufhörte, gläubiger Katholik zu sein, wurde Marty tief er-
schüttert, und derselbe Wandel vollzog sich auch in ihm. Er promoviert in
Göttingen, 1875 ist er schon Professor in Czernowitz, 1880 erfolgt seine
Berufung nach Prag, wo er bis zu seinem Tode 1914 lebte. Wien war ihm
versagt; seine Berufung dorthin scheiterte an seiner Vergangenheit. Seine
Heimat, an der er, wie jeder Schweizer, mit aller Liebe hing, hatte er schon
viele, viele Jahre nicht mehr gesehen.
Tn gedrängter Form gibt uns Kraus eine meisterhaft klare Übersicht der
Werke und Schriften Martys.
Die zweite Abteilung des ersten Bandes enthält a-ls Nr. X die
.304 Seiten umfassende Abhandlung : 'Über Sprachreflex, Nati-
1 Die drei polemischen Artikel über den Farbensinn (Nr. VII— IX)
setzen Bekanntschaft mit seinem Buche 'Die Frage nach der geschichtlichen
Entwicklung des Farbensinnes' (Wien 1877) voraus. Es schneidet ein
Problem an'^ das den Literarhistoriker interessiert. Waren die Zeitgenossen
des Homer blau- oder grünblind, weil Homer dieselben Worte für diese
zwei verschiedenen Farben brauchte?
Beurteilungen und kurze Anzeigen 101
vis m US und absichtliche Sprach bildung' (1884). Hier rollt
er noch einmal die ganze Frage auf, die er in seinem Buche über den
'Ursprung der Sprache' 1875 schon behandelt hatte. Er wandte sich gegen
die von ihm so benannte nativistische Theorie des Sprachursprungs.
W. V. Humboldt hatte die Sprache als eine unbewußte Emanation des
Geistes erklärt. Steinthal, Lazarus, M. Müller und Wundt brachten die
Sprache unter die Gattung der Reflexbewegungen. Marty schloß sich den
Empirikern wie Bleek, Whytney, Tylor, Geiger und Madvig an, die die
Sprache aus dem Trieb und Verlangen nach Mitteilung erklärten, obschon
er sich vor allem in der Methode von ihnen unterschied. Absichtliche, aber
planlose Bildung schuf aus nachahmenden Bezeichnungsmittelu den großen
Bau der Sprache. Die Zeichen wählte man sich nach dem Prinzip der Ähn-
lichkeit oder der Assoziation, wobei die Assoziationsvorstellung eine Hilfs-
vorstellung war, die auf die eigentliche Bedeutung hinweisen sollt«; sie war
selbst nur ein Zeichen, das Etymon oder, wie es Humboldt genannt hatte,
die innere S p r a c h f o r m. ('Wau-wau' weckt die Vorstellung des
Bellens, die aber dazu dienen soll, die Vorstellung des Hundes zu bezeichnen.
Das Bellen ist das Etymon, die innere Form.)
Das Problem der inneren Form hat Marty immer wieder beschäftigt, und
es spielt in seiner Abhandlung über die subjektlosen Sätze, auf die wir
nachher eingehen wollen, eine große Holle. Auch sein großes Hauptwerk
'Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprach-
philosophie' Band I (Halle 1908) befaßt sich eingehend mit der inneren
Sprachform. Dieses große Werk, das sich die neuere Philologie bereits zu-
nutze gemacht hat, wendet sich der wichtigen Aufgabe einer deskriptiven
Semasiologie zu, wo bei der Spaltung von Stoff und Form die sprachliche
Form als äußere und innere Sprachform und die letztere wiederum als
figürliche und konstruktive unterschieden wird.
Die lange Abhandlung über Nativismus usw. setzt sich mit Wundt
und auch mit dem bekannten Buche Pauls, 'Prinzipien der Sprachgeschichte',
auseinander.
Die erste Abteilung des zweiten Bandes bringt als Nr. XIII die
Abhandlung 'Über subjektlose Sätze und das Verhältnis der Grammatik zur
Logik und Psychologie' (erster bis dritter Artikel 1884, vierter bis siebenter
Artikel 1894—1895) und als Nr. XIV den Aufsatz 'Über die Scheidung^ von
grammatischem, logischem und psychologischem Subjekt resp. Prädikat'.
Diese letzte Abhandlung schlägt vor, statt von einem grammatischen von
einem scheinbaren Subjekt zu reden — denn der Ausdruck 'grammati-
sches Subjekt resp. Prädikat' beruht auf einer Übertragung der Bezeich-
nung der Teilgedanken eines Doppelurteils, die man Subjekt und Prädikat
nennt, auf den sprachlichen Ausdruck. Marty untersucht die Fälle, die
scheinbare Subjekte und Prädikate aufweisen. (Wunschsätze z. B. haben
nicht Subjekt und Prädikat, weil sie Gemütstätigkeiten, nicht Urteile aus-
drücken; ebenso erwecken Existentialsätze bloß den Anschein, Subjekt und
Prädikat zu haben.) Er deckt uns aber auch Fälle auf, wo Subjekt und
Prädikat tatsächlich gegeben werden, wo das eine oder andere dieser Ge-
dankenelemente oder beide nicht durch diejenigen sprachlichen Ausdrücke
repräsentiert sind, welche durch ihre übliche Form und Syntaxe dies prä-
tendieren. Eine Diskrepanz also zwischen dem, was der Bedeutung
nach Subjekt und Prädikat ist, und dem, was der üblichen sprachlichen Be-
zeichnung nach diesen Schein erweckt. In 'Alle Bäume meines Gartens
sind fruchtbar' (d. h. 'alle A sind B') ist der Prädikatsbegriff 'u n frucht-
bar', d. h. etwas anderes als das Prädikatszeichen uns vortäuscht, etwas
Negatives, nämlich 'n i c h t - B', da 'alle' eine doppelte Negation in sich
schließt, wovon die erste zur Kopula, die zweite zum Prädikatsbegriflf ge-
hört, d. h. die Ausnahme wird geleugnet: Es gibt in meinem Garten Bäume;
102 Beurteilungen und kurze Anzeigen
unter ihnen ist nickt ein unfruchtbarer. Das 'fruchtbar' erweckt eine
Hilfsvorstellung, von der man zum eigentlichen Prädikat 'unfruchtbar'
übergeht.
Um es dem Leser zu ermöglichen, sich in Martys Gedankengänge einzu-
fühlen, sei es gestattet, die Hauptpunkte seiner Abhandlung über die s u b -
j ektlosen Sätze wiederzugeben.
Ausgangspunkt dieser langen Untersuchung war M i k 1 o s i c h, 'Die
Verba Impersonalia im Slawischen', K. Akademie der Wissenschaften in
Wien, Philosophisch-historische Klasse, Bd. XIV, 199—244 (1865), und
'Subjektlose Sätze', Wien 1883. Marty durchgeht alle bisherigen Erklä-
rungen der Impersonalia und zeigt, wie man vergeblich versucht hat, dem
'Es' ein Subjekt einzuverleiben. Den Ausweg, solche Es-Sätze als Existen-
tialsätze aufzufassen, wobei das Prädikat der Existenz und das Subjekt
dem Nomen des Verbes gleichkommt — 'es sommert' gleich 'Sommer ist' --,
verwirft er, da der Existenzbegriff nicht ursprünglich ist, sondern aus der
Betrachtung des Urteils abstrahiert ist. Auch der Ausweg 'unvollstän-
diges Urteil' hilft nicht. Marty tut nun den Schritt, daß er Sätze zugibt,
die keine Zusammensetzung von Begriffen aussprechen und doch Ausdruck
eines Urteils sind. Dies ruft einer neuen Definition des Urteils. Ein Ur-
teil ist Anerkennung oder Verwerfung eines vorgestellten Inhalts. In
kategorischen Aussagen (A ist B) wie in existentialen (A ist) wird durch
'ist' der Gegenstand anerkannt, durch 'ist nicht' verworfen, und zwar beim
Existentialsatz explicite, beim kategorischen Satze implicite (dadurch daß
ich in A ist B dem A etwas zuerkenne, anerkenne ich implicite auch' das A).
Die Unterscheidung von Subjekt und Prädikat (A B) ist nicht etwas dem
Urteil Wesentliches. Notwendige Bestandteile für jede Aussage sind nur:
ein Name, welcher eine gewisse Vorstellung erweckt, und ein Zeichen,
welches das Vorgestellte als anzuerkennend oder verwerfend kundgibt
(A ist). Diese Definition umfaßt die existentiale und die kategorische
Formel. Weil aber die kategorische Redeweise bei uns überwiegt, hat man
behauptet, jedes Urteil verbinde zwei Begriffe als Subjekt und Prädikat.
Wenn also beim Impersonale 'Es regnet' kein Subjekt nachgewiesen ist, so
hindert das nicht, daß es ein wahrhaftes Urteil ist. Eine nicht in Subjekt
und Prädikat gegliederte Materie wird anerkannt.
Es gibt kategorische Aussagen, die nur scheinbar Subjekt und
Prädikat enthalten. Dieser Schein ist Sache des sprachlichen Ausdrucks.
Aus wahrhaft kategorischen entstanden scheinbar kategorische
Aussagen.
Alles, was in kategorischer Form ausgesprochen wird, läßt auch eine ein-
fachere Form des Ausdrucks zu, die existentiale, wo kein eigentliches
Subjekt und Prädikat vorliegt.. 'Jeder Schuldige ist unglücklich' :z= 'Es
gibt keinen nicht unglücklichen Schuldigen'. Nun ist aber der Unterschied
zwischen der kategorischen und der entsprechenden existentialen Aus-
drucksformel nicht nur lautlich äußerlich, sondern auch innerlich. Woher
kommt nun dieser innere Unterschied? Hier wirken gewisse begleitende,
dem ästhetischen Vergnügen oder dem weiteren Verständnis dienende Neben-
vorstellungen, die zu der die Bedeutung des Namens ausmachenden hinzu-
treten, die W. V. Humboldt als die innere Sprachform bezeichnet
hat. Sie dient als Assoziationsband zwischen dem äußerlich wahrnehm-
baren Zeichen und seiner Bedeutung, seinem psychischen Inhalt, der im
Hörer herbeigeführt werden soll. Sie ist ein Hilfsmittel, das den Begriff
des psychischen Zustaudes, der die Bedeutung des Namens bildet, erwecken
soll, ohne die Bedeutung selber zu sein, eine Mitbedeutung im weitesten
Sinne des Wortes — also nicht nur eine Metapher, sondern ebenso eine
sprachliche Form oder Anordnung, in ihrer Funktion ähnliche Zwecke wie
die Metapher verfolgend. Es kann also in 'es regnet' als 'innere Form' die
i
Beurteilungen und kurze Anzeigen 103
\'or Stellung eines tätigen Subjekts nebenher gehen. Die 'innere Form'
faßt hier anders auf als die Logik. Deshalb hat es seine guten Gründe, war-
um man einfache An- und Aberkennungen nicht bloß im einfachen Existen-
tialsatz, sondern auch in der kategorischen Formel ausdrückt.
Diese kategorische oder zweigliedrige Aussageform ist entstan-
den als angemessener Ausdruck für Doppelurteile. Ein solches liegt z. B.
vor in: Diese Blume ist blau. Schon durch 'diese Blume' ist die Anerken-
nung eines Gegenstandes gegeben. Das erste Urteil liegt hier vor. Auf
seiner Basis ist eine zweite Anerkennung gebaut, welche ohne die erste
nicht denkbar wäre. Dieses zusammengesetzte Urteil läßt die Unterschei-
dung eines subjektischen und eines prädizierenden Teiles oder Teilurteils
zu. Es liegen nicht zwei Begriffe, sondern zwei Urteile vor, wobei aller-
dings das zweite das erste involviert. Ein solches Doppelurteil kann nicht
durch eine Formel wiedergegeben werden, die einem einfachen Urteil
entspricht. 'Diese Blume ist blau' ist nicht: 'es existiert eine blaue
Blume'. Der zweite Satz enthält ein zusammengesetztes Begriffsgebilde
(blaue Blume), das erst sekundär in Keflexion auf das Urteil des ersten
Satzes gebildet wurde. (Doppelurteile liegen immer vor bei Personal- und
Demonstrativpronomen als Subjekt — auch bei Städtenamen: Prag r= das
Prag genannte.) Statt zweier affirmativer Urteile können auch eine An-
erkennung und eine Verwerfung miteinaider verbunden sein: Alle Apostel
sind Juden = Keiner der Apostel ist ein NichtJude, d. h. Es gibt Apostel.
Unter ihnen ist keiner ein NichtJude ('Alle' involviert eine doppelte Ne-
gation, s. oben).
Die zusammengesetzte Natur der Gegenstände brachte den Menschen auf
das Doppelurteil. Sobald er an einem Gegenstand irgendeinen neuen Teil
entdeckt, bildet er ein Doppelurteil. Dazu liegt für ihn häufiger ein Anlaß
vor als zum bloßen Anerkennen und Verwerfen. Dieser Anlaß tritt ein,
sobald er einen Gegenstand analysiert, d. h. die Teile auf das Ganze bezieht.
Hat er auf Grund solcher Doppelurteile prädikative Urteilssynthesen ge-
wonnen, so reflektiert er auf sie und gelangt zu Vorstellungssynthesen.
'Dieses Rote ist rund' (Doppelurteil), woraus wird: 'Rundes-Rotes' (Vor-
stellungssynthese) .
Bei der erdrückenden Häufigkeit der Doppelurteile gewann der für sie
ausgebildete sprachliche Ausdruck, die kategorische Formel, das Über-
gewicht über jede andere Form der Urteilsäußerung und wurde zum eigent-
lichen Typus unserer Aussagen.
Man hat schon oft die Idee von Ding und inhärierender
Eigenschaft als Wesen der kategorischen Aussageformel hingestellt.
Dies beruhte aber auf einer Überschätzung oder falschen Einschätzung einer
oft nebenherlaufenden Bedeutung — eben der inneren Form — , die
fälschlich als Kern der Aussage betrachtet wurde. Die nackte Formel
A ist B hat natürlich keine innere Form, und die Gefahr, in ihr eine
Nebenbedeutung neben der Hauptbedeutung zu sehen, ist nicht vorhanden.
Be' keinem Menschen könnte hier die Vorstellung der Inhärenz aufkommen.
Hier wird einfach dem A zuerkannt. Anders steht es mit dem bedeu-
tungsvollen Satz: 'Röte ist eine Farbe'. Hier inhäriert 'Röte' den Begriff
'Farbe'.
Man kann daher sagen : AlsinnereForm haftet die Dingvorstellung
und die Vorstellung einer ihr anhaftenden Eigenschaft, Tuns oder Leidens
unseren kategorischen Sätzen an, während sie das kategori-
sche Urteil als solches nicht notwendig angeht. Am liebsten nehmen
wir denjenigen Begriff ins Subjekt auf, der ein Ganzes auffaßt, und machen
eine neu erfaßte, bisher unbekannte Bestimmung zum Inhalt seines Prädi-
kats. Nun überwiegt gewöhnlich das Verhältnis von Ding und Eigenschaft
derart, daß für uns das Ding, die Substanz, meistens als Subjekt,
104 Beurteilungen und kurze Anzeigen
das Akzidens als Prädikat auftritt. Der Subjekts n am e rückt
deshalb das von ihm bezeichnete jedesmal unter das sprachliche Bild einer
Substanz.
Ebenso wird die Eigenschaft im weitesten Sinne des Wortes zum
Typus des Prädikats, vor allen Dingen die Relation des Tuns und Lei-
dens, die wir bei psychischen und unbeseelten Wesen — oft in poetischer
Auffassung — wahrzunehmen glauben, wodurch sich für uns die stehende
Form von Aktiv und Passiv schuf, so daß das Verbum finitum zum notwen-
digen Element jedes Prädikats wurde. Die grammatischen Kategorien, die
sich das häufige Verhältnis von Ding und inhärierendem Tun und Leiden
geschaffen hatte, übertrugen sich irrigerweise auch auf Prädikationen, in
denen dieses Verhältnis fehlte, und was dort logisch geforderte richtige Vor-
stellung war, sank hier zur inneren Sprachform herab — die
Erinnerung an Ding und Eigenschaft verblieb, so daß der Grammatiker
hinter jedem Subjekts- und Prädikatsverhältnis das reale Verhältnis von
Substanz und Inhärenz witterte, während dies Verhältnis nur symbolisch
bestand.
Ähnlich ist auch das Prädiziertwerden selber einer Bestimmung
von einer anderen oft nur Bild und nicht Bedeutung gewisser Sätze.
Es gibt pseudokategorische Aussagen, die einfache Urteile ausdrücken -•
sie prädizieren nur bildlich, der inneren Form nach — : 'Alle Dreiecke
haben zur Winkelsumme zwei Eechte', wa~s ein einfaches negatives Urteil in
scheinbar kategorischer Form ist: 'Es gibt nicht ein Dreieck, das nicht
zwei Rechte zur Winkelsumme hätte'. Oder man nehme die folgende ein-
fache Anerkennung: 'Einige Waldbäume sind Koniferen', wodurch bloß
die Existenz wirklicher Koniferenwaldbäume anerkannt wird. Der Aus-
druck dieser einfachen Urteile ist einem kategorischen Satze täuschend ähn-
lich, und zwar nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren Form
nach. Wir haben beim Aussprechen symbolisch oder bildlich die Vorstel-
lung des Prädiziertwerdens einer Bestimmung von einer anderen anerkann-
ten. Zuerkennen und Absprechen war häufiger als einfaches Anerkennen
oder Verwerfen, und deshalb wurden auch die Urteile letzterer Art in der
Form der ersteren — mit ihrer syntaktischen Gliederung Subjekt-Prädikat
— ausgedrückt.
Die Übertragung der kategorischen Syntaxe auf einfache Anerkennung
dient in hohem Maße dazu, in angenehmer Weise die Aufmerksamkeit zu-
nächst auf die Substanz zu lenken und von dort auf das Attribut. 'Einige
Blumen sind gelb' fordert auf, sich zuerst unter den Blumen umzusehen und
darunter gelbe wahrzunehmen. ('Es gibt gelbe Blumen' tut das nicht.) Da-
her ergibt sich auch so leicht die Täuschung, es sei hier nicht nur äußerlich
und innerlich die Form von Subjekt und Prädikat, sondern auch wirk-
liche Zu- oder Absprechung einer weiteren Bestimmung an etwas bereits
Anerkanntes vorhanden.
Bei 'Es regnet' ist die Entfremdung zwischen Aussageform und Bedeu-
tung noch viel weiter gediehen. Hier liegt keine prädikative Vorstellung
zugrunde. Der Schein der Kategorie entsteht, indem ein Verbum finitum
in der 3. Person Singularis die Täuschung erweckt, als ob es ein pronomi-
sches Subjekt und ein verbales Prädikat involviere, während es bloß den
Namen eines Vorganges nebst dem Zeichen der Anerkennung oder Verwer-
fung involviert (es regnet). Bei 'Gott ist' ruft ein scheinbar bedeutungs-
volles Verbum, das in Wahrheit zu einem Zeichen der Anerken-
nung resp. Verwerfung herabgesunken ist, den Anschein
hervor, als ob es als Prädikatsname zu einem Subjekt hinzukomme. Unser
'bin, ist, gewesen' ist wohl aus einem wirklichen Prädikatsbegriff wie
Stehjen, Sitzen, Wachsen usw. hervorgegangen, dann zur Bedeutung des
bloßen Seins im Sinne des Anerkannt wer denkönnens verblaßt.
f
Boiirteihingen und kurze Anzeigen 105
Neben die pseudokategorischen Sätze, die thetische (d. h. einfache) Ur-
teile in ungewöhnlicher Form ausdrücken, stellen sich gewisse dis-
junktive und hypothetische Sätze. 'Entweder gibt es einsichtige
Urteile, oder es gibt keine Wissenschaft' — 'Wenn es keine Evidenz gibt, so
gibt es keine Wissenschaft'. Hier stehen wir vor einer einfachen Anerken-
nung^ resp. Verwerfung^, und nur in der Materie liegt eine Komplikation vor
gegenüber einfachen Urteilen wie 'Es gibt evidente Urteile'. Diese disjunk-
tiven und hypothetischen Sätze — wobei ein Urteil über eine disjunk-
tive Materie stets affirmativ, ein Urteil über eine hypothetische
Materie stets negativ ist — haben weder logisches Subjekt noch Prädi-
kat und sind wie die Impersonalien usw. subj ektlos.
Einigen wir uns dahin, daß wir sagen: 1. Impersonalien, Existential-
und kategoroi'de Sätze sind thetische Aussagen mit pseudo-
kategorischer Form — 2. Subjektlose, disjunktive und hypothetische
Sätze sind thetische Aussagen mit konjunktiona 1er Form
(d. h. hier ist der anerkennende oder verwerfende Charakter nicht durch den
Schein des Zu- und Aberkennens, sondern durch eine eigentümliche Kon-
junktion der Satzglieder ausgedrückt). Unbeschränkte Anwendung hat der
Existentialsatz, der für den Inhalt jedes kategoroiden und impersonalen
Satzes, für jedes in einer disjunktiven oder hypothetiscben Aussage liegende
Urteil den Ausdruck geben kann. Das engste Anwendungsgebiet hat die
impersonale Formel, die im Deutschen besonders stark vertreten ist. Sache
des Grammatikers ist es, festzustellen, welche Sprache diese, welche andere
Sprache die andere Form anwendet.
Was hat der Philologe von diesen sprachphilosophischen Betrachtungen
zu lernen? Gewiß sehr vieles, wenn ihm ein voll ausgebautes System der
Urteilslehre vorläge. Hier haben wir es mit einem ganzen Werke über die
subjektlosen Sätze zu tun. Eine Urteilslehre würde eine ganze Bibliothek
umfassen, und ans dieser Bibliothek ließe sich mancherlei herausdestillieren,
was für den Sprachforscher Betätigung verheißt. Dabei wird er sich aber
nicht auf eine Sprache oder eine Sprachgruppe beschränken dürfen, sondern
er wird über den Kreis der europäischen Sprachen hinausgehen müssen,
um hier Übereinstimmung, dort Diskrepanz zwischen Urteil und Aussage
feststellen zu können. Marty muß das auch tun, um mit ein paar spär-
lichen Beispielen aufwarten zu können.^ Er greift zu Misteiis bekanntem
Buche 'Typen des Sprachbaues'. Gelegenheit zur Anwendung der Marty-
schen Ergebnisse hat noch am ehesten der Dialektforscher, der beobachten
kann, wie der Trieb nach Mitteilung die Möglichkeiten der 'inneren Sprach-
form' bewußt, aber planlos ausbeutet. Vorsicht gebieten dem Sprachforscher
die Uneinigkeiten unter den Sprachphilosophen. Der eine oder andere
Philologe hat schon versucht, sich Wundts Führung anzuvertrauen. Marty
aber widerlegt so oft — vielleicht mit Recht — den berühmten Leipziger
Psychologen. Wir aber fragen doch : Wo liegt die Wahrheit? Am Ende ist
das Beste, was uns Marty hinterlassen hat, seine feine, gesunde Methode.
Der Philologe wird sie anwenden, um das Brauchbare sich selber zu
schmieden.*
z. Z. Basel. Bernhard F e h r.
1 Sowohl A als B sind.
^ Die Existenz von A ohne die Existenz von B ist nicht.
* Wie oft seufzt man über Martys abstrakten Ausführungen, wo ein ein-
ziges Beispiel erlösend wirken würde!
* Wie weit Martys sprachphilosophische von der philologischen Erörte-
rung abweicht, zeigt ein Vergleich der Martyschen Abhandlung über die
subjektlosen Sätze mit K. Brugmanns lichtvoller Arbeit: 'Der Ur-
sprung des Seh ein Subjekts "es" in den germanischen und romani.schen
106 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Alice Weil, Die Sprache des Gilles de Chin von Gauthier de Tour-
nay (Laut- und Flexionslelire) . Dissertation. Heidelberg
1916. 124 S. 8^
Das wichtige Buch von Canaille Li6geois über 'Gilles de Chin, l'histoire
et la lögende' 1 hat Fräulein Alice Weil leider nicht gekannt und natürlich
auch nicht seine Besprechungen. Infolgedessen ist ihr Urteil über die Ver-
fasser- und die Zeitfrage willkürlich und unsicher. Während Liögeois die
'Histoire de Gilles de Chin' für ein einheitliches Werk hält, nur daß Gautier
de Tournay für die Darstellung der Kreuzfahrt des Helden ein älteres und
kürzeres Gedicht von Gautier le Cordier benutzte und überarbeitete, haben
J. Pirson, Zts. f. frz. Sprache u. Lit. 27 II 40 ff. und ich selbst in diesem
Archiv CXIII 447 ff. übereinstimmend, obschon mit verschiedenartigen
Gründen, nachzuweisen gesucht, daß nach V. 4903 eine wirkliche Kluft ist
und ein neuer Mann eine neue Darstellung beginnt.^ Noch weiter ist Ernest
Langlois, Bibl. de l'ficole des Chartes LXV (1904) 203 ff. gegangen: nach
ihm sind die Verse 4904 — 5487 von einem Unbekannten interpoliert, die
letzten Verse 5488 — 5543 gehören wieder dem Verfasser der Verse 1 — 4903;^
dieser, der eigentliche Dichter, nennt sich selbst V. 5528 und 5538 Gautiers
de Tornai, wird aber von dem Interpolator V. 4904 Gautiers li Cordiers
genannt und ist somit ein Gautier le Cordier aus Tournay. Die Ansicht
des französischen Gelehrten halte ich jetzt für unbedingt richtig. Auch
Frl. W. neigt, wie sie in ihrer ziemlich flüchtigen Einleitung* gesteht, der
Annahme von zwei Teilen und zwei Verfassern zu, zieht aber nicht die
selbstverständliche Folgerung, daß sie die beiden bei der Untersuchung der
Sprachen' (Berichte über die Verhandlungen der Kgl. sächs. Ges. der Wissen-
schaften zu Leipzig, phil.-hist. Kl., Bd. 69, Heft 5, 1917).
Es wird von beiden Gelehrten mehrfach das gleiche vorgetragen, aber
in zwei ganz verschiedenen Zunftsprachen — verschiedene Form bedeutet
noch lange nicht verschiedenes Denken! — , wobei allerdings Brugmanns
Idiom uns das verständlichere ist. (Vgl. besonders Brugmann S. 8 und
24 — 25.) Die H i n z u t r e t u n g des 'es' bei den Impersonalien — und
um eine solche handelt es sich im Germanischen und Romanischen; denn
einem 'es regnet' steht im Gotischen noch ein rigneip (ahd. regenöt) gegen-
über — entspricht auch nach Brugmann der Befriedigung nicht eines
semantischen, sondern eines formal syntaktischen Bedürfnisses (Martys
'innere [syntaktische] Form'!). Das 'es' in 'es regnet' ist — sagt Brug-
mann — ganz undeiktisch. (Marty sagt: Hier involviert 'es regnet'
nicht pronominales Subjekt und Verbalprädikat, sondern bloß den Namen
eines Vorgangs nebst dem Zeichen der Anerkennung) . — Martys Erkenntnis :
'Verschiedene Form bedeutet noch lange nicht verschiedenes Denken' steht
bei Brugmann als hübsches Gegenstück zur Seite: 'Gleiche Form bedeutet
noch lange nicht gleiches Denken' mit dem schönen Beispiel: Es brennt:
1. auf der Straße gerufen, mit undeiktischem 'es' (nach Marty: An-
erkennung eines Vorgangs in pseudokategorischer Form) ; 2. im Zimmer
gesprochen, im Hinblick auf das Ofenfeuer mit außendeiktischem
'es' (Marty würde sagen: kategorisches oder Doppelurteil und damit sich
deckende kategorische Syntaxe).
1 Universite de Louvain. Recueil de travaux publi6s par les membres
des Conferences d'histoire et de philologie, lle fasc, Louvain-Paris 1903.
2 Ph. Aug. Becker, Literatiirblatt 1904, 109 ff. hat die Grenze anders
gezogen, mich aber keineswegs überzeugt.
" 3 Langlois meint übrigens S. 208, man müsse auch in Gautiers Anteil
mit der Möglichkeit unbedeutender Interpolationen rechnen.
« S. 7 verwechselt sie sogar Gröber mit H. Suchier!
Beurteilungen und kurze Anzeigen 107
Sprache, und wäre es auch nur zur Probe, auseinanderhalten müßte — und
sie kann es auch ohne auffallende Widersprüche unterlassen. Der Unter-
schied ist eben, soweit die Laut- und Formenlehre in Betracht kommt, ganz
gering; er zeigt sich aber in der Stilistik und der Reimtechnik wie in der
Auffassung und Darstellung. Die Herkunft Gautiers ist durch seinen
Namen gegeben, und auch der Interpolator stammt zweifellos aus derselben
Gegend. Als Abfassungszeit bezeichnet Frl. W. mit dem Pierausgeber, dem
Baron de Heiffenberg,i das Ende des 13. oder den Anfang des 14. Jahr-
hunderts. Das ist viel zu spät. Ich habe hier ausgesprochen (S. 451), daß
Gautier le Cordier etwa im letzten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts gewirkt
habe, der Interpolator, wie ich heute sagen würde, gewiß noch im ersten
Drittel des folgenden. Von dieser Datierung abzugehen habe ich keinen
Grund; im Gegenteil, ich finde sie durch die Betrachtung der Sprache und
namentlich der Deklination bestätigt.
Mit großem Fleiße hat Frl. W. für die Untersuchung ein umfangreiches
und brauchbares Material herbeigeschafft. Die richtige Beurteilung wird
freilich durch mehrere Mängel erschwert. Zunächst durch jene Gleichgültig-
keit gegen die Verfasserfrage. Sodann steht sie der veralteten Ausgabe,
die auf Schritt und Tritt zu Besserungen auffordert,^ nicht kritisch genug
gegenüber. Endlich nützt es wenig, daß sie sich, theoretisch klarmacht, daß
die späte Hs. (1571) die Sprachformen des Originals unvollkommen wieder-
gibt: sie hätte schärfer zwischen Schreiber und Dichter unterscheiden und
zu dem Zweck die Reime und die Ergebnisse der Silbenzählung mehr heraus-
stellen sollen. Man wird gleich sehen, daß die Sprache bei ihr in einigen
Punkten geradezu jünger erscheint, als sie in Wirklichkeit ist.
Nun eine Reihe einzelner Bemerkungen. (Ich bezeichne hierbei das inter-
polierte Stück mit J.) S. 12 ff. Die Verfasserin beginnt mit einem kurzen
Abschnitt 'Metrik', der von Reim und Silbenzählung handelt und besser mit
den späteren §§ 38 und 39 'Vokale in Hiatusstellung' verschmolzen worden
wäre, aroute : some 3363 ist keine Assonanz; die Ausgabe hat richtig
aroute : sonne. Unter den mit sich selbst reimenden Wörtern durfte nicht
roi 2547 genannt werden ; denn nur das erste roi kommt von regem, das
zweite von germ. r e d s ; 1. garir ne sevent roi. Die Liste der Verse, die um
eine Silbe zu kurz sind, ließe sich stark vermehren, und die vorgeschla-
genen Besserungen sind nicht alle glücklich. V. 1830 1. Mais Gilles de Cyn
nequedent (Hs. quident), Son oirre atorne, 1858 Ensi que anuit [ains) le de-
maine, 3951 Si n'avoifenjt autre desir, 4046 Molt i laiss[ier]ent grant tresor.
Vokalismus. S. 17. Interessanter als die Schreibung escherpe sind mir
esprds : pres 5214 J, die offenbar für espers (s p a r s u s) und pers (partes^
stehen, gaignons 2152 ist das Substantiv 'Hofhunde'; es ist also kein vor-
toniges Hiatus-a verstummt. Ein anderes Beispiel bringt Frl. W. nicht.
Man könnte aus J zweisilbiges gaagniet 5475 anführen, wird aber vorziehen,
1 Monuments pour servir ä l'histoire des provinces de Namur, de Hai-
naut et de Luxembourg. recueillis et publies . . . par le baron de Reiffen-
berg, t. VII, Bruxelles 1847.
2 V. 925 ist besonders merkwürdig und komisch entstellt. Bei einem
Turnier in Maastricht ist auch der Graf von Jülich erschienen. Ainc hom
ne Vit si hon tornoi. Li quens de Julers Adefroi Assanle a iaus o sa baniere.
Tont le tornoi remet arriere Dusqu'au tnsquet de la sapoie. Hierzu bemerkt
Reiffenberg: On ne sera pas surpris qu'aucun comte r4el de Juliers ne se
soit appele ainsi, und Liögeois, der S. 26 mit gutem Recht ausführt, daß die
meisten Nebenpersonen sich nicht identifizieren lassen, weil der Dichter über
sie keine bestimmten historischen Kenntnisse habe, benutzt triumphierend
diese Stelle, um die ignorance des Ärmsten festzunageln. Es unterliegt aber
keinem Zweifel, daß einfach a desroi zu lesen ist.
108 Beurteilungen und kurze Anzeigen
zu lesen Qtii gaagniet ot, sü (statt si Ic) tint chier Li dus. — Der § 2
'Palatal + a' ist zu kurz. Nachträge stehen unter -ier S. 91, -iez S. 105,
-i4 S. 114. Gegen S. 112 ist auch -ierent zu belegen mit noierent 2491 : fie-
rent. Überhaupt scheint Bartsch' Gesetz durchaus befolgt. Ein Gegenbeispiel,
das mir aufstieß, beruht auf falscher Herstellung von V. 2272 a grans gres.
Ains que li m4s soit remis. Die Hs. hat angeblich reunies; 1. reniues. —
S. 19. Der Übergang von ai zu offenem e ist nur in geschlossener Silbe
vor s nachzuweisen. Zu den wenigen Belegen kommt a esUs 914 (gänzlich
mißdeutet) : aqjvds hinzu. Daß in mmifcz, litt das e nicht aus ai entstanden
ist, sollte die Verfasserin wissen. — S. 23. Dreisilbiges taierme 3605 für
terme, angeblich das einzige Beispiel für Diphthongierung von gedecktem
offenem e, ist kaum möglich; schon der Sinn verlangt an der Stelle fors a
tierme. Wenn die Erhaltung des vortonigen e von merite, menestreil usw.
berichtet wird, an der niemand zweifelt, war ein Wort über vrai für verai
erst recht angebracht. — S. 24. Daß in zweisilbigem eurent, peurent, seurent
voi toniges Hiatus-e verstummt sei, ist mir unwahrscheinlich; dreisilbiges
seurent 1615 ist abzulehnen, 1. Qu'il a preme[raijns ne le seurent. Zwei-
silbiges peussent 5141 steht in J, hingegen dust 3602 (s. S. 119) ist nicht
deust, sondern dut. — In § 8 '^fej -\- l -j- Konsonant' herrscht eine solche
Verwirrung, daß dieses wichtige Stück Lautlehre nicht zur Geltung kommt.
Es mag daher nachgetragen sein, daß außer iaus (illos; auch 543: damoi-
siaus) noch ceviax [capillos) 3595 : hiax begegnet. — S. 25. Zu den wenigen
Reimen, die i aus ^ -\- i beweisen, könnte man außer prise (pretiat) 5400
J : irise wohl fiere (fcriat) : ocicre (occidere) 3379 rechnen, wenn man es als
fire : ocire ansieht (doch refiere 5099 J : hieve) ; sonst müßte man ociere er-
klären wie viergc, cierge. ■ — S. 27. fiez 1617 ist nicht foiz, sondern fies. —
S. 33. Au Formen für 1 o c u m wird nur liu angegeben, das nicht im Reime
vorkommt; es war daher unbedingt Icu 726: leu (lupum) zu erwähnen. —
Der § 27 'lat. p' zeigt die Unklarheit und Unsicherheit einer Darstellung,
die nicht methodisch zwischen Reim und Schreibung unterscheidet. Folgendes
wäre etwa über das freie geschlossene o zu sagen gewesen. Die Schreibung
-or ist viel häufiger als -our, und -our häufiger als -enr. Im Reime begegnen
1. zu jor: jongleor 4689 (übersehen), zu jour: lionour, coulour, errour,
dolour (erwähnt), zu estor: poigneor 5520, 2. zu amor: sauveor, signor und
dolor 1894, zu amour, das mit jour reimt: verdour, dougour, valour und auch
1. Sg. Praes. Ind. demour, von der Verfasserin S. 98 vielleicht mit Recht als
Analogieform betrachtet. Danach nehme ich an, daß - o r e m auf dem Stand-
punkt -our stand, aber noch nicht zu -eur geworden war, da sonst die Reime
zu jour, estor und auch amour ausgeschlossen wären. Das einzige Beispiel
für -eur, das ich gefunden habe, ist vieleurs 449 : entr'eurs, d. h. eus (illos).
Bemerkenswert ist auch, daß sich aeurent (a d o r a n t) 2843 mit keurent
(zu courre) und demeure (sonst: eure 1844, seure 5056 J) mit sequeure
paaren, und wieder sekeurent mit eurent. - o s u s erscheint in der Schrei-
bung teils als -ous, teils als -eus. convoitous reimt mit votis, und dieses als
voz mit dous (dulcis) 2894. Demgegenüber kann hydeus 3751 : deus
(duos) nichts beweisen, wohl aber interessiert preus 1029 : menestreus;
a.uch die Schreibung scheint stets preus zu sein, nur bezeichnenderweise
prous 403 : cevalerous. sous (solus) reimt in J mit dessous 4953. Die Zahl
der Reime von ou aus o -\- l vor Konsonant mit ou aus sonstigem gedecktem o
ist größer, als man nach S. 39 denken sollte. — S. 41. Zu un möchte ich auf
V. 5072 J verweisen: desevres Et desaamez et dcspars, wo wahrscheinlich
desaounez herzustellen ist, also u für ü. — S. 42. Wenn in V. 1491 le conie
de Ostarde voit das de nicht elidiert ist (aber V. 870 li quens d'Ostarde), so
mag das daran liegen, daß HocJistaden ursprünglich durch Hostarde wieder-
gegeben war. — S. 44 ff. An die Elision eines -es vor Vokal glaube ich nicht.
V. 37 grovdez espaulez et pis U ist kein Beispiel; eust 5238 J ist bestimmt
I
Beurteilungen und kurze Anzeigen 109
— eut, 1. S'eut ü tant plaiez et pointurez En cors, cn ners; 4767 würde ich
lieber tornes einsetzen. — Daß e in ajue 4190, joie 332 verstummt wäre, ist
irrig. Auch ist das mittlere e von tornoiement in der Lesart der Hs. V. 4732
mitgezählt. (Die Änderung des Herausgebers war überflüssig, aber in den
beiden vorhergehenden Versen muß man eine kleine Umstellung vornehmen :
Si vinrrent as rens tout ensartiMe. Mesire Gilles, ce me sanle, Asanle le
tornoiement.) — Die sieben Fälle von 'Diärese' sind alle zu streichen, brisie
640 ist hrisie, ebenso envoiez 1703 m envo'iez, puie 477 =3 ptih : apuie; puest
4347 -=z peust, pncut 4834 < potent bieten metrisch keine Schwierigkeiten;
iert 482 fasse ich als i ert auf; V. 321 hat schon Reiffenberg Dont il i avoit
(Hs. ot) a fuison gebessert. Umgekehrt kommt zweisilbiges nient oft
genug vor.
Konsonantismus. S. 47. ostez 5079 J : costez wäre das einzige Beispiel
im Reime für Sehwund des l nach e aus a; es handelt sich aber um
Ostes : cöstes. — S. 48. Übergang von gl -\- Konsonant zu au zeigt wahr-
scheinlich auch saus (soldos) 2961; wenigstens vermute ich, daß die rich-
tige Lesart ist faitez prendre vers cendax Pour a couster plus de eent sax
(fax). — S. 54 ff. Zu c § 46 und 47 vermisse ich die richtigen Reime
lance : hrance 4418 und lance (Hs. mance) 640, acointance 605, connissance
1055 : mance 'Ärmel', tence : detrence 5414 J, justice : rice 3639, Anthioce :
force 'Gewalt' 3843 und face (f aciat) 139 : sace (sapiat), nicht face, wie
Hs. und Ausgabe haben. — S. 63. Für Erhaltung eines isolierten t im Aus-
laut zeugt auch ein zweiter Reim, nämlich liet (1 actum) 1366 : sie*
(sedet). ■ — S. 64. Für Verstummen von s vor stimmhaftem Konsonant
führt die Verfasserin den Reim septimes : witismes an, der natürlich nichts
besagt; dagegen fehlt ihr (Imper.) ditez : venistez 3218, wo s vor t gefallen
ist. — Verstummen von s im Auslaut beweist nicht einer der S. 65 paradie-
renden Reime. Statt dis 11 : Rcmi ist die alte Form cZi < d i c o einzusetzen,
ebenso 1565 N. Sg. morfs] : dcsconfors, 5237 J li hauhers fu sacie[z] : saciez
(sapiatis); aver 4:920 : laver hat nichts mit ad versus zu tun, schon
weil die beiden e nicht reimen würden, ist vielmehr avarum; 4536 sali
en pied: ne fu pas lies ist en pi^s zu bessern. — S. 67. imdent, d. h. vuident
5422 J : cuident ist kein Beleg für v > ic.
Die alte Deklination ist ausgezeichnet erhalten. Die wenigen Ausnahmen,
die Frl. W. S. 69 anführt, sind nur scheinbar, ramenteu 500 : veu ist Neu-
trum, sacie wurde eben richtiggestellt, N. Sg. venu 4658 steht im Versinnern.
Anderseits finden sich tatsächlich einige Fälle, die sich teils sofort als
Fehler des Abschreibers herausstellen : 2068 N. PI. chevalierfsj : haisier, teils
mit einiger Gewalt zu beseitigen sind: 3885 N. PI. miller(s) : chevalierfs),
3044 1. est ... voisin[s] : Sarrazin [s], und wohl auch 1907 1. haitie[zj als
N. Sg. : por ses pitiez (Hs. sa pitie) , teils eine besondere Erklärung ver-
langen. — S. 71. Daß conte für quens, signor für sire eintreten könnte, be-
weist keine der 4 bzw. 10 (!) Stellen, auch nicht V. 1043. wo an castel Le
gentil conte de Duras. Venus estoit zu interpungieren ist. — S. 72. Analoges
s im Obl. Sg. von Femininen der ehemaligen lateinischen III. Deklination
beruht nur auf Einbildung, verites 555, pities 3181 sind Nominativ, und
nmistez 2893 ist Plural. — • Auch geht aus den Beispielen nicht hervor, daß
der Obliquus als Vokativ gebraucht würde: signor ist stets N. Plur., über
rni 2548 habe ich eben gehandelt, statt amis ist 2464 zu lesen A nus n'en
set conte tenir.
Pronomina. S. 81. Für Im' soll man einige Male li tr'-ffen. In Wirklich-
keit ist li da Femininum. Auch kann keine Rede davon sein, daß für den
Singular il 'häufig' i stünde oder gar (S. 82.) für den Plural: denn von den
Belegen ist höchstens fait i 1086 in Erwägung zu ziehen.
Die Konjugation ist ausführlich und ansprechend dargestellt. S. 102. In
der 1. Sg. Praes. Ind. von I überwiegen nach Frl. W. durchaus die c-losen
110 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Formen. Das ist noch zu wenig gesagt. Von den aufgezäiilteu Foriuen
mit e ist nicht eine gesichert, dcmeiire 4969 J steht vor Vokal; presenle
5250 J : rente ist Konjunktiv; die übrigen sind 3. Sg. Praes. Ind. — S. 106.
Auch die Statistik der Formen des Sg. Praes. Konj. in I stimmt nicht. An
ält/eren Formen ohne e führt die Verfasserin ein halbes Dutzend an, wozu
mindestens noch hinzukommen consant (consiliet) 838 und 2015 : f mit
und avoit 1704 (zu avoiier, Text amoit, Hs. amit) : avoit (habebat). Von
den jüngeren mit e, die in der Mehrzahl sein sollen, la.sse ich nur 1. Sg.
abasse und presenie (in J), zögernd auch 3. Sg. mesvoie und esgarde gelten;
mainiete 3118 ist verlesen für malmete. — S. 107. mele 123 ist met le, fran-
zisch la, wie Reiffenberg richtig erkannte. — S. 117. dcstroit hat nichts mit
destruire zu tun, und S. 121 vaus 1257 (v all es) nichts mit valoir.
Königsberg i. Pr. A 1 f r e d P i 1 1 e t.
E. Gamillsclieg und L. Spitzer, Die Bezeichnungen der Klette im
Galloromanischen. Mit einer Karte. Halle, Niemeyer, 1915.
(Sprachgeographische Arbeiten. 1. Heft.)
Ich habe kürzlich im Archiv ^ in schematisierender Weise festzustellen
versucht, wie sich die onomasiologischen Verhältnisse in einem kolonisierten
und sprachlich überwältigten Lande gestalten. Wenn wir die dort ge-
wonnenen Gesichtspunkte auf die Bezeiehnungsgeschichte der Klette (Lappa)
anwenden, so können wir sagen:
1. Es ist wahrscheinlich, daß die Klette in den vor romanischen Sprachen
und Mundarten Frankreichs nicht einheitlich benannt war; denn als Un-
kraut hatte sie keinen, als nicht angebaute Heilpflanze, soviel sich nach den
Angaben von Gamillscheg und Spitzer vermuten und soweit sich das histo-
risch Festgestellte auf die vorromanische Zeit übertragen läßt, nur einen
verhältnismäßig geringen Verkehrswert. Dazu kommt, worüber sich die
Verfasser nicht genügend Eechenschaft abgelegt zu haben scheinen, daß die
Klette, wenn wir auch hier die heutigen Verhältnisse in die Vergangenheit
projizieren dürfen, nicht überall in Frankreich vorkam oder häufig genug
auftrat, um allgemein beobachtet und benannt zu werden. Die Karte b a r -
d a n e des Atlas linguistique zeigt im Nordwesten und im Südosten Nord-
frankreichs zahlreiche Fragezeichen, die vereinzelt auch anderswo vorkom-
men, aber in Südfrankreich vollständig fehlen.^
2. Es ist aus den oben angeführten Gründen nicht anzunehmen, daß das
lateinische lappa, vorausgesetzt, daß dies überhaupt der einzige importierte
Name der Klette war, überall in Frankreich bekannt wurde. Es ist viel-
mehr zu vermuten, daß einerseits vorromanische Namen der Klette, wo
solche vorhanden waren, sich zum Teil recht lange erhielten, daß anderseits
die Neubenennung mit lateinischem oder anderem Sprachmaterial gleich
einsetzte und daß erst im Verlaufe der Entwicklung die offizineile Ver-
wendung der Blätter, Früchte und Wurzeln der Klette von gewissen Kultur-
1 136 (1917), 109 ff.
- Ich selbst kenne, trotzdem mir die Flora von Bern und Umgebung
ziemlich gut vertraut ist, Lappa nicht, wohl aber Galium aparine, das hier-
zulande den Namen Klette trägt, und von dessen Früchten jedes Kind
weiß, daß sie an den Kleidern hängen bleiben. Fischer, Flora von Bern und
Umgebung, bezeichnet Galium aparine als gemein, Lappa major und minor
als hie und da vorkommend. Das stimmt durchaus zu den Fragezeichen des
Atlas im schweizerischen Mittelland. Für den Jura allerdings gibt Ch.-M.
Godet, Flore du Jura Lappa, und zwar speziell Lappa minor, als sehr ge-
mein an.
Beurteilungen und kurze Anzeigen 111
Zentren aus die Bildung von kleineren oder größeren einheitlichen Be-
nennungsgebieten ermöglichte. Im letzteren Falle handelt es sich um mehr
oder weniger gelehrte Mediziner-, Apotheker- und Drogistenausdrücke wie
hardane, napolier, herhe mix teigneux, houülon noir usw., wohl auch läppe,
neben denen sehr wohl lokale Bezeichnungen weiterbestehen konnten. i
Es werden somit schwerlich je in Frankreich (das gilt besonders für
Nordfrankreich) so ausgedehnte einheitliche Benennungsschichten existiert
haben, wie sie Gamillscheg und Spitzer rekonstruieren möchten. Wenn sie
auch S. 76 sich gegen den Vorwurf verteidigen, bei der Rekonstruktion einer
nordfranzösischen k 1 e 1 1 o - , einer südfranzösischen 1 a p p a - Zone den
absichtslos gesammelten Materialien Gewalt angetan zu haben, so liegt doch
eine nicht zu billigende petitio principii darin, daß sie z. B. S. 34 sagen, es
ialle schwer, in dem Vielerlei, das der Norden Frankreichs heute für die
Bezeichnung der Klette biete, die ehemalige Einheit zu erkennen.
Im übrigen haben die Verfasser den die Aufgabe der Interpretation un-
gemein erschwerenden Doppelcharakter der Karte bardane richtig er-
kannt: die Karte weist größere zusammenhängende Benennungsgebiete auf
oder verrät ein mehr oder weniger zusammenhangloses Wuchern lokaler Be-
nennungen, je nachdem bei der Namengebung der offizielle oder der Unkraut-
charakter der Pflanze im Vordergrund stand, je nachdem sie allgemein be-
kannt oder wenig beachtet war. Da, wo sich größere Gebiete feststellen lassen,
suchen die Verfasser aus ihrer Form und Lage Rückschlüsse zu ziehen. Über-
zeugend weisen sie nach, wie in Südfrankreich die Verwendung des Stammes
läpp- für die Bezeichnung der Königskerze und des Sauerampfers die Ver-
wendung für die Klette ausschließt oder zur Anfügung unterscheidender Suf-
fixe und Zusätze zwingt. Sie zeigen an einer Reihe von instruktiven Bei-
spielen, daß, wie Gilliöron seit Jahren lehrt — auch der tüchtigen Arbeit von
Merian 2 über die französischen Namen des Regenbogens sei in diesem Zu-
sammenhang gedacht — , die Volksphantasie nicht so unabhängig schöpft, wie
man oft glauben möcht«. Der Anstoß kommt vielmehr häufig von außen, sei
1 Es ist für die Methodik der Pflanzennamenforschung von Wichtigkeit,
sich daran zu erinnern, daß nur eine sehr beschränkte Zahl von Pflanzen-
namen allgemein bekannt sind. Die einheimische Tradition wird zum
großen Teil durch einheimische Pflanzenkenner aufrechterhalten, die sich aus
beruflichen Gründen oder aus Liebhaberei besonders dafür interessieren.
Anderseits kennen gerade solche Leute auch nichteinheimische Ausdrücke.
Daher das Nebeneinander von lokalen und provinziellen oder schriftsprach-
lichen Benennungen und ein häufiges Abweichen von der lokalen Laut-
gebung. Vgl. z. B. in P. 150 u. 69 (lothringisch) der K. bardane ein
queue de renard, das mit den einheimischen Reflexen von queiie nicht über-
einstimmt. Für Huflattich gibt Haillant, Essai sur un patois vosgien S. 574
neben lokalem [tacon] ein provinzielles taconnet (vgl. Atl. K. 1345 tussi-
lage) etc. Umgekehrt verzeichnet der Atlas für Klette das doch wohl recht
vrbreitete herle aux teigneux nicht. Sprachgeographisch äußern sich diese
Verhältnisse darin, daß die Beneiinungsgebiete bei Pflanzen in viel höherem
Maße übereinandergreifen als anderswo, und daß die Kontakterscheinungen
hier besonders häufig auftreten.
Wo die dialektische Tradition überhaupt unsicher geworden ist, leidet
die Pflanzenbenennung natürlich besonders stark. Den etwas simplistischen,
eine wissenschaftliche Untersuchung ausschließenden Ausspruch von Bruneau
[T^a, limite des dialectes wallon, champenois et lorrain en Ardenne, S. 13)
'Presque toutes les plantes sont nommßes au hasard' werden aber doch wohl
Gamillscheg und Spitzer nicht ganz ernst nehmen, trotzdem sie ihn S. 34
zitieren.
2 Basler Diss. Halle 1914.
11- Beurteilungen und kurze Anzeigen
es, daß die nietaphorisclie Bezeichnung des Nachbar dialekts nachgeahmt, ver-
gröbert oder übertrumpft wird {Wolfskamm für 'Weberkarde' zieht Katzen-
kamm, Schweinekamm, Zaubererkamtn; Wolfskamm für 'Klette' sogar
Hurenkamm nach sich;' das [tire-poüsY^- von P. 967 der K. bardane
wird zum [pouüle-poils] von P. 966*), sei es, daß die sinnlose Form des
Nachbars sinnvoll ausgedeutet (läppe zu nappe wegen der Form der Blätter,
iipolicr < napolier zu [appillei<r] wegen des Anhaft<>ns der Frucht) oder
eine an sich bedeutsame verdeutlicht oder korrigiert wird (nappe wird
durch fenilles de nappe ersetzt, das den Benennungsgruud deutlicher zum
Ausdruck bringt, nappe durch nappcron korrigiert), sei es, daß man in ein
formales Wortelement eine konkrete Vorstellung hineindeutet (peignelot
wird durch peigne au loup ersetzt), oder sei es endlich, daß die Identität
der formalen Elemente bei benachbarten Formen einen Zusammenhang an-
zunehmen zwingt (japisson, grattisson, coutisson, iourri-sson, gafaron).
Wenn wir bedenken, daß die Karte 112 (bardane, capitules de
bardane;) weder für die Klette noch für die Klettenköpfchen vollständig
ist, daß die Bezeichnungen für die Pflanze und diejenigen für ihre Blumen-
köpfchen zum Teil voneinander abweichen, zum Teil übereinstimmen, daß
die Klette wegen der Form und Größe ihrer Blätter, wegen ihrer offizinellen
Verwendung usw. mit anderen Pflanzen, die Köpfchen besonders wegen der
Eigenschaft des Anhaftens mit anderen Blumenköpfchen oder Früchten ver-
wechselt oder daß sie nach denselben Merkmalen benannt werden, daß end-
lich die oben angedeuteten geographisch bedingten Benennungsimpulse auch
von diesen im allgemeinen Habitus oder in einzelnen Merkmalen der Klette
ähnlichen Pflanzen ausgehen können (so von Galium aparine und Dipsacus
fullonum) — wenn wir das alles überlegen, so haben wir eine Idee von den
Schwierigkeiten, die sich der Interpretation der von den Verfassern ge-
wählten Atlaskarte entgegenstellen, und werden es begreiflich finden, wenn
sie nicht überall zu einer befriedigenden Lösung gelangt sind. Daß einzelne
Fragen auf verschlungene Nebenpfade führen, wird unten bei der Be-
sprechung von [Uetter] angedeutet. Wie weit man bei derartigen Arbeiten
im Aussprechen von Vermutungen gehen soll, die mehr von dem lebhaften
Geist und von der neugierigen Kombinationsgabe der Verfasser zeugen, als
daß sie sich auf beweiskräftige Argumente stützten, mag Geschmacksache
sein. Ich hätte wohl manches beiseite gelassen, was mehr geistreich als
überzeugend ist, unterlasse es aber, in den nun folgenden Einzelbemerkungen
all die Fragezeichen zu kommentieren, die ich an den Rand meines Re-
zensionsexemplars gesetzt habe. Ich könnte sonst leicht in Versuchung
kommen, Erklärungen vorzuschlagen, die ebenso subjektiver Natur wären
wie manche unter denen der Verfasser.
Zu S. 7. P. 339 der Karte bardane (nicht 359!) besitzt bardön
f. r= bardane, vgl. K. 376 b e 1 1 e d a m e : b el dö m,. Mit dem bardona von
Diefenbach hat also die Form nichts zu tun, und die Vermutung eines
bardon nach chardon ist gegenstandslos.
Zu S. 10. Über die Glossengeschichte von glis, glitis 'Klette' möchte
man gern mehr erfahren. Das Wort klingt merkwürdig an glettcron au.
S. 14. Daß nappe 'Tischtuch' der Fortexistenz von nappe 'Klette' ge-
schadet habe, ist doch wohl kaum anzunehmen. Die beiden Begriffe stehen
zu weit voneinander ab, als daß sie zu Konflikten Anlaß gäben.
Zu S. 19, Anm. 1. Warum das lapi von P. 976 der Karte bardane
etwas anderes sein soll als 1 a p a t h i u m resp. mit Einmischung von
lappai lappathium oder mit Suffixtausch lappaceum, ist mir
' Ga. u. Spi. S. 51. 2 in eckigen Klammern französierte Dialekttypeu.
3 Vgl. Cerlogne 231 pieille 'lausen'.
i Wegen der lautlichen Entwicklung von -athium (resp. -aceum)
Beurteilungen und kurze Anzeigen 113
nicht verständlich, lape, lapi, läpe 'Eumex' ist in den frankoprov. Mund-
arten der Westschweiz weitverbreitet, vgl. Atl. K. 1657 patience. Bri-
del 219 lamp6, läppe, Odin. Blonay 310 läpe (waadtl. volksfranz. läpe),
Vionn. 161 lape. lape habe ich auch in Leysin notiert. Hierher wohl auch
das hipc in P. 60 der Karte 206 c61eri. Apium erscheint im Wallis
und im Aostatal als apio. Vgl. Atl. ling. K. 206 celeri, Bridel 15 und
Cerlogne 80 apio, Leysin und Blonay afso.
Zu S. 27. Ob das [patterassc {faierasse)] der K. molene, das [pattes]
i. pl. der Karten tussilage, molene und bardaue ursprünglich,
« ie Gamillscheg und Spitzer meinen, von patte 'Tatze' oder, wie v. Wart-
burg, Litbl. f. germ. u. rom. Phil. 37 (1916) 123 vermutet, von patte 'Lum-
pen' ausgehen, ist ohne ein eingehenderes Studium, vor allem der Karte tus-
silage und speziell des Typus pas d'änc und seiner Abkömmlinge, kaum
zu entscheiden. Heute wird patte in den Namen der genannten Pflanzen
offensichtlich teils als 'Pfote', teils als 'Lumpen' aufgefaßt. Bemerkenswert
ist der Parallelismus zwischen dem [fniilles de nappe] der Karte b a r -
d a n e und dem [fctiilles de patte] der Karten m o 1 ö n e (P. 933) und t u s -
Silage (P. 942), dem [feiiille de tacon] der Karte tussilage (P. 130),
die alle die Großblättrigkeit der fraglichen Pflanzen als charakteristisches
Merkmal auffassen,^ geradeso wie das lothr. tacon und das frkprov. taconnct
'Huflattich' 2 zu tacon 'Flicken', wobei man beachte, daß taconnet von einem
patte-Kranz umgeben ist.
Zu S. 29. Ich habe in Pral, d. h. in der Nähe von P. 982 (der übrigens
wie der stark französierte P. 972 und der stark piemontisierte P. 992 pro-
venzalisch und nicht südostfranzösisch spricht, wie immer wieder behauptet
wird) vapultje notiert. Von den Deformationen, die das Wort erlitten hat,
ist die volksetymologische Anlehnung an * p i 1 i a r e in P. 972 bemerkens-
wert. Das dort belegte apifiou ist =i [apptHet/r].^ [Appiller'] in der Be-
deutung 'ergreifen', 'kleben' etc. ist im Frankoprovenzalischen und in den
Westalpen verbreitet. Vgl. die Karten 1581 gluant (P. 978, 975, 963),*
389 d 6 n i c h e r (P. 979) des Atlas ling.^, Fankhauser, Val d'Illiez 141,
Anm. 2 apdRi, Cerl. Valdost. apeille, Const. u. Des. sav. apQÜe etc.. Brächet
sav. appellier, Puitspelu lyonn. apio, vielleicht auch appeillir, Eavanat Gre-
noble appid, Mistral apiha, apilha ete.
Wenig überzeugend ist der Rekonstruktionsversuch eines französischen
* 1 a p p u 1 (1) a - Gebietes.*' Auch die Begründung des Typus * 1 a p p ü 1 (1) a
befriedigt nicht, napolier ist nur in den Waldensermundarten und in dem
Gebiete von Briangon (P. 971), das sprachlich gewöhnlich mit den Wal-
densermundarten zusammengeht, zuverlässig belegt. Die 7iapolier-Be\ege,
die anderswoher stammen, machen durchaus den Eindruck verschleppter
vgl. K. 171 bras. Die Eegelniäßigkeit der Resultate in der Schweiz spricht
für eine recht alte formale \'ernnschung von 1 a p a t h i u m und 1 a p p a.
Doch möchte ich die Möglichkeit der Erhaltung von p in lapathium
unter gelehrtem Einfluß nicht ausschließen.
^ Es ist übrigen.?) bezeichnend, daß sich Tschirsch in seinem Handbuch
der Pharmakognosie IT, 1, 218 veranlaßt sieht, die Unterschiede in den
Blättern dieser Pflanzen besonders festzustellen.
2 Vgl. napperon 'Klette' zu nappe.
* Formal wäre auch [appilloir] möglich; -atorem und -atorium
fallen in diesen Mundarten zusammen. Vgl. Arch. glatt. 11, 335 und Studi
romanzi 10, 33 f.
* In P. 955 (Savoie) hat wohl pede das Fragezeichen nicht verdient.
^ Vgl. [empiller] im Wallis auf der Karte 455 empoigner.
« Zugunsten der Verfas.ser sei noch auf P. 814 (H. Loire) grapuva der
Karte gratteron hingewiesen.
Archiv f. n. Sprachen. 139. 8
114 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Wörterbuchformen, die für eine sprachgeographische Untersuchung keinerlei
dokumenta.rischen Wert besitzen.
napolier finde ich bei Eob. Estienne, Dict. fr.-lat. 1549 nicht, sondern
erst in der Neuauflage von Thierry (1564,), und zwar ausdrücklich mit dem
Zeichen versehen, das die Beifügungen von 'M. Jehan Thierri & plusieurs
aultres sgauants personnages' andeutet.
Zu S. 31 f. Der geographische Zusammenhang zwischen den Typen
[lappeux],^ \lippeux], [limpeux] der K. 1581 gluant des Atlas ling., die
ihrerseits von lipa, lepa, lüpa 'lecken' (Mistral) nicht zu trennen sein wer-
den, verbietet, das Verbum lapper in der Bedeutung 'klebrig sein', wie wir
es im Champagnischen und Burgundischen finden.^ von lappa abzuleiten. 3
Dagegen mögen der Stammvokal und die sekundäre Bedeutungsentwicklung
'kleben' > 'ergreifen' (refl. 'sich an etwas machen' etc.), wie sie das Bur-
gundische und das Bourbonnais aufweisen,* dem Anklang an lappa zu
danken sein. Umgekehrt ist läppe 'Klette' im Bourbonnais wohl eben gerade
durch lapper gehalten worden.
Zu S. 32 ff. Den Abkömmlingen von drauoca sei beigefügt: Leysin
l9 drutse f. pl. 'Petasites vulgaris'.
Zu S. 38 f. Daß gletton auf frankoprov. Gebiet mit dem Typus [lietter],
[alietter] in Verbindung gebracht worden ist, unterliegt keinem Zweifel.
Zur Verbreitung von [lietter'\ mit der Bedeutung 'binden', 'anbinden', 'be-
festigen' etc. vgl. Atl. 767 Her les gerbes, Bridel 226 liettha 'tordre;
attacher, aecrocher', ebenda 200 hlletta, gletta, lietta 'tordre; prendre,
attraper; Her, attacher', H6r6m. 110 fieta, Vionn. 182 deta, Val d'IU. 142
detä, Leys. df •', Hätelin Freibg. 176 liettd 'saisir', Blon. 325 fittä, Const.
D6s. 249 lieta 'Her, attacher, coller'.
Mit Präfix ad-^: Bridel 10 allietta 'attacher. Her, coller agglutiner,
avoir de Tinclination pour quelqu'un', Odin, Blon. 12 afitd 'adhßrer, agglu-
tiner', dazu das Beispiel la fl tala l ah t ei-z äßö k ö pou pd s' e defer^ [la
liettelle eile aliette aux haillons qu'on peut pas s'en döfaire] ■= 'le grateroii
s'attache [de teile fagon] aux vgtements qu'on ne peut pas s'en dßfaire'.
Von den Ableitungen ist Leys. dttö 'Strick zum Anbinden der Kühe'
bemerkenswert, das zeigt, wie nahe Berührungspunkte gletton (gl"^ ä\)
mit [lietter'] hatte.
Das von Cornu zitierte lietäla 'Klette' (so, nicht lietdta ist S. 39 Anm.
offensichtlich zu lesen; korrigiere dort auch Nevey in Vevey) findet man
in dem oben aus dem Wörterbuch von Blonay zitierten Beispiel. Siehe dort
auch S. 325 unter fi 1 1 ala = 'IjoIcW und 'Klebekraut' (Galium aparine). Vgl.
Brid. 226 liettala s. f. 'glouteron, gratteron Galium aparine' (Lavaux).
Es ist der lautliche Übergang gl > ß, der gletton in den Bannkreis von
[fajlietter] gezogen und die Wortbildung neu angeregt hat. Die Typen
[{ajlietton'], [fajliette],'^ [liettelle] sind also, neben die k 1 etto- Formen
mit Einmischung von Verben wie gratter, gripper, grapper etc. zu stellen.
1 Dieses bei Tarbö II, 80 belegt, lipeux finde ich bei Möge, Souv. de la
langue d'Auv. S. 156 mit der Bedeutung 'gras, visqueux, gluant, filandreux'.
2 Vgl. Tarbg, Baudouin, Chambure. Barbier, Rev. l. r. 51, 273 zitiert
auch Laianne poitev. lapai 'saisir, empoigner, coller', was ich nicht kontrol-
lieren kann.
3 Nicht weit von dem lapo von P. 841 der K. 1 i m o n findet sich lipon.
Vgl. Mistral lajw, lapio, loupa 'boue, vase' etc., lapoun 'limon, vase', limpo,
limpoun in derselben Bedeutung.
* Chambure, Duchon, Choussy.
6 Von einer lautlichen Erklärung von a- in oihtö etc. kann nicht die
Bede sein.
ß [Uette] in P. 977 der K. 1584 gratteron; vgl. ähnlich neben einem
Beurteilungen und kurze Anzeigen 115
Das sav. agäeta 'englu6' und agßftä 'gluant' der K. 1581 gluant ge-
hört zu dem von Constantin und D6sormaux S. 11 aus derselben Gegend
verzeichnten agßota 'coller, accoupler, attacher', zu dem das zitierte Wörter-
buch iKjfiotö stellt — 'tete äpiueuse du chardon, de la bardone ou autres
plantos pemblables, dont les enfants aiment ä se servir comme projectile'.
Von dem eben erwähnten Verbum agfiata nicht zu trennen ist das ebenfalls
savoyische gßQta (Const. Dös. 207) 'attacher, accoupler, mettre sous le joug".
Daß der Anlaut gfi hier lautlichen Fluktationen zwischen gd und ß zu
verdanken ist, wird durch die Form gfiö 'Gemüse' (Const. Des. 208) nahe-
gelegt, anderswo Rö (Const. D6s. 249, vgl. Bridel 226 liong etc.). Doch ich
gerate in ein Dickicht, das zu lichten nicht Aufgabe einer Rezension ist.
Ich weise nur noch darauf hin, daß die Rückbildung von ß anscheinend bis
zu gl gehen kann; so erklären sich gUtaRe s. f.^ 'laniöre de cuir servant ä
assuj6tir le joug sur la tete des boeufs; cordon de cuir servant ä lacer la
ehaussure' (Const. D6s. 207) und agleti 'coller' (Const. D6s. 11), und es fällt
neues Licht auf den Anlaut von gloße, das man nun kaum mehr mit Gamill-
scheg und Spitzer S. 72 als Kontaminationsprodukt von gletö -\- loße wird
ansehen wollen. ^ Anderseits geht aus dem Gesagten hervor, daß nicht nur
ein sav. gReiö, sondern selbst ein gletion (P. 954 der K. bardane) das
Anhaften (T. lietter) als Vorstellungsbestandteil enthalten kann.
Was zu S. 41 — 45 anschließend an amarifolium gesagt wird, steht
größtenteils in der Luft.
Zu S. 44. Der Vergleich mit den Karten 552 fer und 1.371 ver zeigt,
daß es sich bei amel 'Galle' nicht um eine Kontamination am er -^ fiel, son-
dern um lautliche Entwicklung handelt.
Zu S. 48, Anm. 1. kaicc kann nicht [qiiriie]. höchstens eine Ableitung
davon sein.
Zu S. 51. Der für Ostfrankreich charakteristische Ableitungstypus von
peigne sowohl in der Bedeutung 'Weberkarde' als in der Bedeutung 'Klette'
ist [j^eignot],^ nicht [peignon], das nur in P. 132 (und P. 59?) der Karte
bardane vorkommt, wo die Nasalierungsverhältnisse besonderer Unter-
suchung bedürfen. Damit fällt der Erklärungsversuch für [gleite].
Zu S. 59, Anm. 1. Daß der Bedeutungsübergang 'Klette' > 'lästiger, zu-
dringlicher Mensch' naheliegt (vgl. Bonhote, neuch. pignet 'imparfun,
ennuyeux', it. lappola etc.), wird niemand bestreiten wollen. Trotzdem ge-
hört venez. lapio 'lästiger Mensch' (REW 4903), wie eine Durchsicht der
ostoberitalienischen Dialektwörterbücher ergibt, nicht zu lappa 'Klette',
sondern zu [lappare] 'schwatzen', 'trödeln', 'zaudern'. — Eine Spezial-
untersuchung der Wörter vom Stamme läpp- würde sich lohnen. Die Be-
deutungsentwicklung älterer Typen kreuzt sich hier mit stets imminenten
onomatopoetischen und lautsymbolischen Neuschöpfungen.
Zu S. 67. Das kokaku von P. 196 (Wallonie) ist nicht *calca-
c u 1 u m , sondern höchstens *calca-in-culum und entspricht dem
cok-d-kou von Forir Li^ge,* das in der Bildungsweise an das ebenfalls von
[grippon] ein [grippe] bei Dottin. Bas-Maine, neben grattferjon ein
[gratte] in P. 296 der K. gratteron, dem das [läppe] des Zentrums zu
[lapper] durchaus entspricht.
^ Vgl. auch grdfaRd, das an das gerteR von P. 91 6 der Karte bar-
dane erinnert.
2 Vgl. Leys. dcJlr,V\onn. 54 dcpg, Frankhauser, Val d'Uliez 93 döß9 mit
weiteren nützlichen Angaben.
' Dieser Typus reicht bis ins Neuenburgische, für das Bonhote, Gloss.
nruch. 180 pignet 'fruit du glouteron ou de la bardane' verzeichnet, -et
und -ot fließen bekanntlich in Ostfrankreich zusammen.
* Vgl. K. 456 empörter P. 196 apwarte gegenüber dem epioarte der
Nachbarpunkte. Vgl. K. 465 j'entends.
116 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Forir verzeichnete pontt-d-kouz:z [point-en-cul] zum Verbum pontt 'piquer'
erinnert. Ob man das erste Element von cok-d-koti zu Sigart Mons cöquier
stellen darf, bleibe dahingestellt. Liöge (Forir), Verviers (Remäcle) jnskou
'bardane', das Gamillscheg und Spitzer, soviel ich sehe, nicht anführen, ge-
hört zum Verbum jnssi 'pincer', ist also gleichgebildet wie gratte-cul. Forir
verzeichnet endlich auch pochett, bei Sigart := couvolvulus.
Auch sonst ließe sich noch dies und jenes nachtragen, wovon ich nicht
weiß, ob es bei Eolland steht, den ich hier nicht zur Verfügung habe, und
ob es die Verfasser absichtlich beiseite gelassen haben.
Die Zahl der kleinen Irrtümer und Druckfehler sowohl im Text als auf
der beigegebenen Karte übersteigt das landesübliche Maß. Sprachgeogra-
phische Arbeiten bedürfen einer außerordentlich sorgfältigen Korrektur.
Für ein Register wäre der T.cier sehr dankbar gewesen.
Zum Schlüsse sei noch einmal ausdrücklich gesagt, daß die Arbeit, trotz-
dem sie zu manchen Einzelaussetzungen Anlaß gibt, eine tüchtige Leistung
ist, daß die Verfasser mit frischer Energie eine schwierige Aufgabe richtig
angepackt und manches Problem zu einer glücklichen Lösung gebracht haben.
Die sprachgeographische Betrachtungsweise ist für sie nicht bloß eine
statistische Feststellungsmethode, sondern ein verfeinertes Arbeitsinstru
ment für die Gewinnung historisch-biologischer Erkenntnisse.
Bern. K. J a b e r g.
Walberg, E., Quelques remarques sur Fancien fraiiQais 'ne garder
Teure que . . .'. S.-A. aus Filologiska föreningen i Lund
(Sprakliga uppsatser TV). 1915. 15 S.
Schon vor ziemlich langer Zeit war man auf die Wendung nc garder
Veure que . . . aufmerksam geworden, hatte nicht wenige Belegstellen bei-
gebracht und war auch hier und da zu einer Erklärung fortgeschritten,
aber es kam darauf an, weitere Umschau zu halten, d. h. eine viel größere
Zahl von Beispielen zu sammeln, an allen Stellen den Sinn genau zu prüfen
und, auf dieser Unterlage fußend, zu einer möglichst allseitig befriedigenden
Deutung des Ausdrucks zu gelangen. Man darf wohl sagen, daß E. Walberg
dies in dem vorliegenden, leider nicht bequem zugänglichen und auch nicht
gerade sehr übersichtlichen Aufsatze unternommen hat, wiewohl der Titel
auf weniger schließen läßt und es S. 2 bescheiden heißt: peiit-efre ne sera-t-ü
pas inutile . . . d'ajouter quelques remarques supplementaires ä ce qui a dSjä
ete ecrit lä-dessus. Allerdings scheint mir auch jetzt noch keineswegs das
letzte Wort über den Gegenstand gesagt zu sein.
Es befremdet zunächst, daß bei der S. 1 — 2 angeführten Literatur fehlt:
BischoiT, Der Konjunktiv bei Chrestien S. 87, die Anmerkung zu II, 86 der
1. und 2. Auflage meiner 'Zwei altfranz. Dichtungen', sowie die Bemerkungen
ron Ebeling (zur 1. Aufl.) in der Zs. f. franz. Spr. XXV 2, 34 und Alfred
Schulze (zur 2. Aufl.) ebd. XXXIX 2, 17.3—174. Hinzugefügt sei hier gleich
als später dazugekommen meine erweiterte Anmerkung in der 3. und 4. Auf-
lage (1916, 1919) und für das Provenzalische meine 'Proveuzalische Studien'
(Schriften der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Straßburg 37. Heft, 1919)
I, 75 zu 60, 3.
Was Gestalt und Konstruktion betriflft, so erfahren wir durch
W., daß auch ne garder quel^ ore einmal begegnet, womit das prov. non
gardar cora (s. meine 'Prov. Stud.' a. a. O.) zu vergleichen ist, ferner, daß
man im Alexander-Roman auch ne g. que Teure que ... findet, an welcher
1 Das folgende mais tut tens l'atendez (Hs. lentendez) zeigt, deutlich,
daß nicht etwa que l'ore zu schreiben ist.
Beurteilungen und kurze Anzeigen 117
Stelle fünf andere Handschriften das gewöhnliche ne g. l'eure bieten, zwei
aber ne g. mais l'eure und drei weitere ne g. ne mais l'eure aufweisen;
hierher stelle ich noch Guillaume le Marßchal 11647 — 48: Si que je ne
yurdoe l'ore N e mais que il me corust sorc, wo ne g. l. schon wie eine
zusammengewachsene Verbindung erscheint. Des weiteren wird ein esgarder
le hurre mit ÄTawf -|- Konjunktiv und Indikativ (s. das zweite Verb) aus
dem Thöophile-Mirakel festgestellt: ich verweise noch auf regart l'eure que
lerre pour 7nes pechiez m'cngloute (Rustebuef ed. Jubinal III, 314, V. 14),
wo freilich die andere Hs. ne gart l'eure hat. Für l'eure erscheint an einer
Stelle auch le terme; auf beide Ausdrücke zusammen trifi't man, wie ich
hinzufüge, bei Hustebuef III, 272, V. 690: Ne garde l'eure ne le terme Que
vif deahle estrangle l'aient. Auch ne begegnet im gwe-Satz; zu dem S. 8
zitierten Beispiel gesellt sich noch: que ne gars l'eure qu'en mer ne verse
(Monmerquö et Michel, Th. frang. S. 522). — Was Tempus und Modus
angeht, so sehen wir, daß im Hauptsatz das Futurum steht und zugleich im
Nebensatz der Indikativ mehrfach auch des Futurums, aber auch einer
anderen Zeit; ingleichen findet sich der Konjunktiv bei vorangehendem
Futurum. Den beigebrachten Beispielen (unter ihnen auch eins mit si für
que) schließe ich an Jehau et Blonde 4122 — 23: Cha! voiis ne garderes ja
l'eure Que li quens et sa gent venrront, und eine weitere Stelle, die im
que-Satz den Indikativ zeigt und im Hauptsatz das Präsens: ne garde l'eure
que eil vient (Eracle 5896). — Endlich begegnen zwei Hauptsätze neben-
einander, von denen der zweite unsere Wendung enthält. Den drei S. 5 — 6
beigebrachten Stellen ' füge ich hinzu Montaiglon-Raynaud, Rec. g6n. d.
fabl. I, 250: Je vi ore vostrc seignor Qui revcndra, je ne gart l'eure,
und weiterhin ein Beispiel, wo on ne garde l'eure mit que angeschlossen ist;
la Mort vient que on ne garde l'eure (Sprichwörtersammlung des Mielot
ed. Ulrich in Zs. f. frz. Spr. XXIV, 191, No. 177); auch sei in diesem
Zusammenhang noch gleich eine Stelle namhaft gemacht, welche ein aus
unserer Wendung gewonnenes Substantiv l'eure-garde aufweist, das mit
se doner verbunden ist : Tres chiere dame, il l'esconvient Que un petit encore
endurez. L' eure -garde ne vous donrez, Que Dieu si grant hien vous
fera Qu'a joie vous delivrera (Th. frang. S. 552).
Hinsichtlich der Bedeutungen hätte W. sich klarer und bestimmter
ausdrücken können. Er bemerkt zwar im ganzen richtig, daß ne garder
l'eure que . . . bedeutet 's'attendre ä ce que tel evenement se produise d'un
moment ä l'autre, prevoir qu'il se produira sous peu', und führt eine Reihe
von Beispielen dafür auf, die ich hier nicht vermehren will,' wendet sich
dann aber nicht entschieden genug gegen die Meinung von Perle und
Nyrop, die aus dem ursprünglichen Sinn 'nicht auf die Stunde achten, wo'
den von 'chercher ä Veviter', 'l'attendre tranquillement' (comme expression
d'une forte resignation) herleiten, sondern sagt nur: dans plusieurs des
passages cites jusqu'ici le calme resigne indique par MM. Perle et Nyrop
est hien incertain. Auch muß es befremden, daß es S. 6 wieder nur heißt:
de quelques-uns de ces exemples il ressort avec toute ^vidence que la
locution ne signifie pas simplement 's'attendre dt, prevoir tel evenement'
mais que celui-ci doit arriver d'un instant ä l'autre, während es heißen
mußte, daß dies aus allen deutlich hervorgeht. Es unterliegt keinem
Zweifel, daß unsere Redensart in den allermeisten Fällen nichts anderes
bedeutet als 'jeden Augenblick einer Sache gewärtig sein', 'jeden Augen-
blick darauf gefaßt sein müssen'. Beachtenswert ist dabei, daß sehr oft der
' Auch das S. 7 unten aus Rustebuef angeführte Beispiel gehört hierher.
2 Es seien immerhin ein paar neue Fundstellen genannt: Rom. d'Alix.
S. 11, V. 31, TtHirnoiement Antecrit V. 264, Th. frang. S. 394 u. 593. Rec.
gSn. d. fabl. IT, 106.
118 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Inhalt des ^we-Satzes etwas für das Subjekt Peinliches darstellt; daraus
erklärt sieh, daß die Wendung sich zuweilen stark dem Sinne von 'fürchten'
nähert, wie in dem Beispiel, das W. S. 7 aus dem 'Atre perilleus' anführt,
ja geradezu 'fürchten' heißt, wie an den beiden, hier (s. vor.- Seite) erwähnten
Stellen, an denen sich ne im gwe- Satze findet. Die eben genannte Bedeutung
'jeden Augenblick auf etwas gefaßt sein müssen', die durch den Zu-
sammenhang an mehreren Stellen gefordert wird, liegt ganz besonders vor
in den Fällen, wo die Wendung als zweiter Hauptsatz auftritt, s. hier auf
voriger Seite; sie setzt voraus, daß, wie n'avoir garde, n'avoir paor, doutance
auch 'nicht Furcht zu haben brauchen' heißt, ne garder Veure auch 'nicht
auf die Stunde zu achten brauchen' bedeuten konnte, und dafür spricht
noch deutlich die Stelle aus G. de Beaulieu vous ne gardez quel ore mais
tut tens l'atcndez, wo ne garder zweifellos 'nicht zu achten brauchen'
heißt. — Eine zweite, weit seltenere Bedeutung, die W. feststellt, nachdem
ich schon in der 2. Auflage meiner 'Zwei altfranz. Dichtungen' (1911) auf
sie hingewiesen hatte, ist 'es mit etwas eilig haben', 'es nicht erwarten
können', 'es lebhaft wünschen'. Allerdings wäre von den vier Belegen, die
er aufführt, nach seiner Meinung nur einer entscheidend. Das ist nicht
ganz richtig. Die Stelle aus dem 'Cor. Loeis' scheidet freilich aus, wenn
man mit Langlois der Lesart von A folgt, was der Zusammenhang gebietet,
und weiter gehört die Stelle aus dem Trojaroman nicht hierher, wohl aber
liegt unser Sinn an der Mousket-Stelle (Fortune hat es eilig, das Oberste
zu Unterst zu kehren) fast ebenso deutlich vor, wie Montaiglon-Raynaud.
Rec. g6n. II, 90: Sa queste et ses deniers en trait; Ne garde Veure qu'i[lj
Vait fait, Moult forment se haste et esploite. H\inzufügen kann ich noun
einen ebenfalls ganz sicheren Beleg aus Aliscans: Cü pautonier qui sont de
pufc orine Je 7t e gart l'ore fen face decipline (G. d'Orange ed. Jonckbloet
S. 339, V. 4704 — 05, in der Ausgabe von Wienbeck-Hartnacke-Kasch
V. 4453 — 54). — Eine dritte Bedeutung formuliert W. S. 10 nicht genauer,
sondern sagt nur: c''est qu'on se laisse surprendre par Vevenenient, qu'il
arrive söws qu'on s'y attende, also 'unversehens'. Von den angezogenen
Beispielen sind die beiden letzten abzutrennen, denn es liegt hier nicht,
wie W. meint, eine 'fusion' vor. sondern wir haben es, wie schon der Kon-
junktiv zeigt, nur mit dem ersten Sinne zu tun. Die übrigen Stellen, denen
sich die hier oben angeführten aus Jehan et Blonde und Eracle zugesellen,
weisen alle den Indikativ im g««e-Satze auf. Prüft man an ihnen aufmerk-
sam den ganzen Zusammenhang, so sieht man, daß bei G. Alexis eine Über-
setzung mit 'unversehens' sich rechtfertigen läßt, wie sie denn auch an der
Stelle aus Mielot (s. hier oben) das natürlichste ist, aber an den anderen
Stellen heißt es m. E. geradezu 'bald'; eine nähere Begründung würde hier
zu weit führen, und ich will nur bemerken, daß dieser Sinn besonders deut-
lich an den Beispielen aus Blancandin und Eracle zutage tritt.
Was nun die Hauptsache, die Erklärung der verschiedenen Be-
deutungen, betrifft, so kann man sich mehrfach mit Walberg, soweit wie er
sich deutlich äußert, nicht einverstanden erklären, am ehesten noch, wenn
er zu der ersten und häufigsten bemerkt: cetfe locution veut dire d'abord,
ne pas faire attention au, ne pa^ se soucier du moment oü tel dvenement se
produira, d'oü 's'attendre ä ce qu'il se produise d'un moment ä l'autre.
Bischoffs Auffassung 'ich kann nicht einstehen für den Zeitpunkt . . ., weil
dies eben jeden Augenblick stattfinden kann' ist, wie ich hier zurück-
greifend anschließen möchte, unhaltbar, und ich wundere mich, daß sie eine
Art Beifall bei A. Schulze (Zs. f. frz. Spr. XXXIX 2, 174) gefunden hat,
der im übrigen mit Recht Ebelings Erklärung 'sich vor der Stunde nicht
zu hüten brauchen, sie ist schon da' (Zs. f. frz. Spr. XXV 2, 34) zurückweist.
Gar nicht befriedigt Försters Glossierung im Crestien -Wörterbuch für die
Erec-Stelle 2993 'ich kann den Augenblick nicht berechnen, nicht voraus-
sehen'. Ich habe schon in der I.Auflage meiner 'Zwei altfranz. Dichtungen"
Beurteilungen und kurze Anzeigen 119
gesagt: 'auf die Stunde nicht achten, daß das Betreffende geschehe', d. h.
'jeden Augenblick darauf gefaßt sein'. Das deckt sich ungefähr mit dem,
was Walberg bemerkt, und wenn ich nicht den Beifall von Ebeling und
Schulze fand, so liegt dies wohl daran, daß ich 'Stunde' nicht gesperrt ge-
druckt oder 'bestimmte' nicht in Klammern hinzugefügt hatte; in der
dritten Auflage glaube ich mich klarer ausgedrückt zu haben, und ich sage
jetzt noch deutlicher in der vierten: 'nicht auf die Stunde, d. h. nicht
auf den bestimmten Zeitpunkt achten' (ein solcher ist nicht gegeben),
daher 'jeden Augenblick des Eintretens eines Geschehnisses gewärtig
sein', oder auch 'jeden Augenblick darauf gefaßt sein müssen'. Mit an-
deren Worten, ich betone das l'eure und verstehe es als 'eine bestimmte
Stunde', 'einen bestimmten Zeitpunkt', und daß es dies heißt, wird m. E.
durch das Danebenstehen einerseits von terme und andererseits von ne
garder quel etire (s. die Beispiele oben) bestätigt. Mit dem gleichen Sinn
haben wir es auch in den vereinzelten Beispielen zu tun, wo im Hauptsatz
kein ne steht (s. oben), oder wo wir ne g. que (mais, ne mais^) finden.
Auch hier liegt zwar keine gegebene, festgesetzte Stunde vor, aber sie ist
gleichsam in der Phantasie des Sprechenden vorhanden, weil er sie immer
vor sich sieht, sie ihm deutlich vor Augen steht, er die Stunde erwartet,
in der das Bedrohliche eintreten wird (Indik.) oder eintreten kann (Konj.).
Wie lassen sich nun mit der ersten, häufigsten Bedeutung die beiden
anderen 'es eilig haben mit' und 'bald (unversehens)' vereinigen? Ich fasse
zunächst die letztere ins Auge, für die Walberg mit c'est qu'on se laisse
surprendre par l'evenement gewiß keine richtige Erklärung gibt, und
schicke zur größeren Deutlichkeit eine Stelle aus dem Escoufle 7668 ff.
(Walberg S. 10) voraus: Les puceles en ont en Tel pitie que cascunne en
plore. Mais eis ne garderont ja l'ore Que eil plour a ris tourneront; Que
jou cuit bien qti'eles verront Par tans en la cainbre tel rage Qu'ainc puis . . .
N'ot tant de joie ne tant ris en un ostel. Es ist zu beachten, daß an allen
Stellen der Indikativ steht und das Eintreten eines Geschehnisses gar nicht
in der Vorstellung des Subjekts liegt., sondern nur vom Schriftsteller als
sicher hingestellt wird. Wenn letzterer nun im Hauptsatz, der meistens
das Futurum zeigt, ne garder l'eure gebraucht, so will er sagen, daß die be-
treffende Person auf die Stunde des Eintretens gar nicht zu achten, sich
darum gar nicht zu kümmern braucht (an allen Stellen ist ne g. l.
r= 'nicht auf den Zeitpunkt zu achten brauchen'), da das Eintreten
selbst nicht nur gesichert ist, sondern auch nahe bevorsteht, näher als sie
es ahnt. So kommt es zu den Bedeutungen 'bald' und zuweilen 'unversehens';
letzteres drückt Chrestien im Yvain 2661 — 62 auch mit savoir l'ore aus:
Ja, ce cuit, l'ore ne savra Qu'esperance träi l'avra. — Was den anderen
nur dreimal belegten Sinn angeht 'es eilig haben mit', 'es nicht erwarten
können', 'es lebhaft wünschen', so kann ich Walberg nicht zustimmen, wenn
er S. 8 meint, von der ersten Bedeutung zu dieser sei die Entfernung nicht
groß, ja, ich finde gar keinen Weg dahin. Auch sagt er nicht, wie er sich
diesen Übergang vorstellt, dagegen gedenkt er einer anderen Entwicklungs-
möglichkeit: 'ne pas tenir compte de l'heure' [fix6e], d'oü 'ne pas attendre
que l'heure soit venue', 'avoir häte de faire une chose', allein diese ist doch
sehr gezwungen und nichts weniger als überzeugend, denn der Betreffende
denkt ja gerade an nichts anderes als den Zeitpunkt, wo er mit etwas fertig
sein, oder etwas Ersehntes eintreten könne, man erwartet also ein il garde
l'eure. Ich sehe nicht, wie man aus unserer Wendung selbst zu einer plau-
siblen Erklärung gelangen kann; im besten Falle bliebe immer der Sprung
von einem ne pas tenir compte de l'heure [fixee] zu einem ne pas attendre
que l'heure soit venue, und so zweifle ich denn nicht, daß sich eine andere
1 Auch mais fors mit n'at&ndre im Hunbaut 2128—29: Si que eil n'atent
mais fors l'eure De morir sans autre confort.
120 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Ausdrucksweise eingemischt hat, nämlich das häufige ne cuidier veoir Veure
gwe-|-Konj. 'etwas lebhaft wünschen', von der Walberg S. 14 in anderem
Zusammenhang spricht. Den von ihm zusammengetragenen Belegstellen
füge ich noch hinzu: Rom. de Renart ed. Martin I, 84, V. 2994, Philomena
460, Clef d'amors 3219, Rom. de la poire 2585 (formal etwas abweichend)
und Floire et Blaneheflor 2104, vgl. Jaufre I, 131 b: Ni cuia la sazon
vezer Que ah ella puesca parlar. Ich meine also, daß ne garder Veure von
ne cuidier veoir Veure beeinflußt wurde und zuweilen die Bedeutung des
letzteren annahm. Den gleichen Sinn hat das italienische non veder Vora,
das W. S. 13 unter Pliuweis auf Entsprechendes im Spanischen und Räto-
romanischen in dankenswerter Weise berührt. Angeschlo-ssen sei noch Ro-
vetta, La signorina S. 355: non vede Vora di cacciarsi in letto, sowie eine
andere Stelle bei demselben Autor: non vedeva il momento d'essere a Ge-
nova, und bemerkt sei, daß schon C4oldoni, Un curioso accidente II, 8 sagt:
non vedo Vora di veder fremere, di vedere a disperarsi Biccardo, wäh-
rend Boccaccio, um Gleiches auszudrücken, gli parve mille anni che . . . ge-
braucht (Decam. III, 6; IV, 2; V, 8). Freilich begegnet die Wendung schon
bei Giordano Bruno, Candelaio IV, 5, aber hier in einem ganz anderen,
geradezu entgegengesetzten Sinn : Uo inviato alla hotteca di Consalvo tl mio
garzone per certa polvere, et non vede ora di venir. Bisogna ch'io vi vadi,
d. h. 'er hat keinerlei Eile', eigentlich wohl: er sieht nicht, findet nicht
eine Stunde, wo er zurückzukehren hat. Auch im Altfranzösischen kommt
übrigens einfaches ne vcoir Veure [le jor) vor, so Rec. gönßr. d. fabl. I, 212,
II, 106, aber es heißt da nur 'die Stunde nicht erleben'.
Schließlich sei noch ein Irrtum berichtigt, der sich im Rec. g6n. d. fabl.
II, 106 vorfindet. Dort sagt die Dame: Faites le iien, si vos levez, Que
mes sires vient du tornoi; das darauffolgende Par cele foi que ge vos doi,
G e ne gart l' eur e que il viegne wird nun von den Herausgebern als
Rede des Guillaume aufgefaßt. Wäre dies richtig, dann müßte der letzte
Vers dem Zusammenhange gemäß heißen: 'es ist mir ganz gleichgültig, ob
er kommt', 'ich mache mir nichts daraus', ein Sinn, den ne garder Veure
sonst niemals hat. Es ist jedoch alles bis eschaperez Rede der Dame; die
beiden Striche, die die Wechselrede anzeigen sollen, sind zu beseitigen, und
damit erhält unsere Wendung wieder ihre gewöhnliche Bedeutung.
Jena. O. Schultz-Gora.
Dantis Alagherii De monarchia libri III reo. Ludovicus Bertalot.
Friedrichdorf in monte Tauno apud Francofurtum apud edi-
torem. 1918. 111 S. 8^ 2 M., für Seminare und ähnliche
Studiengesellschaften bei 6 und mehr Abzügen 1,60 M.
Dieselbe Handschrift Bini, die Bertalot aufgefunden, und mit deren Hilfe
er die Abhandlung Dantes De vulgari eloquentia in vielfach verbesserter
Gestalt 1917 im Selbstverlage herausgegeben hat, enthält auch eine gute
Abschrift der drei Bücher De monarchia. Auf Grund dieser Lesart und der
Lesart weiterer elf Handschriften und unter Zuhilfenahme der Übersetzung
Ficinos, der Editio princeps und der kritischen Ausgabe Wittes ist der Text
neugestaltet. So durchgreifende Änderungen wie bei der Vulgaris eloquentia
konnte man hier nicht erwarten, da der Text in den bisher bekannten
Handschriften schon gut überliefert war. In einzelnen Kleinigkeiten ist
aber doch manches gebassert, z. B. gleich I, 1, 1 quos ad amorem; II, 1,
17 — 18 die Herstellung von Wittes uitio und muco usw., und die Satz-
zeichensetzung ist einer gründlichen Neuordnung unterzogen. Das Lesarten-
verzeichnis ist beschränkt; die Abweichung einer einzelnen Handschrift,
selbst wenn es sich um eine der vier handelt, die noch aus dem 14. Jahr-
hundert stammen, ist nicht immer angeführt. Daher kommt es wohl, daß
Beurteilungen und kurze Anzeigen 121
man an manchen Stellen über die abweichende Lesart Wittes weder bei
diesem noch bei Bertalot Auskunft findet. So I, 3, 33 W hoc etiam, B hoc;
I, d, 35 W sie et, B sie etiam; I, 15, 19 W est, B sit; II, 5, 98 W putavit,
B putat; III, 6, 4 W ut, B quod; III, 9, 76 W esset, B est; III, 9, 86 W
pacein milterc, B mittere pacem; III, 10, 54 W co, B ea. In der Recht-
schreibung befolg-t Bertalot den Grundsatz, den er in seiner Ausgabe der
Vulgaris eloqueutia befolgt hat, ohne ihn weiter zu begründen. In Fuß-
anmerkungen werden die Quellen Dantes kurz angegeben. Leider fehlen
aber jegliche Verzeichnisse, wie sie jener Ausgabe beigegeben wurden.
Immerhin ist es aber sehr erfreulich, daß man Dantes wichtige Schrift jetzt
in einer so sorgfältigen, gut gedruckten und billigen Ausgabe lesen kann.
Halle. Berthold Wifese.
Dr. Werner von der Schulenburg, Ein neues Porträt Petrarcas.
Eine Studie über die Wechselwirkung zwischen Literatur und
bildender Kunst zu Beginn der Renaissancezeit. Bern,
Francke, 1918. 64 S. Lex.-S« und 4 Tafeln. M. 10.
Verfasser macht den ganz verunglückten Versuch, den Krieger auf der
Miniatur Simone Martinis in der Virgilhandschrift Petrarcas als ein Bildnis
Petrarcas zu erweisen. An zwei dünnen Fäden reihen sich die Beweis-
gründe auf. Das von de Nolhac entdeckte Petrarcabild, meint Verf. zunächst,
kann nicht ähnlich sein, denn es stimmt nicht zu anderen gleichzeitigen
Darstellungen, und Petrarca, war auch nicht so schön, sondern eher häßlich.
Ich sehe nun keinen so großen Unterschied in den verschiedenen Miniaturen
und Bildern, die Anspruch auf Echtheit haben, von dem Bilde in der Franz
von Carrara gewidmeten Handschrift der De viris illustribus. Weiter ist
es nicht richtig, daß sich Petrarca selbst für häßlich erklärt hat. Er sagt
in dem Briefe ad posteros: 'Forma non glorior excellenti, sed quae placere
viridioribus aunis posset: colore vivido, inter candidum et subuigrum,
vivacibus oculis . . .', und die S. 19 aus De contemptu mundi angeführte
Stelle besagt wegen des asketischen Charakters der Schrift nichts; im
Gegenteil liest man zwischen den Zeilen, daß Petrarca sich für hübsch hielt.
Boccaccio, der Petrarca doch genau kannte, sagt von ihm: 'Forma venustus,
facie rotunda atque decorus', und Filippo Villani: 'Fuit poeta aspectu pulcher
et venerabilis, statura proc-erus. hilari facie et liueamentis. proportionata
venuste . . ." Ganz verkehrt ist aber die Erklärung des Namens 8 i 1 v u n u s,
den Petrarcas Freunde ihm scherzweise gaben: 'Gewichtige literarische
Quellen zeigen nämlich, daß Petrarca in der Zeit seiner Mannesjahre nicht
nur in seiner Lebensführung, sondern auch in seinem Äußeren sogar etwas
Faunisches gehabt hat. Die Freunde nannten den Einsiedler von Vaucluse
scherzweise Silvanus: "Multi ex uostris in omni sermone saepius me Sil-
vanum quam Franciscum vocaut", schreibt der Dichter harmlo-s an seinen
Bruder, farm. X, 4.' Es handelt sich um den bekannten Brief, in welchem
l'etrarca-Silvius seinem Bruder-Monicus den Sinn der Ekloge Parthenias
erklärt und von dem Namen sagt: 'Nominum ratio haec est: primi quidem
tum quia in silvis res acta est, tum propter insitum ab ineunte aetate urbis
odium amoremque silvarum, propter quem multi ex nostris in omni sermone
saepius me Silvanum quam Franciscum vocaut.' Silvanus bedeutet also, wie
Verfasser hätte sehen müssen, wenn er die Stelle gelesen hätte, und wie
auch aus de Nolhac zu erkennen war, wie Silvius nur der Liebhaber der
Einsamkeit. 1^
^ Das beweist auch die zehnte Ekloge über den Sturz eines Lorbeer-
baumes, den Verfall der Dichtkunst und den Tod Lauras, in der Petrarca
sich Silvanus nennt, und vgl. auch Boccaccio in seiner Vita: 'Nam
quamquam solitndine . . . delectatiir, qnod i|)senu't in quadam ecloga sua,
122 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Diese Auffassung des Verfassers leitet nun aber zu dem zweiten Teile
seiner Arbeit über, der eine Miniatur Simone Martinis mit 'faunischem'
Gesichtsausdruck als realistisches Petrarcabild zu erweisen sucht. Zunächst
wird behauptet, daß der römische Hauptmann auf der Kreuzigungstafel
dieses Malers ein Selbstbildnis des Künstlers sei, denn das S. P. in der
Fahue bedeute nicht etwa, wie gewöhnlich, senatus populusque romanus
(Q. E. sind verdeckt), sondern Simon pinxit. Dazu sollen noch um den
Kopf die Buchstaben S. A. S. P. stehen und Simon a Sena pinxit bedeuten.
Ich erkenne sie nicht und finde a statt de auffällig. Unter allen Umständen
ist die Deutung nicht sicher. Die Gesichtszüge dieses Bildes werden nun
in der aus dem 17. Jahrhundert stammenden Kopie eines Gemäldes aus der
Sainte Chapelle in Paris wiedergefunden, welches den Besuch des späteren
Königs Johann von Frankreich bei Clemens VI. in Avignon (1342) dar-
stellt. Der Mann, welcher dem Papste in des Herzogs Namen ein Diptychon
in senesischer Art überreicht, soll somit Simone sein, und folglich soll auch
das überreichte Bild von ihm herrühren. Ich finde keine große Ähnlichkeit
zwischen beiden Gesichtern. Dieselben Züge soll nun endlich auch noch der
Servius auf der bekannten Miniatur Simones in Petrarcas Virgilhandschrift
tragen, so daß auch diese Figur ein Selbstbildnis des Malers wäre. Diese
Miniatur ist nämlich nach Verf. allegorisch zu fassen, und ihre von Pe-
trarca in lateinischen Versen beigegebene Erklärung, daß Servius Rittern,
Landleuten und Hirten Virgils Werke erklärt, ist nur der wörtliche Sinn,
die schöne Hülle; der eigentliche Sinn ist, daß Servius-Simone dem Ritter
(Scipio) -Petrarca in Virgil-Petrarca seine eigene künftige Dichterkrönung
zeigt. Denn der Dichter trägt die verklärten Züge des Ritters, und dessen
Erstaunen ist auf die Erkenntnis, sich sich selber gegenüber zu sehen,
zurückzuführen. Daß dieser Dichter aber Petrarca ist, wird so erwiesen:
'Und ehe die Einladungen (zur Dichterkrönung) von Rom und Paris an-
gelangt waren, malte er dem Dichter für seinen Vergil die eigene bevor-
stehende Krönung, eine höfliche, freundschaftliche Schmeichelei, ein Ent-
gegenkommen des zarten Malers gegen den aktiven Dichter. Petrarca wird
im Kostüm des Scipio Africanus dargestellt, des Helden seines Krönungs-
epos, des Eroberers Afrikas, mit den Löwenköpfen an den Knien. Aber
nicht nur weil er Schöpfer Scipios ist, läßt sich Petrarca von Simone so
darstellen, sondern als wiedergeborener Scipio. Petrarca ist Scipio usw.'
(S. 42.) Weiter heißt es S. 43: 'Mit dieser Verherrlichung seiner Persön-
lichkeit als Scipio auf der Miniatur ist der Eitelkeit Petrarcas aber noch
nicht Genüge getan. Auch von Vergil steckt ein Teil in ihm' usw. Auf eine
Wiedergabe der Gedanken, wie auch die eigenhändige Eintragung Petrarcas
über Lauras Tod vor der Miniatur mit dieser Allegorie in Zusammenhang
zu bringen ist, verzichte ich. Es sind noch größere Hirngespinste als die
vorherigen Ausführungen. Die philologische Vorbereitung des Verfassers
ist übrigens viel zu dürftig; er beschränkt sich eigentlich darauf, einige
Stellen aus Körting und de Nolhac auszuschreiben. Man versteht daher
nicht, was die zahllosen Literaturangaben S. 5 — 10 sollen, die dazu zum
Teil ganz ungenau sind. Das aus de Nolhac stammende Zitat S. 19 gehört
nach S. 20, wo es ebenso verstümmelt wiederholt ist. In den Literatur-
angaben fehlt Corazzinis Ausgabe der Briefe Boccaccios bezeichnenderweise.
Überzeugungstreue kann man der Arbeit nicht absprechen, aber Über-
zeugungskraft.
Halle. Berthold Wiese.
cui nomen Argus, testatur amplissime se posterum Solivagum ac etiarn
Sylvium vocitando, fuit tarnen et est homo moribus et loquela civilis . . .'
(Ausgabe Solerti S. 260).
Verzeichnis
der eingelaufenen Druckschriften.
Allgemeines.
Zeitschrift für österreichische Volkskunde. Orgau des Vereins für
österreichische Volkskunde in Wien. XVIII. Jahrgang, 1917. 5. bi.s
6. (Schluß-) Heft. Mitte Februar 1918. Vitien, Gerold & Co., 1918. [L. von
Führer: Bilder aus Sekular, Velika, Plav und Gusinje (mit 5 Abbildungen).
— R. Kühnelt: Das Weib in Montenegro. — A. Dachler: Alte deutsche
Siedlungen im nordöstlichen Italien (mit 9 Grundrissen).]
Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts (Neue
Folge der ,Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und
Schulgeschichte'. Schriftleitung: Prof. Max Herrmaiini. Berlin, Weidmann,
1916. VI. Jahrgang, 1. Heft [E. Schwabe, Der Methodiker Joh. Ehenius
(1574 — 1639). Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte von Melanchthons
lateinischer Grammatik. — R. Stölzle, Schulerinnerungen eines ^Vürz-
burger Jesuitenzöglings aus den Jahren 1755 — 63]. — 2. Heft [E. Körner,
Erasmus Alber als Pädagog. — A. Arnheim, Die 'Musicomastix' des Elias
Herlicius. — R. Köhler, Das höhere Schulwesen im Herzogtum Anhalt bis
zum Jahre 1910]. — 3. Heft [F. Boehm, Antike Kinderspiele. — A. Herr,
Die Bücherverzeichnisse der ehemaligen Schlaggenwalder Lateinschule. —
A. Schnizlein, Schulgeschichtliches aus Stipendiatenbriefen]. — 4. Heft
[Quellen und Abhandlungen : B. A. Müller, Zur Ikonographie Jakob Wimpf-
lings. — R. Stölzle, Pestalozzi und die bayrische Regierung im Jahre 1802.
— S. Aschner, Der deutsche Unterricht und die Romantik].
Litt, Th., Geschichte und Leben. Von den Bildungsaufgaben geschicht-
lichen und sprachlichen Unterrichts. Leipzig, Teubner, 1918. V, 194 S.
M. 3,60. [Der Titel läßt Gutes erwarten. Wer sollte in dieser Zeit all-
gemeinen Umsturzes nicht aus dem Studium der Vergangenheit Lehren für
die riesigen Aufgaben der Gegenwart erhoffen? Je weitere Schichten der
Bevölkerung in einem demokratischen Gemeinwesen zur Teilnahme an der
Regierung gelangen, desto notwendiger wird historisch-politische Massen-
bildung. Was ist das Ziel des Verfassers? Im Kapitel 'Normen der Gegen-
wart' bezeichnet er es als 'geistiges Gesamtgebilde', als 'Aufgeschlossenheit
des Mitfühlens' und handelt von der Eingliederung alles Einzelwissens in
dies 'historische Ganze', S. 182. Das ist die Denkweise eines Humanisten,
der neben der Welt lebt. Der Engländer hat die Geschichte als das Er-
ziehungsmittel für die Jugend zur Führung und Förderung seines Staates
ausgebaut. Er hat damit seine Massen zu nationaler Gewissenhaftigkeit
und zu umsichtigem sozialen Wissen gebracht. Werden wir auf die Dauer
uns den Luxus einer so abstrakten Bildungsschönheit gestatten können?
Und mit wie vielen Worten hat unser wohlmeinender Autor seine schönen
Träume, die an transzendentale Philosophie erinnern, vorgetragen! Das
Drucken scheint immer noch zu billig.]
Lenz, Max, Für die Hamburgische Universität. Zugleich eine Kritik
der Gegner. Hamburg, Broschek, 1918. 51 S. 4". [Ein Geschichtschreibi^^r
des Universitätswesens stellt hier aus genauer Kenntnis der Verhältnisse
die Schwierigkeiten dar, die sich in der größten Hafenstadt Deutschlands
der Ausbildung des Hochschulwesens entgegenstemmen. Ein Geist un-
mittelbarer Nützlichkeit und regionaler Beschränktheit werde überall fühl-
bar. Nicht einmal die Vertreter der neueren Sprachen würden sich in dem
ihnen zugedachten Rahmen wohl fühlen könneu. Mit ganz anderem Ver-
ständnis für humanistische Dinge haben die Frankfurter die Universitäts-
frage gelöst.]
124 Verzeichnis der eingelaufeneu Druckschriften
Sachse, ArnoUl, Die Kriegsiuaßnahnieu der proiißisclieu Unterrichts-
vervvaltung: I. Die Erhaltung der Schulen; IL Sorge für die Lehrer und
ihre Zukunft; III. für die Familien der Lehrer; IV. Unterricht und Er-
ziehung; V. Benutzung der Schule; VI. Zukunft der Schüler; VII. Fort-
setzung der friedlichen Tätigkeit. (Internationale Monatsschrift, XI, 10.
S. 1153—1196.) Leipzig, Teubner, 1917.
Mitteilungen des Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums,
hg. vom Vereins vorstand, redigiert vom Schriftführer S. Frankfurter.
Wien, Fromme, 1918. Heft 18. 104 S. [Das Heft beginnt mit einem war-
men Nachruf auf den Grafen Stürghk als früheren Uiterrichtsminister
Österreichs und ist auch mit dessen Bilde geschmückt, in begreiflicher Er-
kenntlichkeit dafür, daß der Graf während seiner Amtstätigkeit die klas-
sischen Studien möglichst gefördert hat. Dies Verdienst kann auch die
Neusprachler erfreuen. Zu bedauern ist nur, daß er gleichzeitig die anglisti-
schen Studien beschränkte, indem er eins der österreichischen Ordinariate
für englische Philologie dauernd zu einem Extraordinariat zurückschraubte.
— Weiterer Inhalt: W. Brecht, Klassisches Altertum und neueste deutsche
Dichtung, S. 25 — 45. — L. Mitteis, Antike Rechtsgeschichte und romanisches
Studium, S. 56 — 78. — ■ Sitzungsberichte. — Zeitungsausschnitte].
Haberlandt, M., Völkerkunde. X. Allgemeine Völkerkunde. Mit
39 Abbildungen. (Sammlung Göschen, 73.) Leipzig, Göschen, 1917. 138 S.
Sieben-Sprachen-Wörterbuch: deutsch, polnisch, russisch, weißruthenisch,
litauisch, lettisch, jiddisch, hg. im Auftrage des Oberbefehlshabers Ost.
Leipzig, Spamer, 1918. 420 S. [Unter erschwerenden Umständen in der
Kriegszeit entstanden, als Nebenarbeit nach der laufenden Beschäftigung
der Übersetzungsstelle, ohne wissenschaftliche Hilfsmittel und ohne die
Möglichkeit, Fachleute zu dauernder Mitarbeit heranzuziehen. Die Worte
sind aus dem täglichen Gebrauch des Lagerlebens geholt und dafür be-
stimmt. Beseheiden erbittet der ungenannte Verfasser die wohlwollende
Nachhilfe kundiger Leser.]
M u h i e d d i n , Ahmed, Türkischer Sprachführer. Taschenwörterbuch
für Eeise und Haus. (Meyers Sprachführer.) Leipzig, Bibl. Institut. 267 S.
Neuere Sprachen.
Schweizerisches Archiv für Volkskunde. (Vierteljahrsschrift der Schwei-
zerischen Gseellschaft für Volkskunde, hg. von E. Hoffmann-Krayer und
A. Rossat t-) XXII, Bd. 1, 2. Mit 12 Tafeln. Straßburg, Trübner, 1918.
128 S. Ausgegeben 1. 8. 1918 [L. Rütimeyer, Weitere Beiträge zur Schweiz.
Ur-Ethnographie aus den Kantonen Wallis, Graubünden und Tessin. Dazu
Anhang: F. Fankhauser, Zu tessinisch toria 'Speicher'. — A. Rossat, Les
'loles'. VIII. — S. Meier, Volkskundliches aus dem Frei- und Kelleramt.
II, III. — Miszellen. — Bücheranzeigen. — Bibliographie 1917].
Beiträge zur Literatur- und Theatergeschichte, Ludwig Geiger zum
70. Geburtstag (5. Juni 1918) als Festgabe dargebracht. Berlin, B. Bahr,
1918. XVI, 486 S. [Auf der ersten Seite feiert Fulda den Jubilar als
'redlichen Sucher' und 'redlichen Finder'. Dann charakterisiert ihn der
Herausgeber Heinrich Stümcke, der hierbei im Namen der Gesellschaft für
Theaterfreunde auftritt, als beliebten Hochschullehrer, emsigen Forscher,
vielseitigen Schriftsteller und Herausgeber. Seinem Wunsche, dieser Kriegs-
band möge dem Vorkämpfer der Renaissance und Gegenwartsliteratur (dem
auch das Archiv viele Beiträge verdankt), eine dauernde Erinnerung sein
und zugleich von Deutschlands ungebrochener Kraft zeugen, kann man sich
nur wärmstens anschließen. — Die Beiträge sind chronologisch geordnet
und beginnen mit einer Studie von G. EUinger über Georg Fabricius,
der an der sächsischen Fürstenschule zu St. Afra in Meißen wirkte und
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 125
1545 — 52 drei lateinische Oden drucken ließ, dazu Reisegedichte über Italien
und Straßburg, Hymnen und Engelslobgesänge. Seine reformatorische Leb-
haftigkeit, seine Vorliebe für Vergleiche aus dem Landleben, seine An-
lehnungen an Horaz werden hervorgehoben; dann auch die Eigenschaften
seines dichterischen Freundes Adam Siber (1516 — 84), der als Rektor der
Fürstenschule zu Grimma vorstand und sich mehr über häusliche und
lokale Vorkommnisse verbreitete. Der individuelle Ton der Goethezeit soll
von derlei neuliterarischen Dichtern ausgegangen sein (S. 12). War nicht
schon Walther von der Vogelweide individueller? — Am meisten habe ick
gelernt aus dem zweiten Beitrag, worin F. Liebermann die Anschauungen
Shakespeares von Staat, Gesellschaft und Kirche aus dessen 'Heinrich VIIL'
herausschält. Das Stück behandelte Halbvergangenheit; die Kämpfe lebten
den Leuten, zwischen denen Shakespeare aufwuchs, noch in der Erinnerung;
die Ergebnisse hatten seine Lebensform gemodelt: da ist eine besonders
deutliche Parteinahme des Dramatikers zu erwarten. Liebermann findet
seine Anschauung von der Sittlichkeit der höheren Gesellschaft selbständig,
tief und düster (S. 14), wie sie eben ein Menschenbeobachter gewinnt, der
mit mächtigen Adligen und leitenden Geistern persönlich verkehrt hat.
Shakespeare hat nicht so sehr den König selbst, sondern vielmehr die zwei
von ihm 'schmählich ins Unglück gestürzten Personen', Wolsey und Katha-
rina, fein porträtiert. Die Staatsangelegenheiten, die laut Prolog den Haupt-
inhalt bilden sollten, werden im Drama nicht entfernt so fühlbar wie etwa
bei Schiller. Mehr als in seineu früheren Königsdramen hält Shakespeare
hier die hundert kleinen Einzelzüge seiner Quelle fest, viel mehr als es je-
mals Goethe getan hat. Anderseits vermeidet es dieser objektive Künstler,
seinen Personen 'Ideen' in den Mund zu legen; er bevorzugt mit der Wirk-
iichkeitstreue eines Modernen 'die gemischten, gebrochenen Farben der Cha-
raktere', hatte wohl auch besondere Rücksicht auf Hof und Beamte unter
seinen Zuhörern zu üben. Am Charakter des Königs hat der Dramatiker
die nach englischer Nationalsitte bewährte äußere Form bei tyrannischer
Handlungsweise, also die 'höfische Falschheit' festgehalten. Manche dunkle
Flecken, obwohl sie geschichtlich beglaubigt waren, hat er fortgewischt:
eheliche Untreue, Habgier, Blutgerichte aus Religionsgründen. Da er früher
Richard III. und Johann Ohnelaud nicht schonte, hat er wohl auch hier
nicht aus Monarchismus so gehandelt, sondern eher aus Rücksicht auf den
Begründer der anglikanischen Kirche und den Großvater der populären
Königin Elisabeth; als Cäsarist hätte er Heinrich weit übermenschlicher
hinstellen müssen. Staatsrechtliches Denken hätte ihn veranlassen müssen,
Heinrich wegen Mangels eines Erben von Katharina abrücken zu lassen.
Individuelles Seelenleben ging ihm vor. An Wolsey dagegen hat Shake-
speare mit 'genialem Ahnen' die staatsmännische Größe erkannt und sie
seinen Tadlern gegenüber angedeutet; er sah namentlich, daß Wolsey das
europäische Gleichgewichtsspiel mit England als Zünglein an der Wage
begann. Gutgläubig übernahm er aus seiner Quelle das angebliche Doppel-
spiel Wolseys mit dem Papste als Ursache seines Sturzes; tatsächlich ist
dies weder erwiesen noch wahrscheinlich. Cromwell wird nicht wegen
seiner Förderung der Kronmacht und Verwaltung, sondern nur als kirch-
licher Reformator gefeiert; Shakespeare zeigt sich hier ebenso der alten
Kirche abgeneigt wie in 'Heinrich V.', wo-er die Bischöfe einen Krieg als
Abhilfe gegen ein antiklerikales Parlament anzetteln läßt. Daß Thomas
Morus als Blutzeuge für römischen Katholizismus starb, wußte um 1613
jeder Engländer; Shakespeare wünscht ihm Ruhm übers Grab hinaus, ver-
schweigt aber seine Hinrichtung, offenbar um den König oder die Angli-
kaner zu schonen. Den Adel bewundert er wegen seiner feinen Form,
seiner Würde im Unglück, seiner Ritterlichkeit; er hat keine demokratische
Ader; die 'heilige Königin' empfiehlt sterbend, ihre Hofdamen nur an
126 Verzeichnis der eingelaufeneu Druckschriften
Adlige zu vermählen. Dieser Hofadel der Tudors erstrebte nicht mehr
mittelalterliche Landeshoheit, sondern nur Einfluß auf einen starken Mon-
archen, was Shakespeare offenbar besser findet. Shakespeare weiß, daß
Suffolk Schwager des Königs war, der ihn deshalb beim Vornamen anredet:
Kenntnis höfischer Etikette! Die Gier des Adels nach Klostergut mußte
er auch kennen — er verschweigt sie aber 'in adelsfreundlicher Absicht'
(S. 30). Aber er läßt den ersten Adligen des Reiches an unsittlichen Hoch-
verratsprozessen teilnehmen, und — wohl im Hinblick auf Burghley — zieht
er für höchste Staatsämter das Talent dem Geblüt vor. Kein Wort für
Parlamentsfreiheit! Das Volk erscheint ihm als Begaff er einer Hof-
zeremonie. Aber das Handwerk zu erhalten ist staatsnotwendig, und eine
drückende Steuer für das Volk hebt Heinrich auf Bitten der Königin auf.
Völlig fern lag es Shakespeare, die Reformation als Ausfluß völkischen Tuns
zu betrachten. Dagegen erkennt er bereits die Macht der öffentlichen
Meinung: Heinrich schmeichelt den Londonern und gibt ihnen trügerische
Kunde über seine Scheidung. Buckingham wünscht dem König Volksliebe;
Wolsey erhielt sie durch seine Aktion gegen Buckingham. — Juristische
Schulung verrät Shakespeare nicht, wohl aber Belesenheit in staatsmänni-
schen Schriften; sein Heinrich straft sowenig wie der historische jemals
mit formloser Willkür. Ans Köpfen war jene Zeit gewöhnt; Anna unter-
hält ihren Heinrich damit über Mittag! 'Blutig und grausam' läßt er nur
den Bischof nennen, der unter Maria die katholische Gegenreformation
'lenkte; Marias Hinrichtungen wenigstens hat Shakespeare deutlich miß-
billigt. Rechtskorruption hat Shakespeare überhaupt gut durchschaut, und
zwar selbständig, mit dem gesunden Gefühl eines Laien; er hat auch Hein-
richs Schamlosigkeit bei Bestrafung eines Unrechts, das er selbst gewünscht
hatte, bloßgestellt. Doch fordert er nicht bessere Einrichtungen ; ihm genügt
die Gnade des Despoten; er war kein politischer Reformator. Kein Haß
oder Hohn gegen die katholische Hierarchie an sich und das Ehescheidungs-
recht des Papstes wird laut. Er verherrlicht Katharina, er verherrlicht
Elisabeth, und zwar letztere nicht bloß in der als unecht angezweifelten
Weissagung am Schluß; er hat namentlich ihr Geburtsjahr anachronistisch
nach den Tod der Katharina verlegt, um ihre Legitimität absolut sicher-
zustellen. Selbst die Mutter der Elisabeth, Anna, nennt er — im Wider-
spruch zur Geschichte — sanft und allgemein beliebt. Daß gerade der
vom Dramatiker verehrte Cromwell sie vernichten half, ist unterdrückt,
ihre historische Koketterie nur schwach angedeutet. Cranmer, von katho-
lischer Seite als 'Lutherischer Erzketzer' geschmäht, ist ihm Ideal eines
Bischofs, trotzdem ihm in Wirklichkeit bedenkliche Schwächen anhafteten;
vielleicht schätzte Shakespeare sehr hoch seine Verdienste um die geistige
Erziehung. Im ganzen ist das Drama eine Studie über Falschheit; aus
Liebe zu England ruft dies der Dramatiker selbst den höheren Ständen
seines Landes zu. — Selten gewährt ein Quellenvergleich so tiefe Einblicke
in die Shakespearische Seele. — Im nächsten Artikel erzählt P. Expeditor
Schmidt, wie der lateinische Schulmeister Hartmann im Jahre 1602
Hoftheaterdirektor in Dresden werden wollte; ein Kuriosum. Es folgt Dr oe-
schers Festrede auf den 200. Geburtstag Glucks, an dem zumeist die Stil-
fortschritte hervorgehoben werden. M u n c k e r gibt Nachträge zu seiner
Ausgabe von Klopstocks Oden (1889); Kl aar schildert die österreichische
Uraufführung von Lessings 'Nathan', die zu Preßburg 1785 stattfand und,
wie es scheint, auch der erste Nathan-Erfolg war. • — Anfänge von Maler Mül-
lers Berühmtheit vorfolgt L. Franke 1. Lauter dankenswerte Bausteine. ■ —
Mehrere gute Artikel handeln über Goethe. R u 1 1 m a n n setzt auseinander^,
wie sich der Weimarer Geh. Rat zur Reformationsfeier auf der Wartburg 181 7
stellte. Goethe bewunderte die Persönlichkeit Luthers, wünschte aber doch di<'
Feier vom 22. Oktober auf den 18. verlegt, als auf den Tag der Schlacht
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 127
bei Leipzig, denn letzteres Fest sei, weil auf alle Deutschen bezüglich, doch
ein höheres (S. 106). Er begann selber eine Kantate dafür zu dichten, von
der wir zwei Strophen besitzen, die allerdings gar nicht konfessionell
° ■ Was soll all der Prunk bedeuten?
Regt er nicht der Seele Spott?
Wenn wir in das Freie schreiten,
Auf den Höhen, da ist Gott.
Auf den Höhen, rein umsäuselt,
Wie es sich auch fügen mag,
Wenn das Lockenhaar sich kräuselt,
Knaben, Mädchen, hier ist Tag.
Als dann die Freiheitsreden der Studenten von Preußen und Österreich zu
Vorstellungen beim liberalen Großherzog Karl August benutzt wurden, hat
es der greise Goethe leider unterlassen, seinen Fürsten in der Öffentlichkeit
zu verteidigen. Knebel gegenüber mißbilligt,e er 'den garstigen Wartburger
Feuerstank'. Er riet, das von einem der Redner herausgegebene Oppositions-
blatt 'Iris' zu verbieten, worauf jedoch Karl August nicht einging. —
J. Landau weist nach, daß Goethe bereits an eine Wasserstraße zwischen
Donau und Rhein, sowie an einen von den Engländern zu erbauenden Suez-
kanal dacht« (1827). Etwas wie die Sommerzeit hat er 1786 in Italien
erwogen, die Erörterung von Friedensbedingungen, bevor noch der Krieg
beendet ist, als Träumerei bekämpft (1810). v. W esterholz geht dem
wechselnden Urteil Goethes über Shakespeare als Bühnendichter nach,
Fritz den Erstaufführungen des 'Faust' an rheinischen Bühnen, und
E. W o 1 f f bringt beachtenswerte Gründe dafür vor, daß der Plan des
Wilhelm Meister, den 'Hamlet' für das Theater zu bearbeiten, erst nach-
träglieh in den Meister-Roman eingeschoben wurde, als Reflex von Goethes
späterer Theaterleitung. Goethe und Schiller in gegenseitiger praktischer
Beurteilung erscheinen im Artikel von K i 1 i a n über ihre Bühnenbearbei-
tungen des 'Egmont'. Einen Bericht über Goethes Totenfeier für Schiller in
Lauchstädt 1805 teilt Scheidemantel mit, und zwar aus einer Hs. von
A. L. Bucher (dem Vater des Bismarckischen Bucher) im Weimarer Schiller-
haus 1859. Schiller allein kommt zum Wort in einer Skizze von Pctsch
über das Verhältnis des 'Teil' zu Shakespeares 'Julius Cäsar'. — Die weit-
aus größere Hälfte des Bandes wäre noch zu besprechen übrig. Sie gilt
überwiegend der modernen Theatergeschichte: Ifflands Beziehungen zur
Stuttgarter Hofbühne, P. A. Wolff und Weimarer Theaterzuständen, Kotze-
bue, der Volksbühne am Münchner Isartor, der ältesten deutschen Schau-
spieler-Pensionskasse, Bauernfeld und Saphir. Haases Anfängen und Shake-
spearerollen, Gutzkow und der Birch-Pfeiffer, Brachvogel und Devrient,
Hebbel. Anzengruber, auch Ibsen. Hervorgehoben sei, was Stahl über
Kean als einen tableaugewaltigen Vorläufer der Meininger berichtet; in
'Richard IL' hat er eine ganze Szene vor dem 4. Akt eingeschoben, um —
nach Andeutungen Yorks im 5. Akt — den Einzug des gestürzten und
des aufstrebenden neuen Königs vorzuführen (S. 441). Merkwürdig ist
endlich die Selbstkritik, mit der sich Dingelstadt, von dem wir bisher un-
gedruckt« Briefe durch O. Francke bekommen, 1875 über seine Wei-
marer Aufführung der Königsdramen aussprach: 'In der letzten April-
woche (23. bis 30.) hoffe ich, an dem dermalen recht hell strahlenden Himmel
des alten Burgtheaters das Siebengestirn der Shakespearischen Königs-
dramen im Zusammenhang heraufzuführen: das Werk meines Le-
bens, das ich zu gutem Teile mein eigen nennen darf
(S. 419). Den tiefen Eindruck, den er mit solcher Erneuerung seiner Wei-
marer Hauptarbeit bei den Wienern machte, konnte ich 1876 noch selbst
beobachten. — Wie könnte man jede Einzelheit nennen, ohne zu ermüden?
128 Verzeichnis der eingelaufeneu Druckschriften
So sei nur noch bemerkt, daß Fontane in Briefen, die Pniower mitteilt,
über Echtheit und Urform von Volksliedern 'höchst ketzerische Ansichten'
verrät: 'die bevviesensten Formen würden noch immer keine bindende Kraft
für mich haben'. Er findet die 'sogenannten Echtheitszüge alter Lieder mit-
unter sehr schön', aber durchaus nicht immer. Das best« Kriterium sei
'eine feine Zunge für derlei Dinge'. Im allgemeinen sei ja das Ältere auch
das Bessere. Aber wer andere als wissenschaftliche Zwecke verfolge, müsse
es doch 'vermeiden, seinen überfeinten Geschmack in Widerspruch mit dem
Geschmack des Publikums zu bringen'. Er selbst zitiere alles 'nur um Ton
und Stimmung willen' (S. 181). So geschrieben in Berlin im Jahre 187P,
als die Nibelungenkritik Lachmanns und die Beowulfkritik MüUenhoffs
im Mittelpunkt der germanistischen Formung standen. Scherer wußte da-
mals in Gesprächen den dichterischen Standpunkt Fontanes bereits vollauf
zu würdigen; Müllenhoflf ließ sich durch keine dichterischen Eigenempfin-
dungen von seinen philologischen Methoden abbringen; jeder der drei
Männer vertrat in seiner Art ein berechtigtes Prinzip, und wer in ihre
Sphäre hineingeriet, konnte für die Sache viel lernen. A Brandl.]
B r a n d i s , C. G., Beiträge aus der Universitätsbibliothek zu Jena zur
Geschichte des Tleformationsjahrhunderts. (Zs. des Vereins f. thüringische
Gesch. u. Altertumskunde. Neue Folge, 8. Beiheft.) Jena, G. Fischer, 1917.
84 S. M. 2. [Für Hamletforscher ist der Artikel über den Namen Witten-
berg bei den Humanisten, S. 24 — 26, von Interesse; um den Namen voll-
tönender zu machen, schrieb man ihn auch Wittenburg; man übersetzte ihn
mit Leuc-oris, Albi-oris, Leucorium; man wollte ihn durchaus von einem
mons candens herleiten, der in die Elbe vorspringe. Romanisten werden
den Artikel 'Die Pflege des Französischen am Hofe der sächsischen Kur-
fürsten Ernestinischen Stammes' gern lesen. Für Deutschphilologen sind
Verse auf Friedrich den Weisen und die Fürstenbilder im Schlosse zu
Wittenberg abgedruckt.]
Sigmann, Luise, Die englische Literatur von 1800 — 1830 im Spiegel
dtr zeitgenössischen deutschen Kritik. (Anglistische Forschungen, hg. von
Hoops, 55.) Heidelberg, Winter, 1918. 318 S. M. 12,50. [Eine nützliche
Zusammenstellung, allerdings mit einem überwiegend negativen Ergebnis,
denn außer Scott und Byron haben die englischen Poeten der untersuchten
glänzenden Periode wenig Gehör in deutschen Landen gefunden, und das
vorwiegend nur bei unproduktiven Geistern. In England war man um die-
selbe Zeit umsichtiger.]
Kindermann, Heinz, Hermann Kurz und die deutsche Übersetzungs-
kunst im 19. Jahrhundert. Literarhistorische Untersuchung. Suttgart,
Strecker, 1918. 70 S. M. 2. [Von den anderen deutschen Übersetzern des
19. Jahrhunderts wird zwar nur weniges im Vorbeigehen bemerkt, von Kurz
selber jedoch eine recht lesbare Übersicht gegeben. Er hat, vielfach vom
finanziellen Knüppel getrieben, aus den verschiedensten Sprachen übersetzt:
Äschylos, Shakespeare, Ariost, Lamartine, Byron, Cervantes, Gottfried von
Straßburg; von einem Eigenstil, wie z. B. Schlegel in der Shakespeare-
tlbertragung nach Goethe ihn schuf, kann man da nicht reden. Am Grunde
dieser Tätigkeit lagen einige Anregungen von Goethe sowie der Trieb der
Eomantiker zum Erotischen, die Beweglichkeit eines süddeutschen Geistes
und der Einfluß schwäbischer Literaturkenner wie Rapp; inwiefern Kants
Ästhetik und Hegels Lehre von einer Familiengemeinschaft der europäischen
Völker hereinspiegelten, ist nicht ganz klargelegt.. Für die Art des Über-
tragens verwendet Kindermann Umschreibungen, die eine lebhafte Sehn-
sucht nach charakteristischen Textproben wecken. Mehrfach erwähnt er
auch Handschriften, ohne jedoch Proben daraus zu geben. Immerhin gibt
die Schrift eine Ahnung vom Streben unserer Großväter, aus der geistigen
Enge des Biedermeiers herauszuwachsen zu einem freien Umblick über
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 129
die pochende Gegenwartswelt. Es ist auch bezeichnend, daß Kurz vom Alt-
griechischen ausging, um dazu nie mehr zurückzukehren, daß er auf dem
Gebiet der romanischen Renaissance sein Bestes leistete, und daß er nichts
schwerer fand, als mhd. Verssprache gut zu modernisieren.]
Germanisch.
Kau ff mann, Friedrich, Deutsche Grammatik. Kurzgefaßte Laut-
uud Formenlehre des Gotischen, Alt-, Mittel- und Neuhochdeutschen.
7. Aufl. Marburg, Elwertsche Verlagsbuchhandlung (G. Braun), 1917.
VIII, 128 S. Br. M. 2,80, geb. M. 3,60.
N e c k e 1, Gr., Studien zu den germ. Dichtungen vom Weltuntergang.
(Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie, 1918, 7. Abh.) Heidelberg,
Winter, 1918. 52 S. ['Sämtliche Weltbrandmotive des nordischen Ragnarök
sind fremder, südöstlicher Herkunft, zur Völkervvanderungszeit durch Goten
entlehnt . . . Dagegen fehlt in ihnen der Gedanke, der dem germ. Ragnarök
die Eigenart gibt: die Überzeugung, daß man gegen die vernichtenden
Mächte bis zum letzten Blutstropfen kämpfen muß.']
S i e v e r s, Eduard, Die altschwedischen Upplandslagh nebst Proben
formverwandter germ. Sagdichtung. I: Einleitung (Sachs. Ges. d. Wiss.,
Phil.-hist. Klasse. XXXV, 1. VII, 262 S. Mit 3 Fig. im Text. 4".
Leipzig, Teubner, 1918 [Vorbemerkungen. — A. Zum Gang und zur Me-
thode der Untersuchung. B. Zur Gebietsumschreibung und zur Benennung.
C. Zur Sprachform und Metrik. I. Sprachliches. IL Metrisches. D. Zu
den Texten. Von außerskandinavischen Denkmälern sind benutzt die ags.
Gesetze des Ine, Alfred und Aepelred. Eine Klage um Land aus Lieber-
manns 'Gesetzen', Restitudinio, 2 Urkunden, die Annalen, ^Ifric, dessen
eigene Stimme S. 211 beschrieben wird, und Sprüche des Catos, ferner
einige friesische Stücke].
Dresdner, Albert, Nordische Staats- und Kulturprobleme. Deutsche
Rundschau 44, H. 3, S. 302—328. Berlin, Paetel.
Niederländisch.
V. Ziegesar, Niederländischer Sprachführer mit besonderer Berück-
sichtigung der flämischen Mundart. Taschenwörterbuch für Reise und
Haus. Leipzig, Bibl. Institut, 1918. VI, 277 S. Geb. M. 3. [Das Vor-
wort betont, daß das Niederländische, auch von den Flamen, als Schrift-
sprache gebraucht wird, da leider das Flämische infolge der langen Ver-
nachlässigung nicht den Schliff aufweise, den das nördlichere Niederländisch
gewonnen hat. Der deutsch-niederländische Teil des Glossars ist ausführ-
lich, der niederländisch-deutsche nur ganz kurz. Beigaben, Zahlwörter,
Münzen und Gewichte, Briefmuster, geographische Namen, Speisen und Ge-
tränke und kurze Flexionslehre.]
Deutsch.
Wasserzieher, Ernst, Woher ? Etymologisches Wörterbuch der
deutschen Sprache. Berlin, Dümmler, 1918. XXXII. 1.58 S. [Der Verf.
liebt unsere Sprache, bis zur Verachtung des Englischen, das er als einen
bloßen 'Mischmasch' bezeichnet; aus dem Plattdeutschen, speziell aus Reuter,
hat er reichlich zitiert. Von seinen Lehrern Kluge und Trautmann hat er
eine rechte Freude am Etymologisieren übernommen; er verzeichnet nicht
bloß das unmittelbare Etymon, sondern bei lieimisohen Wörtern auch gern
ags. oder an. Parallelformen, sogar Verwandtschaft mit dem Lateinischen,
Griechischen, Italienischen, ferner bei geborgtem Gut« die Zeit des Ein-
dringens. Das Buch hat wissenschaftlichen Wert und linguistische An-
Archiv f. II. .Spracben. 13^1. 9
130 Verzeichuis der eingelaufenen Druckschriften
regujigskraft. Vorangestellt sind dem Glossar große Listen von deutschem
Erbgut, von Lehn- und Fremdwörtern, die überdies nach dem Jahrhundert
der Aufnahme gruppiert sind, von rückgevvanderten Wörtern, wobei z. B.
Halsberg als Verderbnis von ahd. diu halsherge durch französische Zwi-
schenstufe noch angeführt werden konnte; ferner tautologische Zusammen-
setzungen wie Bibelbuch, Diebstahl; Eigennamen, die zu Gattungsnamen
wurden — erg. Baedeker; gelungene Verdeutschungen und Verdrängung
deutscher Wörter durch ausländische; Volksetymologien; ehrlicherweise
auch dunkle Wörter. Da und dort mag man zweifeln, wie dies bei einem
so weiten Stoff natürlich ist; im ganzen ist es gute Arbeit.]
J i r i c z e k, Otto L., Seifriedsburg und Seyfriedsage. Eine Sagen-
studie in Archiv und Gelände. Archiv des bist. Vereins für Unterf ranken
und Aschaffenburg, LIX (1917). 67 S. [Unweit der Saale, die bei Gemünden
in den Main fällt, liegt das Dörfchen Seyfriedsburg, das in den Urkunden
zuerst 1057 auftaucht. Zu diesem gehörte im 15. Jahrhundert ein 'Hoff zum
Stuf ritz', dessen Umwallungsreste noch heute sichtbar sind; es dürfte sich
um ein frühmittelalterliches Kefugium, eine 'Volksburg' handeln, die man
.später als Viehgehege benutzte. Eine nahe Wiese unten an der Saale ist
seit 1524 mit dem Namen 'Am Lindwurm' bezeugt. Nun wurde der Orts-
name Seifriedsburg auf die Fluchtburg übertragen, als hätte sie einen
Erbauer namens Seufritz gehabt; dieser Name wieder veranlaßte die An-
nahme, ein 'Sauhirt namens Fritz habe sie einst besessen; und jetzt gesellte
sich das Motiv dazu — wohl durch Bänkelsang oder Siegfriedslieder — , daß
der Hirt durch den Fund eines Steins sich Unvtrwundbarkeit errang, so
daß er im Kriege viele Schätze gewinnen konnte, sowie daß er später als
Ritter einen Lindwurm erlegt habe. Die Anknüpfung des Liedes an den
Flurnamen erfolgte zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert. Aber es ist auch
mit der Möglichkeit zu rechnen, daß die Flurnamen 'Seyfridsburg' und
'ländwurm' selbst aus der Sage heraus entsprungen waren, weil die Lage
und Beschaffenheit der Gegend dazu einlud. Vorsichtig, mit Umsicht jede
Spur in Archiv, Gelände und Sprachgeschichte verfolgend, ist der Verfasser
dem Problem nachgegangen, dessen Bedeutung weit über da,s Lokale hinaus-
geht, denn ährlich wie hier mag es anderwärts zugegangen sein, wo Helden-
sage an Ortsnamen haftete und später durch Sagenberichte wieder auf-
gefrischt wurde, z. B. bei der Heimesagv in Innsbruck- Willen, auf die der
Verf. im Vorwort direkt verweist.]
Baesecke, Georg, Einführung in das Althochdeutsche. (Handbuch
des deutschen Unterrichts an höheren Schulen, begr. von Adolf Matthias.
IL Bd., 1. Teil, 2. Abt.) München, Becksche Verlagsbuchhandlung, 1918.
XI, 285 S. Geb. M. 13,50.
Dar kloane Catechismo von z'Beloseland, vortraghet in z'gaprecht
von Siben Kameün un a viar lialghe gasang. In seminärien von Pädebe, 1842.
(Manuldruck: F. Ullmann, Zwickau, Sa.) 39 S. Verth Kreuzer T. [Ende
Juni 1915 veranlaßte die italienische Heeresleitung die Räumung der deut-
schen Sprachinsel Sette Communi auf dem Hochplateau von Asiago. Darauf
ließ die Leipziger Verlags- und Kommissions-Buchhandlung, Leipzig-Reud-
nitz, Ranftsche Gasse 10, den Faksimiledruck des sg. Kloanen Catechismo,
als das letzte Literaturdenkmal der Sprachinsel, für 5 M. — statt wie bis-
her um 20 M. — verkaufen. Der Text liest sich wie lebendiges Althoch-
deutsch. Germanisten sehr zu empfehlen.]
S u c h i e r , Wolfram, Dr. Christoph Philipp Hoester. Ein deutscher
kaiserlich gekrönter Dichter des 18. Jahrhunderts. Borna-Leipzig, K. Naske,
1918. 112 S. Geh. M. 2.
Briefe von und an Lenz, ges. und hg. von Karl Freye und Wolfgang
Stammler. Bd. I 331 S., Bd. II 312 S. Leipzig. Kurt Wolff, 1918. Geh.
M. 18, geb. M. 24.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 131
Tiieuhard, F.. Einführung in Goethes Faust. (Wissenschaft und Bil-
dung, 116.) l^ipzig, Quelle, 1918. 116 S. [Die 1. Aufl. erschien 1912;
jetzt liegt bereits die 3. vor. Mit Recht freut sich Lienhard im Vorwort,
daß man sich mitten im Weltkrieg mit Goethes Faust noch eingehend be-
sdiäftigt.. 'Bewußter als zuvor halten wir uns eben durch den Weltkrieg
au das, was wir als unser im tiefsten und trautesten Sinne des Wort-es
empfinden.' Einen Kommentar wollte er nicht bieten: 'meine Einfühning
legt, den Schwerpunkt auf den Sinn der ganzen Dichtung.' Nicht als ein
Philologe, sondern als ein Mitschriftsteller plaudert er über Goethe, um
gtbildete Leser mit dessen Lebenskern vertraut zu machen.]
Höniger, R., Das Deutschtum im Ausland vor dem Weltkrieg. 2. Aufl.
(Aus Natur und Geisteswelt, 402.) Leipzig, Teubner, 1918. 1,31 S. [Der
Sinn ist unberührt geblieben, die Literaturangaben jedoch bereichert. Das
inhaltsreiche Büchlein, das einen der notwendigsten Bildungs- und Unter-
richtsgegenstände für jeden Deutschen behandelt, und zwar mit ausgedehn-
testem Sachwissen und in vornehmem Stil, verdient breiteste Beachtung.]
Weiser, Christian F., Das Auslanddeutschtum und das Deutsche Reich.
Betrachtungen und Vorschläge. Gotha, Perthes, 1918. 72 S. [Weiser, be-
kannt durch eine Studie über Shaftesbury, hat lange in Amerika gelebt
und stallt zunächst vielen deutschen Unterlassungssünden bei der Pflege
unseres Volkstums die Rührigkeit der angelsächsischen Propaganda gegen-
über. Das Ideal der deutschen Persönlichkeit sieht er in der Verbindung
von Einheit. Freiheit und Walirhaftigkeit; die angelsäch.sische Philasophie
dagegen sei auf das Nützliche und den Erfolg eingestellt und führe daher
nicht zu wahrer Freiheit. Eingehend wird die Tätigkeit englischer Mis-
sionen S. 27/28 geschildert: 'Wir haben mit Trauer und mit Empörung
erleben müssen, wie englisch-amerikanische Kirchen und Missionen über die
ganze Erde hin eben jenen Geist christlicher Liebe und Versöhnlichkeit,
den sie zu vertreten vorgaben, gröblichst verletzten, so daß die Gesellschaft
der Quäker sich zu einem feierlichen Protest veranlaßt sah.' Für die Zu-
kunft schlägt Weiser die Gründung zahlreicher Stipendien vor, um die Aus-
landdeutschen mit dem Mutterlande in engerem Kontakt zu halten, ferner
eine Organisation der Rückwanderung, parlamentarische Vertretung für die
Auslanddeutschen und hierfür sogar ein eigenes 'Reichsamt; endlich gründ-
liche Erziehung unseres Volkes zu weit- und kulturgeschichtlichem Denken
durch eine besondere Vortragseinrichtung des 'Vereins für das Deutschtum
im Auslande'.]
Englisch. 1
Anglia. XLI, Neue Folgte XXIX. 4. Heft. 2. Jan. 1918 [Keim, H. W..
Aepelwold und die Mönchreform in England. — Westergaard, E., A few
remarks on the use and the significations of the prepositions in Lowland
Scotch. — Holthausen. F., Zu me. Romanzen: V. Amis und Amiloun.
VI. Ipomadon. VII. Le bone Florence of Rome].
Beiblatt zur Anglia. XXVTII. 10. Heft, Okt. 1917 [Ta. Ekwall : Roberts.
^ Der Mentor-Verlag wünscht den Abdruck folgender Berichtigung: 'Im
Archiv Band 1.37. Heft 1/2, S. 122/23 befinden sich in der Besprechung von
Holthausens Etymologischem Wörterbuch Bemerkungen über das Grieb-
Schröersche Wörterbuch, die geeignet sind, den Mentorverlag, G. m. b. H.,
in dessen Verlag das Wörterbuch seit mehr als zehn Jahren erscheint, aufs
ärgste zu diskreditieren. Ich bedauere diese Angaben, von deren Grund-
losigkeit ich mich überzeugt habe. Der Rezensent.'
Die Buchhandlung Asher & Co. berichtete am 26. Februar 1919: 'Grieb-
Schröer wird neuerdings von Langeuscheidt wieder ausgeliefert, 2 Teile zu
je 12 M.'
132 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
The place names of Sussex. — Liljegren: Wood, The form and origin of
Milton's antitrinitarian conception. — Eichler: Erzählungen und Essays
von William Yeats. Übertragen und eingeleitet von F. Eckstein. — Görne-
niann: Salomon, Der britische Imperialismus. — Liebermann: Morsbach,
England und die englische Gefahr. Vortrag, geh. in Göttingen 2. 3. 1917. —
I b. Liebermann, Zur Geschichte des englischen Hasses gegen deutsches
Wesen. — Björkman, Wortgeschichtliche Kleinigkeiten: 12. ne. jump. 13. Zu
Irish 'an old game resembJing backgammon. 14. me. crot, crote 'a particle,
bit, atom. 15. ne. skin. — Björkman, Berichtigung. — llolthausen, Zu
Gorboduc. IL Karpf: Die neuphilologische Lehrerbibliothek. Zusammen-
gestellt von einem bayrischen Neuphilologen]. — 11, November [la. Groth:
Stahl, L. Tiecks Shakespeare-Studien. Zwei Kapitel zum Thema: L. Tieck
und das alte englische Theater. Caro: Mill, On liberty and the subjection
of women. — Emerson, English traits. — Günther, A manual of English
pronunciation and grammar for the use of Dutch students. — Ib. Björk-
man, Zur Haveloksage. — Rooth. Der Name Grendel in der Beowulfsage. —
IL Caro: English fairy tales. Selected and arranged by L. Kellner. —
Nursery rhymes. Selected and arranged by L. Kellner. — Meilin: Aschauer,
Neuer Lehrgang der englischen Sprache für Mittelschulen und verwandte
Lehranstalten. — Trenite, Drop your foreign accent. — Dinkler, Englische
Gedichte und Lieder]. - — 12, Dezember [Eehr: Fausler, The evolution of
techdic in Elizabetlian tragedy. — Cohen, The ballade. — Björkman: Kr i-
ger, iSchwierigkeiten des Englischen. — Poutsma, A grammar of Late Modern
English. — Holthausen: Liebermann, Die Gesetze der Angelsachsen. —
Ib. Zachrisson, Some notes on early English nieknames]. — XXIX, 1,
Januar 1918 [la. Hoops: Liebermann, Die Gesetze der Angelsachsen. —
Fehr: Brown, Shakespeare and the horse. — Liljegren: M. L. Bailey, Milton
and J. Boehme, a study of German mysticism in 17th Century England.
Chauvet, La religion de Milton. — Ib. Fehr, Die Erforschung des modernen
Englands (1880 — 1914). Praktische Ratschläge für Auglisten. IL Mit-
teilungen]. — 2, Februar [Ekwall: Holthausen, Etymologisches Wörterbuch
der englischen Sprache. Schöffler, Chauceriana. Saue. Graynes de Paris. —
Fehr, Die Erforschung des modernen Englands (Fortsetzung)]. — 3, März
[la. Förster: Geiriadur Cymraeg a Saesneg. Spurrell's Welsh-English
dictionary, edited by J. B. Anwyl. ■ — Geiriadur Saesneg a Cymraeg.
Spurrell's English-Welsh dictionary, edited by J. B. Anwyl. — Björk-
man: Günther, English Synonyms, explained and illustrated. — Ib. Holt-
hausen, Zum englischen Drama. 1. Zu King Lear I, 2, 162. — 2. Zu
J. Thomsons 'Edward and Eleonora'. — Ekwall, A note on i- mutated pri-
mitive English a before 1 foUowed by a consonant. — Fehr, Die Erforschung
des modernen Englands (Fortsetzung). — Fehr, Eine bisher unbeachtete
Funktion der progressiven Form? IL Neue Bücher. III. Mitteilungen:
Liebermann, Zum uhi sunt? -Motiv]. — 4, April [la. Kellner: Götz, Die
komischen Bestandteile von Shakespeares Tragödien in der literarischen
Kritik Englands. — Eichler: Wende, Über die nachgestellten Präpositionen
im Ags. Ib. Fehr, Die Erforschung des modernen Englands (Fortsetzung)].
— 5, Mai [la. Vietor: Morte Arthure. Mit Einleitung, Anmerkungen und
Glossar hg. von E. Björkman. — Lange: Cummings, The indebtedness of
Chaucer's works to the Italian works of Boccaccio. — Hörn : Hutton, W. Ho-
garth. — Hogarths Aufzeichnungen: seine Abhandlung Analyse der Schön-
heit ergänzt durch Briefe und autobiographische Erinnerungen, übertragen
und hg. von M. Leitner. — Ekwall: Hilmer, Schallnachahmung, Wort-
schöpfung und Bedeutungswandel auf Grundlage der Wahrnehmungen von
Schlag, Fall, Bruch und derartigen Vorgängen, dargestellt an einigen Laut-
wurzeln der deutschen und der englischen Sprache. — Eichler: Casement,
Gesammelte Schriften, 2. — Schmitz, Englands politisches Vermächtnis an
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 133
Deutschland durch B. Disraeli, Lord Beaconsfield. — Ib. Holthausen, Zum
ne. Drama. 1. Zu der Komödie Patient Grissill. 2. Zu Chettle's Hoffman.
— Holthausen, Zu dem me. Gedicht 'De arte lacrimandi'. I. Zum Text]. —
G, Juui [Western: Deutschbeiu, System der ne. Syntax. — Zachrisson;
Stichel, Die englische Aussprache nach den Grammatiken Peytons (1756,
1765). — Caro: Cooper, The last of the Mohicuns. — Ib. Björkman, Wort-
geschichtliche Kleinigkeiten. 16. ne. sand-asp. 17. sleac. 18. me. shamm
'shame'. — Fehr, Die Erforschung des modernen England.s (Schluß). —
II. Neue Bücher].
Spräk och stil. (Tidskrift för nysvensk spräkforskniug.) Sjuttonde
ärgängen. Förster — andra haftet. Uppsala, Akademiska Bokhandeln,
1917. 95 S.
Koch, John, Angelsachsen und Engländer. Konservative Monatshefte,
Jahrg. 76,2, S. 83 — 91. [Ergebnis: 'So sehen wir im heutigen Engländer
— vielleicht mehr noch im Nordamerikaner — eine Wesensart ausgeprägt,
die ihn merklich von den Angelsachsen unterscheidet, deren Abkömmling
er sich nur mit geringem Rechte nennt.']
Deutschbein, Max, Sprachpsychologische Studien. Köthen, 0. Schulze,
1918. 40 S.
von Gl ahm, Nikolaus, Zur Geschichte des grammatischen Geschlechts
im Me. vor dem völligen Erlöschen des aus dem Ae. ererbten Zustandes.
Mit besonderer Berücksichtigung der jüngeren Teile der Peterborough
Chronik sowie südöstl. und einiger anderer südl. Denkmäler. (Angl. For-
schungen, hg. von Joh. Hoops. lieft 53.) Heidelberg, C. Winter, 1918.
VIII, 104 S.
Sir Degrevant, hg. von Karl Luick. (Wiener Beitr. 47.) Wien, Brau-
müller, 1917. VII, 139. [Die eine der beiden Handschriften, Thornton,
war bisher nicht voll gedruckt, sie ist hier samt der zweiten, einem Cam-
bridge-Ms., synoptisch wiedergegeben, was einem bloßen Lesartenverzeichnis
entschieden vorzuziehen ist. Beigaben: Kurze Beschreibung der Hand-
schriften und des Inhalts; Liste der Eigennamen und der im Ne. fehlenden
Wörter mit einfacher Übersetzung.]
Vetter mann, E., Die Baien-Dichtungen und ihre Quellen. (Bei-
heft« z. Zs. f. rom. Philol. 60.) Halle, Niemeyer, 1918. X, 311 S. M. 14,
im Abonn. M. 12. [Bis S. 84 als Leipziger Diss. 1914 erschienen. Die
neuen Kapitel behandeln die Vorgeschichte von Malorys Text, der wesentlich
auf der Balaain-Erzählung in einem Huth-Ms. des Brit. Mus. beruht. Diese
franz. Quelle stammt selbst wieder aus einer dritten Redaktion der Suite de
Merlin, eines angeblichen Werkes des Robert de Boron; genannte Redaktion
ist wesentlich in einer spanischen Übersetzung vorhanden, genannt De-
manda del sancto Grial. Vettermann versenkt sich dann tief in die kelti-
schen und die altfrz. Elemente, aus denen der Baien-Text des Pseudo-Robert
zusammengesetzt wurde. Diese Forschungen machen einen soliden Eindruck;
um die Darstellung zu klären, sind zweimal Zusammenfassungen gemacht,
S. 188 und am Ende. Wir haben es nicht mit originaler, sondern mit
epigonenhafter Dichtung zu tun, die dem Unterhaltungsbedürfnis der Ritter-
gesellschaft mit sehr wer ig Wirklichkeitssinn nachkam. Der walisische
Nationalstolz des Galfred von Monmouth ist darin nicht mehr zu spüren.
Ein englisches Empfinden ist noch nicht bei Malory hineingekommen, ob-
wohl dieser Lancaster-Vasall mitten in der Selbstmordzeit des englischen
Feudaladels schrieb, sondern erst bei Tennyson, dem angehenden Imperia-
listen, neben dem Swinburne fast wie ein bloßer Ästhet sich ausnimmt.]
Reschke, Hedwig, Die Spenserstanze im 19. Jahrhundert. (Anglist.
Forschungen, hg. von Hoops, 54.) Heidelberg, Winter. 1918. VIII, 198 S.
M. 8. [Die Einleitung handelt über Entstehung und Wesen der Spenser-
stanze und deutet auf die Ergebnisse voraus. In der ersten Hälfte des
134 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
19. Ja h Thunder t-s war der Gebrauch der Spensersüiuze meist mit Nach-
bildunjj von Spensers Stil verknüpft; so bei Wordswortli, Coleridge, Southey,
Tighe, Hunt. Keats, Reynolds, Hood, Holm, Tennyson. Aber Byron im
'Childe Harold' schlug eine freiere Richtung ein, und ihm folgten Shelley,
Campbell, Scott, Hogg u.a. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist
dann die Stanze fast aufgegeben — sie war ein zart^'s Kind der Romantik.]
Reuning, Karl, Das Altertümliche im Wortschatz der Spensernach-
ahmungen im 18. Jahrhundert. (Quellen und Forschungen 116.) Straß-
burg, Trübner, 1912. [Die Studie ist bei Prof. Hörn (Gießen) gearbeitet,
und zwar nach der Liste der benutzten Bücher im Eingang noch ohne
Kenntnis von Traugott Böhmes Schrift über die Spensernachahmungen,
Palästra. Sie beginnt mit Prior, 1706, und reicht bis Thomas Warton,
1777. Manche Dichter, wie Mickel und Downman, haben Dutzende von
Wörtern geborgt; es sind nicht die bedeutendsten Geister. Pope und Aken-
side hielten sich origineller. Auf die Beschreibung der borgenden Autoren
folgt die der geborgten Wörter; eine Tabelle veranschaulicht die Zeit und
den Grad ihrer Altertümlichkeit. Als Anhang sind zwei einschlägige Dich-
tungen abgedruckt, die man sonst in Deutschland schwer bekommt: 'An
original canto of Spenser', 171.3 von einem ungenannten Verfasser, und 'The
seasons', 1751 von Mendez.]
Schott n er, Adolf, Über die mutmaßliche stenographische Entstehung
der ersten Quarto von Shakespeares 'Romeo und Julia'. Dissertation. Leip-
zig, Koehler, 1918. VI, S. 229—340. (Erscheint in der Zeitschrift 'Archiv
für Schriftkunde', 1. Jahrg., 6. Heft. Wegen Personalmangels in der
Druckerei ist die Seitenzählung der Zeitschrift beibehalten worden.)
Shakespeare in deutscher Sprache, hg., zum Teil neu übersetzt von Fried-
rich Gundol f. X.Band. Berlin, Bondi (1918). 432 S. [Trotz der Kriegs-
nöte ist Gundolfs Übersetzung jetzt bis auf zwei Bände fertig geworden,
und weder die an die Keimscott Press erinnernde Schönheit des Druckes
noch die poetische Führung des Textes hat gelitten; nur der Umschlag ist
nicht mehr in Leinen oder Leder ausgeführt, sondern durch einen Not-
einband ersetzt, auch der Preis ist etwas erhöht worden. Perlen von Shake-
speares Lustspielen sind in diesem 10. Bande vereint: Sommernachtstraum,
Cymbelin, Sturm, Wintermärehen. Als Probe sei die bekannte Stelle aus
Sommern ach tstraum V, 1 über die Phantasiegewalt der Poesie mitgeteilt,
links nach Schlegel, rechts nach Gundolf:
Ich glaubte nie an diese Feenpossen Ich kann nicht glauben
Und Fabelei'n. Verliebte und Ver- An solche Ammen-mär und Elfenfabel.
rückte Verliebte und Verrückte haben Hirne
Sind beide von so brausendem Gehirn, So siedend, Sinne so erfinderisch,
So bildungsreicher Phantasie, die daß sie
wahrnimmt. Mehr sehen als der kühle Kopf be-
Was nie die kühlere Vernunft be- greift.
greift. Der Narr, der Liebhaber und der
Wahnwitzige, Poeten und Verliebt« Poet
Bestehn aus Einbildung. Der eine Sind ganz aus Einbildung gemacht.
sieht Der sieht
Mehr Teufel, als die weite Hölle Mehr Teufel, als die weite Hölle faßt:
faßt: Das ist der Narr. Liebhaber, grad
Der Tolle nämlich; der Verliebte so toll,
sieht Sehn auf der Mohrenstirn Helenens
Nicht minder irr : die Schönheit Reiz . . .
Helenas Des Dichters Aug', in schönem Wahn-
Auf einer äthiopisch braunen Stirn. sinn rollend,
Des Dichters Aug', in schönem Wahn- Blitzt auf zum Himmel, blitzt zur
sinn rollend, Erd hinab.
Verzeichuis der eingelaufeuen Druckschriften 135
Blitzt aul: zum Himmel, blitzt zur Und wie die schwangre Phantasie
Erd' hinab, Gebilde
Und wie die schwangre Phantasie Von unbekannten Dingen ausgebiert,
Gebilde Gestaltet sie des Dichters Kiel, be-
\'on unbekannten Dingen ausgebiert, nennt
(Jest-altet sie des Dichters Kiel, be- Da« luftige Nichts und gibt ihm festen
nennt Wohnsitz.
Da»s luftige Niohts und gibt ihm festen
Wohnsitz.
Es tut wohl, daß Guudolf, so sehr er in den einleitenden Versen seine Ver-
besserungiskunst gebraucht und Shakespeare mehr in die Khetorik der Re-
naissance umstimmt, doch Schonung walten läßt, sobald er zum klassisch
gewordenen Spruch vom schönen Wahnsinn gelangt, durch dessen innere
Pracht allerdings bereits Schlegel zu einer höheren Tonart gehoben war.
Solcher Beispiele ließen sich mehrere anführen. Glückauf zur baldigen
Vollendung!]
G r ü n e w a 1 d , Wilhelm, Der Formenbau der englischen Bibel (authori-
sed Version 1611). Diss. Gießen 1917. Mainz, Philipp von Zabern. X,
37 S. [Beschreibung der Formen mit Vei-gleich derer von Chaucer nach
ten Brink, Caxton nach Eömstadt, Spenser nach Liese und Boehm, Shake-
speare nach Franz.]
Spranger, Eduard, Shaftesbury und wir. Internat. Monatsschrift
XII, 12. 1917. S. 1477—1504. Leipzig, Teubner.
Jacobson, Anna, Charles Kingsleys Beziehungen zu Deutschland.
(Anglistische Forschungen, hg. von Joh. Hoops. Heft 52.) Heidelberg,
('. Winter, 1917. VIII, 100 S.
Fischer, Walther, Die persönlichen Beziehungen R. M. Milnes', ersten
Barons Houghton, zu Deutschland, unter besonderer Berücksichtigung seiner
Freundschaft mit Varnhagen van Ense. Habilitationsschrift. Würzburg,
Triltsch, 1918. IX, 92 S. [Die Gedichtsammlung 'Palm leaves' von Milnes
1840 war keine besondere Leistung, wie Fischer richtig bemerkt; mit Grund
hat er sie auf S. 6 ff. mit einigen Proben und Werturteilen abgetan. Von
den Versen 'Plight of youth' sagt er, daß sie an Keats gemahnen: vielleicht
auch an Shelleys 'Euganean Hills'? Was Milnes aus dem Deutschen, be-
sonders von Platen, Goethe und Heine, übersetzt, hat wesentlich stoffliche
Bedeutung. Am interessantesten ist er durch seine persönlichen Beziehun-
gen mit hervorragenden Schriftstellern und Politikern. Fischer hat dafür
neues Material beigebracht. So brachte Milnes 1850 den deutschböhmischen
Freiheitskämpfer Moritz Hartmann mit Carlyle zusammen, über den dann
Hartmanu berichtet, daß er einen 'Schatz von Humor, Weisheit und Poesie'
in sich trage, daß er aber von der Bewegung von 1848 'gewaltig erschrocken'
sei, als wäre er 'ein nervenschwacher detitscher Professor oder Hofrat, und
sieht Gott und die Zivilisation zugrunde gehen, wo beide sich doch nur
offenbaren', S. 63. So erhalten wir in loser Form eine Reihe literarischer
und staatsmännischer Einzelheiten. Am Schluß kommt Fischer noch auf das
berühmt gewordene Gespräch zwischen Kronprinz Rudolf und Milnes über
österreich-LTngarns Ausdehnung nach Saloniki 1880 zu sprechen.]
Aron stein, Ph., George Meredith, Tl. { Internationale Monatsschrift
Xll. 4, S. 40.3— 426; III, IV, des. 5, S. 487— 500.) Leipzig, Teubner, 1918.
Tauchnitz edition. CoUection of British and American authors. Leipzig,
B. Tauchnitz. Je M. 2,50:
\'6[. 4524. Earl- of Chesterfield, Letters to his son.
„ 4525. R. W. Emerson, The conduct of life.
Fehr, B., Erforschung des modernen Englands (1880 — 1914). Prak-
tische Ratschläge für Anglisten. (Sonderabdruck aus 'Beiblatt zur Anglia',
Bd. 29.) 79 S. Halle. M. Niemeyer, 1918.
136 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
Yeats, W. B., Das Land der Sehnsucht (The land of heart's desire),
ein dramatisches Märchen in einem Aufzug, aus dem Irischen übertragen
von F. Weekley und E. L. Stahl. (Englisches Theater in deutscher Über-
tragung, hg. von Stahl, 1.) Düsseldorf, Schrotsdorff, 1911." 18 S. [Die
Übersetzung liest sich fließend. Es ist ein Verdienst, dies schöne anglo-
irische Stück, das 1913 englisch bei der Weihnachtsfeier des Englischen
Seminars Berlin aufgeführt wurde, unserem Volke nahegelegt zu haben.
Ein Schlußwort von anderthalb Seiten weist hin auf den Gesamtcharakter
der modernen anglo-irischen Dichtung, die bisher leider fast nur durch
Shaw bei uns bekannt wurde.]
D i b e 1 i u s , Wilhelm, Die Sinn Feiner in Irland. (Internat. Monats-
schrift XI, 12, S. 1409—1424.) Leipzig, Teubner.
Krüger, Gustav, Uneuglisches Englisch. Eine Sammlung der üblich-
sten Fehler, welche Deutsche beim Gebrauch des Englischen machen. 2. stark
verm. Aufl. Dresden, Koch, 1918. XII, 246 S. [Deutsche, französische,
lateinische und neuenglische Ausdrücke werden in alphabetischer Ordnung
durchgenommen und auf 'ihre Verwendung in moderner englischer Sprache
hin erläutert: manchmal nur in Form einfacher Übersetzung, meist durch
Aufzählung idiomatischer englischer Phrasen. Nicht die Fehler, sondern
das Richtige findet man im allgemeinen zusammengestellt, auf Grund der
Erfahrungen, die der Verfasser in einem 25jährigen Unterricht gemacht hat.
Nicht die Anlage, sondern der Umfang hat sich bei dieser Neuauflage ver-
ändert; er will nicht korrigieren, sondern von vornherein warnen.]
B r a n d e i s, A., und R e i 1 1 e r e r, Th., A first Englisch primer. With
a diagram showing the organs of speech, and a table of the English coins.
Mit Erlaß des k. k. Ministeriums für Kultur und Unterricht vom 20. Juni
1917 zum Unterrichtsgebrauch an Realgymnasien allgemein zugelassen.
2. verb. Aufl. Wien u. Leipzig, F. Deuticke, 1917. VII, 105 S. Geb. M. 2,40.
[Mit nursery songs beginnt die Aussprachlehre, mit Sätzchen aus dem Schul-
leben der Flexionsunterricht. Der Anfänger soll bereits den Phrasenvorrat
des täglichen Lebens gewinnen, so daß ihm die Fremdsprache von vorn-
herein zur Unterrichtssprache werden kann. Mit sorgsamer Steigerung
leitet ihn das Buch zu eigener englischer Rede, zu einigem Wortreichtum,
zur Kenntnis von England, zu Essays. Es ist ein mit Liebe und Geschick-
lichkeit hergestelltes Elementarbuch, das dem praktischen Sinn der öster-
reichischen Anglistik Ehre macht.]
von Loebell, G., Englisch-deutsches Militär - Taschenwörterbuch zur
Vorbereitung für militärische Prüfungen. Nach der englisch-französischen
Ausgabe von Meyer-Griffith deutsch mit Erweiterungen bearbeitet. Berlin-
Schöneberg, Langenscheidt. 137 S. Preis 1 M. [Der Inhalt beschränkt
sich naturgemäß auf militärische Ausdrücke und Phrasen und ist nach den
englischen Hauptwörtern alphabetisch geordnet.]
Englisches Tornisterwörterbuch mit genauer Angabe der Aussprache.
4. Aufl. Berlin-Schöneberg, Mentor. 198 S. 12". [Inhalt: Englische Orts-
namen, S. 6 — 7; Kleine Karten von England, London und Londons Um-
gebung; Maße, Gewichte und Münzen, letztere mit Abbildungen, Zahlwörter,
Telegraphenschlüssel für Zimmerbestellungen in Gasthäusern; Aussprache-
zeichen, S. 25—27; Das Wichtigste aus der Flexion, S. 28—40; Wörter-
verzeichnis, geordnet nach dem Deutschen und unter Beifügung von Phrasen;
Gespräche, S. 155 — 187. Offenbar für die Bedürfnisse des vordringenden
Soldaten berechnet, der sich deutlich und sehr höflich ausdrücken will; Ge-
bote der Gesundheitspflege im Felde. Das Büchlein hat gewiß in den eng-
lischen Gefangenenlagern gute Dienste geleistet. Etwas genauere Winke
für richtige Aussprache hätte seine Handlichkeit kaum beeinträchtigt.]
Zu Lessings Aufsatz Romulus und Rimicius.
Matthias Claudius besprach in seinem 'Deutschen, sonst AVands-
becker Bothen' 1773 Lessings ersten Beitrag 'Zur Geschichte
und Litteratur, aus den Schätzen der Herzogl. Bibliothek zu
Wolffenbüttel'. Die Anzeige fehlt in den gesammelten Werken
von Claudius.^ Vollständige Exemplare der Zeitschrift sind be-
kanntlich sehr selten,^ und so wird eine Wiedergabe der Be-
sprechung, welche ich auf der Lübecker Stadtbibliothek mir aus-
geschrieben habe, nicht unmllkommen sein. Sie lautet:"
'Baco sagt irgendwo, daß es den Leuten, die Kopfs genug hätten, selbst
Systeme zu erfinden, sehr schwer falle dies Talent zu verläugnen, und
blosse Beobachter des Systems der Natur zu werden, als wozu ein minderes
Talent auch gut genug wäre. Als Herr Lessing Bibliothekar ward konnte
einem so etwas ähnliches einfallen, was wird er, der selbst so gut kann,
sichs eben so sauer um das werden lassen, was die andern gekonnt haben?
Herr Lessing hat indess durch die angezeigte Schrifft [sie!], und schon
vorher gewiesen, dass man Unrecht hatte, wenn man sich so was ähnliches
einfallen ließ, und daß er es nicht allein verstehe, seine Gelehrsamkeit ge-
legentlich mit zu seinem Privat-Nutzen zu gebrauchen, wie in den Briefen
antiquarischen Inhalts etc. sondern daß er auch genug Freund der Litte-
ratur sey, um sich keine- Mühe und keinen Fleiss verdriessen zu lassen,
das Wolfenbütteische Hörn des Überflusses recht in seine Hand zu fassen,
und zum Vortheil der Gelehrten ohne Ansehn der Persohn und der Litte-
ratur überhaupt auszuschütten, und daß die Familie der Galosti's ihn daran
nicht hindre.'*
'Was von Lessing kommt hat allemal einen entschiedenen
Werth', schrieb Zoega am 16. Dezember 1778,^ und Lessings Bio-
graph Erich Schmidt sagt: 'Auf Lessings Vermächtnis weisen
die besten Männer und Gelehrten mit gehobener Hand.' ^ Lessings
Verdienste um die Geschichte der Fabel haben bisher keine Wür-
digung erfahren, seine Arbeiten sind zum Teil der Vergessenheit
anheimgefallen, Fortschritte über ihn hinaus in manchen Fragen,
welche ihn beschäftigten, nicht gemacht, zum Teil müssen die
neueren Arbeiten als Rückschritte bezeichnet werden.'^
1 Vgl. Wolfgang Stammler, Matthias Claudius (1915) S. 54 A. 65.
2 Auch in dem Exemplar der Hamburger Stadtbibliothek fehlt diese
Anzeige.
■« 177.? Nr. 27. Dienstags, den 16. Februar. St.B.Lübeck, Philol.
ümm. 40, .3310.
* Reiske wünschte Lessing Glück, wie er 'den entsetzlichen Wirrwarr,
den der verdammte Franzose . . . gemacht hatte, so meisterhaft auseinander-
gesetzt und den so verfitzten Knaul so behutsam und so glücklich ent-
wickelt'. Hempel XX 2, 667, vgl. K. Borinski, Lessing II (1900) S. 24.
■^ Welcker, Zoegas Leben I, Klassiker der Archäologie II (1912) S. 99.
ß E. Schmidt, Lessing I^ (1884) S. 2.
^ So die Inhaltsangabe Danzel-Guhrauers über Lessings Aufsatz 'Ro-
mulus und Rimicius'. (Gotthold Ephraim Lessing, 2. Aufl. von W. v. Malt-
/ahn und R. Boxberger, II [1881] S. 336) : 'Romulus und Rimicius haben
Archiv f. n. Sprachen. 139. 10
138 Zu Lessings Aufsatz Romulus und Rimicius
So wurde 1912 die lateinische Äsop-Übersetzung des Leonardo
JJati aus dem Codex Ehedigeranus 60 herausgegeben.^ Daß Les-
sing diese Handschrift benutzt hatte, war dem Verfasser un-
bekannt geblieben. Der Codex ist deutlich und gut geschrieben.
Lessing hat meist ihn richtiger gelesen als der neue Herausgeber,
wie folgende Übersicht erweist:
Cod. Rhedig. 60
Lessing
Tacke
Praef. 12
iubes
iubes
iube
Epim. 4
latina
latina
latine
Epim. 6
latina
latina
latino
XXIII 4
exalet
exalet
exalit
Nur das Corrarum der Überschrift — corrai steht im Rhedigera-
nus — hat Lessing stillschweigend in Corrarium geändert, mit
Recht, denn Dati hat seine Fabeln dem Grregorio Corraro ge-
widmet, der auch eine — noch nicht gedruckte — Sammlung la-
teinischer Fabeln — vermutlich zwischen Februar 1431 und Ok-
tober 1433 — herausgab.^ — Nachdem Lessing im Dezember
1763 in Breslau 'griechische und lateinische Handschriften der
Bibliothek zu St. Elisabeth ohne nachweisbaren Ertrag studierte' ^
— freilich sind sie für uns doch nicht ohne nachweisbaren Ertrag,
wie angedeutet, geblieben, und es erscheint schwer verständlich,
wie die Hinweise Lessings dem Breslauer Herausgeber ent-
gingen — , hat Lessing in Wolfenbüttel sich intensiv mit der
Geschichte der äsopischen Fabel beschäftigt. Freilich ist er mit
dieser Geschichte nach seines Bruders Ausdruck nicht zustande
gekommen.* Aber in dem Aufsatz über Romulus und Rimicius
liegen uns doch Ergebnisse seiner Forschungen vor, wie sie nur
ein Lessing und nur in Wolfenbüttel liefern konnte. Diesem Auf-
satz gelten die folgenden Bemerkungen, welche nur dem Ver-
ständnis und der Erklärung von Lessings Worten dienen sollen.
Lessing liefert den Nachweis, daß 1. Romulus in Steinhöwels
Äsop, welchen der Franzose Nevelet Rimicius nannte, ein Ro-
mulus sei, 2. Rimicius mit Romulus nichts zu tun habe, 'daß er
weder Romulus ist, noch den Romulus auch nur herausgegeben'.
Die Verwechslung von Romulus und Rimicius geht auf Nevelet ""'
zurück. Er hat Steinhöwels Äsop benutzt, welcher lateinisch und
beide den Äsop aus dem Griechischen in lateinische Prosa übersetzt und
mehr oder weniger verstümmelt.' Romulus als Übersetzer aus dem Griechi-
schen? Da seheint Lessing für die Lessingforscher vergeblich gearbeitet
zu haben. In der Ausgabe von Boxberger (Deutsche National-Literatur,
Bd. 68 I S. X) erscheint Romulus als Bearbeiter äsopischer Fabeln.
1 0. Tacke, Rhein. Mus. LXVII (1912), S. 276— 301.
2 Rhein. Mus. LXX (1915) S. 385—387.
3 E. Schmidt, ■ Lessing 1^ (1884) S. 451.
* Lessing, Vermischte Schriften II S. XXXII.
5 Mythologia Aesopica 1610. Vgl. S. 142, A. 2.
Zu Leasings Aufsatz Romulus und Rimicius 139
deutsch die vier Bücher des Romulus enthält, dann Extravagantes,
17 Fabeln aus der Übersetzung des Rimicius, 27 aus Avian und
— wenn man will, als Anhang — 23 Fabeln des Petrus Alphonsi
und Poggius.^ Wenn Nevelet Deutsch gekonnt liätte, wäre die 'Ver-
wechslung unmöglich gewesen, da Steinhöwels Vorrede deutlich
von einem 'leben des hochberümten Fabeldichters Esopi uß kri-
chischer zungen in latin durch Rimicium gemachet' . . . und von
'Fabeln, die etwan Romulus von Athenis synem sun Thiberino uß
kriechischer zungen in latin gebracht, hatt gesendet', spricht.^
Auch die Schlußschriften, welche Steinhöwel den einzelnen Samm-
lungen hinzugefügt,^ hätten Nevelet über den wahren Sachverhalt
aufklären können. Trotzdem geht die Verwechslung des Romulus
und Rimicius weiter, als selbst Lessing gemerkt hat.
Es handelt sich um die Fabel von dem Fuchs und den
Trauben. Die antiken Fassungen der Fabel ^ dürfen für unseren
Zweck unberücksichtigt bleiben, sie stimmen in allem Wesent-
lichen miteinander überein. Dagegen ist die Fassung in Stein-
höwels .Sammlung zu vergleichen mit Romulus, unter dessen
Fabeln sie Steinhöwel am Anfang des vierten Buches aufgenom-
men hat, und mit der lateinischen Übersetzung, welche Rimicius
von der alten äsopischen Fabel nach einer griechischen Hand-
schrift gemacht hat.^
Der Vergleich auf S. 140 lehrt, daß in der Tat hier unter den
Romulus-Fabeln eine Übersetzung des Rimicius erscheint. Ob
eine Verwechslung Steinhöwels vorliegt oder schon früher die
Rimicius-Fabel in das Romulus-Corpus geriet, können wir nicht
mit Sicherheit entscheiden. Die Abweichungen in Auslassungen,
Zusätzen und Umstellen einzelner Wörter überschreiten nicht das
Maß, welches wir in den anderen Rimicius-Fabeln bei Steinhöwel
finden.^ Auffallend ist, daß Steinhöwel der Fabel kein Promy-
thion hinzugefügt hat, wie er es bei fast allen Rimicius-Fabeln
getan hat. Unter den Romulus-Fabeln haben nur Fab. 1 und 21,
die sich an das Proömium anschließen, 71 und 72, wo bei Romu-
lus die Überschrift fehlt, aus der Steinhöwel seine Promythien zu
1 Vgl. unten S. 145—148.
- Vgl. unten S. 145.
» Vgl. unten S. 148, A. 1,2.
4 Aesop f. 33 Halm, 33 b, Babrius 19, Phaedrus IV 3, Romulus IV 1
(Thiele S. 50 — 53). — Nachweisungen gibt Robert, Lafontaine 3, 11 und
Kurz zu B. Waldis Esopus III 73 (S. 133— 134).
5 Rimicius Fab. 85.
8 Von Rimicius stammt das eigenartige Morale der Fabel: Fabula
significat, quod prudentis est fingere se ea nolle, quae consequi non posse
cognoscit, die uns bei Lafontaine wieder begegnet III 11: Fit-il pas mieux
qüe de se plaindre. Während in der Fabel Äsop (F. 33 Halm) und Phae-
drus (IV 3) übereinstinuiien, weichen sie in dem Morale voneinander ab.
10*
140
Zu Leasings Aufsatz ßomulus und Rimicius
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, Ich wölte sie
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mit klimmen
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Zu Leesings Aufsatz Roniulus und Rimicius 141
nehmen pflegt, und — auffallenderweise — 77 kein Proniythion.
In den übrigen Fabeln hat Steinhöwel nur zweimal die Über-
schriften des Romuliis nicht genau wiedergegeben.^
So ist die Verwechslung von Roniulus und Eimicius nicht
erst, wie Lessing meinte, durch Nevelet veranlaßt worden.
Als Lessing in Wolfenbüttel seine Fabelstudien wieder auf-
nahm, wandte er sich zunächst der eigenhändigen Abschrift des
Codex Divonensis durch Gudius zu. Es ist der Codex Gud. 182
quart. der Wolfenbütteler Bibliothek. Noch einen anderen Codex
des Roniulus besaß Gudius, den ehemals AVeißenburger, aus dem
Kloster St. Peter und Paul zu AVeißenburg im Elsaß stammend,
jetzt in Wolfenbüttel, cod. Gud. 148.'"^ Gudius nennt ihn "Soias-
sianum Rimicii codicem. Lessing bekennt seine 'Unwissenheit,
warum Sciassianum. Mir fällt — so schreibt er — weder ein
Ort noch ein Gelehrter ein, nach welchem er diese Benennung
führen könnte'. Wer von dem Leben des Marquard Gude weiß,
Avird leicht vermuten können, welcher N^ame sich hinter dem
rätselhaften Sciassianum verbirgt: Samuel Schars,"* der reiche
Holländer aus dem Haag, dem Gude sich 1659, als er von Frank-
furt a. M. nach Holland kam. angenehm und unentbehrlich zu
machen wußte, mit dem er 1660 — 1664 Frankreich und Italien
auf der Suche nach Büchern und Handschriften durchreiste, mit
dem er bis 1671 in Holland lebte, der ihm 1671 nach Rendsburg
folgte.. In den lateinischen Briefen der Zeit wird Schars Schas-
sius genannt, seine Bibliothek mit vielen seltenen Büchern und
Handschriften vermachte er an Gude.^ Also wird Gude Schassia-
num Rimicii codicem geschrieben haben.
Ausgehend von den Handschriften des Gudius. weist Lessing
nach, daß der Romulus des Steinhöwel. den N"evelet und seine
Yaohfolger Rimicius genannt hatten, ein Romulus ist. Der zweite
1 Steinhöwel 28, vgl. Eomukis II 9. Steinhöwel 39, vgl. Romulus II 20.
2 österley, Romulus (1870) S. XII ff.
' Bursian, Allg. deutsche Biogr. X 88: Beck, Zeitschr. d. Ges. f. Schles-
wig-Holsteinische Geschichte XXVI (1896) S. 165.
» Vgl. Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschieht«
XXVI 165 f., 192, III 16 f.; Jahrbb. I 26, Archiv f. St. u. K. G. V 564.
Über das Schassische Stipendium Provinzialberichte 1798 Heft 3, 268, 1811
Heft 4, 379. — Diese Zitate verdanke ich Herrn Professor N. A. Schröder
in Hadersleben.
5 Peter Axen schreibt an Christian Daum 10. Februar 1677: 'Ne nescias.
hie über est es Bibliotheca nobilissimi et optimi viri Samuelis Schassii,
qui ante annum aut siquid supra est, in vicinia arcis Gottorpicae mundo
seculoque digressus est, postquam memoratum Gudium, fidissimum Achatem
Ruum, testamento ... heredem instituerat' (Zeitschrift der Gesellschaft für
Schleswig-Holstein-Lauenburgische Geschichte Bd. 26 (1896) S. 166 A. 7). --
Der literarische Nachlaß Gudes befindet sich in den Bibliotheken zu Wolfen-
büttel (Handschriften), Kopenhagen und Rendsburg (Bücher), vgl. Hermann
Gidionsen, Katalog der sog. Gudeschen Bilbiothek, Rendsburg 1902, S. III.
142 Zu Lessings Aufsatz Romulus und Rimiciuß
Teil des Aufsatzes bringt den Nachweis, daß Rimicius mit Ro-
mulus nichts zu tun hatte. Lessing benutzt den sog. Aesopus
Dorpii, eine Fabelsammlung aus dem Anfange des 16. Jahr-
hunderts von dem holländischen Theologen Martin Dorpe.^ Es
sind 100 Fabeln, welche Rimicius aus einer griechischen Äsop-
Handschrift in das Lateinische übersetzt hat. 1610 gab Nevelel
148 Fabeln in seiner Mythologia Aesopica^ als nunquam hactenus
editas heraus. Da die Übersetzung des Rimicius damals bereits
sehr oft herausgegeben war, nahm Lessing an, daß die Rimicius-
Fabeln nicht zu den 148 neuen Nevelet-Fabeln gehörten, sondern
alle den älteren, sog. plaundeischen Fabeln entnommen seien.
Lessing erkannte dann, daß 'unter den hundert Fabeln des Rir
micius mehr denn dreißig' waren, 'welche allein unter den Ne-
veletschen vorkommen'. Es sind 35 Fabeln des Rimicius, die bei
Nevelet gedruckt sind, aber noch nicht in der Accursiana^ vor-
kommen.
Rimicius:
2
17
20
24
26
27 31
34
38
39
Halm:
8
6
31
42
76^
88 103
311
113
316»'
Rimicius:
42
43
45
47
53
54 57
60
62
63
Halm:
128
100
200^
413
353
204 233
262
249
240
Rimicius:
65
70
71
72
78
82 84
85
86
87
Hnlm:
274
287^^
292
304
334
16 W 63
33
350^
356
Rimicius:
88
89
95
96
97
Halm :
420^
123
153
366
425
Als Bonus Accursius zuerst daranging, den griechischen Äsou
— non doctorum hominum sed rudium ac puerorum gratia,^ wie
es in der Rrhlußschrift heißt — herauszugeben, hat er eine andere
Handschrift benutzt als die, welcher Rimicius sich für seine Über-
setzung bediente. So sind diese Fabeln erst viel später im Urtext
ediert worden, während sie in der ÜlDcrsetzung längst bekannt
waren
'Das nunquam hactenus editae des Nevelet — fährt Lessing
fort — muß also nur von dem griechischen Texte gelten. Wenn
es auch noch von diesem gilt! Doch davon anderswo.' Lessing
ist hierauf nicht wieder zurückgekommen. Doch es läßt sich wohl
1 Vgl. 8^143.
2 Vgl. S. 138, A. 5. Auf dem Titelblatt spricht Nevelet nur von 136 un-
<dierten Fabeln. Es sind 148 (Fab. 150—297. p. 212—231).
3 Bonus Accursius, vgl. Bernhardy. Bora. Litgesch. S. 113 Nr. 80, Hübner,
Corpus inscriotionnm Latinarum IT p. VIT, Gardthausen, Hermes VIT 168,
I\. Sudhpff, Milteilung-pn zur Geschichte der Medizin und der Naturwissen-
schaften XVT (1917) Nr. 1. Über seine erste Äsop-Ausgabe vgl. Münch. Mus.
TT (1914) S. 260, 268.
* Hausrath, Untersuchungen ... (1894) S. 248 A. 1.
5 Folgende Fabeln sind bei Valla und Rimicius übersetzt, fehlen b^i
Accursius: Rim. 24 = Valla XT, 27 = XIT, 31 r= XTV, .34 = XVTI (vgl.
Münch. Mus. II 248 Anm.), 78 = XXVII.
Zu Lessings Aufsatz Romulus und Rimicius 143
mit ziemlicher Sicherheit vermuten, au welchen Druck er gedacht
hat, als er die obig-en Worte schrieb: die Ausgabe des Robert
Stephanus von 1546.-^ Nicht weniger als 26 Fabeln dieses Druckes
fehlen nämlich in der Accursiana:
Steph.:
22
23 24
25
26
28
29
30 31
36
Kalm:
21
61 403
100
56^
82
85
83 33
88
Steph.:
37
38 39
48
49
50
51
53 58
59
Kalm :
291
77^ 92
113
181
159
123
366^271
316''
Steph.:
60
61 62
63
64
65
Halm:
128
368 394
12^^
103
382^
Von diesen Fabeln stehen bei Nevelet unter den nunquam hac-
tenus editae z. B. Nr. 29, 30, 31, 36, 37, 60, 61, 64; bei Nevelet
fehlt Nr. 28; neun dieser Fabeln sind von Rimicius übersetzt und
.'io 64 Jahre vor Nevelets Mythologia gedruckt worden:
Rimicius: 85 27 43 " 31 38 89 42 39 96
Halm: 33 88 100 103 113 123 128 316^» 366
Steph.: 31 36 25 64 48 51 60 59 53
Lessing hat die lateinische Übersetzung des Rimicius in der
Sammlung des Dorpius benutzt. Einen Frankfurter Druck von
1587 in 8" hatte er vor sich. Für die Sammlung des Dorpius sind
grundlegend die Nachweise von W. Braune, die Fabeln des Eras-
mus Alberus (Neudrucke 104 — 107; 1892), doch irrt er, wenn er
den Frankfurter Druck von 1587 als die letzte nachweisbare Aus-
gabe bezeichnet. Neun spätere Ausgaben habe ich in Paul und
Braunes Beiträgen Bd. 42 (1917) S. 316 Anm. 1 aufgezählt, auch
der Druck Bassani 1775^ ist ein Aesopus Dorp'ius; die letzte Aus-
gabe ist 1802 in Madrid^ erschienen.
Nevelet kannte den Rimicius aus Steinhöwels Sammlung.
Dieser hat in sein Corpus 17 Fabeln des Rimicius aufgenommen.
Es sind nur solche Fabeln aufgenommen, welche in den voran-
gegangenen Sammlungen des Romulus und der Extra vacr-intes
nicht enthalten sind."* Lessing hat diese Fabeln aufgezählt: 'Näm-
lich die 2., 3.. 5., 7., 10., 15., 18., 21., 40., 43., 53., 68., 70., 74.,
90.. 97. und 100. nach der Ordnung des Rimicius.' Lessing folgt
hierbei nicht der Reihenfolge, in welcher Steinhöwel die Fabeln
gegeben hat, auch die Verweise in österleys Ausgabe von Stein-
höwels Aesop sind verwirrt.^ Es entsprechen sich:
* Vgl. E. Grawi. Die Fabel vom Baum und dem Schilfrohr, Diss. phil.
Rostock (1911) S.. 5.3— 59.
2 Fock, Ant. Katal. 340 S. 81 Nr. 2507.
3 Lockwood, Harvard Studies XXIV (1913) S. 68.
* Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache 42 (1917) S. 318.
5 Bibl. d. literar. Vereins CXVII, Stuttgart 1873. Er nennt Stein-
höwel 104 = Rimicius 18 (statt 21), St. 105 = R. 21 (statt 40), St. 114
= Wendunmuth 1, 172.. wo Rimicius 18 zu nennen war.
Zu Lessings Aufsatz Romulus und Riniicius
Steinh.:
98 99
100
101
102
103
104
105 106
107
Rim.:
2 3
5
7
10
15
21
40 43
53
Halm:
8 7
45
14
32
66
27
15 100
353
Steinh. :
108 109
110
111
112
113
114
Rim.:
68 70
74
90
97
100
18
Halm:
296*» 287''
308
351
425
56^
98
Um den Irrtum des Nevelet aufzudecken, hat Lessiug eine
genaue Analj^se von Steinhöwels Äsop gegeben. Üljer den ällr-
sten Druck orientieren jetzt F. Wegener, Die Zainer in Ulm, ein
Beitrag zur Geschichte des Buchdrucks im 15. Jahrhundert,
Straßburg 1904 (~ Beiträge zur Bücherkunde des XV. und
XVI. Jahrhunderts, Bd. I) S. 40—41 Nr. 45 und E. Rosenthal,
Die Anfänge der Holzschnitt-Illustration in Ulm. Diss. phil.
Halle 1912, S. 39 — 69. Lessing bestimmt die Erscheinungszeit
von Steinhöwels Äsop auf 1476 bis 1484. Zwischen 1474 und
1484 hat E. Grawi, Die Fabel vom Baum und Schilfrohr, Diss.
Rostock 1911, S. 98, den Druck datiert, 'about 1475' G. Keidel,
A manual of Aesopic fable literature (Baltimore 1896) S. 11
Nr. 17, zwischen 1475 und 1480 Ph. Strauch, Allg. deutsche Bio-
graphie XXXV S. 733, zwischen 1476 und 1480 H. Österley, Ro-
mulus (1870) S. X und W. Braune. Die Fabeln des Erasmus
Alberus (1892) S. XXX. — 1482 ist ein Nachdruck von Gerard
Leen (Keidel S. 15 Nr. 56) erschienen, also sind alle späteren
Datierungen hinfällig; Steinhöwel hat seine Sammlung gewidmet
'dem durchlüchtigsten fürsten und herren, herren Sigmunden,
herczogen zuo österrich'.^ 1477 wurde dieser Erzherzog, also
muß der Äsop spätestens in diesem Jahre vollendet sein. Es ist
ausgeschlossen, daß in der Widmung der richtige Titel nicht an-
gegeben wurde, und die Widmung ist der Beweis des Abschlusses
der Arbeit, bevor die Bücher gedruckt wurden, sogar das Zeichen
der Edition.^
Den Inhalt des Steinhöwelschen Äsop gibt Lessing 'Stück vor
Stück mit aller Genauigkeit' an. Auf der zweiten Seite beginnt
Steinhöwels Vorbericht, dessen Anfang Lessing ausschreibt. Er
ist dabei zum Teil genauer zu Werke gegangen als selbst Österley,
der Herausgeber von Steinhöwels Äsop.^ Zeile 4 — 12 hat auf
meine Bitte hin der Münchener Bibliothekar Dr. Rudolf Pfeiffer
aus dem Exemplar der Hof- und Staatsbibliothek •* ausgeschrieben.
1 Steinhöwel. Äsop S. 4 Österley.
2 Rhein. Mus. LXX fl915) S. 387 A. 2, Th. Birt, Kritik und Hermeneutik
(1913) S. 318f.
3 Ich sehe hier ab von den Angaben, die Leopold Hervieux in den
Fabulistes Latins I (1884) S. 373 gegeben hat; in anderem Zusammenhange
komme ich darauf zurück.
« Signatur 2" Inc. s. a. 7x. Vgl. Hain 330, Eelchling IV 101, Keidel,
Manual ot Aesopic literature (1896) S. 30— 31 Kr. 17.
Zu I.essiugs Aufsatz Roiiiulus und Riuiicius
14f)
An folgenden Stellen stimmt Lessings Angabe mit der Kopit
Pfeiffers gegen österleys Ausgabe überein:
Zeile
Lessiiig
Österley
Pfeiffer
5
m
im
in
8
romiilus von athenis Komulus von Athen is
ronmlus von athenis
10
Aldefonsy
Aldefonsii
Aldefonsy
10
poggy
Poggii
poggy
11
mitt
mit
mitt
11
hainrico
Hainrico
hainrico
n
stainhöwel
Stainhöwel
stainhöwel
An anderen Stellen weist Lessings Abschrift geringfügige
Abweichungen^ von dem Druck auf.^
Lessing bespricht dann kurz die Äsop-Biographie, dann die
vier Bücher des Ronmlus mit den hinzugefügten Fabeln des An-
onymus,^ die er mit Recht als einen versifizierten Romulus be-
zeichnet. Die von ihm zitierte Deventer Ausgabe des Esopus
raoralisatus enthält den Anonymus, sie ist Nr. 103 in Keidels
Manual (S. 20). der aber ein Wolfenbüttler Exemplar nicht
kannte (S. 44).
Auf den Romulus folgen die 17 Extravagantes, 'so wenig in
dem Geschmacke des Äsopus, y^n so abenteuerlicher gotischer
Erfindung, daß sie auch nicht einmal Äsopisch heißen können,
geschweige daß sie von dem Äsopus selbst sein sollte'. Damit
sind die Fabeln gut charakterisiert, was um so mehr anzuerkennen
ist, weil Steinhöwel selbst den äsopischen Ursprung dieser Fabeln
ausdrücklich behauptete,'* nur ihr Verhältnis zu dem Romulus
Monacensis ist Lessing unbekannt geblieben. — Es folgen die
17 Fabeln des Rimicius, von denen bereits oben die Rede war.
* Z. 5 gemacht statt gemachet, Z. 7 dasselb statt das selb, Z. 7 etvan
statt etwan, Z. 8 Thiberio statt Thiberino, so auch die von österley be-
nutzten Romulus-Handschriften, Z. 8 krichischer statt kriechischer, Z. 9
hett statt hatt, Z. 11 Doctore statt doctore. An allen diesen Stellen stimmt
österleys Druck mit Pfeiifers Abschrift überein.
2 Bis Z. 12 reicht Pfeiffers Abschrift, im folgenden variieren Lessing
und österlev:
Zeile
Lessing
Österley
Zeile
Lossing
Österley
12
13
14
15
1.^)
sondern
dcss
Durchlüehtigsten
hertzogen
zu
sunder
des
dui-chlüchtigsten
herczogen
zuo
lö
Ifi
16
IH
l(i
-(isterrich
crgetzlikait
enpfahen
och
uutzlicli
Österrich
ergeczlikait
enjjfachen
ouch
nuczlicli
' Hg. von Hans Draheim, Aesopus Latinus. Progr. Berlin 1893.
* S. 192 österley: Extravagantes Esopi antique sequuntur, S. 242 Re-
gistrura extravagantium Esopo ascripturum. Die Extravagantes gehören
zu den Esopi fabule, von denen die Schlußschrift des Romulus (S. 191
österley) spricht.
146 Zu Lessings Aufsatz Ronmlus und Rimicius
Lessing erkannte, daß Rimicius aus einer vielfach abweichenden
Sammlung äsopischer Fabeln übersetzte. In der Tat läßt sich
nachweisen, daß Rimicius' Vorlage am nächsten dem Codex
Vindobonensis bist. Graec. 130^ stand, der zur Gruppe des sog.
Casinensis gehört.^ In der Anmerkung weist er auf einen damals
noch unbekannten Äsop-Codex in Augsburg^ hin. Zuerst hatte
ihn Heusinger erwähnt, nicht in seinen Phaedrus- und Äsop- Aus-
gaben,^ sondern in der Vorrede seiner 1736 erschienenen Ausgabe
von Juliani Caesares. Herausgegeben sind diese Fabeln des
Augustanus von E. G. Schneider Saxo, Breslau 1812; er benutzte
dazu die Abschrift des Augsburger Codex, welche Ernestine
Reiske 1772 für Lessing angefertigt hatte. ^
Den Rest des alten Ulmer Druckes hat Lessing 'mit ein paar
Worten abgefertig-t'. Und doch gibt der folgende Satz noch Anlaß
zu zwei Bemerkungen: 'Denn alles, was er noch enthält, siebzehn
Fabeln des Avianus und dreiundzwanzig Fabeln oder vielmehr
Histörchen aus dem Adelfonsus, Doligamus und Poggius, ins-
gesamt mit deutschen Übersetzungen, das kann zu meinen gegen-
wärtigen Übersetzungen nun weiter nichts dienen.'
1 Vgl. Fedde, Über eine noch nicht edierte Sammlung äsopischer Fabeln,
Gymn.-Progr. Breslau 1877, A, Hausrath, Untersuchungen über die Über
lieferung äsopischer Fabeln (Leipzig 1894) S. 284.
* Es entsprechen sich nämlich:
Rimicius 1 — 17 = Vindobonensis 1 — 17
18—26 =
25— 33
27—53 -
38— 64
54 r=
66
55—56 —
68— 69
57 =
71
58—61 =
73— 76
62 z=
78
63—64 =
80— 81
65—69 =
83— 87
70 =
89
71—72 =
91— 92
73—75 =
94— 96
76—77 —
98— 99
78—90 —
101—113
91 =
115
92—94 =
117—119
95—96 =
121—122
97—99 =
128—130
Rimicius 100 {■=. Halm 56b) ist im Vindobonensis nicht enthalten.
' Jetzt Monacensis 564.
* So Boxberger, D. N. L. 68 I S. 198. Heusinger erwähnt den Codex;
nach seiner Ausgabe der Caesares in der Dissertatio de Aesopi fabulis no. 4
und in den Neuausgaben des Hudsonschen Äsop 1756 und 1776, vgl. Aesopi
fabulae ed. Schneider (1812) S. XI.
5 Jetzt sind die Fabeln des Augustanus am bequemsten zugänglich in
C. Halms Ausgabe (in der Bibliotheca Teubneriana) , nur hat Halm Varianten
Zu Lessings Aufsatz Romulus und Rimicius
147
Zunächst spricht Lessing von 17 Fabeln des Avianus, es sind
aber 27 in Steinhöwels Äsop enthalten.^ Der Irrtum Lessings
läßt sich leicht erklären. Unmittelbar vor den Fabeln Avians
steht in Steinhöwels Äsop fol. 201*^ Registrum earundem; dieses
Register umfaßt 17 Fabeln, und daher wird Lessing die Zahl-
angabe entnommen, wobei ihm entging, daß es sich auf die vorher-
gehenden Fabeln des Rimicius bezieht, während das Verzeichnis
der Avian-Fabeln fol. 225^ 226^ ^ f^jg^ Vollends erklärt sich
allzu
spärlich
notiert. Die
Fabeln
des Augustanus entsprechen
folgenden
Halmschen Nummern:
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
5
8
7
9
11
12
16
19
45
0
39
27
42
23
43
33
14
46
28
32
1
37
24
35
22
31
29
25
47
58
59
2
300
56
48
203 b
49
64
55
57
70
417
3
72
38
98 b
74
76
79
82
348
85
83
4
88
96
95
103
214
110
112*
107
111
86
5
90
101
97
117
221
311
301
309
144
75
6
179 b** 67
116
289
363
128
126
129
127
(367)
7
15
293
44
323
194
185
115
194
343 b
137
8
140
147
331
217
146
166
52
145
134
2
9
155
200 b
138
151
173b
154
149
150
148
161
10
160
295
167
169
171
186
184
1^9
191
192
11
193
195
201
204
212
199
213
207
201b
197
12
202
226
233
231
218
229 b
235
237
249
248b
13
246
262
250
251
257
247**
254
260
256
259
14
264
268
274 b
276
270
275b
271b
284
240
273**
15
236
287
290
291
294
296
94 b
306
308
316
16
313
97 b
130
315
115 b
329
322
177b
324
321
17
377b
319
335
334 b
336
327
330
326
342
340
18
100b
180
346
345*..
347
350
351
357
358
362
19
368
369
372
370b
378
373
353 b
352
382
385
20
71b
392
393
179c
397
366
398
183
153 b
397 b
21
408
409 b
407
412b
420
418b
421
334 b
415
419
22
424*
425
23
1 Steinhöwel f. 115— 141 = Avian 1—3, 5—9, 11, 13—15, 17—20, 22,
25 — 29, 31, 33, 35, 41 — 42. Einige Fabeln des Aviau hat Steinhöwel aus-
gelassen, weil er schon aus dem Romulus dieselbe Fabel in seine Sammlung
aufgenommen hatte:
Avian 16 de qurcu et harundine f. Steinhöwel 80 (cf. E. Grawi S. 100).
Avian 24 de venatore et leone f. Steinhöwel 75 = Romulus IV 17.
Avian 34 de cycada et formica f. Steinhöwel 77 = Romulus IV 19.
Zu dem Auslassen der übrigen Fabeln müssen andere Gründe den Stein-
höwel bestimmt haben.
2 S. 260 österley. An das Register schließen sich die Fabeln des Avian
(S. 261 österley) : Aviani fabule sequntur. Es ist fol. 201b, nicht 146b, wie
bei österley steht.
» S. 293 Österley.
Bei Halm fälschlich S. 46. ** Bei Halm fehlt der Hinweis.
Bei Halm fälschlich als S. 265, es ist S. 193 = Nevelet 265.
148 Zu Lessings Aufsatz Romulus uud Rimicius
Lessiiigs Irrtum aus der Art, wie Steinhöwel den Romulus-Fabeln
fol. 60% 82% 104% 130*1 die Register vor angesetzt liatte.^
Endlich spricht Lessing von 23 Fabeln des Adelfonsus, Doli-
gamus^ und Poggius. Steinhöwel hat nach dem gekürzten Aviau
noch 23 Fabeln seinem Corpus hinzugefügt; davon stammen 15
dem Petrus Alphonsi, 8 dem Poggius.^ Eine Fabel von 'Doliga-
mus' ist nicht dabei. Den ISTaraen 'Doligamus' hat Lessing Stein-
höwels Vorrede entnommen, wo die Rede ist von 'mer ettlich der
fabel Aviani, auch Doligami, Aldefonsii und schimpfreden Poggii
und anderer'.^ Daß keine Fabel des 'Doligamus' bei Steinhöwel
stehe, hat Lessing, dessen Untersuchung in Wahrheit schon ihr
Ende gefunden hatte, nicht bemerkt. So hat er sich auch nicht
die Frage vorgelegt, wer hinter diesem rätselhaften Worte sich
verberge. Daß es sich um eine Fabel aus der Lamia des Angelo
Poliziano handle,^ nachzuweisen, muß einer späteren Gelegenheit
vorbehalten bleiben.'^
1 S. 77, 107, 137, 172 österley.
2 Dagegen bei den Extravagantes folgt das Register am Schluß (fol. 186h
=; S. 242 Österley), wie bei Rimicius und Avian. Die Fabeln des Adelfonsus
und Poggius sind ohne Register geblieben.
' Dafür 'Deligamus' der Druck von 1773.
* Vgl. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache 42 (1917) S. 317
A. 2.
■' S. 4 Österley. — Vgl. S. 146.
6 Vgl. vorläufig Berl. philol. Wochenschr. 1917, Sp. 1376.
^ Zu Lessings Beurteilung des Anonymus Nilantiantiis vgl. E. Grosse,
Fleckeis. Jahrbücher Bd. 105 (1872) S. 781.
Kjelstrup -Victoriabad (IsTordschleswig) . T. 0. Achelis.
August Wilhelm Schlegel
in seinen Beziehungen zu englischen Dichtern
und Kritikern.
Wenn Schlegel in England zu Ansehen und Ruhm gelangte,
so verdankt er dies in erster Reihe Frau von Stael, die
in ihrem berühmten Buche ihm und seinem Bruder Friedrich
freigebig Lob gespendet hatte (Th. II, Kap. 31). Aber auch
er selbst hat das seinige dazu getan, um jenseits des Kanals
bekannt zu werden, zunächst durch seine wiederholten Besuche
in London und seinen Verkehr mit den geistig hochstehenden
Schichten der Gesellschaft, dann aber vor allem durch seine
literarischen Leistungen. Von seiner Shakespeare-Übersetzung
konnten freilich nur die allerwenigsten mit Sachkunde sprechen,
so sehr sie auch gepriesen wurde; insbesondere aber waren es
seine Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, die
seinen Ruf als Kritiker und Literaturkenner ersten Ranges be-
gründeten. Das englische Publikum lernte sie zuerst aus einer
französischen Übersetzung, bald danach auch aus einer eng-
lischen (von John Black, 1815) kennen. In späteren Jahren
führten ihn seine indischen Studien, die vnr hier beiseitelassen
müssen, wiederholt nach England und verbreiteten sein Ansehen
in den Kreisen der Gelehrten.
Daß Schlegel schon während seines Aufenthalts in Göttingen
mit dort studierenden Engländern in Berührung kommen mußte,
begreift sich leicht. Indessen ist uns nur der Name eines von ihnen
bezeugt. Es war Josiah Dornford, der dort den juristischen
Doktorgrad erwarb und dann ein Hauptwerk des Staatsrechts-
lehrers Johann Stephan Pütter (Historische Entwicklung der
heutigen Staatsverfassung des Deutschen Reiches) ins Englische
übersetzte. Die Verbindung zwischen ihm und Schlegel wurde
auch später noch aufrechterhalten. Am 22. August 1790 schreibt
Dornford an ihn : ^ 'I often regret I did not pass the young years
of my life at Goettingeu instead of Oxford, because an ambitious
mind is gratified there by being reputed studious, whilst with
US a man who devotes his time to books is too frequently treated
with contempt.' Sein andauerndes Interesse an den Göttinger
^^•rhältnissen erweist er durch seine Fragen nach den Profes-
soren, bei denen er verkehrt hat: Heyne, Michaelis, Schloezer,
Lichtenberg. Von Bürgers dritter Heirat hat er durch einen
Freund gehört, der ihm erzählte: 'That one of his (B.s) po^ms
^ Dieser wie die mei-sten folgenden Briefe liegen ungedruckt in der
öffentlichen Bibliothek zu Dresden. Für die Erleichterimg bei der Be-
nutzung bin ich der Verwaltung zu Dank verpflichtet.
150 A. W. Schlegel in seinen Beziehungen zu engl. Dichtern und Kritikern
proved an arrow in the breast of his present Lady, and that a
similarity of genius was occasion of tlieir union.' Um Neuigkeiten
aus Deutschland zu erfahren, hält er Hamburger Zeitungen;
auch bittet er Schlegel um Besorgung verschiedener Bücher, wie
Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Büschings
'Account of the king of Prussia' und den ersten Band von Püt-
ters Geschichte der Universität Göttingen. Ebenso wünscht
er die Göttinger gelehrten Anzeigen allwöchentlich zu erhalten.
Man sieht, Dornford hätte sich nach Maßgabe seiner Interessen
wohl geeignet, ein Mittler zwischen beiden Nationen zu werden.
Leider starb er schon in jungen Jahren (1797).
Interessanter als diese Beziehungen sind diejenigen, welche
Schlegel mit Benjamin Beresford verbanden. Beresf ord
war ein Geistlicher, der sich in Berlin niedergelassen hatte, wo er
Unterricht in seiner Muttersprache erteilte. So wurde er auch
der Lehrer der Königin Luise und ist es, wie aus ihren Auf-
zeichnungen hervorgeht, bis zum Jahre 1804 geblieben.^ Er
scheint sich sehr bald mit dem Studium der deutschen Literatur
befaßt zu haben, dessen Ergebnis in fünf Publikationen vor-
liegt: 1) The German Erato, or a collection of favourite songs
translated into English with their original music (2. Aufl. 1798).
2) The German Songster, or a collection of favourite airs with
their original music (Berlin 1798). 3) A collection of German
ballads and songs with their original music, done into English by
the translator of the German Erato (Berlin 1799). Dazu kom-
men noch zwei englische Chrestomathien: 4) Elegant extracts in
prose (1800) und 5) Elegant extracts in verse selected from the
best poets (1801) nebst der Übersetzung einer Erzählung von
J. J. Engel (The Goddesses, 1796). Die drei erstgenannten Über-
setzungen stehen, wie man sieht, insofern einzig da, als sie zu-
gleich mit der dazugehörigen Musik erschienen sind, deren Me-
lodie Beresford seine Werke angepaßt hat. Da ihm viel daran
liegen mußte, seine Bücher vom Publikum beachtet zu sehen,
suchte er die Bekanntschaft mit einem der angesehenen Kritiker,
wie es Schlegel damals schon war, und traf mit ihm in Dresden
(September 1798) zusammen. Bei dieser Gelegenheit legte er
es Schlegel nahe, über die obengenannten Bücher eine Rezension
zu verfassen. Dieser erfüllte seine Bitte und besprach die beiden
ersten in der Jenaer Literaturzeitung 1798 (Nr. 365), die 2. Auf-
lage der Erato und Nr. 3 ebenda 1799 (Nr. 217).^
Diese Rezensionen sind so anerkennend wie nur möglich.
Schlegel ist erfreut, einige Blüten unserer Poesie mit leichter
^. Vgl. B. Krieger, Hohenzollernjahrbuch XIV, 165.
- Wiederabgedruckt in seinen Sämtlichen Schriften XI, 324, 403.
A. W. Schlegel in seinen Beziehungen zu engl. Dichtern und Kritikern 151
Hand auf englischen Boden verpflanzt zu sehen. Der Forde-
rung, in dasselbe Silbenmaß zu übersetzen, wofern sich die
Sprache demselben nicht ganz weigert, ist Beresford aus eigenem
Antrieb nachgekommen, worauf er sich in seinem ersten Briefe
(11. September 1798) etwas zugute tut. Er hat nach Schlegels
Ansicht in der Überwindung der Schwierigkeiten eine seltene
Leichtigkeit und ein entschiedenes Talent gezeigt. Es muß ihm
hoch angerechnet werden, daß er auch die weiblichen Reime, so-
weit es der Bau der englischen Sprache zuließ, wiedergegeben hat.
Freilich kann der Kritiker auch mit einem leisen Tadel nicht
zurückhalten, indem er sagt: 'Jede Sprache hat ihr Konventionel-
les, und die heutige englische Poesie ist gewiß nicht frei davon.
M. B. hat aber dergleichen fremdartigen Einmischungen so wenig
Raum gelassen, daß wir ihn selbst zu schweren Unternehmungen
nuffordern möchten, wie die Übertragung ganz einheimischer
und originaler Romanzen, z. B. Goethes Fischer und die Er-
zählung vom Harfner in Wilhelm Meister.' Dieser Aufforderung
ist Beresford in seiner dritten Sammlung nachgekommen. Auch
diesen Liedern gegenüber kargt Schlegel nicht mit seinem Lobe,
äußert aber zugleich wieder einige Bedenken, die mehr in der
Sache selbst liegen: 'Wenn es nicht möglich war, ihnen ihre
ganze Schmucklosigkeit und Einfalt zu lassen, weil fast jede
veränderte Wendung, wozu der metrische Zwang nötigt, schmük-
kend ausfällt, um das Schwache und Prosaische zu vermeiden,
so zweifeln wir doch, ob an den meisten Stellen noch mehr Treue
möglich war.' Diesen Bedenken werden wir uns anschließen
und betonen müssen, daß Beresford sich nur allzu oft von dem
herkömmlichen pseudoklassischen Stil der damaligen englischen
Dichtung beherrschen läßt und daher den volksliedmäßigen Ton
verfehlt. Es sind besonders die verblaßten und konventionellen
Epitheta, die unseren Anstoß erregen. So entspricht z. B. in
Goethes 'Veilchen': Auf der Wiese — in the lonely mead; an
ihrem Busen — on her virgin bosom. In Mignons Lied: Es
stürzt der Fels und über ihm die Flut — broken rocks oppose the
headlong flood. Li Claudius' Rheinlied: Am Rhein, am Rhein,
da wachsen unsre Reben — on Rhine's fair banks the envied
Clusters grow, u. a. m. War in diesen Fällen der Übersetzer, wie
Schlegel richtig bemerkt, dem Zwang des Metrums erlegen, so
ist als weitere Schwierigkeit zu erwägen, daß er seine Worte, wie
oben erwähnt, der schon vorliegenden Melodie unterordnen mußte;
nur in ganz wenigen Fällen ist die Komposition später als die
Übersetzung (z. B. Reichardts Musik zur Lenore). Auch in der
Auswahl seiner Vorlagen ist Beresford nicht immer glücklich
gewesen. Neben Goethe, Schiller, Voß, Hölty, Matthisson, Stol-
berg stehen Namen wie Müchler, Overbeck und Sander. Auch
In:? A. W. Schlegel in seinen Beziehungen zu engl. Dichtern und Kritikern
Anonj'ina kommen vor, deren Verfasser sogar Schlegel unbekannt
waren, dabei ein Gedicht, dessen Übertragung die Königin selbst
gewünscht hatte. Wozu endlich Gedichte von Bouflers und
Alborghetti in eine solche Sammlung aufgenommen sind, fragt
man vergeblich. Sollen vnr unabhängig von Schlegels Meinung
kurz unser Urteil formulieren, so werden wir sagen müssen, daß
Beresford zwar eine gründliche Kenntnis des Deutschen und eine
achtbare metrische Gewandtheit verrät, daß er aber des tieferen
poetischen Gefühls ermangelt und daher seiner Vorlage nur selten
nahekommt. Immerhin übertrifft er die allermeisten englischen
Übersetzer seiner Zeit. Das einleuchtendste Beispiel hierfür ist
seine Version von Bürgers Lenore. Auch hier folgt er genau
dem Metrum des Originals (nur daß er die weiblichen Reime
fast durchweg durch männliche ersetzt), und schon dadurch
mußte es ihm gelingen, seinen Landsleuten Ton und Geist der
Ballade näher zu bringen, als es viel berühmtere Übersetzer, wie
William Taylor und Walter Scott, erreicht hatten, um von an-
deren zu schweigen.
Von Beresfords weiteren Schicksalen wissen wir so gut wie
nichts. Aus seinen Briefen an Schlegel erfahren wir nur, daß
er sich in Berlin durchaus nicht wohl fühlte und wiederholt,
wenn auch ohne Erfolg, bemüht war, eine andere Stellung zu
erhalten. So schreibt er an Schlegel (29. April 1800): 'As I
think I have already told you, I get money enough here, and if
there be anj- honour in teaching roj^al personages, I have enough
of that too. — But royalty is not very generous here, and altho'
Berlin abounds in enlightened ])eople among the middle rank, yet
it is a wretched residence on account of its environs for a lover
of nature, and besides, everything here gives waj^ to the noble art
of destroying the human race, for learning is nothing and the
army every thing.' In demselben Briefe spricht er noch von
einem Vertrage, den er mit Kotzebue abgeschlossen hat, wonach
er in Zukunft dessen Stücke übersetzen sollte. Wie weit dies ge-
diehen ist, kann ich nicht angeben. Ich weiß nur noch von einer
Übersetzung des Lebens des Generals von Ziethen von Frau von
Blumenthal (1804). ' "
Wir gehen mehr als ein Dezennium weiter, das in Schlegels
Leben eine sehr bewegte Epoche darstellt. In diese Jahre fallen
seine Scheidung von Karoline, seih Eintritt in den Dienst der
Erau von Stael, seine erste italienische Reise, sein Aufenthalt in
Paris, endlich seine Verbannung durch Napoleon und die Elucht
mit Erau von Stael durch Österreich und Rußland nach Schwe-
den. Nun erschien er nach dem Sturz des Korsen zum erstenmal
in London, um Frau von Stael nach Frankreich zu geleiten. Er
traf hier eine glänzende Gesellschaft. Es waren da Alexander T.
A. W. Schlegel in seinen Beziehungen zu engl. Dichtern und Kritikern 153
und Friedrich Wilhelm III. mit großem Gefolge, darunter Har-
denberg, Metternich, Nesselrode, Blücher und der Kosakenhetman
Platoff. Die Begeisterung der Londoner, denen doch die zahl-
reichen Gäste allmählich zur Last fielen, schildern zeitgenös-
sische Berichte und Memoiren recht anschaulich. So spricht
auch Byron von den Fremden in einem Briefe an Moore (Letters
and Journals III, 93) und spart nicht mit satirischen Bemerkun-
gen. Ob Schlegel ihn schon damals oder erst in Coppet kennen-
gelernt hat, läßt sich nicht bestimmt sagen, da von seinen Briefen
aus dieser Zeit nichts erhalten ist. Wohl aber darf man an-
nehmen, daß er nicht verfehlt hat, Thomas Campbell auf-
zusuchen, den er von früher her kannte und der wohl der einzige
unter seinen dortigen Bekannten war, mit dem er in ein freund-
schaftliches Verhältnis getreten ist. Campbell war im Jahre
1800 in Deutschland gewesen, und sein Biograph Cyrus Redding
berichtet darüber (Memoir of Th. C. I, 54): 'In Germany he
made an intimacy with Augustus William Schlegel. On the
Visits of Schlegel to this country he was the constant guest of
the poet, who had a very high idea of him as a man.' Allerdings
setzt er hinzu: 'Never were two men more dissimilar. Schlegel
was talkative enough upon every subject connected with literature
and showed at times no small share of the vanitj^ of successful
authorship. His friend Campbell was the very reverse of this.'
Nun ist es aber nicht schwer, zu zeigen, wie viel gemeinsame
Interessen die beiden Freunde hatten. Campbell bewunderte
gewiß an Schlegel nicht nur die Gewandtheit des erfahrenen
Weltmannes, sondern auch seine gründliche Gelehrsamkeit
und den ausgeprägten kritischen Sinn; beiden war die Begeiste-
rung für die englische Literatur, insbesondere für Shakespeare
eigen.
Über Campbells Reisen in Deutschland ruht ein gewisses
Dunkel. Wir wissen zunächst nichts Genaues über den Weg,
den er von Hamburg nach Regensburg genommen hat. Über den
Rückweg sagt sein zweiter Biograph Beattie (Life and letters of
Th. C. I, 312), daß er über Amberg, Nürnberg, Baireuth, Leipzig,
Braunschweig, Lüneburg geführt habe. Freilich widerspricht er
sich bald danach (p. 342), wo er sagt: 'Of his movements between
his quitting Ratisbon and that of his arrival at Altona (Oct. —
Nov.) no distinct traces have been discovered.' Ich bin geneigt
zu glauben, daß die erste Angabe richtig ist, und ferner, daß
Campbell auf seiner Rückreise Jena berührt und dort die Brüder
Schlegel kennengelernt hat. Wie würde sich sonst die Bemerkung
Reddings (I, 152) erklären, Campbell sei auf seiner zweiten
Reise nach Deutschland bis Wien gekommen, 'where he saw for
the last time, after an interval of many years. his friend Frede-
.\rchiT f. n. Sprachen. 139. 11
154 A. W. Schlegel in seinen Beziehungen zu engl. Dichtern und Kritikern
rick Schlegel?' Daß er ihn zuerst in Göttingen gesehen habe
(p. 153), ist natürlich ein Irrtum. Auf der Rückreise von Wien
blieb Campbell eine kurze Zeit auch bei August Schlegel, der in-
zwischen in Bonn Professor geworden war. Bei dieser Gelegen-
heit entstand sein Gedicht 'The brave Roland' (ed. Hill S. 241)
riach einem Ausflug, den er mit seinem Freunde auf den Drachen-
fels gemacht hatte. Es behandelt die bekannte Sage von Nonnen-
werth und ist zweifellos von Schillers Toggenburgballade an-
geregt. Übrigens ist der Ursprung einer Reihe von Campbells
Gedichten auf diese deutschen Reisen zurückzuführen. Ich nenne
hier außer dem bekannten 'Hohenlinden': The Name Unknown,
in Imitation of Klopstock (1. c. 302, anscheinend eine Paraphrase
der Ode 'Die künftige Geliebte'): The Soldiers Dream (S. 142);
Lines on leaving or scene in Bavaria (S. 324); Drinking Song of
Munich (S. 337); Ode to the Germans (S. 349); Lines suggested
by the statue of Arnold von Winkelried (S. 419).
Die beiden sind dann im Jahre 1814 noch einmal in Paris zu-
sammengewesen. Campbell war wie so viele seiner Landsleute
bald nach dem Friedensschluß dahin geeilt, um die Reize der
französischen Hauptstadt zu genießen. Aus den Unterhaltungen,
die sie damals gepflogen, erfahren wir, daß Campbell seinen deut-
schen Freund zwar für ungemein gelehrt und geistreich erklärte,
aber auch für einen Phantasten, für einen Visionär und für viel
zu mystisch. Offenbar hat ihm Schlegel hier das Programm der
deutschen Romantik entwickelt, für das Campbell seiner ganzen
Geistesrichtung nach das nötige Verständnis nicht aufbringen
konnte. Auch auf philosophischem Gebiet konnten sie sich nicht
einigen, da Campbell den Standpunkt der schottischen Philo- ,
Sophie vertrat und über Kant nicht hinausgelangt war, während
Schlegel von Fichte und Schelling beeinflußt war.
Schlegel ist später noch zweimal in England gewesen, 1823
und 1832. Bei der ersten Reise handelte es sich für ihn darum,
die finanzielle Unterstützung der Ostindischen Gesellschaft bei
der Herausgabe von Sanskritwerken zu gewinnen. Hierbei hatte
er aber nicht viel Glück, da die Gesellschaft sich damit begnügte,
auf zwölf Exemplare zu subskribieren, worüber Schlegel seinem
Unmut in bitteren Worten Luft machte. Über eine Episode dieses
ersten Besuchs erhalten wir einen interessanten Bericht aus der
Feder des obengenannten Redding (1. c. I, 230). In einer Gesell-
schaft im Hause von Colburn (dem Verleger des New Monthly
Magazine, das von Campbell und Redding gemeinsam redigiert
wurde) erwähnt Schlegel gesprächsvi^eise, wie England ebenso wie
die Waren auch die Worte aus allen Ländern der Welt eingeführt
habe. Selbst das Hurra der Kosaken sei hier eingebürgert wor-
den. Campbell bemerkt hierauf, hurrah sei ein alter englischer
A. W. Schleg-el in seinen Beziehungen zu engl. Dichtern und Kritikern 155
Ausruf,^ und die anderen stimmen ihm bei. Es zeigt sich aber
schließlich, daß Schlegel recht hatte. Redding fügt hinzu: 'Schle-
gel was a most instructive and entertaining companion upon lite-
rary topics, of which the extent of his knowledge and accuracy
were surprising, and yet he showed nothing of the pedant, but
was in society much the man of the world. Yet there was conceit,
a little self-consequence, a taint of vanity about M""« de Stael's idoL'
Über Schlegels letzten Aufenthalt in London (1832) wissen
wir wenig. Bemerkenswert ist hier allenfalls sein Briefwechsel
mit Abraham Hayward. Dieser bittet ihn um Beihilfe bei den
Noten zu seiner Faust -Übersetzung, ferner um einen Nekrolog
über den eben verstorbenen Goethe, was Schlegel wegen seiner
unmittelbar bevorstehenden Abreise und wegen der ihn zu Hause
erwartenden Arbeitslast ablehnt. Er verweist Hayward deswegen
auf Carlyle, den dieser vorher bei ihm eingeführt hatte. Er scheint
aber auf den jungen Schotten keinen tieferen Eindruck gemacht
zu haben, denn er erwähnt ihn weder in seinen Schriften noch in
seinen Briefen.
Was schließlich noch Campbell betrifft, so war er zwar 1825
noch einmal in Bonn gewesen, indessen hatten sich die Beziehun-
gen zwischen beiden Dichtern allmählich gelockert. Als Redding
sich im Frühjahr 1836 nach Schlegel erkundigte, beklagte es
Campbell, daß eine Abkühlung zwischen ihnen eingetreten sei.
Redding hebt noch einen Gegensatz zwischen ihnen hervor, der
auf politischem Gebiet lag und die Entfremdung erklären könnte.
'Campbell', sagt er a. a. 0. S. 54, 'was unconstrained and free in
his political sentiments. Schlegel had mingled too much among
the despotic nobles of Germany to talk of politics or find fault
with things that were.'
Nicht so freundlich wie zu Campbell gestaltete sich Schlegels
Verhältnis zu Byron.^ Wenn nicht, wie früher angedeutet, in
London, so trafen sie sich jedenfalls 1816 in Coppet unter dem
gastlichen Dache der Frau von Stael. Byron berichtet in einem
Briefe an Rogers vom 29. Juli 1816 (Letters and Journals III,
341): 'Schlegel is in high force, and M™** de Stael as brilliant as
ever', woraus man allenfalls auf eine frühere Bekanntschaft
schließen kann. Man versteht es ohne weiteres, daß die beiden
Dichter nicht harmonieren konnten, wie überhaupt in dem dorti-
gen Kreise die Zwistigkeiten nicht aufhörten; Frau von Stael
hatte alle Mühe, das 'genus irritabile vatum' richtig zu behandeln
und miteinander zu versöhnen. Der englische Aristokrat, der auf
seinen Dichterruhm mit Recht stolz war, wird dem Deutschen,
Nach dem Oxford Dictionary ist der erste TJeleg von 1080
Vgl. hierzu Eimer. Angl. 36, 313 flF.
156 A, W. Schlegel in seinen Beziehungen zu engl. Dichtern und Kritikern
der doch auch sehr beachtenswerte literarische Leistungen auf-
zuweisen hatte, nicht immer mit der Rücksicht begegnet sein, die
der eitle und empfindliche Schlegel erwarten durfte. Seine ab-
hängige Stellung im Hofstaat der Frau von Stael war auch nicht
dazu angetan, ihm Byrons besondere Achtung zu verschaffen.
Dieser äußert selbst später in einem Briefe an Murray (4. August
1821): 'He took a dislike to me, because I refused to flatter him in
Switzerland, though M"^ de Broglie begged me to do so, because
he is so fond of it. Voilä les hommes.' Daß sie sich öfters über
literarische Themata unterhalten haben, ergibt sich aus einer an-
deren Briefstelle (L. & J. V, 333) : 'I remember having some talk
with Schlegel about Alfieri, whose merit he denies. He was also
wroth about the Edinburgh Review of Goethe,^ which was sharp
enough, to be sure. He went about saying, too, of the French —
'I meditate a terrible vengeance against the French — I will prove
that Moliere is no poet' (was er bereits in seinen Wiener Vor-
lesungen zu tun versucht hatte). Auch nachdem sich die beiden
getrennt hatten, um sich nicht wiederzusehen, fand sich Anlaß
genug zur Verstimmung. Da war im Jahre 1818 in Blackwood's
Magazine (Bd. III, 227) bei Gelegenheit einer Besprechung des
4. Gesanges von Childe Harold gesagt worden, Byron könnte
einige Gedanken darin aus Schlegels Elegie 'Rom' entlehnt haben.
Gegen diese Vermutung wendet sich Byron mit aller Schärfe in
dem oben zitierten Briefe an Moore vom 2. August 1821 und ver-
sichert, er habe die betreffende Stelle aus der Elegie bei Black-
wood, wo eine Übersetzung mitgeteilt ist, überhaupt zum ersten-
mal gesehen; außerdem verstehe er ja kein Deutsch. Nun ist es
wirklich unglaublich, daß Byron je eine Anleihe bei Schlegel ge-
macht haben sollte, und der Kritiker denkt selbst nur an ein zu-
fälliges Zusammentreffen der Gedanken. Schlegels Elegie ist
übrigens kein bedeutendes Werk; einem neueren Literarhistoriker
gilt sie als 'eine Dichtung voll gelehrter Kälte und metrischer
Künstelei'.
Aber es sollte noch schlimmer kommen. Thomas Moore war
im Mai 1821 Schlegel in Paris in einer Gesellschaft beim Herzog
de Broglie begegnet und schrieb über sein Gespräch mit ihm
folgendes in sein Tagebuch: 'Had much talk wäth Schlegel in the
evening, who appears to me füll of literary coxcombry. Is evi-
dently not well inclined towards Lord Byron; thinks he will
outlive himself and get out of date long before he dies. Asked
me if I thought a regulär critique of all Lord B.'s work and the
System on which they are writteh. would succeed in England,
1 Es handelt sich um eine Kritik von 'Wahrheit und Dichtung'
12. Bd. der Review.
A. W. Schlegel in seinen Beziehungen zu engl. Dichtern und Kritikern 157
and seems inclined to uudertake it.' (Journ. & Corresp. III, 235.)
Unzweifelhaft hat Moore über diese Unterredung an Byron be-
richtet, und dieser schreibt nun voll Zorn an Murray (L. & J. V.
337): 'They write from Paris that Schlegel is making a fierce
book against me. What can I have done to the literary Col-
captain of late Madame? I, who am neither of his country nor
of his horde? Does this Hundsfoth's intention appal you?
If it does, say so. I don't me: for if he is insolent, I will go to
Paris and thank him. There is a distinction between native criti-
cism, because it belongs to the Nation to judge and pronounce
on natives; but what have I to do with Germany and Germans,
neither any subject nor any language having anything in common
with that country?' In einem weiteren Briefe vom 7. August
Cibid. S. 339) kommt er noch einmal auf Schlegel zurück und
fragt auch später bei Moore seinetwegen an. Da aber die bewußte
Kritik nicht erschien, so ist die unerquickliche Angelegenheit im
Sande verlaufen. Schlegel hat sich aber doch noch in unschöner
Weise an Byrons Andenken vergangen, indem er in späteren
Jahren zwei salz- und witzlose Epigramme gegen ihn losließ
(Sämmtl. Werke II, 174. 215). Übrigens hat auch Byron mit
seinem Spott gegen Schlegel nicht immer zurückgehalten. In
einem Briefe an Murray (Lett. & Journ. IV, 161) flicht er die
Verse ein:
'Some say she [Mme de Stael] died a Papist; some
Are of opinion that's a hum.
I don't know that, the fellow Schlegel
Was very likely to inveigle
A dying person in compunction
To try the extremity of unction.'
Dabei ist aber wohl zu beachten, daß diese Äußerung in einem
Privatschreiben steht, also nicht zur Veröffentlichung bestimmt
war. An der Behauptung Byrons ist natürlich kein wahres Wort.
Was Wordsworth und Coleridge angeht, so ist nur von
einer einmaligen kurzen Begegnung zu berichten. Die beiden
Dichter hatten im Sommer 1828 eine Reise durch Belgien ge-
macht^ und waren darauf als Gäste im Hause des Kaufmanns
Aders in Godesberg eingekehrt, vermutlich von Crabb Robinson
empfohlen, der in London mit der Familie Aders viel verkehrte.
Die Kunde von der Anwesenheit so berühmter Männer drang so-
gleich nach Bonn, und viele Professoren beeilten sich, sie auf-
zusuchen, unter ihnen ISTiebuhr und Schlegel. Von der Unter-
haltung, bei der Coleridge nach seiner Gewohnheit das Wort
führte, während Wordsworth den schweigenden Zuhörer abgab,
wird folgendes berichtet: 'Schlegel praised Scott's poetrj^, Cole-
Vgl. Knight, Life of Wordsworth III, 137.
158 A. W. Schlegel in seinen Beziehungen zu engl. Dichtern und Kritikern
ridge decried it, stating that no poet ever lived of equal eminence
whose writings furnished so few quotable passages [ein etwas
fadenscheiniges Argument]. Schlegel then praised Byron, Cole-
ridge immediately tried to depreciate him. Ah, said he, Byron
is a nieteor which will but blaze and rove and die, Wordsworth
there is a star luminous and fixed.' Über diese Äußerungen kann
man sich nur verwundern. Bei Schlegel mag der Wunsch vor-
handen gewesen sein, den Gästen etwas Freundliches zu sagen,
was (wenigstens in bezug auf Byron) nicht einmal aufrichtig zu
sein brauchte; bei Coleridge hingegen wäre man geneigt, an blo-
ßen Neid gegen glücklichere und erfolgreichere Dichtergenossen
zu glauben, wenn man nicht auch berücksichtigen müßte, daß er
sich in seinem ganzen Wesen und Streben scharf von ihnen unter-
schied. Es mag noch erwähnt werden, daß sich in der Dresdner
Sammlung ein inhaltlich unbedeutender Brief von Wordsworth
an Schlegel befindet (vom 2. April 1834), worin er ihm einen
jungen Freund empfiehlt und von dem besonderen Vergnügen
spricht, das ihm der nur kurze Verkehr mit Schlegel gewährt hat.
Erfahren wir nun auch nicht, wie Wordsworth und Coleridge
über Schlegel geurteilt haben, so ist ein anderer englischer Dichter,
Walter Savage Landor, in dieser Hinsicht desto mitteil-
samer. Schlegel hatte bereits die 'Imaginary Conversations'
kennengelernt, die ihm Julius Hare aus Cambridge am 14. April
1824 zugesandt hatte.^ Nun kam Landor selbst im Jahre 1832
auf der Rückreise nach Italien in Gesellschaft von Hare nach
Bonn und besuchte dort Schlegel. Was er dann aber über ihn
sagt, ist voll von Spott und tiefer Enttäuschung. Er ist erstaunt,
einen solchen Mann vor sich zu sehen, der ihm einen so tiefen
Einblick in Shakespeares Wesen gewährt hatte. Nun schreibt er
von Frankfurt aus an Crabb Eobinson (20. Oktober 1832): 'At
Bonn I met Mr. William Schlegel. He resembles a little pot
bellied pony tricked out with stars, buckles and ribands, looking
askance from his ring and kalter in the market for an apple from
one, a morsel of bread from another, a fig of ginger from a third
and a pat from every-body. . . . The next day I saw the honest
Arndt, who settled the bile this coxcomb of the bazaar had
encited.' (Robinson, Diary, Remin. and Corresp. II, 134.) In sei-
nen Letters and unpublished Writings (S. 225) berichtet Landor
^ Schlegel muß im Jahre 1823 in Cambridge gewesen sein, wo er beson-
ders im Trinity College sehr gefeiert wurde. Darauf bezieht sich ein Brief
des Rev. Adam Sidgwick vom 10. Januar 1845 (auch dieser in der Dresdner
Sammlung enthalten). Darin versichert er Schlegel: 'Every member of
our Society, from the highest to the lowest, would receive with honour one
who, like yourself, has done so much honour to our greatest poet and to our
national literature.'
t
A. W. Schlegel in seinen Beziehungen zu engl. Dichtern und Kritikern 159
des weiteren über den schönen Abend, den er bei Arndt verbracht,
und über die Freude, die "es ihm und dem greisen Dichter bereitet
habe, als Vorübergehende ein vaterländisches Lied von ihm san-
gen, das damals schon zum Volkslied geworden war. In einem
Gedicht an Schlegel, das dieser gewiß niemals zu sehen bekommen
hat, drückt er nochmals wie oben seine Geringschätzung für ihn
aus. Man würde auch zu weit gehen, wenn man annähme, daß
sich zwischen dem temperamentvollen englischen Landedelmann
und dem gealterten deutschen Professor irgendwelche Harmonie
hätte herausbilden können.
Über das Verhältnis Schlegels zu Sir James Mackin tos h,
dem bekannten Essajästen und Parlamentarier, können wir kür-
zer hinweggehen. Während Frau von Staels Aufenthalt in Lon-
don war Mackintosh häufig in ihrer Gesellschaft und ihr ständiger
Tischnachbar ('I am generally ordered mth her to dinner, as one
Orders beans and bacon', äußerte er darüber scherzhaft) . Wir wissen,
daß sie große Stücke auf ihn hielt, und so erklärt es sich, daß er
bereits im September 1814 in Coppet erscheinen durfte, von wo
aus er mit Schlegel und Sismondi Voltaires Landsitz in Ferney
besuchte. Aus seiner Korrespondenz mit Schlegel ist nur ein Brief
bemerkenswert. Campbell hatte ihm zwei Hefte von Schlegels
'Indischer Bibliothek' gegeben, und nun schreibt er: 'I have now
read with great pleasure your remarks together with Mr. Bopp's
comparison of the Sanscrit with Greek and Teutonic. They leave
me no doubt of an opinion I have long entertained that these
three ancient'and extensive languages flow from the same source.'
So war wenigstens an einer Stelle das richtige Verständnis für die
indogermanische Sprachwissenschaft angebahnt. Einige Jahre
später war Schlegel aufgefordert worden, in London Vorlesungen
zu halten, sei es über die Geschichte der schönen Künste, sei es
über das alte und neue Indien; sie sollten dann in Buchform
herauskommen. Mackintosh fiel es zu, die Sache zu vermitteln,
aber der Plan zerschlug sich, weil kein A^'erleger sich für das Buch
finden wollte und die Zeitverhältnisse, insbesondere die Agitation
für die Reformbill, hindernd im Wege standen. —
Weiterhin würde es sich jetzt darum handeln, den Einfluß zu
bestimmen, den Schlegel bei den englischen Dichtern und Kri-
tikern ausgeübt hat. Hier ist der Umstand hinderlich, daß es an
Vorarbeiten fast gänzlich fehlt; auch wären eine Reihe von Zeit-
schriften und Büchern einzusehen, die zur Zeit unzugänglich sind.
An einer wichtigen Stelle ist allerdings die Arbeit getan, und
zwar gründlich. Es betrifft dies Coleridge und seine öffent-
lichen Vorträge, speziell über Shakespeare. In bezug auf seine
Abhängigkeit von Schlegel sind die verschiedensten Ansichten
geäußert worden. Schon gleich nach seinem Tode hat Thomas de
160 A. W. Schlegel in seinen Beziehungen zu engl. Dichtern und Kritikern
Quincey (Werke ed. Masson II, 140) den Vorwurf des Plagiats
gegen ihn erhoben — freilich zunächst nur wegen seiner Be-
nutzung von Schelling — , und nach ihm noch verschiedene andere,
wogegen ihm auch eine Reihe von Verteidigern erstanden ist. Zu
diesen gehört vor allem Brandl in seiner Biographie Coleridges
(p. 426), der vieles mit der Nachlässigkeit des Dichters sowie mit
der Unstetigkeit seines äußeren und inneren Lebens zu entschul-
digen sucht. Aber auch er muß zugestehen, daß mancher Para-
graph der Biographia Literaria einfach ein Abklatsch von Maaß
oder Schelling ohne genaues Zitat, manches Kapitel seiner ge-
druckten Vorlesungen ein Abklatsch von Schlegel ohne jede
Quellenangabe ist, abgesehen von den schier unzähligen Ent-
lehnungen freierer Art. Man braucht allerdings die Idee von sei-
ner Abhängigkeit von anderen nicht zu übertreiben; ähnliche Ge-
danken können gemeinsamer Quelle entstammen, manches auch
dem Geist der Zeit, und doch kann man mit Herford zugeben,
daß Coleridge in seiner Shakespearekritik der besser gegliederten
Formulierung der Gedanken bei seinem deutschen A^orgänger ge-
folgt ist, daß dieser, kurz gesagt, sein Meister war.
In neuerer Zeit ist die ganze Frage noch einmal genau unter-
sucht worden in einer Dissertation der University of Wisconsin
(The indebtedness of S. T. Coleridge to A. W. Schlegel von A. A.
Wehnholtz, 1907). Die Verfasserin stellt hier wohl zum ersten-
mal eine große Anzahl von einzelnen Stellen bei beiden Kritikern
nebeneinander zum Vergleich, zeigt dann Coleridges Verfahren,
wie er ganze Kapitel und Abschnitte in einem einzigen Satz
gleichsam kondensiert, und wie ein ganz neuer Ton in seine Vor-
lesungen hineinkommt, seitdem er das Buch von Schlegel kennen-
gelernt hat. Das geschah im Januar 1812, nachdem er schon acht
Vorlesungen der zweiten Serie hinter sich hatte. Von da an tritt
Schlegels Einwirkung je länger, je mehr zutage.
Bei dem Interesse, das Campbell für Schlegels Person wie für
seine Leistungen empfand, wird es nicht wundernehmen, daß er
sich auch in seinen Schriften gelegentlich mit ihm beschäftigt.
Dies geschieht in dem einleitenden Essay zu seinen 'Specimens of
the British Poets' (S. 153). Dort wendet er sich gegen Schlegels
Behauptung, Shakespeare habe in seinem Wirken niemals die Ein-
heiten verletzt, wenn man sie richtig und weitherzig auffasse.
Campbell dagegen meint, es kämen in ihnen Dinge vor, die sich
mit den Grundsätzen der dramatischen Kunst nicht mehr ver-
einigen lassen. Wenn z. B. im 'Wintermärchen' Perdita als neu-
geborenes. Kind und später als erwachsen auf die Bühne komme,
so könne man keine Einheit mehr in dem Stück erkennen und
müsse zu der Annahme seine Zuflucht nehmen, daß Shakespeare
hier die Kunst mit Füßen trete. 'When I am left to infer'. fährt
A. W. Schlegel in seinen Beziehungen zu engl. Dichtern und Kritikern 161
er mit leicht erkennbarer Ironie fort, 'that all this is right on
romantic principles, I confess that there principles become too
romantic for mj conception.' Campbells Kritik erseheint hier
etwas flach. Er übersieht ganz, daß das Stück ein Märchendrama
ist, wodurch dem Dichter schon eine größere Freiheit und weiterer
Spielraum gelassen wird. Wichtig ist ferner, daß Perdita zuerst
gar nicht handelnd auftritt, so daß sie im weiteren Verlauf des
Dramas fast wie eine neue Person betrachtet werden kann. Auch
muß ohnehin zwischen dem 3. und 4. Akt eine längere Frist ver-
streichen (die Zeit als Chorus vermittelt hier den Übergang), um
Leontes' Reue und Sinneswandlung zu motivieren. Campbell
steht eben noch unter dem Druck der klassizistischen Doktrin,
den er nicht abschütteln kann, und ist außerstande, dem Fluge
des Genius zu folgen.
Wesentlich polemisch verhält sich auch Hazlitt Schlegel
gegenüber. Dieser hatte in seinen Vorlesungen über die Oper u. a.
gesagt (Werke V, 67 fF.): 'In der Oper ist die Poesie nur Neben-
sache: sie wird unter ihren Umgebungen fast ertränkt. . . . Diese
Anarchie der Künste, da Musik, Tanz und Dekoration durch Ver-
schwendung ihrer üppigsten Reize sich gegenseitig zu überbieten
suchen, ist das eigentliche Wesen der Oper usw.' Dazu bemerkt
Hazlitt in einer Kritik von Mozarts 'Cosi fan tutte' (abgedruckt
in 'A View of the English Stage', p. 235): 'The foregoing remarks
give the best account wo have seen of that splendid exhibition,
the Italian opera. These Germ an critics can explain everything.
and upon any occasion make the worse appear the better reason.
Their theories are always at variance with common sense, and we
shall not in the present instance undertake to decide between
them. There is, however, one thing we shall venture to decide,
which is that the feelings of the English people must undergo
time very elaborate process, before they are thoroughly recouciled
to the Union of different elements etc.' Hazlitt ist nun von jeher
ein mürrischer und galliger Charakter gewesen, und hier zeigt er
sich in seinem wahren Lichte. Da er den Deutschen nicht wider-
legen kann, so räsoniert er über ihn und schweift dann zu einer
geringschätzigen Kritik des englischen Publikums ab. Unlogisch
ist er obendrein, deiin wenn Schlegel von der italienischen Oper
'the best account' gegeben hat. so können die Theorien der deut-
schen Kritik schwerlich 'at variance with common sense' sein.
Nicht viel anders macht er es in einem zweiten Fall bei einer
Kritik über Measure for Measure (a. a. 0. S. 165). Hier sagt er
von Schlegels Beurteilung des Stückes: 'This is a very poor criti-
cism of a very fine poetry. but we are not in a humour (even if we
could) to write a better.' Da er also selbst sein Unvermögen
gesteht, so ist er in keinem Fall ernst zu nehmen.
162 A. W. Schlegel in seinen Beziehungen zu engl. Dichtern und Kritikern
Glücklicherweise hat es in England noch Schriftsteller ge
geben, die wohlwollender und gerechter urteilten als Hazlitt.
Richard Hengist Hörne, ein Kritiker und Dichter von Ruf, der
gerade die zweite Ausgabe von Schlegels Vorlesungen besorgt
hatte, schreibt an ihn am 16. Juni 1840, nachdem er von der
weiten und schnellen Verbreitung des Werkes und vom G-efühl der
Dankespflicht des englischen Publikums gesprochen, folgendes:
'I enclose a copy of another newspaper (the Atlas), that you may
see the Present state of criticism among us, with reference to
contemporaries; for although the sympathizing tone of this paper
is not at all a fair general specimen of our press in England;
yet in absence of personalities it may be considered such — the
contrary having almost always been the case, until your lectures
gradually taught our critics to assume a higher and more abstract
tone of disquisition.' Dies stimmt im großen und ganzen zu der
Auffassung von der Aufgabe des Kritikers, wie sie Schlegel (Ges.
AVerke VIT, 26) gelegentlich entwickelt hat.
Zusammenfassend wird man etwa sagen können, daß Schlegel
im Grunde mehr auf die Gelehrten und Kritiker (und durch sie
mittelbar auf die gebildeten Kreise) als auf die Dichter gewirkt
hat. Diese, die ihm an Fülle der Produktion und durch ihr poeti-
sches Talent überlegen waren, lehnten seine romantischen Theo-
rien ab. Jene dagegen ließen sich durch seine umfassende Gelehr-
samkeit ebenso bestechen wie durch seine gesellschaftliche Ge-
Avandtheit. Jedenfalls hat er zur Mehrung und Festigung des
deutschen Ansehens in England erheblich beigetragen.
Berlin. Georg Herzfeld.
John Keats
im Lichte der neuesten Forschung
Wiederum steht John Keats im Vordergruud. unseres literarischen Inter-
esses. Seine Lebensgeschichte ist wiedererzählt und seine Dichtung aufs
neue gewürdigt worden in einem Buche, das selber ein Lebenswerk ist.^
Schon 1887 hat Sidney Colvin in der English Men of Letters Serics
seine kleine Keatsbiographie veröffentlicht. Heute liegt sie uns als dick-
leibiges Buch vor. Große Stücke sind sieh wesentlich gleich geblieben und
nur durch ausgiebigeres Zitieren und Einschieben von Zwischenbemerkungen
erweitert worden. So bieten die rein biographischen Kapitel nicht viel
Neues. Wir hören von Keats' feiner Beobachtungsgabe, von seinem sinn-
lichen Entzücken in Berührung mit der Natur, wenn wir einen Blick in die
so äußerst wertvolle Severnbiographie^ von W. Sharp werfen: eine Wind-
welle streicht über die Gräser, und Keats ersteigt den Zauntritt, um das
Schauspiel zu betrachten, und ekstatisch ruft er aus: T)ie Flut, die Flut!'
Wir erfahren noch mehr über Leigh Hunt, seine literarische Cockneymanier
und sein Rimini, die Verwässerung von Dantes Paolo und Francesca-Episode.
Auch das Haydonprofil wird noch etwas schärfer gezeichnet als in dem
kleineren Buche. . Das berühmte immortal dinner, an dem der betrunkene
Lamb den würdevollen Wordsworth reizte und kränkte, wird breiter und
behaglicher dargestellt. Dankbar sind wir für einige Auszüge a.us den inter-
essanten Winterbriefen 1817 — 1818, die Keats' Dichtertheorie eathüllen, wo
wir z. B. die Äußerung finden, die Poesie müsse durch feine Übertreibung,
nicht durch Eigenart überraschen: poetry sliould surprise hy a fine cxc'ess,
and not ly singularity. Eingehend wird die zeitgenössische Kritik des
Endymion wiedergegeben und Blackwood's Magazine, das den berüchtigten
Artikel gegen Keats brachte, seinem literarischen Ton und seiner ganzen
Tendenz nach gewürdigt, oder richtiger gegeißelt. Das Verhältnis zu Fanny
Brawne wird ausführlich dargestellt. Es gibt wohl kaum eine bemerkens-
werte Einzeltatsache in diesem kurzen Dichterleben, die in dieser Bio-
graphie nicht berücksichtigt worden wäre.
Doch in dem biographischen Element lieg-t — für uns wenigstens —
nicht der Hauptwert des Buches. Sidney Colvin hat den kritischen
Teil von Grund aus umgearbeitet und gewaltig bereichert, und der Literar-
historiker wird sich neugierig diesen Kapiteln zuwenden, um zu sehen, was
es Kostbares für ihn zu ernten gibt. Er wird aber auch bei der reich-
lichen Keatsliteratur der letzten Jahre wieder Umschau halten, um durch
Vergleichen und eigene Betrachtung zu einem selbständigen Urteil über
Keats und seine Kunst zu gelangen.
1. Gedichte 18 17.
Zunächst ein paar Worte über die Gedichte des Jahres 1817. Sie zer-
fallen in Sonette und Episteln. Beide zeigen dieselbe Grundnote :
Entzücken an der Schönheit der Natur, Lebendigkeit des Empfindens.
Freude am Fabuliere» und an der Kunst.
^ Sidney Colvin, John Keats. Bis life and Poeiry, his fricnds, critics and
after-fame, London, Macmillan, 1917 (Neudruck 1918). XX, 600 S.
- Life and Letters of Joseph Severn by W. Sharp, 1892.
164 John Keats im Lichte der neuesten Forschung
Die Sonette sind ohne hohe Leidenschaft, einfacher, aufrichtiger Aus-
druck persönlicher Gefühle, der nur gelegentlich vereinzelte Taktgruppen
herrlichster Wortkunst aufweist. Eine Ausnahme bildet das Sonett auf
Chapman's Ilomer, ein Meisterstück der Heiterkeit und Konzentration, ein
Bild mit weltenweitem Ausblick, das das literarische Entzücken an Chap-
man's Homer in der historischen, romantischen Gestalt des Cortez sichtbar
macht, der neue Weltteile entdeckt, dessen Entdeckungsfreude zurück zum
jugendlichen Entzücken am homerischen Epos die Brücke schlägt.
Die Gedichtsammlung enthielt nicht das prächtige Leandersonett,
das Keats am 16. März 1816 nach James Tassies Pastellreproduktion einer
Gemme dichtete. Wie früh betätigt sich bei ihm die bildende Kunst als
Anreger! Wie prächtig kompakt ist der Schluß: see hotv his hody dips
Dead-heavy; arms and Shoulders gleam awhile; He's gone: up htihiles all
his amorous hreath.
Unter den Episteln und reflektierenden Stücken, die im zehusilbigen
Reimpaar geschrieben sind, steht die Sendung an Feiton Mathew vom
November 1815 als ein metrisches Erzeugnis da, das ein spontan sich ent-
wickelndes Endglied einer längeren Kette ist, die bis zu den Elisabethanern
zurückreicht, die das zehnsilbige Reimpaar auf zweierlei Weise verwen-
deten, entweder nach dem geschlossenen System, wo Reim- und Sinnschema
sich glatt deckten und neben epigrammatischer Schärfe sehr leicht Eintönig-
keit sich einstellen konnte, oder nach dem verschobenen System, wo Reim-
und Sinnsehema sich durchkreuzten und der Vorteil der Freiheit gelegentlich
durch den Nachteil rhythmischer Schwäche aufgehoben wurde. Marlowe
und Spenser huldigten dem ersten, Drayton, Chapman, Donne, Ben Jonson,
William Chamberlayne dem zweiten System. Eine glückliche Vereinigung
beider Arten finden wir bei William Browne und George Sandys, dem
Übersetzer von Ovids Metamorphosen, einem Werke, das Keats sehr wohl
kannte. Später, unter der Restauration, galt die Regel, wenigstens die Ein-
heit des Reimpaares zu achten, d. h. den Satz am Ende des zweiten Verses
abzuschließen, während Milton immer noch die gemischte elisabethanische
Anordnung vorzog. Die geltende Tiegel befolgten: Drummond of Haw-
thornden, Sir John Beaumont, Marvell, Waller, Katherine Philips. Cowley
brachte Abwechslung durch gelegentliche Einführung des Zwölfsilbners,
Dryden durch Ausdehnung des Reimes auf drei Verse. Pope streifte alle
diese Variationen wieder ab und brachte den Grundsatz der strengen Über-
einstimmung von Reim- tmd Satzschema und der Regelmäßigkeit der
Zäsur zu einer Herrschaft, der die drei folgenden Dichtergeschlechter sich
beugten. Gegner des Prinzips erstanden in Joseph und Thomas Warton,
Thomas Gray, Chatterton, Macpherson, Blake. Die ernsthafte Abkehr vom
Popeschen Prinzip kam durch Coleridge. Wordsworth und später durch
Scott. Das heroische Reimpaar hielt sich aber immer, noch in der Oppo-
sition, bei Rogers, Crabbe, Campbell, bei Byron in seinem Corsair und
Lara, während Leigh Hunt den Versuch mächte, durch Vermischung mit
Triplet und Alexandriner und durch die Verwendung der elisabethanischen
Doppeltendenz das heroische Reimpaar zu verbessern.
Da kommt Keats und schreibt seine Epistel an Feiton Mathew.
Er greift wieder zurück auf William Brownes Britannia's Pastorais.
weil er dort das leichtfließende Verspaar mit reichlichen weiblichen Reimen
vorfand. Seiner Stimmung nach ist das Gedicht Ovidisch mythologisch
John Keats im Lichte dej- neuesten Forschung 165
W romantisch. Mathew war einst eine wilde Blume au dem Bache der
Poesie, Diana pflückte ihn und warf ihn in den Fluß, ihrem Bruder
Apollo zum Opfer, der ihn in einen Stieglitz verwandelte, aus dem ein
schwarzäugiger Schwan geworden ist, den Naiaden ernähren.
In demselben Metrum geschrieben sind das durch Hunts Rimini an-
geregte Calidore und die beiden Stücke, die dem ganzen Bande seinen Wert
verleihen: Sleep and Poetry und As I stood tiptoe, Präludien über des Dich-
ters Bestrebungen. Sleep and Poetry zeigt Keats' Begabung, aktive Eigen-
schaften in die Dinge hineinzuschauen und die passiven Attribute zu ver-
decken. Der Wagenlenker, dessen wildtrabende Rosse über Wolken und
Hügel jagen an tausend Visionen vorbei, ist Sichtbarmachung der Phantasie.
Die Visionen verschwinden, wie die wahre Dichtung in England nach Spenser
und lililton schwand, um der mathematischen Poesie des 18. Jahrhunderts
Platz zu machen, gegen die sich Keats in schroffen Worten wendet. Wenn
er die neue Zeit begrüßt, so kann er sich aber doch nicht mit allen ihren
Erscheinungen einverstanden erklären. Die ugly cluhs sind nach Sidney
Colvin Byrons orientalische Verserzählungen.
In / stood tiptoe werden schöne Naturbilder als symbolisch verwandt mit
gewissen dichterischen Stilarten erkannt. Wie Oliver Elton sagt, ist die
Natur selber eine Gedichtsammlung, und der Mittsommernachtstraum ist ein
unerforschter Wald. Jedes Naturbild entspricht einer bestimmten Dich-
tung und jede Dichtung einem bestimmten Naturbild; denn was im Dichter
dieselbe Stimmung erwecken kann, ob Naturbild oder Gedicht, ist sich
vvesensverwandt :
»In the calm graudeur of a sober Ime,
We see the waving of the mountain pine:
And when a tale is beautifully staid,
We feel the safety of a, hawthorn glade.
Ich kann mir keine tiefer grabende, dem Dichter näher kommende Erklä-
rung dieses Präludiums vorstellen als die, welche uns in dem aus künstle-
rischer Intuition entstandenen Aufsatz der Mary Suddard^^ gegeben wird,
deren wunderbare Reife auch Sidney Colvin an anderer Stelle anerkennt.
Wo wie bei diesem Dichter die seelische Identität von Natur und Dichtung
— oder sagen wir Mythus — als selbstverständlich gefordert wird, wird
der Mythus selber zum individuell dichterischen Erlebnis, und die schon
vorhandenen alten Mythen müssen sich ihm auf gewisse Naturstimmungen,
die er selber rekonstruieren will, einstellen. So reizt es ihn, die seelische
Identität von Natur und Dichtung herzustellen in jenen alten Fabeln von
Cupido und Psyche, von Pan und Syrinx, von Narcissus und Echo, von
Cynthia und Endymion, und so malt er die entsprechenden Landschaften mit
ihren Stimmungen. Wie reizend ist das Narzissusnaturbildchen !
Der Stil weist jetzt schon die in Endymion so häufig auftretenden ab-
strakten Nomina auf, die sinnenfällige und die Phantasie angenehm er-
regende Eigenschaften bezeichnen : qtiaint mossiness of aged roots —
piire, deliciousne s s — pillowy silkines s of clouds.
An literarischen Einflüssen macht sich Wordsworth bemerkbar —
^ Keat.s' Preltide, a Study of the Poems of Keats up to Endymion {Studies
and Essays, Cambridge, University Press, 1912). Ich habe das Buch im
Beiblatt zur 'Anglia' 26 (1915) 70 — 80 eingehend besprochen.
166 John Keats im Lichte der neuesten Forschung
darauf hat zuerst der poeta laureatus Robert Bridges in seiner Einleitung
zu John Keats' Gedichten in der Ausgabe von G. Thorn Drury hingewiesen
— , Wordsworth, der in seinem vierten Buche der Excursion sich darüber
klar zu werden versucht, wie gewisse Vorstellungen griechischer Mythologie
entstanden sein mögen. Gerade jene Stelle Wordsworths bespricht Keats
kurz nachher mit einem Freunde. Übrigens zeigt auch Sleej) and Poetry
eine innei-e Verwandschaft mit einem Wordsworthschen Gedicht, nämlich
mit Tintern Ahhey. Allerdings erscheint Keats neben dem mehr nach-
denkenden und erklärenden Wordsworth als der eigentlich anregende,
die Phantasiebilder mitteilende Dichter.
2. Der Theoretiker der Romantik.
Im Jahre 1817 beschäftigt sich Keats mit ästhetisch-philosophischen
Fragen, wie ein Brief vom 22. November 1817 uns darlegt. Keats erklärt
hier den Gegensatz zwischen Sensationen (sensations) und Gedan-
ken {tlioughts), wobei die Sensationen nicht rein körperlich, sondern geistig
aufgefaßt werden als intuitions of the mind, wie S. Colvin sagt, d. h. als
unmittelbares Erkennen ohne Denken. Der Dichter ruft aus: Oh, um ^f
ein Leben der Intuition viel eher als des Denkens! (0/ for a Ufe of Sen-
sations rather tlian of Thoughtsl) Mit 'Sensationen' arbeitet — so müssen
wir wohl das dazwischenliegende, nicht ausgedrückte Gedankenglied er-
gänzen — die Imagination, von deren Zuständigkeit er innerlidi
überzeug-t ist. Und was sie als Schönheit erfaßt, muß Wahrheit sein. Ein
Gleichnis macht es uns klar. Adam träumte — nach Miltons Paradise Lost
VIII, 288 — 311! — und fand beim Erwachen den Traum bewahrheitet. Er
sah, wie die glorreiche Gestalt Gottes aus seiner eigenen Rippe ein Ge-
schöpf erschuf, und er erwachte, und Eva, die Schönheit, stand neben ihm.
Man wird sich daran erinnern, daß die Imagination, die Keats hier
verherrlicht, ein Schlagwort jener Tage ist, und wird wohl sicher gehen,
wenn man annimmt, daß hier unser Dichter auf seine Art das oft erörterte
literarkritische Thema Wordsworths und Coleridges, Fancy and Imagi-
nation, anfaßt. Die Fancy hat Keats hier fahren gelassen. Daß ihn aber
jene geistvolle Tüftelei — und etwas Besseres ist jene Erörterung nach
Saintsbury in seiner History of Literary Criticism. nicht, da Saintsbury
zwischen Fancy und Imagination keinen Unterschied sehen kann — kurz
vorher auch beschäftigt hat, zeigt eine Äußerung, die wir einem Briefe aus
dem Frühjahr 1817 entnehmen (bei Sidney Colvin 165), wo er sagt, Er-
findung (invention) sei der Polarstern der Poesie, Einbildungs-
kraft [fancy) sein Segel und Bildung'skraft (imagination) sein
Steuer. Dies klingt wie ein deutliches Echo der Vorrede, die Words-
worth zu seiner Gedichtsammlung des Jahres 1815 geschrieben hatte,
wo er für den Dichter sechs Hauptfähigkeiten gefordert und unter
Punkt 4 und 5 Imagination, Fancy, Invention aufgezählt hatte. Die viel
feinere Quelle, aus der übrigens auch Wordsworth für seine Begriffsunter-
scheidung von Imagination und Fancy geschöpft, nämlich Coleridges
Theorien, die vor 1815 gespräclisweise in literarischen Kreisen herum-
geboten wurden und 1817 in dem genialen Durcheinander der Biographia
I.iteraria im Druck erschienen, kannte er nicht. Coleridge hatte die Un-
ter.scheidung in Jean Paul Richters 'Vorschule der Ästhetik' gefunden und
von dem heute vergessenen G. Maaß in dessen 'Versuch über die Einbildungs
John Keats im Lichte der neuesten Forschung 167
kraft' (1797) den Gedanken der Bildungskraft als Attribut der Genialität
übernommen. Dies verschmolz sich jetzt mit der bei ihm schon längst fer-
tigen Vorstellung von Schellings Ineinsbildung, die Coleridge mit seiner
bekannton Freude an griechischen Neuprägungen eisemplastiiclie Fähigkeit
nannte. Keats hat Coleridge nur einmal gesehen, zwei Jahre vor seinem
Tode. Nachdem der junge Dichter dem alten die Hand gedrückt und schon
fürbaß gegangen war, sagte der Philosoph von Highgate: 'In dieser Hand
lag der Tod' (bei Sidney Colvin 348). Die zerstreut liegenden philosophi-
schen Äußerungen Keats' tragen ganz und gar die Kennzeichen des jungen
typischen Romantikers an sich, klingen sie doch wie die Fragmente Har-
denbergs, wenn sie auch jene mystische Tiefe nicht erreichen, die Novalis
eignet. Aber das philosophische Fabulieren scheint in England ebensogut
wie in Deutschland die Kranklieit des Romantikers gewesen zu sein. '[Sie]
schwelgen im Genuß eines Symphilosophierens, das sich meist durch bloße
Anspielung und oft mit Uberspringung vieler Zwischenglieder versteht, wo-
bei es ziemlich unwesentlich erscheint, ob jeder immer ganz präzis anzri-
geben vermochte, was der andere meinte. Da sie alle dialektisch äußerst
begabt sind, das Fernliegende analogisch verknüpfen, gefühlte Zusammen-
hänge bildlich oder mit den Mitteln eines ganz anderen geistigen Gebietes
auszudrücken sich gewöhnt haben, so entsteht eine Kunstsprache, ein
Jargon wenn man will, der eigentlich nur ihnen selbst völlig verständlich
ist und in dessen Entfaltung bis in die paradoxesten Konsequenzen hinein
>ie sich gefallen.' ^ Man wird gut tun, diese Worte auch bei der Beurtei-
lung der englischen romantischen Dichterphilosophen zu beherzigen. Die
Kantische strafife Systematik dürfen wir bei ihnen nicht suchen.
3. E n d y m i o n.
Die hohe Wesenheit, die Keats wie Coleridge in der Imagination er-
blickt, spielt nun bei der Schaffung seines großen Gedichtes Endymion eine
wichtige Rolle, handelt es sich doch hier darum, eine nackte Tatsache endlos
zu erweitern und mit Poesie zu erfüllen. Zwei schaffende Kräfte sind be-
ständig an der Arbeit: das Entzücken an der Natur und im besonderen das
abnorme Sympathieverhältnis des Dichters zum zauberhaften Mondschein
und — die Freude am alten Myt<hus der Cynthia und des Endymion, wie
ihn ältere englische Dichter vermitteln konnten. (Hier flössen ja über-
haupt die Quellen, aus denen Keats seine Kenntnis der Antike und ihrer
Mythologie schöpfte, was Lemprieres Classical Dictionary, T o o k e s
Pantheon und S p e n c e s Polymetis allein ihm niemals zu spenden ver-
mocht hätten.) Unter dem Sympathieeinfluß wird der Mond schließlich zum
festen Symbol der Schönheit, jenem Prinzip, das beziehungslose Dinge in
göttlicher Gemeinschaft zu verbinden weiß. Der Endymionmythus wird
jetzt zu einem Gleichnis, das uns von den Abenteuern der Dichterseele
erzählt, die sich auf die Suche macht nach dem Geist der wesentlichen
Schönheit. Es ist der Miltonsche Adamstraum, der sich bewahrheitet:
denn die Schönheit wird zur Wahrheit.
^ Ich entnehme diese Worte der soeben erschienenen Straßburger Disser-
tation eines reifen, hochbegabten Menschen, der infolge eines schweren
Leidens, das er sich als Armierungssoldat zuzog, 1916 starb: S. Elkuss, 'Zur
Beurteilung der Romantik und zur Kritik ihrer Erforschung', München,
Oldenbourg. 1918.
168 .John Keats im Lichte der neuesten Forschung
Koats las aufmerksam Fletchers Faithful Sheperdess und Michael
Draytons Gedicht TJie Man in the Moon, in dem dieser sein älteres
Stück Endimion and Pkoeie wieder verwendet. Das Einsetzen des großen
Epos mit dem Panfest, die Reise Endymions durch geheimnisvolle Regionen
auf Erden und in der Luft, durch Flüsse und Meere mit Naiaden und
Nereiden und durch Wiesen mit Hamadryaden, dürfte auf Drayton zurück-
gehen, dessn Cynthia einen Mantel trägt, dem wohl auch Glaucus' Zauber-
mantel bei Keats nachgebildet worden ist.
Der Geist des Ganzen ist elisabethanisch. Ein Reichtum an neben-
sächlichen Schönheitselementen überflutet diese Phantasiewelt. Der Sinn
für strenge Auswahl, Klarheit und Einfachheit fehlt. Sandys englischer
Ovid mit seinem üppigen Kommentar liefert zahlreiche mythologische Par-
allelismen und damit ebensoviel Gelegenheiten zum Abschweifen. Shelleys
Alastor, der die Fahrt der Dichterseele im Menschen erzählt, zeigt Keats,
wie durch das Epos der symbolische rote Faden zu ziehen ist, den zwei
Lesergenerationen unter der wuchernden Blumenstickerei aus den Augen ver-
loren haben. Vergleichung mit früheren Gedichten und mit den Briefen hat
es den Kritikern ermöglicht, den Faden wieder einigermaßen freizulegen.
Hier hat E. de Sßlincourt in seiner Einleitung zu John Keats' Ge-
dichten (Muses Library Edition XVIII — XXIX, Methuen and Co.) schön
vorgearbeitet und den Hauptgedanken herauskristallisiert: die Dichterseele
sucht sich die ideale Schönheit. Dieses allegorische Hauptmotiv begleitet
das ethische Motiv, daß jene Sehnsucht nicht in selbstsüchtiger Absonde-
rung, sondern nur in reinigender, tätiger Sympathie mit den Leiden anderer
gestillt werden kann. Damit verbindet sich weiterhin der Glaube, daß die
Leidenschaft für die vielen einzelnen irdischen Schönheitserscheinungen im
Grunde genommen eins ist mit der Sehnsucht nach der transzendentalen
wesentlichen Schönheit. Verwickelt sich also der Held in Liebesabenteuer,
so wird er seiner hehren Ritterpflicht nicht untreu.
Im ersten Buch merkt man sich zur Beleuchtung der symbolischen
Erklärung die mystischen Traumflüge Endymions, in denen ihm das Eins-
werden mit seiner Göttin beschieden wird, deren nächste Wirkung aber ist,
daß jede andere Lust ihren Geschmack verliert und zu Asche wird.
Das zweite Buch wertet alles große starke Lieben, das wir mit den
Namen Julia, Imogen, Hero, Pastorella verbinden, höher als das Sterben von
Weltreichen. Mit Recht! Ist doch jenes große Lieben Abglanz jener
Liebe, die die Sonne und die anderen Gestirne bewegt. Die unterirdische
Halle, die der Dichter betritt, erinnert an Beckfords Vathek. Es folgen
Erscheinungen, deren symbolische Bedeutung im größeren Rahmen der ge-
wählten Allegorie nicht zu erkennen ist: Adonis' Winterschlaf und Venus'
Herabsteigen zu ihm, die Vision der Erdgöttin Kybele, der Aufstieg einem
diamantenen Geländer entlang, das schließlich in Nichts endet — hier
schimmern deutliche Erinnerungen an den im 18. Jahrhundert beliebten
Voyage d'Antenor durch — , der Besuch der unerkannten Cynthia und die
Liebesnacht in der Jasminlaube — von gelegentlicher sinnlicher Unfeinheit,*^
die Oscar Wilde in seinem Gedicht Charmides angeregt hat.^
*• Vgl. dazu auch Sibylla Geest, 'Der Sen.sualismius bei J. Keats'. Dias.
Freiburg i. B., 1918.
* Vgl. mein Buch über Wilde 146—7.
John Keata im Lichte der neuesten Forschung 169
lui d r i 1 1 e u Buche erfassen wir leicht den durch das Labyrinth füh-
renden Ariadnefaden. Die Hauptgestalt des Glaucus will symbolisch ver-
t-tanden sein. Keats nahm sie aus Ovid und stellte sie in eine modifizierte
Fausendundeine-Nacht-Welt hinein. Endymion soll den von Circe zur Strafe
lür seine Sinnlichkeit für tausend Jahre in die Fesseln des Alters ge-
schlagenen Glaucus befreien, ihn, der einst mitleidvoll vergeblich versuchte,
einen alten Mann zu retten, und dem nur ein Stab und eine Pergament -
rolle, die Worte des Trostes und der Weisheit enthielt, in der Hand zurück-
blieb. Wird er alle Geheimnisse der Natur erforschen und alle in den
Wellen ertrunkenen Liebenden im Heiligtum beisetzen — so las er in der
Kolle — , so soll einst ein Erlöser ihm nahen. Endymion — er ist der
Retter — zieht mit ihm zum Heiligtum der Toten. Glaucus' Zaubermantel
wird ihm umgelegt, und mit dem Stab und der in kleinste Stücke zer-
rissenen EoUe vollendet er den Zauber. Der Tod ist überwunden. Death
Itil a u,eeping in his chm nel-house. Die Toten erwachen, und mit ihnen
die Liebe, und schwellenden Blumen gleich ertönt süße Musik. Der Zauber-
ritus erinnert an gewisse Erzählungen in Tauseudundeiner Nacht. Der Bann
wird gebrochen durch Betröpfeln mit Wasser und Murmeln von Formeln.
Im tiefen Meeresgrund war das Betröpfeln nicht angängig; Keats ver-
wandelt es in das Bestreuen mit kleinen Pergamentfetzen. ErlösergescLich-
ten mit zauberhaftem, ethischem Hintergrund scheinen mir immer ver-
dächtig. Liegt hier nicht auf englischem Boden die am Ende des 18. Jahr-
hunderts in der deutschen Literatur so oft beobachtete Beeinflussung durch
die Freimaurerei vor?
Und nun die Lösung des symbolischen Rätsels! Die Seele des Dichters
— die die Vereinigung mit der Urschönheit erstrebt — muß sich für ihren
hohen Beruf rein machen von aller Selbstsucht durch Mitgefühl mit mensch-
lichem Lieben und Leiden und durch Erwerbung reichlicher Erfahrung und
philosophischer Weisheit. Diese Läuterung beginnt mit Endymions Be-
gegnung mit Glaucus, dessen Geschichte ihm offenbart, wie das Aufgeben
reiner um unreiner Liebe willen und sinnliche Erniedrigung schwer bestraft
wird. Glaucus Übermacht Endymion sein ganzes Erbe — sein Mantel fällt
• buchstäblich auf ihn -r-, Übermacht ihm sein teuer erkauftes Wissen, das
ihn befähigt, den toten Liebenden Unsterblichkeit zu verleihen.
Ira vierten Buch beginnt der Kampf zwischen göttlicher und irdischer
Liebe in Endymions Seele sich auszutoben. Die Klage, des verlassenen
indischen Mädchens dringt an sein Ohr. Er entbrennt in Liebe zu ihm
und weiß nicht, ob er seine himmlische Göttin vergessen darf. Da ver-
kündigt Merkur das Ende des Widerstreites. Zwei schwarze Rosse — die
Rosse der Phantasie — entsteigen der Erde, die Merkur berührt. Mädchen
und Schäfer reiten empor in die Region des Schlafes. Wieder entzückt ihn
ein herrlicher Traum, der sich beim Erwachen bewahrheitet. Diana neigt
sich über ihn, neben ihm liegt das indische Mädchen. Wieder zögert er
zwischen beiden und fühlt doch, daß er beiden treu ist. Diana verschwand,
und der Ritt mit dem Mädchen geht weiter. Sie sinkt, ihr Pferd stürzt
erdenwärts, und er reitet allein, verlassen von den Verkörperungen beider
Leidenschaften, reitet ins Land der Apathie. In höchster Höhe verklingt
in der Ferne der Dianische Festgesang. Sein Pferd trabt tiefer zum grünen
Erdenhügel, auf dem das indische Mädchen ruht, dem er jetzt ewige Treue
schwört in Beteuerungen, die Ovids Metamorphosen XIII 810 — 840 als An-
.\rchiv f. u. Sprachen. 139. 12
170 .lohn Keats im l.iehto der neuesten Forschung
reger verrateu. Sie aber verziclitet, da sie weiß, daß Liebesfreude ilir nur
bescliieden sein könnte auf Kosten des Todes ihrer beider — was wohl
heißen soll, daß der Sterbliche, der den Geist der Poesie und dichterischen
Schönheit liebt, sich mit bloßer irdischer Freude nicht zufriedengeben darf.
Schließlich treffen wir Endymion wieder im altea Opferhain der Diana
mit seiner Schwester Peona und dem indischen Madchen. Feierlich ver-
zichtet er vor ihnen auf irdische Freude, um der himmlischen nicht ver-
lustig gehen zu müssen. Da erglänzt beim letzten Lebewohl das Mädchen
in strahlender himmlischer Schönheit als Cynthia, seine göttliche Geliebte.
Die Fahrt ist zu Ende, das Geheimnis gelöst. Das indische Mädchen war
bloße versteckte Verkörperung der Cynthia. Eudymions irdische Leiden-
schaft, voll menschlichen Mitfühlens und Schmerzes, war immer eins mit
der himmlischen Leidenschaft, die genährt wurde von dichterischem Streben
und seelischer Sehnsucht nach dem Schönen. Beide sind in ihrer Steigerung
unzertrennbar, und der gekrönte Dichter und der gekrönte Liebende sind
ein und dasselbe. Diese Erkenntnis aber bleibt denen verschlossen, die wie
Peona von der Poesie nichts wissen.
WsLü die Technik betrifft, so ist der elisabethanische Einschlag be-
sonders groß. Spenser, William Browne, Drayton, der junge Shakespeare,
Fletcher, der pastorale und lyrische Ben Jonson, der Chapman des Homer
und der Sandys der Metamorphosen waren die hauptsächlichsten Anreger.
Das Metrum zeigt die doppelten oder weiblichen Endungen nicht mehr in
dem frühereu Umfange, das geschlossene Reimpaar tritt nicht allzu häufig
auf. Heim- und Satzschema bewegen sich frei. Chapmans Fehler, durch die
Reimechos sachlich fernliegende Ideen sich hereinbefehlen zu lassen, ver-
meidet auch Keats nicht. An geistigen Uufeinheiten fehlt es nicht.
Keats' Stärke liegt in der Fähigkeit, schöne englische Naturszenen
in noch schönere Bilder des antiken Lebens übergehen zu lassen. Das
18. Jahrhundert hatte mit einer nicht mehr mitempfundenen Mythologie
gearbeitet und durch seine trockenen Personifizierungen die Leblosigkeit
der Abstrakta womöglich noch vertieft, statt das Leben ihnen einzuhauchen.
Es glaubte mit bloßem etikettierenden Erwähnen und der Anwendung
großer Anfangsbuchstaben das Geheimnis der Personifikation ergründen
zu können. Diesen toten Gestalten mußte die Romantik eine lebendige
Seele schenken. Dazu hat keiner in höherem Maße beigetragen als Keats.
Die beiden Höhepunkte der Lyrik sind der Pauhymnus und das
Lied des indischen Mädchens.
Mit dem ersteren wird man gern Champmans Übersetzung des Ho-
merischen Hymnus an Pau und Ben Jonsons Hymnus in seiner Masque
Pan's Anniversary vergleichen. Bei den Elisabethanern entsprang der Sinn
für die Hirtendichtung der dem Engländer angeborenen Liebe zum länd-
lichen Leben mit seinen Freuden und dem reuaissanceischen Entzücken an
klassischer Poesie. Derselbe Geist lebt in Keats neu auf, aber in dem
romantischen Gefühl für die Segnungen und Tätigkeiten der Natur und
der Ahnung der großen Geheimnisse, die hinter ihnen verborgen liegen,
wunderbar gesteigert.
Das Lied des indischen Mädchens ist eigenartiger als der
Hymnus, phantasievoller, musikalischer. Indische Romantik, zauberhafte
Wortassoziation, griechische Schönheitsvision und nordische Wildheit fin- •
den sich in ihm voreinigt, ^lit der Besingung des Leides — ■ das ja den .
Jolin Keats im Lichte der neuesten Forseliung 171
-cliöuen JJingeu ihre höchste Wesenheitss teiger luig verleihen kann — fängt
t'5. an, klingt dann in den Kubla-Khan-Ton um, der nachher in die laute
Musik des Bacchantenzuges übergelit in Form eines Wechselgesangs zwi-
schen dem fragenden indischen Mädchen und den chorisch antwortenden
ilänadeu und Satyrn.
Die Rubenssche Üppigkeit der Formen und Farben, die Keats bei der
Ausmalung des Zuges verwendet, erinnert, den Motiven nach, au bildhafte
Darstellung: keuchender Tiger und Leopard, asiatische Elefanten, ge-
streifte Zebras, AUigatoi-en und schuppige Krokodile mit lachenden Kin-
dern auf ihrem Rücken, die mit spielzeugartigen Rudern und Segeln einlier-
gleiten! An Titians Bild des Bacchus und Ariadne in der Nationalgalerie
hat man schon längst als Anreger gedacht. Aber dort fehlen Tiger, Leo-
pard und Elefanten. Viel eher dürfte hier die Reliefdarstellung eines
Bacchantenzuges auf einem Sarkophag, die Haydons Gönner, der Herzog
von Bedford, aus der Villa Aldobrandini nach seiner Woburu Gallery brin-
gen und dort aufstellen ließ, eine visuelle Wirkung auf Keats' Sinne aus-
geübt haben. (S. Colvin gibt uns eine Wiedergabe dieses Reliefs.) Hier
sehen wir Leopard und Panther und einen Elefanten, der einen indischen
Gefangenen auf seinem Rücken trägt. Die Kinder aber auf dem Krokodil-
rücken sind sicher jenem auf dem Krokodil sitzenden Pygmäen nach-
gebildet, der auf dem Sockel der bekannten vatikanischen Gruppe des
ruhenden Nils spielt - — eine Nachbildung war Keats leicht zugänglich — ;
Zwergruderer sah er auf gewissen Reliefs der Townley-Sammlung im Briti-
tischen Museum. Das Ganze ist organisch-harmonische Verbindung von
Eindrücken verschiedener Kunstformen. — Griechischer Mythus, persön-
lich erlebt und künstlerisch verwoben mit den dem Dichter vertrauten
Naturerscheinungen, dem blühenden Bohnenfeld, dem vom Purpurmohn
durchleuchteten Ährenmeer, dem von Farnkraut beschatteten Bachesufer,
dem Wald der Eichen und Haselstauden, der Heide mit Ginster und Stech-
palme, dem Blumenland des Gänseblümchens und der Seerose: in dieser
Welt steht der Keatssche Bacchus.
4. Die vollendeten Gedichte der Jahre 181 8—1 9.
Großes bringen uns die beiden Jahre der Reife, 1818 — 1819, und hier
empfiehlt es sich, zwischen den fertigen Gedichten und den großen
I" r a g m e n t e n zu unterscheiden.
Die Ode to Fancy verdankt ihre Anregung einer Verherrlichung der
Phantasie durch Füller in seinem Holy State, die Lamb in seinen Spe-
cimens dieses Schriftstellers wiedergibt und die Hunt in seinem Reflector
druckt. Auf diesem gegebenen Stickbodeu flicht Keats seine reizenden
, Blumenornamente ein.
Der Pot of Basti behandelt die Erzählung Nr. 5 des vierten Tages in
Boccaccios Decamerone, und zwar in der Ottava Rima, deren Technik
Keats nach Edward Fairfax' Tassoübersetzung Godfrey of Bulloigne
erlernt. (Ein Exemplar dieses Buches wurde nach Keats' Tode in dessen
Bibliothek gefunden.) Auf Fairfax greift er direkt zurück, ohne sich um
Freres und Byrons spätere Experimente zu bekümmern. Die Geschichte
des Mädchens ist bekannt, das den Leichnam des von ihren Brüdern er-
schlagenen Geliebten im Walde wieder ausgräbt, das Haupt mitnimmt und
12*
172 John KeatSi im Lichte der neueston Forsehuno:
in einem Majoranblumentopf verbirgt, die Blumen mit ihren Tränen be-
netzt und, nachdem die Brüder ihr den Topf entwendet haben, dahinsiecht
und stirbt. Boccaccios reizvolle Prosaerzählung hat Keats nach dem Vor-
bild der ihm vertrauten Geschichte von Chaucers Troilus and Criseyde
l)oetisch verziert und romantisiert. Wie sein mittelenglischer Meister unter-
bricht er die Erzählung, um die Liebe, die Musen und den Leser anzurufen.
Ein Praehtstück ist der Spruch an die Melancholie in seinen drei Varia-
tionen. Das abstoßende Morbide, das Ausgraben der Leiche, das Hineintun
des Hauptes in den Topf, wird zur Schönheit potenziert; denn Keats kannte
schon die Baudelairescl^ Theorie der qualitativen Potenzierung in einer
weniger auffallenden Gewandung: The excellence of every art is its inten-
sity, capahlc of making all disagreeablcs evaporate from their heing in
dose relationship wifh icauiy and iruth (bei S. Colvin 39.3, der leider nicht
angibt, wo Keats' Ausspruch steht). Im Pot of Basil ist ein Element hin-
zugekommen, das wir in Keats' bisherigen Dichtungen vermissen, das Inter-
esse an seelischen Vorgängen.
Die bezaubernde Romanze The Eve of 8t. Agnes stützt sich auf die
volkstümliche Vorstellung, daß am 20. Januar, am St.-Agnes-Abend, ein
Mädchen seinen zukünftigen Liebhaber sehen kann, wenn es fastend und
nie rückwärtsblickend zu Bette geht, auf dem Rücken schläft, die Hände
über seinem Haiipt auf das Ki.ssen gelegt. Ben Jouson spricht davon in
seinem Satyr und Robert Burton in seiner Anatomy of Melancholy.
Auch Brands Populär Antiquities geben darüber einen eingehenden Bericht.
Mit dieser abergläubischen Sitte hat Keats das Montecchi-und-Capuletti-
Motiv verbunden. Der kühne Freier dringt in die feindliche Festeshalle ein.
Viele Einzelheiten, die Keats verwendet : Versteck unter Mithilfe der alten
Dienerin im Kabinett neben der Jungfrau Kammer, Eindringen in ihr
Zimmer während ihres Schlafes, Verschwebung der wirklichen Rittererschei-
nung in das Traumbild, das dem einschlafenden Mädchen erscheint, Liebes-
glück und Flucht finden wir alle beieinander in Boccaccios früher Novelle
II Filocolo, einer ungeschickten Umarbeitung des altfranzösischen Floire et
Blanchcflor. Allerdings bleibt es ein Rätsel, wie der des Italienischen
nicht mächtige Keats von dieser Erzählung, die ihm in keiner englischen
t^bersetzung zur Verfügung stehen konnte, Kenntnis erhalten haben soll.
Der 'St.-Agnes-Abend' ist die Dichtung des Eindrucks und der Stimmung
par excellence. Ein paar Schlagworte können den geheimnisvollen Zauber,
der diese Romanze umwebt, andeuten: Wint«rnächtliche Stille, Schatten,
Dunkelheit, Mondschein, Heimlichkeit, Verzauberung, Tasten, Träumen,
Flüstern! Die Grunduote des Ganzen ist webende Stille, pulsierende Ruhe.
Keats hat eine neue Stufe seiner Kunst erreicht, die sich in einer neuen
Stilart bekundet. Eindrücke werden durch den geübten Wortkünstler
melodisch besungen und geheimnisvoll sichtbar gemacht und durch diskret
mitklingende Obertöne bildlich erweitert. Aber das stilistische Stadium
der punktierten Linie im impressionistischen Endymion ist über-
wunden, und eine wohlgeführte Handlung verbindet jetzt die Punkte zum
Ganzen. Daneben fühlen wir, daß Keats mit einem neuen Problem ringt,
dem der Bewegung, und da er, im Gegensatz ' zu Shelley, nicht mo-
torisch veranlagt war, so erregt seine Lösung unser besonderes Interesse.
Wenn wir von der motivisch gegebeneu Handlungsbewegrmg absehen, so
scheint er uns der Schwierigkeit dadurcli entgangen zu sein, daß er an
John Keats im Lichte der oeuesfen Forschung 173
Stelle der Bewegung etwas A'erwandtes gesetzt hat. Man kann von seiner
Dichtung nicht sagen: Alles bewegt sich.i^ Man kann aber wohl sagen:
Alles lebt! Genauer betrachtet: hier ist ein Schwellen, ein Atmen! Seine
Welt ist visuell, aber ihr Farbengewand ist ein stets errötender und er-
bleichender lebendiger Duft, und Farbe und Wohlgeruch gehen ineinander
über. Dies wird uns beim Lesen der 24. Strophe klar mit ihren bunten Glas-
malereien, die Keats mit den [duftigen] Farbenflecken eines Nachtfalters
vergleicht {As are the tigcr-tnoth's deep-damask'd wings) und mit ihrem
Wappenschilde, der errötet vom Blut der Königinnen und Könige
(ffl shieldcd scutcheon hlusK'd with hlood of queens and kings), wodurch
die Farbe zu schwellen und zu atmen beginnt, kommt und geht. In der
.'56. Strophe geht Porphyros reale Erscheinung in Madeleines Traum über,
wie die Rose, die ihren Duft mit dem des Veilchens verschmelzt. Ähnlich
sind auch die Juwelen zu beurteilen, die Madeleine in der Eiitkleidungs-
strophe sich abnimmt. Der Dichter nennt sie 'erwärmt' — im Englischen
noch aktiver in dem Ausdruck her warmed jewels — und verleiht ihnen
dadurch das Attribut des Lebens, des Erglühens. Keats wußte, daß Stim-
unmg alles zur Einheit verschmelzen muß imd daß dieser künstlerischen
Wahrheit die Wahrheit des Konkreten geopfert werden darf. Seine toten
Gegenstände beginnen im gewünschten Stimmungstone mitzuschwingen, so
daß alle Dinge in Harmonie demselben Gesang erheben. Die starren Stand-
bilder der Schloßkapelle werden durch die Gefühle des alten betenden from-
men Mannes, der sie in kalter Wintersnacht schlotternd in die Sinne auf-
nimmt, unserm Empfinden mitgeteilt.
Eng verknüpft mit dem großen Ereignis seines Seelenlebens, seiner
Leidenschaft zu Fanny Brawn, sind die beiden Gedichte La Belle Dame sans
Merci und Lamia. Das erstere, motivisch zur Klasse der TJiomas-Rymir-
Balladen gehörend — die Feenkönigin, die alle zu Sklaven macht — , bringt
so recht die peinigende Gewalt der Geliebten zum Ausdruck. Keats hat die
Gestalt der kaltherzigen Frau im paradiesischen Garten, deren Erinnerung
iüle Liebhaber melancholisch macht, in den Nouveaux Contes Orientaux des
Orafen Caylus gefunden. 'Wie habe ich bei dieser Erzählung an Dich
L'^dacht, Liebste!' schreibt Keats an Fanny Brawne.^
Damals, als er die süße Bitterkeit der Liebe kostete, las Keats auch
^ Dies im Gegensatz zu S .Colvin, der 399 sagt: He never writes for the
eye merely, iut vivifies everything he touches, telling even of dead and
aenseless things in terms of life, ni o v em e n t, and feeling. Die Be-
tonung von movement ist unglücklich. Die Ausdrücke vivifies und feeling
, treffen das Richtige. Colvin hat den Satz unverändert aus seinem kleineren
Buche übernommen. Im Jahre 1887 aber beschäftigte: sich der Literar-
historiker mit derartigen Problemen noch nicht ernsthaft. — Ebenso halte
ich es nicht für glücklicli, wenn Colvin S. 115 von Keats' Phantasie spricht,
die immer aktive und dynamische Eigenschaften in den Dingen ent-
decke. Das Wort 'dynamisch' könnte leicht mißverstanden werden; denn
Keats ist nicht motorisch. — Eine unübertroffene ästhetische Beurteilung
des Eve of St. Agnes gibt Mary S u d d a r d a. a. 0. 57 — 85 : Keats' Style
ds exemjilified in the Eve of St. Agnes. Die obigen Ausführungen ver-
danken ihr viel.
2 Sehr schön und überzeugend ausgeführt von L. Schücking in der
Festschrift für Vietor (Marburg 1910), 289 — 295, leider gar nicht berück-
sichtigt von Colvin.
174 .lolin Keats itti Lichte der neuesten Forschung:
Burtons Anatomy of Melancholy. Die Heilung der Liebesiuelaucholie
zog ihn besonders an. Das Heilmittel konnte er dort allerdings nicht
kennenlernen. Wohl aber fand er dort die seine eigene Lage sjTnbolisch
beleuchtende griechische Geschichte von der Schlangenfrau Lamia, die mit
dem korinthischen Jüngling Lycius glücklich in ihrem Zauberschloß dahin-
lebt, bis die kalte Weisheit des Apollonius den Zauber bricht. Schon hier
merken wir, wie Keats allmählich den Sensualismus überwindet, um zu
einer Gedankenlyrik vorzudringen, nachdem auch sein Intellekt durch die
Ideen der Schönheit und Wahrheit erwärmt worden war.^ Das Studium
Drydens und Miltons mag ihn in diese Richtung gewiesen haben. Den
neuen Weg einzuschlagen bedeutete aber für ihn eine künstlerische Über-
windung; denn für ihn handelte es sich nicht darum, wie für Wordsworth,
eine ursprünglich magere Kunst zu bereichern, sondern mit seinem Reich-
tum ökonomisch zu verfahren. Die Eindrücke drangen in solcher Üppigkeit
auf ihn ein. daß er über ihnen nicht zur Meditation gelangen konnte.
Schließlich aber errang er sich einen Intellektualismus, der dem Sinnlichen
und Emotionellen immer noch genügend Raum übrigließ. Die Einleitung
zu Lamia bedient sich eines reinen, bloß erklärenden Stiles. Wer aber so
schreiben konnte, hatte nach Mary Suddard das Geheimnis aller Stilkunst
gelöst.
Jetzt ist Keats auch imstande, medidative Oden zu schreiben.
Hier sind ihm zwei Meisterstücke gelungen, die Ode an eine griechische
Urne und die Ode an den Herbst.
In der Ode to a Grecian TJrn verherrlicht Keats nicht ein bestimmtes
Beispiel griechischer Vasenkunst, sondern eine ideelle Vase, die sein Dichter-
sinn aus den Eindrücken von mehreren Kunstwerken zur Einheit ver-
woben hat. Die Opferszene mit dem bacchischen Tanz deutet auf die Sosi-
biosvase," von deren Abdruck in dem vierbändigen Werke Musee Napoleon
Keats selber eine Nachzeichnung entworfen hatte, die noch erhalten • ist.
Der hier dargestellte Tanz ist griechisch heiter und feierlich. Die wilde
Ekstase, die Flöten und Zymbeln, die rasende Verfolgung der Keatsschen
Urne sind Erinnerungen nicht an die Sosibiosvase, sondern an Poussin-
gemälde und an Bacchisehe Vasen wie die der Townley-Sammlung des
Britischen Museums und der Borghesischen Vase des Louvre. Der zum
Himmel brüllende bekränzte Stier, der Festtagsmorgen und die leere Stadt,
deren Bewohner alle beim Opferfeste sind, gehen auf Claude Lorrains Bild
'Apollos Opfer' in der Leigh Court Collection zurück. Schon im Jahre vor-
her lag Keats dieses Bild vor dem inneren Auge, als er in einem Briefe an
Reynolds sich in Versen über eine 'Titiansche' Opferdarstellung erging, wo-
bei er Claude mit Titian verwechselt hatte (Colvin 264). Die Eindrücke
wurden verstärkt durch Erinnerungen an die Opferzüge des Parthenonschen
Frieses.
Der Dichter spekuliert über die dargestellten Personen und religiösen
Sittenhandlungen und über die Beziehungen der bildenden Kunst zum
Leben. Schnell durchgleitet er bildhafte Gedankenreihen. Frage verfolgt
Frage in ebenso vielen Bildern. Im Kernpunkt steht die ästhetische philo-
i Vgl. Geest a. a. 0. 63 und Selincourt a. a. 0. XXXI.
- Vgl. darüber den sehr gelehrten Aufsatz von Paul Wolters, Archiv
CXX. der sich auf den rein archäologischen Standpunkt stellt.
Jolin Keats im Lichte dor neuesten Forschung 17n
sophische Lehre, daß das Leben seine Realität mit dem Preis des Reif-
werdens und Verfallens bezahlt, während die Kunst auf die Zeiterfüllunf;
\-erzichtet und sich damit die Schönheit als bleibendes Gut zu eigen macht.
Sie überwindet das Werden und erhebt es zum Sein. Grau ist somit das
L«ben, grün der Kunst g'oldner Baum. Schließlich mündet alles aus in der
ihm durch den Miltonschen Adamstraum gewordenen Erkenntnis, daß die
von der Imagination erfaßte Schönheit die Wahrheit ist — diesmal künst-
lerisch zusammengedrängt in der metabolischen Gleichung: Beauty is truth,
truth heauty. Das Thema dieser Keatsschen Ode ist in der englischen
Literatur später noch einmal angefaßt worden von Oscar Wilde, der
sieh in seiner Themabearbeitung im Critic ns Artist zur klangreichsten Me-
lodie emporschwingt, deren er fähig war. Er flicht das Keatsthema als
schönen IMittelsatz in eine längere Sonate ein. zu der die Dekadenz ihm
die Motive geliefert hatte.
Im September 1819 weilt Keats in Winchester. Da dringt ihm — er
gesteht uns das brieflich — die 'Wärme' des herbstlichen Stoppelfeldes in
die Sinne, und von den Sinnen geht der Weg zu den Worten der Herbst-
o d e. die nun ihrer Entstehung gcTnäß wieder viel sensualistischer und
weniger meditativ ist als die anderen Oden. Es ist wieder das geheimnis-
volle Schwellen und Atmen des St.-Agnes-Abends, das um Ausdruck ringt,
allerdings nicht in Dunkel und Kälte, sondern in farbiger Üppigkeit und
Wärme. Dazu teilt sich uns das menschliche Nahesein einer Gestalt mit.
des Herbstes. Hier liegt, ein ganz eigenartiger Fall der Personifikation vor.
Colvin nennt die Ode — wohl im Hinblick auf diese Personifikation — ein
durch und durch griechisches Stück, also ein Beispiel Keatsscher Mythus-
neubildung. Keat.s verläßt aber hier den gewöhnlichen Weg, die englische
Landschaftserscheinung in schon fertige, stark menschliche Mythusgestalten
übergehen zu lassen. Er schafft eine neue Gestalt; schafft sie nach zum Teil
ganz primitiver Methode. Wenn sein Herbst, einem Ährenleser gleich,
sein schwerbeladenes Haupt über den Bach neigt, so wird einfach das Sicht-
bare der Natur durch Ähnlichkeit der Form — hinüberbeugender Ast gleicht
dem gebückten Manne — als menschlich aufgefaßt und personifiziert. Hier
ist der Herbst wenigstens sichtbare — allerdings nicht stark mensch-
liche — Gestalt. In den anderen Verkörperungen entzieht er sich eigent-
lich ganz unserem Blick. Nur auf dem Scheunenboden verfestigt er sich
einen Augenblick zu schwachen Umrissen. Seine Haare heben sich sanft im
Wind der Kornschwinge. vSonst sehen wir nichts von ihm. Er ist uns stets
nah, aber wir erkennen und berühren ihn nicht. Darin liegt geradezu der
Reiz dieser Ode. die uns in warmes Fühlen mit einem Wesen bringt, dem
geheimnisvollen, stillen Reifen und Schwellen am Abend des Jahres. Aber
ein Beispiel griechischer Mythusbildung ist sie eben nicht, und von 'pla.sti-
scher' Personifikation kann hier keine Rede sein.^ Plastisch ist die dar-
gestellte Natur, nicht aber die daraus erdachte Gestalt. Keats verharrt
in der Wiedergabe einer Naturstimmung, die ein gewisser Mythus verlangt,
wie er es so hübsch in seinem Präludium für die Narzissus- und Echofabel
gezeigt hat. wo ganz einfach die einsame Blume über den Bach sich neigt.
Das Ganze bleibt aber Blume, und wir sehen den Narzissus nicht. Keats
1 Geest, a. a. 0. 57, erwähnt den Herbst in ihrem Kapitel 'Plastische
Personifikationen'.
176 .lohn Keats im Lichte der neuesten Forschung
erdenkt nicht schöpferisch neue interessante Personifikationen wie sein
Zeitgenosse Shelley, der im Alastor 'Schweigen' und 'Dämmerlicht' als
Zwillingsschwestern in einsamem Tale Mittagswache halten läßt. Hier
liegt der Akzent auf dem Menschlichen. Plastisch allerdings konnte
auch Shelley nicht sein. Die plastische schöpferische Personifikation
kommt erst mit D. G. Rossetti.^
5. Die großen Fragmente der Jahre 1818 — 19.
Dieselbe Auffassung beherrscht auch das große Fragment Hyperion, ein
mythologisches Kolossalfries. Keats faßte den großen Plan, den Sturz
des Hyperion durch Apollo, des Oceanus durch Neptun, des Saturn durch
Jupiter, den Kampf der Giganten zur Wiederherstellung von Saturns Herr-
schaft und andere, von den alten Dichtern nur schwach angedeutete mytho-
logische Ereignisse darzustellen. Als nächste Quelle kommt in Betracht
die Ode R o n s a r d s an feeinen Freund Michel de l'Hopital (Ronsards
Werke gingen nachweislich durch Keats' Hände). Die Ode, die sich zum Teil
auf Hesiod und Horaz stützt, in höherem Maße aber Ronsards eigene Er-
findung ist, erzählt die Geburt der Musen, ihre Erziehung durch Memoria,
ihren Wunsch, Jupiter zu sehen, ihrer Mutter Zusage, ihre unterseeische
Reise nach dem Palast des Oceanus, wo Jupiter beim Feste thront, ihren
Gesang vor ihm über den Streit des Neptun und der Pallas um den Boden
Attikas und über den Kampf der Götter und Riesen.
Dem ganzen Epos unterschob Keats symbolische Bedeutung: die Ver-
drängung einer älteren roheren Kultur durch eine feinere, menschlichere,
die künstlerische und ethische Kräfte höher schätzt als rohe Naturgewalt.
Für die epische Behandlung des großen Themas leuchtete ihm ein Vor-
bild, Miltons 'Verlorenes Paradies' mit seinem Pathos besiegter Götter.
Wie Milton, so erweckt auch Keats unser Mitgefühl auf der 'falschen'
Spite des Hyperion (der Miltons Satan entspricht), und nun mußte er den
sympathischen Hyperion stürzen gemäß dem Naturgesetz, das er in dem
symbolischen ethischen Nebenmotiv verteidigt, daß die besten und höchsten
Wesen noch besseren und höheren Wesen weichen müssen. Wie konnte
Keats da weiterfahren, nachdem er schon auf die Darstellung des heroischen
Themas, des Sturzes der alten Götter — mit Ausnahme des Hyperion — ,
verzichtet hatte! Denn sein Epos fängt mitten in der Handlung an. Konnte
er Hyperion stürzen und dann den weniger interessanten höheren Apollo
vorführen? Keats fühlte sich nicht dazu fähig und brach ab.
In diesem Stück wuchtigster Kunst, das er jemals gemeißelt hat. bleiben
die geschaffenen Gestalten, was sie vorher bei ihm auch waren, Erschei-
nung dieses Lebens, nicht das Leben selber der Dinge. Wohl be-
strebte er sich, das Einssein der alten Götter mit den großen Naturgewalten
darzustellen, aber es ist auffallend, daß er die volle Identität selten erreicht,
sondern mit der bloßen Vergleichung arbeitet. Wie spricht Saturns
Tochter? Keats vergleicht ihr Sprechen mit einer Woge flutender
Luft, die hohe, ehrwürdige Eichen in sommerlicher Sternennacht durch-
rauscht, die — Saturns Aufnahme ihrer Worte soll jetzt gezeichnet werden
— ewig nur träumen können. Die Worte des Enceladxis dröhnen gleich
1 Vgl. meine 'Entwicklungsgeschichte des Swinburneschen Symbolismus'
in meinem Buch über Wilde 84 — 92.
Jülin Keafs im Iviolite der neuesten ForschuniE: 177
schwermütigen Wellen in Felsenhöhlen. Dem 'Herbst' gleich — aber noch
mehr verflüchtigt — ist Coelus, unpersönlich und doch seiend, eine Stimme
bloß, die Wesenheit der Winde und Fluten. Hier ist Identität erreicht,
aber die Verkörperung ist aufgegeben. Plastisch und menschlich gestaltet
sind nur die von der griechischen Kunst schon längst gemodelten neuen be-
kannten Götter, also Apollo, der in der Morgenröte einherschwebt, den
Weidenbäumen eines Flüßleins entlang, bis zu den Knöcheln in den Lilien
des Tales watend.
Die Miltonsche Grandezza ist Keats am besten im zweiten Teile gelungen,
wo die gefallenen Götter in ihrer Verbannungshöhle in ohnmächtiger Raserei
majestätisch toben, den Engelrebellen gleich in Miltons 'Verlorenem Para-
dies'. Der Höhepunkt wird erreicht in der Eede des Oceanus. Auch der
Eingang des Epos ist echt miltonisch: Saturnus im traurigen, schattigen,
tiefen Tale, das wohl eine Erinnerung an die Fingals-Höhle auf der Insel
Jona mit ihren purpurschwarzen Basaltsäulen ist, die Keats auf seiner
schottischen Reise besichtigt hatte. Miltons Manieriertheiten — lateinische
Inversionen und anderes (darüber vgl. S6lineourt) — werden übernommen,
aber allmählich flaut der Miltonsche Kraftstil ab, und Keats gleitet in den
Stil der JaJ^obitischen Dichter und in seine frühere Manier über. Er
scheint das schmerzlich empfunden zu haben, und auch aus diesem Grunde
gibt er das Epos auf und schreibt noch einmal im Evc-of -St.- Agnes-Ton ein
kleines Romanzenfragment: The Eve of St. Mark, eine metrische Anempfin-
dung an Chaucers Rosenroman und Haus der Fama, das die Keime zu
jenem Stil treiben läßt, den William Morris später in The Man hörn
to he King und The Land East of the Sun zur Reife bringen wird. Die
Präraffaeliten sahen in diesem Gedicht das vereinigt, was sie suchten:
frische Naturbeschreibung und — ebenso wie in La Belle Dame Sans Merci,
Rossettis Lieblingsstück — Verjüngung mittelalterlicher Kunst, die im
Markusabend gar nicht zu finden ist, denn der hier geschilderte Sonntag-
abend will vielleicht mittelalterlich sein, ist aber von typisch modern-eng-
lischer Sonntäglichkeit.
Als ob er mit dem Dichter des Don Juan die Wette aufnehmen wollte,
schrieb Keats in der Ottava 'Rima das Fragment Cap and Beils or the
Jealousies, eine soziale Satire, zu der ihm Sothebys Übersetzung des Wie-
landschen Oberon einige witzige Abenteuer geliefert haben mag. Die Ein-
sicht, daß er hier eine seinem Wesen nicht entsprechende Tendenz verfolgte,
ließ Keats mit dem Gedicht nicht zu Ende kommen.
Immer noch plagt ihn der Hyperionentwurf, und noch einmal fängt er
üii, den Stoff zu gestalten. Er ändert den Text in so unglücklicher Weise
um, daß man lange glaubte, Hyperion II .sei ein erster Versuch zu dem
größeren schon besprochenen Fragment. Er schickt dem Ganzen eine sym-
bolische Vision voraus, die den Einfluß von Dantes Purgatorio — in Garys
Übersetzung zugänglich — verrät. Moneta (Mnemonsyne) weiht den Dich-
ter in die Lebensgeheimnisse ein: er erklimmt eine Stiege, um der Reini-
gung entgegenzugehen, hört Weisheit und zeigt Ergebenheit. Symbolisch
betrachtet, schreitet der Dichter vorwärts und aufwärts von einfacher
Weltlust — in den Sommerfrüchten verkörpert — zur geistigen Vision
der Natur. Ein Altar steht vor ihm, und eine Stimme ruft ihm zu, zur
Höhe emporzusteigen. In Schmerzen tut er es und lernt, daß nur der
Sterbliche, der sich der menschlichen Leiden beständig bewußt ist und
17S .lolin Koats im Lichte der neuesten Forschnnjj
Wfislieif. sucht, den Gipfel der Vollendung erreichen kann. Rätjselhafte
Andeutungen folgen. Moueta erklärt dem Dichter, daß der Naturtempel
ein Überbleibsel der alten Götterwelt ist, und hebt an, ihm als Vision den
Sturz der alten Götter zu erzählen, was Keats schon als Epos in Hyperion ^
dargestellt hat. Aber auch jetzt verläßt den Dichter die Kraft und die
Lust, weiterzufahren, und er bricht ab. Es ist die Ahnung des Todes, in
dessen Hauch die Farbenpracht der Lebensdichtung erblaßt und eines nur
zurückläßt — symbolisch — : die Heiligkeit des Schmerzes. Der bedrückte
Keats wird gegen sich selber ungereclit und desavouiert seine eigene jüngere
prächtig sensualistische Dichtung.
Zurzeit Basel. Bern h a r d Feh r.
Goethes 'Braut von Corinth' in Frankreich.
Der Stoff, der der 'Braut von Corinth' zugrunde liegt, geht auf
eine der Wundergeschichten zurück, die Phlegon aus Thralles
in Lydien. ein Freigelassener Hadrians, für diesen Kaiser, den
Tertullian curiositatum omnium explorator nennt, im 2. Jahrhun-
dert n. Chr. aufgezeichnet hat. Der Anfang der Geschichte fehlt,
doch ist er leicht zu ergänzen:^ Philinnion, die Tochter des Demo-
stratos und der Charito. die schon in kühler Erde ruht, gesellt
sieh in Liebe dem Grast ihrer Eltern, Machates. Die Amme über-
i-ascht sie. Sie teilt ihre Entdeckung der Herrin mit. die aber am
nächsten Morgen niemanden mehr bei Machates findet. Auf ihr
dringendes Flehen gesteht ihr M., daß ihre Tochter bei ihm ge-
wesen sei. und verspricht, sie in der nächsten Nacht rufen zu
lassen, wenn sie wieder erschiene; so finden die Eltern ihre Toch-
ter bei ihm. Unter den bitteren Klagen, daß die Eltern ihr nicht
drei Nächte gegönnt hätten, stirbt sie zum zweitenmal. Die Be-
wohner des Städtchens finden in dem geöffneten Sarg einen Ring
und die goldene Schale, die ihr Machates in der ersten Nacht ge-
schenkt hatte. Auf die Anordnung des Wahrsagers wird der
Leichnam nicht wieder in die alte Erde gelegt, sondern außerhalb
der Stadt beerdigt. Machates gibt sich vor Schmerz selbst
den Tod.
Goethe lernte diesen Stoff aus einem der zahlreichen Sammel-
werke kennen, in denen diese wunderbare Mär nacherzählt wurde,
nämlich in dem 1668 erschienenen Anthropodemus Plutomciis,
(1. i. Eine neue WeUheschreihnnf/. von allerlei/ Wunderharen
Menschen von Johannes Praeforius, wo das 7. Kapitel Von ge-
storbenen Leuten handelt und Philinnions Geschichte enthält (vgl.
Erich Schmidt. 'Goethe-Jahrbuch' TX).
Der aufmerksame Leser der Goetheschen Dichtung sieht
leicht, worin die Änderungen hauptsächlich bestehen, die mit dem
rohen Stoff vorgenommen sind. Sie sind zunächst technischer
Natur: mit straffer Konzentrierung ^vird das Literesse nur auf
ilrei Personen gelenkt: die Mutter, die Tochter, den Gastfreund:
und die Begebenheit spielt sich in einer Nacht ab, nicht wie bei
Phlegon und Praetorius in zwei aufeinanderfolgenden. Vor
allem aber hat Goethe den Stoff gedanklich erweitert und ver-
tieft: er hat einen Gegensatz hineingebracht, der nicht ursprüng-
lich in ihm lag: in das Schicksal der beiden Liebenden läßt er den
Kampf zweier Weltanschauungen eingreifen: das Christentum
1 Vgl. Tlheinisches Museum' .32, 329 (Rohde) ; 'Blätter für literar. Unter-
haltung' 1892, 609 f. (Tmmisch).
180 Goethes 'Braut von Corinth' in Frankreich
mit seiueui Verzicht auf die Befriedigung der Wünsche des Her-
zeus hat das den Sinnen freudig zugewandte Heidentum zu unter-
jochen gesucht, die Macht der Liebe aber überwindet selbst im
Tode allen Widerstand.
In Frankreich scheint man zunächst in der Dichtung eine
gegen die Kirche gerichtete Tendenz gesehen zu haben. Deshalb
wohl möchte selbst M™® de Stael, wie sie in ihrem Buche de l'Älle-
magne (Ausgabe Paris, Fermin-Didot, S. *I74) sagt, weder den
Zweck des Gedichtes noch das Gediclit an sich verteidigen, wenn
ihr auch die darin waltende Phantasie ungeheuren Eindruck
macht: die Mischung von Liebe und Grausen, die furchtbare Ver-
bindung von Tod und Leben. II y a comme une voliqüe funehre
dans ce tableau, oii Vamour fait alliance avec la tombe, oü la
beaiite menie ne scnihle quune apparition effrayante. Und wenn
sie auch die Kunst bewundert, mit der in der Liebesszene jedes
Wort einen stets stärker werdenden Schrecken einflößt und das
fürchterliche Wunder andeutet, ohne es gänzlich zu erklären,
kommt sie doch zu dem Schluß, daß ein reiner und strenger Ge-
schmack vieles in dieser Dichtung tadeln müsse, imd daß von den
kleineren Werken der berühmten deutschen Autoren dies das
einzige wäre, gegen das der französische Leser Einwendungen zu
machen hätte.
Noch deutlicher drückt sich ein Jalirzehnt später ein eifriger
Katholik, der Baron von Eckstein, in den sehr streng konserva-
tiven 'Annales de la litterature et des arts' vom Jahre 1824 aus
(XVI, 55). Er sagt da von der 'Braut von Corinth': Ballade pleine
de beautes poetiqiies, mais d'iine profonde immoralite . . . Le poete
y peint le paganisme ä son declin, sous les couleurs les plus inte-
ressantes, et fait de la naissance du christianisme le tableau le plus
remhruni: quelle que snit la licence poetique, eile ne va pas
jusque-lä.
Aber es war anderseits etwas in der Ballade, was sie dem
Kreis der Romantiker höchst anziehend machen mußte. Goethe
hatte die Dichtung in seinem Tagebuche 1797 (6.-9. Juni) meh-
rere Male als 'das Vampyrische Gedicht' bezeichnet. Stefan Hock
hat es in .^inem Buche Die Vawpyrsagen und ihre Verwertung in
der deutschen Literatur (Berlin 1900) sogar wahrscheinlich ge-
macht, daß es dieses Motiv des A^ampirischen war. was sich ihm,
wie er sagte, vierzig bis fünfzig Jahre lebendig und inrlsam im
Innern'^ erhalten hatte, und daß man auf falscher Fährte ist, wenn
man annimmt, daß er damit die Geschichte von Machates und
Philinnion gemeint habe. Es ist wohl einleuchtend, daß sich der
1 Hempelsche Ausgabe XXVI, 1. 352 in dem Aufsatz 'Bedeutende For-
dernis durch ein einziges geistreiches Wort', aus dem Jahre 1822.
Goethes 'Braut von Corinth' iu Frankreich • 181
in früher Jugend vernommene Bericht von den Vampiren ver-
bunden hat mit der Gespenstergeschichte des Phlegon, und daß so
auch Goethes Worte zu verstehen sind, daß sich 'die Bilder (seines
Innern) immer umgestalteten, doch ohne sich zu verändern, einer
reineren Form, einer entschiedeneren Darstellung entgegen-
leiften'.
Gerade dies Schauerlich-Gespensterhafte, das M^'-stisch-Wuu-
derbare, das somit die Keimzelle der Goetheschen Dichtung bil-
det, war das, was die Männer um Victor Hugo lockte und zog.
Ein Stoff wie der der 'Braut von Corinth', der Liebe und Tod in
Verbindung brachte, mußte von Führern und Gefolgsleuten der
Romantik als ein Stoff nach ihrem Herzen betrachtet werden,
denn er brachte auch die Lehre des Meisters zur Geltung, daß
die wahre Poesie in dem Einklang der Gegensätze zu suchen sei.
In der vorderen Reihe dieser Modernen stand zum mindesten
im Anfang der Bewegung Emile Deschamps (geb. 1791 in Bourg,
gest. April 1871 in Versailles). Er war 1823 einer der Begrün-
der ihrer Zeitschrift, der 'Muse fran(?aise', und ließ 1828 ein
Werk, 'ßtudes franpaises et etrangeres', erscheinen, dessen fünf
schnell aufeinanderfolgende Auflagen seinen Erfolg erwiesen.
Es enthielt eine wichtige Vorrede, die neben der zu Victor Hugos
"Cromweir als Manifest der neuen Richtung betrachtet werden
kann. Denen, die in einem Einfluß ausländischer Literatur auf-
die heimische eine böse vaterlandslose Gesinnung sehen, ruft er
hier die beherzigenswerten Worte zu: Quant aux vieilles indi-
finations nationales, a ces gothiques haines de Vetranger, a qin
pretendrait-on imposer aujourd'hui avec toute cette patrioterie
JHteraire? La France est trop forte et trop riche ponr etre jalouse
rt injuste. Unter den Gedichten aus dem Deutschen befindet sich
dort neben Schillers 'Glocke' und dem 'König von Thule' die erste
Übersetzung der 'Braut von Corinth' in französischen Versen. —
Wir werden sie später genauer betrachten. —
Das Interesse an der 'Braut von Corinth' erhält sich auch nach
der Zeit der Romantik, nui; der Blickpunkt wird ein anderer.
Nicht mehr das Phantastisch-nSchauerliche fesselt die Zeit nach
der Mitte des 19. Jahrhunderts und die Dichter, die ihr dienen,
man wendet sich eher allgemeinen Ideen zu als individuellen Emp-
findungen, und so wird der Konflikt der beiden Religionen als
das Wichtigste in der Ballade angesehen. Hatte doch Leconte
de Lisle, um den sich eine Gruppe junger Dichter scharte — die
sogenannten Parnassiens — . in seinen Poewes antiques und
Poem es harbares eine Mu^erung aller Religionen, aller Götter-
legenden in wunderbar vollendeten Versen abgehalten; bei ihm
kann man alle Formen finden, in denen die Menschheit ihr Ideal,
des Lebens Zweck und Ziel zu finden glaubte, und in denen sie
182 Goethes 'Braut von Corinth' in Frankreicli
sich über die Kürze des Daseins und die Trostlosigkeit des Zwei-
fels hinwegzutäuschen suchte. Im rein Gedanklichen, in der
Gegenüberstellung von Christentum und Heidentum, berühren sich
einige Gedichte Leconte de Lisles mit dem Stoff der 'Braut von
Corinth', wenn ich auch nicht an einen direkten Einfluß der
deutschen Ballade auf diese Dichtungen glaube. Unzweifelhaft
(weil er es selbst ausgesprochen hat) ist jedenfalls Anatole
France in seinem dramatischen Gedicht Les Noces Corinthiennes
von Goethe angeregt. Er nennt das Gedicht rührend, geheimnis-
voll und tief und sagt dann: J'ai repris ä mon tour et developpe
cette vieille histoire, car je nai rien trouve qui peignit mieux Je
declin des Dieiix antiques et Vauhe chretienne dans tm coin de la
Grece.
Von diesem Gesichtspunkte aus ist auch die französische Lite-
raturwissenschaft an die Dichtung herangetreten. Ernst Lich-
tenberger hat in seinen Poesies lyriqnes de Goethe das Rem-
brandtsche Halbdunkel, in das Goethe die Gestalt der Braut hüllt,
und das den Leser ebenso wie den jungen Athener im ungewissen
darüber läßt, ob er es mit einem Gespenst oder einer Lebenden
zu tun hat, damit erklärt, daß mit absichtlicher Symbolik das
Kloster dem Grabe gleichgesetzt sei, um recht eindringlich dar-
zutun, wie die Rechte der Jugend und der Liebe von den Ge-
lübden, die Priester und Nonnen ablegten, a^ erletzt würden, ^lle
confond sans cesse dans ses paroles et dans sa pensee le moment
de sa consecration et celni de son trepas. porce qn'en effet c'a efe
pour eile le meme instant.
Daß dies richtig ist, glaube ich nicht. Wie erklärte es sich
dann, daß die Geliebte nichts vom Weizenbrot nimmt, wenn wir
das nicht als symbolisch dafür annehmen sollten, daß sie nicht
mehr den Lebenden angehört? Vor allem, wie Avürde sonst das
Bild des Vampirischen in die Erscheinung treten, daß der Ge-
liebte dem Tode geweiht ist. da er sie berührt und da sie ihm
Lebensblut entzogen hat? Das charakteristische Merkmal für die
Vampire ist es ja, daß sie Tote sind, die zur iSTachtzeit aus ihrem
Grabe steigen, um das Blut der Lebenden zu saugen. Für das
Erfassen des wesentlichen Gedankens der Dichtung aber scheint
es mir gar nicht von großer Bedeutung zu sein, ob wir uns, wie
Lichtenberger, die Braut als lebend und nur symbolisch tot, oder,
wie wohl alle deutschen Erklärer, als tatsächlich aus dem Grabe
steigend zu denken haben. Goethe hat absichtlich einen Schleier
darübergeworfen, aus dem die Idee des Gegensatzes zwischen
den Ansprüchen der Natur und den eingebildeten Satzungen der
Menschen, des Kampfes zwischen den selbstsüchtigen Beweggrün-
den des Einzelnen und der alles überwindenden Liebe deutlich
hindurchschimmert.
Goethes 'Braut von Corinth" in Frankreich 188
Dieses Wesentliche hat Lichtenberger richtig gesehen, wenn
\\ir auch Bedenken erheben müssen in einer Einzelheit, die er
vielleicht für wichtiger nimmt, als sie mir in Wirklichkeit zu
sein scheint.
Auch Übersetzungen sind Erklärungen; wer übersetzt, inter-
pretiert zugleich. Sehen wir uns einige dieser französischen Über-
setzungen an. Mir lagen drei in Prosa und eine in Versen vor.
Von diesen ist wohl die wichtigste die letztere, die Emile Des-
champs in seinen schon erwähnten ^tudes frangaises et etrangeres
1828 herausgab. Unter dem 14. März 1830 berichtet Ecker-
mann, Goethe habe einiges in den ihm zugesandten Studien von
Emile Deschamps gelesen, und er fügt hinzu: Die Übersetzung
der 'Braut von Corinth' lohte er als treu und sehr gelungen. Wer
darauf genauer die Übersetzung nachprüft, muß sich über die
Anspruchslosigkeit Goethes verwundern und kann sich die Milde
der Beurteilung nur daraus erklären, daß die Huldiginig der jun-
gen Dichter Frankreichs (wie wir aus Eckermann und anderen
Quellen wissen) Goethe innerlichst beglückte, daß ihn die Ver-
ehrung und Liebe, mit der sie ihn als ihr geistiges Oberhaupt er-
klärten, nachsichtig gegen ihre Schwächen machte. Die Sendung
von Gedichten war von einem Briefe begleitet, der, wie Ecker-
mann sagt, mit liebens\^airdiger, herzlicher Freiheit geschrieben
war und Goethe zu dem Ausspruch veranlaßt: Man blickt in den
Frühling eines schönen Gemüts.
Deschamps hat Strophen von sechs Alexandrinern mit dem
Reimschema abbacc gewählt; daß er mit der Biegsamkeit des
Originals in der Form nicht wetteifern wollte, war nicht unklug.
— Wir können aber nicht vorübergehen an inhaltlich schiefen
Wendungen, die dem Leser eine ganz andere Vorstellung geben
als die Goetheschen Verse. Dazu hat den Übersetzer zuweilen
die Not des Reimes und nicht selten der Wunsch verführt, was
ihm im Original vorlag, deutlicher zu machen. So gibt Deschamps
in höchst ungeeigneter Weise der zweiten Schwester eine Oha-
ra kt^ri.=;ierung. von der Goethe nichts hat. Bei ihm heißt es:
Mich erhälfst du nicht, du gute Seele!
Meiner zweiten Schtoester gönnt man dich.
Wen7i ich mich in stiller Klause quäle.
Ach, in ihren Armen denk' an ynich.
Daraus macht Daschamps:
Oh hon ange, jamais tu ne m'approcheras!
A ma seconde smur, au coeur simple et crSdule,
On te marie, et moi, dans ma froide cellule,
Je' dois languir . . . Ami, pense ä moi dans ses hras.
Man sieht hier: die Erfindung einer leichtgläubigen Schwester
ist durch den Reim von credule auf cellule herbeigerufen worden.
184 Goethes 'Braut von Coriuth" iu Frankreich
Eine noch stärkere Verheerung des Sinnes hat die Reimnot in
der vorletzten Strophe angerichtet, wo sich Deschamps den an
dieser Stelle ganz unsinnigen Ausruf // m'nime! leistet; man
vergleiche nur: die Braut sagt bei Goethe:
Schöner Jüngling, kannst nicht länger leben !
Du versiechest nun an diesem Ort.
Meine Kette haV ich dir gegeben,
Deine Locke neJi7n' ich mit mir fort.
Sieh sie an genau.
Morgen bist du grau,
und nur braun erscheinst du tcieder dort.
Dafür heißt es in der von Goethe so gerühmten Übersetzung von
Deschamps :
Jeune Orec, tu ne peux vivre longtemps encore,
Tu vas languir ici: je t'ai donn4 ma chaine;
Et f empörte avec moi dans ma prison de chine;
Ta boucle de chevenx, tardif et vain tr^sor!
Regarde-lä-Demain iu blanchiras, et meme
Tu ne reparattras brnn que lä-bas . . . II m'aime!
Neue Strophe: II pälit.
Man hat häufig den Eindruck, daß die zarteste poetische An-
deutung des deutschen Verses gar nicht in eine einigermaßen
gleichartige französische Fassung gebracht v^^erden kann. Liegt
es an der zu starken Neigung zum Rhetorischen, die in der fran-
zösischen Seele herrscht, oder an dem Streben nach allzu deut-
licher Klarheit, die jeder Unbestimmtheit widerstrebt? Nietzsche,
der ja ein sehr feines Stilgefühl hat, scheint auch die Empfindung
gehabt zu haben, daß die lyrischen Töne der französischen Sprache
nicht liegen. So schreibt er an Gersdorf am 21. Juli 1875: Hast
Du Schures 'Le drame musicaV gelesen? . . . Für mein Gefühl ist
alles Französische su beredt und, bei Behandlung solcher Dinge
wie der Musih, etwas su lärmend und öffentlich. Zwei oder drei
Beispiele mögen dies deutlich machen.
Und sie kommt und wirft sich zu ihm nieder:
Ach, tcie ungern seh ich dich gequält!
Aber ach! berührst du meine Glieder,
Fühlst du schaudernd, was icli dir verhehlt.
Und nun die Übersetzung:
Elle y vint prds de lui. Mon Dieu, que fai regret,
Dit-elle, d'attrister ainsi tes fiangailles.
Mais helas! touche un peu mes membres ... tu tressailles !
Tu connais mnintenant mon funeste secret.
Wirkt dieser Imperativ touche un peu mes membres nicht wie die
erkältendste Prosa und hier geradezu komisch?
Oder man .stelle der meisterhaften Knappheit, mit der Goethe
Goethes "Braut von Corintlr in Frankreich 185
die innigste Umarmung in drei Worten malt, die Weitschweifig-
keit des Übersetzers in dem Sehhiß der Strophe gegenüber, in der
es bei Goethe heißt:
Heftig faßt er sie mit starken Armen,
Von der Liebe Jugendkraft durchmannt :
Hoffe doch, bei mir noch zu erwarmen,
Wärst du selbst mir aus dem Grab gesandt!
Wechselhauch und Kuß!
Liebesüberfluß!
Brennst du nicht und fühlest mich entbrannt?
Bei Deschamps:
II l'enlive et la serre entre ses bras nerveux,
Avec toute Vardetir de la male jeunesse,
'II faut sous mes baisers que la chaleur renaisse,
Fusses-tu de la tombc envoy6 ä mes feux!
Brülez, torrens d'amour! douce et cuisante extase.
Tiens, tiens, ne sens-fu pas tout mon corps qui s'embrasef
Was wird erst aus der keuschen Schilderung dessen, was die
Mutter an der Tür erlauscht, bei dem überdeutlichen Franzosen!
Bei Goethe:
Horchet an der Tür und horchet lange,
Welch ein sonderbarer Ton es sei:
Klag' und Wonnelaut
Brmitigams und Braut
Und des Liebesstammeins Raserei.
Bei Deschamps:
Elle ecoute longtemps un murmure de plainte,
De rires effr4nes et de vagues refus,
Et ces mots inconnus et ces accents etranges,
Ces cris que Vhomme emprunte aux voluptes des anges!
Auch die Prosaübersetzungen zeigen diese Mängel: das Rhe-
torische wandelt den dichterischen Ausdruck in etwas Hausbacke-
nes um, und die Neigung, recht deutlich und klar zu sein, bringt
Zusätze, die dem Charakter der Dichtung widerstreben, und weist
auch — besonders in den älteren, noch zu Goethes Lebzeiten er-
schienenen Übersetzungen — Auslassungen auf bei Stellen, die
der Franzose seinem Landsmann nahezubringen wohl verzwei-
felte. 1825 kam ein Bändchen in dem bekannten Verlage
Panckoucke heraus: Poesies de Goethe, traduites pour la premiere
fois de VaUemand jKir i¥*"c- jj 'Panclwuche. Querard schreibt aller-
dings in seinen Supercheries litteraires devoilees (2. Aufl. 1870
III, 24) den liebenswürdigen Gästen des Hauses Panckoucke die
Arbeit an diesem Bändchen zu. Aubert de Vitry (1765 — 1849)
und namentlich dem geschickten Loeve-Veimars (1801 — 1854).
Eduard von der Hellen stellt es als wahrscheinlich hin, daß
das Goethesche Gedicht 'Ein Gleichnis' (aus dem Jahre 1828) in
der Abteilung 'Parabolisch' von dieser Panckouckschen Über-
Archiv f. n. Sprachen. 13'J. 13
186 Goethes 'Braut von Corintli' in Frankreich
Setzung veranlaßt sei. Ich erinnere an diese Verse, weil sie aucl^
(xoethes Freude an Übersetzungen seiner Werke und ein Lob er-
klären, das nicht immer gerechtfertigt erscheint.
Jüngst pflückt ich einen Wiesenstrauß,
Trug ihn gedankenvoll nach Haus;
Da hatten von der warmen Hand
Die Kronen sich alle zur Erde gewandt.
Ich setzte sie in frisches Glas,
Und welch ein Wunder aar mir das!
Die Köpfchen hohen sich ,cmpor,
Die Blätterstengel im grünt n Flor;
Und allzusammen so gesund,
Als stünden sie noch auf Muttergrinid.
So war mir's, als ich wundersam
Mein Lied in fremder Sprache vernahm.
Wie die poetische Einfachheit des Dichterwortes hier in ver-
ständnisloser Rhetorik erstickt wird, dafür diene nur ein kleines
Beispiel: Bleibe, schönes Mädchen gibt M'"*" Panckoucke -wieder
durch Ne t'eloigne pas, femme Celeste. Treue der Übersetzung
dürfen wir hier nicht suchen. Wer würde wohl die Verse Aber
bei dem tüohlbestellten Essen Wird die Lust der Speise nicht
erregt wiederfinden in den Worten: Ces soins affectueux ne peu-
vent triompher des vagues inquietudes dont l'äme du jeune Jiomnte
est agitee. — In dem Streben, den Leser immer über den Zusam-
menhang aufzuklären, fühlt sich dieser Übersetzer — traduttore,
traditore — genötigt, dem Jüngling schon in der ersten Erwide-
rung auf die Worte des Mädchens die Ahnung aussprechen zu
lassen, daß er es mit der ihm bestimmten Gattin zu tun habe.
Bei Goethe heißt es bekanntlich:
Hier ist- Ceres', hier ist Bacchus' Gahe,
Und du hringst den A^nor. liches Kind!
Bist vor Schrecken Haß,
Liehe, komm und laß.
Laß uns sehn, wie froh die Götter sind.
Daraus macht die unter dem Namen M"'*' Panckoucke geliondc
("Übersetzung:
Daigne partager avec moi les dons de CSres et de Bacchus; 1a viic ins-
pire l'amour! Pourquoi pälir ainsi d'effroi? ne serais-tu pas
l' ep ouse, que le ciel m' a de s tinee? Viens, 6 m a lien aimer !
reste pr^s de moi, fais moi goüter la felicite des dieux.
Mancher Zusatz läßt sich sogar quellenmäßig belegen: so
w^enn M™^ Panckoucke oder ihr Gewährsmann bei der Wieder-
gabe der Verse Gierig schlürfte sie mit blassem Munde Nun den
dunkel blutgefärbten Wein übersetzt: Elle porte avec avidite ä
ses levres päles le vin, que goütent les ombres, un vin
couleur de sang. Ein Jahrzehnt vorher hatte schon M™<^ de Stael
bei der umschreibenden Darstellung unserer Dichtung (die nur
Goethes 'Braut von Corinth' in Frankreich 187
teilweise zur wörtlichen Übersetzung wird) hierbei diese Hinzu-
fügung gemacht. Es heißt dort {De V Allemagne 2, 13): eile holt
avidement d'un vin couleur de sang, semblable ä celui que pre-
naient les ombres, dans V Odyssee, pour se retracer leurs
Souvenirs.
Die modernen Prosaübersetzungen, die ich gesehen habe, er-
lauben sich allerdings nicht solche Freiheiten; die von Camille
Benoit, die Anatole France im Anfang seiner Noces Corinthiennes
mitteilt, ist als 'treu' zu bezeichnen. Aber auch hier scheint mir
die Wahrnehmung nicht uninteressant zu sein, wie selbst in Klei-
nigkeiten die französische Anschauungsweise allem Unbestimm-
ten auszuweichen sucht. Goethe hatte V. 152 f. nur gesägt: Wie
mit Geists Getvalt Hebet die Gestalt Lang und langsam sich im
Bett empor. Alle französischen Übersetzungen bringen das
Deckengew^ölbe hinein, bis zu dem sich die Gestalt hebt, als ob die
Phantasie für dieses Steigen der Gestalt eine Stütze brauchte; so
heißt es schon bei M™^ de Stael: la jeune fille grandit jusqu'ä la
voüte comme nne ombre. bei M"^^ Panckoucke: eile grandit lente-
ment jusqu'ä la voüte, bei Deschamps: Longtemps et lentement
grandit jusquä la voüte, und bei Benoit: sa statue s'eleve long-
temps et lentement du lit ä la voüte.
Auch in der Wiedergabe der Verse 162 und 163 findet man
sich einer communis opinio gegenüber. Es heißt dort bei Goethe:
Aber aus der schwertedeckten Enge
Treibet mich ein eigenes Gericht.
Euer Priester summende Gesänge
Und ihr Segen haben kein Gewicht.
Die Worte 'ein eigenes Gericht' glaubte ich immer so auf-
fassen zu müssen, daß sie selbst sich das Recht zuschreibe, die
'bange Klause' zu verlassen, wozu dann der Gegensatz die Nich-
tigkeit dessen wäre, was die Priester anordneten. In allen Über-
setzungen aber wird 'das eigene Gericht' als eigentümlicher, son-
derbarer Urteilsspruch verstanden, was ja dem deutschen Sprach-
gebrauch auch gemäß wäre; so heißt es bei M™® de Stael: Une
maladie funeste tna poussee hors de nia froide demeure; bei
Panckoucke: La justice divine nia fait sortir du cercueil; bei
Deschamps: Mais un arret fatal de ma sombre demeure me tire;
Lichtenberger umschreibt diese Stelle: Four avoir viole malgre
eile les lois de la natiire, eile est condamnee ä sortir de sa tombe
ä eher eher le fiance et ä sucer le sang de son cceur; und auch bei
Benoit: Mais je suis poussee par un arret singulier hors de mon
etroite demeure.
Nach einer längeren Beschäftigung mit dem Gedicht glaube
ich nicht mehr an die Richtigkeit meiner bisherigen Auffassung.
Was mich dazu bestimmt, ist nicht der Umstand, daß die fran-
13*
188 Goethes 'Braut von Corinth' iu Frankreich
zösisclien Übersetzungen untereinander und auch mit drei engli-
schen, die ich verglichen habe, übereinstimmen.^ Auch daß das
Grimmsche Wörterbuch unter 'Gericht' unsere Stelle für die
Bedeutung 'Verhängnis, Fügung der Götter' in Anspruch nimmt,
machte mich zwar schwankend, konnte mich aber nicht überzeu-
gen, weil es im Wörterbuch als einziger Beleg für diese Be-
deutung angeführt war. Zwei Momente aber scheinen mir die
Auffassung, der ich früher widerstrebte, zu stützen: die Worte
bei Phlegon, wo das Mädchen sagt: Ot^ yäo äi'tv deki^ fiooA))oto)c
t^AÜ'ov eig vavva; und vor allem das Wesen des Vampirs, wie
es in dem Volksglauben lebte. Das Verhängnis zwingt ihn,
gerade die der Vernichtung zu weihen, die er am meisten liebt,
seine Angehörigen auf Erden. So erfüllt die Braut von Corinth
willenlos das Gebot der Götter. So heißt es auch in Byrons
'Giaour' :
Biit first, 071 earth as vampirc sent,
Thy corse shall from its tomh he renf :
Then ghastly haunt thy native 'place.
And suck the hlood of all thy racc.
In der (Übersetzung Wohlbrücks lauten die Verse:
Nun gehst du, ein grausiger Leichnam, einher, >
Bestimmt, dich vom Bltite derer zu nähren,
Die dich am meisten liehen und ehren.
Wer als Deutscher die französischen und englischen Über-
setzungen der 'Braut von Corinth' miteinander vergleicht, der
wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß der Unter-
schied mit den Worten 'wesensfremd' und 'verwandt' zu bezeich-
nen wäre. Di^e Stärke der französischen Sprache liegt auf einem
anderen Gebiete, und die Kunst, die poetischen Schöpfungen
anderer Kulturvölker sich zu eigen zu machen, steht bei weitem
nicht so hoch wie bei uns. Die festgefügte Tradition der Lebens-
weise mag wohl auch in die französische Sprache zuviel konven-
tionellen Charakter hineingelegt haben, der auf die tiefere Emp-
findung störend wirkt. Muß doch selbst ein Goethescher Lyrik
so verständnisvoll gegenüberstehender Mann wie Ernest Lichten-
berger den Vers des Mailiedes 0 Mädchen, Mädchen, wie lieh'
ich dich wiedergeben mit: 0 jeune fille, jeune fille, que je
t'aime, und für die Zeilen aus dem Fischer: ans dem heivegten
Wasser rauscht ein feuchtes Weih hervor die Übersetzung
1 1) Paul Dyrsen, 'Goethe's Poems' (London 1878) : Froin its (the grave)
cold and darkness am I Coming Back to life and light, that is my fate!
— 2) Edgar Alfred Bowring, 'The Poems of Goethe' (New York 1881): Bat
from out my coffin's prison-bounds By a woudrous fate I'm forced to
rove. — 3) W. Edmondstowne and SirTheodore Martin, 'Poems and ballads
of Goethe', .3e edition (Edinburgh and London 1907) : Fearful is t li o \v o i r d
(hat forc'd mc hither From the dark-heap'd Chamber \\ liero T lay.
Gofthos 'Braut von Corinth' in Frankreich 189
i,'eben: du sein de l'onde cmue, une femme humide sott avec
hruit. Klar und deutlich, aber wie wenig poetiseli!
Indes, wir tun vielleicht nicht recht, französische Übersetzun-
gen mit Philologenaugen zu lesen; und Goethe hat wohl von einem
anderen Standpunkt aus die Taust'-Übersetzung von Gerard de
Nerval und die der 'Braut von Corinth' von Emile Deschamps
gelobt: er hat als Franzose, nicht als Deutscher gelesen — rühmt
er doch schon von Stapfers Übersetzung des Faust, daß sich dieses
Gedicht in der französischen, edles erheiternden, der Betrach-
iung, dem Verstände entgegenhommenden Sprache schon um
rieles klarer und ahsichtlicher ausnehme.
Höher zu veranschlagen als Übersetzungen einer Dichtung ist
der Einfluß, der durch selbständige Werke im fremden Lande be-
zeugt wird.
Xoch in die Zeit der Hochflut der Romantik versetzt uns eine
Novelle von Theophile Gautier, La Morte amoureuse, auf die
Yovanovitch in seinem Buche La Gnzla de Prosper Merimee
(Paris 1911) S. 319 hinweist. Es ist kein Kunstwerk, diese
vampirische Novelle, wenn sich auch hier, wie sonst, dieses Dich-
ters eigentümliche Begabung nicht verleugnet, malerische Wir-
kungen durch die Sprache zu erzielen.
Die Furcht vor dem Banalen und der Wunsch, den Philister
in Staunen zu versetzen, hat wohl hier Gautiers Feder geführt; so
herrscht in dieser Novelle wilde Phantastik statt dichterischer
Phantasie, mühsam gekünstelte Erregung statt wahrer Empfin-
dung. — Die Rollen der beiden Liebenden sind vertauscht, wenn
wir mit Yovanovitch einen Einfluß der 'Braut von Corinth' an-
nehmen, die Geliebte ist Gottesleugnerin. er ein Priester, der im
Augenblick, wo er die Weihen erhält, die Buhlerin Clarimonde
zum erstenmal erblickt, und der von nun an den Gedanken an sie
in alle heiligen Handlungen verwebt, die ihm sein Amt in einem
entlegenen Dorfe auferlegt. Da wird er eines Nachts zu einer
Sterbenden auf abenteuerlichste Weise geholt, es ist natürlich die
Geliebte. Wie er noch die Sterbegebete sagt, da verwirrt ihn die
Schönheit der Toten, und er drückt einen Kuß auf ihren Mund.
Er erweckt sie dadurch für einen Augenblick zum Leben, wäh-
rend ihm die Sinne schwinden. Er verfällt in eine längere
Krankheit. Nach seiner Gesundung nimmt er sein Amt wieder
auf und glaubt schon vor jedem Eingriff in sein persönliches
Leben sicher zu sein, da erscheint ihm Clarimonde in all ihrer
Schönheit und reißt ihn wieder in den Strudel der Empfindungen.
Ich habe lange auf mich warten lassen, so spricht sie zu ihm,
und du hast glauben müssen, ich hätte dich vergessen. Aber ich
komme aus rveiter Ferne und ans einem, Ort, von dem noch nie-
mand zurück gehehrt ist; es ist iveder Mond noch Sonne in dem
190 Goethes 'Braut von Coriuth' in Frankreich
Lande, aus dem ich hin, iveder Raum noch Schatten, weder Weg
noch Steg, kein Boden für die Füße, keine Luft für Flügel, und
doch bin ich hier, denn die Liehe ist stärker als der Tod, und sie
wird ihn schließlich ühertvinden. Sie möchte ganz ihm angehö-
ren und ist auf Gott eifersüchtig, dem seine Liebe mehr gehöre
als ihr. Da läßt er sich hinreißen, sie mit der Versicherung zu
trösten, daß er sie ebenso liebe wie Gott. Er wolle sie begleiten
als ihr erklärter Liebhaber, wohin sie ihn führen wolle. Von
dieser Nacht an beginnt für ihn ein phantastisches Doppelleben,
das eines Priesters und das eines Lebemannes, ohne daß er weiß,
wo die Wirklichkeit anfinge und wo der Traum endige.^ Drei
Jahre führt er dieses Leben, da entdeckt er Clarimondes Ge-
heimnis, als er einst den Schlaftrunk, den sie ihm täglich reicht,
unbemerkt verschüttet hat. Er sieht, während sie ihn schlafend
wähnt, wie sie seinen Arm entblößt, eine Nadel hineinstößt und
einen Tropfen Blut aus ihm saugt, indem sie leise murmelt:
'Schlafe, mein einziges Glück. Da du mich noch liebst, darf ich
nicht sterben; ich werde dir nicht wehe tun, ich werde von deinem
Leben nur so viel nehmen, als ich brauche, um das meine nicht
verlöschen zu lassen.' Nun peinigen ihn noch mehr die Qualen,
die sein priesterliches Gewissen ihm bereitet. Ein Amtsbruder
rettet ihn. Er führt ihn an das Grab Clarimondes: sie öffnen den
Sarg und finden die Leiche noch unverwest. Als aber der Körper
mit Weihwasser besprengt ist, zerfällt er in Staub. Jetzt endlich
ist der Priester in ihm von dem Zusammenleben mit dem vornehmen
Edelmann und Geliebten befreit. Aber der Friede seiner Seele
ist teuer erkauft: noch immer sehnt er sich nach Clarimonde.
Wenn bei dieser phantastisch-wirren Dichtung Gautier auch
möglicherweise von Goethes Balladenstoff beeinflußt worden ist.
so muß man doch die Behauptung desselben Forschers Yovano-
vitch (eines Serben, der lange in Frankreich gelebt hat) durch-
aus ablehnen, daß diese Einwirkung auch in den Versen zu spüren
sei, die Les Taches jaunes betitelt sind. In diesem lyrischen Ge-
dicht \väll der Dichter nur eines toten Liebchens gedenken: und
indem er in der Nacht auf seinem Körper gelbliche Flecken beob-
achtet, erinnert er sich des Volksglaubens an Vampire und fragt
sich, ob die jung Verstorbene ihm etr^'-a die Küsse erstattet habe,
die sie ihm noch schulde.
Soulevant de ta main freie
Lc couverclc du cerciieü,
Est-ce toi, dis, pmivre teile,
Qui la nuit, franchis mon seuil?
1 ]\Ian wird an Novalis 'Hymnen an die Nacht' erinnert:
Ich lebe bei Tage Voll Glauben und Mut
Und sterbe die Nächte In heiliger Glut.
Goethes 'Braut von Corinth' in Frankreich 191
0 nio7i amour la plus iendre.
De ce ciel oü je te crois,
Reviendrais-tu pour me rendre
Les haisers que tti me doisf
Für die nachromantische Zeit gibt Baldensperger in seinem
Buche 'Goethe en France (1904) und in einer Bibliographie de
Goethe en France (1907) an. daß ein Gedicht von Leconte de
Lisle Hypatie et Cyrille aus dem Poemes antiques v. J. 1852 und
Julie et Trehor von Andre Lefevre aus einer Gedichtsammlung
La Flute de Fan v. J. 1863 von Goethes 'Braut von Corinth' an-
geregt seien, ohne, wenigstens von der letztgenannten Dichtung,
mehr als in einem Satz darüber zu sagen, daß der Konflikt der
beiden Religionen doi-t entwickelt werde. Baldensperger lenkt
leider mit dieser Literaturangabe auf e^ne falsche Fährte, denn
in der Sammlung La Flute de Pan, die mir in dankenswerter
Weise von der Straßburger UniA-ersitäts- und Landesbibliothek
(Cd YII^) geliehen A^nirde, findet sich kein Gedicht, das den Titel
■Julie et Trebor' führte. Es ist ein Dichter (geb. 1834), der, wie
alle Parnassiens, Goethe kennt und zitiert, der auf Griechenland
als unsere Mutter hinweist und das Christentum als etwas Poesie-
feindliches und Düsteres anklagt. Zur 'Braut von Corinth' aber
im Speziellen konnte ich keine Beziehungen unter den Dichtun-
gen der 'Flute de Pan' entdecken.^ Es gibt noch eine Gedicht-
sammlung von Andre Lefevre: La Lyre intime (Paris 1864).
Diese habe ich bisher noch nicht auftreiben können.
Ebensowenig glaube ich, daß Leconte de Lisles Gedichte, die
den HypatiastofP behandeln, aus einer Anregung durch die Goethe-
>che Ballade hervorgegangen sei. Die Sammlung der Poemes
(intiques erschien übrigens in demselben Jahr, in dem jenseits
des Kanals Charles Kingsley mit seinem Roman Hypatia das
Alexandria des 5. Jahrhunderts mederauf leben ließ mit der neu--
platonischen Philosophin ITy]intia als der Vertreterin des abster-
benden griechischen Heidentums und mit dem Bischof Cyrillus.
auf dessen Anstiften die fanatisierten Massen die edle Verkün-
derin der alten Götter ermorden. In den wundervoll ziselierten
Versen des Gedichts, das Hypatie betitelt ist, 7)rei.st der Dichter
diese Heldin, deren großes Herz das Schicksal der besiegten Göt-
* Im Stoff berührt sich mit dem Motiv des Vampirischen Le Lac
Enchanfc fS. 223—226). Eine Jungfrau der Luft ist zu den Söhnen Kains
herabgestiegen, gesellt sich zu den Jünglingen, um selbst einen Körper zu
erhalten. Vergeblich. Sie zerfließt immer in Luft. Da sucht sie ein Erz-
gießer, von Begierde erfüllt, in eine Form zu gießen, an Stelle einer Frau
entsteht eine Göttin. Die Menschen, die ihr opfern, werden von unersätt-
licher Begier gepackt: La rage les dechire et non pas le remords; d'un ceil
fascinatcur eile guettc sa proie. Dans tont lionime qui passe eile espdre un
amant. Elle sourit ä sa victime et Ventratne au fond de Vabime pour
l'aimer iternellement.
192 Goethes 'Braut von Corintb' iu Frankreich
ter teilen wollte und sie vor Schniäliungen schützte, die, als das
Unwetter die Welt des Glaubens ihrer Ahnen zum Wanken
brachte, den hehren Olympbewohnern in die Verbannung folgte
wie Antigone dem ödipus, um sie mit ewiger Liebe zu umhüllen:
im Herzen des Poeten solle sie weiterleben und den Hymnus der
heiligen Schönheit singen.
L'homvie en son cours fotigueux t'a frappee et maudite,
Mais tu tomlas plus grande! Et maintenant helas!
Le Souffle de Piaton et Ic corps d' Aphrodite
Sont partis ä jamais pour les heaux cieux d' Hellas!
Dors, 6 blanche victime, en notre äme profondc,
Dans ton linceul de vierge et ceinte de lotos;
Dors! l'impure luideur est la reine du monde,
Et nous avons perdu le chemin de Faros.
Der Dichter hat den Stoff noch einmal aufgenommen in einem
dramatischen Gespräch Hypatie et Cyrille. Die Szene spielt un-
mittelbar vor der Ermordung Hypatias, und Cyrillus will sie
retten, indem er sie bekehrt. Beide Anschauungen werden mit
den glänzendsten Waffen des Geistes verteidigt. Den sieges-
gewissen Worten des Bischofs, daß ihre Götter im Staube vor
dem siegreichen Christentum lägen, antwortet sie stolz beschei-
den: 'In meinem Herzen leben sie.'
Tes Dieux sont en poussiere aux pieds du Christ iminqueur!
Ne le crois pas, Cyrille! II vivent dans mon ccßur . . .
Tels sont mes Dieux! Qu'tm si^cle ingrat s'ecarte d'eux.
Je ne les puis trahir puisqu'ils sont malheureüx.
Die Gesinnung in beiden Gedichten ist sicherlich dem Ideen-
kreis verwandt, der in der Goetheschen Ballade mächtig ist. Aber
Leconte de Lisle hat sie auch sonst häufig ausgesprochen, nicht
selten in weit schärferer Tonart und weit radikaler, als es wohl
Goethe genehm gewesen wäre. So sagt er in der Vorrede zu
seinen Poemes et Poesies 1855: C'est dans ses creations intellec-
tuelles et morales quil faut constater la puissance de la poesie
grecque. Or les deux epopees ioniennes, le Promethee, VCEdipe,
V Antigone, la Phedre, contiennent ä mon sens, ce qui sera eter-
nellement donnc ä Vesprit humain de sentir et de rendre . . . Les
figures ideales, typiqiies, que celui-ci a congues, ne seront jamais
ni surpassees ni oubliees. Elle ne pourront qiietre reproduites
avec des attenuations necessaires. Depuis il ny a rien d'egal.
Um von 'Hypatia' zu der 'Braut von Corinth' eine Brücke zu
schlagen, genügte doch wohl nicht das Motiv des tragischen Ge-
gensatzes zwischen dem absterbenden Heidentum und dem auf-
kommenden Christentum und die Parteinahme für die Besiegten.
Es müßte dann noch mindestens hinzukommen, daß dieser Kon-
trast in die Erscheinung bei zwei Liebenden tritt, die in die Tra,gik
des Konflikts hineingerissen werden.
Goethes 'Braut von Coriiith' in Frankreich 193
Dies aber ist der Fall bei einem bedeutenden Kunstwerk, das
unzweifelhaft unter der Anregung von Goethes Ballade entstan-
den ist, dem dramatischen Gedicht von Anatole France Les
Xoces Corinthiennes} Diese Dichtung ist 1876 entstanden, also
zu einer Zeit, wo sich der etwa 30jährige Dichter Anatole France
als Bewunderer Leconte de Lisles und Verehrer der Schönheit des
plastischen Verses unter die Parnassiens eingereiht hatte, und zu
einer Zeit, wo Ernest Renan schon den größten Teil seiner Ori-
gines du christianisme hatte erscheinen lassen.
Das, w^as Goethe in den Stoff hineingebracht hatte, nämlich
den Kampf zweier Weltanschauungen, der heidnischen Sinnen-
freude und des christlichen Jenseitsgedankens oder im weiteren
Sinne den Zusammenstoß der berechtigten Ansprüche der iSTatur
mit den beschränkten Satzungen der Menschen, das war hier bei
dem Franzosen auf ein fruchtbares Erdreich gefallen und hat'
eine schöne Blüte hervorgebracht. Was indes Goethe in dem
Stoffe vorfand, das Phantastisch-Schauerliche, das Geheimnis-
voll-Vampirische, w^ar nicht zum Keimen gekommen. Ein schar-
fer Wind, der aus lateinischer Richtung blies, scheint dieses
Samenkorn weggeweht zu haben.
Bei der großen Ausdehnung, die Anatole France seinem Werke
gab — es sind drei Akte eines Dramas — , konnt-e er die Vor-
geschichte der Goetheschen Ballade in einer Handlung vorführen
und viele Einzelheiten motivieren, wo der deutsche Dichter dem
Balladencharakter gemäß der Phantasie des Lesers die Erklä-
rung überlassen hat. Eine kurze Inhaltsangabe möge dies ver-
anschaulichen.
Daphne. die Tochter des braven Winzers Hermas von Co-
rinth. ist unter dem Einfluß ihrer Mutter und des edlen Bischofs
Theognis Christin geworden, aber ihrem Geliebten Hippias, trotz-
dem dieser dem alten Götterglauben anhängt, treu geblieben. Eben
als er auf eiliger Fahrt durch Corinth gekommen ist und gelobt hat.
sie spät-er als Gattin heimzuführen, hat sie ihm noch den Schwur
twiger Liebe erneuert. Da eröffnet ihr Kallista. die Mutter, die
seit langem krank ist und auf einer Bahre hereingetragen wird,
den Entschluß, sie Christus als Xonne zu weihen, wenn das Wun-
der der Heilung sich an ihr vollzöge. Trotz der rührendsten Ein-
wendungen der Tochter tut sie das Gelübde, ja, sie gerät über
diesen Widersp'ruch in solche Aufregung, daß sie wie tot zu
Boden sinkt. Voll Angst um das Leben der Mutter unterwirft
sich Daphne dem Verlangen, allem Tridischen zu entsagen. So
^ Ein anderes Drama desselben Stoffkreises. La Fiahcee de Corinthe von
E. Mikhael und B. Lazare (Paris, 1888), auf da.s mich Max Herrmann auf-
merksam machte, ist im Buchhandel vergfriffen und war auf keiner deut-
schen Bibliothek aufzutreiben.
194 Goethes 'Braut von Corinth' in Frankreich
weit führt uns der erste Akt; der zweite bringt Hippias wieder
nach Corinth, von wo er unter dem Schutze von Artemis und
Aphrodite die Greliebte nach der Heimat führen will. Freudig
heißt Hermas ihn als seinen zukünftigen Eidam willkommen;
sieht er in ihm doch einen verständigen, tatkräftigen Jüngling,
der auch die alten Bräuche ehrt. Er verheimlicht ihm indes nicht
die Veränderung, die mit seiner Braut geschehen ist: sie scheine
ihm von einem Dämon geschüttelt und stehe unter dem Einfluß
des galiläischen, den Gatten und Hochzeitsgesängen feindseligen
Gottes. Der Jüngling begibt sich zur Ruhe und tröstet sich vor
dem Einschlafen mit dem Gedanken, daß der galiläische Gott,
dem er doch nichts zuleide getan habe, ihn auch nicht hassen
könne. Während seines Schlafes erscheint Daphue, die, bevor
sie für immer die Klosterzelle betritt, in der Stille der Nacht die
alten geliebten Stätten ihrer Jugend aufsuchen will. Hippias
erwacht und glaubt, sie sei von einem Gott ihm gesandt. Daphne
kämpft mit sich, bittet ihn, sie zu meiden: er aber versteht ihre
Angst nicht und hört erst jetzt von dem Gelübde, dem die Ge-
liebte sich opfern will. Vor seinen glühenden Worten kann sie
sich nicht retten, die Wogen ihrer Empfindung schlagen über ihr
zusammen, und sie ist bereit, ihm in seine Heimat zu folgen; sie
wollen sich der Mutter zu Füßen werfen und ihr Mitleid erregen.
Da tritt Kallista mit einer Lampe herein, in dem Glauben, eine
Sklavin im Zimmer des heidnischen Gastes zu finden: unter
Verwünschungen jagt sie ihn aus dem Hause.
Aber Daphne trägt der Amme auf, ihm nachzueilen und ihm
zu sagen, er solle sich bei Einbruch der nächsten Nacht im Grab-
gewölbe ihrer Ahnen einfinden. Dort trifi^t sie ihn — das ist der
dritte Teil des Dramas. Er will sie gleich auf ein Schiff mit-
nehmen, fügt sich aber ihrem Wunsche, erst von dem mitgebrach-
ten Brot, Salz und Wein, dem Hochzeitsmahl, zu genießen. In
ihren Wein hat sie Gift gegossen, da sie weder dem Gott noch
dem Freund untreu werden will. Sie stirbt in seinen Armen, da der
edle Bischof Theognis zu spät kommt, um das Gelübde der Mutter
zu lösen. Hippias aber will zusammen mit der Leiche der Ge-
liebten auf einen Scheiterhaufen zu den alten Göttern auffliegen.'
Man sieht, nicht nur die andere Form, die dramatische, hat
das Gespenstische aus dem Stoff hinausgewiesen, sondern auch
der anders gerichtete Geist, der ihn aufgenommen hat. So ist
OS kein Problem mehr, ob man es mit einem Lebenden oder einer
Toten zu tun hat. ausdrücklich ist das Kloster dem Grabe gleich-
gesetzt: Daphne motiviert ihr Erscheinen im Schlafgemach des
Hippins in einem Monolog mit den Worten:
Puisqu'ü me faut vivante abandonner la vie,
Je saluerai ce monde ä qui je suis ravie.
Goethes 'Braut von Corinth' in Frankreich 195
Diese lateinische Klarheit geht unserem Empfinden für Poesie
sogar zu weit, wenn der Dichter die sterbende Daphne in der letz-
ten Szene sagen läßt:
Sachez par moi comhien l'amour a du pouvoir,
Retenez ce qu'helas! je vous donne de voir,
Et contez mon malheur pour que jamais les meres
* N'ohligent leurs enfants ä des noces am^res.
Ebensowenig wird einem aufmerksamen Leser die eigentümliche
Verschiedenheit des Standpunktes entgehen, den Goethe und Ana-
tole France gegenüber den streitenden Weltanschauungen des
Götter- und Christenglaubens einnehmen. Daß der deutsche Dich-
ter ganz entschieden auf der Seite des antiken Heidentums steht,
ist unzweifelhaft. Bei dem Franzosen ist zwar die Teilnahme an '
dem Geschick der Liebenden, das ihnen der Fanatismus des neuen
Glaubens bereitet, durchaus fühlbar, aber doch ist seine nachsich-
tige Liebe auch den Anschauungen der Christen in seinem Drama
gewidmet. Der Bischof Theognis ist als ein milder und weit-
herziger Mann dargestellt, der Daphne zur Braut Christi nur
segnen will, wenn sie sich freudig hingibt, und der das Gelübde
der Mutter löst und sie dem Geliebten antraut, als er wahrnimmt,
daß eine irdische Leidenschaft in ihrem Herzen wohnt. Ja, selbst
Kallista ist von einem alles A^erstehenden und somit alles ver-
zeihenden Dichter gezeichnet. Hir Fanatismus hat sie blind ge-
macht, aber ihr Glaube hebt sie sittlich. So läßt der Dichter sie
in der letzten Szene ihre fromme Ergebenheit, die doch auch etwas
Großes hat, bezeugen:
Je suis m^re, et mon coBur est percS d'une epee.
£claire-moi, mon Bleu, si je me suis trompee;
Punis-moi, mon Seigneur, si j'ai failli . . .
Tu m'as pris mon enfant: que ta main soit Mnie.
Die Seele des Dichters ist heidnisch und christlich zugleich oder,
wenn man will, weder das eine noch das andere. So ist es viel-
leicht schon zuviel gesagt, wenn man das Wort 'Teilnahme' ge-
braucht. Dieser Dichter ist weniger mit seinem Gemüte als mit
seinem philosophischen Denken bei der Betrachtung der Leiden-
schaften, die uns Glück und Leid bringen, beteiligt. So ist er ohne
Zorn und ohne Feindschaft. — Die Eigentümlichkeit seiner
Skepsis besteht darin, daß er alles glaubt, weil er nichts glaubt,
oder weil er alles für möglich hält. Daher ist es wohl charakte-
ristisch für den Dichter, wenn er den Heiden Hippias sagen
läßt a 3):
Et je crois, aar mon coeur est ni leger ni vain,
Qu'en Jesus, roi des Juifs, qtielque chose est divin.
Wie prägt sich die kindlich« Sicherheit derer aus, die in ihrer Ge-
wöhnung, die Natur ringsumher mit Gottheiten zu bevölkern, in
Christus weiter nichts als einen jungen Rivalen der alten im Be-
UH) Goethes 'Braut von Coriuth" in Frankreich
?^itz befindlichen Götter sehen! So tröstet sich Hippias, als ihni
die Gefahr droht, das Mädchen zu verlieren, mit dem Gedanken,
daß er jenem jungen Unsterblichen doch nie etwas zuleide getan
habe: 11 ne peut me hau: je ne le comiais pas (II, 7). Bei Goethe
kommt es nie dazu, daß der der alten Religion noch treue Jüng-
ling über die neuen Vorstellungen, die das Christentum in die
Welt gebracht hat, seine YerwTinderung ausspräche. Er redet als
Hellene von Bacchus, Ceres, Amor, von den frohen Göttern, aber
er hat in der Ballade nicht die Gelegenheit, seine Stellung gegen-
über den Xazarenern, um mich eines heidnischen Ausdrucks zu
bedienen, darzutun; das wäre ja auch unkünstlerisch gewesen. In
dem dramatischen Gedicht ^les Franzosen legen sich die Heiden
Hermes und Hippias jede Abweichung von ihrer frohen Lebens-
anschauung in naivster Weise so aus, daß ein Gott oder ein Dämon
in der Seele des anderen mächtig sei, der ihren Verstand verwirre.
So behauptet bald der eine, bald der andere von Daphiie oder von
Kallista:
Peut-itre nn Dietc agite et trouble ta raison (II. 4) ,
oder es klagt Hermas von seiner Tochter:
Un demon est en eile et dompte son eher ccBur (II, 6).
Und Hippias kann sich ihr verändertes Wesen nicht anders erklä-
ren, als daß er meint:
Certes, un Dieu faveugle ä qui ta main n'offrit
Ni vin pur, ni gateaux de miel et de farine (II, 7).
So ergibt sich in dem französischen Drama mannigfach eine
Vermischung heidnischer und christlicher Vorstellungen, wie sie
der Dichter später noch virtuoser in seinem Roman 'Thai's', na-
mentlich in der Darstellung des Banketts vorgeführt hat. Schon
im ersten Akt, wo Hippias die Geliebte bittet, sie solle Hesperos
anrufen, daß er ihm eine glückliche Fahrt gewähre. Sie aber, die
Christin, deren Phantasie indes noch angefüllt ist mit den alten
Göttern, antwortet, sie werde Jesus anrufen, der auf dem Meere
wandelte, worauf er etwas erschreckt mahnt:
Ma DapJin4, gardons nous des paroles Ug^res,
N'invoguons point les Dieux des races Mrang^res,
Gar la terre natale et nos hois et nos cieux
Sont encore palpitants du souffle de nos Dieüx.
Wegen seines Todes setzt er den neuen Gott dem Adonis gleich,
den Aphrodite beweint, oder er nennt ihn Hermes:
parce qu'il a conduit
Le peuple vain des morts par les champs de la Nuit.
Wie sehr indes trotz dieser Nuancen in der Auffassung des
Ganzen Anatole France unter dem Banne des Goetheschen Kunst-
werkes gestanden hat, das beweisen nicht wenige Entlehnungen
einzelner Ausdrücke und Wendungen oder Motive, von denen
die ursprüngliche Quelle nichts hat. Wir beschränken uns nur
Goethes 'Braut von Corinth" in Frankreich 197
' auf wenige Zeugnisse: 'der alten Götter bunt Gewimmel' finden
wir wieder in der Zeile
S'ü est vrai qu'ä la voix l'essaim des Dicux s'envole,
\ wir vernehmen ein Echo der Verse 61 — 63:
Opfer fallen hier Weder Lamm noch Stier,
Aber Mcnsclienopfer unerhört
in den Worten Kallistas (I, 4) ;
Je ne lui promets pas de sanglante victime,
Tu recevras, ö Christ, mon holocauste intime.
Was die Braut bei Goethe sagt (171/73):
Doch kein Gott erhört,
Wejiji die Mutter schwört,
Zu versagen ihrer Tochter Hand
ist hier dem das Mädchen tröstenden Hippias in den Mund ge-
legt (IL 2):
Non, Daphne, les Dieux hons n'ecoutent pas la mdre
Qui defend que sa fille ä l'epoux sovhaifS
Apporte le tresor de sa virginite.
Und ebenso muß hier Hippias die Worte sprechen, die ganz an die
Bitte, die bei Goethe die Tochter an die Mutter richtet, anklingen,
und mit denen beide Dichtungen sehließen. In der deutschen Bal-
lade heißt es:
Einen Scheiterhaufen schichte du!
öffne meine hange, kleine Hütte,
Bring' in Flammen Liebende zur Ruh.'
Wenn der Funke sprüht,
Wenn die Asche glüht,
Eilen wir den alten Göttern zu.
Bei Anatole France gelobt Hippias:
J'aiattrai les grands pins et les chenes des bois,
Afin qti'un seul bücher nous consume ä la fois;
Et confies tous deux ä la flamme brillante
Dans un nieme reseau de fidMe amia7ite
Nous nous envolerons, loin d'un monde odieux,
Sur Vetincelle auguste, au sein profond des Dieux.
Goethe hat nicht selten und, wie es scheint, auch gern darauf
hingewiesen, daß er den Franzosen 'einen großen Teil seiner eige-
nen Bildung verdanke' (Eckermann 14. März 1830; 24. iSTovember
1824: 1. Juni 1826). Er hat es ihnen reichlich zurückgezahlt.
Die Wirkung, die von ihm auf Frankreich ausging, ist noch bei
weitem nachhaltiger und stärker gewesen. Hier, iii den 'Noces
' orinthiennes', haben wir es mit einem Dichter zu tun, der sich
Ireudig und aufrichtig auf einen Meister beruft, der aber die ur-
sprüngliche Bestimmtheit seines Ichs und seiner nationalen Tradi-
tion wohl zu bewahren weiß.
Berlin-Lichterfelde. Felix Rosenberg.
Zur
Interpretation von I. Creangä's Harap Alb.
(Schluß.)
Seite 44. 8 fehlt §i: 'selbst'. — 9 fäcind a§a de frumn§eh
'was für schöne Gesichter er macht'? ('es', wie W. übersetzt,
müßte wohl durch o ausgedrückt sein) vgl, a face urtt Gl. s. v.
strop^esc ('ein unfreundliches Gesicht machen'?). — 13 m'a fi
n§teptind: richtig 47 lo (auch Gr § 112, 1). — 16 vomice\ s. oben
10 28. — 20 v'a w.^it un sfint din gui'ä: passender 'ihr habt da
ein goldenes Wort gesprochen'. — 25 gene: 'Augenwimpern'; übri-
gens hat ja Ochilä ein einziges Auge! — 32 tata flämtnzüor:
warum nicht 'Vater der Hungrigen'? vgl. Gr Übung 56. — 33
cä: wohl 'daß'. — Seite 45. 4 impäräfie: s. oben 15 22. — 6 din
jjartea mea: vgl. oben 632. — 9 s'a hotärft: meine Gewährsmänner
beziehen es zum Subjekt Luminarea Sa (vgl. 44 is).! — Ebenda
rndeseascä: passender 'fleißig {des 'häufig') servieren zu lassen'. —
11 dfi-T cu ciristea: es handelt sich nicht um das den bewirteten
'Leuten' gemachte Präsent; dä-i ist das von Tiktin I 501b oben
verzeichnete allgemeine Adhortativum, 'los darauf (neugriech. 66c,
tov: n'epLElg 6. t. yiloia 'et nous de rire'), also hier etwa 'frisch
gezecht'; der zwischen cinste und rm^ine in anderer Bedeutung
('Ehre' — 'Schmach') obwaltende Gegensatz dient als Wortwitz. —
17 v'aü mas .^oarecü in pintece: feststehende Redensart der Bedeu-
tung 'Wolfshunger haben' (Tiktin II 986 a-b, G. II 97 8, id. Pm 43 15,
Gl s. V. masul). — 18 u. 21: der Parallelismus der beiden numat de
hätte gewahrt werden können. — 23 cu mine: ist nicht ausgedrückt
('werdet ihr mit mir Unannehmlichkeitenhaben',vgl.EG 669; 'schlecht
ankommen' Gar. Mom. 24Sii). — 30 las' dacä: hätte etwa einer An-
merkung bedm-ft, = 'warte nur [ruhig] zu, ob'; andere Belege Cr
87 3, 100 23 f., 154 1, 156 24. — 33 tnghifea noduri: 'ärgerte sich im
stillen', wo das bei verhaltener Gemütserregung reflexiv eintretende
gewaltsame Schlucken gemeint ist (Cr 127 29, 171 10, 268 5; vgl. AI.
556, G. in 146 26, MnT 68 is); davon ist merklich verschieden 'eine
Pille verschlucken' = 'eine bestimmte Unbill schweigend ertragen',
was a inghiti gälu.fca (Cr 116 19, AI. 1079 oben, Mor. 473) oder gu-
tma (mit Artikel!) heißt. — 31 nu ne prea pimem: der Konstruktion
mit cu dürfte eine Bedeutung wie 'wetteifern' entsprechen, vgl. Tiktin
III 1280 a sub b 'sich auf e. Kampf, Disput einlassen' (cf. AI. 499,
1532, Sad. Dur. 15223). — Seite 46. 2 In casä: 'ins Haus' (verschieden
acasn\). — 3 fehlt tn sftrsit: vgl. oben 26 7. — 4 mlov/fe: speziell
' Gauz derselbe Fall Cr 19729.
Zur Interpretation von I. Creangä's Harap Alb 199
'Färsen'. — 5 cum: 'so wie, wenn'. — 6 steclesc: stecU (sti-) ist ganz
allgemein {nh. stmluci) der eigentliche Terminus für 'glänzen', objektiv
'erglänzen lassen', z. B. banii intre degete, ochÜ ('mit den Augen
blitzen'); von Augen heißt reflexives stidi 'sich heften' {catre )imlul
drept cd vdl celei Odohescu, Op. compl. ed. 'Minerva' 1906, I 90 unt.),
dementsprechend (ockif) sticliM (z. B. pe cer, la steh Ispir. Leg.
359 3o) 'starr geheftet'; sonst 'starr' vom BHck (in Leidenschaft,
schwerem Rausch, Wahnsinn, Tod) = sticlos (in der Bedeutung 'glän-
zend' bei EG. 47 6, 662) oder ca de sticla. — 7 bolborosi: 'un-
deutlich oder verworren sprechen', vgl. Cr 74.5, AI. 179, Nuv.
um. 60 21 ('radebrechen': mühsam und fehlerhaft), horhorosealä Mor.
75 21. — 8 fehlt mOcar: 'auch nur'. — 11 sä nu vä pioiefi mi)i-
tea usw.: Erklärungen der Redensart geben Tiktin II 988 b, Zanne
VII No. 16173, indessen genügt keine der Gesamtheit der Be-
lege: vielleicht etwa 'jmd, etwas anhaben, zusetzen, sich mitjmd. ein-
lassen, sich über jmd. hermachen'? S. (außer 00. cc.) Cr 44 17, 122 9,
223 10', Ispir. Leg. 382 11, MnT 300 17, Sima in BTr VII2 9i6, wohl
iileichbedeutend a-i}i prinde m. cu cn. Märg. in BTr XXXI 159. —
\'2 al vosU'U fe dracul: enthält nichts von einer (ironischen) Besorgnis;
es droht mit Tätlichkeiten, etwa nur 'es ergeht euch schlecht' (Be-
lege Cr 109 23, Adam 77 25). — 16 fehlt doar: 'ja doch'. — Ebenda
tm sagd: schon ganz verblaßt, etwa nur 'wahi'haftig', vgl. Cr 237 9;
ebenso /in glumd Cr 6630. — Ebenda de: besser 'halt'. — 19 crtmpo-
fit: sowohl nach Gl als auch nach Tiktin entspricht 'zerfetzt', eigentl.
'zerfleischt',, vgl. noch Cr 167 4! — 23 infulicat: 'verschluckt' würde
mit dem folgenden forfdcat 'zerkaut' (s. hier unter 24) ein vateQov
jTodreooi^ bilden; indessen kann sich das vielleicht auch anders ver-
halten, da infulica nicht gerade nur 'verschlucken' bedeuten muß,
vgl. Adam 72 20 Bäietanu . . . bifulicn in sjnnare le.^id capreT, Grig.
D. h. 66 2i cdpifa de fhi, pp eure o i/if/dicase supt coviltirul ara-
balet ('aufladen'?). — 24 forfdcat: eigentlich 'mit der Schere schnei-
den', fig. 'nagen, kauen', vgl. Cr 268 8. — 26 sorbitiird: 'Schluck'
(weniger als ein 'Zug', der doch auch lang und ausgiebig sein kann).
— Seite 47. 1 tocmrd: hier 'bis', wie es auch zeitlich 'erst' bzw.
'bereits', 'noch' zu bedeuten pflegt; bei dieser Bedeutung ergibt sich
ungezwungen die richtige Beziehung zu auxind (nach der Über-
setzung zu wse\)\ Beispiele a) lokal: Cr 42 26, 253 20, AI. 1576, Grig.
D.h. 185 16 se intorceav de departe, t. din Tarigrad, 195 10 venead
credincwsi'T t. din fundiil färn muscdlesii\ G. Zt. 143 se auxea f. la
noi\ b) temporal: Cr 230 8, AI. 1578 Cit te-am a^teptat! De ce
n'a% venit . . . t. de alaltmeri? Grig. D. h. 173 is t. peste alft ctftva
am ... am puhd sä urmäresc firul povesteJi, G. III 47 27 t. la
urmn 'erst ganz zuletzt', ibd. 51 15 Vom fncepe ceva mat de departe,
f. ('noch') de pe cdnd aveam virsta de sase am usw. — 4 pe capid
tmeä: richtig (hier noch viel notwendiger) nach der Anm. 49 le. —
200 Zur Interpretation von T. Croangä's Harap Alb
6 fehlt si 'auch'. — 7 fehlt lar: 'wieder'. — 9 treaba: vgl. oben
40 32. — 12 vomice: vgl. oben 10 28. — 13 cam: 'ziemlich'; jedenfalls
ist mit jumätate nicht das Maß des Unwillens angegeben, s. Anm.
(dieselbe Redensart schon 9 20 f.). — 13 fa: s. Kap. II unter I20. —
Ebenda fehlt mai: 'noch'. — 14 s'o hiafi: muß genau mit 2. Plur.
und konsekutiv übersetzt werden, 'daß ihr sie ... nehmen solltet'.
^ — 15 fehlt m: 'wohlan'. — 18 .fi (fehlt) ceva treaba: 'auch einige
Arbeit (zu leisten)', in aus- und nachdrücklichem Gegensatz zu
mincat, baut. — 21 fehlt fir de fir: 'ein Körnchen nach dem an-
dern, jedes K. für sich'. — 21 f. Nu cumva: 'daß ich nicht etwa'.
— 26 intrebuinfat: warum nicht 'angewendet'? — 28 t?'eaba: vgl.
oben 40 32. — 29 cum vor §ti: seil, a §i-l bäte! vgl. Cr 135 9,
205 27, 217 2G. — 34 mäcar cä te: siehe oben 21 9. — Seite 48.
1 firele: 'die Körner'; Ochilä spricht von den Körnern, wie er sie
tatsächhch vor sich sieht, nicht von einer theoretischen Möghchkeit
(die entsprechende Übersetzung des Nebensatzes ist eben auch
falsch). — 2 fehlt numa^: 'geradezu, rein', vgl. Cr 220 13. — 8 avea
strtnsä: siehe Kap. II. — 12 pe sub pämfint: 'auf unterirdischen
Wegen' ('aus dem Boden heraus' würde de s. p. lauten); das
Vb. regens ist curge Z. 10, 'kamen' also zuviel. — 13 fehlt d£:
'so daß'. — 20 nu alt-ceva: s. Kap. LI. — 21 cu nepus in
masä: s. Kap. II. — 26 pafcä: 'schienen' ist hier geradezu wider-
sinnig; 'als ob' (wie 4624), 'gleichsam'. — 30 ma^ ^tiü ie^? 'kann
ich es etwa wissen? was weiß ich?' — 32 m: 'wohlan'. — 34
se duce: 'hingeht' (nicht 'kommt'!). — Seite 49. 1 indeplinise
... porunca: 'Befehl erfüllt'. — Ebenda .sf umple: s. unten 548.
— 2 pricinä: 'Prozeßgrund', a cäuta p. c?iwa 'benörgeln', cher-
cher quereile: auch Cr 62 25, 122 is, 377 u. — 13 7tu-i impärfi:
s. Kap. n. — Ebenda afv. 'habt ihr'. — 14 sä träiit (auch
schon 47 8): eine schon wesentlich verblaßte Höflichkeitsformel ver-
schiedenster Verwendung, zum Gmß, zum Dank, zur Belobung, be-
sonders aber von selten Niedergestellter (beim Militär, z. B. Beld.
Ch. 19 15, 24 12: t. 'zu Befehl'); 'zu dienen' (so etwa hier), 'mit'
Verlaub', 'melde gehorsamst'. — 15 mai multä: hat vollen kom-
parativen Sinn. — 16 urgie: hier ganz bestimmt 'Unheil', vgl. Cr
112 5, 163 19. — 20 fehlt mäcar 'selbst', cf. 21 28. — 21 xmintifi:
richtiger 'aufregt' (wie 11 17). — 22 v'a^X dus pe copcä: der Kaiser
könnte kaum verhöhnend von Falle sprechen, solange sich sein Plan
noch nicht bewährt hat; das 'Eisloch' bezeichnet eher das unheilbare
Verderben, dem H. A. und Genossen im Falle eines Mißerfolges
verfallen; zur Rechtfertigung des Präteritums von zukünftiger Hand-
lung vgl. 40 22 (Gr § 123, 2). — 24 incurca^t: besser -verlegen
(vgl. 523), in der Klemme'. — 25 fehlt tncä: 'wieder (auch)'. —
Ebenda un: 'ein'. — 26 ba incä: vgl. oben 41 3. — 27 sägeata
de noapte si drariil rel de aymnxä'Kv. eine — in erster Hälfte
Zur Interpretation von I. Creangä's Harap Alb 201
adaptierte 1 — Reminiszenz aus Ps. 91 (90), 5-6. — 28 nu: 'nicht
mehr' würde allenfalls auf den Kaiser passen, hier ist indessen
dracul Subjekt. — Seite 50. 3 a draculm: 'die verflixte', als Attribut.
— 7 f. la iirma let kann wohl überhaupt nicht 'nach ihrer Spur'
heißen; es scheint aber, entsprechend seiner Stellung zu achice allein
bezogen, eine vernünftige Deutung zuzulassen: 'auf den von ihrer
Fußstapfe bezeichneten Fleck, auf ihren ursprünglichen Standort,
(nach Hause) zurück'. Vgl. G. II 84 (zweimal) a se intoarce la
u. sa. — 10 str'imhi: 'umdrehen' ('zudrücken' hieße strtngi). —
10 f. sä se tnvefe ea de altä data: wörtlich — wie ich glaube, als
Ironie unmittelbar verständlich — 'daß sie es lerne (recte: verlerne)
ein anderes Mal (Belege von de a. d. s. Rezension S. 224 Anm. 2,
auch G. II 12 3o)' usw. — 14 tn dosid pämtntului. Da mich
W.s Übersetzung nicht befriedigen konnte, erhielt ich von Herrn
T. Pamfile folgende Erklärung: Denkt man sich die Erde (volks-
tümlich) als eine auf Wasser (Weltmeer) schwebende Masse (Scheibe),
so wäre die Ortslage an dem gegen das Wasser hinabfallenden
Erdenrande 'hinter der Erde'. — Ebenda siibt timbtri upureha:
'unter dem Schatten des (nicht: eines!) Hüsen' mag schwerhch
jemanden so völlig befriedigen; umbra tepureha wird hier —
wie die weitere Beziehung auf toate buruTenele Z. 11 noch er-
härtet — ein Pflanzenname sein, der einer Asparagusart (s. Z. C.
Pan^, Plantele cunosc. pop. Rom., 1906). — 18 xbr: Interjektionen
dieser Art (die vorliegende speziell an zbura angelehnt), die eine
Bewegung symbolisieren, ersetzen gegebenenfalls auch schon ein
verbales Prädikat (vgl. in beiderlei Hinsicht xbr usw. Z. 23 f.); daher
war einerseits die Ergänzung eines solchen unnötig (desgleichen 'flog
sie' Z. 23), ist anderseits in specie unrichtig ('war' statt 'flog' o. ä.).
— 24 fehlt (erstes) .fi: 'auch'. — Ebenda toonat: vgl. oben 47 i.
— 26 cäci: war in der weniger üblichen Bedeutung (noch Cr 51 22)
besonders zu kommentieren; vgl. Tiktin s. v, II, DAc. s. v. I 2"). —
29 gäbine.^te: 'ergreift' ist zu wenig, wesentlich ist dabei auch das
Finden; also etwa 'erwischt' (vgl. 21 10, Cr 7 i9, 43 8, 193 1). — 33
und 34 fehlt uiilä: 'Gnade'. — 34 wraT sä ?ie dänm§ti: 'wollen'
gehört nicht zum eigentlichen Inhalt des Ausdrucks iera{)n) sä, der
entweder 'es war bestimmt, ich sollte' u. dgl. oder 'es war daran,
daß' besagt; in letzterer Bedeutung kann er okkasionell mit 'ich
wollte gerade' übersetzt werden, hier genügt einfaches 'du hättest
uns . . . beschenkt' (vgl. 51 12 'wäre gewesen'). — Seite 51. 2 ce
le^ti: wie 14 26 (Anm.). — Ebenda am: lieber plurahsch, da Ochila
seines Gefährten, der die Prinzessin eben erst ergriffen, nicht ver-
gessen dürfte. — 3 {fräs 0) durdwä: besser 'geschwitzt' — vor
Mühe und Sorge (v. Gl). — Ebenda m ... hat: ersteres wieder nur
1 Bei Gaster, Chrestom. roum. (1891) I 286: myaia ce xboarä lixua.
Archiv f. n. Sprachen. 13y. J4
202 Zur Interpretation von I. Creangä's Harap Alb
allgemein auffordernd, 'wohlan', während erst hat die Aufforderung
als auf eine Bewegung abzielend spezifiziert ('nun aber lieber vor-
wärts' usw.); dieses möchte ich übrigens als einen Befehl an die
Prinzessin auffassen entsprechend dem Umstände, daß die ganze
Rede eine Auseinandersetzung mit ihr ist und gerade ihre recht-
zeitige Repatriierung das einzige und brennende Interesse des Augen-
blicks darstellt. — 11 prisose-fte: 'in Überfluß vorhanden ist'. —
12 amai'-. mag der Wortfigur zuliebe mit 'unangenehm' übersetzt
sein; indessen soll man wissen, daß es eigentlich mit va% 'wehe'
synonym ist (daher auch va% §i a.). — 18 sä-§i %a f. pe samä:
'auf sein Konto, in Empfang nehmen'. — 21 fehlt lar: 'wieder'.
— 23 treaba: s. oben 4032. — 26 tot: 'genau' ist zu stark; t. un
heißt ohne besonderen Nachdruck 'derselbe' (eigentlich 'immer der
eine'), 'gleich', vgl. totodatä 'zugleich'. — 29 de jje capul mieü:
bezeichnet Entfernung aus der Lage pe c. m., letztere verstanden
im Sinne von 47 4 (vgl. auch G. Zt 116 unt, id. ni 114 8, MnT
270 unt), also — stilistisch trivialer — 'mir vom Halse weg'; ganz
analog stellt sich auch der andere mir bekannte Fall Cr 190 23
i^a-l de pe c. m.).^ — 30 mcä {ma duc): 'siehe', '(ich gehe) da'.
— 31 dupä mine: mit Rücksicht auf die Situation nicht 'hinter mir
her', sondern '(komme dann) mir nach'. — ferice ... va fi\ 'wird
dir wohl sein' (gleich subjektlos, vgl. z.B. Cr 16 19). — Seite 52.
3 in tncurcalä: 'diese' ist da zuviel. — 5 fehlt 7nat: 'noch weiter'.
— Ebenda tulhiirat: 'erregt, innerlich bewegt' (vgl. Cr 45 6, 100 19,
115 23, 245 22, Negr. 444, 58 12, Beld. Ch. 106 10, Vlah. Nuv. 175 4).
— 16 fehlt §i: 'selbst'. — 26 fehlt odaiä: 'sofort'. — 33 ovüit
§i sarbäd: 'matt und blaß'. — Seite 53. 10 fehlt stäi: 'halte an,
warte doch'. — 13 f. unde se bat tniintn usw.: s. weiter unter
Z. ?A t — 21 pe sus ... pe jos: instruktiv AI. 486 {pe Jos 'in
geringer Höhe'). — 23 fehlt (das erste) mai: Komparativ! — 24 f.
de seodihjieaü usw.: 'und die B. auf e. einzigen A. ruhten';
W.s Übersetzung — mit dem präsentischen 'zu ruhen scheinen (!)'
— sieht ganz wie eine allgemein gemeinte Beobachtung über die
'Mittagsruhe der Natur' aus; dahingegen handelt es sich ganz offen-
kundig (auch schon Z. 13 f.) um die auch sonst (z. B. Ispir. Leg. 126 f.,
Sb. 26 12, 56 12, 6435, 101 28) den Zugang zum Lebenswasser u.dgl. be-
wachenden 'Symplegaden'. — 25 se i'epede: 'stürzt sich dazwischen'
(nicht 'darauf'). — 29 0 m:. 'tritt ihr entgegen', frz. aborder (mit
Angabe der Behandlung: cu binele, cu bini§orul Cr 7 26, 562,11,
59 25, cu räul Cr 56 10, ck mägulele auch Cr 74 19), eigentlich 'her-
1 Dahingegen verdient wohl die Angabe Phil. SL. 84 (!:; 15 des III. Kap.),
es hieße 'um Gottes willen' (etwa analog zum franz. beteuernden par mon
chefl), mit Rücksicht auf die Umstände, unter denen sie gemacht wurde (in
Polemik, also vielleicht improvisierend, in gewisser Hinsicht unter Suggestion
der widersprochcnen Meinung), keinen unbedingten Glauben.
Zur Interpretation von I. Creangä's Harap Alb 203
nehmen, packen'. — 30 adä: verdiente besondere Anmerkung als
Imperativ zu da (desgleichen noch Cr 46 2, 87 5), vgl. DAc. I/l 49b;
wohl scheint es auf solche Fälle beschränkt zu sein, wo eine gebende
Bewegung, ein 'Hergeben' vorliegt. — 33 fehlt hai: Vohlan'.
— 33 f. nu mal sta la indoialä: 'zögere doch nicht'. — 34 are
sä fie bine: 'es wird wohl stehen (um usw.)' — nämlich deutlich
subjektlos (ganz wie vai usw. 87, 15 32) Tiktin I 188b sub r}. —
Seite 54. 1 stäptnä ta: reiht sich bezüglich des artikellosen Ver-
haltens den Gr § 38 Anm. 1 angegebenen Fällen an. — 3 n'are
sä fie bine; s. oben 53 34. — 6 cu hapca: nur 'mit Gewalt' (Sez.
V 97, Sad. Instig. 103 le, 104 22). — 8 s'a umplut {de b.): 'erfüllte
sich (mit Fr.)'. — 9 ce-fi ie bunä? Subjekt ist tm'tiaica; es ist
nicht notwendig, bunä, das sonst allerdings mehrfach neutral ge-
braucht wird (vgl. Tiktin I 240 sub IIb), auf ein 'es' zu beziehen;
gleiche Redensart Cr 9 24, 41 21. — 10 alei: besser '0 weh', vgl.
Phil. SL 49 (§ 55). — Ebenda ce-mz ie.ftt: vgl. die Anm. 1425.
— vtndut: 'verraten'; vinde ist der eigentliche Terminus für den
Begriff (vgl. madj. el-ärulni), für den sich träda als Neologismus
eingebürgert hat: vgl. Negr. 17 25, 31, 3633, 408, 109 29, Ispir. Leg.
2142, Sad. Instig'. 139i2, id. Ist. 20922, G. Zt 151 V. 14; in einer
Kriegskorrespondenz des arader 'Romänul' vom 12/25. September
1914: Foc a face ie oprit, cäci ... focul ne ar vinde ascunsul
nostru. — 20 fehlt §i tel: 'ebenfalls'. — 23 ctt: besser 'wie
lange'. — 25 näxdrävanul: s. oben 39 33. — 27 fehlt cän: 'denn'.
— 27 f. prinde bine la ceva: genauer 'kommt für etwas zustatten,
ist zu etwas gut', vgl. 10 15. — 30 m: s. oben 20 15. — 33 ctt
mai merg; s. oben 11 2. — Seite 55. 2 vi?iä 'ncoace: 'Anmut'
(z. B. Ispir. U. Sf. 91 unten Afi^odiia 0 tmpresurä de nuri §i de
vino'ncoace; 118 le avea ... §i pe vmo'ncoa; Volkslied bei G. II
141: Nici-o V. n'are). — 5 mar. s. oben 13 9. — 7 intü: An-
fänger, die das Wort z. B, nur nach Gr 89 kennen (wo d'intttü
zu streichen sein wird: aus de in- wird diu- über de'fi), werden
sich mit der Form nicht zu helfen wissen ; vgl, Tiktin I 69 b. —
9 fehlt mai: '(sonst) noch', la noi: 'bei uns'. — 12 nu-i vorbä:
besser etwa 'allerdings'. — 14 fehlt poate: 'vielleicht'. — 15 mai:
'fast'; venea: 'mochte' — 18 mai §tiü ieü: vgl. oben 48 30. — 27
dinainte s'ar päxi: s. Kap. IL — 30 cä vine .^i (fehlt) H. A.:
*daß auch H.A. kommt' ('kommt' = 'ist untferwegs'); vgl. drumul
0 fi fost . . . lu?ig .^i ostenidos si de cind vine, 0 ß fläminxit
MnR86 9. — Seite 56. 1 icnea: richtiger (vgl. die Anm.) 'schnaubte'.
— 2 numai: 'nur'; 'noch' ist zuviel (entspräche richtig einem nu se
mai g. decit la r.). — 4 ^i iei: 'auch sie'. — IQ de ceea ce usw.:
'über dem, was'. — 21 fehlt indatä: 'sofort', §i iel: 'gleichfalls'. —
25 dtndu-i drumul: 'läßt ihn los'. — Ebenda fehlt de acolo: 'von
dort'. — 34 miilt .s* bine: formelhaft (also nicht h. 'tief'), vgl. G. LH
14*
204 Zur Interpretation von T. Creangä's Harap Alb
152 21 ar fl diis ?n. si b. dorrd ademenitidui und den Beleg bei
Tiktin I 187 b Z 14 ('so viel, als man mag'). — Seite 57. 2 fehlt
mj-: 'wieder' (mit Rücksicht auf 15 11-13). — 5 totodatä\ 'zugleich'.
— 6 §i apoi da Doamne bine: 'und nun ging es los' (vgl. den
Beleg bei Tiktin II 499b oben, auch I 188a sub 7a, Cr 0 29, Adam
212ii, ferner MnT 18 12, 208 2, 346 23; sä dea Dumnexeü bine
G. Zt. 40 4, id. Pm 61 11, 207 12). — 8 le: 'ihnen zu'. — 13 in samä
bägafi: 'geachtete'. — 14 buximar: 'Tasche' ('Beutel' = pungä).
Kap. II: Zu Weigands 'Anmerkungen'.
li: Zwischen {d)xice cd und ci-cä muß man, wenn auch der
Stamm gic- belegt ist, nicht unbedingt gice-cä postulieren; auch
genügt es, die ursprüngliche Formel mit einfachem xice statt des
reflexiven anzusetzen, vgl. oben unter 37 13 (persönliches ci-cä 30 u).
— I9: Nach der Auffassung des DAc. I/l 283b 12 wäre «.?« nicht
zurückweisend-konklusiv, sondern korrelativ mit de\ leni tmpi'eju-
rarea: 'es traf sich (so)', wörtlich 'die Umstände entwickelten sich
(so)', vgl. oben 3829. — 1 20: la ist hier nicht = 'schau' (wie etwa 4?,
vgl. oben!), sondern allgemeines Adhortativum, = 'wohlan, nun, . . .
doch', eventuell gar nicht zu übersetzen; ähnlich bei Jussiv 1. Sing.
48 32, Plur. 24 13, 31 25, 4.5 34, 47 1.3, noch öfter ebenso bei Imperativ,
z. B. 4121,26 (cf. Tiktin II 746 a sub 2"). Ebenso bulgarisch, z. b!
A. Konstantinov, Baj Ganju (ed. Weigand, Leipzig 1908) 1628,29,
253,5,9. Vorbä: 'Rede'. — 2i: .^i ist hier ebensogut 'addierend' wie
etwa in der Wortgruppe impäraiid Verde, fraie-m. si m. v., nur
gehört naturgemäß — wohl auch im Rumänischen — dieser Typus
der Verknüpfung mehr in Apposition und Prädikat (ebenso
Sb 137 39 Sofia mea §i sora ta). Eine 'explikative' Verwendung
in der Bedeutung 'nämlich' gibt es schlechtweg nicht; über die Anm.
22 23 vgl. unten — 2 24 : Man merke wohl, daß ctt pe ce durch die
Übersetzung 'wie viel ... daran' nicht aufgeklärt ist; pe ce heißt
ja gar nicht 'daran' (auch nicht 'zu dem', Anm. 20 1)^; im übrigen
würde tera, wenn es ausgedrückt wäre, entweder vor dt (so Cr 755,
84?) oder nach ce (so 9 2, 25 32, Cr 35 22, 135 le, 142 24) stehen.
— 35: vtrit: 'hineingesteckt' ('gezogen' = tirit\). — 3 8 1. (le). —
3 14: Für mila Domnuhu machen sonstige Belege aus Cr (neben
95? sowie 348 15 namentlich 394?, auch MnT 165 12) die Bedeutung
'Gott sei Dank' wahrscheinlich, wo der Kontext jedesmal von Über-
fluß, Ausreichen, Wohlergehen spricht; Bedeutungswandel wie bei ■
franz. merci (Dieu). — 3 20: täta 'abschneiden', refl. 'gewaltsam, vor-
zeitig zu Ende kommen'; es soll nicht an Kreuzweg gedacht werden;,'
I
' Statt cit pe ce ist auch {cit) p'aci üblich (z. B. G. II 81 3, Car. Mom. 247 80,
26198,4047).
^ Zur Interpretation von I. Creangä's Harap Alb 205
F vgl. a ie§it hattet de eint clela m. d. c. si i-a täiat drumul Im coate-
goale, Caragiale, 0 noapte furtun. I 1 (gegen Ende). — 4i6: 'denn'
ist verschiieben statt 'daß'; — bezüglich mai vgl. Kap. I unter 145. —
4i7: 'Eschlein' heißt — von der Ähnlichkeit der Blätter — der Dip-
tam ('fraxinella' auch mehrfach bei den Botanikern des Westens). —
421(24): soll natürlich nicht verstanden werden, daß r ä. xboiü ^Kr'ieg'
an sich modern wäre, sondern die Umdeutung nur speziell in dem
Sprichwort. — Über 7 2 sctr^ha, 7 13 se'ngädide vgl. Kap. I. —
8 7 f.: Hierher gehörte die Anm. über jmcatul 21 31; are sä fe ist
eine auch sonst (z. B. 6 6, 11 f., 53 34) geläufige Futurform, das
Ganze aber nicht so sehr als Verwünschung wie vielmehr als
Drohung gemeint, deren Ausführung der Sprechende auf sich
nimmt. — 8 20 : pedesirii ist tatsächlich altrumänisch (möglicherweise
also dialektischer Archaismus?). — -,9 10, 13: in Z. 10 liegt Dativ vor.
Uli: W. selbst setzt in der Übersetzung 'von klein auf hinzu
(vgl. m'am trexit de mic Sblöl 4); tatsächlich wn'rd a se trexi der Sinn
von 'Bewußtsein erlangen, als Kind aufwachsen' zugrunde liegen, es
ist hier nicht (wie 3 22) einfach mit a se pomeni 52 s synonym, vgl.
G. III 2920 De cum m'am trexit ('soweit meine Erinnerungen zurück-
reichen'); EG. 21 3: S'a tr. in cmnpiile tntüise usw. = 'Er wurde ge-
boren''; Mor. 79 15 gol .fi särac cum se trexise pe liimea asta\ MnT23l2
ni§te pästori simpli carii de cum s'aü trexit, tot pe liyigä vite
an petrecut 'von Geburt auf (im übrigen auch pomem in diesem
Sinne: Se pomenise la moarä, crescuse la moarxt usw. Slav. P. 35 13
— acht Zeilen vorher: lel se trexise la moara lui B., unde-l läsase
maicä-sa). — 11 is säü: genau 'Talg' {^Fqü'' = gräsime). — 124:
räü {cu^, /am-) ist wohl neutral. — 13 4: Ein Beleg wie tn'arn
tngrijat .fam dus vergile hn bietid iiärinte 0., c'o da de suguhinä
Vlah. III 63 2 f. lehrt mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, daß
duc 1. Sing, sein muß; die Bedeutung der Eedensart gibt Zanne
(von dem sonst die W.sche Anm. inspiriert scheint) I No. 1226 mit
*a-i purta grija' an, was zu unseren Belegen bestens paßt (Dame
s. V. vargä übersetzt 'je te plains'). — 14 13 : Der Bedeutung 'un-
erfahren' wird 'Gänschen, Entlein' (so 30 2) zugrunde liegen. —
15 32 : zu are sä fie vgl. oben unter 8 7 f. — 16 19 : wörtlich 'was
mir widerfahi-en ist'. — 17 19: Die vernunftmäßige Erklärung des
Ausdrucks pmtra seacä erübrigt sioh durch Vergleichung der Stelle
; MnT 336 8 sä-l caute pretutindem, de ar fi [bärbatu-säü] chiar ^i
\ 'n pmt7-ä[\] seacä. — 18 5: inainte nach de mit Zeitbestimmung heißt
j 'weiterhin' (richtig übersetzt 1433, 15 14). — 19 17: Daß das Verhältnis
der beiden cum-^'ö.izQ zueinander als parataktisch zu denken sei,
glaube ich nicht, der erste wird vielmehr dem andern untergeordnet
(temporal) sein; gleichgeartete Fälle belegt Tiktin I 324b sub 4,
[ vgl. noch Sad. Ist. 152 9, id. Morm. 10 21 f., 244 19, id. La noi 58 is,
! 188 17 f., id. P. s. 62 1.-,. - - 20 1: genügte auf Anm. 224 hinzuweisen.
206 Zur Interpretation von I. Creangä's Harap Alb
21 22 : direkt 'ärgere dich nicht' (Jussiv nach Gr 114 f.). — 22 5 f.:
tot 'doch'; der Smn ist sonst: errettet mich mein Stern diesmal, wo
alles auf mein Verderben zusammenzuspielen scheint, nachher wäre
ich betreffs meines weiteren Lebens {xile, in Gegensatz zu Tod, vgl.
Kap. I unter 31 5) desto mehr beruhigt, als ich eben darin ein Zeichen
besonderer Fürsorge des Schicksals erblicken müßte. — 22 8: Ich
glaube nicht, daß wir Anlaß (und Recht) hätten, in die stehende
Redensart curg gtrlä einen Nebensinn (vom Vergehen des Stro-
mes) hineinzulegen, der ihr sonst nicht zukommt; es soll wohl tat-
sächlich nur das massenhafte Heranströmen (vgl. Cr 235 15, Beld.
MM 28 21 f., Sad. Dur. 21 19, G. III 210 22 Rimele u c. g., Mor.
90 19; gleichbedeutend c. fuior Mor. 80 17) der Unbilden ausgedrückt
werden. Daß dieser in Wirklichkeit nicht erfreuliche Gedanke an
Stelle und in der Form einer Beruhigung (wie etwa: 'dann wird
alles gut enden') vorgebracht wird,i ist wieder als Ironie zu verstehen
(vgl. im I. Kap. dar 23 24); übrigens dürfte der ganze Spruch von
capul ab der Volksüberlieferung angehören, vgl. Adam 76 12 f., G. Zt
2404 f., Mor. 23 1 (Zanne kann ich nicht mehr einsehen). — 22 13:
Für face pe obrax liefert mir H. T. Pamfile das Beispiel: Mä cleve-
te§ti? Am sä fi-o fac pe 0. {am sä te clevetesc §i leü de 0 pildä)
— und paraphrasiert unsere Stelle mit i-a§ /? fäcut dupä obraxul
lui ('gemäß, entsprechend seinem Gesichte, Gebaren'); eine ähnhche
Bedeutung nimmt auch Tiktin an, da er (II 1073 a) die Stelle 4228
übersetzt 'wie ihr's verdient'; um 'Heimzahlung' handelt es sich
auch in den Belegen Cr 156 5, 166 4. — 22 23: Über das 'expli-
kative' §i vgl. das oben zur Anm. 2 1 Bemerkte; diesmal heißt es
'auch', während das eigentlich Eigentümhche in der Vorausnahme
des Subjekts mittels ule besteht, die natürlich von .^i unabhängig
ist.2 Die Bedeutung der Ausdrucksweise gibt Tiktin s. v. el (3) —
für die meisten Fälle passend — mit 'schon' an; insgemein er-
scheint das Prädikatsverb lebhaft hervorgehoben; weitere Belege:
2623, 3827, 44i7, 46 1, 47 12, mit präsentischem Vb. 267, 548, Cr 37 13,
81 27, 94 14, 264 9, 269 12, 395 8, bei Präteritum HA 40 i4, Cr 264 11,
272 23, bei Gerundium Cr 229 20. — 233: Cr 184 28 erscheinen
mehrere luceferi zugleich (in einem gewissen Gegensatz zu den
stele) an demselben Abendhimmel, ähnlich in Eminescus IV. Satire,
V. 75; es handelt sich etwa um andere Planeten, wohl aucli Fixsterne,
die zeitweilig zugleich mit der Venus sichtbar werden bzw. bleiben.
— 23 17: Über 'uämhch' als angebliche Bedeutung von §i (die hier
übrigens schlechtweg nichts erklären könnte) vgl. wieder das zur
Anm. 2i Bemerkte. Die hl. Sonntag drückt mit vai de mine ('um
Gottes willen'; vgl. Sad. Morm. 182 19, Isph\ Leg. 85 22) nur ihren-
1 In stilist-grammat. Hinsicht vgl. 3 15.
2 Die falsche Formulierung schon auch Gr 175 Anm. 2.
Zur Interpretation von T. Crt-angä's Harap Alb 207
eigenen Affekt unmittelbar aus, will nicht — was eigentlich erst
'Spott' wäre — die Seufzer Harap Albs parodieren. — 30 i6.
Tiktin s. v. versteht jmngä als Vokativ (tatsächlich müßte man als
Objekt — zu einem fehlenden scoate o. dgl. — die artikulierte
Form erwarten). Der Sinn, in dem das Sprichwort hier steht, wird
dadurch immer noch nicht klar. Nach Zanne V No. 12604 hat es
neben anderen auch die Bedeutung: Fa singur daca po^T; das hieße:
Möge es der Bartlose nur selbst versuchen! Mit Eücksicht auf
den Nachdruck, mit dem Harap Alb die "Worte de unde .^tii aus
Z. 8 wörtlich zitiert (augenblicklich bildet denn auch dieses 'Wissen'
seine nächste Sorge), läge es nahe, das Sprichwort mit spezieller
Beziehung auf dieselben zu deuten, etwa so: Die Zumutung, ich
solle wissen, wo die Prinzessin zu suchen sei, erinnert an die lächer-
hch empörende Klausel, mit der an den gewissen Pungä (unter
diesem Namen wird wohl sonst — worauf es aber hier nicht an-
kommt — der personifizierte Geldbeutel, der Mensch nach seiner
Zahlungsfähigkeit verstanden werden) die Einladung zu Tische er-
gangen war: dacä p-ai a. de-a.: wie hier Sache des Gastgebers,
so wäre es dort diejenige des Bartlosen, die erste Voraussetzung
seiner Einladung (das Mahl) bzw. seines Auftrages (Kenntnis der
Adresse) selbst zu schaffen, ich bin es ebensowenig wie der Pungä
imstande.!
31 7 fä: 'gebäre' (der eigentliche Ausdruck für den Begriff). —
323: Parömiologische Metaphern sind auf konkrete Fälle nur ihrem
Gesamtinhalt, nicht ihren Einzelheiten nach anzuwenden; so kommt
es hier nicht darauf an, Harap Alb dem Teufel gleich, sein Pferd
aber als ein Höllenwerk hinzustellen, sondern einzig auf das Zu-
sammentreffen einer konzentrierten Anstrengung [cetatea, Intrigen
des Bartlosen) und besonderer Verwicklungen [räxboiul dracuhd),
die ihr entgegentreten. Was W. weiter zwischen Klammern an-
führt, ist in dem Sprichwort auch nicht angedeutet. — 32 it: cela
ist (auch schon nach der Übersetzung!) nicht einfach synonym mit
acel, vgl. Tiktin I 9:i sub 4 (und zu Gr 75 Anm. 2 die Korrektur
bei Phil. SL 49. § 59!); ceea liime Cr 210 1, cela rind 201 ii. —
3432: Wie die Übersetzung 7 it beweist, kann 'es scheint' auch ent-
sprechen, da ja alle diese Ausdrücke verblaßt sind; sonst bezeichnet
]^e semne einen motivierten Anschein, iiafcd ein individuelles Dün-
ken; es gibt Fälle, wo sich beides berührt. — 8621: Die Verwen-
' Ein Korrespondent, dem ich auf dem Gebiete der Creangä-Intcrpretation
besondere Autorität beilegen mußte, hatte die Stelle folgendermaßen ver-
standen: 'Pofthn etc. — erheiternd, (/acä etc. — betrübend; da sich Harap
Alb, aus einer Gefahr errettet, wie über eine Einladung freute, hop! wirft
ihn des Bartlosen neuer Auftrag in Trauer zurück, gerade als ob ihm gesagt
würde: Dacä etc.' Ich führe diese Interpretation, die durch den Satz Z. 23 f.
suggeriert sein wird, nur als Dokument an.
208 Zur Interpretation von I. Creangä's Harap Alb
duug des Ausdrucks bof. erinnert an b. cu ochi Cr 56 is, 57 7, die
Figur b. chüimbot an leü-paraleü (HA 51 is), fät-logofät (Ispir.
Leg. 62 17, Tiktin II 611a, DAc. II/l 74b sub 3), an mär-didumär
Sb 30 12, lenDie-odolemne ibd. 320 22, auch in BTr XVI^ Rätsel 47
[Dreschflegel] und 49 [Leiter], {purcel) lins prelins Sb 26 10, {mrea-
nä) alba codalbä ('weiß geschwänzt') ibd. 118 14; die angenommene
Herleitung von madj. kiilön wäre aber erst durch den Nachweis
ungarischer Zusammensetzungen gleicher Art zu stützen, die zu
fehlen scheinen (an rumänisch chilin < külön läßt sich wohl
nicht anknüpfen); botit: 'zusammengekauert, geknüllt'. — 36 26:
Tiktin II 662b übersetzt 'nie und nimmer' ('ja, Kuchen'); zur Er-
klärung vgl. auch Zanne VI No. 13809 (13654, 13937: adicä de
unde nu-i); bei Adam 127 9: Ai fost tu la Plevina, mm präpä-
ditule? — dhi gard. — 889: Ob giird, das wohl die Bedeutung
'Schreien, Geschrei' u. ä. (s. Tiktin s.v. sub 4°, Cr 259 14) anzu-
nehmen pflegt, auch (wie etwa madj. ajak) 'Sprechweise, Sprache'
heißen könne, wäre erst zu erweisen. Daß Schlangen in großer
Dürre schreien, mag vielleicht im Volke geglaubt werden; die An-
gabe ^;^ gura broa^tei wäre eine Anspielung auf die Redensart (z. B.
Adam 1211 f.) a fipa {striga) ca broasca in gura §arpelui, und
zwar scherzhafte Umkehrung wie z. B. Cr 140 2 (die 'Emendation'
bei Zanne I No. 1365 ist natürlich ein Irrtum). — 40 7 de nu i-ar
muri Tnid^i inainie: wörtlich 'mögen nicht viele vor ihm sterben',
sondern er vor anderen, d. h. ehestens (wie weiter spezifiziert wird);
ein volkstümlicher Scherz, den Creangä noch sonst anbringt: Cr
133 19, 13630. — 40 29 ac de cojoc: eigentlich wohl 'das jeweil
Passende, das richtige Mittel'; vgl. G. H 67 4 am wü ac de c._,fi
pentru aceasta! Mor. 91 unt. am wü ac de cojocul tau; am
ieü ac de c. lor [sc. al ^oarecilor] . . . ^i sloboxl mifa priu casä
Mold. in BTr XXX 611; «r fi gäsit tel ac pentru cojocul sätenilor
('hätte sich mit ihnen zu helfen, an ihnen zu rächen gewußt') Slav.
in BTr XXVIII 42.
41 30. Nu irebuie wird man gemäß den zwischen 'notwendig'
und 'zweckdienlich' obwaltenden begrifflichen Beziehungen = 'nutzt
(hilft) nichts' halten dürfen. (Von der Bedeutung 'von keinem
Nutzen sein' aus entwickelt sich auch die 'keinen Wert für jmd.
haben, nicht lieb sein', s. J-B d. 75 2, 99 5, 5106, s. 218 8; ferner etwa
[von einem unglücklich Liebenden] Din inimä se 'nti-ista, Nimica
nu-i trebuia ['freute'], Nice bea nice minca Trimb. 2O3; de cumva
nu le ar trebui ['sie möchten'] femeie in fruntea fern, ie gata a
se cobort de pe tron de bunä voie Märg. in BTr XXXII 33 le;
dann auich: cä lei moarte 11 trebuie, dar pe altul ... ba ['eher den
Tod als einen andern zum Gemahl'] I. T. Mera in BTr XIX 19 10 [die
nämliche 2>e-Konstruktion ibd. 19 1: cä lei nu-i t. p>e altul\. — Tiga}>
de Laie hat nichts mit laiu 'schwarz' zu tun; laie Sbst. = 'Horde
Zur Interpretation von I. Creangä's Harap Alb 209
nomadisierender Zigeuner' (Tiktin). — 42 -i: ergänze 'von dir' (im
Text -p). — 47 27 : zu beachten, daß Creangä jjatima als de-Oh-
jekt nach vedea^ noch zweimal (Cr 81 8, 260 20) verwendet, sonst
aber kein anderes Wort, gleichsam als wäre die Konstruktion eben
nur mit diesem erstarrt; oder ließe sich möglicherweise eine eventuell
individuelle Reminiszenz aus religiöser Lektüre annehmen? — 488:
nicht nur wie ein Adj. behandelt, sondern auch in adjektivischer
(prädik.) Funktion [area 'hielt', vgl. 52 7 'trug'), speziell in diesem
einen Ausdrucke noch Cr 149?, 210 i», 255 17; ähnlich au . . . adu-
nap 600 de lei Sad. Instig. 109 12, ... adunate citeva parale 1126.
— 48 14: entgegen der angedeuteten Herleitung von \bucatä aus
einem Vb. *buc ist erstens die -ATA-Bildung nicht spezifisch ru-
mänisch, und auch das gem.-roman. BUCCATA setzt nicht not-
wendig ein BUCCARE voraus. — 4820: nu altceva (auch mi
altä) heißt schon geradezu 'förmlich, nur so' (Tiktin s.v. (dt I 2b:
geradezu, rein, völlig). — 4821 1. nepusä, allerdings auch cii ne-
prisa'n masä MnT 18 11, 22 23 {nepusä), 123 19, 187 12, Grig. P. r.
166 27. Die Bedeutung hier vielleicht am ehesten 'nolens volens'
wie Cr 212 6, 26821, MnR 4 5 Inffdcd cu n. 'n in. (auf Befehl,
nach einigem Weigern) räldarea in. spate (sonst 'mit Gewalt', 'rück-
sichtslos', vielleicht wohl auch 'plötzlich' MnT 187 12). — 49 13: in
erster Linie, weil es nicht übertragbar ist, vgl. Cr 110 28 f. mi fi-o
lua nime din spate usw.; MnT 294 14 cu nime nu putea sä im-
pärpascä, ibd. 305 17 nar fi piitut i. cu nime.
51 29: zu duceti-vä war auf Gr 113 (Anm. sub 4) hinzuweisen. —
55 16: acolea vielfach von gebürtigen Rumänen (auch Moldauern)
als Synonym mit acolo gedeutet (was es sonst auch ist, vgl. etwa
Sb. 7839 de-a särl cu fei pind in nouri .s^ de s'a isbi de acolea
Jos), wie ja der Sprach' selbst auch mit acolo tradiert wird (Mor.
22 5, G. II 8; V. Alecsandri Poesii pop. ale Romänilor 1866, 339:
Fttgf incolo ['weg']; an unserer Stelle OJ acole mit mold. e st. ea)\
daß es tatsächlich 'hier' bedeuten bzw. nächste Nähe angeben kann,
lehren Belege wie J-B. d. 400 Bibi, bade, de acolea (nahezu- 'Rühr'
mich nicht au!'); Sb 162 10 (beim Begegnen) cme te aü adus pe a.'i'
Gr. I. Alexandrescu in B 31 15 : In cerdac? D'apoi ce sä vedeti de a. ?
(während die Unterredung gerade in cerdac stattfindet, s. 30 le).
— 55 27 dinainte s'ar päzi: 'würde sich im voraus (cf. 5 17, 627)
in acht nehmen': dasselbe Sprichw^ort Cr 167 23 f. = Gr 163. —
56 12: 1. Impt.
' R. venea Dela stinä fite odafä Sä-?i nun vadä ('besuchen') de cd säv
tatä Si de mä-sa Trimb. 13 12.
Brunn. H. .Tarnik.
Kleinere Mitteilungen.
Tiecks Shakespeare-Buch: ein neuer Fund.
Ludwig Tiecks nie vollendetes Buch über Shakespeare, der
größte Plan und die kläglichste Enttäuschung seines Lebens,
reicht in seiner Konzeption in die früheste Zeit des Dichters
zurück, da er als Göttinger Student Friedrich Nicolai, den Buch-
händler und Freund Lessings, kennen lernte. Tieck hatte, wie
er fünfzig Jahre später berichtet, mit größtem Eifer Shakespeare
und die dramatische Dichtung seiner Zeit studiert, und das Er-
gebnis dieser Arbeiten erbot sich Nicolai, dessen Geschäft neue
Verlagsartikel dringend nötig hatte, zu verlegen. Im Jahre 1796
kündigt daher Tieck im Anhang zu seiner Bearbeitung des Sturms
sein Werk an, das erste jener langen Reihe von Ankündigungen,
die bis zuletzt unerfüllt blieben. Alles, was Köpke in den nach-
gelassenen Schriften veröffentlichen konnte, waren ein paar Ka-
pitel der Einleitung, einige ganz skizzenhafte Entwürfe, ein paar
Brief stellen und ein Stück aus einem alten undatierten Kommen-
tar: im ganzen 63 Druckseiten. Dies und ein Wust von Kollek-
taneen, Abschriften und zerstreuten Notizen auf der königlichen
Bibliothek in Berlin blieben die einzigen Zeugnisse von Tiecks
Arbeit.
Dieser Bestand kann nun in nicht unbeträchtlicher Weise er-
gänzt werden durch ein Manuskript in Tiecks Hand, das sich auf
der Berliner Stadtbibliothek befindet, und auf dessen Vorhanden-
sein Herr Max Herz in Berlin mich im Jahre 1914 aufmerksam
machte.
Der Shakespeare-Übersetzer Eschenburg hatte in seinem Er-
gänzungswerke 'Über Shakspeare' 1787 seine Unzulänglichkeit
dem großen Gegenstande gegenüber zugegeben und gesagt, um
Shakespeares Genie hinreichend darzustellen, 'wäre nun freylich
ein, bloß aus dem Gesichtspunkte des Geschmacks gefaßter, Kom-
mentar über alle seine Schauspiele und über deren einzelne Stellen
nöthig'. Der junge Tieck fühlte sich der Aufgabe gewachsen
und beschritt den gewiesenen Weg: die neu gefundene Hand-
schrift ist ein solcher Kommentar, auf 313 eng beschriebenen
Seiten Klein-8^ mit 19 Seiten Nachtrag. Das Ganze ist in einen
braunen Lederband gebunden. Die Datierung ergibt sich aus
mehreren Umständen. Ein Brief Tiecks an Bernhardi aus dem
Herbst 1793 fordert den Freund zu einem Briefwechsel über
Shakespeares Dramen in der Reihenfolge ihrer Entstehung auf.
Der Brief ist auf demselben Papier geschrieben wie der Kom-
mentar. Bei der Besprechung des Hamlet sind Tieck die Aus-
führungen Wilhelm Meisters noch nicht bekannt. Das Bruch-
Kleinere Mitteilungen 211
stück des Kommentars, das Köpke im Nachlaß vorfand, setzt er
in das Jahr 1795, und das wird als Grenze nach vorn anzu-
nehmen sein.
Die äußere Gestalt des Buches verrät schon, daß es kein von
Anfang an planmäßig angelegtes und konsequent durchgeführtes
Werk ist. Vielmehr zeigt die Zahl der den Bemerkungen zu-
grunde liegenden Texte, daß Tieck zu verschiedenen Zeiten, mehr
oder weniger unregelmäßig und wohl je nach Gelegenheit und
Laune an seine Arbeit ging. Von den 21 Stücken, die der Kom-
mentar bespricht, sind 12 nach der Ausgabe von Eschenburg,
4 nach dem Nachdruck dieser Ausgabe, die, von Prof. Eckert
herausgegeben, 1780 in Mannheim zu erscheinen begann, 4 nach
dem englischen Texte der Ausgabe von Steevens, die 1785 in
dritter Auflage erschienen war, während das letzte im Kom-
mentar nur bis zu einer Einleitung gediehen ist, aus der sich kein
Text feststellen läßt. Bei allen Stücken hatte Tieck die Steevens-
sche Ausgabe zur Hand. Das Moment, das die Gestalt des Kom-
mentars bestimmt zu haben scheint, ist die Anordnung der Stücke,
welche in chronologischer Reihe aufeinander folgen. Die Chrono-
logie ist die, welche Edmund Malone in einem Aufsatz aufgestellt
hatte, den Steevens im ersten Bande seiner Ausgabe von 1785 ab-
druckte, und der Eschenburg für einen gleichen Aufsatz im
Buche über Shakespeare als Quelle gedient hatt-e.^ Zweifelhafte
Stücke, darunter auch 'Titus Andronicus', die Malone in seiner
Tabelle mit aufgenommen hatte, zeichnet Eschenburg in seinem
Buche durch fetten Druck aus. Tieck hat sie in dem Kommentar
fortgelassen, so daß die von Tieck besprochenen Dramen in fol-
gender Reihenfolge stehen:
S. 1 Verlorene Liebesmüh. 84—106 Kichard II.
1_4 Heinrieh VT., 1. Teil. 106—1.33 Eichard III.
4—7 Heinrich VI., 2. Teil. 13.3—146 Heinrich IV., 1. Teil.
8 — 9 Heinrich VI., 3. Teil. 147 — 172 Der Kaufmann von Venedig.
9 — 11 Die beiden edlen Veroneser. 172 — 198 Ende gut. alles gut.
11—22 Ein Wintermärchen. 198—229 Heinrich IV.. 2. Teil.
22—27 Ein Sommernachtstraum. 229—267 Heinrich V.
27 — 44 Romeo und Julie. 267—292 Viel Lärm um nichts.
44 — 45 Die Irrungen. 292 — 312 Wie es Euch gefällt.
4.5 — 72 Hamlet. 313 Die lustigen Weiber von
72 — 84 König Johann. Windsor.
1—19 Nachträge.
Bei den ersten Stücken ist der Kommentar knapp gehalten
und beschränkt sich auf kurze Bemerkungen über Text und Cha-
raktere. 'Liebesmüh'. 'Heinrich VT.' und die 'Veroneser' sind so
* An Attempt to Ascertain tho Order in which the plavs attributed to
Shakspeare were written. Zuerst in Steevens' Ausgabe 1778: Eschenburg,
Über Shakspeare, S. 247.
212 Kleinere Mitteilungen
behandelt. Das 'Wintermärchen' und der 'Sommernachtstraum'
geben schon Anlaß zu weitläufigeren Anmerkungen, und von
'Romeo und Julia' ab sind alle Stücke ausführlich besprochen.
Nur die 'Irrungen' sind sehr knapp behandelt, während von den
'Lustigen Weibern' nur eine Einleitung da ist. Die ersten Stücke
werden ohne Plan kommentiert; bei den letzten ist eine bewußte
Einteilung der Besprechung nach Akten und Szenen bemerkbar,
und bei den 'Lustigen Weibern' deutet die Überschrift 'Ein-
leitung' auf eine beabsichtigte noch durchgreifendere Disposition
der folgenden Ausführungen hin. Diese im Laufe der Arbeit
wachsende formale Durchbildung scheint die zum Drucke not-
wendige nochmalige Umarbeitung des Ganzen anzukündigen.
Darauf deuten auch der unvermittelte Anfang der Handschrift
sowie die Bemerkungen im Nachtrag, die an verschiedenen Stel-
len dem Hauptteil eingefügt werden sollten.
Tieck beginnt meist mit einigen einleitenden Bemerkungen
über die Datierung des Stückes und seine Quellen. Die Cha-
raktere werden besprochen, so wie sie im Verlaufe der Handlung
erscheinen. Dazwischen folgen Bemerkungen philologischer und
ästhetischer Art, die zum Teil spontan, sehr oft aber durch die
Anmerkungen hervorgerufen sind, die Johnson und die übrigen
englischen Kommentatoren dem englischen Texte beigefügt
haben. Am Schluß erfolgt dann eine allgemeine Betrachtung und
ein Hinweis auf etwaige spätere Bearbeitungen oder Übersetzun-
gen des Stückes. Diese ISTormalform im Verfahren des Kom-
mentators wird aber häufig durchbrochen durch längere Exkurse
über theoretische Fragen und sonstige Gegenstände, welche der
Text oder die Anmerkungen anregen. Li diesen Exkursen sind
die Keime enthalten, aus denen wohl die Aufsätze hervorgehen
sollten, die Tieck im Anhang der 'Sturm'-Bearbeitung versprach.
So wird beim 'Wintermärchen' einiges über die Mischung des
Komischen und Ernsthaften im Schauspiel gesagt und eine
Theorie der Leidenschaften und besonders des Komischen ent-
Avickelt. 'Romeo und Julia' gibt den Anlaß, über Leidenschaft
und Charakterzeichnung in Haupt- und Nebenpersonen zu spre-
chen. Beim 'Hamlet' werden Wahnsinn und Verrücktheit defi-
niert. 'König Johann' veranlaßt einen Exkurs über das historische
Schauspiel und Ausführungen über das Verhältnis der Leiden-
schaft zum Charakter. 'Richard HT.' bietet Gelegenheit, sich
über Hlusion und die Darstellung von Bösewich t^ern im Drama
sowie über Weißes Trauerspiel auszulassen. In die Besprechung
des 'Kaufmanns von Venedig' ist eine Übersicht über die Ge-
schichte des Theaters in Europa und besonders in England sowie
ein Diskurs über die Einheiten eingeschaltet. Unter 'Ende gut.
alles gut' entwickelt Tieck seine eigene Ansicht über die chrono-
Kleinere Mitteilungen 213
logische Anordnung der Shakespeareschen Stücke, und schließ-
lich vergleicht er bei Gelegenheit von 'Wie es euch gefällt' die
moderne mit der alten englischen Komödie. Dabei ist es aber
immer bei kurzen Skizzen aus dem Stegreif geblieben, ohne daß
ein Thema konsequent durchgearbeitet wäre.
Tiecks kritischer Standpunkt ist bedingt durch die Forde-
rungen der lebendigen Bühne und beruht auf den Errungen-
schaften der 'Hamburgischen Dramaturgie'. Wenn man von der
großen Menge der philologischen Bemerkungen absieht, so kann
man Tiecks Unternehmen als eine Dramaturgie des Shakespeare
bezeichnen. Wo Lessing stehen blieb, wollte Tieck einsetzen.
Durch Lob und Tadel, manchmal mit unerschrockenster Offen-
heit vorgetragen, durch Vergleichen der Stücke untereinander
und mit den Dramen Goethes und Schillers, durch Kontrastierung
mit den Zugstücken der deutschen Bühne und nicht zuletzt durch
Herbeiziehen von Shakespeares Zeitgenossen werden die starken
und schwachen Seiten des großen Dramatikers hervorgehoben.
Daß dabei das Hauptgewicht auf das Technische gelegt ist, daß
die Illusion und die Mittel zur Wirkung auf das Publikum eine
große Rolle spielen, ist nicht zu verwundern, und Herdersche Er-
kenntnisse konnten da wenig Platz finden. Über die Ästhetik der
englischen Klassizistik war der junge Tieck zwar schon hinaus;
mit heftigem Spott weist er Johnsons Bemerkungen zornig zurück.
Daß aber an ihm selber noch Stücke seiner Berliner Schale haf-
ten, ist nicht zu verkennen. Immerhin, wie sein Buch iu der
Shakespeare-Philologie der erste selbständige deutsche Versuch
seiner Art darstellt und als solcher über die nur vermittelnde
Arbeit Eschenburgs ein gewaltiger Schritt vorwärts war, so zeigt
auch sein Streben über die Grenzen des Rationalismus hinaus,
daß auch er ein Erbe der Zukunft war.
H. Lüdeke.
An Proi. Frederic J. Carpenter, Barrington, Illinois.
Herr Kollege!
Als Ihnen das jüngste Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft
als einem Mitgliede ordnungsmäßig zuging, haben Sie es am 15. Sept. d. J.
nicht bloß zurückgewiesen, sondern brieflich dazu erklärt: 'Americans desire
HO further traffic with an unrepentant and unreconstructed Germany.'
Hat Ihnen der 'Friede' noch nicht klargemacht, welche Raub- und Er-
oberungssucht gegen Deutschland, das seit seiner Gründung den Frieden
Europas gehütet hatte, diesen Krieg herbeiführte? Im Namen der Freiheit
und Selbstbestimmung werden Millionen Deutsche ungefragt, 'wie Schafe'
— ich zitiere heilige Versicherungen Ihres Präsidenten — , unter Fremd-
herrschaft gezwungen. Und da sollen wir bereuen, daß wir uns wehrten?
Niedergerungen durch vier Fünftel der Welt, mußten wir sogar die
Handelsschiffe und Werftanlagen ausliefern, nach dem Waffenstillstand
214 Kleinere Mitteilungen
noch eine lange Hungerblockade nach der anderen aushalten, auf viele der
eigenen Bodenschätze verzichten und durch nie erhörte Finanzmaßregeln
auch die Zufuhr fremder Kohstoife verlieren. Wenn wir aber nach alledem
uns nicht augenblicklich rekonstruieren, so geben Sie uns einen Fußtritt.
Herr Kollege, das Kriegsglück hat gegen uns entschieden, aber wir sind
Männer, und wenn man uns im Unglück noch derart beleidigt, so
sprechen wir rückhaltlos!
Sie durften am wenigsten gegen Deutsche so losziehen. Als Sie vor sech-
zehn Jahren das Magdalenenspiel von Wager herausgaben, war Ihnen das
Unglück passiert, daß Ihnen ein paar hundert Verse verschlüpften. Ich hatte
vorher eine Abschrift des Originals im Britischen Museum genommen, fand
beim Nachlesen den Mangel heraus und hätte die Sache triumphierend an
die große Glocke hängen können. Statt dessen schrieb ich Ihnen im stillen
eine Karte, so daß Sie selbst durch einen Neudruck den Fehler ausbessern
konnten. Damals haben Sie nicht auf 'traffic' mit uns verzichtet. Herr
Kollege, Ihr Gedächtnis ist kurz.
Noch gibt es eine Geschichte, hoch über aller Weltmacht der Entente,
und vor ihrem Forum soll dieses Beispiel festgehalten werden, bis zu
welchem Grade ein Mann der Wissenschaft politische Leidenschaft in den
Tempelhain rein humaner Arbeit hereinstürmen läßt. 0 Saulus!
A. Brandl.
Byroniana III.
Der Yerfasser des Uriel.
Schon in meiner Dissertation ^ habe ich bemerkt, eine eingehende Ver-
gleichung des Uriel 2 mit Henry John Urquharts Poems Sacred and Classical^
habe es mir wahrscheinlich gemacht, daß Urquhart auch der Verfasser des
Uriel sei Leider ist meine Hoffnung, über Urquhart, der in den gewöhn-
lichen Nachschlagewerken nicht verzeichnet ist, außer den auf Seite 78 mei-
ner Dissertation angeführten Notizen noch weitere beibringen zu können,
unerfüllt geblieben, da noch vor dem Kriege mehrere Briefe an den Vikar
nach Fleet unbeantwortet geblieben sind und später durch den Krieg wei-
tere Nachforschungen auf englischem Boden unmöglich waren. Vielleicht ist
die Vermutung am Platze, daß Henry John Urquhart ein Bruder des be-
kannten Schriftstellers und Politikers David Urquhart ist. Der Zeit nach
wäre dies möglich: Henry John ist 1798 geboren, David 1805. Beide stu-
dierten ferner zu Oxford. Zudem trägt der Politiker den gleichen Vor-
namen, David, wie der Vater Henry Johns. Der gewiß nicht alltägliche
Vorname David ließe auf Verwandtschaft schließen.
1 Lord Byron im Spiegel der zeitgenössischen englischen Dichtung. Er-
langen 1915.
2 Uriel, a Poetical Address to Lord Byron, written on the continent:
With notes, containing strictures on the spirit of infidelity maintained in his
works. An examination into his assertion, that 'If Cain is blasphemous,
Paradise Lost is blasphemous'. And Several other Poems. London: Printed
for the author, By R. Clay, Devonshire Street, Bishopsgate; and sold by
Hatchard and Son, Piccadilly ; and Burton & Smith, Leadenhall Sü-eet. 1822.
3 London 1845,
Kleinere Mitteilungen 215
Nun vergleiche man folgende Gegenüberstellung:
Uriel. Poems sacred and classical,
Uriel. Urqwhart.
Lines written on Lord Byron,
in early youth, S. 123—126.
Beide haben die Gegenüberstellung:
What fiend could urge you on, what What Demon pronipts, — tvhat angei
muse ihe song begin? tunes thy laij?
S. 10, Str. XVIII, Z. 9. 's. 123, Z. 10.
Beiden ist die Erde ein Tränental, das Byron noch mehr verdüstert:
Has not vice played füll Jutvoc u-ith And, oh! if deep-sicorn hatred's dark
our b/iss? Crusade
S. 15, Str. XXIX, Z. 3. To little havoc of our peace has made.
S. 125, Z. 2.
Beide bezeichnen sich in ihrem Kampf gegen Byron als namenlose, un-
berühmte Jünglinge:
His [sc. the author's] name can add A nameless stripling deign to heed or
nothing . . etc. hear.
Preface, S. IX, X. S. 123, Z. 17.
Beide gebrauchen den beliebten Vergleich mit dem Kometen, und zwar nicht
wie alle übrigen als den der glänzenden Lichterscheinung, also in rühmendem
Sinne, sondern im Sinne eines unheimlichen, verderbenbringenden Elementes:
[The meteor] darted forth destructivr . . . meteor-fire froni Hell.
light. S. 124, Z. 18.
(S. 62, aus dem Gedicht The Star
of the Legion of Honour.) Vgl. über-
dies Uriel, S. 18, Str. XXXIV; S. 3,
Str. IV.
Beide bitten Byron, sein höhnisches Lächeln einen Augenblick zu lassen
und ihnen Aufmerksamkeit zu schenken:
Pause and exatnine-spurn not with Byron! one hour tvithout thy wither-
a sneer. ing sneer.
S. 5, Str. IX, Z. 5. S. 123, Z. 16.
Beide beklagen den Mangel seiner Vaterlandsliebe :
Wky is yovr muse thus dcad to pa- . . . drcad foe to Britain's injur'd isle.
triotic worthY S. 125, Z. 9.
Have you forsicotm ihe region of yoiir
hirth?
S. 9, Str. XVII.
Beide sind in ihrer Jugend und nur in dieser Verehrer Byrons:
/ rieued your early ynountings with To thee . . . though early lov'd and
deliyht. long.
S. 3, Str. V, Z. 7. S. 124, Z. 3.
Als Zeitpunkt dieser jugendlichen Schwärmerei für Byron lassen sich beide-
mal die Jahre kurz vor 1819 ausmitteln:
Der Verfasser des Uriel schreibt Urquhart schreibt seine Lines nach
seine Epistel 1822. Da er Byron be- 1819. Auch er hat sich um diese
kehren will, hat er sich von blinder Zeit bereits von Byron losgesagt. Da
Schwärmerei für B. sicher schon einige er 1798 geboren ist. hat sein Alter
'Jahre losgesagt. bei der Abfassung mindestens 21 Jahre
betragen (early youth).
216 Kleinere Mitteilungen
Bei beiden scheint Cain den Anlaß gegeben zu haben, daß ihr religiöses
Empfinden verletzt wurde:
Der Verfasser des üriel schreibt In Urquharts Lines lassen sich die
seine Epistel gegen Cain. Verse, die den Grund seiner Ent-
fremdung von Byron angeben, sehr
gut auf Cain deuten:
Our fetters loosen, irhen thy scornful
iine
Breathes gay derision on the ward
divine.
S. 126, Z. 5-6.
Bei beiden läßt sich aber noch nach dieser Entfremdung Interesse für Byrons
Poesie nachweisen, und zwar in der speziellen Form von Variationen
Byronscher Erzeugnisse :
Der Verfasser des Uriel dichtet im Vgl. folgendes bei Urquhart: From
gleichen Bande mit der Epistel Uriel the play of the Corsair, set to Music,
eine Variation, betitelt: The Star of S. 128; Variaiion of the Corsair,
the Legion of Honour, S. 61. Byrons S. 129; Extract from the Corsair,
gleichnamiges Gedicht s. Coleridge S. 132; Medora's Sony, S. 102.
III, 436.
Beide sind tiefreligiöse Gemüter. Ihr religiöses Empfinden und Denken ist in
allen Nuancen genau das gleiche. Beide loben Gott mit Vorliebe in Hymnen :
Morning and evening, in the Hymn on awaking, S. 34; Hymri
icatches of night, and in the revol- on going to bed, S. 33; Hymn,
ring hours of each succeeding day, let S. 79, 146. Vgl. auch die Prayers
him join all nnture in the hymn of S. 104, 121, 142, 144, 155, 158.
praise. Preface, S. VI. Vgl. auch
den zahlreichen Gebrauch der Worte
hyrmi und prayer.
Beide sind Verfasser von Dichtungen religiösen Charakters:
Vgl. die ofher poems. Vgl. die sac7-ed poems.
Auf den völlig gleichartigen Geist, wie er aus diesen Gedichten weht,
möchte ich besonders hinweisen. Ich kann denselben an dieser Stelle nicht
genauer analysieren; überdies wird nur die Lektüre der rein lyrischen Stim-
mungen, wie sie in den Gedichten zum Ausdruck kommen, einen absolut
überzeugenden Eindruck hinterlassen. Ich möchte hier nur die allerhäufig-
sten, immer wiederkehrenden Gedanken berühren.
Der Gedanke an das Weltgericht:
Vgl. z. B. : Summon him at his Th£ Lord icho saved ond sumnion'd
judg^nent bar t'appear, S. 19, Str. tJiee. S. 94.
XXXVII,Z.8. Vgl.S.39,Str.LXXVII, And ronseienee half forgets her Judge
6; S. 14, Str. XXVI, 9 und andere. on high.
S. 124, Z. 14.
Der Tod als Heimgang des Menschen:
Vgl. S. 15, XXIX, 9; S. 72, Z. 1; S. 237: Man goeth to his long home.
S. 70 und andere. S. 94: The courts of praise are noir
the home above und andere.
Beide besitzen eine ausgesprochene Vorliebe für das Alte Testament:
Vgl. die Zitate aus den Propheten Vgl.: The Prophet Bards of Qod dis-
des Alten Testaments, Preface, S. VI ; perse
desgl. die zahlreichen Stellen S. 109. Our dark idolatry of Byron's verst.
Vgl. die Strophen 39—41, 48—54. S. 126, Z. 7—8. Vgl. S. 237, 239, 170.
Kleinere Mitteilungen L>17
Bei beiden gipfelt diese Vorliebe im l'ropheten Isaias:
Isa/'ah's fiarp liad erhoed to tkt/ oirn eto. Our .spirif turns to rapt Isaiah' s iijre.
S. 40, Str. LX'XVIII. S. 126, Z. 9.
Vgl. die Zitate Preface, S. VI; Vffl. S. ISO.
S. 110. Vgl. überdies S. 59, 60, 61,
67, 68.
Beide behandeln dichterisch Themata aus der Leidensgeschichte Christi:
The CriH-ifixinn. S 63. On the nativity of Christ. S. 1.
Tli e Resurreciion of Christ. S. 48.
Weitere gemeinsame, oft wiederholte Gedanken sind: das Schuldbewußt-
sein des Sünders (Urquli. S. 19, 151 u. a., Uriel S. 63), die Heiterkeit und
Ruhe des iu Gott starken Chiisten, der Gedanke an den Tod, das Weltende;
das Ausklingeu ihrer Dichtungen auf Verzeihung, Erlösung. Beide sind auch
gute Kenner des Neuen Testaments, aber die Neigung zum Zitieren aus dem
Alten herrscht vor.
Beide gebrauchen dieselben Lieblings wörter:
Z. B. To i,i/d S. 40, Str. LXXIX, To qild S. 102, Z. 3; S. 125, Z. 3:
Z. 8; S. 7, Str. XIII, Z. S u. oftmals. S. 125, Z. 12.
Kl>enso: to f)Iaxc, melt, (/isprl, rrhnson. iritJier, Calrari/, Saviour. Chmih,
Eden. Strnph {sot/y, choir) (bis zur Ermüdung oft!).
Beide sind Verehrer der griechischen Antike:
Vgl. Strophe VI, S. 4. ^ Nach einer Notiz in The Geutle-
man's Magazine, Bd. LXXXIX, I,
S. 355 erhält Urquhart den Sir Roger
Newdigate's Prize für The Iphigenia
of Timanthes (abgedruckt S. 198).
Endlich scheint mir auch der Name Uriel (vgl. Miltons Poetical Works,
Globe edition, III. Buch; Buch Henoch, 20. Kapitel) eine versteckte An-
spielung auf den Namen Urquhart zu enthalten.
Die Annahme, daß Urquhart der Verfasser des Uriel ist, hat nach vor-
stehender Gegenüberstellung viel für sich ; ein absolut sicherer Beweis wäre
erbracht, wenn sich nachweisen ließe, daß Urquhart um 1822 auf dem Kon-
tinent weilte (vgl. die Bemerkung im Titel des Uriel: irritten on the con-
tincnt); dieser Nachweis war mir bisher ans äußeren Hindernissen nicht
möglich; indessen gewinnt er gerade durch die Vermutung, daß Henry John
ein Bruder des Politikers gewesen sei, sehr viel an Wahrscheinlichkeit, da
auch der Politiker wiederholt langausgedehntc Reisen auf den Kontinent
unternommen hat.
Fraukenthal. Fr. BadtM-.
Hiiracaii yon der Hell.
Im Viertzehenden Buch der rechten Historien vom Amadiß auß Frauck-
reich' (1590) wird im 11. Kapitel eins der in den Ritterbüchern üblichen
Abenteuer erzählt. Auf einer Insel sind Agesillan und Arlanges gegen-
über einer Übermacht von mehr als 40 Rittern und 6 Riesen in schwerste
Bedrängnis geraten, aus der sie aber durch die zufällige Notlandung der
Helden Florisel, Rogel, Falangis und Anaxartes befreit werden. Nachdem
die Ritter noch zwanzig bewaffnete Bauern getötet haben, wurden sie 'einer
alten Riesin / so zwey kleine junge Kinder vnter jhren Armen trüge / vnd
Archiv f. n. SpiacLen. Vi'i. ]5
218 Kleinere Mitteilungen
auü einem Saal gienge innen / Welche kein einig wort redet / sondern
bchrye vnd heulet jämmerlich / gienge demnach zu allerhöchst in das
Schloß / auf f einem Gange / vnd stürtzt sich selbsten herunter zu todt . . .'
Es wird des weiteren von diesen Riesenkindern erzählt: 'Vnd ob sie gleich-
wol noch keines Jahrs alt / wahren sie doch so groß / daß man jhnen wohl
zehen hette zurechen mögen. Diese Kinder nun befahlen sie einer Riesin /
so inn der Insel wäre / sie zu ernehren vnd zu aufferziehen. Es were aber
viel besser gewesen / sie hetten die getödt: Dann als sie zu jhren Tagen
kamen / vnd starck wurden / haben sie den Griechischen Printzen vnseglieh
viel schaden zugefügt . . .' ^
Diese unbestimmte Andeutung späterer Ereignisse hat dem Fortsetzer
Gelegenheit geboten, anzuknüpfen. Das ist geschehen im 22. Buche des
Amadis, im 18. und 19. Kapitel. Hier tauchen diese beiden Riesen auf der
Insel des Unglücks wieder auf, wohin der Herzog von Lancaster und der
Graf von Suffort, die nach Trapezunt wollen, verschlagen worden sind. Die
Ankömmlinge werden von den beiden Riesen als Kinder der Mörder ihrer
Eltern erkannt, es kommt zu Kämpfen, die ungefähr parallel zu denen in
Buch 14, Kap. 11 verlaufen: d. h. Erfolge der Gelandeten, schließlich Not
infolge Übermacht, unerwartete Landung von Waffengefährten, Sieg, Sturz
der überlebenden Riesinmutter in den Schloßgraben.^
Von Interesse ist der Name, den der eine der Riesen in diesem Aben-
teuer des 22. Buches hat: er heißt Huracan von der Hell, sein Bru-
der Dagobaradan. Die Jahreszahl, die das 22. Buch des Amadis trägt, ist
1594. Damit ist ein um mehrere Jahrzehnte älterer Beleg für das Bekannt-
werden des span. huracan in Deutschland gegeben als der bisher älteste,
aus Hofmannswaldau nachgewiesene.
Bevor der Name des Riesen genannt wird, berichtet der Anfang des
18. Kapitels folgendes von der Ausfahrt der beiden Helden, des 'Hertzogs
von Lancastre' und des 'G raffen von Suff ort': 'Nach dem / vnnd wie sie nun
von dem alten König Amadis erlaubuuß erlanget / vnnd nach abgelößten
Schiffen jhn das hohe Meer sich gelassen / hat es nicht lang angestanden /
daß ein solches vngestüm schrecklich gewitter sich erhaben / daß auch selber
jre Schiffpatrouen / Meerleut vnd Piloten / jhres lebens vnd aller wolfart
verzweiffeiten / vnd des gentzlichen vndergangs sich versahen / dan in
veder Segel / Mastbaum / rüder / noch regierung gantz geblieben / sondern
alles ward zurissen / zerbrochen / verführt vnd zu grund gericht / also daß
sie in die dritte wochen / ohne einige hoffnung zuentrinnen / auff solchem
wütenden Meer / nach des Winds vn der wasserwogen gefallen / sind hin
vnnd wider geworffen vnnd zerstreuet worden: biß auß souder Gottes
Schickung dz Schiff / dariüen der Hertzog von Lancastre vnd Graff vö Suf-
fort Vorhände / gleich mit de tag morges frühe / au einer lustige jnsel
(welche alsbaldt von den Schiffleuten / die jnsel des vnglücks / darinen der
grausamste Rieß vnnd Tyrann Huracan von der Hell / sampt sei-
nem Bruder Dagobaradan / herschete / zu sein / erkandt ward) eingelassen
vnd ankommen.' 3
Nun ist Unwetter und Sturm ein immer wieder gern angewendetes Mittel
im Ritterbuche, um die Handlung bequem mit unerwarteten — nur allzu
erwarteten! — Abenteuern anfüllen zu können. Gerade der Kapiteleingang
A. a. 0. p. 108 und 109. 2 a. a. 0. p. 899 ff. 3 a. a. O. p. 400 f.
Kleinere Mitteilungen 219
ist der Lieblingsplatz für eine Meerfahrt mit Hindernissen. Gleichwohl er-
scheint nach dieser ünwetterschilderung, die im 22. Buche jedenfalls die
ausführlichste ist und besonders heftige Einzelheiten ausmalt, das plötz-
liche Auftreten des Namens Huracan nicht zufällig, d. h. ohne Beziehung
auf das Vorhergehende. Der Autor kannte nicht nur das Wort, sondern
auch die damit bezeichnete Sache. An dieser Überzeugung darf auch die
Ähnlichkeit anderer ßiesennamen im gleichen Buche nicht irremachen, wie
Horruon (Kap. 10), Horradin (Kap. 42), Haramatan (Kap. 47), ebensowenig
die anklingenden Namen des Schlosses Huracker (Kap. 54) und des Grafen
Urquian (Kap. 7). Das in großer Menge benötigte Namenmaterial schaffen
sich die Verfasser der Amadisbücher — jedenfalls der letzten — , wenn
ihnen gerade keine klassische Eeminiszenz einfällt, fast so skrupellos wie
ein moderner Fabrikant, der lateinische oder griechische Wortstämme mit
den Endungen -ol, -in, -gen usw. versieht und seine Waren damit bezeichnet.
Natürlich werden auch im Amadis bedeutungsvolle Stammsilben ausgenutzt,
an welche dann stereotype Endungen treten. So gibt es (nach Gargantua
gebildet) Gargasan, Gargorox, (nach Uterpandragon) Bandragon, Dondra-
gon usw. In Horruon, Horradin steckt sicher der Stamm von honiaus.
Die Endung von Horradin erinnert an Konradin oder Saladin. Huracker
ist als Zusammensetzung ohne weiteres deutlich. Haramatan, Urquian wie
Dagobaradan und Safiraman mögen mit ihrer Endung weniger spanisch als
vielmehr orientalisch (persisch) erscheinen sollen, bei Dagobaradan (wie der
Bruder Huracans heißt) hat sicher der Name Dagobert, den die letzten
Amadisbücher einem der Prinzen gegeben haben, Pate gestanden. — Eine
derartige phantastische Neubildung, deren Zufallsergebnis Huracan ge-
wesen wäre, darf man dagegen nicht annehmen.
Vielmehr haben wir Huracan in jenen Kreis spanischer und amerikani-
scher Namen hineinzubeziehen, zu dem es gehört. Spanische und alte hi-
spanisierte Namenformen sind der Hi-imat des Amadisromaus entspiecliend
auch den letzten Büchern nie ganz fremd geworden, wenngleich 'klassische*
Namen, eventuell aus französischem Material hergestellte Namen antiken
oder spanischen Aussehens (Plaisantina), vorherrschen. Eine besondere
Gruppe bilden jene spanischen Namen, die sich auf amerikanische Verhält-
nisse oder auf die Zeit der Entdeckungen beziehen. Das 23. Buch verlegt
einen Teil der Abenteuer in die unbekannte India und handelt vom peruani-
schen König Artabaliba, von der Königin Zarzaparilla, von Guacanarillo,
von Cuscon. Auch das 22. Buch nennt Bermuda (Kap. 62) , den Herzog von
Panama (Kap. 46), ein Pferd aus Nicaragua (Kap. 49), und es taucht darin
ein Prinz Magellan (Kap. 53) auf, natürlich eine Erinnerung an den be-
rühmten Weltumsegier (f 1521). Eine genauere Sichtung des Namen-
materials ergibt vielleicht noch manches mehr.
Diesem spanisch-amerikanischen Namehschatz des E. B. D. J., der sich
allerdings bekanntlich nur als 'Übersetzer' des 22. und 23. Amadisbuches
ausgibt,! muß man den Namen Huracan zuschreiben. Man ist dazu be-
rechtigt, weil in den Berichten der Reisenden, wie es scheint, seit der Mitte
des 16. Jahrhunderts, das neue Wort auftritt: zuerst in Spanien (Oviedo,
Hist. de las Indias soll auf den karibischen Ursprung des Wortes hin-
! Über seine und die übereinstimmende Angabe des 24. Buches an an-
derem Orte bald Näheres.
15*
220 Ivleiuere Mitteilungen
weisen)/ seit 1555 als spauiscli-portiigiesische Vokabel bei eleu britisciieu
kSeemacütrivalen nachweisbar (Eden, Decades 21),- vielleicht gleichzeitig
auch bei den Franzosen gebraucht,^ nach der Mitte des 17. Jahrhunderts
erst bei den Holländern und in Deutschland zu belegen.* Ob der Ursprung
karibi-sch^ oder sonst ein anderer sei — jedenfalls gehört huracun dem Zeil-
alter der Entdeckungen an und damit dem überwiegend spanisch-portugiesi-
schen Kulturkreise jenes Zeitalters.
Der Name unseres Riesen aus dem 22. deutschen Amadisbuche heißt
vollständig: lluracan von der Hell." Wir müssen uns wieder in den
letzten Amadisbüchern umsehen, ob sich ähnliche Namen sonst darin finden.
Gelodan von Moldanien, Roldan von Paris, Noromit von Galinde sind an-
derer Art, ebenso die Pseudonyme: feuriger Ritter, grüner Ritter u. dgl.
Näher schon steht ein Riesenname wie Rustan der Starck (Buch 22, 47)
oder Sandix der schwartz (Buch 22, 48). Und ganz nahe stehen ihrem for-
malen Charakter nach: Florian von der Brücken und die bekannten Namen
Amanio und Hercules vom Gestirn. Immerhin liegt in der Benennung
Huracan von der Hell (also: von der Hölle) eine seltenere Prägungsart vor.
Willkür des Romanschreibers bleibt dabei nicht völlig
ausgeschlossen. Indessen mag recht wohl denkbar sein, daß die
Zeiten der Entdeckungen zuerst in größerem, eindrucksvollerem Umfang
den Schiffsmann die schweren Unwetter des Atlantischen Ozeans, insbeson-
dere etwa Wirbelstürme uud Wasserhosen, kennen und fürchten gelehrt
haben. Enger Vertrautheit mit Tier, Natur, Naturerscheinung u. dgl. ent-
springt leicht personifizierende, mythosartige Anschauung. Kurz und gut,
wenn Hatzfeld-Darmest., Dict. gen. als ältesten französischen Beleg: aus
dem 16. Jahrhundert 'Les haurachans? et borrasques du diable' (P. de Loyer
in Delboulle Rec.) anführt — eine Stelle, die ich leider so wenig wie die
späteren, kaum noch hergehörigen Zitate (uracan, uragan) selbst in ihrem
Zusammenhang kontrollieren konnte"^ — , wenn 1605 bei Shakespeare Im
King Lear III, 2, V. 2 'Rage, blow, You cataracts and Hyrricano's, sjxiut'"
' Vgl. Littr6 unter ouragan, wo die frz. Übersetzung (1556) zitiert ist.
Das span. Original ist zuerst 1526, dann 1535 u. ö. vermehrt und verändert
erschienen (nach Brunet, Manuel du Libraire t. IV, Paris 1863). — Das
Dicc. de la lengua cast. t. IV (1734) zitiert unter huracan nur den Herrera
(Hist. Ind. 2, lib. 6, cp. 13), der jünger ist.
■^ Vgl. Murray, N. E. Dict. V unter hvrricanc und hurrica/no.
3 Hatzf.-Darmest., Dict. G6n. gibt an: 'XVIe siöcle'.
^ De Vries en Kluyver, Wordenboek d. Nederl. Taal XI (1910) gibt für
orkaan' den ältesten "^ Beleg aus dem Jahre 1657. — Uhlenbecks Annahme
(Paul u. Braunes Beitr. 20, 41 ff.), Brandts 'Leven van de Ruyter' (1687)
schöpfe 'orkaan' aus Rocheforts 'Hist. nat. et mor. des Isles Antilles' (1658)
— die durch H. Bullaer t 1662 übrigens auch ins Niederl. übersetzt war — ,
verliert durch die älteren Belege bei De Vries en Kluyver einen Teil von
ihrem Werte.
5 Kolumbus entdeckte die Kariben auf seiner zweiten Reise, 1495.
6 Die frajizösische Ausgabe des 22. Amadisbuches (1615) bietet S. 281 ff.
diese Episode. Doch lautet der Name stets Huracan ohne Zusatz.
' Siehe ähnliche Formen fürs Englische bei Skeat, Et. Dict. (1910),
p. 282 und besonders bei Murray, N. E. D.
« DelbouUes Recueil ist — jedenfalls bis 1913 — noch nicht erschienen.
■' Quarte 1 und Q. 2 (1008): You catt^rickes, & H i r c a n i 0 s spout ...;
Kleinere Mitteihingen 221
lind lüOö iu Tioilus and Cressida V, 2, V. 172: 'Not tlie dreadfiil ^pout
■WTiich shipmen do t h c Hurricano call . . .' ' begegnet, und nun 1594 das
22. deiitsche Amadisbuch den Eiesen Huracan von der Hell bringt,
so könnte man nach diesen nördlichen Belegen der drei Länder urteilen, es
habe im ausgehenden 16. und im beginnenden 17. Jahrhundert bei weiteren
Kreisen und besonders bei den Amerikafahrern selbst die Neigung bestan-
den, sich den huracan wie einen teuflischen Meeresdämou, jedenfalls als
eine Ausgeburt der Hölle vorzustellen. Da ältere Beispiele (s. besonders
Belege bei Murray) das span. /i>n-a cm/ sachlich gebrauchen, mag in der Wen-
dung zu mehr persönlichem Gebrauch eine jüngere Entwicklung vorliegen,
die vielleicht spezifisch nordwesteuropäisch (britisch?) ist. 2 indem hier das
Wort deutlicher als im Iberoromanischen als fremdes gefühlt wurde und im
Verein damit die entsprechende Vorstellung als 'Unikum' stärkere sinnliche
Eigenschaften entfalten mochte. — Nicht lange danach begegnen freilich im
17. -Tahrh. derartige Belege für ein^ lobhafte Vorstellungsweise nicht mehr.
Als dann von neuem und mit größerem Erfolg als durch den Amadis
der ///irar-ou = 'Orkan' über das Niederländische in die deutsche Sprache
dringt-, liegt, wenn man dem Fingerzeig des Grimmschen Wörterbuches
folgt, eine solche lebendigere, personifizierende Anschauung beim Gebrauch
des Wortes ebenfalls anfänglich weniger vor als in einer späteren Zeit, in
der größere, neuer Mythenbildung fähige Dichter, namentlich Jean Paul
und Lenau, es in einer Weise zu verwenden verstehen, als handle es sich
um eine Erscheinung, die sich das Volk fast so leibhaftig vorstelle wie die
Fata Morgana oder die Mesnie Hellequin. Man könnte ähnlich an eine
besondere Leistung Shakespeares denken (zumal da er gegenüber sonstigem
Gebrauch des Wortes — wie auch Drayton an einer Stelle — bei Imrru-inin
die Wasserhose und nicht den Wirbelsturm an sich im Sinne hat. Aber er
beruft sich auf die shipmen. Vielleicht würde auch das nicht allzu schwer
wiegen, böte nicht in den beiden anderen angeführten Belegen der gleichen
Zeit der Anschluß an den kirchlichen Vorstellungskreis (Hölle, diablel
mehr Gewähr für eine verbreitete Anschauung. — Etwas Derartiges fehlt
der reinliterarischen Entwicklung des deutschen 'Orkan' durchaus. — Für
eine volkstümlich verbreitete Anschauung ist eine weitere Stütze die bei
aller Phantastik doch recht geringe Orginalität des Verfassers des 22. Ama-
disbuches. der schwerlich anders als unter dem Eindruck irgendeiner ihm
von außen her zugekommenen Vorstellung gerade für den Biesen Huracan
und sonst keinen anderen den Zusatz 'von der Hell''' gewählt hat.
Halle n.d. S. W. M u 1 e rt t.
,Q. 3: Hercantos; Folio 1: Hyrricano's; F. 2— 4: Hurricano 's.
— The Cambr. Shakesp. VIII, p. 97 (1895) und sonstige moderne Ausgaben
schreiben h u r r i c a n o e s.
' Erstes Quarto (1609): Wich Shipmen do the hurricano call ...
- Die deut.sche Form Htirnrnn} die dem span. l>>/rc'fn}i völlig entspricht,
läßt sich lautlich nicht durch die englischen (s. Murray), höchstens durch
die französischen Formen vermittelt denken (vgl. Dict. G6n.).
^ Der volle Na.me erscheint nur bei der ersten Nennung, sonst stets
Huracan schlechthin. — Wort und Begriff 'Hölle' ist in den letzten Amadis-
büchern trotz deren. Ausdehnung selten. Ich entsinne mich nur, in Buch 24,
Kap. 77 und 82 — auch für Eiesen und für Kampf mit Eiesen — die Aus-
drücke 'Hellische Geyster' und 'Hellische metzig' gelesen zu haben.
222 Kleinere Mitteilungen
Ein provenzalisches Sprichwort.
Die beiden letzten Verse der von Hs. P überlieferten und im 'Archiv'
50, 274 abgedruckten Cobla Nuls homs non deu (Gr. 461, 181) lauten;
Mas ses acho dis lo -proverhis plans:
Qe fai son fron non ereza sas mans.
Kolsen, 'Zwei provenzalische Sirventese nebst einer Anzahl Einzelstrophen'
(Halle 1919) bemerkt dazu S. 22 Nr. 22, daß Cnyrim, 'Sprichwörter' S. 35
no 364 non ereza sos mans schreibt, fragt mit Recht, wie dies zu verstehen
sei, und schreibt seinerseits: Qi fai son pron no-n negrejan sas mans 'Wenn
einer einen Schnitt macht, werden seine Hände davon nicht schmutzig'. Die
Änderung in der zweiten Hälfte des Verses ist sehr gewaltsam.' Zwar be-
legt Eaynouard einmal negrejar aus dem Elucidari, aber es kann nicht zwei-
felhaft sein, daß man nur eine leichte Änderung vorzunehmen, nämlich oreza
für ereza zu lesen hat, falls nicht vielleicht oreza schon in der Hs. steht.
Aber auch in dem ersten Teile des Verses braucht für Qe nicht Qi gesetzt zu
werden, wenn die Hs. wirklich qe aufweist, denn beziehungsloses que für
qni begegnet auch sonst, s. 'Zs. f. rom. Phil.' XXVII, 599, Anm. 1 und
'Archiv' 136, 333. Der ganze Vers muß daher lauten: Qe fai son pron, no'n
oreza sas mans 'Wer das tut, was ihm Vorteil bringt, beschmutzt deshalb
seine Hände nicht'. Das Sprichwort selber ist mir sonst im Provenzali sehen
nicht begegnet, dagegen trifft man es im Norden an in den 'Proverbes au
vilain' ed. Tobler Nr. 11, V. 7 in der Form qui fait son prou, ne cuit sa
main, während die Fassung in den Hss. Fi9 mit ne congie sa main und die-
jenige in einer lateinischen Predigt mit ne solle ses mains (s. die Anmer-
kung von Tobler) genau zu der provenzalischen stimmt.
Jena. 0. S c h u 1 1 z - G o r a.
Cleomades-Fraffmentp.
Die Geringschätzung, der die Literatur des Mittelalters im Zeitalter
der Renaissance und des Humanismus verfiel, hat einen weit größeren Ver-
lust mittelalterlicher Handschriften verschuldet als die folgenden Jahr-
hunderte, in denen die alten Kodizes Gegenstand des bibliophilen oder anti-
quarischen Interesses, später der gelehrten Forschung wurden. Zeugen dafür
sind die zahlreichen Einbände von Drucken der Inkunabelzeit und des
16. Jahrhunderts, zu denen Teile von zerschnittenen Pergamenthandschriften
als Umschläge, Schutzblätter, Falzen, von Papierhandschriften als Pappen
der Deckel Verwendung gefunden haben. In die erste Hälfte des 16. Jahr-
hunderts ist denn auch der Untergang einer wertvollen Pergamenthand-
schrift von Adenets Cleomades zu setzen, von der ich jüngst in der Preußi-
schen Staatsbibliothek in Berlin spärliche Bruchstücke in dem Einband der
1530 in Paris gedruckten Reden und Briefe des Juristen und Philologen
Christophe de Longueil 2 (1488 — 1522) gefunden habe. Dem Drucke
1 Auch die Änderungen, die K. in den schlecht überlieferten Versen 4
und 6 der Strophe angebracht hat, sind recht starke, ohne daß sich ein
zufriedenstellender Sinn ergibt.
2 Christophori Longolii Orationes ... Eiusdem Epistolarum libri qua--
tuor . . . Accuratione, typis et impensis Jodoci Badii Ascensii, in inclyta
Parrhisiorum Academia 1530. Standnummer des Berliner Exemplars:
Xh 2451.
Kleinere Mitteilungen 223
gleichzeitig ist BO\rohl der Ledereinband, dessen blinde Deckelpressung von
mehrfachen, ein freies, mit wenigen Lilienstempeln geziertes Mittelfeld um-
rahmenden Borden in typischer Tlenaissanceornamentik gebildet wird, als
auch die zweimalige Eintragung Langloys auf dem Titelblatt, in der wir
wohl die Hand des ersten Eigentümers erkennen dürfen. In den Besitz der
ehemaligen König-lichen Bibliothek gelangte der Druck durch den Kauf der
Spanheimschen Sammlung (1701). Ezechiel Spanheim hat als bran-
denburgischer Gesandter in Paris (1680 — 89, 1698 — 1701) einen sicher nicht
geringen Teil seiner bedeutenden Bücherschätze gesammelt; man darf ver-
muten, daß er damals auch die Orationes des Longolius erworben hat.i
Die Fragmente der Handschrift bestehen aus zwei Pergamentstreifen
(16,3X6,1 cm), die zur Befestigung der Heftfäden zwischen Deckeln und
Buch eingefalzt waren. Der eine Streifen, dem Blattrand der sehr breit-
randigfen Handschrift entstammend, ist völlig unbeschrieben. Die seitlichen
Bänder und Ecken des anderen sind beschnitten, da.s Schriftfeld aber, der
obere Teil eines zweispaltig beschriebenen Blattes, ist in .seiner ganzen
Breite (14 cm) erhalten, und zwar von jeder Spalte die ersten acht, zusam-
men also 32 Verse. Sie entsprechen den Versen 5271—5278, 5299—5306.
5327 — 5334, 5355 — 5362 der Ausgabe von van Hasselt. 2 Die Übereinstim-
mung der verlorenen Handschrift mit der Arsenalhandschrift in der Vers-
zahl, die durch die gleichmäßigen Lücken von je 20 Versen in dem Fragment
wahrscheinlich ist, vorausgesetzt, ergibt sich als Gesamtzeilenzahl der ur-
sprünglichen Spalte 28. als die Höhe des Schriftfeldes 14 cm. Die mittel-
große, kräftige Buchschrift zeigt die Hand eines Schreibers, dem die Klar-
heit des Schriftbildes genügte, der aber keine Eegelmäßigkeit und schöne
Gestaltung der Züere erstrebte. Die Verse sind absresetzt, ihre Anfangs-
buchstaben jrlpichmäßijr vorgerückt, die größeren Abschnitte beginnen mit
nbwpchselnd roten und blauen Initialen von doppelter Zeilenhöhe, die durch
kallicrraphische. auf dem Band sich verlaufende Schnörkel verziert sind ^
Der Cleomades-Boman liegt in einer guten Überlieferung vor. Mehrere
Handschriften srehen noch in das 13. Jahrhundert zurück und dürfen so als
annähernd gleichzeitig mit der Entstehung des Gedichtes* gewertet werden.
1 s. F. Wilken, 'Geschichte der Königlichen Bibliothek zu Berlin', Berlin
1828, S. 54 ff., 185. — Aus Spanheims Besitz stammt auch das von Marie
de Gournay, der Freundin und Verehrerin Montaismes, handschriftlich
durchkorrigierte Exemplar der Folioausgabe seiner Essavs (Paris 1635).
welches H. Morf kürzlich als Eisrentum der Berliner Bibliothek wieder-
erkannt hat; s. Sitzungsbericht der Berliner Akademie. Jg. 1917, S. 517.
2 Li Boumans de Clöomad&s par AdenSs li Bois. Public par A. van Has-
selt. Bruxelles 1865.
5 Die Pergamentstreifen sind nun von dem Druck sretrennt und als Ms.
Gall. 8" 34 der Handschriftenabteilunsf der Staatsbibliothek inventarisiert.
4 Letztes Viertel des 13. Jahrhunderts, nach 1280 und wohl bereiis vor
der Ernennung Boberts IT.. des Grafen von Artois, zum Besrenten von Si-
zilien (1285) und dem Tode König Philipps des Kühnen (1285). s. A. Bovy.
Annales de la Sociötö d'archeoloQ-ie de Bruxelles T. X (18961 S. 458. Gröber
im Grundriß der romanischen Philologie TT. 1. S. 780, beide indes in den
chronolofrischen Angaben nicht völlicr zutreflFend. — Die Hand.schriften sind
in zeitlicher Folsre, die auf die Angaben der Kataloge sich stützt: 13. JI1.
Arsenal 3142, Bibl. Nat. 24 404 — 13.-14. .Ih. Bibl. Nat. 24 430 — 14. -Jh.
Bibl. Nat. 1456 — 14.— 15. Jh. Bibl. "NTat. 24 405 — 15. Jh. Bibl. Nat.
22-1 Kleinere Mitteilungi'u
Die Eandschrift der Arsenalbibliothek gilt seit P. Paris als wahrschein-
lich unter den Augen des Dichters entstanden.) Die treffliche Wiedergabe
der in ihr enthalteneu Miniatur, welche Adenet vor seinen Gönnerinnen
kniend darstellt, und der sie begleitenden Verse in H. Suchiers Geschichte
der altfranzösischen Literatur (2. Aufl. 1913, S. 211) gestattet einen be-
quemen Vergleich des Schriftcharakters beider Handschriften. Das paläo-
graphische Bild der Berliner Fragmente (B) ist zweifellos das altertüm-
lichere. Nicht nur herrscht, um nur die für die zeitliche Bestimmung wich-
tigeren Buchsta.ben zu vergleichen, in B durchaus das alte a mit dem über-
ragenden, oben nach links gekrümmten Schaft vor, neben dem nur ganz ver-
einzelt die späteren Formen sich finden: das doppelstöckige a und das
Sack-a, bei dem die Ausbuchtung die Höhe des Schaftes erreicht und sich
mit ihm vereinigt hat, auch bei t überschreitet der Schaft nie die Linie
des auch nach links kräftig ausladenden und so t von c deutlich trennenden
Querbalkens, im Wort- und Versauslaut erseheint nur das lange J, der
i-Strich findet sich nur, wenn der Buchstabe neben n oder u steht. Die
Arsenalhandschrift dagegen kennt nur das doppelstöckige a, der Schaft
des t ist regulär über den Querbalken erhöht, neben dem langen / findet
sich auch das runde im Auslaut, in der Kennzeichnung des i durch den
Strich ist der Schreiber viel weniger sparsam — alles Merkmale, die an sich
auf eine jüngere Hand deuten und aus denen man eine frühere Datierung
von B ableiten möchte, wenn nicht, wie immer bei der Anwendung paläo-
graphischer Kriterien, die Rücksicht auf individuelle .und lokale Eigenart
des Schreibers und der Schule, die Möglichkeit einer archaisierenden Schrei-
bung infolge minder starker Neigung, der neuen Schriftmode zu folgen,
Vorsicht geböten. Jedenfalls liegt in B das Fragment einer Handschrift des
13. Jahrhunderts vor, vielleicht der ältesten Cleomades-Handschrift über-
haupt.
Die neuen Bruchstücke geben Anlaß, den Text van Hasselts an zwei
Stellen zu bessern: 5273 au roi Carmant und 5357 saisist Voreillier', die
einzige fehlerhafte Lesart von B der Arsenalhs. gegenüber — 5357 8i une —
ist von dem Rubrikator durch Wahl der falschen Initiale verschuldet. Alle
übrigen Varianten, die ich in den Anmerkungen genau verzeichne, sind
rein sprachlicher Art. Trotz der Kürze der Fragmente läßt sich nicht ver-
kennen, daß nichtfranzische Eigentümlichkeiten, die auch für die Sprache
Adenets gesichert sind, 2 stärker hervortreten als in der Arsenalhs.: in der
fast regelmäßigen Verwendung von s für ausl. z, die auf den pikardischen
Schwund des Dentals in der Verbindung ts hinweist, wohl auch in du 5274)
und in der Bevorzugung von o, gegenüber z, dou^ und ou (eu) der Arsenalhs.
19 165, Bern 238. Die von Gröber a. a. 0. noch angeführte Hs. Bibl. Nat.
12 561 (15. Jh.) ist dagegen, wie dem- Katalog zu entnehmen ist, nicht
Adenets Gedicht, sondern eine der- Prosaauflösungen, die P. Paris, Histoire
litteraire de la France T. XX (1842) S. 718, erwähnt.
1 P. Paris a. a. O. S. 710; Hasselt a. a. 0. S. XXVII; A. Scheler in der
Ausgabe der Enfances Ogier (Bruxelles 1874) S. VIII; H. Suchier a. a. O.
S. 211.
2 Vgl. Bovy 1. c. XII (1898) 23 ff.; F. Ab6e, Laut- und Formenlehre zu
den Werken des Adenet le Roi. Dissertation, Halle 1905.
3 Zu du, dou vgl. G. Rydberg, Kritischer Jahresbericht der roman. Philo-
logie VI, 1, 225.
Kleinere Mitteilungen 225
lu dem Ulm folgenden Abdruck sind die Auflösungen der Abkürzungen
ilureh kursive Schrift, Ergänzungen durch eckige Klammern gekennzeichnet.
Ra:
5271 'Car ainz par lui ne viwt nul ior
Fors que tout bien ertoute honor."
Aiwsi au roi Carman.t parloient
Du meillor conioit gu'il sauoienL
5275 Mais eil confors sambloit petis
Au roi. Lors s'est de lä partis;
[Ca]r 11 n'ert pas aseürös
[Que eil confojrs fust ve/ites. '
Rb:
Bicn Vit que il n'estoit pas lies;
5300 Lors cuida q;*'il fust deshaitiez.
'Qw'est ce, Sire, fait il, k'aucz?
Yous nie sambles touz esfre^s.
Ai-nz mais en tel point ne vous vi;
Mowlt en ai le euer esmari.'
5305 nist li rois: 'Mal aues gardße
[Clarm] ondine. Mar la ui nee.'
Va:
5327 C'ommunaumetit dedens e-ntrerent.
Les trois damoiseles trouuerent;
Q«i dormoient, ce leur sambloit;
5330 Et quawt le lit sa fille voit
Li rois, et pas ne l'i trouua,
Seur le lit de duel se pasma.
(^«ant les damoiseles ce uire?it,
Ew plorawt mo?*lt tost se uestirerd.
Vb:
5355 Aussi qw'eles fusse«t deruees,
Se sont seur le lit adentöes.
Si une sp,isist l'orelier
Et le prewt fort ä enbracier
Et l'autre le oueurechief prent
5360 Et le baise piteusemcTit ;
La tierce aert le couuert [or] .
Lä demenoient tel [dolor] . . .
Ausgabe von van Hasselt: 5271 ajns, jour — 5272 honnour — 5273 ä roi
— 5274 Dou meilleur — 5277 asseürez — 5278 veritez — 5299 liez — 5302
samblez tous e£fr6ez — 5303 Ainc — 5305 avez — 5327 dendenz — 5357 Li
une saisi l'oreillier — 5358 embracier.
Berlin. Karl Christ.
Zum Planch dos Bertran Cartooiiel.
Es versteht sich, daß das Verfahren von C. Fahre, in dem Klagelied des
B. Carbonel S'ieu anc nulh temps von den beiden Namensinitialen p G der
Hs. (R) das p einfach zu streichen und für G ein C einzusetzen, das nun-
mehr = Cardinal sein soll, ein ganz willkürliches ist, aber auch Bertoni
ist kürzlich im 'Archivum romanicum' II, 252 ff. sehr in die Irre geganj^en.
• Die in Klammern stehenden Buchstaben sind völlig, von den übrigen
der letzten Zeile die unteren Hälften dem Beschneiden zum Opfer gefallen.
Das gleiche gilt auch von den letzten Zeilen der übrigen Abschnitte.
226 Kleinere Mitteihiiigt>n
wenn er mit Bestimmtheit behauptet, in der Hs. stünde gar nicht ö, sondern
s, und wenn er ein vermeintliches p s auf Pons Santolb (de Tolosa), den
Schwager des G. de Montanhagol deutet. Einmal wird der Name Pons nicht
mit p abgekürzt, und noch viel weniger der seltene Name Santoih mit s,
dann aber ist der Umstand außer acht gelassen worden, daß bei B. Carbonel
auch Gr. 82, 9, V. 49, 54" (Appel, Ined. S. 78) Peire Guülems begegnet, sowie
daß auch Gr. 82, 18 die Anfangsbuchstaben P. O. er scheinen ^^ (Appel, Ined.
S. 82), und drittens ist es nicht richtig, daß in der Hs. ein s steht. Bertoni
hat nicht genau zugesehen, sonst hätte er schon auf der photographischen
Wiedergabe, die er von der Stelle beibringt, bemerken müssen, daß andere
krause s der Hs. wesentlich anders aussehen als sein in Frage kommendes,
und daß überdies der Schreiber am Anfang der Wörter ein langes s zur An-
wendung bringt. Die Sache liegt einfach so, daß von einem Stück des linken
Bogens des G (die Druckerei besitzt keine Letter für die Form des großen
Buchstabens, wie sie in den Hss. erscheint) die Tinte verschwunden ist, wahr-
scheinlich infolge von Herüberwischen mit den Fingern von Seiten der Benutzer
der Hs. Ergänzt man die Lücke des Bogens, so erscheint sofort das o , das be-
kanntlich im Süden wie im Norden diegewöhnliche Abkürzung für Ouillem, Guil-
laume ist. Vermutlich war zur Zeit Haynouards, der ohne weiteres G las
(Choix V, 99), der Buchstabe noch ganz intakt. 2 Es ist mithin klar, daß es
beim alten zu bleiben hat, nur daß man wegen des Versmaßes das p nicht
in peire, sondern in peir (also en Peir Giiille^n) aufzulösen hat, welche Form,
wie das schon Springer bemerkt hat, auch sonst bei den Trobadors begegnet.
Auch in der Wissenschaft gibt es eine Geschäftigkeit, die hysterisch an-
mutet, und die nur vom Übel sein kann.
Jena. 0. Schultz-Gora.
Italienisches zum Tartuffe.
In Band 134 dieser Zeitschrift habe ich darauf hingewiesen, daß tartuffo
schon vor MoliSre in Italien in der Bedeutung von Betrüger gebraucht
wurde. Daneben gab es eine weibliche Form tartu-ffa, von der keines der mir
zugänglichen italienischen Lexika Notiz nimmt. In dem Petrarchista des
Ercole Giovannini, zum erstenmal gedruckt Venedig 1623, wohl aber wesent-
lich früher verfaßt, heißt es auf S. 142: Non dite nulla, che rassemira U
pensieri, afti, c parole d'amorc alle Turtuffe. Die inhaltliche Erklärung der
Stelle, die einem angeblichen Traum Petrarcas entstammt, würde zu weit
führen; es genügt, hier, daß amorc alle Tnrtuffe eine auf materiellem Inter-
esse beruhende Liebe bedeutet. Der Zusammenhang sowie das am Hand ver-
merkte Stichwort Tartuffe beweisen, daß es sich um einen damals bekannten
und gebräuchlichen Ausdruck handelt.
Tartufife selbst steht in enger Verbindung mit dem Pedante, von dem
Gabriello Simeoni in seinen 'Satire aUa berniesca' (Torino 1.540'i sasrt :
1 Ob der hier geschmähte P. G. mit dem p G des Planch identisch sei, ist
ein kleines Problem für sich, über das sich Springer, 'Klagelied' S. 63 ver-
breitet hat.
2 Man vergleiche damit die Tatsache, daß in den Briefen Eambauts Tobler
vor Jahren verschiedene Stellen ganz anstandslos hat lesen können, die jetzt
auch mit der Lupe nicht mehr zu erkennen sind; dies gehört in das Kapitel
der sorglosen, weil nicht genügend beaufsichtigten Behandlung von Manu-
skripten durch die Benutzer von Hss. der Nationalbibliothek.
Kleinere Mitteilungen 227
Di natura ö il pedante aspro e villano,
implacabile, avaro, e discortese,
crudel, superbo, sospettoso, e vano.
Prima s'acconcia in casa per le spese,
poi quel Margxitte ognun si caccia sotto,
, e del tutto ö padrone in men d'un mese.
In Gene II, 7 des Grazzini (Lasca) wird der Pedant in ähnlicher Weise wie
der Held der Moliöreschen Komödie in die Falle gelockt, und Cene II, 8
erzählt von einem Priester, il piü tristo e maggiore ipocrita, der aus der
Bloßstellung seiner Liebespläne durch List und Geistesgegenwart als mezzo
Santo hervorgeht. Die Cene, verfaßt um 1560, wurden erst 1743 zum ersten
Male gedruckt, sie kommen also als Quelle MoliSres kaum in Betracht, sie
beweisen jedoch, daß er mit Bausteinen arbeitete, die in Italien längst vor-
handen waren. Zum Verständnis des Tartuffe ist es von Wichtigkeit, daß
der italienische Pedante im Laufe des 16. Jahrhunderts aus einer komischen
imd belachten Persönlichkeit zu einer gefürchteten und gehaßten geworden
war, die, wie schon aus der Schilderung Simeonis hervorgeht, mehr aus
Herrschsucht als aus Lüsternheit handelt.
Berlin. Max J. Wol f f.
Ton Goethe über Heine zu Yictor Hugo.
In einem Paralipomenon zur 'Campagne in Frankreich 1792' hat
Goethe sich notiert: 'Marseiller Marsch Te Deum der Franzosen'; diesen
Einfall benutzte er in der an die 'Campagne' anschließenden 'Belagerung
von Mainz', wo er (Weimar. Ausg. 33, 308; Jub.-Ausg. 28, 246) von der
Marseillaise als dem 'revolutionären Te Deum' spricht; vgl. G. Eoethe,
Goethes Campagne in Frankreich 1792, Berlin 1919, S. 228,- Anm. 1. Offen-
bar gefiel dies Wort und der darin enthaltene Vergleich Heine; er ver-
tauschte behend die beiden Glieder und charakterisierte in seinen Aufsätzen
'Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland' Luthers 'Ein
feste Burg ist unser Gott' als 'die Marseiller Hymne der Reformation'
(Elster 4, 200). Diese Aufsätze waren bekanntlich ursprünglich für ein
französisches Publikum bestimmt und zuerst in der Revue des deux mondes
1834 erschienen. Hier wird sie vermutlich auch Victor Hugo gelesen
haben; denn mehr als dreißig Jahre später lesen wir in seinem Buch über
Shakespeare (Edit. Hetzet in 16 0^ p. 73): Le Choral de Luther est un peu
ttno marseillaise.
Berlin-Halensee. Erich Loewenthal.
Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Friedrich Gundolf, Goethe, 3.. unveränd. Aufl. ßerhn, Bondi, 1917.
VIII, 795 S.
Odi profanum vulgus et arceo — Horazens Vers steht zwar nicht Wort
für Wort, aber immerhin recht deutlich am Eingang von Gundolfs Goethe-
Averk: er wird umschrieben durch die Worte, mit denen der Verfasser Art
und Ziel seines Buches darlegt. Keine Biographie im gewöhnlichen Sinne
will er geben; nur insofern er sich im Kunstwerk ausdrücke, habe ja der
Künstler, wolle er als solcher zu Recht seinen Namen tragen, Dasein; außer-
halb seiner Kunst gebe es nicht nur kein wissenschaftliches Recht, sondern
nicht einmal eine wissenschaftliche Möglichkeit, sein Leben zu erfassen. So
ganz anderer Art sei nämlich das Erleben des Künstlers als dasjenige des
'unkünstlerischen Menschen (in unserer Welt also des Bürgers aller Stände),
daß sein Erleben und der Ausdruck seines Erlebens (beides ist wesentlich
eines) von diesem nie verstanden werden' können. Eigentlich sollte mau
erwarten, daß so mancher, der diese Begrüßung auf S. 2 liest, auf die übrigen
fast 800 Seiten verzichtet, weil sie ja doch über seinen Gesichtskreis hinaus-
gehen müssen; zum Glück bezeichnet aber 'Bürger' im hier angewandten
Sinne etwas, was heute um Gottes willen niemand mehr sein will; jedenfalls
ist als erfreuliche Tatsache festzustellen, daß von dem 1916 erschienenen
Buche im folgenden Jahre schon eine dritte Auflage (5. und 6. Tausend)
vorlag und daß nach Zeitungsberichten 1918 auch diese schon Avieder ver-
griffen war. Nun, wir AvoUen nicht darüber spekulieren, ob die Zahl der
Goetheverehrer jenseits des Bürgertums schon so groß ist, um aus sich
heraus einen solchen Erfolg zu tragen, oder ob dieser nicht etwa gerade
durch den verachteten Bürger zustande gebracht worden ist, der es trotz
aller harten Worte nun einmal nicht lassen kann, sich als 'Bildungsträger'
zn betätigen. Wenn wir uns schon erlauben, die priesterlich wegweisende
Gebärde des Verfassers nicht gerade an ihrem Orte zu finden an der Schwelle
eines Buches, das sich doch einmal an die Öffentlichkeit wendet, so ist der
Erfolg, den es trotzdem gefunden hat, jedenfalls verdient.
Was Gundolf Avill, läßt sich nicht besser sagen, als es auf seinem Titel-
blatt in einem Worte zu lesen ist; es handelt sich für ihn darum, darzustellen,
Avas 'Goethe' ist. Das ist ein viel ehrgeizigeres Ziel, als sich der Biograph
steckt, der 'Leben und Werke' seines Helden zu erzählen und zu ei'klären
verheißt: der hat den Faden des Lebens, und, Perlen gleich, folgt an ihm
ein Werk dem anderen. Nach Gundolf kann man so nicht hoffen, einem
Künstler in seinem Wesen nahezukommen; die Vorfälle seines Lebens können
uns nur insofern angehen, als in ihueu und durch sie sich etwas von seinem
eigentlichen Sein offenbart — im übrigen aber sind die eigentliche Offen-
barung seines Wesens seine Werke. In ihnen lebt er, in ihnen allen, wenn
auch nicht in jedem in gleicher Weise, am meisten dort, avo seine Kunst
sich die vollkommenste Form geschaffen hat. So gilt es denn überall, Zu-
fälliges vom NotAvendigen zu scheiden, zum eigentlichen Kraftzentrum vor-
zudringen; ungemein anziehend sind da die methodischen Ausführungen (S. 9
bis 28), die der eigentlichen Darstellung vorausgeschickt Averden, au sich und
in ihrem Gegensatz zu dem, Avas man gemeinhin Goethephilologie nennt. All
die Freude des Philologen am Unedierten, an der Frage der Quellen, an der
Durchleuchtung der Unnvelt ist für Gundolf etAvas von der Sache Ablenken-
des; Aver Goethe erkennen Avill, hat seine Gespräche, seine Briefe, seine
Werke, und unter diesen sind die unmittelbarsten Zeugen seines Ichs die
Werke, Aveil und insofern sie der reinste Ausdruck des Künstlers Goethe
sind. Das mag hier fast selbstverständlich klingen, Aveil der Berichterstatter
Beurteilungen und kurze Anzeigen 220
küiTieu und zusammendrängen muß ; wer den ganzen Gegensatz dieses Werkes
zur philologischen Goethebiographie ermessen will, lese die Ausführungen
seihst nach — hier genüge es, um den Unterschied wenigstens anzudeuten,
darauf hinzuweisen, wie sorglich die Biographen die Entstehungsgeschichte
jedes einzelnen Werkes darzulegen pflegen, Gundolf dagegen drängt hin zum
fertigen Werk als dem vollendeten Ausdruck des künstlerischen Wolleus,
frühere Stufen ziehen ihn eigentlich nur an, wenn sie als in sich bestehende .
Werke aufzufassen sind {Urfaiist, Theatralische Sendung), und als solche
werden sie dann besprochen, nicht um ihrer selbst willen, sondern insofern
sie Aufschluß geben über das innere Leben dessen, der hinter ihnen steht,
des Künstlers Goethe.
Jeder bisherige Biograph hätte wohl gesagt, daß das auch sein Ziel sei;
Gundolf wird nicht müde, in immer neuen Wendungen zu betonen, daß, wer
Goethes 'Leben und Werke', sein 'Leben und Schaffen' darzustellen unter-
nehme, schon durch die Art, wie er sich sein Thema stelle, sich selbst und
andere in bester Absicht irreführe. Werke und Schaffen sind ja das Leben.
Wie wir die Pflanze nur in ihren Lebensäußerungen, in ihrem Grünen,
Blühen, Früchtetragen und Verwelken haben, so den Dichter nur in dem,
was wir als sein Wirken besitzeu; nur von diesem aus können wir uns ihm
also nähern, nur als Schaffender geht er uns an, alles andere ist als gleich-
gültig zu betrachten. Kann man es deutlicher sagen als mit der scharfen
Gegenüberstellung dieses Satzes: 'Goethe hat nicht die Friederikeulieder ge-
dichtet, weil ihm Friederike begegnet ist, sondern weil Friederikenlieder in
ihm schwangen, hat er die Friederike gesehen'? Gundolfs Einfühlungskunst,
sein ästhetisches Empfinden, all sein Wissen um Goethe wird nun in den
Dienst der einen Aufgabe gestellt, Goetiics Dichtungen als den Ausdruck
seines Seelenzustandes, seines Wesens und Trachtens zu verstehen und ver-
stehen zu lehren — soviel man also bei ihm von dem nicht findet, was man
sonst in Biographien sucht, so ehrgeizig ist doch sein Bestreben, den ganzen,
den vollen Goethe zu geben; von den ersten Äußerungen erwachenden
Selbstbewußtseins bis zum letzten Hauch des Oh-mpiers. Als Biographie
haben wir also dennoch sein Werk anzusprechen, freilich als Biographie be-
sonderer Art: über Vorgänge von "Goethes äußerem Dasein wird sich hier
niemand Rats erholen können, niemand wird hier auch auf seine Rechnung
kommen, der sich erst eiuführen lassen will in die Kenntnis seiner Werke,
aber mit allem Nachdruck, aller Ausführlichkeit wird gezeigt, wie sich der
einzige Deutsche, in dem 'eigenes Schicksal, eigene Schiipferkraft, eigene
Gestalt' zu völliger Harmonie gelangt sind, in seinen Werken offenbart.
So hätte Gundolf denn gar nicht zu betonen brauchen, daß er für einen
engeren Kreis schreibt. Wenn derjenige, der die Punkte fassen will, an
denen Goethe am meisten seine Gestalt gibt, den Dichter als. Ganzes erlebt
haben muß, so muß auch derjenige, der einer solchen Darstellung folgen
will, schon das seine getan haben, muß sich mit der dichterischen Persön-
lichkeit Goethes vertraut gemacht haben. Hier ist denn der Punkt, wo ein
Wort einzulegen ist für die Goethephilologie. Von vornherein: Gundolf ist
keiner von denen, die ihr Böses nachsagen, aber sie ist ihm einigermaßen
gleichgültig als eine Betrachtungsart, die möglich, ja notwendig nur dann
ist, wenn man die Kunst als individuelle, willkürliche Beschäftigung be-
trachtet — für ihn ist sie freilich nichts weniger als das, sondern ursprüng-
licher Zustand des Menschentums, ihre Werke sind nicht Auslösungen, Ab-
bildungen, Erläuterungen eines individuellen Lebens, sondern Ausdruck,
Gestalt, Form der Künstlerpersönlichkeit. Recht und Notwendigkeit seiner
Betrachtungsweise ergibt sich aus dieser Anschauung, das ganze Buch legt
überdies Zeugnis dafür ab, daß Gundolf der Mann seiner Aufgabe ist, und
jeder MMrd ihm dankbar sein für das Werk, das er dem Volke Goethes dar-
bringt. .Vber trotzdem - wäre diese Aufgabe lösbar gewesen ohne die
230 Beurteilungen und kurze Anzeigen
lange, hingebende Arbeit der Goethephilologie mit ihren Ausgaben, Bio-
graphien, Erklärungen, ohne die Durchleuchtung der gesamten Umwelt
Goethes? Gundolf redet keiner schöngeistigen Schwärmerei das Wort: 'Die
Exaktheit und Reinlichkeit ist selbstverständliche Voraussetzung jeder wissen-
schaftlichen Beschäftigung mit dem Werke des Genius' — vergessen wir
nicht, daß die Göethephilologie auch für Gundolf einen beträchtlichen Teil
des Materials bereitgestellt hat, auf Grund dessen er nun seine Betrachtungs-
weise durchführt. Und ebenso hat sie auch Gundolfs Leser vorgeschult,
mag das auch einem guten Teil von ihnen unbewußt sein, aber die Sache
ist doch die, daß von diesen Lesern nur gar wenige ihr Verhältnis zu Goethe
ausschließlich auf der Lektüre der Ausgabe letzter Hand aufgebaut haben.
Wenn nun Gundolf ohne die Goethephilologie sein Buch kaum zu schreiben
vermocht hätte, so geht er doch nicht Wege, die diese ihn hätte weisen
können; seine Arbeit beruht auf liebevollem Einfühlen in Goethes Dichtung
und darüber hinaus in die Bedingungen hoher Künstlerschaft. Hinter Goethe
erscheinen die Gestalten Dantes und Shakespeares, denen er an Genie eben-
bürtig ist, die aber unter ganz anderen, wesentlich günstigeren'Bedingungen
schüfen als er: noch gab es zu ihrer Zeit keine Bildungswelt, die sich
zwischen Künstler und sinnlich unmittelbare Welt trennend einschob, noch
war also nicht zu scheiden wie bei Goethe zwischen Ur- und Bildungs-
erlebnis. Für die Erkenntnis des schaffenden Dichters ist also wesentlich,
ob sein Werk Gestaltung eines Urerlebnisses ist, ob und wieweit Bildungs-
elemente im Feuer seiner Kunst umgeschmolzen und mit dem Urerlebnis
eins geworden sind oder aber ihrerseits deij Charakter des Werkes teilweise,
vielleicht auch vorwiegend bestimmen. Neben die stofflichen Kategorien
treten formale: der Künstler findet sich lyrisch, symbolisch oder allegorisch
mit seinem Stoff ab, was mit der Einteilung in Dichtungsgattungen nichts
zu tun hat. Dies ist das Schema, das sich Gundolf für seine Betrachtungsart
geschaffen hat, und Vorbedingung des Gelingens ist, daß dies neue Schema
neue Erkenntnis übersichtlich macht. Das Ziel ist erreicht; Gundolf darf
sich rühmen, daß er seine Leser auf seinem Wege in den innersten Bezirk
Goethes führt — man wird anderswo eingehendere Würdigungen der Werke
als Einzelerscheinungen in literargeschichtlicher oder ästhetischer Hinsicht
finden, nirgends ist aber der Gesichtspunkt, sie als notwendige Erzeugnisse
Goethes, als Ausdruck seines jeweiligen Seins zu erkennen und erkennen
zu lehren, so folgerichtig und erfolgreich durchgeführt. Wieder darf man
dabei nicht bibliographische Vollständigkeit verlangen: es ist leicht begreif-
lich, daß jene Erzeugnisse, die mit Goethes Innerem kaum etwas zu tun
haben, die Gundolf glücklich als einen Teil seiner höfischen Amtspflichten
bezeichnet (Festspiele, Maskenzüge, Gelegenheitsverse), nur gerade gestreift
werden; nicht viel mehr bleibt übrig für jene Dichtungen, die nicht aus der
Fülle des Ichs geflossen sind, sondern sich als bewußte Versuche darstellen,
einer bestimmten Form Herr zu werden (Achilleis, die Episteln), oder aber
als Gegenwirkungen auf Avichtige Zeitereignisse und damit als Mittel zu be-
stimmten Zwecken (die Revolutionsdiclitungen, Des Epimenides Erwachen).
Aber selbst Hauptwerke wie Eymont, Hennann und Dorothea, ja auch Oötx
von Berlichingen müssen sich mit verhältnismäßig geringerem Raum begnügen,
wenn und weil in ihnen Bildungs- und Urerlebnis nicht zu vollkommener
Einheit verschmolzen sind — dabei ist denn die Art, wie Gundolf in jedem
einzelnen Fall das Verhältnis erörtert, ungemein anziehend und reizvoll.
Umgekehrt spielt bei anderen Werken, die sich als reine Erzeugnisse Goethi-
schen Erlebens darstellen, Umfang, selbst ästhetische Vollendung keine be-
stimmende Rolle: die Wichtigkeit der physiognomischeu Fragmente, von
denen mau sonst kaum hört, wird erkannt und überzeugend dargelegt, die
Wanderjahre, die Alterslyrik bieten nicht geringeren Aufschluß zur Erkennt-
nis des Goethischen Seins als Iphigenie oder Tasso.
Beurteilungen und kurze Anzeigen 231
Gundolfs Buch ist ein Werk aus einem Gusse; man braucht natürlich
nicht jede Einzelheit anzunehmen, aber nicht auf sie kommt es an, sondern
auf die Betrachtungsart, und diese zwingt dazu, dem Verfasser von seinem
einmal angenommenen Standpunkt aus zu folgen. Kann man seinen Stand-
punkt aber ablehnen? Dazu sehe ich keine Möglichkeit — wir werden frei-
lich nicht sagen, daß dies Buch nun das Muster sämtlicher künftiger Dichter-
biographien zu sein habe. Ein solches Buch kann als notwendig gelten,
aber es wird es nur sein können auf Grund einer reichen vorangegangenen
Entwicklung des Dichterstudiums; Avie es vorliegt, erscheint es jedenfalls als
ein Triumph scharf durchdachter, wissenschaftlicher Methode: kein Kapitel
ist wegzunehmen, ich wüßte keins hinzuzufügen, ohne den stolzen Bau in
seinen einheitlichen Linien zu gefährden. Wohl aber wird man auf einige
Stellen hinweisen dürfen, an denen Gundolfs Art als besonders fruchtbar
geworden erscheint.
Wenn mit Goethe etwas Neues, Einzigartiges in unsere Literatur seinen
Einzug hielt, so muß das sich von vornherein bei den Schöpfungen zeigen,
die als der erste Ausdruck seines eigentlichen Seins zu gelten haben; ein
neues Erlebnis muß sich in ihnen offenbaren, und da neuer Wein nicht in
alte Schläuche gegossen werden kann, muß dies neue Erlebnis auch in
Sprache und Rhythmik neuen Ausdruck finden: diese Verbindung macht
Gundolf schier greifbar anschaulich, wie er überhaupt für die Charakteristik
von Art und Entwicklung der Goethischen Lj'rik im engeren Sinne auf allen
Stufen von der ersten Regung neuen Gefülils im Leipziger Liederbuch bis
zur erschütternden Tragik der Marienbader Elegie die fruchtbarsten Gesichts-
punkte gibt. Als Probe auf das Exempel muß es sodann für ein Werk wie
dasjenige Gundolfs gelten, ob es die Einheit des Goethischen Wesens, ein
notwendiges Werden und Wachsen auch da nachAveist, w^o man nur allzuoft
von einem Bruch der Entwicklung geredet hat. Natürlich ist die Theorie
von dem Goethe 'diesseits von Weimar' als dem eigentlichen, dem deutschen
Goethe nicht erat von Gundolf widerlegt worden, natürlich hat schon vor
ihm das beste Bemühen der Biographen der Aufgabe gegolten, seine Haltung
gegenüber den großen geschichtlichen Ereignissen und Erscheinungen seiner
Zeit verständlich zu machen. Trotzdem darf man sagen, daß gerade diese
Abschnitte Gundolfs geeignet sind, in alledem ein für allemal eine tiefe Not-
wendigkeit aufzuzeigen, ein Verhalten, das mit dem innersten Wesen Goethes
zusammenhängt, das nicht anders gedacht werden kann, Avenn Goethe Goethe
bleiben soll. Eine NotAvendigkeit mußte es ferner sein, Avenn alles aus-
geschieden wurde, was als äußeres Erlebnis oder äußere Beziehung kein
Verhältnis zum Kern Goethischen Wesens erlangte, dafür um so anschaulicher
Ereignisse und Personen zu beleuchten, die schicksalsvoll für ihn wurden.
Hier dürfen Avir eine künstlerische Meisterschaft Gundolfs bewundern: er weiß
Charaktere mit wenigen Strichen lebendig vor Augen zu stellen, er versteht
die Wendepunkte, die bedeutsamen Erlebnisse in seiner Auffassung ein-
drucksvoll herauszustellen: Herder und Lavater, Frau von Stein und Chri-
stiane, Karl August und Napoleon, um nur einiges herauszugreifen, sehen
A\ir in ihrer Bedeutung für Goethe, lernen sie erkennen als Teile seines
Schicksals.
Die Eigenheit des Buches prägt sich auch in seiner Sprache aus. Ein
starker FormAville beherrscht sie: sie soll den Gedanken des Verfassers bis
ins letzte ausdrücken, und dazu muß sie hergeben, was sie an sinnverwandten
Ausdrücken hat, damit in ihrer Summe sicher der vollständige Begriff ent-
halten sei. Er liäuft gern die Adjektiva, um den Inhalt des Substantivums
auszuschöpfen, er liebt die Antithese, den veranschaulichenden Vergleich;
selbst das einzelne Wort muß dazu dienen, indem er gern durch de Trennung
der Bestandteile (vgl. S. 61 Be-griffe, 112 um-schaut) die zugrunde liegende
Anschauung hervortreten läßt. Bis auf die Zeichensetzung erstreckt sich in
■_*82 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Weglasöung uud Neueinführung dies Streben - das Ergebnis ist eine Sprache,
die gewiß nicht immer einfach ist, die vielleicht auch hier und da einen
preziösen Auflug hat, die aber wirkt wie ziseliert. An edlen Stoff ist feine
und feinste Arbeit gewandt — \\ie immer gehört Verständnis, ja einige
Kennerschaft dazu, sie ganz zu würdigen. Wer davon aber etwas mitbringt,
der wird Gundolf für sein Goethebuch danken.
Berlin-Lichtenberg. Albert Ludwig.
W. J. Keller, Goethe's , estimate of the Greek and Latin writers
as revealed by bis works, letters, diaries, and conversations.
(Bulletin of tbe üniversity of Wisconsin — Philology and
Literature Series vol. (i, no. 1.) Madison (Wisconsin) 191 H.
191 S. 40 Cents.
Um der Arbeit gerecht zu werden, muß mau hervorheben, was sie will:
uämlich bequem und vollkommen sachlich alle wichtigeren Äußerungen Goethes
über die antiken Literaturen und ihre Autoren sammeln und zusammenstellen.
Es handelt sich also nicht um ein Seitenstück zu dem Buche von Maaß
(Qoethe und die Antike), sondern um ein zweifellos recht mühsames, reichlich
Geduld forderndes Unternehmen, das sich aber mit einem verhältnismäßig
recht bescheidenen Ziele begnügt. Der Verfasser hat Goethes Werke in
ihrem ganzen Umfang gelesen, hat sich jede Stelle, avo von griechischer und
lateinischer Literatur oder von einem griechischen oder lateinischen Autor
dieKede ist, ausgezogen, hat seinen Zettelvorrat dann geordnet (I Griechische,
II Lateinische Literatur, la Epische Dichtung, Ib Frühe lyrische Dichtung
usAV.) und führt dann in den einzelnen Abschnitten in zeitlicher Keihenfolge
tue betreffenden Schriftsteller mit dem, was Goethe von ihnen zu sagen
hatte, vor. Auf bloße Erwähnungen wird in Anmerkungen verwiesen, be-
nutzt ist die Weimarer Ausgabe; eine chronologische Übersicht, die zeigen
soll, an welchen antiken Schriftstellern Goethe zu den verschiedenen Zeiten
seines Lebens besonderen Anteil nahm, ist hinzugefügt, ebenso ein natürlich
luientbehrliches und die Arbeit erst brauchbar machendes Namensverzeichnis.
In der Tat, dies Namensverzeichnis ist die Hauptsache, und es wä»e zu
\\ ünschen gewesen, daß in ihm nicht nur die Seite verzeichnet wäre, die dem
betreffenden Autor gewidmet ist, sondern daß Jede Seite angegeben wäre,
wo er überhaupt erwähnt wird, denn Goethe nennt manchmal raelwere Namen
gleichzeitig, und so hat auch Keller Wiederholungen nicht vermeiden können.
Aber auch wie es ist, ermöglicht das Verzeichnis, Goethes Äußerungen über
einen beliebigen Dichter, Philosophen, Geschichtschreiber nachzuschlagen und
festzustellen, wann und bei welcher Gelegenheit er ihn erwähnt. Das ist
freilich auch alles. Gewiß sind \'iele dieser Goethischeu Urteile anziehend
und bedeutend, gewiß sind auch an und für sich manche nicht unwesent-
lichen Feststellungen zu machen, so über den Einfluß zeitgenössischer Über-
setzungen auf Goethes Anteilnahme an bestimmten Schriftstellern, über die
geringe Rolle, welche die Historiker (abgesehen aou Plutarch) und die Redner
spielen, aber all das geht ziemlich wirkungslos vorüber, weil eben ein Klas-
siker nach dem anderen aufmarschiert und. über der langen Reihe mit ihren
teilweise einförmigen Charakteristiken die Übersicht verlorengeht.
Nun, diese Dinge hängen damit zusammen, daß Keller eben nicht ein
Buch zum Lesen, sondern zum Nachschlagen gibt, und in einem solchen
mußte Vollständigkeit erste Rücksicht sein. Was er als Ziel sich gesteckt
hat, ist erreicht, und als Ergänzung zu dem erwähnten Werke von Maaß
soll uns seine Arbeit recht sein. Freilich nur als Ergänzung; .lusschließlich
wird man aus dem, was man bei Keller liest, ein Urteil über Goethes Stel-
lung gerade zu den wichtigsten antiken Autoren nie aufbauen dürfen -
Beurteilungen und kiirze Anzeigen 23S
dafür ist eine Darstellung des Einflusses, den die Antike im ganzen, einzelne
Schriftsteller im besonderen auf seine Dichtung ausgeübt haben, unerläßlich.
Oder ist denn, um nur eins herauszugreifen, die Tatsache der ,, Römisc/ie^i
Ele(/ien nicht ganz anders bedeutsam als die ganz nichtssagenden Äußerungen
über TibuU (S. 1H9) und die, abgesehen von der einen durch Knebels Über-
setzung, also zufällig, hervorgenifenen, nicht viel bedeutenderen überProperz?
Sogar über die Zeit, in der dieser oder jener Autor im Vordergrunde stand
oder vernachlässigt wurde, läßt sich nach den von Keller herangezogenen
Quellen nicht abschließend urteilen. So heißt es z. B. (S. 26), daß Homer
zeitweilig in den Hintergrund getreten sei; nur zwei Tassostellen, die wahr-
haftig über Goethes Beschäftigung mit dem großen Epiker nichts sagen,
sollen das Schweigen brechen, erst gegen Ende des Jahres 1793 erwache-
wieder das Interesse an ihm. Dazu ist doch zu sagen — und das gilt
ziemlich allgemein für ähnliche Feststellungen — , daß man wohl nur be-
haupten kann, zu anderen Zeiten habe Homer tätigere Teilnahme bei Goethe
gefunden, mit seiner Schätzung hat das aber nichts zu tun. Soundso oft
wissen wir- von Goethes Beschäftigung mit einem antiken Schriftsteller zu
dieser oder jener Zeit ja nur durch eine zufällige briefliche oder mündliche
Äußerung; wäre diese Äußerung nicht getan oder uns nicht überliefert
worden, so hätte es dann sehr nahe gelegen, Folgerungen zu ziehen, die
doch unberechtigt wären. Was die Behauptung anlangt, daß erst gegen
Ende 1793 Goethe wieder Teilnahme für Homer zeige, so darf man daran
erinnern, daß im ersten Vierteljahr 1793 Reineke Fuchs geschrieben wurde,
dessen 'homerischen Ton' Schiller (Brief an Körner vom 12. 6. 1794) hervorhob.
Also: aus Kellers Zusammenstellungen ist es wohl erlaubt, positive Folge-
rungen zu ziehen, negative setzen große Vorsicht voraus und bedürfen
genauer Nachprüfung.
Berlin-Lichtenberg. Albert Ludwig.
II Codice Vercellese con omelie e poesie in lingua anglosassone,
per concessione del ven. Capitolo Metropolitano di Vercelli,
la prima volta interamente riprodotto in fototipia, a cura della
Bibliotheca Vaticana, con introduzione del Prof. Dott. Massi-
miliano Foerster delF Universitä di Lipsia. Roma, Danesi,
1913. [60 L]
Es ist kein Produkt des Völker trennen den Krieges, sondern ein Werk,
das im letzten Friedensjahr noch ein deutscher Forscher in Verbindung mit
einem italienischen Domkapitel und mit der päpstlichen Bibliotheksver-
waltung geschaffen hat zur Förderung des Studiums der ältesten Literatur
der Engländer: also ein internationales Werk im besten Sinne des Wortes.
Man sieht nur eben bei diesem internationalen Charakter, der durch das
päpstliche Wappen auf dem Einband symbolisiert wird, nicht ein, warum
der deutsche Professor, wenn er im Auftrag der päpstlichen Bibliothek ein
Werk herausgibt, italienisch schreiben muß. Es ist doch am allerwenigsten
für Italiener bestimmt, sondern fast ausschließlich für Deutsche, Engländer
und die kleineren germanischen Völker; nur diese beschäftigen sich mit
angelsächsischer Literatur. Warum hat also der deutsche Bibliothekar der
vatikanischen Bibliothek nicht erreicht, daß der deutsche Professor seine
Arbeit, die hauptsächlich für Deutsche bestimmt ist, auch deutsch drucken
lassen darf? Das ist die peinliche Frage, die sich jedem 'unparteiischen
Leser aufdrängen wird. Das internationale Latein als Sprache des Papstes
hätte man doch eher erwartet als das beschränkt nationale Italienisch.
Und dieser Schönheitsfehler wird noch vorstärkt durch die in italieni-
.\ichiT f. u. sprachen. l:W. 1(J
234 Beurteilungen und kurze Anzeigen
sehen Publikationen ja nicht seltene Unart der Übersetzung der Eigen-
namen: daß auf dem Titel statt Max Förster ein Massimiliano Foerster
erscheint, hätte vielleicht doch verhindert werden können. Aber diese üble
Gewohnheit führt dann, zu ärgster Inkonsequenz im Buche selbst: neben
dem Massimiliano steht fröhlich S. 55, 56, 57 Max Förster, neben Giacomo
Grimm S. 11 steht Jacopo Grimm S. 53; nebeneinander stehen Giorgio
l'ilippo Krapp und Carl Kichter auf derselben Seite. Ich selbst muß mich
als Volfango Keller S. 11 wiederfinden. Vielleicht ist in dieser Hinsicht
unser Geschmack durch den Krieg erzogen worden; jedenfalls glaube ich
nicht, daß in Zukunft der deutsche Gelehrte so leicht auf seinen deutschen
Mamen verzichten wird.
Es tut mir leid, daß ich mit diesem Protest die Besprechung des präch-
tigen Werkes beginnen mußte: er betrifft aber ja nur das äußere Kleid,
über das Werk selbst dürfen wir uns ohne Einschränkung freuen. Wir
hatten ja schon ein Faksimile der wertvolleren Teile des berühmten Codex,
da Wülker 1894 die poetischen Texte in photographischer Wiedergabe ver-
öffentlichte. Diesmal bekommen wir außerdem auch die Predigten, die das
Manuskript enthält. Leider ist aber auch diesmal nur ein auf die Hälfte
verkleinertes Faksimile zustande gekommen, die stolze Größe des Original-
bandes können wir nur aus einer Probeseite erkennen. Das ist auch aus
paläographischen Gründen zu bedauern, aber die Kosten wären natürlich
viel höher gewesen, und so wollen wir dankbar sein für das, was uns hier
geboten wird. Es ist die erste altenglische Sammelhandschrift, die voll-
ständig faksimiliert vorliegt. Und das Faksimile ist vorzüglich gelungen
und, abgesehen natüilich von einigen im Original verwischten Stellen,
äußerst scharf.
Die Einleitung ist ja von Max Förster schon vorher in deutscher Sprache
in der Festschrift für Lorenz Morsbach, Halle 1913, abgedruckt worden, die
Änderungen sind ganz geringfügig, und zumeist wird man in der deutschen
Fassung den authentischen Text sehen dürfen. Sie ist auch von einer
besseren Druckerei hergestellt als die durch viele Druckfehler verunzierte
italienische Form. Man wundert sich, daß für ein solches Monumentalwerk
die Typen p und d nicht zu beschaffen waren, so daß sie durch th und dh
aufgelöst werden müssen. Das führt auf S. 17 direkt zu einer grotesken
Wiedergabe: David ist im Manuskript abgekürzt als dd mit einem Ab-
kürzungsstrich darüber; bei Hochbuchstaben wird dieser regelmäßig durch
die Hochstriche hindurchgezogen, so daß auch die Reproduktion in der deut-
schen Fassung als dd nicht korrekt ist; hier aber wird daraus dhdhl Das
soll die Kontraktion (Synkope) von David sein? In diesem Abschnitt der
Abkürzungen hat der italienische Drucker sonst überall die Abkürzungs-
striche einfach weggelassen. —
Das erste Kapitel behandelt das Äußere des Manuskripts, das zweite
das Datum und den Schriftcharakter. Natürlich hat Max Förster recht,
wenn er gegen meine Datierung (Keallexikon der germ. Altertumskunde
s. V. Angelsächs. Schrift) 'etwa 970 bis 980' einwendet, daß eine so genaue
Zeitbestimmung aus dem Schriftcharakter unmöglich sei. Die Schrift wech-
selt nicht mit den Jahren, sondern mit den Generationen. Und doch wird
man sagen können, daß im einen Jahrzehnt jene, im nächsten diese Schrift
herrscht. Mehr kann eine solche Datierung daher auch nicht bedeuten, als
daß der Schriftcharakter dem im genannten Dezennium herrschenden ent-
spreche. Und wenn ich für die ae. Sammelhandschriften die Reihenfolge
1. Exeter-Ms., 2. Vercelli-Ms., 3. Ciedmon-Ms., 4. Beowulf-Ms. aufgestellt
habe, so kann das gewiß auch die Chronologie der Schreibschulen, nicht der
Handschriften selbst, bedeuten. Immerhin war es nötig, einmal eine so
genaue Unterscheidung der Schriftzüge zu versuchen: wenn das Resultai
durch andere Mittel korrigiert werden kann, um so besser. — Was den
Beurteilungen und kurze Anzeigen 235
Abkürzungsstrich, für Nasale betrifft, so ist die Angabe S. 17 etwas un-
genau: 'oceorre in fine di parola, ma s'incontra anche nel mezzo' ('ge-
legentlich auch im Wortinnern') ; in Wirklichkeit begegnet er nur am
Siibenschluß, nie am Silbenanfang: die Silbe, nicht das Wort, ist dabei maß-
gebend. — Die Kopula wird fast immer durch die tironische Note aus-
gedrückt; 'wo sie ausgeschrieben ist, erscheint sie bald als ond, bald als
und'. Auch das ist wohl, soweit sich nach den angeführten Beispielen ur-
teilen läßt, nicht genau. Vielmehr steht ond im Andreas (7 mal), in der
Elene (.3 mal) und in den Homilien 2 (2 mal), 5 (2 mal) und 23; and da-
gegen in den Homilien 6 (2 mal), 7 (2 mal), 8, 9 (4 mal), 14 und 21. Daa
sieht also so aus, als ob die Unterscheidung aus den Vorlagen stammte.
Oder sollte der Schreiber — Förster erkennt mit Napier nur einen einzigen
Schreiber an — vielleicht zuerst ond (fol. 10 — 52), dann and (fol. 54 — 112),
endlich wieder ond (fol. 130 — 135) geschrieben haben? Man wird auch dies
nicht von vornherein für unmöglich erklären wollen. — Weiterhin ist der
Satz 'La lunghezza d'una vocale e indicata a quando per mezzo d'un apice
a punta' doch nach meiner Untersuchung der Akzente in den angelsächsi-
schen Handschriften (Prager Deutsche Studien 1908) nicht mehr haltbar.
Ein Verweis auf diese Arbeit ist im italienischen Text wohl aus Kaum-
mangel weggelasen worden. In solchen Wörtern wie im Andreas, on-ärn,
clrm, 6cg, göd (deus) — das 11 mal so vorkommt — , hösp, hygd, Is (est),
l6f, 6rd, vf&g, ün-fyrn, ün-hwilen, w6ll, wine, ge-wit, oder in der Elene, äc
(sed), löf, kann der Akzent doch keine Länge bedeuten.
Die Sprache des Manuskriptes, die das 3. Kapitel behandelt, stimmt
mit der des Worcesterer Schreibers Wulfgeat überein, wie sie Dunkhase in
seiner Jenenser Dissertation (1906) sehr genau untersucht hat. Aber
Förster hat wohl recht, wenn er vermutet, daß dieser Mischdialekt, west-
sächsisch mit mercischer Beimischung und einzelnen kentischen Formen,
die Schriftsprache der Klöster auf mittelländischem Boden überhaupt sein
werde. Immerhin meint er, daß die Sammlung sehr wohl unter Bischof
Oswald von Woreester geschrieben sein könne. Aus Worcester sei das Ms.
dann vermutlich im 11. Jahrhundert entweder direkt oder auf dem Wego
über Würzburg oder Fulda nach Vercelli gekommen. Die Hypothese, daß
Kardinal Guala im 17. Jahrhundert die Hs. nach Italien gebracht habe,
wird mit Recht zurückgewiesen. Auf das 5. Kapitel, Notizie e publicazioni
del ms., folgt endlich als 6. die ausführliche Inhaltsangabe, die eine Anzahl
interessanter Bemerkungen zu den 23 Predigten und 6 Dichtungen der
Sammlung enthält.
Es ist eine gediegene Ausgabe, und wir möchten nur wünschen, daß uns
die anderen altenglischen Sammelhandschriften bald in ähnlicher Weise
zugänglich gemacht würden.
Münster i. W. Wolf gang Keller.
Richard Rolle's Meditatio de passione Domini according to ms.
Uppsala C 494 edited with introduetion and notes by Harald
Lindkvist (Ph. D., Uppsala). Uppsala, Akad. Bokh.; Leipzig.
Harrassowitz. A. u. d. T. Skrifter utgifna af K. Humanistiska
Vetenskaps-Samfundet i Uppsala. [Band] 19:3. [1917.]
78 S.
Die zur Andacht während der Passionswoche bestimmte mittelenglische
Schrift des 1349 zu Hampole bei Doncaster verstorbenen Einsiedlers war
bisher aus Ulimanns und Horstmanns Drucken nach Cambridger, in süd-
liehen Dialekt umgearbeiteten Handschriften veröffentlicht. Lindkvist
druckt den schwedischen Kodex unter Vergleiohung jener Editionen zuerst;
16*
2Ö6 Beurteilungen und kurze Anzeigen
er hat ihn erst bestimmen müssen, da diesem das erste Blatt, vermutlich
mit Verfassernamen, fortgerissen ist. Er nennt den Dialekt der Hs. ost-
mittelländisch, dem Suffolkisch Bokenams nahe, jedoch mit Spuren des
reinen Nordenglisch, das der Verfasser schrieb, und setzt die Schreibung
der Hs. um 1405. Sie wanderte nach Schweden durch den Diplomaten und
königlichen Büchersammler Sparfwenfeldt (den Erwerber des Angelsächsi-
schen Evangeliars Codex aureus), 1655 — 1727, zeigt aber auf S. 1 den Vor-
besitzer: Christiani Ravii Berlinatis. Dieser 1613 geborene Berliner Kaue
war Oxforder, dann Uppsalaer Professor und starb als Orientalist zu Frank-
furt a. d. 0. 1677. — Richards Text gewinnt durch den Neudruck inhalt-
lich wenig; aber für die Sprachgeschichte ist dieser wichtig, wie L.s An-
merkungen und die Einleitung 'über Dialekt und Beziehung der 3 Hss.'
zeigen. So führt z. B. die Variante statt fanding späteres temptacioun
ein, statt hold (Feste, Kerker) hous, statt atwynne (Nordischem entlehnt)
usundir.
Richards Verfasserschaft, durch die Cambridger Hss. bezeugt, scheint
nicht zu bezweifeln. Freilich klingt hier ein ekstatischTmystischer Ton,
anders als in Richards mehr verstandesmäßigen Werken. Und L. hält Ull-
manns Beweis der Echtheit für nicht bündig. Dieser stützt sich nämlich
darauf, daß Dialekt, Stil und Geist in dem sicher Richard gehörigen Prick
of conscience übereinstimme mit denen im langen Gedicht Speculum vitae,
das in der einen Cambridger Hs. der Meditation voraufgeht und ebenfalls
Richards Namen trägt. Madden und Horstmann legen nun aber Speculum,
gemäß anderen Hss., vielmehr Wilhelm von Nassington bei. Und selbst
wenn jene Rubrik fürs Speculum richtig ist, folgt daraus die Richtigkeit
nicht auch für die Meditatio. — Hor.stmanu und L. sehen keinen Grund
zum Zweifel, obwohl manche Schrift Richard falsch beigelegt worden ist.
Die Einzelbeschreibung der Heilandsleiden in der Meditation erinnert
an Vreisun und Wohunge, ed. Morris Old Engl, homilies. Die Abfassungs-
zeit setzt L. wie Horstmann an; er fürchtet, daß dieser bloß aufs Kriterium
nördlichen Dialekts hin Richard zu viele Schriften und überhaupt eine zu
wichtige literarische Rolle zuschreibe.
Als Richards -Muster nennt L. des (vielleicht nur sog.) Bonaventura
Meditationes vitae Christi, die Horstmann in einem anonymen Lincolner
Kodex ins Englische übersetzt fand. Diese Übersetzung stimmt nach L. in
Stil und Charakter mit Richards Meditation, der jenes Original gekannt
hat und selbst der Englische Bonaventura benannt worden ist. L. findet,
Richard entlehnte den Titel Pricke of conscience aus Bona.venturas Worten
Stimulus conscientiae, in dessen Incendium amoris. — Die Biographie
Richards und Bibliographie seiner Werke allgemein wird, zumeist aus
Horstmann, überblickt und manches ergänzt, so z. B. daß die Meditation
noch 1905/06 ins heutige Englisch modernisiert erschien.
Von eigenem Werte sind die Seiten 19 — 23 über Schwedens Mystik im
Mittelalter, besonders die lateinischen Hss. des Birgittenklosters zu Vad-
stena, für das Clemens Maydeston im Tochterstift Syon in Middlesex den
jetzt Uppsalaer Kodex von Walter Hiltons Scala perfectionis abschrieb;
Hilton zählt zu Richards berühmtesten Jüngern. [Dieses Werk steht mn
1510 im Catalogue of the Uhr. of Syon mon. ed. Bateson, wo auch Wichtiges
über diese schwedische Kolonie.] Alle 6 jetzt in Schweden liegenden Hss.
von Werken Richards — außer der hiermit edierten — lauten lateinisch,
stammen aus Vad.s;tena und gehören jetzt Uppsala. Eine enthält auch
Mag. Joh. Berton Confutatio Lollardorum. Bereits im 14. Jahrhundert
Hard Richard in Schweden gelesen.
Im Anhang steht Officium de s. Ricardo, das bisher nur aus englischen
Hss. gedruckt war, aus einem Uppsalaer Kodex. Lies S. 76 Z. ?, v. n. pre-
paratoria: letzte Z. articulis.
Beurteiluugen uud kurze Auzeigen 237
Der Herausgeber verdient den Dank nicht bloß der Erforscher des Mittel-
euglischen, sondern auch der Kirchen- und Literarhistoriker für den sorg-
fältigen Druck und die umsichtige Einleitung.
Berlin. F. Liebermann
Bernhard Fehr, Studien zu Oskar Wildes Gedichten. (Palästra
100.) Berlin, Mayer & Müller, 1918.
Die vorliegende Schrift i.st gedacht als eine Art Einleitung zu einem
größeren Werke, das die Prosaschriften und Dramen von W. behandeln und
seine Kunsttheorie und Stellung zur Weltliteratur kritisch beleuchten soll.
Schon in einer Eeihe von kleineren Aufsätzen, die als Späne von der
Werkstatt abfielen, hatte der Verfasser seine große Belesenheit in der mo-
dernen englischen und französischen Literatur bewiesen, so daß man von
vornherein wertvolle Ergebnisse erwarten durfte. Das Thema war dankbar
insofern, als wissenschaftliche Untersuchungen über Wilde bisher nur spär-
lich vorlagen, auf der anderen Seite aber ein vortreffliches Hilfsmittel 1914
erschienen war in der Bibliography of Oscar Wilde von Stuart Mason.
Eine ganze Reihe von Feststellungen, zu denen Fehr gelangt, waren nur mög-
lich auf Grund der von Mason mitgeteilten früheren Fassungen der Gedichte.
Einige wichtige Fingerzeige bot auch die Schrift von Turquet-Milnes : The
Influence of Baudelaire in France and England (London 1913). Aus eigener
Anschauung darf ich wohl sagen, daß man in englischen wie deutschen
Schriftatellerkreisen besser über Wilde Bescheid wußte als bei den Ver-
tretern der Wissenschaft. Die größere Vertrautheit jener Kreise mit
neuerer Literatur, vor allem französischer, bewirkte, daß man sich dort über
den Grad der Originalität von Wilde und die Herkunft seiner Ideen im
großen und ganzen im klaren war. Es genügt vielleicht, in diesem Zu-
sammenhang auf das Urteil von Symons (Studies in Verse and Prose 1904,
S. 127) und von Watts Dunton zu verweisen, von denen der letztere bereit^s
erklärte, daß die Gedichte Wildes with all their cleverness, were almosf
entircly imitative and derivative verses; Watts Dunton wies auch bereits
auf die Nachahmung von Milton, Wordsworth, Keats, Rossetti und Swin-
burne hin und stellte fest, daß in den Essays jeder Gedanke von einem
früheren französischen oder englischen Schriftsteller herstamme (vgl. Hake
and Compton-Rickett: Life and Letters of Theodore Watts-Dunton, 1916).
Aber noch fehlte das zuverlässige Bild, das nur der wissenschaftliche Nach-
weis im einzelnen bringen kann. Zeigen doch gerade- die vorliegenden
Untersuchungen von Fehr in lehrreicher Weise, wie wenig oft die Angaben
auch der nächsten Freunde von Wilde, z. B. die von Roß, der objektiven
Kritik standzuhalten vermögen.
Fehrs Schrift nennt sich 'Studien zu OskfCr Wildes Gedichten', womit
der Verfasser offenbar andeuten will, daß er ein allseitig abgerundetes Bild
von dem Dichter Wilde nicht zu geben beabsichtigt. In der Tat würde ein
solches auch eine andere Methode voraussetzen. Fehr geht zwar chrono-
logisch vor, so daß er die Entwicklung des Dichters im Auge behält, aber er
legt das Schwergewicht nicht auf die Person und Eigenart von W., sondern
auf die Frage nach den literarischen Einflüssen. Das hat gewisse Nachteile
im Gefolge. Geht man von der bloßen Tatsache der Entlehnung aus und
vermeidet man die Fragestellung nach den Gründen, warum der Dichter
sich gerade diesen Vorlagen zuwandte, so wird man ihn ganz unwillkürlich
mehr oder weniger in das Licht eines wahllosen Plagiators rücken, auch
wenn man im Punkte des Plagiats recht weitherzig ist. Um diese Klippe
ist auch F. nicht herumgekommen. Er sieht z. B. ganz richtig, daß wir von
Anfang an in dem dekorativen Stil die Eigenart Wildes zu sehen haben
238 Beurteilungen und kurze Anzeigen
und daß alles andere doch nur periodische Zutat ist, aber er verliert diese
Tatsache immer wieder aus den Augen und macht sie nicht zum Ausgangs-
punkt bei der Frage nach dem Charakter der Entlehnungen. Wir erfahren
wohl, was Wilde den Präraphaeliten oder Baudelaire verdankt, aber nicht,
warum er gerade diese Dichter sich zum Vorbild nimmt und warum er
gerade diesen oder jenen Zug übernimmt.
Unter diesem Gesichtspunkt wird uns die Tatsache, daß schon in den
frühesten Arbeiten von W. sich der Ästhet kundgibt, wichtiger erscheinen
als die dort zutage tretenden Entlehnungen. Schon an seiner jugendlichen
Übertragung aus Aristophanes läßt sich feststellen, daß es die zierenden
Bilder und die Beiworte sind, die ihn anziehen; zum Teil verfolgen sie ihn
sein ganzes weiteres Leben hindurch. Auch bei seiner jugendlichen Schwär-
merei für den Ritus der katholischen Kirche wird man wohl mehr Gewicht
auf W.s ästhetische Veranlagung legen müssen als auf die Eindrücke, die
er durch den Übertritt eines Studiengenossen und seine Reise nach Italien
empfing. Ebenso läge es nahe, aus der wichtigen Feststellung, daß schon
vor der Beeinflussung durch die Franzosen in dem Schluß von San Miniato
(1875), eine eigenartige Verbindung zwischen seelischer Mystik und sinn-
licher Sünde sichtbar wird, weitgehende Schlüsse für den späteren W. zu
ziehen.
Die einschneidenden Einflüsse beginnen in dem Augenblick, wo W. in
den Bannkreis der Präraphaeliten gerät. Wir möchten vermuten, daß F.s
Darlegung dieser verschiedenartigen, aufeinanderfolgenden Einflüsse für so
gut wie erschöpfend gelten darf. Selten wird man bei einer literar-
historischen Untersuchung in so hohem Grade das Gefühl haben, daß das
Gebäude eines Dichters so bis auf die kleinsten Bausteine und das gesamte
Handwerkszeug bloßgelegt wird. Um so erstaunter sind wir aber, zu sehen,
wie eng im Grunde der Kreis ist, innerhalb dessen sich Wilde bev/egt. Setzt
er sich doch fast nur zusammen aus den bekanntesten Lyrikern und Schrift-
stellern des 19. Jahrb., die der ästhetisierenden Richtung angehören: von
Engländern Keats, Elisabeth Barrett Browning, Tennyson, Rossetti, Mat-
thew Arnold, Fitzgerald, Pater und Swinburne, von Franzosen Gautier,
Baudelaire und Flaubert. Das waren in den siebziger und achtziger Jahren
in der Schriftstellerwelt so allgemein bekannte Namen, daß wir uns keinen
Augenblick darüber wundern, wenn die Zeitgenossen sich von dem offen-
kundigen Nachahmer abwandten. Am stärksten kommt dies auf selten der
Präraphaeliten und Swinburnes zum Ausdruck, die Wilde einfach als ihren
Affen empfanden. Wie F. richtig herausfühlt, ist es W. nicht gelungen,
diese verschiedenartigen Einflüsse fugendicht zu verschmelzen. Da es sich
dabei fast ausschließlich vim solche Werke handelt, die einen ausgesprochen
ästhetisierenden Anstrich zeigen, möchte ich im Gegensatz zu Fehr glauben,
daß eine solche Verschmelzung einem leichter schaffenden Dichter als W.
ohne weiteres hätte gelingen können.
Aus den vielen überzeugenden Ausführungen kann im folgenden nur
weniges hervorgehoben und besprochen werden. Mit sicherem Gefühl weiß
Fehr den Spuren von Rossetti, Morris, Tennyson und Hood bis 1879 nach-
zugehen. Die Anklänge an Rossetti, die auch noch in späten Dichtungen
auftauchen, ließen sich wohl noch vermehren. So möchte ich auf die Sym-
plwny in Yellow hinweisen, wo der Reim tridge : midge in ganz ähnlicher
Gedankenverbindung wiederkehrt wie in der 6. Strophe der Blesscd Damozel.
Der Einfluß Swinburnes beginnt vielleicht schon früher, als F. ihn anzu-
setzen sich getraut. So möchte ich nicht nur mit F. eine Einwirkung von
Swinburnes Ballade Tlie King's DougJiter auf Wildes Dole of the King's
Doughter annehmen, sondern auch eine Einwirkung von Sw.s Gedicht Ma-
donna mia, das in den Poems and Ballads dem obengenannten Gedichte un-
mittelbar vorausgeht, auf W.s La Bella Donna Della Mia Mentc.
Beurteilungen und kurze Anzeigen 239
In überzeugender Weise wird nachgewiesen, wie Wilde des künstlerischen
Eindrucks willen die Daten seiner Gedichte ändert, unter anderem etwa
vorgibt, ein in England entstandenes Gedicht in Italien verfaßt zu haben.
Das ist ein Zug von Künstlereitelkeit, wie er sich ähnlich bei Pope oder
Victor Hugo findet, ein Zug, den man nicht allzu tragisch nehmen darf.
F., der seinem Autor gegenüber nicht frei ist von ironischer oder selbst
feindseliger Stellungnahme (vgl. besonders die Bemerkung über den 'dicken
Wilde' auf S. 125), geht hier in seinen Schlußfolgerungen wohl etwas zu
weit. Wenn der Dichter in der Impression de Voyage die ursprünglich ge-
brauchten Worte sweet honied Eotirs einige Jahre später verwandelt in
those dear BeUenic hours, so tut er das kaum, um vorzuspiegeln, daß schon
1877 der Hellenismus sein Christentum zu unterwerfen begonnen habe (was
niemanden interessiert hätte), sondern er trifft die Änderung einfach aus
der Stimmung heraus, die ihn 1880 nach der griechischen Reise beherrschte.
Ebensowenig möchte ich ohne weiteres auf TVIache' schließen, wenn der
Dichter im Jahre 1877 als seine großen Meister Browning, Keats, Marlow,
Dante und Milton hinstellt. Wenn F. an der Nennung von Browning,
Marlow und Milton Anstoß nimmt, so ist einmal dagegen einzuwenden, daß
Gedichte von Wilde aus jener Zeit existiert haben mögen, die uns nicht er-
halten sind, zum anderen auch, daß Wilde von diesen Dichtern Einwirkun-
gen erfahren haben kann, die sich bei ihm nicht dichterisch umsetzten. Es
ist schlechterdings nicht einzusehen, welche Vorteile ihm die Nennung
gerade dieser Namen bringen konnte. Daß ein Werk wie Marlows Edicnrd
thc Secnnd mit seinen Anspielungen auf Hylas, Ganymed, Heph-.iestion,
Patroclus inid Alkibiades ihn schon damals stark beeindrucken muß'.^r, ist
angesichts eines Gedichtes wie Wasted Days mehr als wi-hrscheinlich.
Ebenso können wir uns ohne weiteres vor.stellen, daß die hinreißenden
Worte, die Marlows Faust an Helena richtet, ihn bei seinem Interesse für
diese Figur gefesselt haben. Man vergleiche dazu die Helenastrophe im
Garden of Itys. Dazu käme noch Marlows dekorativer Stil, vor alleni in
Eero and Leander. Als Beleg dafür, daß W. um diese Zeit tatsächlich unter
dem Bann von Milton steht, möchte ich den evening star am Schluß von
Ravenna anführen, der {doth gleam afar) and hid tJie sJiepJierd bring his
flock to fold; das ist ein Echo des Star that Mds the SJiepherd fold in Mil-
tons Comus (v. 93).
Zwischen 1877 und 1879 erfolgt bei Wilde der Übergang von der christ-
lichen Romantik zur hellenistischen Sinnlichkeit. Ein ausführlicher
Exkurs orientiert den Leser über die Eigenart des jungen Swinburne,
der für eine Reihe von Jahren für Wilde zum beherrschenden Vorbild wird.
Hervorgehoben seien besonders die Ausführungen über die vSapphischen
Motive bei Swinburne und über sein Verhältnis zu Baudelaire. Ob es die
Einwirkung von Victor Hugo war, die Swinburne zum Freiheitskämpfer
machte, möchte ich dahingestellt sein lassen angesichts der starken hei-
mischen Tradition, die so viele englische Dichter des 19. Jahrhunderts sich
für die Freiheit unterdrückter Völker, wie der Griechen, Polen, Italiener
und Armenier, begeistern ließ. Von feinem Stilempfinden zeugen F.s Aus-
führungen über den Gebrauch des Symbols, das von der einfachen Personi-
fikation sich durch die plastischen Attribute scheidet. Die große Rolle,
welche die Personifikation bei Sw. und seinen Nachahmern spielt, recht-
fertigt F.s eingehende Untersuchung gerade dieser Frage, die er schon in
seinem inhaltsreichen Aufsatz über Oskar Wildes "The Harlot's House"
(Archiv f. n. Spr. 1.34) angeschnitten hatte. Bezweifeln möchte ich allerdings
die Richtigkeit der bisher vorhandenen Ansichten über die Entwicklungs-
geschichte dieses Symbolismus, die zumeist Dante und Shakespeare als Aus-
gangspunkt nehmen. Bedeutsamer noch scheint mir die Rolle zu sein, die Pe-
trarca und seine italienischen und englischen Nachahmer gespielt haben.
240 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Die Dichter dei- englischen Renaissance sind voll von Personifikationen jeg-
licher, auch plastischer Art,^ und an sie eher als an Dante scheint mir die
ganze Tradition, innerhalb deren auch Swinburne steht, anzuknüpfen. Auch
das Vorbild von Keats dürfte für die Dichter des 19. Jahrhunderts stark in
Betracht kommen, wie die SteUe im Endymion (II, 335 ff.) veranschau-
lichen mag:
Obstinate silence came heavily again,
Feeling about for its cold couch of space
And airy cradle.
Doch bedarf das ganze Problem der Personifikation in der modernen Dich-
tung noch genauerer Untersuchung. Als Erbe Sw.s übernimmt W. einmal
inhaltlich ein christenfeindliches Demokratentum, zum anderen formal die
Personifikation, wobei es bei seiner ganz anders gearteten visuellen Ver-
anlagung zu den seltsamsten Verrenkungen kommt. Nebenher geht von An-
fang an der mit starken Farben auftragende dekorative Stil, der in späterer
Zeit gern mit verfeinerten, seltenen Farbenattributen arbeitet, über deren
Stammbaum sich manches Interessante sagen ließe. Über amher als Farben-
bezeichnung möchte ich an anderer Stelle ini Zusammenhang handeln; hier
sei nur bemerkt, daß der starke Gebrauch von amher, silk, silken, rieh und
honied auf Keats zurückgehen dürfte; pomegranate, das Byron bereits ge-
legentlich zur Schilderung der Hautfarbe verwendet, hat Wilde in seiner
Anwendung auf den Mund offenbar von Gautier übernommen (vgl. Mad. de
Maupin: le sultan caresse sa favorite en sa pr4senee, et la iaisse sur la
iouche de grenade). Durchaus überzeugend wirkt die Ansicht (S. 106), daß
Ave Tmperatrix Swinburnes Gedanken von der republikanischen Welt-
mission Englands widerspiegelt; um so mehr glavibe ich, daß man von einer
Beeinflussung durch Polybius absehen darf.
Bedeutsam für die Entwicklung W.s als Künstler ist der Nachweis, wie
er unter dem Einfluß von Gautier und Baudelaire lernt, das Große in der
Natur in kleine Gegensätze der Kunst umzusetzen:
The moon is like a yellow seal
XJpon a dark blue envelope.
Von Keats und Gautier lernt er (S. 109), an äußere Gegenstände, vor allem
Natureindrücke, weitabliegeude Visionen anzuknüpfen. Überaus sorgfältig
ist die Analyse der größeren Gedichte. Schon das erste von ihnen, The
Bürden of Itys, zeigt ein Nebeneinander der mannigfaltigsten Einflüsse, so
durch Matthew Arnold, Swinburne, Elizabeth Barrett Browning und Mere-
dith. Nur seheint es uns ein Unrecht gegenüber dem Dichter zu sein, wenn
man auf diesen Analysen das ästhetische Urteil aufbaut. Das fällt mir
besonders auf bei einem Gedicht wie The Garden of Eros, wo gewiß ein
Widerspruch vorhanden ist zwischen dem durch die erste und letzte Strophe
gebildeten Rahmen, der eine Juninacht vorführt, und der dazwischenliegen-
den Blumenpoesie, deren Einzelheiten sich nicht immer mit der Jahreszeit
des Sommers und der Nachtstunde in Einklang setzen lassen. Aber deshalb
darf man doch die Schilderung der Blumenschar nicht eine bloße Künstelei
1 Genaueres in meiner Abhandlung über 'Umfang und Ursprung der
poetischen Beseelung in der englischen Renaissance bis zu Philip Siduey'
in Engl. Stud. 50. Eine Personifikation wie die folgende bei Sidney reicht
in ihrer Versinnlichung d(>s Abstrakten bereits an Rossetti, Swinburne und
Wilde heran: Btit lühile all men made the joy of their cyes speake for their
hearts totcards Daiphantus: Fortune fthat helike wa^ hid to that hankef,
and ment fhen to plny the good fellow) hrought a pleasant adventure among
them.
Beurteilungen und kurfe Anzeigen 241
nennen, so wenig wie einen der wundervollen Blumenkataloge bei Spenser,
wo auch dem relativen Empfinden keine Rechnung getragen wird. Worauf
es allein ankommt, ist die Stimmung, in die der Leser durch die Fülle des
Schönen und Seltsamen versetzt werden soll. Ob diese Blumen geschaut
sind, ist gleichgültig gegenüber der suggestiven Kraft, die von ihrer üppigen
Schilderung ausgeht. Den zwischen Tränen lachenden April brauchen wir
kaum als Pater-Hegelschen Nachklang aufzufassen; das Lachen zwischen
Tränen ist seit Homer nicht wieder aus der Literatur verschwunden.
Tn einem einzigen Gedicht« wie Panthea werden Einflüsse von Fitz-
gerald, Pater, Swinburne, Shakespeare und Tennyson {Lotuseaters) nach-
gewiesen. Ob wir an Gautiersche persische Farbensvmphonie zu denken
liaben, wenn der rot« Mund der Geliebten sich zu einer Hose wandelt, die
blauen Augen zu taubeperlten Glockenblumen usw.. ist mir zweifelhaft; es
läge vielleicht näher, an Ovidische Klänge oder Nachklänge zu denken.
Eumanitad entpuppt sich als eine Synthese von Matthew Arnold, Shelley,
Pater, Swinburne. Morris und Baudelaire; Charmides steht in erster Linie
unter dem Zeichen von Keats' Endymion. — Bei Wildes Auffassung der
Helena wäre vielleicht auf Huysmans' recht ähnliche Auffassung hinzu-
weisen (vgl. die von Walter Fischer in Engl. Stud. 51, S. 46 zitierte Stelle).
Weniger überzeugend als die Nachweise moderner Einflüsse wirken die
Hinweise auf elisabethanische Literatur. So vermag ich aus dem Gedicht
TJnder the Balcony 'keinerlei elisabethanische Klänge herauszuhören (S. 155),
ebenso keinen Sonettenton, sondern nur das auch von F. hervorgehobene
balladenha.fte Element. Daß Shakespeare in 'Venus und Adonis' ein wirk-
liches Gemälde beschreibt (S. 172). ist trotz Sarrazin wenig- glaubhaft.
Gut gelungen ist auch die Darlegung der farbenmelodischen Gedichte
der achtziger Jahre, die unter dem Einfluß der Eindruckskunst von ^^Tiist-
1er entstanden. Eecht aufschlußreich ist die Analyse von TJie Harlofs Bouse.
Zweifelhaft ist mir allerdings, ob es zweckmäßig ist, dieses Gedicht, das
ganz auf Bewegung und Stimmung eingestellt ist. mit den malerischen
Dichtungen in engen Zusammenhang zu bringen; stehen doch die Farben-
töne darin lediglich im Dienst der durch andere Faktoren erzeugten Stim-
mung. Merkwürdigerweise wird trotz der dichterischen Farbensymphonien
die Frage nach einer etwaigen synästhetischen Veranlagung W.s nicht an-
geschnitten. Das ist um so auffallender, als wir in dem ersten Zitat aus
Kipling, das Fehr S. 175 als Probe von dichterischem Impressionismus an-
führt, einen deutlichen Fall von Synästhesie vor uns haben: 'Die Sonne
traf das Wasser mit ihrem Licht so heftig, daß man glaubte, das Meer müsse
jetzt wie ein poliertes chinesisches Trommelbecken ertönen'. Das erinnert
sofort, an das bekannte, wohl auch synästhetisch empfundene Bild Kiplings
von der Sonne, die sich wie Donner erhebt. — Ob in dem kleinen Gedicht
Jardin des Tmleries der schwarze, laublose Baum im Winter, der nicht
Blüten treiben will, wenn lebensprühende Kinder ilin erklettern, etwas mit
dem grünenden Stabe Tannhäusers zu tun hat. ist mir zweifelhaft.
Trotzdem der starke Einfluß, den Huysmans und Flaubert auf W. aus-
geübt haben, längst bekannt war, gelingt- es Fehr doch, auch auf diesem
Gebiete einige hübsche Entdeckungen zu machen, indem er nachweist, daß
für die Situation in W.s Sphtiix eine Szene in Huysmans' A Rehours den
Ausschlag gab, und daß eine Menge von Einzelheiten den Traumgesichten
des heiligen Antonius bei Flaubert entstammen. Den Einfluß von Poes
Raven auf den Aufbau des Gedichts, besonders den Eingang und den Schluß
möchte ich höher veranschlagen, als F. mir dies zu tun scheint. Ich halte
es auch für nicht unwahrscheinlich, daß W. sich unt-er dem Einfluß von
Poes Langzeile dazu entschloß, die ursprünglichen Kurzzeilenpaare als
Langzeilen zu drucken: für mein Gefiihl liegt hier nicht nur eine bloß
graphische, sondern auch eine rhjrthmische Änderung vor. Bei Febrs Wer-
242 Beurteilungen und kurze Anzeigen
tung der Sphinx macht sich meines Erachtens wiederum die Tatsache gel-
tend, daß nicht die Eigenart und die Absichten des Dichters zum Ausgangs-
punkt gewählt werden. W. gehört von Anfang an zu den Ästheten, auf die
der Klang des Wortes stark suggestiv wirkt, und ist deshalb von vornherein
auf seltsame und melodische Worte aus, besonders fremdländisch, orien-
talisch oder griechisch klingende. In dem Gedicht Ave Imperatrix stehen
nahe beieinander, einmal im Reim: Kandahar, Samarkand, Ispahan, Cabool;
dann außerhalb des Reims: Pathan, Afghan, Marri, Himalayan, Bokhara,
Oxus. So mußte W. bei der Fülle farbenprächtiger und seltsam klingender
orientalischer Gelehrsamkeit, die ihm bei Flaubert entgegentrat, der Ver-
suchung unterliegen, den Suggestionsgehalt dieser Worte in seiner Poesie
auszunutzen und zu steigern. Es scheint mir ungerecht gegen den Dichter,
wenn man von der Tatsache der Entlehnung ausgehend die Sache so wendet,
daß W. durch Übernahme Flaubertscher Bilder 'im ahnungslosen Leser den
Eindruck einer geradezu erdrückenden Gelehrsamkeit erweckt'. Auch wenn
W. sich eine Reihe seltener Worte aus Flaubert als Reimworte notiert,
möchte ich darin für jemanden, der so viel Gewicht auf Suggestion durch
Klang legt wie W., nicht eine besonders berechnende künstliche Filigran-
arbeit erblicken. Wüßten wir mehr über die rein technischen Hilfsmittel
der einzelnen Dichter, so würden wir wohl manchen parallelen Fall an-
führen können. Vollauf befriedigend wirkt endlich auch die Analyse der
Zuchthausballade und das sorgsame Abwägen zwischen Erlebnis und Re-
miniszenzen an Baudelaire, Gautier, Hood, Fitzgerald und Longfellow. So
bietet alles in allem die vorliegende Schrift eine ganz erstaunliehe Fülle
von positiven Ergebnissen über Motive und Stileigentümlichkeiten der Ge-
dichte von W., die zu schönen Hoffnungen über die weiteren in Aussicht
gestellten Wilde-Studien berechtigen. — Zum Schluß noch eine Bemerkung,
die uns der Verfasser hoffentlich nicht verübelt! Bedeutet sie doch auch
mehr eine Anerkennung als eine Ausstellung. Betrachtet man die vielen
feinen Bemerkungen, die im Verlaufe der Arbeit über die Präraphaeliten,
Swinburne oder Meredith fallen, und erwägt man, wie wenig wirklich Wert-
volles bis jetzt über diese Dichter geschrieben worden ist, so wird man sich
eines leisen Bedauerns nicht erwehren können, daß F. seine große Belesen-
heit und seine Gabe des poetischen Nachfühlens nicht in den Dienst einer
höheren Aufgabe gestellt hat als der einer Untersuchung der Gedichte von
W., in dem er mit Recht einen Nachempfinder und ein mühseliges Form-
talent erblickt. Da ist die Mahnung von der Kürze des Lebens und der
Länge der Kunst vielleicht nicht unangebracht.
Freiburg i. B. Friedrich Brie.
Karl Arnholdt, Die Stellung des attributiven Adjektivs im Italie-
nischen und Spanischen. (Romanisches Museum, hg. von
Dr. Gustav Thurau, IX. Heft.) Greifswald 1916. 166 S.
Nicht nur an Sitz-, sondern auch an Denkfleiß, an Umsicht und Selb-
ständigkeit des. Urteils, an äußerlicher Sorgfalt, die sich unter anderem in
dem wohlgegliederten Aufbau und der genauen Überwachung des Druckes
kundgibt, überragt die Abhandlung (von der ein Teil als Greifswalder
Dissertation erschien) den Durchschnitt solcher Arbeiten. Es tut einem
leid, wenn man sie trotzdem nicht une*ingeschränkt gutheißen kann.
Zunächst ist es zweifellos verdienstvoll, wenn das für das Französische
so oft behandelte Thema einmal an italienischen und spanischen Beispielen
beleuchtet wird. Doch der Titel verspricht mehr, als nachher gehalten wird:
denn vom neueren Italienisch sind lediglich einige Bände Carducci und
d'Annunzio, vom älteren nur Dantes 'Vita Nova' und der Trattato Primo
Beurteilungen und kurze Anzeigen 243
des. 'Convito', Boccaccio und die Text« in B. Wieses Ait. Elementarbuch,
und für das Spanische lediglich der 'Don Quijote' herangezogen worden.
Demgemäß zerfällt die Abhandlung in drei Hauptteile: Die Stellung des
attributiven Adjektivs I. im Neuitalienischen (77 S.), II. im älteren Italie-
nisch (nur 21 S.) und III. im 'Don Quijote' (nur 23 S.) ; vorangeht eine
Einleitung von 11 Seiten, und am Schluß folgen S^/o Seiten 'Ergebnisse',
ferner ein Verzeichnis der zitierten Autoren und Linguisten und ein sehr
sorgfältiges der behandelten Wörter (15 S.), sodann Berichtigungen und
Inhaltsübersicht.
Doch diese Beschränkung im Extensiven wäre kein Fehler, wenn sie
dem Intensiven zugute gekommen wäre. Gilt doch von unserem Then)a
etwas Ähnliches, wie Johann Stöcklein es in seinen "Jntorsucliungen zur
Bedeutungslehre' (Münchener Dissertation 1897) ausgesprochen hat: Ein
einziger Autor oder auch nur ein einziges Werk eines Autors gründlich
untersucht, wäre ein größerer Gewinn als eine noch so umfangreiche
Sammlung von Beispielen aus ganzen Epochen oder ganzen Sprachen.
Indessen ist die Erkenntnis, daß es sich hier um ein stilistisches
Problem handelt und nicht um ein syntaktisches, dem Verfasser nur
sehr von fern aufgegangen: wohl findet man bei ihm einen Absatz: 'Indi-
viduelle Stellungen bei Carducci' (S. 62 ff.) und einen anderen: 'Individuelle
Stellungen bei Cervantes' (S. 127 f.) — leider aber beschränkt sich der
erste auf 8^/2, der zweite gar auf eine einzige Seite. Eine stilistische Unter-
suchung kann nun aber nur in der Weise geschehen, daß man sich zunächst
in den Geist eines bestimmten Einzelautors hineinversetzt, d. h. als Mono-
graphie, als fortlaufender Kommentar; will man dann vergleichen, um zu
allgemeineren Ergebnissen zu gelangen, so muß dieses Vergleichen, wenn
es von Nutzen sein soll, mit denkbar größter Vorsicht und Umsicht vor-
genommen werden — zumal bei zeitlich und örtlich so verschiedenen Autoren
wie Carducci und Dante oder Carducci und Cervantes; denn das gleiche
sprachliche Ausdrucksmittel kann aus den verschiedensten, ja aus entgegen-
gesetzten Motiven heraus gewählt worden sein.
Was nun unser Problem betrifft, so stellt sich das Grundsätzliche, das
der Verfasser nicht betrachtet hat, etwa folgendermaßen dar. Das Attribut
eines Substantivs ist 'nichts anderes als ein degradiertes
Prädikat, welches nicht um seiner selbst willen ausgesprochen wird,
sondern nur, damit dem Subjekt (Objekt) nun ein weiteres Prädikat bei-
gelegt werden kann.' (Paul, 'Prinzipien der Sprachgeschichte', 1909*.
S. 139.) J'ai vu nn pauvre homme müssen wir uns entstanden denken aus:
1. J'ai vu nn homme qui ^tait pauvre oder 2. J'ai vu un homme 4tait pauvre
> 3. J'ai vu un homme, pauvre > 4. J'ai vu un homme pauvre > 5. J'ai
vu un pauvre homme. (2. ist nicht etwa aus 1. durch Ausfall des Belativs
zu erklären, sondern als Konstruktion i<-in ynirn7\ die Kopula bleibt dann
sehr leicht fort; Beispiele wie 3., in denen der prädikative Wert des Ad-
jektivs und die dadurch bedingte Pause durch ein Komma angedeutet ist,
finden sich noch heute; das Fehlen der Pause und des Kommas ist dann ein
Sympton des Überganges von prädikativer zu attributiver Konzeption,
welche bei Voranstellung deutlich vorliegt.) Geahnt, wenn auch nicht klar
erkannt, hat Verfasser diese Entwicklung an einzelnen Stellen, zum Bei-
spiel S. 51: 'Jedesmal wirkt die Nachstellung gleich einem Kelativ.satze :
"welche groß ist"', anlässig von Beispielen wie: la Francia non d la gran
nazionc, ma d nazione grande (Carducci) oder den cnerpos de libros grande.<i
(Cervantes). Nur hätte er, da er laut Titel von 'attributiven Adjek-
tiven' handelt, besonders hervorheben müssen, daß solche einem Relativsatz
gleichwertige Adjektive nicht attributiv, sondern prädikativ sind.
Was ist nun das Natürliche und Normale: Voranstellung oder Nach-
stellung? — Beides und keins. Nachstellung, insofern das attributive Ad-
244 Beurteilungen und kurze Anzeigen
jektiv eigentlich ein Prädikat ist; Voranstelluug, insofern es bloß ein
degradiertes, 'herabgedrücktes' Prädikat ist. Wenn die germanischen
Sprachen das Adjektiv so gut wie immer voranstellen (so daß man selbst
ein deutlich prädikatives Beispiel mit adjektivischem Partizip wie Mau-
passants Sa femmc, prise sans doi, s'-indignait sans cesse attributiv mit
'seine oline Mitgift geheiratete Frau . . .' übersetzen würde), so ist das
durchaus natürlich; wenn die romanischen Sprachen, und besonders das
Französische, es ebenso gern nach- wie vorstellen, so ist das nicht minder
natürlich. An sich wäre ja gewiß stets Nachstellung zu erwarten, weil es
an sich natürlicher ist, zunächst den Gegenstand zu nennen, von dem
man etwas aussagt, und dann erst das, was man von ihm aussagt, also
c'est un komme pauvre -- ebenso wie es natürlich ist, erst das Subjekt aus-
zusprechen und dann das Prädikat (denn Substantiv und adjektivische Be-
stimmung verhalten sich zueinander genau wie Subjekt und Prädikat).
Nun ist es aber etwas durchaus Gewöhnliches, daß man zuerst das aus-
spricht, was man aussagt (das Prädikat), und dann erst das, von dem man
das aussagt (das Subjekt), nicht nur bei Vorangehen einer adverbialen- Be-
.stimmung (z. B. 'Gestern begegnete mir mein Freund'), sondern auch ohne
eine solche (z. B. 'Es braust ein Ruf wie Donnerhall'), und ebenso im Fran-
zösischen: il arrive des itrangers — Derridre lui marchaient les deux ser-
vants (Maupassant, 6d. Conard III 32) ; autour d'eux causaient des nies-
sieurs en redingote (ib. XIII 375) ; sous l'omljrelle nous attendait la petite
hlanchisseuse (ib. XXVIII 260) : au milieu de Valcöve, souriait, dans un
cadre de palissandre, le visage de Beranger! (Flaubert, fiduc. sentim., 6d.
Conard p. 376) usw., wo sogar folgendes möglich ist: il crut sentir . . . un
intiret plus chercheur que ne se donnent la peine d'en avoir ordinairement
les jolies dames ... (Maup. XXV 20). Eine Grenze ist dieser Wortstellung
bekanntlich nur dadurch gezogen, daß sie nicht statthaft ist, wenn das
Verbum ein substantivisches Objekt bei sich hat; im übrigen ist es dem
Schriftsteller vollkommen freigestellt, zu sagen: Alors, le domestique parut
oder: Alors parut le domestique (beides könnt« ich hundertfach belegen),
und ob er das eine wählt oder das andere, wird davon abhängen, ob er den
Ton auf parut legen will oder auf le domestique. Genau das gleiche ist also
zu erwarten für die Stellung von Substantiv — Adjektiv oder Adjektiv — Sub-
stantiv. Für die Reihenfolge, die er wählt, wird zunächst maßgebend sein
die Reihenfolge, in der ihm die betreffenden Vorstellungen kommen. Im
allgemeinen zwar besitzt der Sprechende (oder Schreibende) im Augenblick
des Sprechens bereits eine Gosamtvorstellung, die er zum Zweck
der Mitteilung sprachlich zerlegt und gliedert: wenn er zum Beispiel sagt
Alors parut le domestique, so ist es undenkbar, daß er im Augenblick, da
er parut sagt, nicht schon wenigstens annähernd die Vorstellung dessen be-
säße, der da erschien (des Dieners) — denn sonst wüßte er ja nicht, ob er
parut in den Singular oder in den Plural, in die erste, zweite oder dritte
Person zu setzen hat. Und das gleiche gilt auch für die Wortgruppe inner-
halb des Satzes, dem sprachlichen Niederschlag einer Vorstellungsgruppe
innerhalb der Gesamtvorstellung; sage ich z. B. auf einem Spaziergang zu
meinem Begleiter: Lä-has, je vois une magnifique femme, so könnte man
meinen, ich habe die Voranstellung von magnifique deshalb gewählt, weil
ich zunächst nur etwas Prächtiges gesehen habe, noch bevor ich unter-
scheide, was eigentlich dieses Prächtige ist, weil ich im Augenblick des
Aussprechens von magnifique noch gar nicht weiß, ob es eine Frau oder ein
Mann ist, und das femme erst während meiner Rede apperzipiere und aus-
drücke; das würde dann der H. Paulschen Definition des Satzes als einer
Verbindung mehrerer Vorstellungen entsprechen (Princ.^ 110) — aber
diese Vermutung wird sofort dadurch widerlegt, daß ich ja noch vor
magnifique das Wort une ausgesprochen habe: also muß mir bereits im.
Beurteilungen und kurze Anzeigen 245
Augenblick des Aussprechens von magnifique klar gewesen sein, daß es sich
um ein weibliches Wesen handelt. Insofern muß ich also Wundt zustimmen,
der den Satz (oder die Satzgruppe) nicht durch die Verbindung von Einzel-
vorstellungen, sondern durch die Zerlegung einer Gesamtvorstellung zu-
stande kommen läßt. Oder auf unser Problem angewandt: wenn das Ad-
jektiv voransteht, so ist das an. sich noch kein Beweis dafür, daß dem
Sprechenden zunächst die Eigenschafts vor Stellung gekommen sei und dann
erst die Dingvorstellung (und umgekehrt). Nun scheinen mir aber die
Panische 'Verbindung' und die Wundtsche 'Zerlegung' einander durchaus
nicht auszuschließen (wie man allgemein annimmf). Denn bevor ich etwas
zerlege, muß ich etwas zusammengefügt haben : gewiß habe ich
im Augenblick des Sprechens zumeist schon eine Gesamtvorstellung — aber
diese Gesamtvorstellung muß ich mir erst gebildet haben. Paul führt
in der 4. Auflage folgendes Beispiel ins Feld: ich bin in der Wüste und
höre zunächst ein Brüllen; erst dann denke ich bei mir: 'Das muß wohl ein
Löwe sein' (den ich gar nicht sehe), und wenn ich nun sage: 'Ein Löwe
brüllt' oder 'Es brüllt ein Löwe' oder 'Da brüllt ein Löwe', so habe ich offen-
bar zwei Vorstellungen zusammengefügt. — Mir scheint, Paul ist
vollkommen im Recht, und ich kann sein künstlich erdachtes und etwaa
exotisches Beispiel durch eine Reihe von Fällen aus Schriftstellern belegen.
Am überzeugendsten scheint mir folgendes: Maupassant (IX 266) erzählt
von jemand, der geduldig beim Angeln gesessen hatte: et il apergut, decri-
vant dans le ciel une courbe de meteore, et accroch4 ä Vun de ses hamegonn,
un magnifique cliapemi . . . Maßgebend für die Vorstellung war hier offen-
bar die Reihenfolge, in der sie kamen: der Angler bemerkt zunächst nur,
daß ein unbestimmtes Etwas einen Bogen beschreibt und an seiner Angel
hängt — und erst hinterdrein erkennt er zu seiner Überraschung, daß es
ein Hut ist (nebenbei wird durch die Verlegung des chapeau in die Ton-
stelle das Verblüffende seiner Entdeckung noch besonders hervorgehoben:
durch die dazwischengestellten Bestimmungen wird der Leser gleichsam in
Spannung gehalten, und der Satz endet mit einem Knalleffekt). Vergleiche
noch: . . . et fapergus, alignees contre le mur par rang de taille, six petites
filles (Maup. IX 266) ; ils apergurent, pareü ä un enorme Champignon, le
chapeau dii ptre Clovis (ib. XVII 169); et fapergus, tremilant, ouvrant sur
moi des yeux effar4s et brillantes, un pauvre petit gargon (XI 158) ; faper-
gus, dehout, ä dix pas de moi, enveloppe dans son immense manteau jaunätre,
coiffe d'nn bonnet de lainc, et tricotant totijours un bas, comme fönt les
bergers ches nous, le pätrc . . . (XV 209) ; j'apergus, prenant un bain, se
croyant bien seiilc ä cette hewe brülante, une grande fille nue . . . (IV 67) ;
Alors, tout lä-bas, et venant vers liii, il vit une yole mince et longue (XXIX
61); devant un des troi-s comptoirs oü, trönaient, fardees et defraichies, trois
inarchandes de boissons et d'amour (XIII 19) usw. usw. Wohlgemerkt: man
darf nicht behaupten, die Voranstellung sei ein Zeichen dafür, daß der
Schriftsteller in dem Augenblick, wo er das Ausgesagte hinschreibt, den
Gegenstand der Aussage noch nicht deutlich vor sich sieht (denn wie könnte
er sonst alignees, pareil, enveloppe, seule, fardees usw. in die maskuline
oder feminine Form setzen?) : — wohl aber darf man vermuten, daß Mau-
passant als Künstler (im besonderen als Impressionist!) die Vorstel-
lungen in der Reihenfolge gibt, in der sie bei ihm oder bei seinen Geschöpfen
aufgetaucht sind (und nicht in der Reihenfolge Aussage — Ausgesagtes, wie
es die Logik erforderte). Betrachtet man z. B. den Satz: . . . autotir de nou^,
accroupies au sommet des murailles, perchees sur toutes les saillies, une
assemblee de betes . . . nous tirait la langue . . . (IX 265), so hat er accrou-
pies und perch4es auf betes bezogen., muß also schon bei der Niederschrift
dieser Wörter gewußt haben, daß er nachher das feminine betes wählen
würde und nicht etwa das maskuline animanx (vorausgesetzt, daß er sich
246 Beurteilungen und kurze Anzeigen
nicht etwa während der Formulierung oder der Niederschrift seines Ge-
dankens verbessert hat — worüber im letzten Falle das Manuskript Aus-
kunft gäbe, was jedoch in Anbetracht der verschiedenen Bedeutung von bete
und animal wenig wahrscheinlich ist) — wenn er dieses hetes gleichwohl
ans Ende stellt, so hat er seine guten Gründe. Aus den gleichen Gründen
erklärt sich die Stellung in dem Satze aus Thomas Mann, 'Buddenbrooks'
(S. 10) : 'An der anderen Wand aber knisterte, in einer halbkreisförmigen
Nische und hinter einer kunstvoll durchbrochenen Tür aus blankem
Schmiedeeisen, der Ofen': wenn man das Zimmer betrat, so hörte man zu-
nächst ein Knistern; ging man diesem Knistern nach, so sah man die Nische
und dann die Tür; daß der Satz mit der adverbialen Bestimmung 'an der
anderen Wand' beginnt, ist keine genügende Erklärung für die gewählte
Wortstellung, denn unter denselben Umständen hätte es ja auch heißen
können : 'An der anderen Wand aber knisterte der Ofen in einer . . .
Nische . . .' oder gar: 'An der anderen Wand aber stand der Ofen, der in
einer . . . Nische . . . knisterte', was einem anderen, mehr geordneten Vor-
stellungsablauf entspräche und weit weniger künstlerisch wirkte. Und die
Voranstellung kann auch aus anderen Motiven heraus erfolgen als aus dem,
den impressionistischen Vorstellungsablauf widerzuspiegeln: in Boileaus
'iipitaphe du docteur Arnauld': Au pied de cet autel de structure grassiere
Git Sans pompe, enferme dans une vile hi^re, Le plus savant mortel qui
jamais ait ecrit . . . erscheint sans pompe und enfermö dans une vile bidre
dadurch emphatisch unterstrichen, und in Maupassants (V 283) : guettant
la route par oü allait revcnir morte, ou mourante, ou peut-etre estropiee,
d6figuree ä jamais, celle qu'il aimait encore d'une passion sauvage versetzt
sich der Dichter mitfühlend in die Seele seines Helden, der aufgeregt bei
sich denkt: 'Vielleicht ist sie tot, oder im Sterben, oder vielleicht verstüm-
melt und für immer entstellt' (wie das peut-etre beweist).
Um aber bei der impressionistischen Wortstellung zu bleiben: wenn man
in dieser Weise Partizipien usw. voranstellen kann, so natürlich auch Ad-
jektiva: et lä-haut, sur ma tete, s'italait, pleine et large, une grande lune . . .
(Maup. III 194) ; et au milieu de cette immense baie jaune . . . s'4levait
sombre et pointu un mont etrange (XVIII 10). Nun sind aber solche vom
Substantiv isolierten Adjektiva, die noch vor den Artikel gestellt oder sogar
durch Kommata abgetrennt sind, deutlich prädikativ. Diese Beispiele
lehren uns also, daß das prädikative Adjektiv keineswegs immer nach-
gestellt zu sein braucht, und da die Adjektiva des zweiten Beispiels sich
durch den Fortfall der Kommata attributiver Geltung nähern, ohne doch
ausgesprochen attributiv gebraucht zu sein, so sehen wir ferner, daß 'prä-
dikativ' und 'attributiv' keine absoluten Gegensätze sind, sondern Grenz-
begriffe, zwischen denen es Übergänge gibt. Das Adjektiv kann sich sogar
noch weiter dem Substantiv nähern (il ouvre un large bec, Lafontaine, Le
corbau et le renard), es kann aussehen wie ein richtiges Attribut — und
dennoch prädikative Geltung haben: denn was sollte obiger Satz anders be-
deuten als: 'einen Schnabel, welcher weit war'? 'Weit' ist ja keineswegs eine
Eigenschaft, die dem Schnabel dauernd zukäme, wie es sich für ein richtig-
gehendes Attribut gehört, sondern nur eine vorübergehende, momentane,
prädikative, zu vergleichen mit dem von Paul (128 3) analysierten 'er kam
gesund an' oder 'der Knabe kam gesund an', wofür man keineswegs sagen
könnte: 'der gesunde Knabe kam an'; man bezeichnet das 'gesund' usw.
nach Paul gewöhnlich als 'prädikatives Attribut' — man könnte es ebenso-
gut ein 'attributives Prädikat' nennen. (Jedenfalls hat der Verf. unserer
Untersuchung es verabsäumt, sich das -Verhältnis von 'prädikativ' und
'attributiv' einmal klarzumachen, bevor er es unternahm, eine Abhandlung
über die 'Stellung des attributiven Adjektivs' zu schreiben.) Wenn nun
Lafontaine in obigem Beispiel das large voranstellt, obwohl es prädikative
Beurteilungen und kurze Anzeigen 247
Geltung hat, so scheint mir, daß er (schon er!) sich damit als Impressionist
erweist: jemand, der dem Kaben zugesehen hätte, hätte zunächst gesehen,
daß er etwas Breites öffnet, etwas Riesenhaftes, einen Rachen, und erst dann
hätte er bei sich gedacht: 'Aha, das ist ja sein Schnabel!' Oder genauer
gesagt: 'ein Schnabel', denn auch das ist ganz impressionistisch gedacht:
es wird nur gemalt, was man sieht, die logische Beziehung des Besitzes
kommt absichtlich nicht zum Ausdruck. Derartige Ausdrücke scheinen mir
gerade in der Zeit des Impressionismus besonders häufig zu werden: il exa-
tnina d'un oeil sowpgonneux l'envcloppe: Anat. France, Jocaste, 6d. Nelson
p. 161; eile ouvrit des yetix surpris; [II] ouvrait sur sa femnie des yeux
enormes; il contemplait avec des yeux stupides ...; il le regardait avec des
yeux eperdus; il roulait des yeux inquiets; le soldat roulait des yeux m4-
chants; L'homme roulait des yeux epouvantes; Elle regarda d'un oeil mouilM
de larmes ...; Le fou nous regardait d'un ceil fixe ...; il contemplait d'un
wil triste . . .; Elle descendait d'un pied presse ; Ses parents levant des bras
indignes; qua te tend des hras desesperes usw., sämtlich aus Maupassänt,
größtenteils zitiert bei Anna Pietrkowski, Bemerkungen zur Syntajc Mau-
passants, Greifsw. Diss. 1913, S. 28. Hier steht das prädikative Adjektiv,
wie zu erwarten ist, nach. Hingegen heißt es bei demselben Maupassant:
il ouvrit de grands yeux und Le petit ... ouvrait de grands yeux etonnes;
wenn hier das grand vorangestellt ist (besonders auffällig im zweiten Bei-
spiel, wo es mit nachgestelltem etonne kombiniert ist), so möchte man das
freilich zunächst einfach aus der Regel erklären, welche die Voranstellung
des grand verlangt: bei grand ist die Freiheit der Stellung aufgehoben,
ßrawd -|- Substantiv ist eine syntaktische Erstarrung, und diese Er-
starrung zeigt sich nicht nur da wirksam, wo sie eigentlich berechtigt ist,
sondern auch da, wo man der prädikativen Geltung wegen Nachstellung er-
warten sollte. Aber diese Erklärung wäre oberflächlich: denn wie sehr man
den Geist auch durch 'Regeln' in Banden zu schlagen sucht — er bleibt den-
noch frei, er findet immer einen Ausweg, eine Möglichkeit, auszudrücken, was
ihm vorschwebt: in unserem Falle die Ersetzung des grand durch enorme,
für das eine solche Beschränkung nicht besteht und das Maupassant ja in
einem der obigen Beispiele auch angewandt hat. Wenn er sich also bei grand
der Regel fügt (und nicht etwa schreibt: *il ouvrait des yeux grands), so
tut er's, weil ihn die Regel hier nicht stört, weil sie seinen künstlerischen
Intentionen nicht zuwiderläuft, sondern mit ihnen übereinstimmt: er will
nämlich etwa ausdrücken: er öffnete die Augen dermaßen groß, daß man
zunächst nur den Eindruck von etwas Großem hatte oder daß dieser Ein-
druck jedenfalls dermaßen auffallend war, daß die Vorstellung 'Augen' da-
neben ganz zurücktrat. Bei den anderen Qualifikationen, die er den Augen
beilegt [surpris, stupide, eperdu, inquiet, epouvante, triste, fixe, mechant),
ist es dagegen weniger wahrscheinlich, daß einem zuerst die Qualität auf-
fällt und dann erst das Qualifizierte: weil eben grand eine rein körper-
liche Eigenschaft ist, die man auf den ersten Blick sieht, jene abstrakten
Eigenschaften dagegen schwerlich früher wahrgenommen werden als das rein
körperliche yeux. Damit haben wir zugleich den Grund, warum die 'Regel'
besteht, und den Grund, warum sie innegehalten wird: Wenn wir sie kritisch
prüfen, so müssen wir sagen, sie ist berechtigt — und wäre sie das nicht,
wäre sie von einem verständnislosen Grammatiker künstlich aufgezwungen
und stünde mit dem Sprachgefühl der Besten in Widerspruch, so könnte sie
sich nicht halten. Man könnte höchstens noch fragen: Ja, warum dann aber
il ouvrit des yeux enormes und nicht *il ouvrit d'enormes yeuxl — Ant-
wort: Vielleicht weil der Schriftsteller in diesem speziellen Falle zuerst
yeux apperzipiert hat und dann erst enormes. Denn er kann wohl zuerst
das konkrete Qualifikativum apperzipieren — aber er m u ß es nicht. (Viel-
leicht auch aus einem anderen Grunde.) Worauf es mir ankommt, ist der
248 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Nachweis, daß die schließliche Entscheidung für Vor- oder NsLchstellung
erst nach einem höchst verwickelten Prozeß des Schwankens zustande kommt
oder doch zustande kommen kann; ehe Maupassant schrieb: ü ouvrit de
grands yeux, können sich in seinem Gehirn eine Reihe von unbewußten
Überlegungen abgespielt haben, die, wenn sie bewußt geworden wären,
etwa folgendermaßen gelautet hätten: Ich schreibe de grands yeux, denn
die Voraustellung von grand ist ja das Übliche — doch nein: ich schreibe
des yeux grands, denn das grand hat ja hier einen ganz besonderen Wert
('prädikativen' könnte er nur denken, wenn er Grammatiker wäre; wohl
aber könnte die Stellung des yeux tristes assoziativ, analogisierend mit-
wirken) — doch nein, ich bleibe bei de grands yeux, denn grand ist ja das,
was früher auffällt als yeux. Und der Prozeß kann noch komplizierter ver-
laufen: statt, wie hier, von ai über bi zu aa zurückzukehren und dort stehen-
zubleiben, kann der Schriftsteller von aa über ba zu a^ zurückkehren oder
erst bei ae oder b? stehenbleiben: wenn es überhaupt statthaft ist, das un-
übersehbar reiche Getriebe in einem menschlichen Gehirn, 'wo Ein Schlag
tausend Verbindungen schlägt', in der Form eines mechanistischen Bildes
zu sehen, so möchte ich die psychischen Prozesse, die zur Entscheidung für
Vor- oder Nachstellung führen, mit dem Kreisen einer Roulette vergleichen,
die sich blitzschnell über einer Folge von Zahlen dreht und dabei immer
von einer geraden zu einer ungeraden schwirrt, um schließlich ganz all-
mählich zur Ruhe zu kommen und über irgendeiner geraden oder einer un-
geraden stehenzubleiben. Da ist es denn freilich kein Wunder, wenn die
Syntaktiker bisher den Stein der Weisen, die eine Stellungsregel, die für
alle Fälle paßt, noch nicht gefunden haben, und wenn auch der Verf. nicht
zur Klarheit gelangt ist. Solange man ein stilistisches Problem syntaktisch
erfassen will, ist man auf dem Holzwege. Wo Freiheit besteht, kann aus
den verschiedensten Motiven heraus Voraustellung erfolgt sein und aus
ebenso vielen Nachstellung; wenn ich zwei vorangestellte Adjektive aus
verschiedenen Schriftstellern (oder sogar aus demselben Schriftsteller, aus
demselben Text) wegen ihrer Voranstellung ohne weiteres miteinander ver-
gleiche, so tue ich etwa dasselbe Avie jemand, der den 'Faust' mit einer be-
liebigen Anekdote aus den 'Fliegenden Blättern' vergleichen wollte, unter
dem Gesichtspunkt, daß beide in Versen abgefaßt sind und nicht in Prosa.
Es gilt vielmehr, zunächst die mannigfachen Motive zu rekonstruieren, die
hier und da die Wahl des Verses veranlaßt haben, und das ist nur möglich
unter sorgsamster Prüfung der geistigen Zusammenhänge des einen wie des
anderen Werkes.
Nehme ich z. B. aus demselben Text, dem wir ü ouvre un large bec ent-
nommen haben, das unmittelbar vorangehende pour montrcr sa 'belle voix,
so scheinen diese Beispiele zunächst durchaus komparabel: denn wenn das
erste bedeutet: 'er öffnet einen Schnabel, der weit war', so heißt das zweite:
um seine Stimme zu zeigen,, die schön war (oder wäre)' — hier wie dort
hat das Adjektiv prädikativen Wert, und hier wie dort ist es (wider
Erwarten) vorangestellt, und doch sind sie nicht komparabel. Denn, wie
schon Voßler in seiner glänzenden Analyse dieser Fabel gezeigt hat ('Ein
Beispiel ästhetischer Stilanalyse' in 'Sprache als Schöpfung und Entwick-
lung. Eine theoretische Untersuchung mit praktischen Beispielen', Heidel-
berg 1905, S. 83 ff.), ist die Voranstellung, die das eine Mal impressionistiscü
war, diesmal durch den A f f ek t veranlaßt. 'Das richtige innere Be-
ziehungsverhältnis wäre etwa: pour montrer combien il avait la voix helle.
Der Rabe in seiner freudigen Aufregung hat aber weder Zeit noch Verstand
genug, sich über diese Sachlage klar zu werden, weshalb der Dichter die
Absicht des Tieres in affektvoller Synthese: so belle voix darstellt.' Wieder
ist die Tatsache, daß die Voranstellung von beau geradezu Regel ist, keine
genügende Motivierung — aber man denke daran, daß man im Affekt nicht
Beurteilungen und kurze Anzeigen 249
sagen würde: Ma voix est belle, sondern: Belle est ma voix, und der Dichter
hat sich hier wie sonst ganz in die Seele seines Geschöpfes hineinversetzt.
— Fragt, man nun aber nach dem Grund, warum boi affektischer Rede das
Adjektiv (oder allgemein das Prädikat) nach vorn gleitet, so ist die Ant-
wort: weil bei affektischer Rede die PrädikatsvorsteJlung im Bewußtsein
dominiert. In unserem Falle: der Rabe (in den sich Lafontaine eingefühlt
hat) denkt freudig überrascht über das Lob des Fuchses : Ja, schön ist sie
(nämlich meine Stimme). Aber der Affekt genügt nicht, um die Voran-
stellung zu erklären. Denn die Form' {que) ma voix est belle! kann ich
genau so affektvoll aussprechen wie: belle est ma voix! Der Affekt be-
einflußt notwendig die Intensität, mit der ich die einzelnen Worte hervor-
stoße (es scheint mir das psychologische Gesetz zu bestehen : je stärker
ich ein Wort innerhalb des Satzes betone, um so stär-
ker habe ich die zugehörige Vorstellung apperzipiert,
oder: die Energie, mit der ich ein Wort hervorbringe, bildet einen Maß-
stab [oder mindestens einen Anhaltspunkt] für die Energie, mit der sich
die zugehörige Vorstellung meinem Bewußtsein dargeboten hat, und diese
Energie ist um so größer, je stärker mein Affekt bei dieser Vorstellung
beteiligt ist) — aber der Affekt beeinflußt nicht notwendig die Stellung
der Worte im Satz. Er kann, aber er m u ß nicht. Affektisch sind beide
Ausdrucksweisen: die mit Vor- und die mit Nachstellung des Prädikats
(oder des prädikativen Adjektivs: *poitr montrer sa voix belle kann genau
so affektisch sein wie pour montrer sa belle voix). Beide sind affektisch,
\\eil es eine vollkommen affektlose Rede überhaupt nicht gibt — sowenig
wie eine vollkommen unverstandesmäßige oder unlogische. Mit Recht sagt
Voßler ('Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft. Eine
sprachphilosophische Untersuchung.' Heidelberg" 1904, S. 37) : 'Denn auch
die Begriffe "verstandesmäßig' Ciebhaft') und 'affektisch' in dem Sinne,
den ihnen Gröber verleiht, sind relativ. Was verstandesmäßig ist, braucht
darum nicht unaffektisch, was affektisch ist, nicht unverstandesmäßig oder
unlogisch zu sein. Eine unaffektische oder affektisch gänzlich indifferente
Gemütslage gibt es nicht. Stillstand des Affektlebens ist Tod; Stillstand
des Intellektlebens ist Blödsinn. Die beiden Begriffe schließen sich also
nicht aus, sondern stellen nur Teilbegriffe oder Gradunterschiede dar. Die
absolute Einheit, von der sie beide die relativen Teileinheiten ausmachen,
ist die Sprache oder das Sprachvermögen des Individuums," und ähnlich
sagt jetzt Haas ('Französische Syntax', Halle 1916, S. 25) : 'Daß der Affekt
auf die Sprachgestaltung von Einfluß sein kann, leugnet niemand. Aber
Affekt und Verstand schließen sich nicht aus, sondern nur \tenige Affekt-
lagen von besonders großer Intensität schließen die ruhige Überlegung aus;
alsdann wird auch die Rede gehemmt.'
Ergo ist der Affekt keine Erklärung für die Voranstellung des belle;
.sie muß einen anderen Grund haben. Um ihn zu finden, betrachten wir noch
einmal die beiden Gestaltungen desselben Gedankens : ma voix est belle und
belle est ma voix. Die dominierende Vorstellung ist offenbar belle — denn
die eigene Stimme ist für den Raben etwas völlig Vertrautes und Selbst-
verständliches, und auch der Fuchs hat ja mit dem Wort ramage schon auf
sie angespielt; ob sie aber schön ist, ebenso schön wie sein Gefieder, das
hat er nicht als gewiß hingestellt, das hat er in die Form eines Wenn-
Satzes gekleidet. Also beherrscht den Raben ganz die Vorstellung: 'Ja.
schön ist sie, nämlich meine Stimme', oder: 'Ja, gewiß ist sie schön!'
Er kann nun diese dominierende Vor.stellung ganz an das Ende stellen : Ma
voix est belle!: dann ist sie das Letzte, was der Fuchs hört, gewissermaßen
das Echo-Wort, das in seiner Seele nachklingen soll — la voix dagegen,
diejenige Vorstellung, über die die beiden sich einig sind, wird vorn hin-
gestellt, in den akzentlosen Teil des Satzes, und ist gewissermaßen nur der
Archiv f. n. Syiniclien. IS'.i. 17
250 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Anlauf, den der Rabe zu dem Sprung, zu dem stark akzentuierten belle
nimmt. Außerdem ist diese Art des Ausdrucks sozusagen die pädagogische:
man geht von dem aus, was der Hörer bereits weiß, und erst dann bringt
man das Neue, das man ihm beibringen will. Das ist die normale fran-
zösische Wortstellung, und sie ist nicht affoktloser als die andere. Sagt er
aber: belle est ma voix, so schmettert er zuerst die dominierende, die ihn
ganz beherrschende Vorstellung heraus: er kann gewissermaßen die Zeit
nicht erwarten, sie loszuwerden, dem Fuchs begreiflich zu machen, wie
schön sie ist. Der Akzent rückt nach vorn, und das Vertraute, der Gegen-
stand der Aussage, das Subjekt, klappt nach. Man denke sich einen Ge-
folterten, der sieh im letzten Augenblick entschließt, seinen Komplizen zu
nennen : er wird nicht sagen : 'Er heißt H u b e r' — denn bei dem 'heißt'
wird er noch gequält und es könnte schon zu spät sein — , sondern : 'H u b e r
heißt er!' Und wenn man ihn nun losläßt, so sagt er vermutlich nicht:
'Ich bin gerettet!', sondern mit einem Seufzer der Erleichterung: 'Ge-
rettet bin ich!' oder auch bloß: 'Gerettet!' — Denn 'Gerettet' ist die
dominierende Vorstellung, sie beherrscht ihn dermaßen, daß sie die anderen
sonst noch vorhandenen ganz oder fast ganz unterdrückt. — So verhalten
sich nun auch *pour montrer sa voix belle und pour montrer sa belle voix.
Stellt man die dominierende Vorstellung ans Ende, so hat man trotz seines
Affekts noch Zeit gefunden, an den Hörer zu denken, in dem ja das letzte,
das wichtigste Wort nachhallen soll; stellt man sie nach vorn, so hat man
vorzugsweise an sich selbst gedacht, an die eigene Nötigung, die äußerst
vehemente Vorstellung herausplatzen zu lassen — obwohl man durch das
noch Folgende ihren Eindruck abschwächt. Die eine Art ist höflicher, die
andere fällt mit der Tür ins Haus; die eine ist das, was die Franzosen
social nennen (und wofür wir bezeichnenderweise keinen völlig adäquaten
Ausdruck besitzen), die andere individualistisch; die eine ist zivilisiert, die
andere barbarisch; die eine ist klassisch, die andere romantisch, die eine
ist episch, die andere dramatisch — das sind hier nur verschiedene Aus-
drücke für dieselbe Sache. Genau so verhalten sich modernes il a ete en
Espagne pendant sept ans gegenüber altem Set anz tuz pleins ad ested en
Espaigne; modernes il a conquis la terre jusqu'a la mer gegen Tres qu'en
la mer cunquist la tere altaigne; il n'est restec ni mur ni eile neben Mur
ne citet n'i est remes a fraindre, (cette ville) est tenu par le roi Marsilie
gegen Li reis Marsilie la tient; Je ne le fcrai pas ^^egen Non ferai usw. usw.
Überall zeigt sich das eine Mal der Gesittete, der Diplomat, der den Knall-
effekt bis zuletzt aufspart — und das andere Mal der Barbar, der damit
herausplatzt. Und es ist ungemein bezeichnend, daß diese barbarischen
Voranstellungen gerade im klassischen Jahrhundert, dem Jahrhundert der
Disziplinierung und Zivilisierung, dem 'sozialen' Jahrhundert, bis auf ge-
ringe Reste der disziplinierten, zivilisierten, sozialen Nachstellung weichen.
Wer diesen langsamen Prozeß der Disziplinierung, der Entindividualisierung
an der Geschichte der französischen Wortstellung nachwiese, hätte einen
wichtigen Beitrag zur Geschichte des französischen Geistes geliefert. —
Und wenn man im Deutschen sagt.: 'Ich habe meinen Freund gesehen'
gegenüber französisch: j'ai vu mon ami, so zeigt sich in diesem scheinbar
belanglosen Unterschied in der Wortstellung der ganze Unterschied zwischen
den beiden Völkern: zwischen dem mehr individualistischen Deutschen und
dem mehr sozialen Franzosen.
Bezeichnet man, wie es häufig geschieht, die eine Wortstellung als mehr
affektisch und die andere als mehr verstandesmäßig, so heißt das, soweit
es richtig ist, nur konstatieren, aber nicht erklären. Wenn im neueren
Französisch die Endstellung des Dominierenden zunimmt, so bedeutet das
nicht eine Zunahme an Logik und Abnahme an Affekt, sondern eine Zu-
nahme an Höflichkeit und eine Abnahme an Unmittelbarkeit; die größere
Beurteilungen und kurze Anzeigen 251
Logik (los modernen Französisch ist nicht eine Ursache, sondern eine Wir-
kung.
Die so gewonnene Erkenntnis wird nun auch durch die Geschichte der
Stellung des Adjektivs bestätigt: im Altfranzösischen steht es überwiegend
vorn, im Neufranzösischen überwiegend hinten. (Wobei aber Vor- wie
Nachstellung auch andere Gründe haben kann als die Nichtrücksicht oder
Rücksicht auf den Hörer.) Und wenn man im neuesten Französisch, etwa
seit der Romantik, wieder eine größere Neigung zur Voranstellung kon-
statiert, so ist sie sicherlich ein Symptom der wachsenden Neigung, sich
wieder mehr unmittelbar, mehr impulsiv auszudrücken, ohne die vordem
geforderte unbedingte Rücksichtnahme auf den Hörer.
So haben wir für die Voranstellung des Adjektivs in il ouvrc nn larye
hcc und pojir montrer sa helle voix bei demselben Dichter zwei wesentlich
verschiedene Motive aufgezeigt. Haben wir die eine als 'impressio-
nistisch' bezeichnet, so könnte man die andere wohl als 'impulsiv'
kennzeichnen. Beide Beispiele sprechen für Wundt, denn in beiden er-
scheint offenbar eine in ihre Bestandteile zerlegte Gesamtvorstellung: als
Lafontaine large schrieb, muß er die Vorstellung hec schon besessen haben,
denn sonst hätte er nicht gewußt, ob er un oder une zu schreiben hätte;
und als er helle schrieb, muß er die Vorstellung voix schon besessen haben,
denn sonst hätte er vermutlich heau geschrieben — ■ und ein Satz wie helle
est ma voix beweist vollends, daß ich am Anfang schon weiß, was ich am
Ende sagen will. Steht das nun aber nicht in einem unlösbaren Wider-
spruch zu der früheren Behauptung, il ouvre un large hee sei eine im-
pressionistische Stellung, die Worte seien hier in der Reihenfolge gesetzt,
wie die betreffenden Vorstellungen aufgetaucht sind, und so sei eine solche
Stellung fein Beweis für die Richtigkeit der Panischen Theorie vom Satz
als der Verbindung mehrerer Vorstellungen? Die Lösung dieses Wider-
spruches kann nur die folgende sein: gewiß haben wir beim Sprechen immer
bereits eine Gesamtvorstellung — aber wir haben auch das Bewußtsein von
der Reihenfolge, in der uns die Einzelvorstellungen gekommen sind, und
wir bringen die zugehörigen Worte zuweilen in eben dieser Reihenfolge zum
Ausdruck. Das ist die durch die Analyse des sprachlichen
Niederschlages geforderte Synthese zwischen den Theorien
Pauls und Wundts. Eine Synthese, die ich nicht aus irgendeinem psycholo-
gischen System gewinne, sondern aus den sprachlichen Tatsachen bzw. aus
ihrer ästhetischen Interpretation. Denn mir scheint, die Psychologie kann
von der Sprachwissenschaft sehr viel lernen, die Sprachwissenschaft aber
nur sehr wenig aus der Psychologie. Oder, wie Voßler ('Sprache als Schöp-
fung usw.', S. 23) es ausdrückt: wenn die Psychologie 'schon bei uns bet-
teln geht, so soll sie nicht den Anschein geben, als schenkte sie uns
etwas, oder als stände sie im Tauschhandel mit uns.'
Übrigens zeigt sich gerade beim Adjektiv, daß die Wundtsche Theorie
die Panische keineswegs ausschließt, daß, obwohl wir im Augenblick des
Spröchens schon eine Gesamtvorstellung besitzen, noch während des
Sprechens neue Vorstellungen in uns auftauchen können, die wir erst nach-
träglich mit dem bereits vorhandenen Ganzen verbinden : wer sich
beim Reden oder Schreiben selbst beobachtet, der weiß sehr gut, daß ihm
nicht selten noch nachträglich ein Adjektiv einfällt; beim Reden entstehen
alsdann Wiederholungen wie 'Ein Mann trat ein, ein ziemlich großer
Mann', und beim Schreiben würden wir in diesem Falle einfach in das be-
reits vorhandene 'Ein Mann trat ein' die Worte 'ziemlich großer' einflicken.
Die Romanen mit ihrer Möglichkeit, das Adjektiv nachzustellen, haben es
in dieser Hinsicht viel leichter; wenn es bei V. Hugo in den Szenenangaben
zu 'Hernani' heißt: Enlre dona Sol, en hlanc (I, I) und Entre dona Sol, en
partire (ITI, II), so ist es wenigstens möglich, daß die Qualifikationen en
17"
2Ö2 Beurteiluagen und kurze Anzeigen
hlayic und en parure dem Verfasser erst eingefallen sind, als die abgeschlos-
sene Gesamtvorstellung 'Donna Sol tritt ein' schon vorhanden war. Sicher-
lich scheint mir das vorzuliegen in dem Satz aus Maupassant (V 312) : die
sentit qu'entre cette femme et eile une lutte commengait acharnee — denn
hätte Maupassant das acharnee von vornherein apperzipiert gehabt, so hätte
er vermutlich geschrieben: une lutte acharnee commencait oder ... com-
mengait une lutte acharnee. Also: die Nachstellung eines Adjektivs
im Romanischen kann ihren Grund darin haben, daß dem Redenden die be-
treffende Vorstellung als nachträglich . eingefallen ist (was sich durch ein
Komma verraten kann, aber nicht verraten muß). Das gleiche kann sich
natürlich auch im Verhältnis von Subjekt und Prädikat ereignen: Ich will,
beispielsweise eine Novelle schreiben. Nehmen wir an, ich lasse sie in der
Mittagshitzc spielen. Ich will also etwas von der Sonne sagen. Es kann
nun sein, daß ich, als ungeübter Dilettant, zunächst einmal auf gut Glück
hinschreibe 'Die Bonne . . .', noch ohne daß ich wüßte, wie es eigentlich
gehen soll, ob mit '. . . schien', oder '. . . strahlte', oder '. . . brannte her-
Glieder', oder '. . . warf ihre Strahlen' usw. — Ist das nicht deutlieh die 'Ver-
bindung mehrerer Vorstellungen'?
Doch bleiben wir bei der Voraussetzung einer bereits abgeschlossenen
Gesamtvorstellung, in der auch die Adjektiv vor Stellung schon enthalten ist,
und nehmen wir weiter an, es liege auch nicht der Fall vor, daß die domi-
nierende Vorstellung sich impulsiv nach vorn drängt. Alsdann kommt der
Unterschied in Frage, ob das Adjektiv etwas Neues einführt oder etwas
bereits Bekanntes ausdrückt. Man wird nämlich sagen : J'ai vu un
^lephant enorme, dann aber fortfahren: Cet enorme elephant buvait de l'eau
— weil da.s erstemal eine allgemeine Gattungsvorstellung vorliegt (ele-
phant), die dann durch enornie erst näher bestimmt, erst spezialisiert wird,
das zweitemal aber eine bereits vollkommen bestimmte: es wäre also bei
indefinitem Artikel im allgemeinen Nachstellung, beim definiteu Voran-
stellung zu erwarten. Im ersten Fall ist das Adjektiv mehr prädikativ (es
ließe sich durch einen Relativsatz umschreiben: 'welcher enorm war'), im
zweiten mehr attributiv (man könnte einfügen : 'wie gesagt' ; das Epitheton
ornans wird deshalb immer voranstehen). Auch das hat der Verf. unserer
Abhandlung beobachtet (S. 52): encima del carro venia hecho un .asiento
alto (Don Qu.). 'Bei erneutem Vorkommen, wo der Nachdruck vom bereits
eingeführten Beiwort gewichen ist, wird daraus ein alto asiento' — hat es
aber unterlassen, sich nun bei jedem Beispiel zu fragen, ob die Vor- oder
Nachstellung etwa mit der Neuheit oder Bekanntheit der Adjektivvorstel-
lung, mit dem dabeistehenden Indefinitum oder Definitum zusammenhänge.
Etwas Ähnliches wie 'Neues nach', 'Bekanntes vor' hat übrigens Haas
behauptet (Rom. Forsch. XX 2, S. 538 ff.) : 'Das Adjektiv, das vor das Sub-
stantiv gestellt wird, ist das Korrelat für eine mit der Gegenstandsvorstel-
lung in einem Apperzeptionsakt apperzipierte Eigenschaftsvorstellung.
Das Adjektiv, das nachgestellt ist, ist das Korrelat für eine von der Gegen-
standsvorstellung in einem besonderen Bewußtseinsvorgang apperzipierte
Eigenschaftsvorstellung.' Nur daß ich nicht in der Ausdrucksv^^eise einer
naturwissenschaftlich-mechanistisch orientierten Psychologie in absoluter
Weise von 'eins' und 'zwei' sprechen möchte, sondern von 'neu' und 'bekannt',
was relative Begriffe sind, wie sie einer geistigen Tätigkeit wie dem
Sprechen eher ziemen — daß ich ferner entwickle und erkläre (neu = prä-
dikativ, bekannt rr attributiv — gleichfalls relative Begriffe — ), was Haas,
wie er selbst zugibt, nur behauptet, olme es bindend beweisen zu können — ,
und daß ich hier vor allem nur einen Fall unter vielen sehe, wo Haas die
unerschöpfliche Mannigfaltigkeit des geistigen Lebens auf eine einzige arm-
selige Formel zwängen möchte. Zudem aber scheint mir seine Hypothese ^
auch vom Standpunkt seiner eigenen Psychologie aus anfechtbar. Ich halte
Bpiirtfilungpn und kurze Anzeigen 25B
PS nicht für möglich, eiue Gegenstandsvorstellung und eine Eigenschafts-
Vorstellung in einem Bewußtseinsakt zu apperzipieren. Das wäre etwa so
(wenn ein Bild aus der Mechanik überhaupt statthaft ist), als ob ich auf
einer Schreibmaschine zwei Tasten auf einmal anschlüge: alsdann gibt es
ein Malheur, eine 'Verhedderung', und in der Sprache würde sie sich durch
f'in Sichversprechen äußern; ich würde statt cet enorme elepJiant etwa
sagen: *cet enophant. Man kann auf der Schreibmaschine noch so schnell
tippen, aber man kann die Schnelligkeit nicht ohne Schaden so weit treiben,
daß die Buchstaben gleichzeitig angeschlagen werden; der Vorstellungs-
ablauf mag noch so rapid sein, gleichzeitig aber können die Vor-
stellungen nicht werden (oder nicht ohne Schaden). Wieder zeigt sich, daß
erst die Synthese der Paulschen und der Wundtschen Theorie der Wirklich-
keit nahekommt: gewiß habe ich Gegenstands- und Eigenschaftsvorstellung
als eine Einheit (und nicht nur bei vorangestelltem, d. h. mehr attributivem
Adjektiv, sondern auch bei nachgestelltem, d. h. mehr prädikativem Adjektiv,
wenn auch die Verknüpftheit im ersteren Fa\\ eine engere zu sein scheint
als im zweiten — nicht nur Gegenstands- und Eigenschaftsvorstellung, son-
dern den ganzen Satzinhalt) — aber diese Einheit, diese Verknüpftheit ist
erst das Ergebnis einer Verknüpfung, d. h. einer Verbindung von Gegen-
stands- und Eigenschaftsvorstellung, und wenn die beiden auch verknüpft
sind, so bleiben sie nichtsdestoweniger gesondert und werden nun in der
sprachlichen Äußerung zwar verbunden, aber doch wiederum gesondert
wiedergegeben. Es ist wie ein Ensemblespiel auf der Bühne: die Einheitlich-
keit, das Zusammenspiel war nicht von vornherein da, sondern mußte erst
geschaffen werden, und wenn es nun zwar da ist, so bleibt doch jeder ein-
zelne Schauspieler ein von den anderen zu unterscheidender Faktor. Der
sprechende Mensch ist der Regisseur; die Vorstellungen (bzw. die Worte)
sind seine Schauspieler; wie der Regisseur zunächst solche Schauspieler aus-
wählt, die für die darzustellende Rolle geeignet sind, so wählt der Sprechende
die zur Darstellung der ihm vorschwebenden Vorstellungen geeignetsten
Worte, so gut oder so schlecht er eben kann; dann aber muß er zwischen
ihnen ein Zusammenspiel herstellen (und das ist beim Sprechen die syn-
taktische Tätigkeit par excellence) ; wie der Regisseur die Schauspieler, so
gruppiert der Sprechende die Worte, er stellt das eine hier- und das andere
dorthin; und wie auf dem Theater für die Wirkung des Stückes viel vom
richtigen Zusammenspiel und richtiger Gruppierung abhängt, so hängt auch
hier von der zweckmäßigen Verknüpfung und Gruppierung viel für die
Schönheit und Wirksamkeit der Rede ab. Immer aber werde ich von der
Anzahl der gewählten Worte auf die Anzahl der aufgetauchten Vorstel-
lungen schließen können (mögen manche auch noch so belanglose Rollen
innerhalb des Ganzen spielen) — und wenn ich das nicht aus den vorhan-
denen Worten könnte, so wüßte ich nicht, woraus ich es sonst schließen
könnte, da wir ja doch in da,s Innere einer Psyche nicht hineinsehen können,
da wir ja doch auf den sprachlichen Niederschlag als auf die einzige Er-
kenntnisquelle angewiesen sind.
Wenn Haas nun von zwei Vorstellungen (einer Gegenstands- und einer
Eigenschaftsvorstellung) in einem 'Bewußtseinsakt' spricht, so kann ich
mir darunter nichts anderes denken als: 'zwei Vorstellungen in einer"
(denn unter 'Bewiißtseinsakt' kann ich mir nichts anderes vorstellen als
den eben besprochenen ^ Prozeß der Verknüpfung, der aber den einzelnen
Vorstellungen ihre Sonderexi.stenz beläßt). Eben daran aber, an die zwei
Vorstellungen in einer, vermag ich nicht zu glauben. Man könnte ja an
Fälle denken wie petit ch eval =: 'Vfevdchen' : hier scheint den zwei Vor-
stellungen im Französischen (Gegenstands- und Eigenschaftsvorstellung)
im Deutschen nur eine zu entsprechen, und so könnte man allerdings
meinen, in petit cheval (mit stets vorangestelltem petit) hätten wir in der
254 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Tat zwei Vorstellungen in einer (oder iu einem 'Bewußtsfinsakt'). Aber es.
scheint nur so. Denn in Wahrheit hat man eben beim Aussprechen von
petit cheval genau so gut nur eine Vorstellung wie beim Aussprechen
von 'Pferdchen', und diese eine Vorstellung ist nicht erst durch Syn-
these von zweien gewonnen, sondern war von Anfang an nur eine. Mit
demselben Recht könnte man ja behaupten, auch fenime oder 'Frau' ent-
spräche einer Gegenstands- -|- einer Merkmalsvorstellung in einem Be-
wußtseinsakt, nämlich 'weiblicher Mensch'. Analysieren wir einmal, was in
einem Menschen vorgegangen ist, der auf der Straße eine Frau sieht und
zu seinem Freunde sagt: Quelle jolie femme! Würde man ihn fragen:
Woran hast du eigentlich, in dem Augenblick des Vorübergehens, gemerkt,
daß es eine Frau war: an den Kleidern, am Hut, an der Gestalt, an den
Haaren, an dem Fehlen eines Bartes, an der Hautfarbe, an der Gesichts-
bildung?, so wird er diese Frage kaum immer so genau beantworten können
— jedenfalls aber hat sein Vorstellen niemals den Umweg gemacht: 'Mensch,
weiblicher', sondern er hat sofort den allgeTieinen Eindruck femme gehabt,
oder: der Anblick der Betreffenden hat in ihm auf der Stelle die Vorstel-
lung femme ausgelöst: er hat nämlich ein gewisses Erinnerungsbild
besessen, und in dieses Erinnerungsbild hat die Erscheinung eben hinein-
gepaßt. Ein solches Erinnerungsbild muß man freilich besitzen, wenn sofort
die betreffende Vorstellung ausgelöst werden soll. Ein Bauer kann, wenn er
über Land geht, sofort ausrufen: Das ist Weisen! — ein Städter, der das
Erinnerungsbild eines Weizenfeldes nicht besitzt, muß das Korn erst in der
Nähe betrachten und untersuchen, um mühselig (wenn überhaupt) zu dem
Schluß zu kommen: Das ist Weizen, und bei ihm kann sich die Vorstellung
allerdings in der Weise bilden, daß er zunächst denkt: Korn, und dann erst:
Weizenkorn. — Wie nun der Anblick einer Frau sofort die Vorstellung
femme auslöst, weil eben ein Erinnerungsbild da ist, so kann der Anblick
eines 'Pferdchens' sofort die Vorstellung petit cheval auslösen, ohne daß erst
der Umweg beschritten würde: cheval, petit (oder petit, cheval). Oder mit
anderen Worten: petit cheval sieht dann nur in der Schrift so aus, als ob
es zwei Worte wären und zwei Vorstellungen entspräche, die in einem
Bewußtseinsakt apperzipiert worden wären — in Wahrheit ist es nur e i n
Wort, das nur einer Vorstellung entspricht, vermittelt durch e i n Er-
innerungsbild ; man müßte es dann eigentlich auch in einem Worte
schreiben oder mindestens mit einem Bindestrich; denn es ist ein festes
Kompositum, genau wie 'Pferdchen' eins ist. Oder : petit ist ein Ver-
kleinerungs-Präfix, wie -chen ein Verkleinerungs-Suffix ist. Petit cheval
kann aber in anderen Fällen auch zwei Vorstellungen entsprechen, wenn
es nämlich auf dem Umweg cheval, petit oder petit cheval entstanden ist;
petit cheval heißt also 1. 'Pferdchen', 2. 'kleines Pferd'. Im Deutschen verrät
uns die Anwendung von 'kleines Pferd' bzw. von 'Pferdchen', ob der Spre-
chende zwei Vorst-ellungen gehabt hat oder nur eine. Jemand kann etwa
anfangen: Ich sah ein kleines Pferd, und dann fortfahren: Das Pferdchen
tummelte sich auf einer Wiese. Das zweitemal hat er bereits ein Vor-
stellungsbild, das er das erstemal noch nicht hatte. Dem entspricht also
im Französischen j'ai vu un eUphant Enorme und Cet Enorme 4Uphant lu-
vait de l'eau, oder das vom Verf. aus dem Don Qu. zitierte Beispiel — petit
aber würde in beiden Fällen vorangestellt, in der Bedeutung 'kleines Pferd'
wie als 'Pferdchen'. Haben wir hier nun keine Möglichkeit, zu erkennen,
ob es einer oder zwei Vorstellungen entspricht? — Doch : den Tonfall
und die Schnelligkeit der Artikulation. Sehen kann man es nicht, auf dem
Papier schaut beides gleich aus — aber hören kann man es, und der Syn-
taktiker darf eben nicht bloß sehen, er muß auch hören. — Und wie nun
petit in petit cheval nur ein Verkleinerungspräfix ist oder sein kann, so
kann auch grand in grand cheval nur ein Vergrößerungspräfix sein, je
Beurteilungen und kurze Anzeigen 255
nachdem es eben einem fertigen Erinnerungsbild entspricht oder einer erst
gewonnenen Verknüpfung; daß es im Deutschen zufällig ein Verkleinerurigs-
suffix gibt, nicht aber auch ein Vergrößerungssuffix, tut natürlich nichts
zur Sache. Und ebenso wie petit chcval 1. 'kleines Pferd' und 2. Tf erdchen'
heißt, so heißt vieille femme 1. 'alte Frau', 2. 'Greisin', jeune komme 1. 'jun-
ger Mann', 2. 'Jüngling'. (Dagegen heißt vieil komme immer nur 'alter
Mann'; 'Greis' aber vieillard. — Um einen Begriff von der Mannigfaltigkeit
der Gründe zu bekommen, aus denen das Adjektiv im Romanischen bald
vor- und bald nachgestellt wird, vergleiche man einmal die mannigfaltigen
Gründe, aus denen im Deutschen bald 'Greis' und bald 'alter Mann' gesagt
wird. In dem Vers 'Auf dem Dache sitzt ein Greis, der sich nicht zu helfen
weiß' trägt es sicherlich zur Erhöhung der Komik bei: 'Greis' zaubert uns
mit einem Schlage das Bild eines hilflosen Tapergreises vor Augen;
'alter Mann' würde hier viel schwächer wirken, eben weil es nicht aus
einem Stück ist, sondern zusammengesetzt. Wegen der komischen Wir-
kung, die 'Greis' haben kann, sagt man nun, wenn man in ehrendem Tone
sprechen will, lieber 'der alte Mann'. Will man nun aber besonders ehr-
furchtsvoll von jemand reden, etwa vom alten Goethe, so kann man wieder
nur 'der Greis' sagen — mit wesentlich anderer Betonung als in dem ko-
mischen Beispiel — , und jetzt zaubert uns das Wort mit einem Schlage
das Bild eines Weisen und Verklärten vor; 'alter Mann' würde wieder viel
zu schwach wirken, eben weil es nicht aus einem Stücke ist. Und weil
nun 'Greis' eine so hohe Bedeutung haben kann, so kann man wiederum
nicht geringschätzig äußern: 'Ach, was kann der Greis denn leisten?', son-
dern muß sagen: 'der alte Mann' ilsw. Also: sowohl 'Greis' wie 'alter
Mann' können zu einer komischen wie zu einer erhabenen Wirkung benutzt
werden, können mitleidig oder verächtlich klingen, und man nimmt ja
gerade das eine, weil das andere die gewünschte Wirkung nicht hervor-
brächte, und umgekehrt. Es kommt eben immer — man kann das gar nicht
genug betonen — auf den Zusammenhang an.^^)
Wenn nun grand und petit, jeune und vieux im Französischen so gut wie
i m m e r vorangestellt werden, so wird es daran liegen, daß die Fälle, in
denen sie mit dem Substantiv ein Kompositum bilden, das nur einer Vor-
stellung entspricht, bei weitem zahlreicher gewesen sind als jene, in denen
sie einer besonderen Eigenschaftsvorstellung entsprechen: es muß hier die
Macht der Analogie gewirkt haben, denn im zweiten Falle wäre ja an sich
(soweit nicht andere Gründe vorliegen) Nach Stellung zu erwarten. Und
das ist durchaus verständlich: das Erinnerungsbild eines großen oder klei-
nen, eines jungen oder alten Wesens besitzt eben so gut wie jeder; wes-
wegen man die Voranstellung mit Recht aus der Allgemeinheit dieser
Adjektiva erklärt hat. Bei ton und mauvais, heau, m4ckant, joli usw.
kommt hinzu, daß sie besonders häufig impulsiv vorangestellt werden;
es wirken dann also zwei verschiedene Motive in derselben Richtung. Ja,
man könnte wohl geradezu die 'Regel aufstellen: je allgemeiner ein Adjektiv
ist, d. h. je größer die Anzahl der Individuen ist, in deren Wortschatz es
sich befindet, desto größer ist seine Neigung zur Voranstellung, und je indi-
vidueller es ist, je seltener es gebraucht wird, zur Nachstellung. Das ist
aber, wie gleich betont sei, nur eine Regel unter vielen, die fortwährend
von anderen 'Regeln' durchkreuzt werden kann. Sie erklärt sich folgender-
maßen: die Häufigkeit des Gebrauchs ist nur ein Symptom dafür, wie eng
es mit dem Substantiv assoziiert ist, wie ausgefahren die Vorstellungsgleise
1 Daß das keine Binsenwahrheit ist, beweist Haas, der, ungestört
durch meine Rezension seiner 'Grundlagen der französischen Syntax' (1912),
in seiner 'Französischen Syntax' (1917) abermals schreibt: 'Man braucht . . .
nicht über den Satz hinauszugehen' (S. 9).
256 Beurteilungen und kurze Anzeigen
schon sind, wie fest, es sich mit dem Substantiv zu einem Kompositum ver-
schmolzen hat.
Vieles wäre noch zu sagen — doch es mag genug sein: ich nmß ohnehin
um Nachsicht bitten wegen der Länge dieser Rezension. Und so viel
glaube ich gezeigt zu haben: auf welchen Ozean von Problemen der Verfasser
sich begeben hat, ohne es zu merken. Er hat nur Küsteuschiffahrt ge-
trieben.
München. Eugen Lerch.
R. E. Curtius, Die literarischen Wegbereiter des neuen Frank-
reich. Potsdam, Grustav Kiepenheuer, 1918. 277 S. 8 ".
Der akademischen Literaturwissenschaft wird oft vorgeworfen, die
jüngste Vergangenheit zu vernachlässigen. Auf dem Gebiete der französi-
schen Literatur ist unsere wissenschaftliche Betrachtung bisher kaum über
den Naturalismus Zolas und den feinen Skeptizismus Anatole Frances vor-
gedrungen. R. E. Curtius sucht diesem Mangel gründlich abzuhelfen; sein
Buch, das aus Vorlesungen des Bonner Sommersemesters 1914 hervorgegan-
gen ist, gilt den allerneuesten Wegen der französischen Literatur. Der
Verfasser geht nicht ohne sehr starkes Selbstbewußtsein an seine Aufgabe.
Er meint, es seien bisher, bis auf ihn nämlich, nur Bierbank- und Kaffee-
hausurteile über das moderne Frankreich verbreitet gewesen, man habe
gegen französische Dekadenz geeifert oder sich an französischem Ästheten-
tum, an französischer Erotik delektiert. Und er übernimmt es nun, in fünf
monographischen Studien und zwei Zusammenfassungen, der Einleitung
und dem 7. Kapitel 'Zum Bilde Frankreichs', 'Das neue . . . das wirkliche,
das ewige Frankreich' zu verkünden. Ein trockenerer Ausdruck als 'verkün-
den' ist nicht am Platze; denn Curtius fühlt sich durchaus als Prophet. Und
er war nun offenbar der Ansicht, daß es eines Propheten unwürdig sei, klar
und einfach zu sprechen, wie es die Wissenschaft tun soll, und ganz beson-
ders dann soll, wenn es sich um die Aufklärung dunkler Objekte handelt.
Vielmehr befleißigt sich Curtius, um es hart, aber deutlich zu sagen, der
manierierten Ausdrucksweise eines modernsten literarischen Klüngels, die
heute schon abgegriffen ist, nachdem sie wenige Jahre von einigen wenigen
gebraucht wurde. Die 'Schau', womit wohl Intuition verdeutscht werden
soll, obwohl es arg an Barnumsche Zirkusschau erinnert, ist ein besonders
beliebter Ausdruck dieser Manier, 'Ausfaltung', 'geistliche Gerichtetheit',
'unentfliehbar' gebe ich als weitere, sehr karg bemessene Vokabelproben des
Jargons. Da nun ein übergroßer Teil des Buches aus bloßen Übersetzungen
besteht, so wird der Leser, der sich die Verdeutschung nicht aus dem Origi-
nal erklären kann, manchmal vor Rätseln stehen und oft ein schiefes Bild
empfangen. Aber dieser Formfehler des Buches, so sehr er auch bis ins
Innerste schädigend wirkt, ist nicht der schlimmste. Sehr viel bedenklicher
erscheint mir ein anderes Moment. Curtius, der mit so stolzen Worten
unsere bisherige Kenntnis des französischen Wesens verneint, ist sich selber
über ein Wesentliches im unklaren: er weiß nicht, wie verwirrend beim
Franzosen Spiel und Ernst, Maske und Antlitz, Heldentum und Pose, Fröm-
migkeit und Koketterie, Geist und Esprit, Leidenschaft und Kühle inein-
anderzufließen vermögen. Curtius nimmt mit einer Treuherzigkeit, die mit
seinem übermodernen Stil fast komisch kontrastiert, alle Äußerungen seiner
mehr angeschwärmten als ruhig aufgefaßten Franzosen gleich ernst. Wenn
er aus Päguys Kampf gegen die Kantische Philosophie zitiert: Le Kantisme
a les mains pures, mais ü n'a pas de mains, um hierin nur das tatsächliche
Ringen nach 'Wirklichkeitsatem' zu sehen, und ohne zu merken, daß die
Pöguysche Phrase mindestens zu einem Bruchteil aus der Sucht nach Zu-
spitzung entstanden, zu einem Bruchteil also Spiel ist, so hat er Pöguy um
Beurteilungen und kurze Anzeigen 257
eben diesen Bruchteil zu ernst genommen und mißverstanden. Und solch teil-
weises Zuernstnehmen und Mißverstehen widerfährt Curtius immer wieder
den schöngeschmückten Frömmigkeiten und Begeisterungen seiner Helden
gegenüber. Wenn mir aber als ganz ewig und ganz wahr angepriesen wird,
worin ich den Bruchteil des Vergänglichen und Lügnerischen deutlich er-
kenne, dann werde ich leicht auch an den wirklichen Vorzügen des Gelobten
irra Und endlich muß noch etwas, das nach Curtius' Absicht für die 'Weg-
bereiter' erwärmen soll, den kritischen Leser skeptisch stimmen: der Verf.
sieht in der Kunst seiner Autoren das ganz Neue, das ganz Wurzellose,
läßt diese Kunst gewissermaßen vom Himmel in die französische Welt
fallen, statt aus dem alten französischen Boden hervorwachsen. Mit ihrem
Glauben, ihrer Schwärmerei, ihrer Lebensbejahung, ihrem Patriotismus stellt
er die Wegbereiter den Skeptikern, den Pessimisten, den Dekadenten, den
Internationalisten gegenüber. Das ist aber nichts Neues für Frankreich.
Immer hat der französische Boden die beiden Fruchtarten des Glaubens
und des Unglaubens getragen, und sieht man genauer hin, so erkennt man
deutlich die Verwandtschaft der scheinbar so gegensätzlichen Produkte. Als
die Französische Revolution die Religion abschaffte, erfand sie die Göttin
der Vernunft, und im katholischsten Katholizismus der Franzosen, mag er
sich noch so schwärmerisch, noch so vernunftfeindlich gebärden, ist doch
immer mehr oder weniger von der Göttin der Vernunft anzutreffen. Des-
cartes und Pascal sind zuengst verwandt. Und die stärkste französische
Skepsis ist irdischer Kulturarbeit gegenüber immer positiv und leidenschaft-
lich bejahend gewesen, und der vaterlandsloseste französische Internationa-
lismus ist immer überzeugt gewesen von Frankreichs überwältigender Ein-
zigartigkeit, von Frankreichs geistiger Auserwähltheit. Curtius' Weg-
bereiter sind Fortsetzer der tausendjährigen französischen Literatur, sie
sind nach Form und Inhalt als Fortführer und also aiich Neuerer zu erklä-
ren, nicht als Meteore himmlischer Herkunft mit dunklen Worten anzu-
beten. Übrigens wäre es für den Literarhistoriker lohnend, dem nachzu-
spüren, wie sich in ihren unmittelbaren Vorgängern (etwa in der Legende
des Liedes, aber auch, so seltsam es klingen mag, bei Zola, z. B. im Reve
alles anbahnte, was die Wegbereiter entwickelt haben . . .
Wenn ich somit dem Curtiusschen Buche eine ungeeignete manierierte
Form, mangelnde Unterscheidungskraft dem Ernst und der Pose gegenüber
und das Fehlen der literarhistorischen Verknüpfung entschieden vorwerfen
muß, so will ich darüber manches Wertvolle der aufrichtig ernst gemeinten
Arbeit nicht verkennen. In der Einleitung tritt sehr deutlich hervor, wie die
Dreyfus-Affäre in mannigfacher Hinsicht am Umschwung der Volksstim-
mung und der Umbiegung des literarischen Systems mitgewirkt hat. We-
niger gelungen scheint mir die Skizzierung der Bergsonschen Philosophie,
die Curtius an sich wahrscheinlich überschätzt, für äie jüngste französische
Literatur aber gewiß nicht zu hoch bewertet, die er jedoch einem unvor-
bereiteten Leser keineswegs klarlegen und nahebringen dürfte. Als die
eigentlichen Wegbereiter zeichnet er in besonderen Studien Gide, Rol-
land, Claudel, Suar§s und Peguy. Gide ist ihm der Vermittler zwischen den
Älteren und den Modernsten, und hier ist wenigstens der Versuch literarhistori-
schen Verknüpfens gemacht. Einige Analysen der Werke Gides und Rol-
lands zeichnen sich durch Klarheit aus, während in der Claudel-Studie viel
Überschwang und pretiöser Wortschwall herrscht. Überall stößt man auf
mehr teils französisch, teils deutsch gegebene Zitate als auf eigentliche
Charakteristik. Bei dem besonders als Kritiker gefeierten Suarös wird
man stutzig, wenn man ihn im Text als den umfassenden, alle Enge, alle
Parteien ablehnenden, von Gott und Welt erfüllten Geist gepriesen sieht, und
in einer Anmerkung erfährt, daß er im Kriege doch auch 'der Hysterie des
Hasses' erlegen sei ...
258 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Im ganzen hat sich Curtius ehrlich um das Pöguysche Ziel bemüht:
dccouvrir ce pays de France sur les routes de France. Nur eben vielleicht
zu ehrlich. Indem er alles, was von drüben kam, ganz ernst, in deutscher
Weise ernst nahm und den französischen Einschlag des Spiels nicht in
Rechnung setzte. Sein Buch kann zur Einführung und Orientierung in die
französische Moderne nur dem dienen, der genug vom französischen Wesen
weiß, um sich nicht in die Irre führen zu lassen.
München. V. K 1 e m p e r e r.
Helene Burkhardt, Studien zu Paul Hervieu als Romancier und
als Dramatiker. Zürich, Art. Institut Orell Füssli, 1917.
244S.gr. 8 •> 6 Fr.
Die Verfasserin dieser Studie besitzt zweifellos eine große schriftstelle-
rische Gewandtheit und verfügt über eine ausgedehnte Kenntnis der neueren
französischen Literatur, aber sie tritt an ihren Stoff mit einer Gebundenheit
des Urteils heran, die sich bis zur Selbstgefälligkeit steigert und infolge der
Bestimmtheit, mit der sie stark persönliche Ansichten vorträgt, sich mit
Objektivität nicht immer leicht vereinigen läßt. Im Gegensatz zu der von
Brunetiere und Hervieus Biographen Malherbe vertretenen Hochschätzung
Hervieus möchte sie seinen literarischen Ruhm wesentlich niedriger hängen.
Statt Hervieu aus Hervieu heraus gerecht zu werden, gefällt sie sich darin,
ihrem unglücklichen Opfer in gewandter Dialektik Verfehlungen aller Art
und Schwere vorzurechnen. Überall weiß sie genau zu sagen, nicht bloß wo
Hervieu irrt, sondern auch, wie er hätte verfahren müssen, um sich zu lite-
rarischer Vollkommenheit emporzuarbeiten. Was sie sagt, ist manchmal
recht geistreich, öfters recht anfechtbar; immer aber sind es Dinge, die
Hervieu gerade so gut hätte finden können, wenn er sie hätte finden wollen.
Nicht das, was Hervieu gewollt und getan hat, sondern das, was er nach
Helene Burkhardts Rezept hätte tun müssen, ist für sie die Hauptsache.
Es ist natürlich leicht, bei dieser Art von Kritik gegen einen Dramatiker
wie Hervieu, der manche offensichtliche Schwäche hat, alles mögliche ins
Treffen zu führen, und der stilistisch gewandten Verfasserin fällt es nicht
allzu schwer, an dem dankbaren Stoff die Künste ihrer Dialektik zu üben.
Aber das Wichtigste, die historische Wertung von Hervieus Werk, kommt
dabei entschieden zu kurz. Anfänge dazu sind wohl vorhanden, doch sie
reichen bei weitem nicht hin, um den Grundfehler des ganzen Standpunktes
wieder gutzumachen und eine objektive Vorstellung von der Sache zu geben.
Man wende nicht ein, daß gegenüber einem Dichter, der seine dramatischen
Hauptwerke in den JgAren 1895 — 1912 hat erscheinen lassen und erst 1915
gestorben ist, die ästhetische Wertung den Ausschlag zu geben hat. Kann
man es nicht zur historischen Einschätzung bringen, so lasse man lieber
zunächst die Hände davon.
Marburg i. H. , K u r t G 1 a s e r.
Walther Kücliler, Romain Rolland, Henri Barbusse, Fritz von
Unruh. Würzburg. Verlagsdruckerei, 1919.
In vier Vorträgen behandelt der Würzburger Romanist folgende Werke
der drei Schriftsteller: 'Jean Christophe', 'Le Feu', 'Clart^', 'Ein Geschlecht'
und 'Opfergang'. Die Wahl erscheint etwas zufällig; 'Jean Christophe' ist
ja nicht das letzte Werk von Rolland; als Küchler das Vorwort schrieb, war
ein neues, ganz anders geartetes Werk von Rolland schon einen Monat bei
Ollendorf herausgekommen, nämlich 'Colas Brugnon'; auch Unruhs 'Vor der
Beurteilungen und kurze Anzeigen 259
Entscheidung' gehörte hierher. Trotzdem kann die Auswahl bestehen, sie
ist geeint durch die Beziehung zu Deutschland und zur Gegenwart. Zuerst
behandelt K. ausführlich und eindringlich 'Jean Christophe', er zeigt die
überragende Bedeutung dieses Riesenbuches, das Unkomponierte, manchmal
fast Fragmenthafte des Aufbaues, das aber den künstlerischen Wert durch-
aus nicht schmälert. Er geht sorgfältig den 'Quellen' nach, stellt fest, wie
Elemente aus dem Leben Wagners, vor allem aber von Beethoven und Hugo
Wolf benutzt sind. Er hätte erwähnen können, daß der 'angesehenste
deutsche Komponist' die nicht immer freundlich gesehenen Züge von Richard
Strauß trägt. K. setzt sich auch breit mit der Frage auseinander, ob Rol-
land Deutschland gerecht wird oder nicht; vielleicht zu breit, denn wichtiger
bleibt doch immer, wie der Künstler sieht und schreibt, als das Was. Das
Was ist uns eben jetzt so wichtig geworden, vielleicht zu wichtig geworden
— durch den Krieg. Diesen Krieg schildert das zweite Werk, 'Le Feu' von
Barbusse, dieses große Kunstwerk trotz seiner, ich möchte in diesem Aus-
nahmefall fast sagen, mit seiner Tendenz. So unkünstlerisch a priori jede
Tendenz ist, bei Barbusse durchtränkt sie nicht die Schilderung, sondern die
objektive, brutale Schilderung zwingt die Tendenz hervor. Im Wichtigen
begegnen sich K.s Ansichten mit meinen, die ich in einer Besprechung vom
'Feu' in der 'Internationalen Monatsschrift' 1918 niedergelegt habe.
Dann Fritz von Unruh, der 'Opfergang', der bezeichnenderweise erst
'Verdun' hieß, deutsche Soldaten vor dieser blutgetränkten Festung. Als
'document humain' dem 'Feu' sichtlich unterlegen, denn' Barbusse gibt den
Soldaten, den Typ Soldat 1914/15, während Unruh eine Reihe gut gesehener
Einzelpersonen und Einzelerlebnisse zeigt. Er zeigt einige hervorragende
Vertreter, er zeigt das hell beleuchtete Individuum, Barbusse die kompakte,
dunkle Masse.
Das Trauerspiel 'Ein Geschlecht^ widersteht fast der Analyse, es ist chao-
tisch, schwer um Ausdruck ringend bis zum Unverständlichen. Allerdings
scheint die Äußerungsform des Dichters nicht der einzige Grund davon zu
sein; denn wie ich aus dem Kriegspresseamt erfuhr, soll der Stift des Zen-
sors verheerend in dem Drama gewütet haben.
'Clartß' ist wieder ein Durchschnittsschicksal, wie ein französischer
Spießer den Krieg dumpf und stumpf miterlebt und nach seiner schweren
Verwundung sich plötzlich zur 'Klarheit' durchringt.
Drei Dichter hat uns K. vorgeführt, der Deutsche der schwächste, aber
jeder eigenartig und jeder charakteristisch, jeder ausblickend nach fernen,
besseren kommenden Dingen. In diese drei Männer führt K. bestens ein
in mühsamer Philologenarbeit, die man gar nicht merkt — bei den 'Mo-
dellen' zum 'Jean Christophe' — und zugleich im weiten Rahmen der zeit-
genössischen Ideengeschichte.
Noch eines: K. bringt ausführliche Inhaltsangaben, die ganz vorzüglich
sind; und das ist ein sehr schweres Ding, man denke an die Inhaltsangaben
der Durchschnittsliteraturgeschichten. K.s Buch ist ein wissenschaftliches
Buch in gutem und — ich scheue nicht vor dem Wort — modernem Stile,
was es in Deutschland nicht allzu häufig gibt.
Jena. F. G e 1 z e r.
Paul Lehmann, Aufgaben und Anregungen der lateinischen Philo-
logie des Mittelalters. Vorgetragen am 6. Juli 1918. (Sit-
zungsber. Payr. Akad. d. Wiss., Philos. Kl. 1918, VIII. Abh.)
München 1918. 60 S.
Philologie umspannt für Lehmann — wie einst für Boeckh — ein weites
Feld: neben Sprache und Literatur auch Paläographie, Buchwesen, Biblio-
260 Beurteilungen und kurze Anzeigen
theksgeschichte. Dieses Auswachsen zur Geistesgeschiclite scheint mir mit
(h^r Beschränkung auf die Spraehform des Mittellateins nur für früheste
Jahrhunderte und für nicht alle Länder vereinbar. Denn neben dem Latein
gibt z. B. in England bereits vor 700 die Volkssprache den Ausdruck für
Dichtung und Gesetz, bald nachher auch für Urkunde, Geschichtschreibung,
Predigt und Wissenschaft. Doch what's in a name?
Ein für die Erforschung der mittelalterlichen Seele begeisterter und
durch Traube und W. Meyer bestgeschulter Gelehrter zeigt Ziele und Wege
teilweise neu, überall anregend und zuerst systematisch, so daß er schon
aus Gründen dieser Methodik jedes Mediävisten Gehör verdient. Dem
Anglisten insbesondere aber willkommen erscheinen hier reiche Nachweise
ausgewählter Literatur zur Geschichte der Geisteskultur, namentlich der Er-
haltung antiker Literatur, unter Kelten und Anglolateinern um 600 — 1000,
auch, ja namentlich, den aufs Festland übersiedelten Geistlichen. Durch
neueste und eigene Forschung verlängert, stehen hier Verzeichnisse jener
Stifter Frankreichs und Deutschlands, deren Handschriften Scoten oder
Angelsachsen als Schreiber oder als deren Lehrer in Schriftform oder
Orthographie verraten. Irische Orthographie schreibt nämlich oft a statt
0, vertauscht häufig e mit i und s mit ss und führt bisweilen u vor u oder
e ein. Des Iren Latein liebt Gräzismen, ohne daß man die Kenntnis von
griechischer Sprache etwa deshalb sich groß vorstellen darf. Auch bei den
Angelsachsen lieben Dichter samt Rhetorikern — und (möchte ich zufügen)
Urkunden — seltenen und griechischen Wortschatz. — Der Prosa der
Angelsachsen, besonders Bedas, rühmt der Verfasser nach, daß sie sich
strenger als die anderer Völker an antike Grammatik hält. Die Urkunden
erwähnt er gar nicht; und doch bieten sie für die Datierung von Schriftart,
Orthographie und Stil oft allein ein bestimmtes Jahr. — Die Herkunft eines
Kodex vermerkt manch alter Handschriftenkatalog gar nicht und mancher
neue nur ohne im Index die Ursprungsorte zu sammeln; ich möchte hier
aufmerksam machen, daß der handschriftliche Class catalogue des Manu-
script room im British Museum eine alphabetische Liste der Vorbesitzer
enthält. — Unter den Aufgaben, die der Verfasser stellt, ist auch die einer
Geschichte des Anglolateins. Ich möchte dafür zunächst nur das Latein
Canterburys, Yorks und der Scotenschüler setzen, mit elftem Jahrhundert
aber dessen in sich zusammenhängende Insularität, da das Gallolatein, be-
sonders von Le Bec, eingeführt wird, enden lassen; auszunehmen wäre
allein Britanniens Rechts- und Staatssprache: nur deren Latein in dem
halben Jahrtausend nach 1070 erlaubt nämlich, da es vom Rechte der Kirche
und des alten Rom wohl äußere Einflüsse, doch keine innere Umwälzung er-
fährt, wohl eine eigene Entwicklungsgeschichte. Es hält sich bewußt an die
Sprache landsmännischer Überlieferung, was man beim Stile der anglolatei-
nischen Theologen, Philosophen, Moralisten, Satiriker nach 1100 nicht
wird nachweisen können. Daß in der Historiographie der Stil eines großen
Geschichtschreibers ein paar Jahre nach dessen Tode auf Stiftsbrüder ab-
färbte, erhellt bei manchem Fortsetzer, z. B. bei dem des Matheus Paris;
s. Einleitungen zu Mon. Germ, liist. 27. 28.
Deutsche Fraktur-Fanatiker mögen auch hier nachlesen, wie die so-
genannt« gotische Schrift langsam, zuerst in Italien, der Antiqua wich, und
diese trotz des Namens zurückgeht auf das lO./ll. Jahrhundert. Leicht
lassen sich dem hier Zitierten Kodizes und Urkunden Südenglands um
1075 hinzufügen, die eine wahre Augenweide an Deutlichkeit und Formen-
schönheit der Antiqua-Muster bilden. — Verfasser schlägt mit Recht vor,
alle Literaturnotizen aus großen Chroniken des Mittelalters einmal syste-
matisch zu sammeln; er nennt von Insularen und Normannen nur Marian,
Orderic und Robert von Torigni; ich füge z. B. Malmesbury, Diceto, Ma-
theus Paris, Trivet hinzu. Aber wieviel derart bergen auch Map, Girald,
Beurteilungen und kurze Anzeigen 261
Bacon und vor allem Johann von Salisbury! Von letzterem bemerkt Verf.
S. 56 1 den Einfluß auf Helinand; und daß derselbe eine lateinische Odyssee-
Übersetzung gekajint habe, enthüllt er als einen Irrtum durch Verkennung
seines Horaz-Zitats. — Zu Joseph von Exeters Troia vermerkt er, der
Pariser Kodex biete kein Autograph, sondern die Abschrift durch einen
Romanen, zu Trivet und Holkot, daß auch noch diese späten Theologen heid-
nische Lateiner moralisch verwenden. — Auch solcher Einzelheiten wegen
verdient diese geistvolle Abhandlung die Beachtung der Anglisten.
Berlin. F. Liebermann.
Carl Reinholdt, Die Wundergeschichteu des Cod. Pal. germ. 118.
Diss. Greifswald 1913. 128 S.
Diese gewissenhafte Arbeit, die die Wundergeschichten des Cod. Pal.
germ. 118 (nunmehr in der Heidelberger Universitätsbibliothek) sprachlich
wie inhaltlich beleuchtet, ist ein wertvoller Beitrag zur Kenntnis des Predigt-
m.ärleins. Eine Sammlung dieses interessanten Erzählungsniaterials in Form
eines Corpus cxemplorum medii aevi bleibt eine nicht zu unterschätzende
Aufgabe künftiger literarischer Forschung, die bisher nur durch wenige
Namen, wüe Crane, Greven, Herbert, Klapper, Pfeiffer, Schönbach, Ward, um ■
nur die wichtigsten zu nennen, vertreten ist. Der Verfasser hat im Anhang
'Beiträge zur Quellenkunde der Wundergeschichten' das Quellenmaterial ein-
gehend behandelt und ist auch auf die Stoffvarianten eingegangen, z. B. 'Ein-
siedler und Engel' (Nr. 11), 'Reuner Relationen' (Nr. XIII), 'Jüngling will
Maria nicht verleugnen' (Nr. XIX), wobei ihm die lat. Geschichten einer
Greifswalder Hs. zustatten gekommen sind. Manche dieser Erzählungen
stammen natürlich auch aus den Vitaspatrum, der Mehrzahl nach aber aus
Caesarms von Heisterbach. Da jedoch Reinholdt sich noch immer auf die
in ihrer ganzen Anlage verfehlte Ausgabe der Lihri miraculorinn von
A. Meister berufen mußte, den die Bonner Hs. zur Ansetzung von drei Büchern
dieses Werkes veranlaßte und, was noch bedauerlicher ist, zu einer falschen
Anordnung der einzelnen Geschichten, so ist manches Caesarius abzusprechen,
was bei einer kritischen Nachprüfung lediglich als Zusatz des Kompilators
des Bonner Codex sich erweist. Näheres bringt meine bereits abgeschlossene
Neuausgabe der Lihri duo exemploriim- Caesarii Heisterbaeensis. Demnach
ist Caesarius nicht die Quelle bzw. Variante zu Nr. X, XIV, XIX (nur Dial.
mir.), XXIX, XXX, XXXIV. Über die Herkunft von Nr. VII wird nichts
gesagt; wir finden den gleichen Stoff im Viaticum narrationum, vgl. ferner
Germ. IX 284: Herbert, 'Cat. of romances,' vol. III, S. 590; Klapper, 'Er-
zählungen des Mittelalters,' Breslau 1914, S. 325. — Die eigentümliche Form
der Geschichte von den beiden Schülern der Schwarzkunst (Nr. XIII), mit
der sich der Verfasser ausführlich beschäftigt, ist eine Abart der alten, von
Schönbach in seinen 'Reuner Relationen' untersuchten Legende, die in
des Caesarius Dial. mir. I 33 verkürzt erscheint, aber in ganz ähnlicher
Form von mir in zwei Hss. des Dial. mir. gelesen wurde. Bei der Wichtig-
keit dieses Motivs teile ich diese nach Hs. Leipzig, Lniv.-Bibl. 445 (s. XV),
Bl. 13^a mit:
In arte nigromancie cuius titulus 'Mors anime scribitur duo iuveues Stu-
diosi sicut didici leccione, non relacione apud civitatem Tholetum stude-
bant, discipuli hactenus et iam' proficicntes in magistros. Accidit ut unus
illorum usque ad mortem infirmaretur, et iam tempus instabat et hora ut
morcretur. Desperatus a medicis et spem in Deum non habuit, sed et illam
sine qua nemo salvatur voluntatem amiserat ecclesie celestis. Sic moritur,
vitam hanc amittens nee admissus ad illam. Positus in extremis ad mortem
tendit, vitam non sentit et socius in eo temptat primum quod nigromancia
promittit, nam statum mortuorum scire volentibus ip^a pollicetur. Ait enim
262 Beurteilungen und kurze Anzeigen
10 nigroniantice ut die septima redeat et se revelet sibi, locum tempusque de-
signat Moritur ille corpore, sed et titulo artis sue, nisi quod titulus in eo
completus est prius, nam antea fuit in anima quam in corpore mortuus. Venit
dies designatus et ad locum designatum ut refert Inquisitor alibi socius,
spectans et ipse, cuccurrit ille, an sit ipse socius eius cum admiracione per-
15 quirit. 'Ego sum' inquid 'nee me alium suspiceris'. 'Quomodo' ait 'circa te
agitur'? 'Male' inquit 'nee aliter quam ai*s niichi promittit'. Et ille: 'übi
habitas?' 'In iuferno'; inquit 'etai hie videar, infernus michi tamen nusquam
deest cui nunquara et nusquam bene est. Id de me senti: ubicumque sum,
torqueor et crucior in hac flanima.' 'Qua?' inquit. 'In qua dives ille torque-
20 batur. Ut clibanus ardeo et ab igne non deseror; ignis enim et massa ego
sum'. 'Quomodo' ait 'est illud, cum ego id non video?' Erat autem in-
dutus cappa nigra que scripta erat per totum intus et foris. Et mortuus:
'Vis videre incendium meum quo ego crucior?' 'Libenter' inquit. lactansque
oram cappe levavit abante: inde scintilla resiliens viventis manum tetigit et
25 voravit atque perforavit. Dolet, clamat, ipse ferre non sustinens. Cui socius :
'Si tarn durum tibi est ferre scintillam, quid sentire me putas qui totus sie
ardeo? Et miserius [est] hoc quod non levior sit michi pena nee finis in
pena.' Exclamat ille: 'Heu quod nascimur, quod intramus vitam istam, sed
[quid] si transimus ad illam post vitam?' At ille: 'Qui vita beate utuntur
30 et recte, et melius et beacius vivunt, nam vita data est hominibus, ut in ea
vite melioris beatitudinem mereantur; sed qui negligunt ipsius indultum,
similes mei erunt et sicut ego semper ardeo, ita et ipsi semper ardebunt nee
cessabunt.' Horror invadit iuvenem; ut fomacem ferrarii desub cappa videt
illum fumigantem atque flammantem et querit ab illo: 'Quid hec scriptura
35 significat in cappa,' nam intus et foris videbatur scripta 'quid cappa ipsa
qua indueris nigra et sordida?' 'Cappa' inquid 'totum me eapiens totam
vitam nieam significat qua in seculo male vixi et sordide, quod et color eius
exponit. Scriptura eius exterior exteriores actus meos et hominibus mani-
festos siguificat, interior vero archana mea significat, prava utique que nunc
40 luo omnia et reddo uaque ad novissimum quadrantem.' Ad quem socius
cum longo suspirio: 'Ego' inquit 'novi te intus et in cute similiter et te
ampliora comraisi. Quid ergo erit michi?' 'Eadem' inquit 'pacieris que et
ego pacior. Si sustinueris ad hoc, potes ad meliora converti, donec spacium
habes et copiam promerendi. Hie quamdiu viges sensu et libero arbitrio
45 uteris, nierendi locus est. Post exitum anime iam non est meritum, sed
meritis frui.' 'Quo ergo me vertam?' ait alter. 'Converti volo, renunciare
seculo et vacare Deo, sed in quo ordine nescio.' Ad hec mortuus: 'Que Dei
sunt, iam michi scire non licebit, quia cum licuerit, non curavi.' Cui ille:
'Vel que in inferno sunt nosti?' 'Novi' ait 'et bene novi ipsaque noticia pena
50 quam maxima est michi.' 'Estne' inquit 'ibi cognicio personarum, distinccio
graduura, distinccio professionum?' 'Est,' ait 'sunt ibi ordines sine ordine
cum turbine et confusione penarum eos involvente, cognicione tamen singu-
lorum vel de merito integro permanente.' 'Quorum' inquit 'ordinum animas
plus vel minus habet infernus?' 'NuUus' ait 'ordo, nulla professio immunis
55 est hinc, sed monachorum quos griseos vocant minus habet. Hos pastorum
suorum cura conservat, nam alii maxime rectorum negliencia pereunt. Iam
ad locum unde veni revertar, manere ultra non licet.' 'Unum' ait socius 'die
michi: an iuvari possis?' 'Non possum.' inquit 'perditus sum et pro me
orare non licet.' Quo diclo mox evanuit ab oculis eius. Ille vero monachus
60 fit in ordine nostro, manum habens hodie qüoque perforatam, si vivit, vivens
ita de cetero ut mortem evaderet anime et evadendi aliis exempla preberet.
Nr. XIV ist wie Anhang Nr. 1, S. 208 ff. in der Meisterschen Ausgabe
der Libri mir. des Caes. eine Verstümmelung der bekannten Visio s. Pauli
(hg. von H. Brandes, Halle 1885). Reinholdt hat S. 111, Anm. mit Recht
auf die Lücke in Meisters Text hingewiesen, wo es heißt: ab eo (dracone)
Beurteilungea und kurze Anzeigen 263
procedunt omnes serpentes et omnia genera vermium | et mali ministratores
= dt.: unde von sj'me stänke kommen alle vor giftige slangen unde worme.
In synen munt werden geworffin alle fogede, czolnere, czysenseczer
rechtsprechir unde kreter. Dies entspricht bei Brandes (Fassung I, S. 65, 17):
Ab eo procedunt copic ranarum et omnia genera vermium. In ore eius
mittuntur satrape omnes, qui iniquitatem faciunt in terra cum principibus.
— Zu Nr. XXIII ist keine Parallele angegeben; vgl. Ward, Cat. of romances,
vol. II, S. 668. Die Geschichte findet sich auch in der Hs. Leipzig, üniv.-
Bibl. 445, El. 264va (De heretico et monacho). — Nr. XXVIII mit der Be-
kehrung des Wucherers kann nicht auf Caes. dial. mir. II 32 zurückgehen,
sondern auf eine Erzählung verwandten Inhalts in derselben Leipziger Hs.,
deren Schluß übrigens dasselbe unbußfertige Verhalten des Wucherers auf-
Aveist wie in der Predigt des Bruders Berthold (Germ. III, S. 407 ff.). Auch
diese Fassung sei hier abgedruckt:
Beatus Petrus, primum monachus nostri ordinis, post abbas, postremum
episcopus Tharentinus fuit, pluris tarnen habens monachatum quam episco-
, patum, cucullam quam infulam. Monachus sibi, plebi episcopus prefuit,
perfectus in utroque, duo hec officia competenter implevit. Hie sanctus dum
mira faceret, vera predicaret, magna promitteret, venit vir ad eum qui non 6
posuit Deum adiutorem suum, sed speravit in multitudine diviciarum suarum
et prevaluit in vanitate sua. 'Heu tu,' inquit, 'vir bone, bona multa sunt
michi, que tamen non bene acquisivi, lucris et usuris congesta sunt. Scire
velim quid velit Dens super hiis l'ieri.' Ad quem sanctus: 'Si queris' ai*-
'consilium, bene consulo: Frumentum habes ex fenore?' 'Eciam' inquit 'et lO
multum'. Item episcopus: 'Voca viduam pauperem et da illi modios duos,
datos ab ea redime et in scrinio seorsum pone.' Letus ille quasi pro re-
demptore anime sue abiit et fecit sie, iussus ab eo scrinium claudere et
sequenti raaue contemplari. Et factum est ita. Aperuit et ecce reptilia quorum
non erat numerus, serpentes et rane quas bufones vocant, sed et onme 15
genus horridum visu, pavendum auditu; versa in hec fuit elemosina illa. Tot
erant bestie quot grana frumenti, que omnia versa in sibilos capita proten-
debant et inclusorem suum devorare gestiebant. Exanimis ille claudit denuo,
currit et irruit ad episcopum, refert factum, querit consilium. Et sanctus:
'En' inquit 'ostendit tibi Deus quid lucra tua mereantur et in qualem ma- 20
teriam post hanc vitam convertantur. Si vis modo acquiescere michi, con-
silium capies et in brevi etemos illos vermes et morsus eorum infinitos ipse
non finiendos evades.' '0 quam libenter' exclamat ille, non facturus tamen
quod cousuleret episcopus 'Vade' inquit 'et in medio illorum te proice, securus
et certus quod in crastinum illesus exibis et vulnus aut macula non erit in 25
te.' Eeclamat miser in fide deficiens, iussa non faciens: '0 episcope, si vi-
disses horrorem, si audisses sibilos eorum et stridorem, linguarum atten-
disses extensionem, caudarum comminacionem, non me velles eorum cohabi-
tatorem. lube aliud quod vis; in hoc non acquiesco tibi.' Cui episcopus:
'Si una nocte cum hiis esse ita durum, quos tamen crastino sanus evaderes, 30
quid facies in extremum mansurus cum eis et rodendus ab eis?' — Sic vani
filii hominum et sibi de vanitate mencientes et se in idipsum decipientes,
dum presencia quam futura pluris estiniant, appetuut suavia, dura refugiunt,
volunt hie divites fieri et incidere in temptacionem et laqueum dyaboli de
quo non facilis copia sit denuo exeundi. Ita factum est et huic qui meritum 36
suum in episcopi virtute cognovit, non tamen ad salutem, quia bonum audire
noluit consulem.
Zu Nr. XXX vgl. Klapper a. a. 0. S. 325 (vgl. Odo de Ceritona).
Greifswald. Alfons Hilka.
Verzeichnis
der eingelaufenen Druckschriften.
Neuere Sprachen.
Die neueren Sprachen, hg. von W. K ü c h 1 e r und T h. Zeiger. XXVI,
7/8 Dezember— Januar 1919 [F. Dörr, W. Vietor f. Zum Gedächtnis. — K.
Eckermann, Die Umformung als Hilfsmittel für Vertiefung des Sprachunter-
richtes. — L. Spitzer, Über syntaktische Methoden auf romanischem Gebiet.
— Anna Brunnemann, Baudelaire und sein Übersetzer Stefan George. —
Vermischtes. — Anzeiger]. XXVI, 9/10 Februar — März 1919 [A. Schröer,
Wilhelm Vietors sprachwissenschaftl. Bedeutung. — Th. Speidel, Zur Phonetik
der Vokale. — Gertrud Jahrmann, 'Syr Gawayne and the Grene Knyght'
und Stuckens 'Gawän'. — M. Kuttner, Pro domo. — K. Richter, Wie treibt
man in der Schule praktische Literaturgeschichte? — Vermischtes. — An-
zeiger]. XXVII, 1/2 April— Mai 1919 [W. Küchler, Ernest Renans Jugend-
werk 'L'Avenir de la Science'. — M. Freund, Die Nationalhymnen der Ir-
länder. — Th. Schöningh, Zum Kampfe gegen den neusprachlichen Unter-
richt. — Vermischtes. — Anzeiger]. XXVII, 3/4 Juni— Juli 1919 [H. Mutsch-
mann, Sarah Austin und die deutsche Literatur. — H. Schmidt, Beiträge zur
französischen Syntax (XII) . — Eug. Lerch, Die zwei Arten des französischen
Konjunktivs. — Vermischtes. — Anzeiger].
Romanisch.
Zeitschrift für romanische Philologie, hg. von E. H ö p f f n e r. XXXIX, 6.
1919 [A. Stimming, Über Haplologie im Französischen. — > E. Höpflfner, Die
Berner und die Oxforder 'Folie Tristan' (Schluß). — F. Settegast, Über
einige Fälle von Wortmischung im Romanischen. — Vermischtes: H. Schu-
chardt, Mallork. aguinar 'wiehern', sp. escoUmoso, escolimado 'störrisch',
'kränklich' usw., katal. cuM 'hohl', katal. poll 'Laus', katal. blastomar. — G.
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Infgrieure. — M. L. Wagner, Südital. sihlda, sa.Td..ifss/<t/dr/. ital. sulla, span.
sulla, zulla, napol. rente, renza. — E. Richter, Das Scheinsubjekt 'es' in den
romanischen Sprachen. — K. v. Ettmayer, Zur Rolle der Musik in der Metrik
der afrz. und aprov. Lyrik. — Besprechungen].
Romanische Forschungen, hg. von K. V o 1 1 ni ö 1 1 e r, XVIII, 1 ; ausgege-
ben im Mai 1919 [C. Decurtins, Rätoromanische Chrestomathie, XII. Band,
hg. von Chr. Caminada und Maria Decurtins].
Archivum Romanicum, hg. von G. Bertoni. Vol. II No. 1, Gennaio^ —
Marzo 1918 [P. de Labriolle, Pompa diaboli. — J. Vising, La repr6sentation
f rangaise des groupes initiaux sl,_ sm, sn. — G. Bertoni, Notizie sugli amanu-
ensi degli Estensi nel quattrocento. — Varietä e Aneddoti: G. Bertoni,
Quattro discussioni etimologiche. — Note etimologiche e lessicali provenzali
e franco-provenzali. — Tre voci giuridiche in antico friulano. — Nuove
ricerche su Matteo Maria Boiardo e sulle sue relazioni con i Signori di Fer-
rara. — Una 'putina de legno' di Lucrezia Borgia. — Bibliografia. - —
Cronäca bibliografica e critica]. — No. 2, Aprile — Giugno [E. Platz, Re-
cherches sur la formation du genre et la superposition verbale d'aprös l'Atlas
linguistique de la France. — L. Frati, Ginnte agli 'Inizii di antiche poesie
italiaue religiöse e morali' a cura di A. Tenneroni (continua). — Varietä e
Aneddoti: G. Bertoni, Etimologie varie. — Ant. lomb. 'frasata' e tergest.
'belisis'. — R. Gatti, Appunti di toponomastica iesina. — T. Sorbelli, Imi-
Verzeichnis der eiagdaufenen Druckschriften 265
tazioni e traduzioni in latino della canzone 'Chiare, fresche e dolci acque'
del Petrarca. — Bibliografia. — Cronaca bibliografica e critica]. — No. 3,
Luglio — öettembre [Camilla Conigliani, L'amore e l'avventura nei 'Lais' di
Maria di Francia. — A. Jeanroy et A. Längfors, Chansons infidites tir§es
du manuscrit frangais 846 de la Bibliothöque nationale (ä suivrej. — L. Frati,
liunte agli "Inizii di antiche poesie religiöse e morali" a cura di A. Tenne-
roni (continua). — G. Bertoni, Un nuovo giuoco di societä alla corte estense
neir etä del Rinascimento. — Varietä e Aneddoti: G. Bertoni, Etimologie.
— J. Niquille, Anc. frang. 'conrei' nourriture, repas. — L. Clädat, Les pro-
noms Italiens ne, vi, ci, ce. — G. Bertoni, Un nuovo poeta italiano delle ori-
gini]. — No. 4, Ottobre — Dicembre [Varietä e Aneddoti: Blanche Sutorius,
Le doctrinal de Raimon de Castelnou (ßeproduction diplomatique du ms.
Libri 105). — T. Sorbelli, Fantasmi poetici nella canzone: 'Chiare, fresche e
dolci acque'. — Ambrosina Eini, Noterelle di morfologia bormina. — G. Ber-
toni, Una lettera di Guido Postumo Silvestri a Lodovico Ariosto. — Nuovi
canti di uccelli in dialetti alto-italiani. — Bibliografia]. — Vol. III, No. 1,
Gennaio — Marzo 1919 [A. Jeanroy et A. Längfors, Chansons iuMites tir<5es
du maniscrit frangais 846 de la Bibliothöque nationale (ä suivre). — C. Fahre,
Un poöme inßdit de Peire Cardinal. — G. Bertoni, Nota alto studio prece-
dente. — G. Bertoni, Le tenzoni del frammento francese di Berna A. 95. —
L. Frati, Giunte agli 'Inizii. di antiche poesie religiöse a cura di A. Tenne-
roni' (fine). — Varietä e Aneddoti: M. Mörner, Le 'terminus a quo' du
Chevalier au liou. — G. Bertoni, Etimologie italiane, francesi e franco-pro-
venzali. — Bibliografia].
V. Wartburg, W., Zur Benennung des Schafs in, den romanischen
Sprachen. Ein Beitrag zur Frage der provinziellen Differenzierung des spä-
teren Lateins. Mit zwei Ivarten. Aus den 'Abhandlungen der Preußischen
Akademie der Wissenschaften', Jahrgang 1918. Phil. -bist. Kl. Nr. 10. Berlin
1918. 36 S. [Gründlicher und lehrreicher Aufsatz, der zwischen lat. ovis,
aries, vervex und den vielen romanischen Bezeichnungen im ganzen mit
Erfolg die historische Verbindung herstellt. Besonders anziehend ist der Ab-
schnitt über vervex und die Bedeutungsverschiebung, die es in Nordfrank-
reich erfahren hat. Was S. 17 unten gesagt wird, bedurfte zum mindesten
einer Quellenangabe. Daß suisannare nur im Spanischen fortlebe (S. 7),
kann trotz der Herleitung von afrz. seoner durch Jud nicht als sicher gelten,
vgl. REW. Nr. 8392.]
Ettmayer, Karl Ritter v., Vademecum für Studierende der romani-
schen Philologie. Heidelberg, C. Winter, 1919. VIII, 187 S. 4,80 M. [Viel-
leicht sind noch nie höhere Ansprüche an zum 'Mitgehn' eingeladene Stu-
dierende gestellt worden, als es hier geschieht; ein Titel 'Gespräche mit
Fachgenossen' wäre dem Inhalte entsprechender, und das gilt auch von der
syntaktischen Analyse der Straßburger Eide und der literarhistorischen
»Interpretation des Ritmo Cassinese. Am ehesten faßlich für den Studieren-
den wild noch • das über die Ausgaben der literarhistorischen Forschung
Vorgetragene sein. Recht eigenartig ist die Sicherheit, mit der Methoden-,
Definitions-, Einteilungs- und Abgrenzungsfragen behandelt werden, als ob
da nicht vieles teils an sich problematisch, teils eine andere Auffassung zu-
lassend, teils überhaupt mangels Vorarbeiten ungeklärt wäre, z. B. wenn die
gesamte Dialektkunde in das Gebiet der Stilistik verwiesen und der Dialekt
als Stilgattung bezeichnet wird. Auch sonst fehlt es nicht an neuartigen
Aufstellungen und Behauptungen, die Bedenken erregen und zum Wider-
spruch herausfordern, so das über den altfranzösischen Stil gegenüber dem
neufranzösischen Geäußerte, so wenn der 'Aucassin' als ein Versuch dar-
gestellt wird, 'dem Siege.slauf, den die Artuslegende seit Crestien in der höfi-
schen Literatur durchschritten hatte, ein Paroli zu bieten', oder wenn der
aordfranzösischen Lyrik von Anfang an selbständige Züge zuerkannt werden.
Archiv f. n. Sprachen. 139. 18
!^66 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
Aber daneben steht glücklicherweise auch viel mit berechtigter Originalität
(ieschautes, mancherlei sorgsam Durchdachtes und fein Abgewogenes, das
sehr anregend wirkt und zum Teil als wirklicher Gewinn gebucht werden
kann. Auf Einzelheiten einzugehen ist hier nicht der Ort, doch kann ich
nicht umhin, zu bemerken, daß schon wegen des folgenden Konjunktivs nicht
begreiflich ist, wie das com in der Eulalia 19 temporale Bedeutung haben
sollte (S. 70), daß die Deutung des altresi in den Eiden gewiß nicht das
Richtige trifft (S. 71) und daß die Behauptung, wir hätten, 'Gott sei Dank,
so inhaltsreiche, so geistvolle, so wohlgeordnete Literaturgeschichten . . .'
(S, 138), ungemein überrascht.]
B a r w i c k , K., Die sogenannte Appendix Probi. S.-A. aus 'Hermes"
54. Bd. 1919. S. 409 — 22. [Es wird der Nachweis unternommen, daß die
Appendix Probi, deren maßgebende Hs. (Vind. 17) unmittelbar auf die In-
stituta artium folgt, ein Rest aus den verlorenen und in den Instituta artimn
zitierten Teilen eines grammatischen Werkes ist.]
Richter, Elise, Fremdwortkunde. Aus Natur und Geisteswelt Nr. 570.
Leipzig und Berlin, Teubner, 1919. 138 S. [Ein lehrreiches, klar und an-
ziehend geschriebenes Buch, das den Romanisten nicht weniger als den Ger-
manisten interessieren muß. In guter Stoffanordnung behandelt die gelehrte
Verfasserin zuerst die Abwanderung der Wörter mit den Unterabteilungen
Teilkultur, Allgemeine Kultur, Politische Verhältnisse, dann die Aufnahme
der Wörter (1. Warum werden die Wörter aufgenommen? 2. Was wird auf-
genommen? 3. Wie wird aufgenommen?), weiterhin die internationalen Bil-
dungen sowie die Wanderwörter und schließlich den Kampf wider das Fremd-
wort (1. Die Entwöhnung vom Fremdwort; 2. Der Ersatz des Fremdwortes).
In manchen Punkten kann und muß man widersprechen, so wenn es heißt,
daß 'das deutsche Wort nicht gleich zur Hand war'. Der Grund für letzteres
liegt trotz allem S. 52 Vorgebrachten doch letzten Endes in der Ausland-
verehrung des Deutschen, seinem Mangel an völkischem Sinn, der ihm von
Anbeginn eigen ist und keineswegs erst im 18. Jahrhundert erwacht, wie
S. 47 behauptet wird, während es S. 60 wieder richtig heißt, daß die Fran-
zosen es immer als etwas Selbstverständliches angesehen haben, ohne deutsche
Wörter auszukommen. Zu S. 89 — 91, wo man übrigens die sonstige Klarheit
der Darstellung bzw. Anschauung vermißt, ist zu bemerken, daß Deutsch-
land im 16. Jahrhundert kulturell nicht weniger entwickelt war als Frank-
reich. Der Satz 'Die weltbürgerliche Gesinnung, der Sehönheitstraum frü-
herer Zeiten, wird politisch geforderte Wahrheit der nächsten Zukunft'
(S. 103) muß mit aller Entschiedenheit abgelehnt werden, und wenn es
weiterhin heißt, daß 'weltbürgerliche und weltmännische Vorurteilslosigkeit
weit entfernt ist von läppischer Auslanddienerei, daß da eine scharfe Schei-
dung not tut', so ist dagegen einzuwenden, daß eine solche Scheidung wohl
ein hochentwickeltes Individuum vornehmen kann, aber nicht ein Volk, am
allerwenigsten das deutsche. Ist es richtig, daß der Kampf wider das Fremd- '
wort gar keine rein sprachliche Frage ist, sondern eine völkische (S. 136) ?
Vielleicht wird man sich nur auf den Wunsch beschränken müssen, daß dem
. so wäre. — Gern hätte man es gesehen, wenn Verf. mehr Beispiele von
gut zu verdeutschenden Wörtern gegeben hätte, z. B. 'konsequent' = 'folge-
richtig', wobei denn etwas gegen die 'Verdeutschungswörterbücher' gesagt
werden konnte — ich denke z. B. an das von Fr. Düsel (1915) — , die eigent-
lich nur Fremdwörterbücher sind, 'da sie für ein Wort vielfach eine große
Zahl von Ausdrücken bringen, von denen kein einziger einen Ersatz dar-
stellt. Auch würde es sich empfohlen haben, Wörter wie 'perfide' und 'bor-
niert' als Fälle für Unersetzbarkeit anzuführen, weil sich unser 'treulos' und
'beschränkt' weder dem Umfang noch dem Stärkegrade nach damit decken.
'Anschrift' für 'Adresse' wird sich übrigens trotz des an sich nicht unberech-
tigten Einspruches der Verfasserin, wie es scheint, doch durchsetzen. — Die
Verzek-bnis der eingelaufenen Druckschriften 267
S. 21 fT. gebotene Zusammenstellung germanischer Etyma ist dankenswert,
bedarf aber etwelcher Überprüfung. Es fehlt z. B. afrz. espoit < ahd. speht
(wie auch bei Meyer-Lübke, REW.) , prov. esclau neben afrz. esclou. Alerion
< adala7-o ist doch recht fraglich. Ein fränk. hestr bedarf zum wenigsten
eines Sternchens. S. 21 muß es anstatt prov. hiaunie heißen : prov. elm, afrz.
hiaume. S. 62 wird frz. Arnaud als Gattungsname 'Feigling* aufgeführt,
aber Sachs. Suppl. verzeichnet nur arnau aus der Gaunersprache. Daß -ittus
germanischer Herkunft sein soll (S. 61), beruht wohl nur auf einem Ver-
sehen; Ezz(elino) gehört nicht in den dortigen Zusammenhang. Nehmena
und gehena (S. 135 — '36) sind mit Rücksicht auf das kurz vorher Bemerkte
nicht verständlich.]
L e r c h , Eug., Die Verwendung des romani.sehen Futurums als Ausdruck
eines sittlichen Sollens. Gekrönte Preisarbeit der Samson-Stiftung bei der
Bayr. Akademie der Wissenschaften. Leipzig, Reisland, 1919. VIII, 427 S.
[Nur selten wird einer sprachlichen Erscheinung eine so gründliche Unter-
suchung zuteil, wie es hier geschehen ist. Auf eine übersichtlich gehaltene
Einleitung, die die vorhandene Literatur kritisch beleuchtet, folgt ein syste-
matischer Teil, dessen Ergebnis, daß 'sowohl die kategorische wie die sug-
gestive Gebrauchswei.se des Futurums aus der rein prophetischen bezw. Po-
tentialen, auf alle Fälle aber rein ansagenden oder rein indikativischen Ge-
brauchsweise entspringen', man als gesichert ansehen kann. Es fehlt nicht
an geistvollen und feinsinnigen Einzelbemerkungen, und groß ist die Be-
lesenheit des Autors. Sie tut sich in langen Reihen von Belegstellen dar,
unter denen die französischen durchaus im Mittelpunkte stehen. Die Häu-
fung der Beispiele erklärt sich wohl daraus, daß L. hat zeigen wollen, wie
verhältnismäßig gering an Zahl dagegen die deutschen und englischen Stellen
sind, die er gleichfalls vorführt (s. auch S. 424 — 26), und daß das Heische-
futurum für das Französische besonders charakteristisch sei; ja, in dem
'Historischen Teil', in dem es sich nur um das Französische handelt, wird
letzteres sogar als Tatsache hingestellt ('das Heischefuturum ist etwas spe-
zifisch Französisches'). Dieser Nachweis kann nicht ohne weiteres als er-
bracht gelten, denn einmal fragt es sich doch, ob L. dem Deutschen und Eng-
lischen die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt haben kann (im gesprochenen
Deutsch begegnet es ieden falls garnicht so selten), und dann muß die Erklä-
rung aus der 'Impulsivität' der Franzosen als einigermaßen problematisch
erscheinen. Letzteres scheint L. denn auch gefühlt zu haben, denn er
schwächt gleich seine These dahin ab, daß er sagt: 'es scheint im Fran-
zösischen vergleichsweise häufiger zu sein'. Wenn aber nur dies das Er-
gebnis sein soll, wozu dann eine so lange Betrachtung wie die von S. 286
bis S. 321? Die zweite These des Historischen Teils 'Das Heischefuturum
ist im Französischen vermutlich kein Latinismus' ist 'vielleicht richtig, in-
dessen etwas wohlfeil gegenüber der Tatsache, daß es im Lateinischen doch
schon existiert hat. Dagegen kann man wieder den Ausführungen zur 3. und
4. These zustimmen ('Das H.-F. ist populär' und 'Die kategorische Form des
H.-F. ist eine Ausdrucksweise des Affekts'), nur ist wohl nicht genug berück-
sichtigt, daß es, abgesehen vom Temperament, beim Gebildeten doch nicht
wonig darauf ankommt, zu wem er spricht und sprechen muß. also auf die
äußeren Bedingungen. — Was als historischer Teil bezeichnet wird, wäre
V)esser psychologischer genannt worden, und die historische Übersicht
(S. 347 ff.) durfte um so mehr dem 1. Teil angeschlossen werden, als man ja
aus den im letzteren gebotenen Beispielen schon einigermaßen auf die chro-
nologische Verteilung schließen konnte. — Noch einige Bemerkungen im
einzelnen: Was Engländer in seiner Dissertation vorträgt, trifft im ganzen
das Richtige (S. 25) ; für ursprünglich fragendes oz spricht u. a. das häufige
aus tu in den ältesten provenzalischen Urkunden, vgl. auch Romania XXXI,
131. Übrigens wird irrtümlich behauptet, daß Meyer-Lübke, Gr. TT § 151,
18*
268 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
welche Stelle überdies in falschem Zusammenhang aufgeführt ist, als audi
erklärt. An der S. 85 aus R. de Vaqueiras angeführten Stelle liegt sicher
suggestives Futurum vor. Das S. 140 genannte provenzalische Gedicht ist
nicht nur ziemlich, sondern (wegen der vielen Anspielungen) sehr un-
klar, s. Archiv 138, 282. Mar + Futurum kann nicht als kategorisch gelten
(S. 88), vielmehr ist die gleich im folgenden vorgenommene Deutung als
konditionell gewiß richtig; ein Etymon malo augurio verbietet sich schon
wegen des prov. mala. Die Erklärung von mar -\- Konj. kann nicht befrie-
digen; die Anmerkung zu meinen zwei altfrz. Dichtungen II. 235 — 37 scheint
L. entgangen zu sein. Das im ersten Abschnitt von S. 91 Vorgetragene ist
sehr unwahrscheinlich; streiche a>if S. 92 das mar ferez. TJol. 1709 kann
füglich nur als konditional aufgefaßt werden (S. 195). Schon in Mme Bovary
heißt es: quoiqu'il lui faudra pourtant suivre Ics autres (zu S. 229 unten).
Daß man den Dichtern höfischer Eomane einen gewissen Anteil an der Ent-
wicklung milderer Sitten zuzuerkennen habe (S. 372), ist doch nur eine
Hypothese, ingleichen daß zwischen vilain und Herrn das Gefühl der Sym-
pathie geherrscht habe (S. 375) ; wie kommt es denn, daß die allermeisten
Dichtungen von Verachtung gegen den vilain voll sind? Die Authentizität
der Keuschheitsgürtel (S. 373) kann nicht bestritten werden, s. A. Schultz,
Höf. Leben I, 595. Erst müßte nachgewiesen werden, daß sich das Pronomen
in der 2. Person am frühesten durchgesetzt hat, ehe das S. 397 Anm. Gesagte
halbwegs auf Richtigkeit Anspruch machen kann. Was S. 399 — 400 steht,
wäre besser fortgeblieben, da hier die Zuständigkeit des Autors fraglich er-
scheinen muß. Irrtum vorbehaltlich, sind die Stellen nicht näher ins Auge
gefaßt, an denen Imperativ und Futurum sieh unmittelbar nebeneinander
finden, so z. B. Folque de Candie 4919, 7271, 7810, so auch in den Makka-
bäern, vgl. Lerch S. 125. — Hier und da trifft man auf Spuren der Eile:
S. 3 Anm. 1 fehlt die Stellenangabe bei Diez [Gr. III, 282 Anm.]. Streiche
im Beispiel aus Racine das erste vous (S. 121). Ponrrait ist gesperrt zu
drucken, nicht serait (S. 229). S. 232 1. Doon de Maience p. 197 statt 195
und schreibe mousterrai. Ein Fablel unter dem Titel 'la male dame' steht
nicht in der Sammlung von Montaiglon-Raynaud (S. 387) ; etwas weiter ist
der Text ganz in Unordnung geraten. Schreibe M.-R. III, 158 statt 74, I, 111
statt 6 (S. 388) ; auch steht nicht hattez-leur im Text. — Das Anführen von
Stellen aus Voßlers Buch, dem es bekanntlich an Subjektivität nicht fehlt,
überschreitet in den letzten Abschnitten denn doch jedes Maß. Wenn in
einem 'Nachwort' von Toblers und Voßlers Schule geredet wird, so muß gegen
diese Gegenüberstellung Einspruch erhoben werden. Auch Toblers Unter-
suchungen gebricht es nicht an der psychologischen Note, nur freilich, daß
er sehr vorsichtig zu Werke geht und so geartete Deutungen nur bei ganz
sicheren Unterlagen vornimmt.]
Pauli, J., 'Enfant', 'gartjon', 'fille' dans les langues romanes. Lund,
Lindstedt. 1919. 426 S.
Französisch.
Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, hg. von D. Behrens.
XLV, 4 und 5 [Abhandlungen: K. Glaser, Beiträge zur Geschichte der poli-
tischen Literatur Frankreichs in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.
Dritter Teil. — K. von Ettmayer, Satzobjekte und ObjektoTde im Französi-
schen. — E. Gamillscheg, Beiträge zur französischen Lautgeschichte. I. Zur
M-ti-Frage. — W. Meyer-Lübke, Zur «-w-Frage. — L. Spitzer, Frz. hahiller
prov. avol — frz. hillet — span. dihujar 'zeichnen' — frz. dehoissier. —
Referate und Rezensionen: A. Schulze, Zwei altfranzösische Dichtungen, hg.
von 0. Schultz-Gora (3. Aufl.). — H. Heiß, P. Martino, Le roman r^aliste
soTis le second empire. — W. Martini, Aug. Dupuy, France et AUemagne.
Litteratures comparöes. — W. Martini, P. Soblik, Werther und Ren6].
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 269
V o ß 1 e r , K., Französische Philologie, in 'Wissenschaftliche Forschungs-
gebiete', hg.- von K. Hönn. I. Gotha, Perthes, 1919. 68 S. M. 4.
Sneyders de Vogel, K., Syutaxe historique du f rangais, in der
'Neophilologischen Bibliothek'. Groningue, la Haye, 1919. VIII, 389 S.
Seifert, Eva, Zur Entwicklung der Proparoxytoua auf 'ite, 'ita, 'itu
im Galloromanischen. Berliner Diss., 1919. 121 S.
Fuchs, Ph., Das altfranzösische Verbum errer mit seinen Stammes-
verwandten und das Aussterben dieses Wortes. Münchener Diss., 1919. 61 S.
Repetitorien zum Studium altfranzösischer Literaturdenkmäler, hg. von
K. V. Ettmayer. Nr. 2: E. Winkler, Das Rolandslied. Heidelberg,
C. Winter, 1919. 40 S. [Praktische und den Bedürfnissen wohlangepaßte
Zusammenstellung des Wichtigsten. Die Elision des i im Singular des männ-
lichen Artikels ist kein Alterskriterium (S. 28) ; wenn Meyer-Lübke, Gr. II,
126 sagt, daß li sein i nur in der älteren Zeit verliere, so ist das unrichtig,
s. Zs. f. rom. Phil. XXXIV, 98. Der Deutung von terre d'Elire durch Ta-
vernier (so Tavernier und Stengel für tcrre de Bire) auf Epirus, sowie von
Imphe auf Urfa, Irfa (=: Orfa rz: Edessa) gegenüber (S. 29) wäre ein viel
lebhafterer Zweifel am Platze gewesen. Es kann sich nicht 'fragen, ob über-
haupt ein Satzgefüge vorliegt, oder bloß nebengeordnete Hauptsätze' (S. 12) ;
wir haben es wirklich mit parataktischen Hauptsätzen zu tun.]
Schultz-Gora, 0., Zwei altfranzösische Dichtungen. Neu heraus-
gegeben mit Einleitungen, Anmerkungen und Glossar. Vierte Auflage. Halle,
Niemeyer, 1919. XIV, 226 S. M. 4,50.
Krämer, Ph., Das Meer in der altfranzösischen Literatur. Gießener
Diss., 1919. 95 S.
Leitzmaun, A., Die Kitzinger Bruchstücke der Schlacht von Ali-
schanz. S.-A. aus 'Zeitschrift für deutsche Philologie' Bd. 48.
W i n k 1 e r , E., Französische Dichter des Mittelalters IL Marie de
France. Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Phil.-
hist. KL, 188. Bd., .3. Abt. Wien, Holder, 1918. 130 S.
Le r ch , Eug., Die Bedeutung der Modi im Französischen. Leipzig, Reis-
land, 1919. VIII, 111 S.
Platz, E., Les noms frangais ä double genre. Luxemburg, Worr6-Mer-
tens, 1919. 62 S. [Der Titel des nicht unnützlichen Büchleins entspricht
nicht recht dem Inhalte. Es handelt sich um eine Zusammenstellung nur
einer Anzahl von Substantiven, und dann sind es nicht nur solche, deren
Geschlecht heute schwankt, sondern deren Geschlecht früher schwankte.
Latour ist ein Verbalsubstantiv zu labourer. Doute ist im Altfranzösischen
nicht ausschließlich weiblichen Geschlechts (vgl. das prov. dopte). Amour m.
ist gewiß auf Personifikation zurückzuführen. Afrz. gens 'etwas' kommt
natürlich nicht von gentes, sondern von genus.]
Deutsch-französisches Satzlexikon für Praxis und Unterricht. Nach
Sammlungen von Charles R r e f f e 1 ergänzt und umgearbeitet von H. Rabe.
Stuttgart und Berlin, Deutsche Verlagsanstalt, 1919. 661 S. M. 26,40.
C. Cury, 0. Boerner, Histoire de la litt^rature frangaise. Troisiöme
Edition revue par J. V e r n a y. Leipzig et Berlin, Teubner, 1918. XTII,
381 S. Geb. M. 6.
B u s s e , B., Das Drama I. Von der Antike bis zum französischen Klassi-
zismus.' Zweite Aufl., hg. von Niedlich, Imelmann und Glaser
(Aus 'Natur und Geistesweit' Nr. 287). Leipzig und Berlin, Teubner, 1918.
132 S. Geb. M. 1,90. — IL Von Voltaire zu Lessing. Zweit« Aufl., hg. von
Ludwig und Glaser (Nr. 288). 115 S. Geb. M. 1,90.
Weddigen, E., Volkstümliche Rede und Lebensweisheit bei Moliöre.
Marburger Diss., 1918. 70 S.
Wechßler. E., Der Neuphilologe zu Felde. Marburg. Elwert, 1918.
22 S.
270 Verzeichnis der eingelaufeneu Druckschriften
C u r t i u s , E. E., Die literarischen Wegboreiter des neuen Frankreich.
Potsdam, Kiepenheuer. 275 S. M. 16,50.
Küchler, W., Romain Rolland, Henri Barbusse, Fritz von XJnrah.
Vier Vorträge. Würzburg, Verlagsdruckerei, 1919. 86 S.
Z ü n d - B u rgu et, A., Exeicices prauques et mßthodiques de pronou-
ciation frangaise. Deuxiöme Edition revue et corrigöe par H. Wen gl er.
:\Iarburg, Ehvert, 1919. IV, 127 S. M. 3,50. [Die Bezeichnung einer zweiten
Auflage ist nicht gerechtfertigt, denn was hier vorliegt,, ist etwas anderes
als das im Jahre 1901 unter dem Titel 'Praktische Übungen zur Aussprache
des Französischen in methodischer Anordnung* erschienene Buch. Der Grund-
charakter (Einübung zahlloser Wörter und Sätze) ist zwar der gleiche, aber
Anordnung und Inhalt sind ganz verschieden. Viel besser hätte Z.-B. daran
getan, seine längst vergriffene Schrift 'Methode pratique, physiologique et
compar6e de prononciation frangaise, accompagnße d'un livret d'illustrations',
Paris 1902, neu auflegen zu lassen (vgl. meine Anzeige davon im Archiv,
Bd. 111, S. 465 f.), denn diese ist wirklich theoretisch wie praktisch sehr
brauchbar und besonders wertvoll durch die vorzüglichen Lippenbilder einer
die verschiedenen Laute artikulierenden Pariserin.]
Engelke, K., Französisch-deutsche Wörtersammlung, geordnet nach
Bildern aus Natur und Menschenleben. Zweite Auflage. Gotha, Perthes,
1919. 61 S.
Velhagen und Klasings Sammlung französischer und englischer Schul-
ausgaben. Prosateurs frangais:
212, B. Fahre, J.-H., Souvenirs entomologiques. hg. von W. Vi ölet.
130 S. M. 1,20.
213, B. Mme J. Malassez, Jacques et Juliette. hg. von Fr. Faß-
binder. 83 S. M. 1,20.
F r a n c i 1 1 o n , C, Französisch-deutsches Gesprächsbüchlein. Zweite
Aufl. Berlin und Leipzig, Göschen, 1919. Sammlung Göschen. 145 S. M. 1,80.
Krebs, E., Praktische Anleitung zum englischen und französischen
Lautkursus. Paderborn, Schöuingh, 1919. 29 S. M. 1,20.
G e b h a r d t , J., Fremdsprachliches Unterrichtswerk zum Schulgebrauch
und Selbstunterricht. IL Teil: Der Franzose II von K. Seiler. Leipzig,
Liebisch, 1913. Geb. M. 2,40.
Strohmeyer: Französisches Unterrichtswerk. F. Strohmeyer,
Franz. Schulgrammatik. Zweite Auflage. Leipzig und Berlin, Teubner, 1919.
VII, 254 S. '
Strohmeyer, Franz. Unterrichtswerk B 2 : Elementarbuch 2, hg. von
H. Strohmeyer und Fr. S t r o h m e y e r. Zweite Auflage. Leipzig und
Berlin, Teubner, 1919. IX, 269 S.
Provenzalisch.
K Olsen, A., Zwei provenzalischc Sirveutese nebst einer Anzahl Einzel-
strophen. Halle, Niemeyer, 1919. 31 S. [Die beiden Sirventese sind Gr. 335,
33 (P. Cardinal) und 641, 61 anonym). Nur ein paar Bemerkungen hierzu
wie zu den folgenden Einzelstrophen : Die Schreibung von Appel bei B. von
Vendatorn 33, 18 kann trotz des S. 4 Aum. Vorgeschlagenen bestehen bleiben.
Auch hi, i von JM (I, 33) war zu belassen, denn der Aussagesatz ist ja ein
Nachsatz, und i und en können diesen ebenso beginnen wie ein tonloses Pro-
nomen, wenn es auch solcher Beispiele nicht viele gibt. In 4, 3 ist cn Blacatz
keine Anrede, und Soltau wird mit Unrecht getadelt. 11, 9—10 war bei den
Hss. zu bleiben: die rechte Deutung gibt Zenker zu F. de Romans Nr. VII;
die Strophe ist nämlich keine cohla esparsa, sondern Str. 4 des Gedichtes
Quan cug chantar des F. de Romans, das Bartsch, Gr. zweimal als 156, 11
und 156, 13 aufgeführt hat. In 12, 6 ist das in der Anmerkung Vorgetragene
unannehmbar; übrigens sind die Worte a so qe-s defsj nnübersetzt. Die
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 271
letzte Zeile von Nr. 17 gehört nicht zu der betreffenden Strophe und gibt ja
auch im Hinblick auf den Zusammenhang gar keinen Sinn, vielmehr ist sie
der Anfangsvers des bekannten Gedichtes von F. de Marselha Si tot mi sui
(I. tart aperceubutz (Gr. 461, 21), der durch ein Versehen des Kopisten an
diese Stelle geraten ist; wir haben es also nur mit einer achtzeiligen Strophe
zu tun, und der Vers ist mitsamt dem eingeführten fort zu streichen. Für
Xr. 22 s. dieses Archivheft, 'Ein provenzalisehes Sprichwort".
Italienisch.
Schurr, Fr., Komaguoiische Dialektstudien I : Lautlehre alter Texte.
Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien. Phil.-hist. Kl.
187. Bd., 4. Abt. Wien, Holder, 1918. 150 S.
Vangensteu, Ove C. L., Leonardo da Vinci's Sprog. En stilistisk-
sproglig Undersegelse. Christiania, Dybwads forlag, 1917. XI, 238 S.
Spitzer, L., Ital. lazzaretto — ital. ghetto. S.-A. aus 'Wörter und
Sachen' Bd. VI, Heft 2. [Die Herleitung von lazzaretto ist geistvoll und
überzeugend.] — D e r s.. Zu Römisch 'buggcro' termine generico eome 'coso',
'negozio'. S.-A. aus 'Wörter und Sachen' Bd. VI, Heft 2.
S p ö r r i, T., II dialetto della Valsesia. Berner Diss. Milano, Hoepli,
1918. Estratto del 'Reale istituto lombardo di scienze e lettere', vol. I, 1,
S. 391—409 und 683—752.
Spanisch.
Boletiu de la Biblioteca Menendez y Pelayo. Enero-Febrero 1919. San-
t ander. 56 S. •
Spanische Bücherei, hg. von A. Haas und E. D. R o d i n o. Erster Band:
Pio Baroja, Der Majoratsherr von Labraz. München, G. Müller, 1918.
301 S. M. 9. — Zweiter Band : Jacinto Benavente, Der tugendhafte
Glücksritter — Die frohe Stadt des Leichtsinns — Das letzte Menuett.
München, G. Müller, 1919. 314 S. M. 9.
Spitzer, L., Katalanische Etymologien. S.-A. aus dem 'Jahrbuch der
Hamburgischen Wissenschaftlichen Anstalten'. 6. Beiheft. Bd. XXXV. 1917.
Hamburg 1918. 35 S. [Wertvolle kleine Studien zur Herkunft und Be-
deutung einer größeren Zahl von katalanischen Wörtern und Wendungen.
Die Herleitung von solcir ist nicht einleuchtend; ein Hinweis auf Diez, EW
S. 682 und 776 hätt immerhin nicht geschadet.]
Portugiesisch.
E i 1 e r s, G., Ligöes portuguezas. Kurze praktische Anleitung zum
raschen Erlernen der portugiesischen Sprache. Leipzig u. Berlin, Teubner,
1919. VI, 196 S.
Varia.
I m a g o, Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geistes-
wissenschaften, hg. von S. Freud. V. Jahrgang, Heft 4. Leipzig und
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Seidel, A., Türkische Chrestomathie. Wien u. Leipzig, Hartleben.
190 S. Geb. M. 2,40.
Hassan, Oghlu Bei, Türkisch-deutsche Gespräche. Wien u. Leipzig,
Hartleben. 190 S. Geb. M. 2,40.
Philipp, K., Wörterbuch der deutschen und türkischen Sprache.
Wien u. Leipzig, Hartleben. 309 S. Geb. 2,40.
P e r o c h, S., Grammatica tedesca per lo studio autodidattico. Terza
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S t o c k i n g e r, J., Ungarische Sprichwörter in deutscher Sprache. Wien
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272 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
Birnbaum, §., Praktische Grammatik der Jiddischen Sprache. Wien
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S a m t e r, E., Kulturunterricht. Erfahrungen und Vorschläge. Berlin,
Weidmann, 1918. 204 S. Geb. M. 7.
H o r u, Ew., Das höhere Mädcheuschulweseu in Deutschland. Eine ver-
gleichende Übersicht mit besonderer Berücksichtigung de: Stundenpläne.
Berlin, Weidmann, 1919. 156 S. M. 7.
H i r z e 1, R., Der Name. Ein Beitrag zu seiner Geschichte im Altertum
und besonders bei deu Grieclieu. Abhandl. der philol.-hist. Klasse der säch-
sischen Gesellschaft der Wissenschaften XXXVI, Nr. 2. Leipzig, Teubuer,
1918. 108 S. M. 4,80. [Der Personenname Paris kommt von Patri-
c i u s und hat nichts mit dem Namen der Stadt Paris zu tun (S. 59).]
Otto, E., Zur Grundlegung der Sprachwissenschaft. Bielefeld u. Leipzig,
Velhagen & Klasing, 1919. VII, 153 S.
Fulda, Fr. W., Zum Beruf geboren. Grundsätzliches zur Berufsfrage.
Jena, Diederichs, 1919. 44 S. Tat-Flugschriften 33.
Mockrauer, Fr., Grundlagen des Moralunterrichts. Praktische Vor-
schläge für unsere Schulen. Jena, Diederichs, 1919. 62 S. Tat-Flugschrif-
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P o k o r n y, J., Die Stellung des Tocharischen im Kreise der indogerma-
nischen Sprachen. S.-A. aus den Berichten des Forschungs-Tnstitutes für
Osten und Orient in Wien III, 1—30. 1919.
Braun, A., Zeitungs-Fremdwörter und politische Schlagwörter, vm-
deutscht und erläutert. Sechste Auflage. Berlin, Buchhandlung Vorwärts,
1919. 68 S.
ARCHIV
FÜR DAS STUDIUM DER NEUEREN
SPRACHEN UND LITERATUREN
BEGRÜNDET VON LUDWIG HERRIG
HERAUSGEGEBEN VON
ALOIS BRANDL UND OSKAR SCHULTZ-GORA
^\
74. JAHRGANG, 140. BAND .
DER NEUEN SERIE 40. BAND ^\ \}>
BRAUNSCHWEIG UND BERLIN
DRUCK UND VERLAG VON G E 0 RG WE STERM AN N
1920
Inhalts -Verzeichnis des 140. Bandes
der neuen Serie 40. Bandes
Abhandlungen g^^^
Albert Malte Waguer, Ungedruckte Dichtungen und Briefe aus dem Nachlaß Heinrich
Wilhelm von Gerstenbergs. (Fortsetzung) 1
Walther Fischer, Ferdinand Freiligrath und Amely Bölte (1847—48) 25
AJfons Hilka, Zur Katharinenlegende : Die Quelle der Jugendgeschichte Katharinas, ins-
besondere in der mittelniederdeutschen Dichtung und in der mittelniederläudischen Prosa 171
Arthur Weber, Aus dem Lager der Berliner Romantik 185
F. Holthausen, Ein mittelenglischer Hymnus auf Maria und Christus und seine kym-
rische Umschrift 33
Fritz Fiedler, Dickens' Belesenheit 43
Karl Brunner, Die Eeimsprache der sog. kentischen Fassung der 'Sieben weisen Meister' 199
Ludwig Pfandl, Der Didlogo de Mugeres von 1544 und seine Bedeutung für die Castillejo-
Forschung 72
G. Cohn, Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzösischem Wörterbuch', Lieferung 1 u. 2.
(Fortsetzung) S4
Max J. Wolff, Ariosts Satiren 206
Heinrich Geizer, Maupassant und Flaubert 222
Max Leopold Wagner, Das Sardische im Romanischen etymologischen Wörterbuch von
Meyer-Lübke (Lieferung 9 u. 10) 240
Kleinere Mitteilungen
über die Echtheit des Sesenheimer Liedes 'Bälde seh ich Rickgen wieder'. Von Rudolf
Ballof 247
Neue kritische Bemerkmigen zu Uhlands Briefwechsel und Tagebuch. Von Wilhelm
Moestue 251
Der erste Psalm in niederländischer Dichtung vom Jahre 1740. Von C. Th. Lion . . . 252
Vom Pradler Bauern theater. Von Kaspar Schwarz 254
Zur altenglischen Wortgeschichte. Von WilhelmHorn 106
Note on the Anglo-Saxon Indicia monasterialia. Von A. E. H. Swaen 106
Bibliographisches zu John Forbes' Songs and Fancies. Von HansHecht lOS
Zum Balladenrhythmus. Von Karl Brunner 259
Zu Thomas Occleve. Von F. Liebermann 261
Zu Chaucers Stellung in Hofämtern. Von F. Liebermann 261
Zu Liedrefrain und Tanz im englischen Mittelalter. Von F. Lieber mann 261
Zwischenspiele für Edward II. Von F. Liebermann 262
Skute meng\.: 'Lastschiff'. Von F. Liebermann 263
Zu Giulio Bertoni, 'I Trovatori d'ltalia', Modena 1915. Von E. Levy (f) 109
Zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Völkerpsychologie. Von Victor Klemperer 125
Zu 'Goufre de Satenie'. Von Alfons Hilka 130
Zu Pong von Capduelh. Von KurtLewent , 263
Ahz. Bourghes, Oh). Bourghet. Von O. Schul tz-Gora 264
Nochmals ital. ghetto. Von Leo Spitzer 265
Zu 'fils de char'. Von Wal ter Benary 266
Sitzungsberichte der Gesellschaft für das Studium der neueren Sprachen für das Jahr 1919 136
Verzeichnis der Mitglieder der Berliner Gesellschaft für das Studium der neueren Sprachen,
Januar 1920 141
Beurteilungen und kurze Anzeigen
Gertrud Bäumer, Goethes Freundinnen. Briefe zu ihrer Charakteristik, ausgewählt und
eingeleitet von G. B. 2. Aufl. (H. Beyer) 268
Walther Brecht, Conrad Ferdinand Meyer und das Kunstwerk seiner Gedichtsammlung.
(H. Beyer) 147
Albert Leitzmann, Wilhelm von Humboldt. Charakteristik und Lebensbild. (Albert
Ludwig) 267
Literaturgeschichte der deutschen Schweiz im Mittelalter. Ein Vortrag mit anschließenden
Ausführungen und Erläutenmgen von Dr. Samuel Singer. (Hermann Schneider) . 146
ni
Seite
Wolfram Suchier, Dr. Christoph Philipp Hoester: Ein deutscher kaiserlich gekrönter
Dichter des 18. Jahrhunderts. (Heinz Kindermann) 145
Arnold Bennet, The Truth about an Author. (Albert Ludwig) 276
Maria Born, Die englischen Ereignisse der Jahre 1685—1690 im Lichte der gleichzeitigen
Flugschriftenliteratur Deutschlands. (F. Liebermauu) 271
Anna Jacobson, Charles Kingsleys Beziehungen zu Deutschland. (Karl Brunner) . . 273
John Maynard Keynes, The economic consequences of the Peace. (F. Liebermann) . . 148
Paul Lthmann, Wert und Echtheit einer Beda abgesprochenen Schrift. (F. Liebermann) 269
Theodore Roosevelt, History as literature, and other essays. (A. Brandl) 274
H. Thiemke, Die me. Thomas Beket-Legende des Gloucesterlegendars. Kritisch heraus-
gegeben mit Einleitung. (Karl Bnmner) 270
H. B. Marriott Watson, The Excelsior. (Albert Ludwig) 275
C. N. and A. M. William son, The Wedding Day. (Albert Ludwig) ....... 275
Der Trobador Cadenet, hg. von Carl AppeL (O. Schultz-Gora) 288
Alexandre Eckhardt, Remy Belleau. Sa vie. Sa 'Bergerie'. Etüde historique et critique.
(H. Heiß) 292
Vicente Garcia de Diego, Elementes de gramätica hist<5rica castellana. (Fritz Krüger) 159
Margot Henschel , Zur Sprachgeographie Südwestgalliens. (W. v. Wartburg) .... 155
A. Lombard , La correspondance de l'abbö Du Bos. — Ders., L'abbö Du Bos. Un iuitiateur
de la peusee moderne (1670—1742). (H. Heiß) 165
Dr. Fritz Neubert, Die literarische Kritik Guy de Manpassants. — Derselbe, Die kri-
tischen Essays Guy de Maupassants (mit Ausschluß der literarischen Kritik). (Hein-
rich Geizer) 295
Ludwig Pf and 1, Robert Southey und Spanien. Leben und Dichtung eines englischen
Romantikers unter dem Einilusse seiner Beziehungen zur Pyrenäischen Halbinsel.
(Adalbert Hämel) 163
Eva Seifert , Zur Entwicklung der Proparoxytona auf -He, -ita, -itu im Galloromanischen.
(0. Schultz-Gora) 164
Leo Spitzer, Über einige Wörter der Liebessprache. Vier Aufsätze. — Ders., Anti-
Chamberlain. Betrachtungen eines Lingiiisten über Houston Stewart Chamberlains
'Kriegsaufsätze' und die Sprachbewertung im allgemeinen. — Ders., Fremd wörterhatz
und Fremd Völkerhaß. Eine Streitschrift gegen die Sprachreinigung. (Eugen Lerch) . 167
Leo Spitzer, Aufsätze zur romanischen Syntax und Stilistik. (Eugen Lerch) .... 282
K. Vossler, La Fontaine und sein Fabelwerk. (O. Schultz-Gora) 294
Emil Winkler, Marie de France. (Heinrich Geizer) 279
Verzeichnis der bei der Redaktion eingelaufenen Druckschriften,
mit folgenden kurzen Anzeigen:
Neuere Sprachen
W. Creizenach, Geschichte des neueren Dramas, II. Bd.: Renaissance und Reformation.
1. Teil. 2. verm. u. verb. Aufl 302
Germanisch
Eduard Sievers, Metrische Studien, IV: Die altschwedischen Upplandslagh nebst Proben
formverwandter germanischer Sagdichtung. 2. Teil : Texte 302
Deutsch
Das Nibelungenlied, Übersetzimg von Simrock mit gegenübergestelltem Urtext, hg. von
"W. Frege 304
A. Henrich, Die lyrischen Dichtungen Jakob Baldes. (Hermann Schneider) .... 304
Max Scherrer, Kampf imd Krieg im deutschen Drama von Gottsched bis Kleist. Zur
Form- und Sachgeschichte der dramatischen Dichtung. (Wolfgang Stammler) , , . 305
F. Griilparzer, König Ottokars Glück und Ende, Trauerspiel in fünf Aufzügen, hg. von
Woldemar Haynel 306
Leopold von Ranke, Auswahl aus seinen Werken, hg. von Otto Bauer 306
Die Quellen zu Gottfried Kellers Legenden. Nebst einem kritischen Text der 'Sieben
Legenden' und einem Anhang hg. von Albert Leitzmann. (Wolfgang Stammler) . 307
F. Beyel, Zum Stil des Grünen Heinrich. (Hermann Schneider) 307
Englisch
Otto Jespersen, Growth and structure of the English language. Awarded the Volney
prize of the Institut de France 1906. Third ed. revised 311
M. Trautmann, Die ae. Rätsel des Exeterbuchs. (A. Brandl) 312
Erna Hacken berg, Die Stammtafeln der ags. Königreiche 313
LawTcnce Mas on, Genesis A, translated from the Old English. (Kari Brunner) ... 313
<5. Rubens, Parataxe und Hypotaxe in dem ältesten Teil der Sachsenchronik (Parker-Hs.
bis zum Jahre 891). (Kari Brunner) 313
The recluse, a fourteenth Century version of the Ancren riwle, critically edited by Joel
Pahlsson .......;.. 314
IV
Seit«
Chaucer-Handbuch für Studierende, ausgewählte Texte mit Einleitungen, einem Abriß Ton
Chaucers Versbau und Sprache nebst einem Wörterverzeichnis, hg. von M. Kaluza 314
Karl Arns, Der religiöse britische Imperialismus 315
R. E. Zachrisson, Engelska stilarter 316
B. Münz, Shakespeare als Philosoph 316
A. Eichler, Anti-Baconiaens, Shakespeare-Bacon ? Zur Aufklärung seines Anteils an der
Erneuerung Österreichs 316
Hildegard Harz, Die Umschreibung mit do in Shakespeares Prosa 316
Shakespeare, Julius Caesar, auf Grund der Schlegelschen Übersetzung m. Einl. u. Anm.
hg. von Christian Gaehde 316
Gertrud Landsberg, Ophelia: die Entstehung ihrer Gestalt und ihre Deutung .... 317
Elisabeth Zuber, Kind und Kindheit bei George Eliot 317
A. Brandeis und Th. Reitterer, Lehrbuch der engl. Sprache für Realschulen . . . 319
Chambers, Two centuries of English history 319
John Stuart Mill, On liberty, mit Anmerkungen zum Schulgebr. hg. Ton Wieckert 320
Stories of the great war by various authors 320
Romanisch
J. Pauli, 'Enfant', 'garfon', 'fille' dans les langues romanes. Essai de lexicologie compar^e 321
Französisch
Gesellschaft für Romanische Literatur. Dresden. Sechzehnter Jahrgang, 1917 .... 322
K. Bartsch, Chrestomathie de l'ancien fran^ais (Vllio — XV^ sifecles) accompagn^e d'une
grammaire et d'un glossaire. Douzifeme Edition enti^rement revue et corrig^e par
Leo Wiese 323
Repetitorien zum Studium altfranzösischer Literaturdenkmäler, hg. von K. v. Ettmayer,
nol: K. V. Ettmayer, Der Bosenroman (erster Teil). Stilistische, grammatische und
literarhistorische Erläuterungen zum Studium und zur Privatlektüre des Textes . . 324
Italienisch
E.Walser, Studien zur Weltanschauung der Renaissance. (H. Geizer) 326
Spanisch
R. Ruppert, Die spanischen Lehn- und Fremdwörter in der franz. Sprache. (H. Geizer) 326
R. Ruppert, Spanisches Lesebuch für Anfänger und Fortgeschrittene 327
Zu Huracan, Arch. 139, p. 217 ff. (W. Mulertt) 327
Berichtigung 170
Berichtigung zu Arch. 139, S. 270. (Sch.-G.) 327
Ungedruckte
Dichtungen und Briefe aus dem Nachlaß
Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs.
(Fortsetzung.)
XIX. Gerstenberg an Carl Friedrich Gramer.
12.»
Liebster Gramer, ich schicke Ihnen Minona doch noch früher, als ich ge-
dacht hatte. Welche Freude für mich, wenn Sie nun bey Ihrer eigenen prü-
fenden Durchlesung auch die zweyte Probe des sich selbst gelassenen Aristarchs
aushielten! Kaum hoff ichs, hoff es um desto weniger, da Sie bereits ein
Paar vorläufige Urtheyle bey sich festgesetzt haben, die Sie, so wie Sie das
Stück nun mehr in der Nähe beleuchten werden, kaum anders als bestätigt
finden können. Ich werde aber wahrlich schon [Tintenfleck] zufrieden seyn,
wenns Ihnen bey alldem nur von derjenigen Seite und aus dem Gesichts-
punkte gefallen wird, von Seiten des Interesses für ein Publikum, das weder
Britte noch Angelsachs ist — (wie ich schreibe I) — aus dem Gesichtspunkt,
meyne ich, in den ich selbst mich gestellt hatte, da ichs entwarf und hin-
schrieb. Auf dieses Urtheil werd ich am aufmerksamsten hinhorchen, wenn
Sie mir einst Ihre Meynung im Ganzen sagen.
Den Dialog hab ich nur hin und wieder mehr gerundet. Terenzisch
kann und darf er nun einmal nicht werden. Eine leicht zu übersehende
meist bekannte Fabel, ein enger Zirkel von Unterrednern verträgt einen an-
dern Dialog, als ein Stück von ganz entgegengesetzter Art. Ich wills einmal
darauf ankommen lassen, ob das Publikum das ausfinden wird, ich habe
mich in den Anmerkungen über diesen Punkt lieber gar nicht erklärt. Auch
Voß meynt, daß das nun nicht mehr nöthig seyn dürfte.
Aus Ihrem Sonnenfels ^ hab ich mich, aufrichtig gesprochen, weniger er-
baut, als ich erwartete. Ich sehe wohl, daß der Mann weiß, wie man für
den und jenen Zweck dialogiren soll, aber was ich für meynen Zweck bey
ihm suchte, hab ich keineswegs gefunden, eigentlich gar nichts. Der Eine
machts so, der Andre wieder anders: wenns nur jeder in seiner Art recht
macht! Es scheint mir sogar, als wenn ichs ihm in den cruden Elementen,
über die er sich ausbreitet, just recht gemacht haben werde. Das aber
möchte mich eben nicht sehr kitzeln! Sollte allenfalls künftig etwas über
meinen Dialog gekunstrichtert werden, worinn mir zu nah geschähe, so werde
ich dann noch immer Gelegenheit haben, es in irgend einem Journale zu
beantworten — wenns der Mühe werth wäre.
Nur eine einzige Anmerkung kann ich hier nicht mit Stillschweigen
übergehen, weil sie auf einen Ihrer eigenen Einwürfe trifft, den ich eben
darum am liebsten heben möchte, weil er von meinem Freunde herkommt.
Dem Dichter sind für die Vorstellung seines Schauspiels drey höchstens vier
Stunden ausgesetzt. Wirds nun wohl möglich seyn, eine so verwickelte und
* Undatiert; wahrscheinlich vor Nr. 9 einzurücken.
^ 'Briefe über die Wienerische Schaubühne'.
Ärclii? f. n. Sprachen. 140.
2 Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs
deutlich zu machende Exposition, wie die meinige, die von Anfang bis zu
Ende durch das ganze Stück fortläuft, in einen so kurzathmigen Dialog aus-
zuspinnen, wie etwa der beym Terenz oder Goldoni ist? Die Fabel muß
klar begriffen werden, das ist eine Hauptbedingung, das Maaß der vier
Stunden soll auch nicht überschritten werden, das ist die zweyte. Denken
Sie sich nun einen Dialog, der sich über jeden Haupt- und Neben-Urastand
meiner Fabel so ergöße, wie Sie wünschen, der nichts concentrirte, nichts
im Vorbeygehn, d. i. periodisch mit aufnähme, für jeden Incidentpunkt eine
Frage, für jede Frage eine Antwort zubereitete, alle andern Zwecke fahren
ließe, um den einzigen Zweck des Dialog Genüge zu thun: wo würd ich
ein Ende finden? Denken Sie sich's, bester Gramer, noch lieber, versuchen
Sies einmal, ich bin überzeugt, Sie werden ganz auf meine Seite treten.
Kurz, was ich in der Minona für recht und notwendig gehalten habe,
halt ich darum nicht in jedem Stücke für gut. Ich getraue mir zehn Dra-
men zu machen, die alle einen ganz verschiedenen Dialog haben, und darum
doch ohne Tadel seyn sollen. Das ists, was ich meyne, des weiteren hab
ich nichts sagen wollen. Wenigstens werden Sie mir zugeben, daß ich für
den Fall nichts im Sonnenfels habe finden können.
So nehmen Sie sie denn nun hin, diese letzte Tochter meines betagten
Gehirns, und geben Sie ihr nicht allein ihren ^ Segen zu ihrer bevorstehenden
Reise in die Welt, sondern nehmen Sie sie auch in Ihren Schutz wider
allerley Nachstellungen, grobe und feine, öffentUche und heimliche Gefähr-
dungen, es sey nun an ihrem guten Leumund, oder au ihrer jungfräulichen
Scham : was Sie für meine Tochter thun, haben Sie dem alten Freunde, ihrem
Vater, gethan.
Schicken Sie sie mir aber auch zum vorläufigen Gebrauch bald wieder
zurück, wenn die Abschrift ins Reine gebracht ist. Ich höre von Voß, daß
Klopstocks Hermann gewaltig uncorrect und zuweilen sogar unleserlich ge-
schrieben ist, besonders in den Namen. Ich wäre daher der Meynung, wir
ließen zur Probe erst die beiden letzten Akte, um die es mir ohnehin eigent-
lich nur zu thun ist, abschreiben, und wenn wir damit zufrieden wären,
könnten wir mehrerer Zierlichkeit wegen auch zu den beiden ersten schrei-
ten. Zu dem Ende wird es gut seyn, wenn Sie dem Copisten das Maaß
von dem Format der beiden ersten Akte geben (ohne ihm doch diese ersten
Akte zu behändigen). Ich erhalte dann alle vier Akte mit dieser Abschrift
der beiden letzten zugleich zurück, und bitte Sie nur noch um des Himmels
willen dafür zu sorgen, daß nichts, auch nicht Eine Zeile von dem MspL
verlohren gehe, weil mich das in die allergrößte Verlegenheit setzen würde,
das Verlohrene zu ergänzen.
Schreiben Sie mir aber ja vorher Ihr Urtheil — ich bin ungeduldiger
auf Ihr Urtheil, als ich Ihnen sagen mag — unter andern auch von den
Anmerkungen, von dem großen Chore der Sieben, kurz alles, was Sie nur
auf dem Herzen haben. Ich wünschte zu wissen, wie der Zirkel, dem Sies
vorlesen werden, mich versteht, besonders, was Ihr verehrungswürdiger
Vater zu tadeln oder zu billigen findet.
Und nun, mein bester Gramer, umarme ich Sie, mit wiederholtem Dank
für Ihre freundschaftliche Bemühung und für Ihre Bücher, die Sie hier un-
versehrt zurück erhalten. Ihr G.
Statt 'Ihren'
Ungednickte Dichtxingen und Briefe Gerstenbergs 3
^^' Altona 5. Jan. 1787.
So sehnlich ich mir das Glück gewünscht habe, Sie nach Ihrer Rück-
kunft von Kopenhagen wieder zu umarmen, die Geschichte Ihrer Reise zu
Wasser und zu Lande aus Ihrem eigenen Munde zu vernehmen, und tau-
senderley Dinge mit Ihnen durchzuschwatzen, von denen es nur mit Ihnen
zu reden der Mühe lohnt: so ists mir doch nicht möglich, mein liebster
Gramer, dießmal zum Umschlage nach Kiel zu kommen. Ich muß mich, so
wie Klopstock, mit der Hoffnung gedulden, daß Sie vielleicht selbst bald zu
uns herüberkommen; ich muß mich auf das Vergnügen einschränken, mit
meinen Freunden von Ihnen zu reden, wenn ich nicht mit Ihnen reden kann:
und, was mir Altona und Hamburg noch interessanter macht, dieß Vergnügen
habe ich nicht selten. Ja, mein Gramer, es ist hier wahrlich gut seynl 0 daß
ich Sie bey mir hätte I Und dann nur noch Einen Wunsch meiner Seele —
daß man in Kopenhagen etwas thätiger für mich wäre.
Wie viel hätte ich Sie zu fragen! wenn ichs nicht selbst für besser
hielte, nichts schriftlich zu anticipiren, was Sie mir mündlich reichlicher geben
werden.
Ich will vielmehr zur Hauptsache, die der Zweck meines heutigen Ge-
schreibsels ist. Da ich die Bequemlichkeit habe, einen Theil meiner Zinsen
dießmal hier in Altona zu erheben, und über den Rest von Kiel aus ander-
weitig zu disponiren, so gelangt meine Bitte an Sie, mein Bester, wie folgt:
Daß Sie die Güte haben AvoUen, die hier angeschlossenen drey Quittungen
rpp. an diejenigen Bevollmächtigten der Landschaft Suider- und Norder-
dithmarschen, wie auch des Kirchspiels Neuenkirchen daselbst, freundschaft-
lich zu befördern, von denen ich die Zinsen für die darinn benannten Capi-
talien, zusammen 260 R., in dem itzigen Umschlage empfangen soll. Einer
von diesen wird vermuthlich der Kirchspielvogt Johannsen aus Meldorf seyn,
der Ihnen die beiden anderen leicht nachweisen wird. Ich glaube nicht, daß
ein förmlicher Auftrag an Sie, diese Gelder für mich zu erheben, nöthig seyn
wird. Sollte dieß aber seyn, und Sie hätten Gelegenheit sich im Vorwege
danach zu erkundigen, so wird es noch Zeit genug bis zum 14. oder 15.
seyn, ein solches Document nachfolgen zu lassen.
Item. Nachdem Sie diese resp. Zinsen erhoben haben, ersuche ich Sie,
sie bey sich zu deponieren, bis Sie nähere Nachricht, die ich Ihnen heute
noch nicht geben kann, von mir erhalten, an wen Sie das Ganze der 260 R.,
oder einen Theil davon, abliefern werden.
Weiter weiß ich mich in dieser großen Geld-Angelegenheit auf nichts
zu besinnen.
Ich hoffe, daß ich meine Dithmarsischen Gelder ohne Gefahr dort stehen
lassen könne, und verlasse mich auf Boie, auf dessen Rath ich sie da unter-
gebracht habe. Sollte Ihnen aber irgend ein bedenklicher Umstand zu Ohren
kommen, so bitte ich Sie sehr, mein liebster Gramer, mich so bald als mög-
lich davon zu benachrichtigen.
Gestern las mir Klopstock ein Gespräch zwischen Ihm und R aus seiner
Grammatik vor, das noch ganz naß aus seiner Feder aufs Papier gekommen
war. Ich wollte, ich könnte es Ihnen schicken: es ist ein Meisterstück
Klopstockscher Phantasie, die ich in einer Grammatik schwerlich gesucht
hätte, und nicht genug bewundern kann. In der That glaube ich, den wahren
Gesichtspunkt dieses Geniuswerks etwas zu spät gefunden zu haben, und
schiebe die Schuld auf meine eigene unzeitige Kritteley.
4 Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs
Auch hörte ich von ihm, daß der letzte Theil Ihrer Heloise heraus ist.
Ich bin ungeduldig, mein liebster Gramer, Ihre Heloise nun ganz zu lesen. Viel-
leicht ist es mir vorbehalten, manches Urtheil über diese Original-Übersetzung
in hiesiger Gegend zu berichtigen; einen kleinen Anfang dazu meyne ich schon
gemacht zu haben.
Empfehlen Sie mich Ihrem ganzen Hause, und erhalten Sie Ihre freund-
schaftliche Zuneigung ^^^^^^ Gerstenberg.
Nun kann ich Ihnen doch noch das Bestimmtere über die Ablieferung
der 260 R. melden. Buchholz wird nach Kiel kommen, wie ich eben aus
einem Briefe von Groll erfahre; und an Ihn, mein Liebster, seyn Sie so
gütig, dieß Geld zu behändigen, der es an die Behörde, nämlich an Hrn Groll,
überbringen wird. Wie gern Aväre ich in seiner Gesellschaft bey Ihnen!
14.
Altona 13 Jun(i) 1787.
Ihren Orpheus,* mein liebster Gramer, den ich gestern mit der Post er-
hielt, habe ich gestern Abend schon von der Minna Brandes ^ mit vielem
Vergnügen durchsingen gehört. Sie war gerade bey Unzer ^ in Gesellschaft
des Schröderischen Musikdirectors, der recht gut accompagnirte; und so
wards durch Sie, mein Gramer, einer von den schönen Abenden, deren es
nicht viele in diesem Jammerthal giebt. Ich sehe, daß Sie den dänischen
Text, wo es das Recitativ erlaubte, nicht blos übersetzt, sondern umgeschaf-
fen haben: das ist ein glücklicher Gedanke. An dem bloßen Recit(ativ) ist
ohnebin nichts gelegen, man kanns singen, wie man will, und die Italiener
lassen sich ihn meist gar nicht einmal vorschreiben, sondern richten sich
ex tempore nach der Harmonie. Ich will nun alles sorgfältig durchsehen,
und verspreche mir von der näheren Vergleichung eine Menge interessanter
Bemerkungen.
Über Ihren Epilogus galeatus habe ich herzlich gelacht, und Klopstock
Solls künftige Woche auch. Fast ists unglaublich, daß Lichtenberg oder wer
sonst die Recens(ion) gemacht hat, sich so arg versehen, und ein so komi-
sches Quid proquo machen konnte.* Wem nun über das Handwerk des Re-
zensirens die Augen nicht aufgehn, wer noch immer glaubt, daß es sehr
nothwendig sey zu wissen, was die Richter des Tages, die man auch Nacht-
wächter nennt, von neuen Büchern urtheilen: dem ist nicht zu helfen. Mich
dünkt, der geringste Leser, der liest, hat mehr Stimme, als der famoseste
Kritler, der nicht liest. Wie kann man eine Original-Übersetzung, wie die
Ihrige, beurtheilen wollen, wenn mau sich nicht einmal Zeit läßt, die An-
merkungen recht anzusehen? Daß der Kunstrichter so viel Zeit nur selten
habe, läßt sich freylich in dubio präsumiren. Sehr vielen und lebhaften Dank
sage ich Ihnen übrigens für diese und die übrige treffliche Schnabelweide,
mit der Sie mich so freundschaftlich erquickt haben.
* Naumanns Oper 'Orpheus und Eurj^dice', übersetzt aus dem Dänischen,
erschien zuerst in Cramers 'Magazin der Musik'.
2 t l'^88 in Hamburg. Eigentlich Charlotte Wilhelmine Franziska B.
Minna genannt als Lessings Patenkind.
' Der Hamburger Arzt.
* Siehe Krähe, G. F. Gramer S. 181 f.
Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs 5
Ihre Athalie im S. Palais aufgeführt! wo solche Spieler und Spiele-
rinnen! Sie sind sehr zu beneiden, mein liebster Gramer; wie gern hätte
ich mich an Ihrer Seite unter den Zuhörern befunden.
Was Sie mir über Schulze ' und Kunze "^ schreiben, macht mich äußerst
ungeduldig auf den Erfolg. Ich bitte Sie inständig, mich von allem um-
ständlich zu benachrichtigen, sobald sichs nur irgend thun läßt. Will Schulz
auf die Probe nach Kopenhagen gehu, wie Naumann? ^ oder engagirt er sich
gleich schon als Kapellmeister? In wie fem betrachten Sie Kunzens Glück
als gemacht? was hat er verlangt, und was hat man ihm anbiethen können?
Lauter Fragen, an deren Beantwortung ich einen mehr als gewöhnlichen
Antheil nehme.
Kunzens dänische Lieder * gefallen mir dermaßen, daß ich zu der Melodie,
die ich am liebsten singe, deutsche Texte mache, wovon Sie hier ein paar
Pröbchen erhalten. Den Lauscher habe ich mir aus den Liedern der Deut-
schen vindicirt, wo Sie ihn im Register sub litt. B. finden werden: ich sage^
vindicirt, denn die Phantasie des Liedes gehörte mir schon vorher, und ist
aus einem Gedichtchen von mir gewonnen, das sich anfängt: Scherzen,
Lachen, Mädchen, Wein^ etc. und in einem der ältesten Musenalmanache
steht. Sagen Sie nur, mein Liebster, ob diese Lied Texte zu Kunzens Me-
lodie passen, und ob ich Ihnen mehr schicken soll.
Sehr verbunden für Ihre Übernahme meines Umschlags.
Ganz Ihr G.
[Es foUjen nun die Gedichte ' Unsterblichkeit' ( V. S. TL, 141) und 'D&r Lauscher'
(V. S. II, 268) mit geriyigfiigi^ieji Abweichungen. Dann schreibt Q. tveiter:]
Weil ich gerade die Laune habe Verse abzuschreiben, die ich nicht oft
habe, so nehmen Sie hier noch ein paar Texte hin für Kunzens Melodien.
N. 1. woraus ich einige Skrupeln weggezahnstochert habe, die mir zwi-
schen den Zähnen knirschten, sollte ich vielleicht aus bloßer Dissortion für
mich allein behalten: doch Gramer wird es wohl für keine Entweihung
halten, daß ich zu meiner eignen Erbauung etwas am seUgen Hölty ausfeile.
Ramlers Sünde bestand nicht darinn, daß er nicht gerne singt, was ihm in
der Kehle stecken bleibt, sondern daß er sich ein Verdienst daraus machte,
vor dem gesammten Volke zu zeigen, wie er so was singt. Ich beleidige
nicht, sondern singe wie mir der Schnabel gewachsen ist, und verlange nicht,
daß mich das Publicum höre.
N. 2 werden Sie in einer anderen Gestalt gekannt haben. ^ Sie sehen,
daß es mir eben so wenig schwer fällt, mich selbst zu zerstöhren, als Holtyn,
den ich sonst sehr liebe. Wenn sichs nur zu Kunzens Weise ausnimmt, so
ist mein itziger Zweck erreicht.
[Es folgen die Gedichte 'Die Seligkeit der Liebende?i' (V. S. II, 271) n7id
'Alpenjagd' (V. S. II, 259) mit geringfügigen Abweichimg en.\
1 Johann Abraham Peter Schulz (1747—1800).
' Friedr. Ludw. Aemilius Kunzen (1761—1817); vgl. H. V. Schytte,
Nordisk Musiklexikon I (1888), S. 437 f.; Eitner, Quellenkunde V (1901),
S. 478 ff.
* Johann Gottlieb Naumann (1741—1801), komponierte 23 Opern und
10 Oratorien.
* Erschienen 1816 zu Kopenhagen als 'Auswahl der vorzügl. alt dänischen
Volksmelodien, Balladen und Heldenlieder mit Pianoforte'.
* S. 'Verm. Schriften' II, p. 250. s S. 'Verm. Schriften' II, p. 223.
6 Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs
15.
Altona 26 Aug. 1787.'
Ich habe die beiden letzten Akte Ihres Oi-pheus bereits vor drey oder
vier Posttagen empfangen, und habe mir Zeit gelassen, Sie (!) noch einmal
recht durchzustudiren, ehe ich Ihnen den Empfang meldete. Wie sehr Sie
durch diese abermalige Gabe Ihrer Freundschaft, liebster Gramer, meine Ver-
bindlichkeit erhöht haben, mag ich gar nicht versuchen Ihnen zu sagen.
Eine einzige kleine Mishelligkeit glaube ich bemerkt zu haben, die sich
aber unter der Anführung eines guten Musikdirektors heben läßt. Ihre Zu-
sätze und Umwandlungen des Originals sind oft viel zu stark, zu dichterisch,
zu Inhaltsvoll für den kalten Gang eines Recitativs. Welchen Stoff würde
nicht Naumann, z. E. in der vortrefflichen Tirade vom Tanarus p. 99, zu den
ariösesten Ausbildungen des Gesanges und der Begleitung gefunden haben,
wenn er sie im Dänischen vor sich gehabt hätte. So wie die Oper nun im
Deutschen daliegt, muß es auffallen, daß die schönste Musik oft an die letzte
Stelle verschwendet ist, und das Beste, schier als gar nicht bemerkt, durch-
hinschlüpft. Es scheint mir daher schlechterdings nothwendig zu seyn, daß
bey der Auffülirung auf deutschen Bühnen dieser Mangel ergänzt, und für
mehr Accompagnement in den Recitationen gesorgt wird.
Diesen Augenblick komme ich von unserm Moldenhauer^ her, der mir
einen der interessantesten Nachmittage gemacht hat. Wie sehr ich Mold.
liebe, wissen Sie, mein Gramer: aber schwerlich würde ich das rechte Wort
finden, Ihnen zu sagen, wie sehr ich ihn bewundre. Und doch fürchte ich,
daß ich mit diesem Einzigen in eine Collision gerathen bin, die nicht anders
als schädlich für mich ausfallen kann. Ich mag Sie von einer so äußerst
unangenehmen Sache nicht unterhalten: vielleicht errathen Sie schon, was
ich meyne: vielleicht erfahren Sies auch aus seinem eigenen Munde.'
Wahrlich wenn mir jemand mit Gewißheit vorher sagen könnte, daß in
dem Augenblicke, da meine — Dithmarsischen Säckchen leer seyn werden,
auch alles übrige ein Ende hätte: ich wollte ganz ruhig seyn. Was ich seit
2 oder 3 Jahren von der Welt erfahren habe, maclit mir den Gedanken, daß
wir hier nicht unsterblich sind, so ziemlich erträglich. Glauben Sie mir.
Gramer, ich bin diese Zeit her nicht müßig gewesen. Ich habe viel gelernt,
viel studiert, viel Excerpte gemacht, viel gerechnet, berechnet, und über-
rechnet. Für mich selbst glaube ich gewonnen zu haben. Es giebt aber
Rücksichten von einer gewissen zärtlichen Natur, die mich hindern eine
wahre Bilanz zu ziehen. Was ich gewonnen habe, gewann ich — mir: was
ich aber verlieren kann, fällt leider auf mich nicht allein.
Bastal und um auf etwas anders zu kommen — wissen Sie mir nicht
zu sagen, wie bald Schulz nach Kop(enhagen) geht? und ob er sich auf seiner
Durchreise hier einige Tage verweilen wird? Wie würde ich mich freuen,
wenn ich Sie, mein Vielgeliebter, zugleich mit dem lieben Schulz hier einige
süße Augenblicke genießen, und mich mit Ihnen beiden über Dieß und Jenes
recht ausschwatzen könnte! Ich weiß nicht, ob ich jetzt Alles von der
' Zwischen Nr. 14 und 15 ein Brief Cramers vom 9. Juni 1787.
2 Vgl. Brief XV dieser Publikation. M. ist der ehemalige Kieler Theo-
logieprofessor Daniel Gottlieb Moldenhauer.
3 G. und M. bewarben sich beide um einen Posten bei der Königlichen
Bibliothek in Kopenhagen, den M., nachdem er zunächst zugunsten G.s ver-
zichtet hatte, schließlich erhielt.
Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs 7
schiefen Seite ansehe: aber bey meiner Treul es kommt mir vor, als ob ich
meinen Freunden schier ein wenig aus der Kunde gerathe. Daß das die
Schuld meiner Freunde nicht sey, glaube ich freylich zwar unbesehens: nur
meyne ich sie beschuldigen zu können, daß Niemand von ihnen so aufrichtig
ist, mir zu offenbaren, wie, wodurch, und seit wann die Schuld meine ist. —
Schon wieder? Pfuyl ich sehe heute recht schief! recht schief I Lieber will
ich ganz abbrechen, und um Verzeihung bitten, M^enn es Ihnen weh thut,
mich einmal auch schriftlich in einer üblen Laune zu sehen.
Leben Sie wohl, mein guter Gramer, und lieben Sie demunerachtet
Ihren G.
16.
Altona 4. Sept. 87.
Die Rede eines freundschaftlichen Mundes ist wahrlich ein köstlich Ding !
— Goldmund, warum nannten Sie Dich Goldmund? Deine Rede schwebt
duftig wie Mayblüthen, süßer wie Honig: löst sie in ihre Elemente auf, und
grabt sie in unvergängliches Erz — wenn ihr nicht etwa ein noch besseres
Plätzchen wißt.
Und wie nenne ich die Rede Ihrer freundschaftlichen Feder, mein Gra-
mer? Ließe sich so was in eine Büchse verschließen, und gleich andrer
Apothekerwaare durch ein Recept verordnen: so müßte es Seelenarzeney
überschrieben werden. Aber es ist ein Arcanum, was nur unter uns bleibt;
ich bescheide mich, keinen Namen dafür zu wissen, und keinen Preis. Das
Einzige, was sich darüber sagen läßt, ist: es schlägt nie fehl, und ich be-
finde mich wieder wohlauf.
Wie kam ich dazu, liebster Gramer, Ihnen einen so atrabilarischen Brief
zu schreiben? Ich hatte Moldenhauem gesprochen. Er hatte mir den größten
Beweis einer uneigennützigen Zuneigung gegeben, den ein Freund dem an-
deren geben kann; er hatte mich versichert, daß er mir alle seine Absichten
auf das Bibliothekariat aufopferte; er drückte sich darüber ohne allen Rück-
halt und mit der ungefärbtesten Offenheit aus. Ich aber, anstatt mich einer
solchen Liebe zu freuen, sah in dieser Lage der Sachen nichts als Gollision
zwischen ihm und mir: großmüthige Äußerung von seiner Seite; von der mei-
nigen Unvermögen sie ihm zu erwidern, und der Verdruß die Bibliothek
eines Aufsehers zu berauben, der für sich und für das Publikum einen ganz
andern Gebrauch, als ich, von ihr hätte machen können. Was mir einleuch-
tete, glaubte ich, müßte auch R(eventlow) und dem ganzen Staatsrath ein-
leuchten: ich gab mich schon verlohren.
Gleich darauf erhalte ich die Versicherung von Schimm(elmann),' daß
Moldenhauer meinethalben schon von Spanien aus auf diese Stelle Verzicht
gethan habe, und daß er mir in dieser Angelegenheit auch nicht einmal
leidentlich im Wege stehen werde. Sehr edel von Mold(enhauer) ! I Aber
bin ich nicht ein unglücklicher Mann, daß ich mit ihm in eine Gollision der
Gesinnungen gerathen muß, und daß ich nicht eben so gegen ihn handeln
kann, als er gegen mich?
Am Ende wird sich ja Alles entwickeln, und ich breche eine Materie
ab, bey der es eben so schwer ist sich recht auszudrücken, als recht zu
nehmen.
' Die Grafen Reventlow und Schimmelmann, die dänischen Staats-
minister.
8 Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs
Was Sie mir, bester Gramer, über Minonan zu lesen 'geben, verdient
meine Bewunderung in mehr als Einem Betracht. Kaum begreife ich, daß
ichs bin, der Ihnen eine Handhabe zu einer solchen Dramaturgie in die Hand
gegeben habe. Nichts erinnerte mich schon seit Jahren daran, daß ich der
Verfasser eines gewissen Schauspiels bin, was sich Minona oder die Angel-
sachsen nennt; und es war mir unter tausenderley Zerstreuungen von ganz
anderer Art leicht genug geworden, eine Arbeit zu vergessen, von der auch
nicht einmal meine Freunde, geschweige die Kunstrichter, gern Notiz nehmen
zu wollen schienen. Ich glaube ans Fatum der Schriftstellerey, und ließ es
gut seyn.
Wie? Sie wagen es, sich gegen das Schicksal aufzulehnen? Sie getrauen
sich Grundsätze des Geschmacks geltend zu machen, denen der Geschmack
des Tages widerspricht? Was soll ich von Ihnen denken. Gramer?
Ob Sie die Wahrheit getroffen haben, ist eine andre Frage, die ich nicht
zu beurtheilen weiß. Was ist Wahrheit? fragte Pontius — fragt die ganze
heutige Welt. Wenigstens Averden Sie vermuthen, daß ich über die Lehre
vom Gostüm dissentire. Wenn der Leser am Ende meines Stücks einen an-
dern Begriff von den Sitten der Römer, als von den Sitten der Britten, einen
andern von den Barden, und wieder einen andern von den Angelsachsen
hat, so supponire ich, daß irgend ein Gostüm beobachtet ist: und von die-
sem Gostüm des Theaters, das nicht immer beobachtet zu werden pflegt,
darf sich kein Dichter lossprechen. Ein andres aber ist die kritische Unter-
suchung gewisser Kunstbegriffe, die nur der Antiquar anstellen kann. Wenn
sich auch von diesem Begriff nichts anticipieren, nichts in das Gostüm des
Parterre verschmelzen läßt: so weiß ich nicht mehr, wo die Gränzlinie zu
ziehen ist, und ich sage: wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den
ersten Stein auf mich. Weder Sophokles, noch Voltaire, noch Klopstock
haben dann ein Gostüm: von den Engländern rede ich nicht einmal. Es ge-
hört dann nicht nur viel dazu, ein Gostüm festzusetzen, sondern die Sache
ist sogar an sich unmöglich. Wie soll ich mich mit meiner deutschen
Büchersprache in die Begriffe eines Epulonen^ hineindenken? Ich bin nicht
vermögend eine Zeile zu schreiben, und gehab dich wohl, Darstellung!
Was ich mir zum Behuf der Minona zusammen geschmiert, excerpiert,
kompilirt habe, ist vermuthlich im Fett das die Erde düngt. Wahrscheinlich
habe ich es bey der Abreise von Eutin, unter vielen andi-en Papieren, die
ich nicht wiederfinden kann, zum Einpacken verbraucht, weil ich wirklich
gerade damals an diese Dinge mit einer Art von Groll dachte. Der Verlust
ist aber leicht zu ersetzen, wenn Sie nur die Bücher nachlesen, die ich in
den Anmerkungen citirt habe. Von Ihrem Briefe über M(inona) trenne ich
mich ungern: ich verlasse mich aber auf Ihr Versprechen, daß Sie mir sie
nach gemachtem Gebrauch zurückschicken, und hoffe nicht zu lange darauf
zu warten.
Hätte ich gewußt, daß Ihre liebe gute Frau in Hamburg gewesen ist,
80 würde mir die Augenweide, der Sie erwähnen, um keinen Preis entgangen
seyn. Wie mir so was ins Auge fallen müsse, können Sie sich ohne große
Schwierigkeit denken — fast möchte ich hinzusetzen, wie roth meine Augen
auflaufen, wie wohl und wie weh mir ums Herz dabey wird! mir Annen,
der ich den Tertullian und alle Kirchenväter studire, um mich mit christ-
Epulone = Speisemeister der Götter (Priester).
Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs 9
lieber Enthaltsamkeit zu waffnen. Fallen Sie auf Ihre Knie, Lieber, und
preisen Sie den Vater aller Dinge, indem Sie Ihr Werk betrachten. Nur
sagen Sie mir kein Wort mehr davon.
Leben Sie wohl. Bester, und lieben Sie Ihren G.
In den Questions sur TEncyclopedie art. Atheisme lese ich folgende
Stelle. L'illustre et profond Freret^ pp, Non-Seulement il etait persuade
avec St. Imee que Jesus etait age de plus de 50 ans, quand il souffrit le
demier supplice, mais il croyait avec le Targum que Jesus n'etait point ne
du tem(p)s d'Herode u. s. w.
Wenn Sie sich erinnern, was mir ehemals für Zweifel über eben diese
historische Aufgabe aufgestoßen sind, so werden Sie sich nicht wundem,
daß ich das, was Freret darüber geschrieben hat, mit heißer Begierde zu
lesen wünsche. Freret ist mir aus den Abhandlungen der Academie des
inscriptions als einer der scharfsinnigsten und Wahrheitslieben sten Alter-
thumsforscher bekannt, und ich wüßte nicht, wenigstens itzt nicht, was ich
nur halb so gerne lesen möchte, als das Buch, worinn er die obige Materie
abhandelt. Sollten Sie das in Kiel auffinden, und mir auf einige bestimmte
Tage verschaffen können, so würde ich Ihnen sehr dafür danken.
^''- Altona 18. Sept. 1787.
Ich habe einen Gedanken auf meinem Herzen, der mich seit 8 Tagen
unaufhörlich plackt und schnackt und zwickt und zwackt — Ich muß ihn
einem Freunde zur richterlichen Prüfung übergeben, wenn ich Ruhe haben
soll: und wo ist wohl ein Freund unter der Sonne, an den ich mich bei so
gestellten Sachen besser wenden könnte, oder lieber wenden möchte, als
mein guter warmer treubewährter Gramer? Wer kennt meine Lage nur halb
Bü gut? Wer kann sich in das kleinste Mezzotinto dieser trübseligen Lage
besser hineindenken? Wer wünscht mir nur halb so wohl, als Gramer? Und
wer vermag gerade in dem itzigen Fall nur halb so viel, seys durch That
oder Rath, als dieser Einzige?
Heute vor acht Tagen wurd ich von der Frau von Broks in Ottensen
auf eine ihrer alten Freundinnen aus der Gegend von Kiel zu Gaste gebeten,
eine Frau von Lilienkron, die seit einem halben Jahre Wittwe ist, die
Schwester eines Major Rumoser in Glückstadt, eines feinen wohlredenden
und, wie es mir schien, auch wohldenkenden Mannes, Bewohnerinn und Be-
sitzerinn des Gutes Bulk, dem Schewentor gegenüber, und in der unmittel-
baren Nachbarschaft von Eckhof liegt: näher brauche ich sie Ihnen wohl
nicht zu beschreiben. Ob ich gleich seit zwey Jahren — gewohnt bin, jeden
aufsteigenden Gedanken an eine zweyte Heirath als die Versuchung eines
bösen Geistes zu unterdrücken, der mir seine Krallen schon ein paarmal
verrathen hat; so sehe ich doch nicht, was mich abhalten könnte, mich (I)
bey einem Freunde wie Gramer Raths zu erholen, den ich längst als einen
guten. Genius betrachte — ja der sich mir als solcher gerade um so mehr
bewähren kann, wenn er mich durch Abrathen verhindert, mich zu über-
eilen. Nun werden Sie aber vor allen Dingen zu Avissen verlangen, was ich
für Data habe zu glauben, daß die Frau v. L., die doch die Fräsumption
einer reifen Urtheilskraft für sich hat, sich verleiten lassen könnte, die
> Nicolas Freret, geb. 15. Febr. 1688, gest. 8. April 1749.
10 Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs
Wünsche eines Mannes zu begünstigen, der sie nur ein einzigesmal in ihrem
Leben gesehen hat? Der kein Landmann ist? Der schon ziemlich tief ins
Alter hineinrückt? Dessen acht Kinder allein schon ein mächtiger Einwurf
sind, wenn ich auch alles übrige, worauf eine Holsteinische Gutsbesitzerinn
zu sehen pflegt, aus der Rechnung ausstreiche. Werden Sie mich nicht für
unsinnig halten, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich kein einziges habe? Nur
so viel kann ich zu meiner Rechtfertigung sagen: sie schien die Absicht zu
haben, sich wieder zu verheirathen ; das schloß ich aus ein paar Äußerungen
gegen die F(rau) v. C, die eigentlich zuerst meine Aufmerksamkeit erregte;
sie schien mir eine Frau zu seyn, mit der ich S3'mpathisiren könnte, die also
aus diesem einzigen Grunde vielleicht auch mit mir sympathisiren Avürde; sie
schien eine Kindei-freundinn zu seyn, der also vielleicht auch meine Kinder
gefallen könnten; sie schien mir etwas Gerades in ihrem Character zu haben,
was einer sonst vernünftigen Heirath wenigstens keine thörigten Vorurtheile
entgegen setzen würde. Was mich aber mehr als alles übrige ankörnt, ist
der ähnliche Fall mit Wickel, den, wie Sie vermuthlich schon wissen, unsere
gute alte Meta' mit samt seinen 8 Kindern und mit seinen sämtlichen Schulden
heirathet, ob sie gleich ein unabhängiges Vermögen von 40000 R unsers
Geldes besitzt. Ich habe doch wenigstens keine Schulden, habe vielmehr
noch ein Restchen aufs Trockne zu bringen ; habe Kinder, die sich selbst in
der Welt fortarbeiten können und sollen; thue gleich im Voraus, so förm-
lich als es nur irgend verlangt wird, Verzicht auf alle Real-Vortheile, die
mir oder den Meinigen aus einer solchen Verbindung erwachsen könnten.
Mein einziger Wunsch in dieser Welt ist, eine vernünftige gutmüthige Frau
von reifen Jahren zu besitzen, mit der ich den Überrest meines Lebens in
ruhiger Unabhängigkeit und häuslicher ländlicher Glückseligkeit verleben
könnte. Eine solche Frau zu finden, wäre sie auch eine schlichte mäßig be-
güterte Pastorswittwe, halte ich für das Ideal der menschlichen Glückselig-
keit. Ich halte mich fürs Landleben gebohren. Ich bin mich (!) keines Feh-
lers oder Gebrechens bewußt, wowider eine wirtschaftliche Gattin Einwen-
dungen zu machen hätte. Ich kann schreiben und rechnen, auch reiten und
fahren, wenns darauf ankommt. Ich kann, wenn es nöthig ist, einen Schlüssel
an der Tasche tragen, so gut Avie ein Andrer. Ich kann mich bey Knechten
und Mägden, bey Bauern und Bauernvögten in Respekt setzen. Ich kann
früh aufstehn, früh zu Bette gehn, und habe Kinder, die das auch können,
die für ein stilles so gut als für ein thätiges Leben erzogen sind, die nun
recht heranwachsen, um in einer Wirthschaft auf dem Lande gute Dienste
zu thun. Besonders ist mein ältester Sohn Fritz gewandt, um überall Hand
anzulegen ; und was der großen Beweggründe mehr sind, dich ich zu meinem
Behuf anführen könnte, und die ich bescheidentlich mit Stillschweigen über-
gehe.
Aus dem bisher gesagten, liebster Gramer, werden Sie abgenommen
haben, was ich wünsche. Es ist mir nur noch übrig, Ihnen zu eröffnen,
was ich nicht wünsche. Ich Avünsche nicht, in dieser Angelegenheit einen
ersten Schritt zu thun, ehe ich sicher bin, auch alle übrigen thun zu können.
Ich wünsche nicht, ruchbar zu machen, was, Avenn es nicht ausführbar seyn
1 Meta Noodt, geb. Haake, die Schwester von Doris Biester, die Job.
Erich Biester, den späteren Herausgeber der 'Berlinischen Monatschrift', ge-
heiratet hatte. Mit den Geschwistern Haake verkehrte G. viel in Lübeck.
Ungednickte Dichtungen und Briefe Gerstenberga 11
sollte, besser verschwiegen bleibt. Ich Avünsche nicht, ohne Ihren Rath und
Willen zum Werke zu schreiten.
Es käme nun also lediglich darauf an, ob Sie, liebster Gramer, Gelegen-
heit hätten, über diejenigen mir unbekannten Umstände unter der Hand Er-
kundigung einzuziehen, die Ihnen entweder zur Beförderung dieser An-
gelegenheit zuträglich, oder ihr hinderlich zu seyn scheinen möchten. Sie
sehen, ich habe es hier blos auf einen verlohrenen Versuch angelegt, in den
ich mich lieber gar nicht einlasse, wenn Sie mir auch nur im Allgemeinen
davon abrathen, ohne mir Ihre Ursache zu entdecken. Was nicht geht, kann
man nicht kurz genug abthun. Auch bin ich an dieser Stelle schon so
Avund, daß ich mich lieber gar nicht damit befaßte, wenn ich nicht Vorwürfe,
die ich mir in meinem und meiner Kinder Namen einmal in der Folge machen
konnte, noch weit mehr fürchtete.
Einen Haupteinwurf hätte ich beynah vergessen, den ich von Seiten des
Anfangs erwähnten Majors vorhersehe, und den ich nicht früh genug weg-
räumen kann. Der Major hat einen hoffnungsvollen Sohn, (wo ich nicht
irre, studirt er itzt in Kiel, oder hat da studirt), für den die Fr(au) v. L.
etwas Jährliches ausgesetzt hat, bis er ihrer Hülfe nicht weiter benöthigt
seyn wird. Auf den glücklichen Fall, daß sich sonst keine Haupteinwürfe
wider mich finden, würde ich mich frohen Muths erklären, daß ich einer so
edlen und schwesterlichen Gesinnung auf keine Weise entgegen zu arbeiten
fähig bin, sondern daß ich jede andre günstige Disposition zu befördern
suchen würde, die der Bruder, oder Avas es auch sonst seyn mag, im Vor-
wege aufs Reine gebracht Avissen wollte. Doch darüber zu seiner Zeit des
Mehreren.' Itzt setze ich nur noch hinzu, daß Sie auf ewig sich verpflichten
können Ihren G:
18.
Altona 4 Januar 1788.
Wie ich Ihnen vorigen Umschlag mit meinen kleinen Angelegenheiten
beschwerlich fiel, liebster Gramer, so muß ichs auch dießmal. Ich habe
keinen Freund in Kiel, der solche Zumuthungen abseiten meiner so freund-
schaftlich aufnähme, Avie Sie, und an den ich mich mit einer so gegründeten
Zuversicht wenden könnte. Gegen meine hiebey angeschlossene Vollmacht
nebst den hinzugefügten Quittungen ersuche ich Sie also 260 R grob Gour.
an Zinsen für mich zu erheben, und mir hierher zu übersenden. Außerdem
hat Boie ein Gapital von 2000 R und einigen kleineren Summen an mich
auszuzahlen, worüber ich Ihnen näher schreiben werde, sobald die diesfäl-
ligen Avisbriefe, die ich noch erwarte, bey mir eingehen.
So Aiel für dießmal von Geldangelegenheiten. Als Füllsei schicke ich
Ihnen noch einen Bogen theologischen Inhalts, wenn Sie etwa geneigt sind,
einen Blick darauf zu werfen, und mir Ihre und Ihres Herrn Vaters Meynung
darüber zu sagen. Der Aufsatz ist theils durch eine Stelle im Gibbon, theils
durch Beobachtungen veranlaßt worden, die sich mir hier in Altona mehr
als anderswo aufdringen. Gibbon trägt Bedenken, wie Sie sich vielleicht
erinnern, der Vernunft irgend eine Idee von einer Zukunft nach dem Tode
einruräumen. — Zukünftige Dinge kann man freylich nicht wissen; man
kann aber etwas von ihnen meynen, fürchten, hoffen, sogar glauben: und
wenn dieser Glaube in die Anlage unsrer Natur selbst vererbt ist; so hat
* Aus dem Projekt wurde nichts.
12 Uligedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs
er nicht allein Wahrscheinlichkeit, sondern Evidenz, oder vielmehr subjektive
Wahrheit, wie Kant das ausdrückt'
Wenn ich dagegen in den hiesigen altchristlichen Gemeinen der — Quä-
ker, Hermhuter, Mennonisten, u. s. w. die Lehre von der Rechtfertigung, der
Freyheit des Willens, der Guadenwahl, Berufung, und Vorherbestimmung
genau mit eben den Worten vortragen höre, wie das Tridentinische Con-
cilium diese Dogmen des Protestantismus aus Luthers und Zwingiis Schriften
herauszog und verdammte, und dann bey näherer Untersuchung das wahre
Fundament derselben im N. T., besonders der Briefe des Apostels Paulus,
ganz unläugbar wiederfinde, so sehr sich auch Döderlein - bemüht, es zu ver-
bergen, und durch den Staub, den er darauf schüttet, undeutlich zu machen:
so weiß ich wieder nicht, was ich von der Wohlthätigkeit eines Glau-
bens denken soll, den meine Vernunft so gern ergriff, und der nun auf ein-
mal ein ganz ander Ding wird. Nur so viel sehe ich, daß die Leute, die
sich mit so vielem Eifer in jene altchristlichen oder rein evangelischen Ge-
meinen eindringen, ihre gute Ursache haben müssen, ihre Beruhigung lieber
da, als in unsrer sich orthodoxer dünkenden Hauptkirche zu suchen; und
diese guten Ursachen klären sich bald genug auf, wenn man hört, was das
größtentheils für ein sauberes Völkchen ist, dem des Abends, in den Winter-
monathen zumal, jeder Unbegnadigte gern drey Schritt vom Leibe bleibt.
Wer mit bewundernswürdiger Seelennihe das Handwerk eines Gaudiebes
treiben will, thut wohl, seinen Posten unter den Auserwählten einzunehmen.
Da kann er seinen Zweck, des geistlichen wie des leiblichen, nimmermehr
verfehlen; und wäre ihm allenfalls ja der Galgen prädestinirt, was ists denn
mehr? er hat den Himmel da oben nur desto näher — ein Katzensprung für
einen Märtyrer, der den rechten Glauben hat.
Verzeihen Sie, liebster Gramer, ich wollte mich nicht gern leichtsinnig
über eine Sache ausdrücken, die ich sehr ernsthaft empfinde und begreife.
Aber helfen Sie mir zurecht, wenn Sie mich auf einem Irrwege zu ertappen
glauben. Mein Aufsatz wird Ihnen das übrige sagen. Nach gemachtem Ge-
brauch sind Sie wohl so gütig, ihn mir, so wie er da ist, am liebsten mit
einem oder einigen Bogen Ihrer Randglossen zurückzuschicken. Ich habe hier
Niemanden, mit dem ich mich über diese Materie unterreden kann, und sie
ists doch wohl werth, von mehr als Einer Seite erwogen zu werden.
Ich hoffe mich deutlich genug erklärt zu haben, daß ich Auferstehung
von Unsterblichkeit, und den Glauben an jene von der Sache selbst, aus
Gründen, die ich Ihnen, wenn Sie es verlangen, umständlich auseinander-
setzen will, unterscheide. Die Verwechselung dieser sehr verschiedenen Be-
griffe hat eine Menge Amphibolie in die Hypothesen der Theologie gebracht;
und unter andern den guten Warburton ^ in große Verlegenheit gesetzt, da
er sich, nachdem er den Satz in allem Ernst angenommen, daß die Juden
des A. T. keine Auferstehung zu hoffen hatten, sondern durch die Theo-
kratie selbst alles schon für sie ausgeglichen war, in die komische Unter-
suchung verwickelt, was doch wohl aus ihrer unsterblichen Seele geworden?
Was die Form der Sinnlichkeit für unsern Verstand ist, das ist die Form,
1 'Vom Meinen, Wissen, Glauben" (Kritik der reinen Vernunft).
2 Joh. Chr. Döderlein, der berühmte Jenenser Theologe (1746—1792).
3 Der Prälat, Dichter und Schriftsteller William Warburton (1698—1779),
Verfasser des Buches 'The divine Legation of Moyses'.
Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenberga 13
unter der wir übersinnliche Gegenstände von Natur denken, für unsre Ver-
nunft, Ich hoffe, daß Kant in seiner Moral, ^ die auf Ostern herauskommt,
viel Licht über diese große Angelegenheit des sittlichen Denkens verbreiten
svird, wozu er in seiner Kritik p. keinen Anlaß hatte. Was die Metaphysiker
darüber scriblen, ist des Lesens nicht werth. Kant allein hat den Scheide-
weg zwischen Dogmatismus und Skepticismus gefunden; und wer ihn ver-
steht, fürchtet keinen Zweifel der Klügelei weiter, sondern fühlt sich erwärmt
und beruhigt auf immer.
Von meiner Kopenh. Affaire weiß ich Ihnen weiter nichts zu schreiben,
als daß die Hoffnung wegen der Bibl(iothek) auf nichts hinausläuft, und daß
man mich auf etwas andres vertröstet, womit mir mehr gedient seyn soll,
worüber man sich aber nicht ausläßt.
Was haben Sie für Nachrichten von Schulze? ^ Wie gefällt er? und wie
gefällts ihm? Hat er schon eine Oper gegeben? und welche? Was macht
Kunzen? was Zink?^ Ich bin sehr begierig, über alle diese interessanten
Dinge etwas umständliches zu erfahren.
Mein Sohn in Kopenh. ist in seinem exam. rigoroso so gut bestanden,
daß sie ihn zum Lieutenant bey der Artellerie gemacht haben. Alle loben
ihn sowohl seiner Aufführung als seines Fleißes wegen. Auch meine hiesigen
Kinder machen mir viel Freude. Das ist der Trost meines Lebens. Ich sehe,
daß ich den rechten Weg, sie zu Menschen zu machen, getroffen habe, und
resignire mich wegen der Zukunft in den Willen des allwaltenden Gottes.
Empfehlen Sie mich Ihrem ganzen theuren Hause, und lieben Sie ferner
Ihren Gerstenberg.
19.
Altona 8 Januar 1788.
0 mein Bester! mein bester geliebtester Freund I welche unbeschreibliche
Freude hat mir Ihr — so ganz in jedem Laute, jedem leiseren Nachklange,
auf mich gestimmter unschätzbarer Brief mir gemacht! So was bedurfte ich!
0 Gramer! wie liebe ich Sie! Wie drängt sichs in meinem Herzen, Ihnen
alles alles zu sagen — Und doch kann ich kaum zwey halbe Worte lallen,
wenn dieser Brief noch mit der Post fort soll, da ich den Ihrigen* nur einige
Minuten vor Abgang derselben erhalte.
Wie freundschaftlich sind Sie meinen Wünschen zuvorgekommen! Ich
sehne mich nach einer solchen Verbindung mit Ihrem Herzen, und trug doch
Bedenken, es zu äußern.
Heil, Hermann! Dir, Heil, Edlstan!
Daß Du gebohren bist:
unsterblicher Hüfte Sohn! Genius von Genius! ein Sachs! ein Angelsmann I
und — dafür bürge Klopstock und (Gerstenberg) — ein Christi — Also
auch Gerstenberg — Weg mit der Parenthese — Ich bürge allerdings für
ihn. Haben Sie nicht den Beweis in Händen? Und mich auf dieses Docu-
ments Glauben auserwählt. Adsit omen! Ich stehe für seinen Glauben.
^ 'Kritik der praktischen Vernunft', 1788.
2 Wieder Joh. Abr. P. Schulz gemeint.
3 H. 0. K. Zinck (1746—1832), wirkte von 1787 an am Kopenhagener
Hoftheater.
* Nicht erhalten.
14 Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs
0 daß ich den lieben Ankömmling > mit dem Kusse meines Mundes segnen
könnte! wie herzlich, wie inbrünstig sind alle meine Wünsche für ihn, für
seine liebenswürdige Mutter, für seinen vortrefflichen Vater zum Himmel
gerichtet. Und wie sehr dankt Ihnen für Ihre liebevolle Wahl
Ihr Gerstenberg
Übermorgen schicke ich Ihnen Ihre Flora ^ mit der Hafens Post zurück.
Ich sehe schon, was da für ein Ohrenschmaus duftet. Und dann die Ant-
wort auf den übrigen Theil Ihres freundschaftlichen Briefes.
-0- Altona 10 Januar 1788.
Sie haben eine magische Kraft, mich ans Klavier anzunageln, was ich
sonst nicht einmal anselm mag, wenn auch die schönsten Sachen darauf
liegen. Da hab ich nun den ganzen Vormittag von 8 bis 11 gesessen, und
in eins weggeklimpert, daß mir die Ohren gellen, quasi vero, als wenn Ihre
Flora fürs Klimpern gemacht wäre! Und doch bild ich mir ein, was drinn
steckt in dem lieblichen Kränzchen, schier so genau,^ als ob ichs selbst hätte
binden helfen; und wüßte nichts, was ich draus entbehren möchte, Blatt
oder Blume, Grünes oder Buntes, nicht einmal mein eignes Seyn oder Nicht-
seyn : so wohl thuts meinem Aug und dem andern Organ — 'S ist ein Werk
der Kunst, solch ein Kränzle zu binden, für jede Art Nase zu sorgen,
und doch etwas hineinzuthun, was auch wohl die feinste Nase nicht drinn
gesucht hätte. Das Original-Verdienst aber, was Sie sich dabey erworben
haben, sind Ihre Einleitungen, die mir ganz außerordentlich gefallen — be-
sonders die, wo Sie von mir reden, — wie sichs am Rande versteht. Das
Einleiten ist eine so herrliche Erfindung, daß ich sogar wünschte, Sie hätten
Ihre Vorberichte nicht in den Vorbericht, sondern vor jedes Stück insbeson-
dere drucken lassen. Eine einzige Erscheinung hat mich stutzig gemacht:
mein Schlachtgesang. Gerade diesen nämlichen Schlachtgesang habe ich
Kunzen ganz vor kurzem, mit einigen Veränderungen, zugeschickt, damit er
ihn componiren möchte, und mich nicht erinnert — was mir itzt wieder
dunkel vorschwebt — daß er ihn schon einmal componirt hati Was Kunzen
wohl von mir denken mag! — Bey alledem wärs mir doch lieber, er hätte
den Text componirt, wie ich ihn itzt verändert habe. Es liegt nun etwas
drinn, was ihm vielleicht aufgefallen seyn würde, wenn er sich seiner vorigen
Composition nicht besser erinnert hätte, als mir das, zu meiner Beschämung,
widerfahren ist. Ihre Epistel an Augusta* hat großes poetisches Verdienst,
und noch sonst etwas, was mir nicht entgangen ist. Wie sehr beneide ich
Sie, daß Sie ihr so was zu schreiben hatten I
Und doch wahrhaftig theuer genug erkauft, wenn Sie das heroische Ver-
gnügen, Ihre Athalie aufführen zu sehen, durch Schiffbruch büßen müssen.
Ich bin ganz erschrocken über die Nachricht, die Sie mir in Ihrem scherz-
haften Tone davon ertheilen: der Fall war mir völlig unbekannt. Dank Sei
Gott, daß Sie noch mit heiler Haut davon gekommen sind, und vertrauen
Sie sich dem Schindmeere* (man sagt sonst der, wenn der Ritt schlecht aus-
1 Gramer hatte Klopstock und Gerstenberg zu Paten seines Sohnes ge-
beten, den er nach den Helden in Klopstocks 'Hermann und die Fürsten'
und Gerstenbergs 'Minona' Hermann Edelstan nennen wollte.
2 Cramers musikalische Sammlung erschien zu Kiel und Hamburg 1787.
* Ergänzen: 'zu kennen'.
* Gräfin Augusta Bernstorff, geb. Stolberg (Gustchen). ^ Wortspiel.
Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs 15
fällt) nicht mehr bej' den schlechten Wegen im späten Herbst an, wo auch
der beste Reiter leicht strauchelt. Ein einziger Wind reißt ihm ein Loch
ins Geleise, daß man hineinfällt, und oft ^ar das Aufstehen darüber vergißt.
Ich bin sehr begierig auf Ihren umständlichen Bericht von sothaner Begeben-
heit, und bitte Sie inständig, mir ihn zu communiciren.
Noch etwas von Wichtigkeit mich selbst betreffend lese ich in Ihrem
Briefe, was ich auch nicht gewußt habe. Die Absicht ist also, mir hier ein
Plätzchen in Altona auszamitteln? Ey! für die Nachricht dank ich Ihnen
gar sehr: die kommt mir überaus wohl zu statten.
Und nun zu der Materie, die das A und 0 alles meines itzigen Denkens
und Strebens ist, wenn sie es gleich nicht so sehr seyu sollte. Sie haben
mir ganz vortreffliche Anmerkungen darüber geschrieben. Mein Herz schlägt
Ihnen noch einmal so stark entgegen, daß wir uns auch auf diesem Wege
80 gevatterlich rencontriren. Sie haben sehr Recht, daß man sich alle fer-
nere Untersuchung ersparen kann, wenn man erst den Hauptsatz weg hat,
daß das Ganze nur Menschenwerk ist. Aber die Frage selbst ist eine all-
gemeine Angelegenheit des menschlichen Geschlechts geworden, und ehe
man dem Zweifel nicht alle seine Schlupfwinkel verstopft hat, kommen doch
zuviel Augenblicke, da man sich vorwirft, die Untersuchung nicht bey dem
rechten Ende augefangen zu haben. So ist es z. B. Lessingen gegangen,
dessen unruhiger Scharfsinn blos darum auf so viele seltsame Hypothesen
und theologische Sophistereyen verfiel, weil er in einer Sache von solcher
Wichtigkeit nicht vorsichtig genug verfahren zu können glaubte. Mir scheint
er mehr als ein halber Schwärmer gewesen zu seyn, und er würde gewiß
noch ein zweyter Tertullian geworden seyn, wenn er länger gelebt hätte.
"Der Sohn Gottes, spricht Tertullian, ward gekreuzigt: schämt euch eures
Glaubens nicht; denn es ist der unverschämteste Glaube, den man dem
menschlichen Verstand aufdringen kann. Der Sohn Gottes starb: die Sache
ist vollkommen glaublich: denn sie ist ungereimt. Der Sohn Gottes ist von
den Todten auferstanden: nichts kann unwidersprechlicher seyn; denn es ist
unmöglich." — Räsonnirt Lessing nicht meist eben so über die Dreyeinig-
keit? Wer ist mehr sicher, seiner eignen Vernunft zu trauen, wenn man
die Trias des Plato für eine göttliche Offenbarung annehmen, und vollends
sie demonstriren zu können meynt? Ganz anders denke ich über all diese
Ideen, wenn ich mich in ihre Geschichte hineinstudirt habe; wenn ich weiß,
daß Moses viel jünger ist, als Pythagoras und die alten Traditionen der
Griechen, Perser p; wemi ich weiß, daß die Pharisäer die Prädestination,
die Mythologie der Aeonen, die Unsterblichkeit in ein sehr künstliches und
verworrenes System gebracht hatten, und daß Paulus ein Ex-Pharisäer war;
wenji ich weiß, daß die Jüdischen Ophiten schon vor Christi Geburt ein
Dogma vom Christus hatten, das den Keim der ganzen nachherigen Gnostik
enthielt; daß die Essäer oder Therapeuten wahrer Christ vor Christus waren
und Johannes der Täufer allem Anschein nach selbst zu dieser Sekte ge-
hörte, daß die Juden erst seit ihrer Verpflanzung nach Alexandrien durch
die Griechen selbst veranlaßt wurden, sich eine Sammlung von Volks-Sagen
und alten Chroniken zu machen, mit denen sie die Griechen, nach ihrer ge-
wöhnlichen Art, zu überraschen hofften; daß die Septuaginta vermuthlich
keine eigentliche Übersetzung sind, und daß wenige Jahre vor Christi Ge-
burt platonische Pamphlets in den Kanon aufgenommen wurden. Und doch
würde ich mich mit allen diesen Tatsachen, die sich, mehr als man wohl
16 Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs
denken sollte, aufs Reine bringen lassen, noch immer nicht sicher genug
glauben, wenn ich mich nicht durch Kanten über die rechte unverrückliche
Gränze alles Wissens hätte verständigen lassen, wo alles, was außer der
Natur der Dinge ist, seinen angewiesenen Platz bekommt, und wo mir die
Augen über meine eignen Begriffe aufgehn. Mit diesem Schlüssel versehen
finde ich mich überall zurechte, und freue mich einen Zeitpunkt erlebt zu
haben, wo der Mensch endlich einmal weiß, was er weiß, und was er nicht
weiß.
Dagegen aber gestehe ich Ihnen, daß meine Phantasie, wenn ich wirk-
lich etwas von der Art besessen habe, wie Sie mich, und unter allen meinen
Freunden Sie allein, fast überreden, Ihre beste Blüthe, vermuthlich auf immer,
verlohren hat. Es ist ein schlimmes Zeichen, wenn man ein gewisses Inter-
esse verliert; und ich kann es mir unmöglich verhe(h)len, daß ich in diesem
Falle bin. Wie soll ich anfangen, den Attalus zu schreiben, wenn ich nicht
daran denken mag? Und Avie erzwinge ich meine Gedanken? Dazu kom-
men noch viele andre Ursachen meiner bisherigen Stimmung, die ich Ihnen
vielleicht nicht einmal zu sagen brauche. Kurz, liebster Gramer, ich bin mit
nichts mehr, was ich gewesen bin, hoffe aber in der Hauptsache so zu seyn,
wie man in meinen Jahren seyn muß.
Was mir aber unbegreiflich ist, und was ich mir weder in der Kanti-
schen noch in der gewöhnlichen Natur der Dinge zu erklären weiß, sind Sie
selbst, der Sie, bey so ganz disparaten Belustigungen, quasi aliud agendo,
wie durch eine Art von Intuition, zu den hellsten Begriffen emporgestiegen
sind, die man in dergleichen Sachen nur haben kann. Sie glauben eine
Auferstehung, und sind doch dem Materialismus nicht abhold: das heißt
mit andern Worten, Sie bedenken sich vor der Seelenwanderung, wie die
christl(iche) Rel(igion) sie lehrt. Oder ist die Umwandlung eines Dumm-
kopfs in einen Genius, eines menschlich organisierten Halbthiers in einen
unmenschlich organisierten Halbgott, der Übergang aus einer Erdenwelt in
eine Licht- oder Feuer- Welt, etwas anders, als die gröbste Seelenwanderung,
die sich nur denken läßt? Die erste christliche Kirche glaubte an den Ma-
terialismus; nur mit dem etwas bedenklichen Umstand, daß das Gebiß des
Menschen, seine Zähne, der Knollen wäre, aus dem unser Körper weiter aus
dem Grabe aufwachsen würde; und eben der vorbelobte Tertullian hatte
diese Zahnarzt-Theorie auch. So fest bissen sich die Leute in die Materie
hinein, die unsre heutigen Philosophen lieber gar aus der Welt herausschaffen
möchten; eben weil sie sich nicht sehr orthodox dünken. — Wie haben Sie
es doch angefangen, Sie, der Sie in der Schule der Dogmatik erzogen sind,
so ganz durch eigne Kraft das Joch des Dogmatismus von sich abzuschüt-
teln? Denn daß Sie durch Ihre bloße Leetüre der Genesis mit Moldenh(auer)
zu einer solchen Mannkraft haben gelangen können, die mir fast ein eben
so großes Wunder zu seyn scheint, als irgend ein Wunder im Moses selbst,
will mir nicht ein. Ich habe dergleichen Wirkung bey Moldenh{auer) nicht
verspürt; und M. ist doch wahrlich ein Kopf von nicht gemeiner Elasticität.
Wie dem aber auch sey, so freue ich mich doch sehr, eine Qualität an Ihnen
zu kennen, die Sie sehr unrecht gehabt haben, unter Ihre qualitates occultas
zu verschließen. Hätte ich das gewußt, so würde ich Sie mit meinen Thesi-
bus gewiß nicht heimgesucht haben. Ich erwartete ein Responsum, wie von
einer theologischen Facultät: und erhalte ein Scriptum, was ich mit beiden
Händen unterschreibe, und was keine theologische Facultät in Europa mir
üngedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs 17
zu geben im Stande gewesen wäre. Wie sehr habe ich Sie verkannt I und
wie lange!
Einen solchen Übersetzer mußte der Emil * haben — oder gar keinen.
Sie werden dem ehrlichen Savoyarden endlich einmal die Gerechtigkeit wider-
fahren lassen, deren er lange hat entbehren müssen ; und wären reich genug,
ihm noch viel von Ihrem Eignen zu geben, wenn die Kost nicht für unser
itziges Jahrhundert noch zu stark wäre. Ich bin neugierig zu sehen, wie
Sie sich bey einer so delikaten Aufgabe nehmen werden: der Wahrheit
nichts zu vergeben, und sie zugleich durch Weisheit zu fördern. Denn daß
Sie das Glaubensbekenntniß ohne alle Anmerkung(en) in die Welt schicken
sollten, erwarte ich, nach dem Glaubensbekenntniß, was Sie mir, Ihrem ehr-
würdigen Gevatter, abgelegt haben, freylich nicht. Nur Eins, Lieber, bitte
ich Sie: schonen Sie des zarten Glaubens um Eures 2 Hermann Edlstan! und
erinnern Sie sich meiner Bürgschaft!
Was Sie für ein Starrkopf sind! Aller meiner Warnungen ungeachtet
fahren Sie doch fort, sich noch immer mit dem schottischen Mädchen, mit
der Minona! zu verzetteln — denken nicht darann, wie sehr Sie Ihren guten
Namen aufs Spiel setzen — geben der Welt und sogar der Nachwelt ein
öffentliches Scandal — und wollen durchaus Ihrem eignen Sinn in einer
Sache folgen, die doch ganz allein vor den Richterstuhl des common-sense
gehört, der schon gerichtet hat! Und wozu das Alles? Traun, ich wollte,
Sie wären der Vater von dem ungerathenen Kind, und sähen es nur ein
einzigesmal mit meinen Augen an. Sie würden so viel Aufhebens nicht
davon machen.
Ach welch ein ganz ander Ding ist ea, so einen Hermann Edlstan zu
produciren, als zehn Minonen! Nehmen Sie sich in Acht, daß ich Ihnen
nicht einmal Vorlesungen über Ihren Edlstan schreibe, wie Sie über meine
Minona; und sehen Sie sich wohl vor, was Sie für ein Exempel statuiren.
Und hiermit, lieber Herr Gevatter, liebe Frau Gevatterinn, empfiehlt sich
Ihrer ferneren Wohlgewogenheit Ihr dankbarer G.
Auf das Geld von Boie brauchen Sie nicht zu warten: er wird es mir
hierher schicken.
21.
Altona 22 Januar 1788.3
Ihr freundschaftvoller Brief, mein bester Gramer, drängt mich zu sehr
als daß ich ihn nur eine Minute unbeantwortet lassen könnte. Was Sie mir von
B(emstorffs) und S(chimmelmanns) Gesinnungen schreiben, erschreckt mich.
Ich habe nicht geglaubt, in dem Ruf eines indolenten Menschen zu stehen, für
den man durch eine Sine-cure sorgen muß, und der, seiner Unthätigkeit wegen,
nicht einmal zur Aufsicht über eine Bibliothek taugte. Wenn ich ein Amt suche,
80, dächte ich, wäre das schon Beweis genug, daß ich thätig zu seyn verlange:
und ich suche das nicht als Neuling, den man etwa nur seiner ehemaligen
litterarischen Produkte wegen begünstigen sollte, sondern als vieljähriger
Geschäftsmann. Wenn B. nicht glaubte, daß ich dieser einzigen Rücksicht
' Rousseau. * Fraglich.
' Bis auf den letzten Absatz mit roter Tinte unterstrichen und an einigen
Stelleu korrigiert, nicht von Gerstenbergs Hand, sondern von der des Emp-
fängers. Cr. schickte die Briefe an Bernstorff. Zwischen Nr. 20 und 21 ein
Brief Cramers vom 18. Januar 1788.
Aix-hiv f. n. Sprachen. 110. o
18 Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs
wegen eine Wiederanstellung verdiente, so weiß ich nicht, wie er mir in
Gegenwart seiner ganzen Familie sagen konnte, ich sollte statt aller anderen
Gründe meines Memorials nur den allein anführen, daß meine ehemaligen
Vorgesetzten meine Brauchbarkeit ' anerkannten, und daß dem Staat mit mir
gedient seyn könne. Es ist B(ernstorff3) Art nicht, Jemanden zu verhöhnen,
und ich muß also vermuthen, daß er mit den vielen Lobeserhebungen, die
er mir noch außerdem über meine Brauchbarkeit machte, etwas geraeynt
habe. Auch S(chimmelmann) beklagte, daß ich meinen Posten in Lübeck ver-
lassen hätte; und die Ursache war, nicht, weil ich selbst darunter litte, son-
dern weil man keinen guten Tausch getroffen zu haben meynte. Ich bilde
mir ein, in Lübeck sowohl als in Kopeuh(agen) denjenigen Grad der Arbeit-
samkeit gezeigt zu haben, der der Absicht entspricht. Daß ich keine Bücher
seit zwey Jahren habe drucken lassen, beweist noch nichts für Indolenz;
und es sollte mir leid thun, mit Claudius in Eine Classe gesetzt zu werden.
Ich habe im vorigen Jahr allein 8 Fascikeln zusammen geschrieben — nicht
abgeschrieben, die, wenn sie gedruckt werden sollten oder könnten, einen
Quartband von 8 bis 900 Seiten engen Drucks ausmachen würden. Es ist
ein großes Unglück für mich, daß man meine Nichtpublicität mit einem wirk-
lichen Abscheu vor der Arbeit verwechselt. Man setze mich nur in Arbeit,
und zwar nicht als Buchhändler, sondern als Staat. Jene Rücksicht ist hier
ja ganz außer der Frage. Lieber Gott, was hat man denn diese ganze Zeit
her damit sagen wollen, daß man mir bald diese bald jene Stelle anbiethet,
die man, wie man ausdrücklich versichert, mir nur blos darum nicht wirk-
lich ertheilt, weil man noch eine Bessere für mich auszufinden hofft. Hätte
man den Zweck, mir gar keine zu geben, so begreife ich nicht, warum man
mich mit eitlen Hoffnungen hintergehen sollte. Und wie soll ich Münters*
Briefe erklären, wenn auch er dafür hält, daß alle diese Versprechungen auf
nichts hinauslaufen, und daß ich unter irgend einer unheilbaren Influenz
kränkle, bey der seine bisherigen freundschaftlichen Verwendungen nicht
einmal anschlagen konnten? Wenn das seine Meynung gewesen ist, so hat
er sich nicht blos dunkel, sondern unrichtig, ausgedrückt.
Ich danke Ihnen aber, mein Bester, mit meinem heißesten Danke für
das Licht, was Sie mir über meine gegenwärtige Lage aufstecken, und ich
will es so gut zu nutzen suchen, als ich kann.
Die Zeit ist mir zu kurz, den übrigen Theil Ihres äußerst interessanten
Briefes zu beantworten. Das Geld habe ich richtig erhalten. Sie haben wohl
gethan, daß Sie den Komödiennamen ^ aufgeopfert haben: es ist ja nur ein
Name. — Meine theologischen Bogen vergessen Sie ja nicht mir zurück-
zuschicken. Ich umarme Sie, ganz und immer Hu- q,
22.* Altona [5. Jan. 90] '
Sie sind, selbst in Ihrem Unmuth, in der Bitterkeit Ihres Widenvillens,
ein 80 lieber guter Mann, daß ich keine Mühe für verlohren halte, die ich
^ Hier findet sich ein Stern mit der Anm. : 'Anmerkung S. p. 66' [des
Memorials, das Gramer zur Verteidigung G.s schrieb? Siehe Brief Nr. 23J.
2 Balthasar Munter, mit dem G. in Kopenhagen befreundet wurde.
2 Unverständlich, worauf sich dies bezieht.
* Zwischen Nr. 21 und 22 liegen sieben Briefe Cramers.
^ Das Datum fehlt, geht aber aus einer späteren Stelle des Briefes her-
vor; am Kopf steht von Cramers Hand: 10. Jan. erhalten 90.
Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs 19
mir gebe, um meinen Gramer zu einer besseren Meynung von seinem alten
Freunde Gerstenberg zu bewegen. Guter Gott! was ist menschliche Über-
zeugung für ein Ding, wenn Gramer schreiben kann — „Was soll ich thun?
Mir die Augen verfinstern, mir sagen: Du irrst, wo ich überzeugt bin, nicht
zu irren?" —
Überzeugt? Sie, der Sie nicht einmal wissen — nicht einmal hören
wollten — was ich denn eigentlich vorhabe? Sie, der Sie in dem Augen-
blick, da ich Sie au fait zu setzen meynte, mich mit der kurzen Antwort
abfertigten: Sie müßten mir gerade heraus sagen, daß Ihnen alles Spekulative
höchst zuwider wärel Sie, der Sie, anstatt sich ein paar Seiten von mir
vorlesen zu lassen, mich damit vertrösteten, daß Sie mir gelegentlich etwas
von sich zu lesen geben wollten, woraus ich Ihre Meynung über dergleichen
Spekulationen umständlicher vernehmen sollte!
Und nun, ohne eine Sylbe von der ganzen Sache begriffen zu haben,
mit einem: „Sie haben einen zu transcendenten Geist, als daß meine plane,
auf erfindenden Genius anspruchlose, Vernunft in dem starken Gewebe Ihrer
Begriffe Veränderung wirken sollte" — über mich herzufahren!
Erlauben Sie mir, Ihnen wenigstens den Titel meines Buches herzusetzen.
Er heißt: Euphron; oder, der gesunde Menschenverstand gerechtfertigt durch
die neue deutsche Originalphilosophie. ^
Darf ich noch zwey Worte, statt eines Coramentars über diesen Titel,
hinzusetzen? — Der ganze Zweck meines Buchs geht dahin, zu zeigen, daß
der plane, auf erfindende Metaphysik anspruchlose, Menschenverstand von
jeher über die vielen ungereimten Streitfragen der Spekulation richtiger ent-
schieden habe, als die ganze Dialektik der Metaphysiker, Hume sowenig als
Leibnitz ausgenommen. Ich gehe die sämtlichen metaphysischen Streitpunkte
(bis auf die theologischen, über die ich ein tiefes Stillschweigen beobachte)
nach der Reihe durch, und zeige deutlich, warum sie auf die gesunde Ver-
nunft des eigentlich so zu nennenden großen Publikums eingewirckt haben,
noch wirken konnten; warum Sie, und ich, und jede plane anspruchlose
Vernunft allem diesem Gerede blos ein ungläubiges Kopfschütteln, ein un-
überwindliches Achselzucken, entgegensetzten; und wie es zuging, daß wir
Recht hatten.
Diesen, meines Erachtens nicht ganz uninteressanten Inhalt suche ich
in einer Sprache abzuhandeln, die das gerade Gegentheil der metaphysischen
Kunstsprache ist; in einer Sprache, wie ich meyne, daß man über dergleichen
Gegenstände fürs Publikum schreiben muß; und von der ich hoffe, daß auch
die Bemstorfin sie lesbar finden, und der plane Menschenverstand sie mir
als eine Art von Verdienst anrechnen werde.
Ihre Unzufriedenheit mit dem Plane meines Buchs (von dem Sie, wie
Sie nun wohl selbst finden werden, gar keine Idee gehabt haben), rührte
vermuthlich von der Voraussetzung her, daß ich gescheidter thäte, wenn
ich, unter den bewußten Umständen, lieber etwas schriebe, wovon man in
Kopenh(agen) Notiz nehmen könnte — z. E. einen Attalus — Als ob wir
nicht beide wüßten, daß sogar die Augusta unter den Kopenhagenschen
Augusten erst an die Existenz meiner Minona erinnert werden mußte —
Wahrhaftig, ich müßte von meinen bisherigen Arbeiten ganz entgegengesetzte
Erfahrungen gemacht haben, wenn ich mir einbilden wollte, ich könnte,
* Nie erschienen.
20 Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs
dürfte, und müßte schlechterdings nur so schreiben, wie ich unter den
Auspicien meiner Freunde zu schreiben pflegte. Um des Himmels willen,
lieber Gramer, lassen Sie sich ein Avenig herab, die ganze Welt nicht immer
aus Ihrem eignen Standpunkte zu beurtheilen. Und wenn Sie Ihre Invek-
tiven gegen meine künftige Autorschaft niederschreiben, so behalten Sie sie
wenigstens so lange zurück, bis Sie durch den Augenschein überführt sind,
daß ich sie verdiene. In der Lage, worinn Sie sich, laut meiner obigen
Deduktion, in Absicht auf meine gegenwärtige Unternehmung befinden,
können Sie unmöglich competenter Richter, viel weniger competenter An-
kläger, seyn; und Sie ersparen sich und mir eine unangenehme Stunde, wenn
Sie mir gar nicht mehr von der Art schreiben.
Um also auch meinerseits sogleich — und gebe Gott! auf immer, auch
Ihrerseits — von dieser geschmack- saft- und kraftlosen Materie abzu-
brechen —
Ich habe es sehr bedauert, daß Sie hier nicht zugegen waren, als die
große Einführungsmusik des neuen Musikdirektors Schwenke ^ in Hamburg
aufgeführt wurde. Es war in der That eine Musik von hohem Charakter,
die dem größten Meister Ehre machen würde. Auch Claudius fand alle seine
Erwartungen übertroffen. Einen solchen Chor, wie der, womit die Cantate
anfängt und schließt, wüßte ich kaum gehört zu haben: so feyerliche, seelen-
erhebende Anbetung, so innige Accente der tiefsten Rührung! ein Adagio
in äußerst lang ausgehaltenen Noten, zwischen denen die erhabensten, die
ausdruckvollsten Harmonieen, wie die ersten Stra(h)len der Sonne aus dem
Bett der Morgenröthe, hervorbrechen. Und das Ganze — sehr viel könnte
ich Ihnen davon sagen: ich will aber Ihrer eignen Bemerkung nicht vor-
greifen, da das Stück hoffentlich bald in Partitur erscheinen wird.
den 5. Jan. 1790.
Meine diesjährigen Umschlagsgeschäfte, welche Sie die Güte haben wollen
für mich zu übernehmen, bestehen in Folgendem:
1) der Landschaft Norddithmarschen habe ich ein Capital von Ein-
tausend Rthl aufgekündigt, welche Ihnen der Landspfenningmeister Knolk,
nachdem die Loskündigung von ihm Namens der Landschaft gehörig accep-
tirt worden, gegen Retradiruug der Original-Obligation überliefern wird.
2) die besagte Original-Obligation d. d. 1786 befindet sich itzt in den
Händen unsers gemeinschaftlichen Freundes Herrn Groll zu Lübeck, der sie
Ihnen, seinem mit der nächsten Freytagspost an Sie abgesandten avis Briefe
zufolge, gegen den 12. 2. ^ dieses an Ort und Stelle zur Einlösung produciren
lassen wird.
3) Sie haben also die Güte, dem Producenten der Obligation und dem
Landspfennigmeister eine Stunde zu bestimmen, da beide bey Ihnen zu-
sammenkommen, und der letztere Ihnen gegen den Empfang der mehrbesagten
Obligation das Capital von 1000 R nebst 40 Rthl Zinsen in Preis-Münze aus-
zahlt, wogegen
4) der Lübecksche Mandatorius (Producent der Obligation) von diesem
ausgezahlten Capital eine Summe von 516 Reich sthalern 32 in eben der
» Christ. Fr. Gottl. Schwenke, geb. 30. August 1767, f 28. Okt. 1822
in Hamburg, wo er nach Bachs Tode Kantor und Musikdirektor wurde.
2 Datumbezeichnung undeutlich.
Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs 21
Münze empfängt, in welcher Sie die 1040 Th erhoben haben, und Ihnen den
Empfang durch seine Quittung bescheinigt:
5) den Rest dieser Norddithmarsischen 1040 Th haben Sie hienächst die
Güte, mir hieher nach Altona zu übersenden.
6) Außerdem empfangen Sie an Zinsen von der Landschaft Süderdith-
marschen 180 Th Species oder grob Courant, die ich mir zugleich mit dem
Reste von 5 erbitte.
7) die hiebey folgenden Quittungen werden Sie beliebigt an die Behörde
abgeben.
8) Zugleich lege ich die Vollmacht für Sie wie gewöhnlich bey
Und bin, wie immer, tl r. j ^ ^ j. t_
' ' Ihr verbundenster Gerstenberg
^^- Altona 8 Febr. 1790.
Darf ich Ihnen gestehen, mein theurer Gramer, daß Ihr Meisterstück
eines Briefes mir wie eine wunderschöne Sonate vorkommt, die mit Allegro
furioso anfängt, in Adagio mesto e sostenuto übergeht, und mit Minuetto
grazioso beschließt. Wie soll ichs anfangen, von meinen eignen Empfin-
dungen Rechenschaft zu geben? Ihr Allegro zerreißt mir das Herz, Ihr
Adagio preßt mir Thränen aus ; und Ihr Minuetto müßte mich tanzen machen,
wenn mir das Allegro nicht die Fußflügel gelähmt hätte. Es ist unmöglich,
einen Brief, wie diesen, zu beantworten. Ich halte mich an das Grazioso
desselben, und ob ich Dmen gleich nichts Graziöses zu erwidern weiß, so
rechnen Sie sicher auf mein Gratias —
Wäre ich in Kop(enhagen) zugegen gewesen, als Sie sich anschickten,
Ihr großes Memoire an B(em8torff) abzufassen, so würde ich Sie inständig
gebeten haben, B. ja nichts von der Art, — wenigstens nicht über mich, —
zu sagen. Die Ursache werden Sie jetzt wohl errathen: wenigstens schließe
ich aus der Stelle, wo Sie die Erfolge für Sie selbst erwähnen, daß Sie sich
bey meinem uneigennützigen Rathe nicht übel befunden haben würden.
Davon aber abstrahiert (denn was geschehen ist, läßt sich nicht ändern)
wie war es wohl möglich, daß ich den Genius der Freundschaft und des
Wohlwollens verkennen könnte, der Ihre Feder in diesem mir so unschätz-
baren Excerpten geführt hat? Sie haben mich mit Wärme, mit mehr als
Wärme vertheidigt. Meine ganze Seele dankt Ihnen dafür.
Nebenher sehe ich freylich auch daraus, daß man mich gewürdigt hat,
sich weit mehr mit mir zu beschäftigen, als ich mir je hätte träumen lassen
können. Man hat sogar ana von mir gesammelt, die wohl füglich äneries
heißen könnten, wenn sie auf mein Conto kämen. Der Stuhl z. E., den ich
für mich in der Schreibstube auf der Kammer habe setzen lassen, steht noch
da; mein Nachfolger i bedient sich seiner, wo ich nicht irre, ohne Bedenk-
lichkeit noch bis auf den heutigen Tag. Man geruhe ihn in Augenschein
zu nehmen: es ist kein Lehnstuhl, sondern ein Stuhl, wie andre Stühle, nur
nicht so hoch, wie der, den ich da vorfand, und auf dem mir immer die
Knie schliefen — 0 wehl o wehl was giebt es für Menschenkinder! — Und
war es nöthig, daß ein Mann wie Gramer mich vor Männern vertheidigen
mußte?
Verzeihen Sie mir. Liebster, daß ich Ihnen in dieser Art zu vertheidigen
nicht nachahmen kann. Nicht einmal gegen das erste Allegro Ihrer Sonate
Es ist wohl von Kopenhagen die Rede.
22 Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenberga
will ich mich zur Wehre setzen. Ich überlasse das Recantat ganz den zarten
Saiten Ihres eignen Herzens, Sie dürfen die Stellen meiner vorigen Briefe,
die das Tosen Ihrer Leidenschaften zu einer solchen Höhe hinangetrieben
haben, nur einmal bey guter Laune wieder überlesen, so werden Sie bald auf
die Vermuthung gerathen, daß hinter allen jenen Wolken Ihrer vorigen Laune
auch nicht einmal der Schatten Ihres G. verborgen gewesen ist. Ihr G. ist
kein Rousseau, kein Großvezier des Sultans Kant, kein Abstractum der
Metaphysik, und so weiter. Ich bin kein Narr, daß ich gesagt hätte, kein
Mensch verstünde Kanten, als ich. Sie müssen nicht recht zugehört haben.
Wirklich ich bin kein Narr.
Ich bin kein Narr, daß ich der Metaphysik wegen Klopstocken vernach-
lässigte. Wirklich ich bin unschuldig an dem Zwiste mit Klopstock. Wirk-
lich ich bin kein Narr.
Mit der einzigen Stelle, die Ihre Empfindlichkeit am meisten rege ge-
macht hat, muß ich aber doch eine Ausnahme machen. Ich bat meinen
Freund, mir meine Fehler (deren ich ja wohl so gut wie andre Menschen
habe) allein zu sagen — nicht andre Freunde zu Vertrauten derselben zu
machen. Diese Bitte war so wenig hämisch gemeynt, daß ich sie noch itzt
wiederhole. An bösen Willen von Ihrer Seite ist gar nicht zu denken.
Man ist aber bey übler Laune nicht immer vorsichtig genug in seinen Reden,
um das semper aliquid haeret zu verhüten; und bey der Offenheit Ihres Cha-
rakters ist es wahrer Dienst eines Freundes, Sie an diese und ähnliche
Maximen je zuweilen wieder zu erinnern.
Auf das Exemplar Ihres Montaigne hätte ich lange warten können. Ich
glaubte steif und fest, daß ein Buchhändler Goren, den ich nicht die Ehre
hatte zu kennen, auf seiner Durchreise durch Altona mich damit erfreuen
würde. Aus Ihrer itzigen Anzeige sehe ich, daß der Buchh(ändler) Raven
gemejTit war, und daß Sie mir noch eine Freude von ganz andrer Art, das
Geschenk Ihrer Aline, zugedacht hatten. Wie geschwind habe ich zum Herrn
Raven geschickt 1
Was ich an Schulzen nicht genug bewundem kann — ich stehe eben
von seiner Aline ^ auf — ist sein ganz eigenthüraliches Talent, mit zwey
oder drey Noten auf einmal die ganze Wendung eines Gedankens, den Total-
ausdruck einer Empfindung, zu erschöpfen. Besonders in seinen Accom-
pagnements. Welche Pinselzüge p. 20 p! Wahrhaftig, Schulz ist ein großer
Tonkünstler im buchstäblichsten Verstände. Habe ich je ein Wort fallen
lassen, was Sie für verkleinerlich halten könnten, so bitte ich es dem Edlen
ernstlich ab. Ich bin ganz von ihm eingenommen, durchaus — er hat Recht
gehabt, ich habe mich geirrt. Mein Erstes soll seyn, seine Maria ^ Note für
Note wieder durchzugehen, und wo ich ihn das vorigemal unrecht verstan-
den habe, ein paar Midasohren hinzumalen, wie Voß bey seinen Classikern
zu thun pflegt. Und Gott weiß, was das für Ohren geben würde, wenn
ich sie einmal vollstimmig aufführen hörte. Was mich bey all dem an seiner
Maria (denn wider diese kann ich mich nur vergangen haben) noch bis auf
diesen Augenblick irre macht, ist das Urtheil eines Ebeling, eines Gähler,
und Anderer, die sich gerade eben so über dieß Werk gegen mich geäußert
^ 'Aline, Königin von Golkonda', Kopenhagen 1790, übersetzt aus dem
Französischen von Gramer.
2 'Maria und Johannes', eine Passion.
Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs 23
haben, wie ich mich gegen Sie. Sie setzen seine Maria unendlich tief unter
seine Athalie, vermissen den Originalgeist, den großen Umriß, der sich unter
dem einfachsten Gewände gerade am stärksten auszeichnet — räumen übri-
gens ein, daß S. durch unzählige Feinheiten den unbefriedigten Krittler
wieder schadlos zu halten wisse — welches mir nie so einleuchtend gewesen
ist, als bey seiner Aline, bey der ich just auch Züge von diesem Range
aufmerksamer, als auf alles andre, geworden bin. Vor der Wertung des
Ganzen braucht man ohnehin nichts weiter zu wissen, als was Sie mir selbst
davon erzählt haben. Welcher Kunstrichter sah wohl Anfangs den Gluck-
schen Meisterwerken ihre erstaunliche Wirkung an? Reichardt^ mußte erst
nach Paris gehn, um daran zu glauben. Und so, denk ich, schicken wir
auch die Ungläubigen nach Kopenhagen, die an dem gewaltigen Effekt der
Maria zweifeln oder gezweifelt haben.
Wie viel hätte ich Ihnen noch besonders auch über das Detail Ihrer
verdienstvollen Übersetzung zu sagen! wie viele Fragen an Sie zu thuni
Was haben Sie für Nachrichten von Baggesen? Geht er mit seiner Geliebten
nach Dänemark zurück? Die Geschichte seiner Liebe möchte ich lesen!
0 daß ich mit Beiden und mit Ihnen nur noch Einen Tag an den Ufern
der Elbe weilen möchte, wie jener war, an den mich mein guter Gramer
erinnert 1 G.
24.2
P mein Gramer! mein Freund! welch ein Mann sind Sie! wie liebe
ich Sie! wie bewundre und ehre ich Sie! und Sie sind mein Gramer!
Wenn man mir eine solche Handlung des wohlwollenden Herzens, von einem
mir ganz unbekannten Manne und an einem mir ganz unbekannten Manne
ausgeübt, erzählte: so würde ich ja Thränen des Entzückens weinen müssen,
daß es noch Einen so großen und edlen Character in der Welt gäbe, als
dieser wahre Freund seines Freundes wäre. Aber mein Gramer ist der
Mann, und ich bin der Glückliche, dessen Freund dieser große und edle
Character ist, an dem er wirklich so und oft so gehandelt hat: was, mein
Freund, was muß ich empfinden! Dennoch verbiethen Sie mir jeden Aus-
druck meiner Dankbarkeit, jede Ergießung meines gerührten Herzens, —
verlangen bloß zu wissen, ob ich zu dem wichtigen Schritte, den Sie aus
eigner Rechnung für mich gethan haben, meine Einwilligung gebe —
0 bester theuerster Mann! welch ein Herz haben Sie!
Ja, ich will Ihnen gehorchen, mit aller der Ruhe, deren ich itzt fähig
Beyn kann, will ich mir Gewalt anthun, bloß Ihre Frage zu beantworten.
Sie wissen, mein Allerbester, was ich mir immer dabey gedacht habe, wenn
ich wünschte, in dem Departement des erhabenen Staatsministers befördert
zu werden, den ich verehre, so lange ich seinen Namen habe aussprechen
können. Nicht bloß das Glück, eine rechtschaffne Frau, die mich liebt,
und meine Dürftigkeit allem Reichthume eines meiner Mitbewerber
vorzog, von der ungewöhnlichen, sogar über meine Befürchtung ungewöhn-
lichen Last der Nahrungssorgen, die sie mit mir theilt, endlich zu befreyen,
nicht bloß das Glück, meinen süßen Kindern eine Erziehung zu geben, die
sie nach meinen Begriffen der natürlichen Pflicht zu künftigen Bürgern
^ Der Komponist Joh. Friedr. Reichardt.
2 Undatiert und ohne Ort; wahrsclioinüch 1783.
24 Ungedruckte Dichtungen und Briefe Gerstenbergs
brauchbar machen könnte: nicht bloß dieß Glück, für so unaussprechlich
groß ich es auch halte, war es, was ich mir wünschte. Hätte ich mich ent-
schließen können, den gewöhnlichen Pfad zu betreten, und Dinge zu thun,
die mein Herr nicht billigt, so würde es mir vielleicht nicht schwerer ge-
worden seyn, den einseitigen Zweck eines besseren Auskommens zu er-
reichen, als ihn so viele andre, die ich kenne, gefunden haben. Aber ich
war durch den Umgang mit Freunden, die durch ihren Charakter, wie durch
ihren Geist, der menschlichen Natur Ehre machen, gewöhnt, diesen Zweck
mit andern Zwecken zu vergleichen, und nicht alle Mittel, die dahin führten,
für gleichgültig zu erkennen; eben diese Freunde hatten mich durch ihre
Erzählungen und Beschreibungen von der bewundernswürdigen Seele jenes
einzigen Mannes, den ich zwar von jeher aber nie so verehrt hatte, der-
maßen eingenommen, daß es mir unmöglich ward, mich länger in einem
Stande zu wünschen, in welchem ich noch weniger als sonst hoffen konnte,
mich der Aufmerksamkeit desjenigen, zu dem mich mein Herz hinzog, auf
irgend eine Art würdig zu machen. Sie, der Sie mich kennen, seyn Sie
Richter, ob ich zu viel sage.
Aber ich war zu blöde, mein Theuerster, mich Ihm mit diesem Wunsche
zu nähern. Was hatte ich, das mich ihm hätte empfehlen können? Der
Abstand war durch meine Verhältnisse noch weiter gemacht. Mit der
bloßbn Bezeigung meiner Ehrfurcht konnte nichts ausgerichtet seyn : in dem
Munde eines Bittenden wäre sie vielleicht gar verdächtig gewesen. Ich
schwieg lieber stille, und überließ mich der Vorsicht.
Achl wie unendlich gütig hat sie für mich gewaltet! Ich bin im Be-
sitze meiner kühnsten Wünsche; glücklich in jeder Beziehung, — auf das
edle Herz, dem ich es zu danken habe, auf meine kaum mehr erträglichen
Bedürfnisse, auf die nahe, ganz nahe Hoffnung, mich ihrer endlich (Gott!
welch ein Wort!) überhoben zu sehen: wie unendlich gütig hat sie für mich
gewaltet!
Was kann ich hinzusetzen, mein Gramer? Ich bin in meinem ganzen
Leben nicht so glücklich gewesen, als seit ich Ihrer Freundschaft überlassen
bin. Handien Sie ferner nach Ihrer Freundschaft, nach Ihrem Ermessen: ich
bin mehr, als ich mein eigen bin, (jer Ihrige
Gerstenberg.
z. Z. Warschau. Albert Malte Wagner.
(Fortsetzung folgt.)
I
Ferdinand Freiligrath und Amely Bölte
(1847—48).
Eine Episode aus des Dichtyers erstem Aufenthalt in England-
In seiner grundlegenden Freiligrath-Biographie bringt Wilhelm
Buchner einen Brief des Dichters an Karl Buchner zum Ab-
druck — London, 16. September 1847 — , worin auf eine ver-
drießliche Episode angespielt wird, die, soweit ich sehe, noch
niemals völlig geklärt wurde. Nachfolgende Ausführungen
stellen den Versuch dar, den ganzen Verlauf des Zwischenfalls zu
schildern, soweit dies nach dem mir zugänglichen ungedruckten
Quellenmaterial möglich ist.
In dem erwähnten Schreiben an Karl Buchner heißt es:
'Und nun zur Beantwortung Ihres lieben Briefes! Jene klatschende
Morgenblattcorrespondenz, die wie alle Correspondenzen gleichen Ursprungs
voll von Unrichtigkeiten ist, rührt von einer Mamsell A. B., einer Gouver-
nannte irgendwo im Westend, her. Himmel, diese deutschen KafFeeblätter !
Kürzlich sollen sie auch gesagt haben, ich sei mit meiner Lage in London
höchst unzufrieden und Herr Huth trage die Schuld! Welch ein Unsinn
und welche Taktlosigkeit! Wäre nicht eine solche Notiz, wenn sie meinem
Chef unter die Augen käme, im Stande, mein ganzes Verhältnis zu zer-
stören und mich Knall und Fall brotlos zu machen? Die Wahrheit ist, daß
ich hier allerdings noch nicht stehe, wie ich, zumal bei wachsender Familie,
stehen muß: daran trägt aber nicht mein Haus die Schuld, welches mich
ordentlich und ehrenvoll behandelt (Herr Huth, wenn auch Tory, ist an-
erkannt einer der Ausgezeichnetsten und Biedersten unter den reichen
Deutschen), sondern die Lage der Dinge überhaupt. Commissalaire sind
selten hoch, und wäre es nicht Unsinn von mir, mit jenen Klatschartikeln
zu verlangen, mein Haus solle mich meines Poetentums wegen besser be-
zahlen als jeden andern Arbeiter? Was meine commerzielle Tätigkeit wert
ist, bekomm' ich für sie . . . Herr Huth ist seit zwei Monaten in Kissingen,
geht nach Leipzig, kehrt über Weimar, Erfurt, Frankfurt zurück — wie
leicht kann er solch dummes Geschwätz lesen, mich selbst dahinter ver-
niuten und (zumal bei seiner großen Empfindlicbkeit gegen Alles, was in
Blättern über ihn gesagt wird, selbst das Beste) seinem Ärger durch eine
plötzliche Kündigung Luft machen? Ich glaube nun zwar nicht, daß es so
schlimm kommen wird; immer aber, furcht' ich, steht mir noch eine un-
angenehme Auseinandersetzung bevor. Das ist dann das Resultat dieses ver-
henkerten Notizenkrams . . .' ^
Die in diesem Briefe diskret mit A. B. bezeichnete Persönlich-
keit ist — wie auch der Index des zweiten Bandes verrät — keine
andere als die Schriftstellerin und Freundin Varnhagens von Ense,
Amely Bölte (1817 — 91), eine geborene Mecklenburgerin, die in
den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als deutsche Er-
^ W. Buchner. 'F. Freiligrath, ein Dichterleben in Briefen' (Lahr 188'2
2 Bände) II, 198 f. Dem Brief legte Freiligrath noch eine weitere, ähnlich
Notiz aus der 'Aachener Zeitung' bei.
26 Ferdinand Freiligrath und Amel^ Bölte (1847 — 48)
zieherin in London weilte und mit Varnhagen einen lebhaften
Briefwechsel unterhielt.^ Schon vor jener fatalen Zeitungsnotiz
hatte sie dem verehrten Berliner Freunde die Erfahrungen, die
Freiligrath bald nach seiner Ankunft in London sowohl mit den
Engländern wie mit seinen eigenen Landsleuten machen mußte,
in recht düsteren Farben geschildert:
'Freiligrath ist auch nicht sehr glücklich hier und findet, daß die Ty-
rannei in Deutschland bei weit«m nicht so drückend gewesen, als der soziale
Zwang hier. Unter den Deutsehen in London findet er keinen Anklang.
Sie alle sind hier mit Gelderwerb beschäftigt und halten denjenigen für
einen rechten Narren, der eine sichere Stellung im Vaterlande aufgeben
konnte, um Freiheitslieder zu singen, durch die noch nie ein Staat ver-
bessert worden. Diese und ähnliche Ansichten hört er auf jedem Tritte,
und die Engländer schelten ihn gar einen Enthusiasten, wie jeden, der sich
einzeln gegen ein Ganzes erhebt. Statt Achtung, Bewunderung und An-
erkennung findet er nun überall das Gegenteil, und dies verwundet ihn in
tiefster Seele; denn wenn er auch wohl den Communismua singt und den
Proletarier erhebt, so würde es seiner Eitelkeit doch gefallen, wenn London
mit Fingern auf ihn zeigte; und das tut es nicht. Er sitzt bis 9 Uhr Abend
in der City auf dem Bureau und geht dann zu seiner Frau, die sich in-
dessen abgemüht, ihre Kinder zu besorgen und durch Übersetzen noch ein
wenig Geld zu gewinnen.' '
In bemerkenswertem Gegensatz zu dieser Schilderung stehen
allerdings die optimistischen Äußerungen, die der Dichter selbst
in seinen ersten Briefen aus London über seine Lage macht. ^
Plötzlich aber ändert sich seine rosige Auffassung, und all der
Groll, den er inzwischen angesammelt, entlädt sich in dem tempe-
ramentvollen Brief an Karl Buchner, aus dem wir obige Stelle
anführten. Uns allerdings könnte heutzutage jene 'klatschende
Morgenblattcorrespondenz' harmlos genug erscheinen, aber der
Verlauf der Dinge zeigt doch, daß Freiligraths Befürchtungen
nicht unbegründet waren.
Wie angedeutet, hatte also Amely Bölte im Stuttgarter 'Mor-
genblatt für gebildete Leser' im September 1847 einen langen,
wie üblich nicht gezeichneten Brief aus London veröffentlicht
und darin die schlimme Lage der mittellos nach England ein-
gewanderten Deutschen, besonders des weiblichen Geschlechts, in
kläglichen und wohl auch übertriebenen Worten beschrieben. Sie
hebt vor allem die Schwierigkeit hervor, sofort nach Ankunft eine
I
1 Die Briefe Varnhagens an A. Bölte wurden von ihr selbst heraus-
gegeben u. d. T. 'Briefe an eine Freundin (1844 — 53)', Hamburg 1860. Ihre
eigenen, oft recht langatmigen und gefühlsseligen Episteln an den deutschen
Schriftsteller harren noch der VeröflFentlichung — eine Aufgabe, der ich
mich bei Wiederkehr ruhigerer Zeiten zu entledigen hoffe. Die auf unsere
Episode bezüglichen Stellen können jedoch schon heute aus Varnhagens
Nachlaß in der Kgl. Bibliothek zu Berlin mitgeteilt werden.
2 Varnhagensche Sammlung, Fasz. Bölte; Brief vom 8. Februar 1847.
' W. Buchner II, 184 f.
Ferdinand Freiligrath und Amely Bölte (1847 — 48) 27
passende Stelle zu finden, und dabei erwähnt sie — also nur im
Vorübergehen! — auch Freiligrath:
'Mit Freiligrath war es ein anderes; aber auch dieser hochbegabte Mann
mußt« drei Monate warten, ehe er eine Anstellung fand, die ihm auch nur
aus besonderer Rücksicht geboten wurde; und was ist jetzt sein Los? Vom
frühen Morgen bis zur späten Nacht in einem düsteren Gewölbe in der
City zu sitzen.'^
Man kann sich in der Tat schwer vorstellen, daß diese weni-
gen, harmlosen Zeilen von so schlimmen Folgen für den Dichter
sein sollten. Auch ihre Urheberin dachte lange Zeit an nichts
Böses. Im Herbst des gleichen Jahres unternahm sie eine längere
Reise in die deutsche Heimat, und erst bei ihrer Rückkehr nach
London, Mitte November, erfuhr sie, daß Freiligrath über sie
höchst ungehalten sei. So schrieb sie ihm denn einen reumütigen
Entschuldigungsbrief. Der Dichter zeigte sich auch keineswegs
unversöhnlich; Frau Ida bat sogar um ihren Besuch, und alles
schien auf dem besten Wege:
'Freiligrath hat sich sehr beklagt, daß ich ihn beim deutschen Publikum
in Anregung gebracht. Er wußte, ich weiß nicht wie, daß ich es war, und
so schrieb ich ihm denn einen guten Brief und sagte ihm, wie leid es
mir tue, ihm etwas Unangenehmes zugefügt zu haben. Das hat ihm gut
gefallen und wir sind jetzt gute Freunde; auch will ich nächstens seine
Frau besuchen.' »
Der Tag des Besuches naht heran — die Familie Freiligrath
ist reizend — aber beim Abschied wirft man dem Fräulein vor,
es habe den Dichter brotlos gemacht; d. h. Huth habe, in
gerechtem Zorn über jenen Artikel, seinem Buchhalter schlank-
weg gekündigt. Größtes Entsetzen Amaliens — Tränen — schlaf-
lose Nächte. Sie geht alle ihre Freunde um Hilfe für den auf
die Straße gesetzten Dichter an — vergebens. Carlyle kann
nichts für ihn tun; Bulwer, Tennyson, Milnes bedauern gleich-
falls. Doch nein, Milnes, der stets Gutherzige, knöpft die weiten
Taschen auch diesmal auf zu einer milden Spende.^ Die Deutschen
Londons ziehen natürlich nicht: sie versagen ja immer. Da ist
besonders ein Herr Schwabe, ein steinreicher Mann, der es für
eine 'Injurie' hält, wenn Freiligrath nicht zu Huths Gesellschaf-
ten geht — wo er gar nicht geladen ist. Und da ist auch wieder
der böse Bunsen, der preußische Gesandte am englischen Hofe —
'glatt und feilt wie ein christlich-germanischer Aal' * — , den
Freiligrath und seine Freunde für ihren grimmigsten Gegner
1 Nr. 217—219, S. 875; 10.— 13. September 1847.
» Fasz. Bölte; Brief vom 14. Dezember 1847.
' über Milnes und Freiligrath vgl. W. Fischer, 'Die persönlichen Be-
ziehungen R. M. Milnes' zu Deutschland', Hab.-Schrift (Würzburg 1918),
S. 59—60.
* Freiligrath an Schücking, 22. April 1847; W. Buchner II, 194.
28 Ferdinand Freiligrath und Amely Bölte (1847—48)
halten. Aber siehe, da taucht auch eine edlere Gestalt auf, Sir
Isaac Goldsmid, ein wohlhabender Jude von ernstem politischen
Streben,^ in dessen Hause Amely, die seine Töchter unterrichtet
hatte, stets taktvolle Aufnahme gefunden. Anfänglich erscheint
ihm die ganze Sache wie ein Scherz, jedenfalls als eine Bagatelle.
Als er aber von Huth selber erfahren muß, wie weit die häßliche
Angelegenheit gediehen, erfaßt er rasch den Ernst der Lage und
legt bei jenem ein gutes Wort für den Dichter ein. Mit dem
Ergebnis, daß Freiligrath noch bis Ostern (1848) bei Huth
bleiben kann. Inzwischen aber fegt ein Sturmwind über den
Kontinent. Der Februar sieht die Revolution in Paris; der März
wird Zeuge des Umsturzes in Wien und der Barrikaden in Berlin
— der 'Vorkampf' hat begonnen! Da vergißt der verbannte
Dichter alle Pläne — Stellungswechsel, Auswanderung nach
Amerika^ — ; unwiderstehlich zieht es den Dichter nach der Hei-
mat — wie er hofft, einem neuen politischen Frühling entgegen.
So ungefähr war der tatsächliche Hergang jenes Zwischen-
falls, von dem Amely Bölte ihrem Korrespondenten in ihrer
wortreichen Art eine so empfindsame Schilderung gibt. Wir
lassen nun sämtliche hierhergehörigen Briefe und Auszüge, so-
weit noch nicht oben angeführt, der Reihe nach folgen.
Amely Bölte an Varnhagen.
London, 31. Dezember 1847.
. . . Ich ging vor vierzehn Tagen zu Freiligrath. Er gefiel mir sehr gut,
seine Frau ist fein, elegant, reizend, sie haben zwei niedliche Kinder, und
die ganze Umgebung spricht den Geist der Bewohner aus. Es ist eine
Freude, solchen Menschen zu begegnen, unter einem solchen Dache zu
weilen; das Glück dieser Leute hatte für mich etwas Idealisches. Ich sah,
daß es Freiligrath Vergnügen machte, sich über heimische Verhältnisse mit
mir zu unterhalten — ich weiß, wie sehr man das hier entbehrt — , so
gab ich seiner Bitte nach, den Abend bei ihnen zuzubringen, obgleich es
mein Tag für Carlyles war. In den wenigen Stunden wurden wir recht gute
Bekannte, und als ich ging, baten sie mich dringend, den weiten Weg nicht
zu scheuen, sie öfter aufzusuchen; ich müsse das kleine Opfer schon
bringen, denn ich habe sie, wenn auch ohne es zu wollen ... b r o d 1 o s
gemacht. Welchen Eindruck mir das unselige Wort machte, will ich nicht
zu beschreiben versuchen! Ich hatte zwei Stunden zu fahren, ehe ich von
dem Ende Londons bis zu dem meinigen kaom, und ich weinte die ganze
Zeit in mich hinein so schmerzliche Thränen, wie ich sie je geweint habe
in meinem Leben.
i Vgl. 'Dict of National Biography' VITI.
- Durch den Streit mit Huth werden auch Freiligraths Auswanderungs-
])läue und sein Briefwechsel mit Longfellow in ein neues Licht gerückt.
Darüber vgl. neuerdings M. Appelmann, 'H. W. Longfellows Beziehungen
zu F. Freiligrath' (Münster 1916) S. 41—43.
Ferdinand Freiligrath und Amely Bölte (1847 — 48) 29
Mit dem Brodlosmachen ist es nun wol nicht gunz so schlimm; denn ich
höre, daß Huth, wie andere, Verluste erlitten, die eine Einschränkung hei-
schen, und da ist denn jeder Grund willkommen für den Kaufmann, der
nichts mehr scheut als den wahren entdeckt zu sehen. Aber selbst der
Vorwand zu sein, ist höchst peinigend.
Freiligrath hatte keine Aussicht irgend einer Art; die Freunde, die
ihn als Lion für ihre Gesellschaften gebraucht, waren jetzt nicht hier, und
überhaupt nicht hier, wenn er ihrer bedurfte. Auch kann ein Mann nicht
betteln gehen nach Gunst, Fürsprache und Beistand. Ich fühlte ganz das
Grausame seiner Lage und beschloß zu thun, was er selbst nicht thun
konnte, obwol mit wenig Hoffnung auf Erfolg. Es ist ein anderes für einen
Künstler Protection zu erhalten, wo es gilt, den Einzelnen auf der Stelle
anzugreifen, wo er sterblich ist und die Damen besonders schon von selbst
geneigt sind, einem schönen jungen Mann zu sitzen, — als ein Ganzes
von einer Person zu erhalten, nur eines Grundsatzes oder guten Zweckes
halber. — Ich ging zuerst zu Carlyle und erzählte ihm die Sache. Die
Schritte, die ich thun wollte, waren ihm recht, er bedauerte Freiligrath,
zweifelte aber keineswegs an meinem Erfolg. Das ist ganz gut, ganz ehrend
für mich, wenn er Anderen mit vollem Ernst der Überzeugung vorsagt,
you do not knoiv what she is able to do, — aber ebenso beschimpfender für
Jene, deren Einfluß und Stellung sie befähigte, das mit einem Wort, einem
Gang zu erreichen, was ich mit unsäglicher Mühe und durch Überzeugung
bewirken muß. Es macht mich dann nur traurig zu denken, was die
Menschen könnten, wenn sie wollten, wenn in einer unbedeutenden Person,
wie ich bin, der Wille etwas erreicht.
Ich habe nun alles gethan, was zu thun möglich, und kein besseres
Resiütat erhalten, als einliegenden Brief.^ Was mich aber vorzüglich
traurig macht, ist die Stimmung der Deutschen im Allgemeinen. Sie sind
alle auf Huth's Seite — sie alle sagen, ein clerk sey wie der andere, man
könne keinen Unterschied machen, könne einen Mann wie Freiligrath nicht,
wenn er clerk sey, in sein Haus laden. Gütige Allmacht! Kann denn der
Mensch sein Amt nicht so viel ehren, daß das Geschäft, das er wählt sich
sein bischen Brod damit zu verdienen, ihn unwürdig macht mit Solchen
umzugehen, die in geistiger Bildung so tief unter ihm stehen!
Herr Schwabe war der Begleiter Cobden's." Er ist der erste aller Deut-
schen hier, und der reichste. Was er Injurien nennt, ist nichts weiter, als
daß die Frl. Goldsmid, bei denen ich zum luncheon war, mir auftrugen, als
ich zu Freiligrath ging, ihm zu sagen, sie würden sich ihm vorstellen
lassen in der ersten Gesellschaft bei Huth, und der Dichter habe erwidert:
auf die Ehre müsse er verzichten, da er das Haus desselben noch nie be-
treten habe. So fühlt ein reicher Deutscher hier für den andern, daß er
das eine Injurie nennt . . .
Freiligrath [hat] meine ganze Zeit in Anspruch genommen, und mit
Recht. Die ganze Sache hat einen so üblen Eindruck auf mich gemacht, daß
ich einen Arzt habe rufen lassen; der arme Mann wird aber wenig thun
können, solange die Stimmung die Krankheit nährt. Ich habe mir daher
selbst die heilende Arznei gewählt, Ihnen mein Leid zu klagen. Wenn Sie
mich auch schelten, so thut das nichts, denn ich weiß, daß Sie gerecht und
billig sind, und ich nur im Unrecht sein kann, wenn Sie es finden.^
1 D. h. den Brief von Sir Isaacs Tochter, Emma Goldsmid (vgl. Nr. 2).
- Vgl. Mme. Salis Schwabe, 'R. Cobden, ses voyages, correspondances et
Souvenirs' 1879. Über Herrn und Frau Schwabe vgl. auch R. Wagner,
'Mein Leben' (München 1914; Volksausgabe) III. Teil, S. 213—14.
» Fasz. Bölte. — Die Antwort, die Varnhagen auf der Bölte Klagebrief
sandte, ist charakteristisch für seine verbase Art, Seelenzustände mit sieht-
30 Ferdinand Freiligrath und Amely Bölte (1847—48)
Emma Goldsmid an Amely Bölte.
St. John's Lodge, Sunday [Dez. 1847].i
Mein liebe,? Fräulein,
... Es that uns leid, Sie nicht gestern zu sehen, besonders da ich Ihnen
etwas zu sagen hatte. Mein Vater hat die Geschichte von Freiligrath, da Sie
sie ihm erzählten, entweder nicht angehört oder nicht verstanden; nun
aber ist in dieser Woche Mr. Huth zu ihm gegangen und hat sich beklagt,
daß Sie gegen ihn geschrieben hätten. Mein Vater erkundigt sich nach
der Sache bei uns, und nun nimmt er sie nicht mehr wie ein Scherz, son-
dern sehr ernsthaft auf, da es sieh um einer Familie Leben handelt, tadelt
Sie sehr, aufrichtig gesagt, will aber was er kann für Freiligrath bei
Huth sprechen, wenn er es ganz gewiß weiß, daß F. wirklich zu bleiben
wünscht. Ich sagte ihm, ich glaubte ja, aber lassen Sie mich durch
einige Zeilen von Ihnen darüber sicher sein. Nur rathe ich Ihnen nicht
darüber, wenn Sie meinen Vater nächstens sehen, zu scherzen, denn er
sagt daß Huth als Kaufmann nichts von Freiligrath als Dichter zu wissen
brauchte, daß das Gehalt gut war und nicht so leicht wieder zu bekommen
ist etc., kurz, die Geschichte hat er nach ihren Folgen angesehen und
tadelt Ihre — soll ich es sagen — Indiskretion. Wir haben ihm gesagt,
daß Freiligrath noch zwei Monate bleiben soll, also läßt sich vielleicht noch
etwas machen, wenn dieser der wirkliche Grund seines Cong6 war.
Ihre freundlich ergebene Emma Goldsmid.
3.
Freiligrath an Amely Bölte.
10 Clarence Villa, 7. Jan. Abends [1848].»
Verehrtes Fräulein,
Ich danke Ihnen herzlich für Ihren lieben Brief und alle mir darin
geäußerte Theilnahme. Mein Verhältniß zu Huths jedoch, furcht' ich, fassen
Sie noch immer nicht ganz richtig auf, doch besprechen wir das, wenn es
überhaupt der Mühe werth ist, am besten mündlich.
Meine Kinder haben sich in den letzten Tagen ziemlich wieder erholt,
u. meine Frau, obgleich immer noch sehr angegriffen, wird dennoch morgen
im Stande sein, bei einem häuslichen Thee ihren Platz einzunehmen. Ihr
Besuch wird uns also ganz gelegen kommen, und wir werden uns sehr
freuen, wenn Sie Ihre Absicht ausführen wollen. Kommen Sie nur recht
früh!
Mit den schönsten Grüßen von mir und meiner Frau
Ihr ergebener F. Fth.^
lichem Behagen zu zergliedern, ohne dabei den eigentlichen Kern der Sache
zu berühren. Natürlich konnte er aus der Entfernung keine konkreten Rat-
schläge erteilen, aber er bringt es fertig, dem Gegenstand fünfeinhalb Druck-
seiten zu widmen, ohne irgend etwas Entsclieidendes zu sagen. Er gesteht
es auch selber zu, daß er aus der Ferne 'kaum weiß, wie er den zarten
Gegenstand ersprießlich erörtern sollte', zumal da Amalie in ihrer Er-
regung ihm eigentlich nichts Tatsächliches mitgeteilt habe. Vgl. 'Briefe
an eine Freundin' Nr. 13 (6. Jan. 1848), S. 57—62.
1 Varnhagen ergänzt fälschlich das Empfangsdatum: [1848]. Der Brief
liegt, dem Fasz. Bölte bei.
- Von Varnhagen ergänzt.
' Fasz. Freiligrath.
Ferdinand Freiligrath und Amely Bölte (1847—48) 31
Amely Bölte an Varnhagen.
7 Devonport Street, d. 23sten Jan. 1848.
[Empf. Berlin, 13. März 1848] ^
. . . Freiligrath's Angelegenheit hat mir nur Mißstimmung gebracht.
Erstens hatte er keinen genügenden Grund mich anzuklagen, und ich ver-
zeihe es ihm kaum, daß er mich so unnütz elend machte und — lächerlich
vor mir selbst. Bunsen und die Politik sind die eigentliche Ursache, die
ihm die Stelle kostet. Jedenfalls ist das dadurch gewonnen, daß er bleibt,
bis er etwas anderes gefunden, und das beruhigt mich. Seit ich ihn mehr
kenne, sehe ich wohl, daß der arme Mann mehr von gekränkter Selbstliebe
als vom Weltschmerz leidet. Das ist freilich menschlich, natürlich und
ganz zu entschuldigen, und niemand kann besser verstehen in wie ferne
seine Stellung ihn drückt, als wie ich; es ist aber nicht groß und heischt
keine Bewunderung — um meiner selbst willen bedaure ich ihm diese nicht
zollen zu können. *
Er kennt England so wenig, daß er glaubt, Leute wie Bulwer, Tennyson,
M. Milnes würden sich seiner annehmen, und nun findet er sich, nachdem
er einmal ihre Lion parties geziert, vergessen und übersehen. Ich schil-
derte ihm diese Menschen, und er sah mich ungläubig an. Was nutzt es
ihm aber, d a zu hoffen, wo nichts zu hoffen ist? Milnes, z. B., den er nach
seinen Worten und Gedichten beurtheilt, und von dem er sogar eine Stelle
auf dem Bureau auswärtiger Angelegenheiten erbeten, kennt nur e i n
Gesetz, das on dit der fashionablen Welt und würde sich schämen, mit
jemand über die Straße zu gehen, der nicht in dieser aufgenommen sey.
Bulwer bat ihn zu Tisch mit zwei Damen, über deren Charakter ich unsern
Poeten leicht aufklären konnte. So ehrt man das deutsche Talent! ...
Dazu das Postskriptum :
Herr Milnes hat mir heute sehr artig etwas Geld für Freiligrath an-
geboten.*
5.
Amely Bölte an Yarnhagen.
[Empf. Berlin, 4. Febr. 1848]»
. Mit Freiligrath geht es besser. Huth behält ihn noch bis Ostern
und bis dahin kann man sehen. Seine eigenen Klagen sind die eigentliche
Ursache seines Verlustes, das weiß auch er; denn er erkannte das Gute
1 einer bestimmten Versorgung erst als er sie verloren und sah bis dahin
Ißur das Schreckliche solcher mechanischen Beschäftigung. Ich habe nun
[aber die ganze Schuld auf mich genommen, weil, wie hier die Verhältnisse
sind, ihm damit der größte Dienst geschieht. Und ich mache mir ja nichts
I daraus. Ich bin ganz froh, wenn die kleine Familie nur ohne Sorge lebt.
IWie beneidenswerth, wenn ein paar Pfund zum Glück helfen können!*
1 Von Varnhagen ergänzt.
» Fasz. Bölte. — Varnhagen ('Briefe an eine Freundin' [16. März 1848]
87) nimmt auf diese Äußerungen Bezug, wenn er schreibt: 'Über Freilig-
rath urteilen Sie ganz richtig; daß Bunsen ihm absichtlich hat schaden
iroUen, ist recht in der Art dieser fanatischen Frömmler.'
* Von Varnhagen ergänzt.
* Fasz. Bölte.
32 Ferdinand Freiligrath und Amely Bölte (1847—48)
Mitte April 1848 hat dann Freiligrath sein Verhältnis zu
Huth endgültig gelöst, fest entschlossen, in Deutschland für die
Republik zu agitieren. Amely Bölte, mecklenburgisch-konserva-
tiv gesinnt, verspricht sich nicht viel von seinem Wirken:
'Freiligrath wird auch [sc. nach Deutschland] kommen, als wüthender
Republikaner. Ich will ihn Sonntags noch einmal besuchen, seine Pläne
zu hören. Als Redner wird er sich wenigstens nicht auszeichnen; denn
als er neulich öffentlich ein paar Zeilen sprechen sollte, trug er so schlecht
vor, daß Niemand den Sinn verstand.' ^
Doch war die Versöhnung der Bölte mit Freiligrath dauer-
hafter, als es nach der letzten spitzen Bemerkung scheinen könnte.
Als sie Ende 1849 wieder nach Deutschland kam, versäumte sie
es nicht, auf ihrer Durchreise durch Köln auch in der Familie
des Dichters vorzusprechen, wobei sie von der kleinen Häuslich-
keit einen recht guten Eindruck gewann.^ Als aber Freiligrath
1851 zum zweitenmal eine Zuflucht in England suchte, verhält
sie sich wieder ziemlich kühl und findet, daß der Dichter, der
sich jetzt zu den Kommunisten halte, 'sehr verändert aussieht —
sehr materiell'.^
Allerdings konnte sich ein regelrechter Verkehr zwischen ihr
und des Dichters Familie auch deshalb nicht mehr entwickeln,
weil die Schriftstellerin im Spätsommer des Jahres 1851 England
auf immer verließ, um sich nach einigem Zaudern endgültig in
Dresden niederzulassen.
Würzburg. Walther Fischer.
1 Fasz. Bölte; Brief vom 15. April 1848.
2 Nach ihrem Brief vom 31. Dezember 1849; Fasz. Bölte.
•' Fasz. Bölte; Brief vom 11. Juni 1851.
Ein mittelenglischer Hymnus auf Maria und
Christus und seine kymrische Umschrift.
Das nachstehende mittelenglische Gedicht aus dem 15. Jahrh. findet
sich in der Hengwrt-Hs. 479, foL 38 f., und wurde zuerst von
Furnivall und Ellis im 'Appendix' der Transactions of the Philo-
logical Society, Part I, 1880 — 81, sodann im Bd. 19 der English
Dialect Society, Ser. D, No. III, London 1880, herausgegeben. Es
ist nicht nui- seiner überaus künstlichen Form wegen bemerkens-
wert, sondern besonders deshalb, weil es von einem Walliser mit
einer kymrischen Transkription versehen wurde, die ungefähr die
enghsche Aussprache zu Ende des 15. Jahrh. wiedergeben dürfte.
Von dieser phonetischen Umschreibung sind bisher drei Versionen
veröffentlicht, nämlich die älteste mid beste nachder Hengwrt-Hs. 294
zugleich mit dem mitteleuglischen Original a. a. 0., sodann zwei
jüngere, von denen sich die eine in einer Handschrift des Brit.
Museums, die andere in einem Druck vom Jahre 1823 findet.
Die erstere von diesen wurde herausgegeben von WiUiams im
32. Bande der Anglia, S. 295 ff., und nochmals genauer von Bell
im 36. Bande S. 118 ff. mit den Varianten des Druckes. Die letztere
Veröffentlichung bringt als wertvollen Zusatz eine Abhandlung von
Glyn Davies über die Metrik des Gedichtes, worin sich auch einige
für die Textkritik wichtige Bemerkungen finden.
Trotzdem die kymrische Transkription das älteste Denkmal für
die neuenglische Lautgeschichte darstellt, hat sich doch bisher nie-
mand eingehender mit dem Gedicht beschäftigt, das infolge seiner
durch die künstliche Form bedingten Dunkelheit und mehrfacher
Fehler und Lücken der philologischen Behandlung und Interpreta-
tion dringend bedarf. Ich gebe im folgenden den Versuch einer
kritischen Ausgabe, wobei die älteste kymrische Version in den
Lesarten mit A, die jüngere mit B, der Druck mit C bezeichnet
sind. Aufgenommen wurden nur solche Lesarten, die aus irgend-
einem Grunde wichtig erschienen; alle zu verzeichnen, auch die
gleichgültigen und falschen, schien mir schon deshalb tiberflüssig,
weil die Veröffentlichungen in der Anglia ja leicht zugänglich sind.
Wenn es mir trotz langer und ernster Arbeit an dem Denkmal
leider nicht gelungen ist, alle Schwierigkeiten des Textes zu be-
wältigen, so tröste ich mich mit den Worten des Dichters: I can
no moe (V. 95). Derselbe war nach der Unterschrift der me, Fas-
sung: Jeuan ap Rydderch ap Jeuan Lloyd, i oder nach anderen:
Jeuan ap Howel Swrdwal, beide nach Ellis wohlbekannte kymrische
1 Vgl. über diesen Dichter Glyn Davies im 36. Bande der Anglia, S. 126.
Er wird von John Davies um 1420 gesetzt.
Archiv f. n. Sprachen. 110. 3
34
Ein mittelenglischer Hymnus auf Maria und Cliristua
Barden des 15. Jahrh. In der jüngeren Hs. des Brit. Museums
findet sich noch die interessante Notiz, daß der Verfasser das Ge-
dicht als Student in Oxford schrieb, um seinen englischen Kom-
militonen einen Beweis von der künstlerischen Höhe kymrischer Dich-
tung zu liefern. Wer die Transkription gemacht hat, wird nicht ge-
sagt, jedenfalls rührt sie nicht vom Verfasser des Gedichts selbst her.
Bell bemerkt a. a. 0. S. 117, daß noch mindestens drei weitere
Hss. der Umschreibmig existieren. Es wäre sehr erwünscht, auch
deren Varianten kennenzulernen, da sie möghcherweise die beiden
Textlücken ergänzen könnten! — In meiner Ausgabe sind Er-
gänzungen in eckige Klammern gesetzt und stumme Buchstaben
miterpunktiert. Die Anzahl der Silben jedes Verses ist durch die
Regeln der kymrischen Metrik bekannt.
Ein mittelenglischer Hymnus auf Maria und Christus.
B. Kymrische Umschrift.
1.
0 michti ladt, our leding / tw haf
at hefn owr abeiding;
wntw ddei ffest ev^rleating
y[s] set a braynts ws tw bring. 4
2.
Yw wann ddys wyth blyss, dde blea-
sing of God,
ffor ywr gwd abering,
hwier yw bynn ffor ywr wynning
syns kwin, and ywr swnn ys king. 8
A. Text.
1.
O mightie Ladi?, our leading / to haue
at heaveu our abiding;
vnto thy feaste eu^rlesting
4 is sette a brauch? vs to bring.
2.
You wann? this with blisse, the bles-
sing / of God,
for your good abearing,
wher? you ben for your winning
8 sine? queen?, & your sonne is king.
Our faders fader, our feeding, / our
pop?,
on your papp?s had sucking;
in heav?n-blis3? he had, this thing,
12 attendaunc? without ending.
Owr ffadyrs ffadyr, owr ffiding, /
owr pop,
on ywr paps had swking;
yn hefn-blyss hi had, ddys thing
atendans wythowt ending. 12
We Sreen? the bright queene with cun-
ning / & bliss?,
the blossom? fruit? bearing;
I would, as ould as I sing,
16 winn? your loue on your lovinge.
3 the Hs. lastiug Hs. 7 bent Hs.
9 forefaders Hs. 11 I had Hs. 16 la-
vinge Hs.
Wi sin dde bricht kwin wyth kwn-
ing / and blys,
dde bloss wm ffrvwt bering;
ei wowld, as owld aa ei sing,
wynn ywr Iwf on ywr loving.
1 michti] t vom Rubrikator in d ge-
ändert, tw] to ÄC, tw B. 3 yn Ä,
in B, un C. efr B, ever ÄC. lesting
B. lasting ÄC. 4 i set ABC. 5 of
ÄC, off B. 7 wher B. 8 synn Ä,
Bonn B, son C. 9 fforffaddyrs ffad-
dyr Ä, ffadders ffadder B, foVefathers
fathera llihad^(7,hadfforÄ 161yf
Ä, lof B, love C. laving Ä C, lafing B
und seine kymrische Umschrift
35
Queens odd§ of our God, our gui-
ding / moder,
mayden notwithstanding?,
who wed sich with a rieh ring,
20 OS God woud this good wedding,
5.
Kwin od off owr God, owr geiding/
mwdyr,
maedyn notwythstanding,
hw wed syts wyth a ryts ring,
as God wad ddys gwd weding, 20
Help^ US, pray for us, preferring /
our soul^s !
Assoil^ US at ending!
Mak? that all we fall to ffing
24 your sonn^s lou?, our sinnea leav-
ing!
Help WS, prae fFor ws, prefferring /
owr sowlal
Asoel WS at ending!
mak ddat awl wi ffawl tw ffing
ywr swns Iwf, owr syns levingl 2-1
As we may tlie day of dying / re-
ceiue
our [saviour] in housling,
as he may tak^ us waking
OQ to won^ in his niightie wiug!
As wi mae dde dae off deiing / reeef
owr saviwr yn howsling,
as hi mae tak ws waking
tw wwn yn hys michti wing!
8.
Mighti, h© took?, / me ought to teil,
out söul^s of hell / to soiles of
hight;
wee ask? with book§, / wee wish§
with bell,
to heaven füll well / to hau? our
flight;
all deed^s well don§
t'abide aboone
a god-mad? trone,
a goode, meet? wright;
and say so soon?
and north and noon?,
and aunn? & moon?,
& so non§ might.
19 such Hs. 23 that all] all that Hs.
24 live Hs. 28 wone] him Hs. 29 might
hit Hs. 30 sight -Hs. 34 aboone] deo
boone Hs.
8.
Michti, hi twk, mi o[w]cht tw tel,
owt sowls off hei tw soels off
hicht;
wi aish wyth bwk, wi wysh wvth
bei,
tw hefn ffwl wel tw haf owr
flicht;
awl dids wel dwn
t'abeid abwn
a god-mad trwn,
a gwd, met wricht;
and s[a]e so swn
and north and nwn,
and swnn and mwn,
and so non micht.
i
17 mwddyr, -er Ä, C, moder B.
20 wad ABC, in B aus wud korrig.
21 for A, ffor BC. 23 awl ddat A,
ddat awl B, all that fawl C. 24 synns
lyf A, Bons lof B, &yn& love C. 25
deing A, deiing, -yng BG. 26 saviowr
A, aafiowr BC. 28 wwn] hym A,
hüm B, him C. 29 Micht hyt A,
O'meicht hi B, Mighty he C. 30 sola
A, sowls BC. 31 aish AB. ask G.
wish ABC. 32 owr] on ABG. 33
awl] w unierpimc/icrt A. dywn A,
dwnn B, dwn G. 34 tabyd deo bwn A,
t'abeid te bwn B, ta byd deo bwn G.
36 met AG, mit B. 37 se ABC.
39 synn AB, syn C.
36
Ein mittelenglischer Hymnus auf Maria und Christus
As soon? as prid? / is now? supprest,
his seal? is pest, / his soul§ is pight;
I teil to you,
44 as som^ do§ show§,
as now§ I trow?,
we US? not right.
A boy with bow§,
48 his look^s is slow?,
how? may [you] know?
him from a knight?
10.
The trueth is kitte, / that earth is
cast,
52 the end?s be last, / tlie Landes be
light.
0 God, sette it/good, as it was!
The rule doth pass?, / tlie world?
hath pight.
The World away
56 is don? as day,
it is no nay,
it is nigh? night.
As ould, I say,
60 I was in fay,
yelde a good may,
would God, I mightl
11.
A pretti? thing / we pray to th'est,
64 that good behest, / that God be-
hight;
& he US f fing / into his feast?,
that euer shall lest / with diuerse
light!
Awar? we would
68 the Sinnes we sould,
& be not hould
in a baut hight?.
And young & ould,
72 with him they hould,
the Jewes has sould,
that Jesus hight?.
41 Keine Lücke in der Hs. 42 best
Es. 46 with his Hs. 49 you erg.
Ellis. 55 — 62 stehen in der Hs. hinter
58. 65 us] was Hs.
i
as swn as preid ys now swprest,
hys sei ys pest, hys sowl ys picht;
Ei tel tw yo[w],
as swni dw shio[w],
as now ei tro[w],
wi vws not rieht.
A boy wyth bo[w],
hys Iwks ys slo[w],
how mae yw kuo[w]
hym ffrom a knicht?
10.
Dde trvwth ys kyt, ddat yerth ys
käst,
dde ends bi last, dde hands bi
licht.
0 God, set yt gwd, as yt was!
Dde rvwl dwth pass, dde world
hath picht.
Dde World away
ys dwn as day,
yt ys no nay,
yt ys nei nicht.
As owld, ei say,
ei was yn ffay,
ield a gwd may,
wld God, ei micht!
11.
A preti thing wi prae tw thest,
ddat gwd bihest, ddat God bihicht; 64
and hi ws ffing yntw hys ffest,
ddat ev?r shal lest wyth deivero
licht!
Awar wi wowld
dde syns wi sowld, 6^
and bi not howld
yn a baut hicht;
and ywng and owld,
wyth hym ddei howld, 72
dde dsivws has sowld,
ddat Dsiesws hicht,
41 syprest AC, swpprestÄ 42 sei
ys best A, hei is pest B, seil is best G.
his sei A, sowl BC. picht A, peightjB,
pight C. 44 synn dwth A, swm dw
B sym de C. " 47 withs A, wyth B,
with C. 48 lokes is A, Iwcks ys B,
loks is C. 1 in slo von spät. Hand,
so BC. 55 dwnn A, dwn B, denn G.
55—62 stehen nach 66. 56 dynn A,
dwn B, donn C. 58 is AC, ys B.
61 eild ABG. 62 wowld B. 63 to
ABC. 65 was ^C, WS B. 66 efr shawl
B. 68 wi] ddey A, ddeü B, they G.
69 and ^, an' Ä 10 in ABC. TShafC.
und seine kymrische Umachrift
37
12.
0 trusti Crist?, / that werst pe O trysti Kreist, ddat werst a krown,
crown?,
er§ wec di? down?, / a-readi? dight,
to thank? to thee
at te rood?-tree,
then went all wee,
thyn o\v9[n], to light.
To graunt agree,
amen, with mee,
that I may see
thee to my sight!
13.
Our lucke, our king, / our locke, our
key,
my God, I pray, / my guide upright!
1 seeke, I sing, / 1 shake, I say,
I weare away, / a werie wight.
Against I goe,
my frendes me fro,
I found a foe,
with fend? I fight;
I sing allso
in welth & woe,
I can no moe,
to queene of might.
owr
er wi dei down, aredi dicht,
tw thank tw ddi
at dde rwd-tri,
dden went all wi,
ddein own, tw licht.
Tw grawnt agri,
amen, wyth mi,
ddat ei mae si
ddi tw mei aicht!
13.
Owr Iwk, owr king, owr lok,
kae,
mei God, ei prae, mei wpricht geid I
Ei slk, ei sing, ei shiak, ei sae,
ei wer awae, a wiri wicht.
Agaynst ei go,
mei ffrynds mi ffro;
ei ffownd a ffo,
wyth ffynd ei fficht;
ei sing also
yn welth and wo,
ei kan no mo,
tw kwin off might.
they nowe Hs.
80 ddey now A, wntw thi B, ddein
own C. 84 two Ä, tw B, to C.
86 up ÄC, wp B. 87 shiäk B, siak C.
90 ffrinds B. 91 a ffond B. 92
ffend B. ffricht Ä, ffeight B, fight C.
96 tw ] for C.
Anmerkungen.
I. Zum m\ Text.
V. 1. leading ist hier offenbar so viel wie leader, d. h. also 'Füh-
rerin'. — V. 3 f. Konstr. a brafiche is sette to bring us unto
thy everlesting feaste; hi'anche bedeutet offenbar Christus (s. Nach-
schrift). Thij ist nach den Transkriptionen zu schreiben, lesting
verlangt der Binnenreim (vgl. auch V. 66). — V. 5. this weist auf
das folg. blessing hin. — V. 6. Äbearing: 'Benehmen, Betragen'
(jetzt veraltet). — V. 7. Wie die Transkriptionen zeigen, ist beut
hier = been, also Ind. PI., vgl. we seene V. 13 und be V. 52;
ivhere bezieht sich auf blessing of God, resp. feaste eveiiesting,
d.h. also heaven. — V.O. Wie Davies, AngliaSQ, S. 122 nach-
weist, ist faders statt forefaders zu lesen, da der Vers nur 10 Silben
haben darf; faders ist Adam, dessen Vater wieder Christus als
Weltschöpfer, da nach dem Johannesevangelium I, 3 'omnia per
ipsum facta sunf . Feeding steht hier, wie sonst food, im über-
38 Ein mittelcnglischer Hymnus auf Maria und Christus
tragenen Sinne, vielleicht mit Bezug auf das Abendmahl, vgl. V. 25 f.
Für die seltsame Bezeichnung Christi als j)oj)e kenne ich keine
Parallele. Sollte der Dichter gewußt haben, daß es ursprünglich
'Vater' bedeutet? Er mag auch an die bekannte Stelle Hebr. VI,
20: 'tibi praecursor pro nobis introivit Jesus, secundum ordinem
Melchisedech^^pontifex factns in aeternum,' gedacht haben. —
V. 11. Die Überlieferung ist sinnlos, daher falsch. I vor had ist
in he zu bessern; das Subjekt ist Christus {this thing). — V. 15.
Der Satz scheint eine Konstruktionsmischung zu enthalten: I would,
OS ould as I am -\- I would, as late as I smg, d. h. 'so alt ich
auch als Dichter bin'. Vgl. übrigens V. 59 ff. — V. 16. Lavinge
'Waschung' ist sinnlos, 1. lovinge 'Lob, Preis'. — V. 17. Odde ist
hier 'einzig'. — V. 20. sich ist vielleicht angelehnt an which; hier
verlangt es der Binnenreim. — V. 20. Woud ist kaum das Prät.
von me. wowe = ae. tvögian, ne. uvo 'werben, freien', denn die
Verbindung mit ivedding als Objekt wäre sehr auffallend. —
V. 23. Die Wortstellung ist nach B gebessert; fall to bedeutet
nach dem NED. (unter fall 66): 'to apply or betake oneself to;
to have recourse to; to take to; to begin, proceed to'; fing steht
für fang unter dem Einfluß des Subst. feng, fing 'Fang'. In der
Hs. Add. 14866 steht die Randnote: 'ffing for f feinde! , vgl.
Angl. 36, 118, ^% — V. 27. As ist hier = so. — V. 28. Die
Besserung wird durch den Sinn und die Alliteration gefordert; vgl.
zur Stelle Ruth II, 12: et sub cujus confugisti alas, sowie Ps. XVI, 8:
sub umbra alarum tuarinn protege me! — V. 29. Mightie = 'the
mighty one', vgl. Davies, S. 124; me ought steht hier für I ought,
vgl. me. me bus = it behoves me. Beispiele s. im NED. unter ought
III, 6. — V. 30. Soiles bedeutet hier 'Gegenden, Orte, Plätze',
vgl. das NED. Hight, das durch die Transkriptionen und die Metrik
(Alliteration mit hell) als richtig erwiesen wird, kann 'Höhe' oder
'Hoffnung, Freude' {a.e.hyht) bedeuten. — V. 31. Die beliebte Formel
tvith book and bell bezieht sich auf Meßbuch und -glöckchen, vgl.
das NED. unter book 4b und bell 8. — V. 33. Absolutes Partizip:
all deeds (being) ivell done. — V. 33. Das überlieferte deo (B: te)
gibt keinen Sinn. De ist wohl Wiederholung der vorhergehenden
Silbe und o steht für a. Allerdings ist aboon sonst eine schot-
tische Form, scheint mir aber die einzige hier passende. — V. 35.
Die Aussprache setzt me. irön voraus, vgl. school. — V. 36, d. h.
'als ein guter, passender Arbeiter'; es steht allerdings mit our V. 32
und ivee V. 31 nicht in Kongruenz. — V. 37 ff. sind mir unklar.
— V. 38. Noone bedeutet hier offenbar 'Süden', wofür das NED.
aber keinen Beleg hat. — Vor V. 41 sind zwei Verse ausgefallen,
weshalb auch der Zusammenhang fehlt. — V. 42. d. h. 'sein Glück
ist Verderben' (ae. säl) ; pest verlangt die Alliteration ; pight ist wie in
V. 54 das Part. Prt. von me. piche 'befestigen'. Der Sinn bleibt mir
und seine kymrische Umschrift 39
aber dunkel. — V. 46 ff. Worauf beziehen sich diese Verse? —
V. 47. Vgl. Ms V. 73. — V. 51 kitte ist = kidd 'verkündet'; cast be-
deutet hier wohl 'verurteilt', vgl. das NED. unter cast 17. — V. 52.
Auch dieser Vers ist mir unverständlich. — V. 54. Der zweite
Halbvers ist wohl relativ zu fassen. — V. 55 — 62 habe ich mit
Ellis hierher versetzt. — V. 55. d. h. 'es ist nicht zu leugnen', vgl.
das NED. unter 7iay adv. 2a. — V. 59 ff. bleiben mir dunkel. —
V. 61 f. konstr. would God, ff hat) I might yelde a good may!
Kann sich das auf die Jungfrau Maria beziehen? Vgl. V. 15 f. —
V. 63. To th'esi: weil der Altar nach Osten steht? — V. 65. Zu
ffing (hier 3. Sgl. Opt.) vgl. zu V. 23. — V. 66. Zu lest (: fest)
vgl. zu V. 3. — V. 67. Erg. den Inf. be (vgl. das NED. unter
aware 3). Oder steht aicare für heware^ — V. 68 ist mir dunkel. i
— V. 70. hant ist = hanned 'verflucht', vgl. zu V. 51 und 79.
Was ist hant hight? — V. 73 ist Relativsatz, erg. whom. Zu hos
nach dem Plur. des Subjekts vgl. V. 47. — V. 75. Ist ^e oder a
das richtige? — V. 76. Areadi ist wohl = iredi, ae. gerade, vgl.
aivare = iware; dight ist Sg. Imper., erg. 7(s dazu. — V. 79. ivent
steht für ivend, vgl. zu V. 70. — V. 80. Die Besserung nach der
Transkription C. — V. 81 f. konstr. agi-ee (Imper.) ivith mee to
graunt! — V. 89 f. Against ist hier Konjunktion: 'gegen die Zeit,
wo', vgl. das NED. unter against 18. Ooe steht änb xoivov zu-
gleich als Prädikat zu 7?iy frendes; man denkt unwillkürlich an
Everyman. — V. 93 f. beziehen sich gewiß auf den Teufel.
IL Zur kymrischen Umschreibung.
Die Fassung der Hengwrt-Hs. 294 ist bei weitem die beste,
obwohl auch sie nicht frei von Fehlern ist, -wie schon Ellis auf
S. 35 von Furnivalls Ausgabe nachgewiesen hat. Sie können aber
alle leicht mit Hilfe der sonstigen Überlieferung und der kj^mrischen
Metrik beseitigt werden. Die Quantität der Vokale wird im all-
gemeinen nicht berücksichtigt, denn a, e, o bezeichnen sowohl langes
wie kurzes a, e, o. Langes und kurzes ne. u werden durch iv,
kurzes (offenes) i durch y ausgedrückt, während i nur im Auslaut
sowie vor cht, ng und sh steht, vgl. ladt, flicht, sing, tvish. Der
aus me. % entstandene Diphthong wird durch ei vertreten, während
oiv sowohl me. ti wie ou bezeichnet. Der me. Diphthong au er-
scheint als_a?r, me. ai als ai, ay oder ae, me. oi als oe oder oy,
me. (frz.) ü und me. eu als V7v. Bei den Konsonanten ist zu
bemerken, daß kynu*. d die Media, dd dagegen die stimmhafte
Spirans (ne. th in father) bezeichnet, während stimmloses engl, th
' Entweder ist vor the sinnes die Konjunktion that zu ergänzen {the stnnes
Obj. zu sotdd) oder vor we ein Relativpronomen. Kann seil hier 'aufgeben'
bedeuten ?
40 Ein mittelenglischer Hymnus auf Maria und Christus
stets als th erscheint. Ahnlich unterscheidet sich kymr. f = ae. r
von kymr. ff = ne. /", jedoch steht im Inlaut gelegentlich auch v
für i\ Da stimmhaftes s im Kymrischen nicht vorkommt, wird es
vom stimmlosen Laute nicht unterschieden; engl, sh vor Vokalen
w^ird durch si, engl, j durch dsi vertreten, die Affrikata ts im Aus-
laut durch ts (vgl. braynts V. 4). Die Halbvokale w imd y er-
scheinen in derselben Form.
Die zweite Fassung der Transkription in der Hs. des Brit.
Museums ist besonders deswegen bemerkenswert, weil sie i und ?/-
neben y für kurzes i, o neben iv für km'zes u und eight für icht
schreibt, auch nicht selten den Circumflex als Längezeichen benutzt.
In C (dem Druck) steht ickf wie in A, im ü])rigen ist diese Fas-
sung sehr stark durch die englische Orthographie beeinflußt, so daß
eine eingehende Darstellung der abweichenden Schreibung sich er-
übrigt.
Zu einzelnen Stellen sei folgendes bemerkt: V. 1. Warum
ist t in michti vom Rubrikator in d geändert? — V. 4. Zu braynis
vgl. aish in V. 31 und Salesburys aishe, tvaitche, heritaige (Ellis);
a ist also hier behandelt wie in ne. change. Vgl. dazu Luick,
Anglia 16, 484 ff. — Y. 5. wyth hat stets stimmlose Spirans, auch
in without V. 12; in of steht nur hier f = v, sonst ff =z f, vgl.
V. 17, 25, 30, 96. — V. 7. Jnvier mit langem i erscheint nach
Ellis jetzt in Shropshire. — V. 9. ffader mit -d- verlangt der Eeim
mit ßding, vgl. Davies S. 123 unten. — V. 21. Die Form sits be-
legt Wright, Engl. Dial. Orammar, S. 626 f. aus verschiedenen
Gegenden. — V. 35. trwn (d. i. trün) wird auch von Salesbury be-
zeugt, was me. t7'ö?i mit geschlossenem ö voraussetzt. — V. 36. Zu
met vgl. ae. gemet und mäte\ die Hs. ß hat mit. — V. 43. yow
(d. i. joiC) ist die lautgesetzliche Entwicklung von ae. eöic. An
andern Stellen steht yw wie im Ne. Auffallend ist die Weg-
lassung des auslautenden w (u) in den Reimwörtern. — V. 45. t?-oiv
ist das ae. treowan, triou-mi. — V. 51. yertli ist eine dialektische
Form, die jetzt noch in Shropshire lebt. — V. 54. Wright S. 686 f.
belegt World mit -o-. — • V. 61. Eine Form jeld belegt Wright
S. 694 zwar aus North -Staffordshire, sie ist aber hie" nicht sehr
wahrscheinlich. Andre Dialektformen sind: lld, hhl, jild, jeild,
jidld. Nach Ellis steht eild für ield, d. i. ild. — V. 62. Nach E.
könnte ivld fiu" tviüld (d. i. ivuld) stehen, da w vor w im Kymr.
schwindet; vgl. aber wowld V. 67. — V. 63. Wright belegt S. 566
preti für Worcestersh. und Oxfordsh. ihest hat wegen der Alht.
mit thing stimmlosen Anlaut! — V. 66. Die AUit. verlangt in tJmt
und tcith gleiche Spirans, vgl. Davies S. 125. — V. 69. an statt
and verlangt die Allit. nach Davies. — V. 74. Dsiesius {= dxexiis)
mit e- ist auffallend. Zur Allit. vgl. Davies S. 125. — V. 75.
trysti: Wright S. 657 bezeugt tristi als dialektisch. — V. 87. stk
und seine kyrnrischc Umschrift 41
ist der einzige Fall, wo in A die Länge bezeichnet wird. — V. 90.
ffryrids stimmt zu Salesburys und Gills frind, das nach Wright
S. 454 weitverbreitet ist. — V. 92. Auch find bezeugt Wr. S. 437. —
S. 93. Steht also flu- mvlso'^
IIL Zur Metrik.
Vgl. dazu die Ausführungen von J. Glyn Davies, Anglia 36,
121 ff. Danach zerfällt das Gedicht in zwei verschiedene Teile:
a) Str. 1 — 7 in der Englyji unodl u7iion - Strophe, b) Str. 8 — 13
in der Taivddgyrch Cadwytiog-Strophe. Die erstere besteht aus
vier Versen von ie 10 -{- 6 -{- 7 ^ 1 Silben, zusammengehalten
durch den Endreim -ing, der aber im ersten Verse auf die achte
Silbe fällt, wodurch die zwei letzten als reimloser 'bob-vers' er-
scheinen. In den Hss. ist dieser durch einen Strich von dem
übrigen Verse geschieden. Von den Endreimen der beiden sieben-
silbigen Verse muß einer betont, der andre unbetont sein, z. B.
ritig : ivedding Str. 5; die beiden ersten Reime sind stets unbetont,
z. B. guiding : -stdnding ib. Zu den Endreimen kommen noch
Binnenreime, z.B. michti : ladi 1, 1; this : blis 2, 1; fader s :
fader 3, 1 ; seen : queen 4, 1 ; od: god 5, 1 ; ns : us 6, 1 ; mai : dai
7, 1; feast : lest- 1, 3; been : ivinn- 2, 3; blis : this 3, 3; ivould :
mld 4, 3; sich : rieh 5, 3; all : fall 6, 3; tak : ivak- 7, 3. —
Auch die Alliteration spielt eine große Rolle. Zunächst allite-
riert der 'bob-vers' mit dem folgenden Verse : haue : heaven 1,1;
god : good 2, 1 usw., ferner findet sich Alliteration stets im ersten
Verse jeder Strophe, vgl. ladie : leading 1, 1 ; bliss : blessing 2, 1 ;
fader : feeding 3, 1 ; queen : cunning 4, 1 ; god : guiding 5, 1 ;
pray för : preferring 6, 1; day : dying 7, 1; desgl. im vierten, vgl.
branciie : briiig 1, 4; queene : ki7ig 2, 4; attendaunce : without-
4nding 3, 4; loue : louing 4, 4;__ god : good 5, 4; loue : leaving 6, 4;
nur in 7, 4 fehlt sie in der Überlieferung, ist aber leicht herzu-
stellen : ivtin : iving. Gegen die Regel, daß die Vokale der allite-
rierenden Silben verschieden sein müssen, verstößt attendau7ice :
-outendiyig 3, 4. Der Rest des Gedichts, Str. 8 ff, ist, wie schon
bemerkt, in dem Metrum Tawddgyrch cadwynog verfaßt. Beide
Teile sind durch Wiederholung von mighty verbunden. Die Strophe
ist hier zwölfzeilig und besteht aus einem Aufgesang von vier und
einem Abgesang von acht Versen; die ersteren sind achtsilbig, die
letzteren viersilbig. Der Endreim zeigt das Schema ahab, cccb, cceb.
Der 6-Reim geht durch alle Strophen hindurch, die übrigen Reime
sind verschieden.
Im Aufgesang finden sich außerdem noch Zäsurreime in kreuz-
weiser Ordnung {ab ah), wobei die Zäsur des zweiten und vierten
Verses mit dem Schluß des jeweiligen ersten und dritten nach dem
42. Ein mittelengliacher Hj^mnus auf Maria und Christus
Schema alb||b|cl|a|b|lb|c|l reimt. Auch hier ist sowohl im Auf-
wie im Abgesang häufig Alliteration verwendet, wobei sich wieder
viele Künsteleien in bezug auf Anlaut und Stellung finden, die
aufzuzählen und im einzelnen zu betrachten zu weitläufig sein
würde. 1
Die Strophen 9 und 12 sind offenbar nicht vollständig, da sie
nur 10 Zeilen haben und der Aufgesang aus bloß 2 Versen be-
steht; die Unregelmäßigkeit in Str. 10 und 11 ist durch die von
Ellis vorgeschlagene Umstellung der Verse 59 — 66 leicht zu be-
seitigen.
Die Reimtechnik ist im allgemeinen genau, eine kleine Un-
genauigkeit findet sich nur V. 51 ff. {cast : last : ivas : passe). Für
den Dialekt ist leider aus den Reimen wenig zu gewinnen: es ist
die Schriftsprache des 15. Jahrhunderts.
Kiel. F. Holthausen.
' In der ersten Hälfte der Strophe werden alle Konsonanten, die dem
ersten Kurzversreim vorangehen, in derselben Reihenfolge vor dem zweiten
Kurzversreim wiederholt, der dritte Kurzvers ist mit dem vierten, der fünfte
mit dem sechsten und der siebente mit dem achten in derselben Weise ver-
knüpft, vgl. V. 29 f.: michti, he took, \ me oucht io teil, owt sowls off hell \ to
soils off hicht.
Nachschrift.
Während der Korrektur konnte ich das Gedicht mit Prof. Mors-
bach und Dr. Hübeuer in Göttingen besprechen, wobei sich einige
neue Auffassungen ergaben. V. 4 bezieht Dr. H. auf Christus, vgl.
Jer. 23, 5: I will raise unto David a righteous hranch. — V. 11
erwartet man eher hos, wenn die Stelle richtig gedeutet ist. —
V. 19 bezieht sich tvho wohl auf Qod, sich 'eine solche' auf
mayden. — V. 20 ist as 'da, weil', woud 'wollte', tvad die nörd-
Hche Form (ae. nordh. walde). — V. 38 f. Zu and — and = both
— a7id vgl. das NED. unter and 5. — V. 48 1. lowe st. slotve?
— V. 52. Gehört last zu me. lasse 'verringern, -kürzen'? light ist
wohl 'licht, rein', vgl. das NED. unter light adj. 2. — V. 70. Be-
zieht sich hight auf die Sündenlust? — V. 73. sould, d. h. dem
Tode. — V."76. die down ist im NED. erst seit 1834 belegt;
dight faßt M. als Part. Prt, to thank in V. 77 hinge dann von
einem in der Lücke anzunehmenden Verbum: 'gewähre uns!' ab. —
Zu V. 51, 70 u. 79 {-d>t) vgl. jetzt Piriczek, Idg. Forsch. 38,
196 ff.
i
Dickens' Belesenheit.
Unter den großen literarischen Gestaltern gibt es wohl keinen,
der sich gleich Dickens nach äußerst mangelhafter Schul-
bildung und aus widrigsten Verhältnissen zu einem so führenden
Schriftsteller emporgearbeitet hat. Die ungewöhnlichen Schwie-
rigkeiten, die seinem Aufstreben entgegenstanden, haben sogar die
weithin und nicht nur in Laienkreisen verbreitete Ansicht veran-
laßt, er sei bloß ein Abmaler der Wirklichkeit gewesen, weil ihm
berufliche Belesenheit zum Lernen von seinen künstlerischen Vor-
gängern fehlte. Diese Ansicht soll nachgeprüft werden, beson-
ders um für das Studium seiner dichterischen Bedingtheit Vor-
urteile zu beseitigen und den Weg zu bereiten.
a) Bildungsgelegenheiten.
Im ersten Brief an Washington Irving beschreibt er sich selbst
als 'a verj^ small and not-over-particularly-taken-care-of boy'
(Forster, Life of Ch. D. [Tauchnitz] I, 27). ^ Das ist aber wenig-
stens für seine ersten Jahre in Chatham übertrieben, denn damals
lebte er glücklich im elterlichen Hause, und die Mutter selbst er-
teilte ihm bis 1819 den ersten Unterricht. Sie gab ihm Tag für
Tag regelrechte Schulstunden im Englischen und später auch im
Lateinischen, und zwar, wie er selbst bezeugt, 'thoroughlv well'
(Fol, 27).
Als die Eltern gegen Ende 1819 nach einem anderen Teile
Chathams, nach dem Brook, übersiedelten, wurde er, wie es
scheint nach dem Besuch einer 'preparatory day-school' (Fo I, 28),
in die Anstalt eines Mr. Giles geschickt (Langton, The Childhood
and Youth of Ch. D. 55), eines gewissenhaften Gelehrten, der in
Oxford studiert hatte (Fo I, 36). Giles war zugleich ein nam-
hafter Redner (Langton 56/7) und wurde ihm bald ein väterlicher
Freund, indem er sich dem aufgeweckten, ungewöhnlich intelli-
genten Knaben sogar des Abends in zwangloser Unterhaltung
widmete. Unter seiner sorgfältigen Anleitung hat D. unzweifel-
haft für seine erstaunliche Beherrschung der englischen Sprache
den Grund gelegt.
Anfang 1823 zogen seine Eltern nach London. Bald brach
sein Vater finanziell zusammen und kam in das Schuldgefängnis.
Es folgte die qualvolle Tätigkeit des Sohnes in Warrens Schuh-
wichsefabrik (Langton 72).
Im Sommer 1824 schickte der Vater den zwölfjährigen Knaben
wieder auf eine Schule, und zwar die eines Mr. Jones in Hamp-
stead, North London, genannt Wellington House Academy. für
ungefähr zwei Jahre. Der Schulleiter war, wie D. 1851 erzählte
44 Dickeus' Belesenheit
(Fo I, 95, 100), 'supposed to know nothing, and one of the ushers
was supposed to know everything' (Fo I, 93). Die Knaben hiel-
ten sich Vögel und weiße Mäuse. Wo die Lehre versagte, sollte
der Stock aushelfen. Diese letzte Schule verließ der Vierzehn-
jährige 1826 (Langton 92). Daß er hier kein Latein getrieben
habe, bezeugt ein Brief seines Mitschülers Dr. Danson an Forster
(Fo I, 100). Er hatte allerdings bei Jones die Möglichkeit, bei
einem besonderen Lateinlehrer Unterricht zu nehmen (Langton
88). Wir wissen sogar, daß der Lehrer Manville oder Mandeville
hieß und jahrelang in der Bibliothek des Britischen Museums eine
bekannte Persönlichkeit war (Fo I, 94). Auch ist die Begrün-
dung, die Dr. Danson seinem Zeugnis beifügt, daß nämlich D. in
seinen Schriften niemals auf die römischen Klassiker anspiele,
nicht ganz zutreffend; er nennt einmal einen freigelassenen
Sklaven 'Cicero' (Chzwt II, 23). Ein anderes Mal erwähnt er den
römischen Satiriker 'Juvenal' (Chzwt I, 301). Auch zitiert er
lateinisch 'Bis dat qui cito dat' (Chzwt II, 23). Dennoch ist fest-
zustellen, daß er ohne inneres Verhältnis zu lateinischer Literatur
blieb. Mit Griechisch hat er sich nach Danson überhaupt nicht
befaßt (Fo I, 100).
Als lebende Fremdsprache wurde in Wellington House Aca-
demy Französisch gelehrt; es ergibt sich allerdings nur aus einer
gelegentlichen Anspielung auf 'the French master's chair' (Lang-
ton 86). Über D.s Fortschritte in diesem Fach fehlt es völlig an
Zeugnissen. Positive Kenntnisse scheint er erst in den vierziger
und fünfziger Jahren auf seinen Reisen in Italien und Frankreich
erworben zu haben. In den Sprachen beider Länder konnte er
sich leidlich unterhalten, Bücher lesen und dramatischen Auffüh-
rungen folgen (Gissing 27). Französisch hat er nie sonderlich
gut gesprochen, 'his accent being somehow defective', aber leid-
lich fließend geschrieben, wie neben Forsters Angabe auch ein an
diesen gerichteter Brief erkennen läßt (Fo IV, 95 f.). Seine ita-
lienischen Kenntnisse sind geringer gewesen (Fo III, 129).
Was Dickens an Schulunterricht entging, das ersetzte er durch
erstaunliche Eigenlektüre. Schon 1819 war er 'a good and eager
reader' (Langton 26). Mary Weller, die als Köchin bei seinen
Eltern diente und 1888 im Alter von 84 Jahren starb, berichtet:
'Little Charles was a terrible boy to read' (Langton 25, 29, 44).
Zutritt zu den Büchern gewann er zuerst in der väterlichen Bi-
bliothek zu Chatham; sie enthielt nicht nur die in Copf I, Kap.
IV aufgezählten Romane Roderick Random, Peregrine Pickle,
Humphrv Clinker, Tom Jones, Vicar of Wakefield, Don Quixote,
Gil Blas und Robinson Crusoe, dazu '1001 Nacht' und die 'Tales
of the Genii', sondern auch die Essaysammlungen Spectator, Tat-
ler, Idler, Citizen of the World sowie Mrs. Inchbalds Sammlung
:
Dickens' Belesenheit 45
von 'Farces'. Alle diese Bücher las er in Chatham wiederholt und
immer wieder (Fo I, 48) — er zählte damals etwa zehn Jahre.
Weitere Gelegenheit, seine Lesewut zu befriedigen, fand er in
London. Wenn Forster erzählt, daß dort das Buchhändlerpaar
Manson dem jungen Dickens, sobald er seinen in demselben Hause
wohnenden Onkel besuchte, Colmans Schwank 'Broad Grins' und
Jane Porters Geschichten 'Scottish Chiefs' lieh (Fo I, 48), so ist
nicht anzunehmen, daß sich Dickens auf diese einmalige Ent-
leihung beschränkt hat. Am wichtigsten aber wurde für ihn das
Britische Museum. Einen Tag schon nach dem 7. Februar 1830,
an dem er das vorgeschriebene Alter von 18 Jahren erreicht hatte,
finden wir seinen Namen in der Liste der Besucher, und dann un-
gemein oft (Langton 102). Diese Tage im Britischen Museum hat
er oft als die für ihn nützlichsten bezeichnet (Fo I, 111). Auf
diesem Wege gewann er 'such general Information about books,
as a fairly educated youth might be expected to have, as well as
to satisfy some higher personal cravings' (Fo I, 111).
Während er dann bei Edward Blackmore als Schreiberlehrling
arbeitete, vom Mai 1827 bis November 1828, besuchte er fleißig
das Theater und prägte sich dramatische Rollen ein (Langton 94).
Trotz angestrengter Berufsarbeit als Reporter und später als
Autor fand er immer noch Zeit zum Lesen, wenn auch in unsyste-
matischer Weise, indem er aufgriff, was ihm in den Weg kam
(vgl. Fo III, 224).
Die großen Erfolge brachten ihn auf einen neuen Weg literari-
scher Bildung: persönliche Kenntnis von Schriftstellern. Er be-
freundete sich mit dem Romanschreiber Ainsworth (Letters of Ch.
D. [Tauchnitz] I, 47, 81, 99), den Dramatikern Douglas Jerrold,
der an seinen Privataufführungen teilnahm (Le I, 144, 240),
Sheridan Knowles (Le I, 230) und John Poole (Le I, 251), in be-
sonderem Maße mit den Possendichtern Marc Lemon und W. C.
Macready, die bei den Kinderaufführungen in seinem Hause hal-
fen (Le I, 144; II, 99; I, 6, 17 u. ö.). Sehr nahe rückte er später
den fruchtbaren Erzählern Charles Reade (Le III, 22) und Wilkie
Collins (Fo IV, 176), dem Musikkritiker Chorley (Le III, 193
Anm.) und seinem nachmaligen Biographen John Forster. Zu
seinem weiteren Bekanntenkreise gehörten die Possenverfasser
Buckstone (Le II, 72), Oxenford (Le II, 227) und Edmund Yates
(Le II, 204 u. ö.). Außer Schauspielern und Malern finden wir in
seiner Umgebung ijfcch den wenig bekannten Verfasser eines Ro-
mans 'Ranthorpe', einen gewissen Lewes (Le IV, 95), den Her-
ausgeber der Times, John Delane (Le II, 5), und den Historiker
Sheriff, der dann 1847 als Sir Archibald Alison den Dichter und
dessen Gattin bei sich als Gäste empfing (Le I, 181).
Zu den Größen der Literatur spinnen sich von Dickens meist
46 Dickens' Belesenheit
nur wenige und dünne Fäden. Er kennt Thomas Hood (Le I, 86).
Für Leigh Hunt verwendete er sich einmal um eine Unterstützung
(Le IV, 88 fF.). Er sah den Dichter Landor, zuletzt 1851 in Bath
(Le I, 267), und stand in freundschaftlichem Verkehr mit dem
berühmten Robert Browning (Le IV, 207). Gut bekannt war er
mit Carlyle (Fo III, 115), den er in späteren Jahren besonders ver-
ehrte (Fo II, 175). Etwas näher trat er Bulwer, und zwar durch
schauspielerische Betätigung. Seine Beziehungen zu Thackeray
sind trotz gelegentlichen Briefwechsels und persönlicher Zusam-
menkünfte ziemlich kühl geblieben, wie es scheint, nicht durch
Thackerays Schuld (Le II, 226; IV, 152 f.).
Etliche buchkundige Damen verkehrten zwischendurch in sei-
nem Hause, so die Gräfin von Blessington (Le IV, 22, 64 u. ö.),
die Liebhaber-Mimin Miss Boyle (Le I, 225), die Schriftstellerin
Marguerite Power (Le II, 181).
In Amerika finden wir ihn gleich bei seinem ersten Aufenthalt
in Verbindung mit Longfellow und Emerson (Le III, 147); lange
nach seiner Rückkehr, 1868, sah er Longfellow bei sich als Gast
(Le III, 167). Freunde wurden ihm Washington Irving und
Washington Allston (Le IV, 48, 44).
Sein Aufenthalt in Paris führte ihn zu Scribe, Auber, Dumas
sen., Paul Feval (LeIII,26), Gautier, George Sand (Le II, 139),
auch zu Victor Hugo (Le IV, 86), zu Lamartine, Eugene Sueu. a.
(Dibelius, Ch. Dickens 295). Aber warm wurde er nur mit dem
Schauspieler Regnier (Le II, 101).
Reichlich ist also die Zahl der kleineren Autoren und beson-
ders der Schauspieler, die sich um ihn gruppierten, ohne daß er
deshalb ein geistiger Führer für sie geworden wäre. Anfänglich
mag er einiges von ihnen gelernt haben; bald aber überwuchs
er sie an Originalität so mächtig, daß sie nur mehr als die rück-
haltlosen Bewunderer zu dienen hatten, ohne die seine Eitelkeit
nicht leben konnte.
b) Bekanntschaft mit Büchern und Dramen.
Mit gelehrter Lyrikund Epik zeigt sich D. nicht son-
derlich befreundet. Er besaß Chaucers 'Canterbury Tales' in
Tyrwhitts Ausgabe (zuerst 1775 — 78); aus dem Prolog dazu
zitiert er v. 701 — 706 (Le III, 99); allgemein spielt er an auf das
'religious edifice [of Canterbury], immortalised by Chaucer' (Copf
II, 147). Mit dem englischen Urvater seiner Menschenbeschrei-
bungskunst war er also bekannt.
Die Versdichter von Chaucer bis Cowper waren ihm zugäng-
lich in den 'Works of the English Poets', hg. von Johnson und
Chalmers, 1810, 24 Bde. (Dib 295). Viel Eindruck haben sie
ihm wohl nicht gemacht.
Dickens' Belesenheit 47
Ferner zählten zu seinem Besitz die Werke von Spenser
in Todds achtbändiger Ausgabe (1805), Andrew Marvell,
Ausg. 1776, 3 Bde., und John Wolcot, unter dem Schrift-
stellernamen Peter Pindar, 1. Gesamtausg. 1802, 5 Bde. (Dib298).
Mi 1 ton ist ihm 'good, though prosy' (Rdge III, 76).
B u n y a n s Hauptwerk wird einmal flüchtig gestreift (Am N
65) und einmal parodistisch zitiert als Tiljian's Projiss' (Chzwt
I, 437).
Pope bot ihm mit dem 'Essay on CriticLsm', 1711 (v. 215),
das geflügelte Wort 'a little leaming is a dangerous thing' (Sk
35; Benignus, Studien über die Anfänge von D., Diss. Straßburg
1895, 26), mit dem 'Essay on Man' 1732—34, (v. 145) den Aus-
spruch 'Whatever is, is right' (TTC I, 95). Auf 'Moral Essays'
(1735) III, 339 geht die Anspielung 'Pope's couplet about the
outside of [the London Monument]' Chzwt II, 174.
Watts 'Divine and Moral Songs for Children' (1720), viel-
leicht das erste Kinderbuch in der englischen Sprache, enthält das
Gedicht 'Voice of the Sluggard', das Dickens bereits um 1819 gern
rezitierte (Langton 26). Aus demselben Werk ist der Vers
'Satan finds some mischief still for idle hands to do' zitiert in
Copf I, 295, sowie eine ganze Strophe in Chzwt I, 167. Dem gro-
ßen Kinderdarsteller waren die englischen Anfänge dieser Gat-
tung abermals nicht fremd.
Von Goldsmith erwähnt D. 'The deserted Village' (Le I,
201 — 4) und einen Yers (177) aus der Satire 'Haunch of Venison'
(1776): 'Like sending them ruffles when wanting a shirt' (Sk443;
Ben 27).
B u r n s : das Volksliedchen 'My heart's in the Highlands' wird
im Cockneyton zitiert: 'My 'art's in the 'ighlands' (Sk 56; Ben
28). Aus 'A red, red rose' hat D. den Vers 'She is like the red
rose that's newly sprung in June' übernommen (M H Cl I, 161),
sowie die Zeile 'the bonnie lad is far away' in der Umgestaltung
*over the hills and far away' (Chzwt II, 156). Beweis, daß ihm
der große Volkslyriker nicht fremd war.
Robert Bloomfield, der Verfasser des 'Farmer's Boy'
(1800), der 'Rural Tales and Ballads' (1802) und der 'Wild
Flowers' scheint erwähnt (Shepherd, Speeches of Ch. D., 69, Fo
III, 67). — Campbeils Gedicht 'Lochiel's Warning' (1803)
liefert D. den Vers 'What was the result which they shadowed
forth?' (Sk 168; Ben 29).
Dagegen urteilt D. ausführlicher über Crabbe 1846: 'I don't
think so highly of Crabbe as I once did' (Fo IV, 128); direkte
Anspielung auf 'Parish Register' (1807) in Am N 170 und Fo
III, 57.
Aus Wordsworths Gedicht 'Her eyes are ^41d' (1798)
48 Dickens' Belesenheit
stammt das Zitat 'I saw a wildness in her eyes' (Chzwt I, 131);
aus seinem Gedicht 'Written in Marcli' (1802) der Vergleich 'un-
like the celebrated herd in the poem, they were not forty children
conducting themselves like one, but every cliild was conducting
itself like forty' (Xm C 52).
Von Southey las D. 1839 den 'Curse of Kehama' (1810)
(Dib 482'-^ Nr. 150).
Thomas Moore: 'Fly, fly, from the world, my Bessy, with
me' ist angezogen Sk 57, 'Oft in the stilly night' (1815) in Sk 113;
desgleichen 'Flow on thou shining river' (Sk 299; Ben 28). Be-
kanntschaft mit 'Lallah Rookh' (1817) beweist der Hinweis auf
(Paradise and the Pery' und auf die 'Fire Worshippers' (Sk 280;
Ben 29).
Auf Scotts 'Lay of the Last Minstrel' (1805) geht die An-
spielung 'like the patron Saint of fat boys — the immortal Horner'
(PPp I, 408), 'Marmion' (1808) und 'Lady of the Lake' (1810)
sind gestreift in Am N 201.
Mehr hat sich D. mit Byron beschäftigt. Auf 'Childe
Harold's Pilgrimage' (1812—18), Canto II, 76 (1812) geht die
Anspielung 'the Irish correspondent is only an hereditary bonds-
man (Sk 152; Ben 29). Byrons Ausspruch nach der Veröffent-
lichung der beiden ersten Gesänge des 'Childe Harold' kehrt bei
D. in parodistischer Form wieder: 'It was apparently the fate of
Mr. Perch to be always waking up and finding himself famous'
(Dbv III, 293). Aus dem 'Corsair' (1814) deklamierte D. eine
Stelle (Mackenzie, Life of Ch. D. 245). 'Don Juan' (1819—24)
liefert ihm viele Zitate; es erscheinen Canto I, 143 in Sk 275,
Canto II, 154 in Sk 280 und Canto IV, 35 in Sk 284; den Anfang
von Canto VII hält Mr. Septimus Hicks für das Schönste in der
Poesie (Sk 281), und der darin enthaltene Brief Julias an Don
Juan wird von einer Dame begeistert angezogen (Sk 280; Ben
29). 'Fare Thee Well' (1816) wird zitiert in OCSh II, 159. Der
große Romantiker ist D. also nicht unbekannt, doch nachhaltige
Einwirkung hat er auf ihn nicht ausgeübt.
Von S. T. Coleridge kennt D. die Romance 'ChristabeP
(Fo I, 233). — An Wolfes Gedicht 'Burial of Sir John More'
(1817) klingt an 'and was completely alone in his glory' (Sk 103;
Ben 29). — Colmans jun. Gedichte 'Broad Grins' (1797) boten
dem zehnjährigen D. in London fesselnde Lektüre (vgl. oben
S.45).
Robert Montgomery, Verfasser von 'Omnipotence of the
Deity' (1828), 'Satan' (1830) u. a. wird in Sk 359 neben Byron
gestellt (Ben 30).
Thomas Hood: 'Hood's Own (complete)', 1839, las D. 'with
greater delight than ever' (Le I, 24).
Dickens' Belesenheit 49
Von Longfellow beschaffte Forster für D. das Bändcheu
'Ballads and other Poems', 1841 (Fo II, 170).
Ebenezor Jones' Gedichtsammlung 'Studies of Sensation and
Event' (1843) las er 1844 'with very great jjleasure' (Le IV, 67).
Bulwers 'King Arthur' (1848) erfüllte ihn mit 'deepest
interest, admiration, and delight' (Le IV, 101). — Von Tenny-
son zitiert D. einen Prosaausspruch (Le I, 92). Seine 'Poems'
las er im Jahre ihres Erscheinens, 1842 (Fo III, 20). Den 'Idylls
of the King' (1859) zollt er wortreiche Bewunderung (Le II,
286 f.).
Als Anhang ist festzustellen, daß D. zwar von echten Volks-
balladen Kenntnis zeigt da, wo er auf Robin Hood verweist
(OMF II, 91), dagegen von Straßenballaden mehrere beachtete.
Die Worte 'you remind me of Whittington, afterwards thrice Lord
Mayor of London' (Chzwt I, 110) und 'noble Whittington' (Rdge
III, 141) verweisen auf eine Straßenballade des 16. Jahrhunderts
(Roxb. Ballads VII, 585 f.). Sicher ist ein solches Produkt ge-
meint in Chzwt I, 59, nämlich Wordsworths Lieblingsballade 'The
Children in the Wood' (Roxb. Ball. II, 214 ff.), ferner in Copf
II, 339 'The Dragon of Wantley' (Roxb. Ball. VIII^ 417 ff.).
Worauf die Worte 'an unfortunate lady of the same name [old
Bailey] who perished — by her own hand — early in life, and
has been immortalised in a bailad' (Chzwt I, 157) gehen sollen,
vermochte ich nicht zu ermitteln.
Ungleich reichhaltiger ist D.s Kenntnis von englischen Dra-
men. Die wichtigsten Dramen vor und aus Shakespeares Zeit
besaß er in Dodslej's 'Select Collection of old Plays', 1744
(Dib 298). Shakespeare bekam er einmal von Forster als
Geschenk und trug ihn ständig in seiner 'great-coat pocket' (Fo
II, 203). Diesen überragenden Meister dramatischer Kunst hat
D. außerordentlich hochgeschätzt, denn er zitiert ihn ungemein oft
und nach den verschiedensten Stücken. Ihm verdankte er auch
die Anregung zu einem seiner ersten dramatischen Versuche, der
travestierten Burleske 'The O'Thello', 1833 (Kitton, The Minor
Writings of Ch. D., 195). Drydens Werke standen in seiner
Bibliothek, desgleichen die Sammlung der Mrs. Inchbald
'British Theatre'^ 1821, 42 Bde. (Dib 298), worin nicht bloß zahl-
reiche Tragödien, Lustspiele und Possen, sondern auch Operetten-
und Operntexte von Shakespeare bis zum Beginn des 19. Jahr-
hunderts stehen, am meisten solche aus dem 18. Jahrhundert. Ein-
zelne Tragödien des 17. /18. Jahrhunderts mag D. mehrfach aus
dieser Sammlung gekannt haben. Erwähnt werden Beaumont
& Fletchers 'Maid's Tragedy' (1619), und zwar bei FoIV, 134;
an bürgerlichen Tragödien Lillos 'George Barn well, the London
Merchant' (1730) in Sk 358 (Ben 28) und OCSh II, 235, sowie
Archiv f. n. Sprachen. 140. 4
50 Dickens' Beleßenheit
Edward Moores 'Gamester' (1753) in Fo III, 229; auf John
Homes heroisches Drama 'Douglas' geht die Anspielung 'like
young Norval's fatlier increase his störe' (Dby I, 52). Von By-
rons Tragödien nennt D. nur 'Cain' (1821) in Chzwt I, 394 und
'Werner' (1822) in Le IV, 54; ferner eine Dramatisierung des
Byronschen 'Mazeppa' von Milner, die zuerst 1831 gespielt wurde
(Fo V, 303 Anm.). Sheridan Knowles' historisches Drama
'Virginius' (1820) hat er gelesen und aufgeführt gesehen (Le I,
165, 173). 'Thirty Years of a Gambler's Life', wiederum eine bür-
gerliche Tragödie (Verfasser unbekannt), aufgeführt 1827 im
Adelphi Theater (Clarence, Stage Cyclopaedia), hat D. einmal
auf der Bühne gesehen (Pemberton, D. and the Stage, 217). Über
Talfords 'Ion' (1835) sagt er 'it never was a populär play' (Le
IV, 220). Brownings 'Blot on the Scutcheon' (1843) lobt er
überschwenglich in einem Brief an den Dichter (Fo III, 45). 'The
Earl of Gowry' (1845) von James White ist für Dickens, wie-
der in einem Brief an den Verfasser, 'a work of most remarkable
genius' (Le I, 160). Von Westland Marston, den er persönlich
kannte (Fo III, 44), erwähnt er die 'Patrician's Daughter' (1841)
in Le I, 84; 'A Hard Struggle' (1858), 'an excellent little play',
sah er zweimal aufgeführt (Le II, 227). In Wilkie Co Hins'
'Lighthouse' (1855) spielte D. den Leuchtturmwärter (Fo V,
66 und Cowden-Clarke, Recollections of Writers 332); in 'The
Frozen Deep' (1857) die Hauptrolle Wardour (Ainger, Lectures
and Essays 204); auf 'Black and White' (1869) geht die Anspie-
lung in Le IV, 250. Simpsons 'Master of Ravenswood' (1865),
eine Dramatisierung von Scotts 'Bride of Lammermoor', hat er ge-
sehen (Pemberton 235); desgleichen 'The Duke'g Motto' von
Br ough am, eine Bearbeitung von Paul Fevals 'Le Bossu' (Pem-
berton 235). Aber 'The White Rose', offenbar ein unbedeutendes
Stück über die Zeit der Rosenkriege, hat er aufmerksam gelesen
und als 'extrem ely good' beurteilt (Le III, 19).
Auch mit der englischen Komödie bekundet D. tiefgründige
Bekanntschaft. Abermals erscheint Shakespeare als sein
Lieblingsautor, dessen Lustspiele er immer und immer wieder
zitiert und dessen 'Merry Wives of Windsor' er 1848 neunmal
mit Freunden aufführt (Fo IV, 167 f.). Viele Stücke dieser Gat-
tung werden ihm die Sammlungen von Dodsley und namentlich
der Mrs. Inchbald vermittelt haben. Aus der ersteren war ihm
offenbar bekannt Robert Green es 'Friar Bacon and Friar
Bongay' (1591); er zitiert: 'For serving as a sort of man Miles
to the Doctor's Friar Bacon' (Bttle o L 365, ed. Nelson, oktav).
Ferner kennt er Ben J o n s o n s bürgerliche Komödie 'Every Man
in His Humor', 1598, die er mit Freunden mehrmals aufgeführt
hat (Fo III, 229, Le I, 240); der 'Alchemist' ist wenigstens er-
Dickeus' Belesenheit 51
Wähnt (Fo IV, 167). Von Fl et eher ist 'The Beggar's Bush',
1622, zitiert (Fo IV, 167); in 'The Eider Brother' (zuerst gedr.
1637) spielte Dickens 1845 bei einer Aufführung (Fo III, 229).
Fieldings ('Tom Thumb', 1730, half er ebenfalls darstellen
(Macmillan's Magazine 1871, S. 2Ü8). Auf IsaacBickerstaf f es
'Love in a Village' (1765) geht die Anspielung 'Hope is said
by the poet . . . to be tlie nurse of Young Desire' (Chzwt I, 280).
Goldsmiths Charakterkomödien 'Good-natured Man' (1768)
und 'She Stoops to Conquer' (1773) lobt er begeistert (Le II, 94).
Sheridans 'Rivals' (1775) und 'School für Scandal' (1777) sind
genannt in Le II, 56, I, 225. 0 ' Haras 'Tom Thumb' (1780) hat
D. für eine Kinderaufführung gekürzt (Ainger 188). Aus Hol-
crofts 'Road to Ruin', 1792, ist 'Young Dorton' anläßlich einer
Dilettantenvorstellung hervorgehoben (Sk 118; Ben 28); aus Col-
mans jun. 'Review or Wags of Windsor', 1798, ist 'Caleb Quo-
teni' (Brewer, Dictionary of Phrase and Fable) gestreift (Am N
175) und aus John O'Keef f es 'Wild Oats' (1798) 'Rovers' ge-
nannt (Sk 118; Ben 28). Aus dem 19. Jahrhundert begegnen
John Tobins 'Honeymoon' (1804); dies hat D. 1837 auf der
Bühne gesehen (Fo I, 173). Thomas Morton: 'The School of
Reform' (zuerst aufgef. 1805) hat er gelesen; 'A Roland for an
Oliver' (1819) hat er 1838 auf der Bühne gesehen und mehrfach
darstellen helfen (Pemberton 98, Le I, 15). In James Kenney s
'Love, Law, and Physick' (1812) spielte D. die Rolle des Flexible
(Fo II, 278). 'Cherry and Fair Star, or the Children of Cyprus',
eine anonyme Romanze in zwei Akten, zuerst gespielt 1822, führte
D. in seiner Jugend mit Schulfreunden auf (Fo I, 102). Von sei-
nem Zeitgenossen John Poole ist 'Paul Pry' (1825) zitiert (Le
IV, 94); von dem damaligen Liebling des Publikums Sheridan
Knowles 'Hunchback', 1832, erwähnt (Fo III, 223); 'Love
Chase', 1837, hat D. auf der Bühne gesehen (Le I, 15). 'Jim
Crow', ein Negerstück, seit 1836 auf der Bühne, wird ebenfalls als
gesehen angeführt in Am N 107. Bulwer: 'Lady of Lyons'
(1838) erwähnt in Le IV, 193; 'Money', 1840, in Le I, 156, gelobt
in Le I, 110. In 'Not so bad as We Seem' (1851) wirkte D. als
Schauspieler (Le IV, 109 f.); er hält es für 'most admirable', ja
besser als 'Money' (Le IV, 110). 'The Captives' hat er 1867 voll
Bewunderung gelesen, offenbar im Manuskript (Le IV, 219 und
Anm.). Dion Boucicaults 'London Assurance' (1841) und die
'Streets of London' (1864) sah D. auf der Bühne (Le III, 173; Fo
V, 303 Anm.); 'The long Strike', 1865, hat er durch Lektüre und
Aufführung kennengelernt (Pemberton 249). In Planches
'Fortunio and his Seven gifted Servants', 1842, spielte D. bei einer
Kinderaufführung (Le II, 90). Buckstones 'Green Bushes,
or 100 Years ago' sah er dargestellt (Pemberton 233); ebenfalls
52 Dickens' Belesenlieit
Charles Read es 'Courier of Lyons, or Attack upon the Mail'
(Pemberton 226), zuerst aufgeführt 1850, Bearbeitung eines fran-
zösischen Stückes von Siraudin und Delacour (Clarence). Von
Tom Taylors 'Still Waters run deep', zuerst aufgeführt 1855,
berichtet Le II, 148. 'Camilla's Husband' von Watts Phillips
sah D. im Entstehungsjahr, 1862, aufgeführt (Pemberton 234).
'Love's Martyrdom', zuerst aufgeführt 1855, von John Saun-
ders ist genannt in Le II, 53 und lobend beurteilt in Le II, 79.
Zu den unbedeutenden Stücken 'The unknown Bandit of the
Invisible Cavern' und 'Tongo the Denounced' (Sk 117, 175) ver-
mochte ich ebensowenig wie Benignus (33) die Verfasser zu er-
mitteln. Auch über ein 1844 gespieltes Stück 'well known at this
time' (Le IV, 67 Anm.), das einen englisch redenden Franzosen
karikiert (Le IV, 66 f.), blieben meine Nachforschungen ergeb-
nislos.
Unter den Possen steht voran Mrs. I n c h b a 1 d s Sammlung
von 'Farces'; D. las sie schon in Chatham (Fo I, 38); in dem un-
gedruckten Schwank 'Animal Magnetism', 1788, derselben Ver-
fasserin trat er als Schauspieler auf (Le I, 239). Weiter sind ge-
nannt Mrs. Charles Kemble (= Marie Therese Kemble, Adams,
Dictionary of the Drama) : 'Day after the Wedding or, A Wife's
first Lesson', zuerst aufgeführt 1808, las D. 1850 (Le I, 241).
Isaac Pococks 'Miller and his Men' (1813) hat er als Knabe
a,uf geführt (Fo I, 102 f.). Schauspielerisch betätigte er sich
ferner in John Pool es 'Deaf as a Post', 1823, in der Rolle des
Gallop (Le I, 79; Pemberton 98); aber als gelesen führt er an
'Turning the Tables' (1829), 'Little Pedlington' (1839), 'aud many
Comic pieces of great merit' desselben Autors (Le IV, 94). James
T. G. Rod well : 'Young Widow or, A Lesson for Lovers', 1824,
hat D. vor 1842 darstellen helfen (Fo II, 278, Fitz-Gerald, D. and
the Drama 12). Auch in R. B. Peak es 'Amateurs and Actors'
(1818) und 'Comfortable Lodgings or, Paris in 1750' (1827) trat
er auf (Theaterzettel in Fitz-Gerald 10 f., Fo IV, 142). Das
Gleiche gilt von P. P. O'C al 1 i n a n s 'Married Bachelor' (Theater-
zettel in Fitz-Gerald 10 f.) und Mrs. Charles Gores (auch be-
kannt als Mrs. Catharine Grace Frances Gore, DNB) 'A good
Night's Rest or, Two o'Clock in the Morning', seit 1839 auf der
Bühne (Fo IV, 142); ebenfalls von Charles J. Matthews' jun.
'Used Up', 1845, einer Bearbeitung des französischen 'L'Homme
blase' (Le I, 228; Scott, The Drama of Yesterday and To-day
Bd. II, Appendix). J. B. Bück s ton es 'Rough Diamond' (1847)
wird wenigstens genannt (Fo IV, 205).
An Operetten erwähnt D. das Erstlingswerk dieser Gattung,
Gays 'Beggar's Opera' (1727) in der Vorrede zu OTw 1837.
Im übrigen erscheinen nur Sheridans 'Duenna' (1775) und
Dickens' Belesenbeit 53
John Hui Iah s 'The Child and the old Man' (Le lA^ 9, 8).
Außerdem hat D. natürlich die in Mrs. Inchbalds 'Farces' enthal-
tenen Stücke dieser Gattung gekannt (Fo I, 38).
Auch das erst 1802 mit Holcrofts 'Tale of Mystery' in Eng-
land einziehende Melodrama (vgl. Arch. f. n. Spr. 124, 349 ff.)
ist Dickens nicht fremd. Aus Mrs. Inchbalds 'Farces' kannte er
Kenneys 'Blind Boy' und 'Ella Rosenberg' (beide 1807) sowie
eine Anzahl anderer, die dort als 'musical drama' oder 'musical
entertainment' bezeichnet sind. Außerhalb der 'Farces' finden
nur Douglas Jerrolds 'Black-eved Susan' (1823) und 'Eent
Day' (1832) Erwähnung (Le I, 121; Fo IV, 167). Daß D. weit
mehr Vertreter dieser Gattung auf der Bühne kennenlernte, darf
wohl aus wiederholten Anspielungen auf melodramatische Auf-
führungen gefolgert werden dSTN I, 122, 409, 429).
Dazu kommen einige Pantomimen. D. erwähnt 'Jack in
the Green, My Lord, My Lady' (Sk 168, 169, 480); Hauptver-
treter der Mayday f estivals auf dem Lande, zuerst von dem 'milk-
people', dann von den 'chimneysweepers' dargestellt; Reste der
Maifeier auf dem Lande (Ben 32). 'Columbine' (Sk 254, 393), in
den Pantomimen die Geliebte Harlekins (Ben 32); 'Valentine
and Orson' (Sk 296, Xm 40. Chzwt I, 401): aus der französischen
Romanze 'Valentin et Orson' (1489), ins Englische übersetzt 1560;
sehr populär durch die Darstellung des Komikers Grimaldi (Ben
33). Weiter sind angezogen 'Punch' (Sk 282), die Hauptfigur der
englischen Puppenkomödie (Ben 33) und 'St. George and the
Dragon' in Sk 381 im Original; dafür in Buchform 'the panto-
mime' (Sk 370; Ben 33). Auf 'Don Juan' scheint die Anspielung
'a sort of journeyman Giovanni' (Sk 295; Ben 33) zu gehen, sicher
aber nimmt darauf Bezug der Vergleich 'like the black friar in
Don Juan' (Chzwt I, 136); möglich ist auch, daß die Anspielung
sich auf W. T. Moncrieffs Burleske 'Giovanni in London or, The
Libertine reclaimed' bezieht, die 1827 zuerst in Szene ging. Nicht
zu ermitteln vermochte ich, welche Pantomime D. am 26. Dezem-
ber 1860 im Covent Garden gesehen hat und als 'dull pantomine'
charakterisiert (Le II, 324 f^).
Was D. vom englischen Drama kennt, liefert zugleich einen
Beweis für seinen Geschmack. Zu den Tragödien und Komödien
literarischer Größen stand er — abgesehen von Shakespeare — in
keinem inneren Verhältnis. Lektüre wie Theaterbesuch bekunden
seine Neigung für die leichte Komödie, in höherem Maße noch
für die Posse, und hier wiederum besonders für Werke seiner Zeit-
genossen. In dieser Hinsicht ist er durchaus der Mann des Volkes
geblieben; das rechte Verständnis für klassische Werte ging ihm
ab, aber mit Wärme erfaßte er das Alltägliche und zeigte seltenen
Sinn für lebensfrische Charaktere und gesunden Humor schwank-
54 Dickens' Belesenheit
-uslicher
artiger Stücke, die er nur zu gern zum Gegenstand na
oder privater Aufführungen gemacht hat. kann
Die Erzählungsliteratur Englands war D., man, ^gj^
sagen, von den ersten Anfängen bekannt, soweit sie zu seinei-^j^j^^
durch Druck zugänglich war. Thomas Mores politischer Ro 5]^
'ütopia', lateinisch veröffentlicht 1516, in englischer Sprache Itgr-
war bereits in seinem Besitz (Dib 298). Den ganzen älteren Rittia,
roman hat er übersprungen; nur gereimte Dichtungen waren g{q
mals gedruckt, und deren Lektüre war für D. schon durch di^
Verschiedenheit der alten Sprache ausgeschlossen. Aber gleici,
die nächste Stufe zugänglicher Romane finden wir wieder in^
Kreise seiner Aufmerksamkeit: die 'Arcadia' des Sidney (1590)
ragte aus der Fülle der Elisabethanischen Prosageschichten her-
vor in seinen Bereich, weil sie immer wieder neu aufgelegt worden
war. D. hat sie zwar nicht besessen, aber gelesen und einmal in
etwas parodistischer Weise zitiert, indem er auf Strephon, den
schmachtenden Liebhaber der Urania, mit den Worten anspielte:
'The Strephon of Cecil Street' (Sk 442; Ben 25).
Mit D e f o e begann zu Anfang des 18. Jahrhunderts der Sie-
geslauf modern-englischer Erzählungskunst. Seinen 'Robinson
Crusoe' (1719) hat D. mehrfach erwähnt (Fo I, 38; Am N 163;
XmC 41) und begeistert gelobt: 'I tookFriday's death asoneofthe
least tender and (in the true sense) least sentimental things ever
written. It is a book I read very much; and the wonder of its
prodigious effect on me and everyone, and the admiration thereof,
grows on me the more I observe this curious fact' (Le II, 163). Er
weiß auch von anderen Erzählungen des Defoe; er nennt 'Colonel
Jacque', 1722 (Fo III, 98) und lobt die 'Political History of the
Devil' (1726) als 'a capital thing' (Fo I, 174). — Swift mit
'Gulliver's Travels' (1726) folgte auch bei D. (Fo I, 244) und
lieferte ihm das Menschenverachtungswort 'Yahoos' (Am N 206).
Er stand bei D. mit in der ersten Reihe der großen Erzähler aus
dem 18. Jahrhundert (Le I, 24). — Diese Meister des Realismus,
mit ihrem Stich ins Derbe und zugleich Spekulative, boten für D.
trotz ganz verschiedener Denkweise ein Element der Lebenswahr-
scheinlichkeit, selbst bei Märchenstoffen, so daß es begreiflich wird,
daß auch D. mit der Zeit von barer Wirklichkeit zu Geister-
geschichten überging.
Neben den großen Romanen des frühen 18. Jahrhunderts
stehen zahlreiche Essays, die mit Steel es 'Tatler' (1709) be-
ginnen (Fo I, 38), in Addisons 'Spectator', 1711, bekanntlich
gipfeln, aber noch in Samuel Johnsons 'Idler' (1758 — 60) glän-
zend weiterblühen. D. hatte diese frühen Essayisten zur Hand
Chandy' Le I, 24) und hob einmal die Genannten hervor (Fo T,
38). Der Einfluß der Zuschauergastalt, wie Addison sie schil-
Dickens' Belesenheit 55
dert. ist bereits in den ersten Versuchen von D. zu beobachten
(Ben 38).
Neben dem feinen, ziselierten Essay gab es zwischen Defoe
und Fielding gröbliche Gattungen, die zwar in den Literatur-
geschichten nicht geführt werden, aber der Aufmerksamkeit un-
seres D. nicht entgingen. Dazu gehört in scherzhafter Art ein
Schwankbuch, herausgegeben 1739 von John Motley unter dem
Titel 'Joe Miller's Jest Book'. Mehrfach hat D. darauf hin-
gewiesen: 'the wandering jew of Joe Millerism' (Sk 272), 'an
Astley-Cooperish Joe Miller' (Sk 387), 'the honourable Mr. Mil-
ler' (Chzwt I, 393). Groteske Verbrechergeschichten standen im
'Newgate Calendar', der seit 1700 in mehreren Ausgaben er-
schien (von Robert Saunders 1764, von J. Cooke 1775). Für die
krassen Verbrechertypen des D. ist es bedeutsam, daß er diese
Rohstoffsammlung friih (1842) erwähnt (Fo II, 185).
Mit dem berühmten Richardson und seinen sentimentalen
Briefromanen wußte D. nichts Rechtes anzufangen: 'no favourite
of niinel' (Le I. 186). Von 'Clarissa Harlowe', 1748, sah er ein
Drama in französischer Aufführung und urteilte über die dar-
stellende Heldin: 'she dies better than the original to my think-
ing' (Pemberton 111/12). Er lächelt über da,s 'Richardsoniau
principle' (Sk 470; Ben 26 f.) und selbst über die Vignetten in
Richardsons Romanen (Sk 436). Rührszenen hat ja D. auch ge-
schrieben; aber die rührselige Vemunftmoral des Pameladichters
fiel ihm doch auf die Nerven; vor solchem Zerfließen in Empfin-
dung und Tränen bewahrte ihn sein modernes Taktgefühl.
F i e 1 d i n g dagegen war nächst den kurzen Charakterskizzen
des Addison für D. der herrlichste Meister. 'Tom Jones' (1749)
stand bereits zu Chatham in der väterlichen Bibliothek (Fo I. 38).
Die Wirkung, die Fielding hier durch die Gegenüberstellung
zweier Jungen und ihrer grundverschiedenen Charaktere erzielte,
ist bei D. auf den ersten Blick zu beobachten, wo er in ähnlicher
Weise einen ungeschickt ehrlichen und einen scheinmoralischen
Knaben einander gegenüberstellt, wie zuerst in 'Oliver Twist'. In
späteren Jahren bekundet D. auch Bekanntschaft mit kleineren
Schriften Fieldings. So sucht er den Schmerz seines Freundes
Marc Lemon über den Tod seines Kindes zu lindern mit einem
Hinweis auf den 'beautiful thought' in Fieldings 'Journev from
this World to the Next' (Bd. 3 der 'Miscellanies'; Le IL l'lO). —
S m ol 1 et mit seiner gröberen Komik sagte D. auch noch zu. 'Ro-
derik Random' (1748). 'Peregrine Pickle' (1751) und 'Humphry
Clinker' (1771) fand D. ebenfalls schon in der Bibliothek des
Vaters (Fo I. 38). Von 'Humphry Clinker' urteilt er: 'certainly
Smollet's best' (Le IL 68). Ob er von seinen übrigen Romanen
'Roderick Random' oder 'Peregrine Pickle' voranstellen sollte,
ÖG Dickens' Belesenheit
war ihm zweifelhaft: 'both [are] extraordinarily good in their
way' (Le IT, 68). — Abermals ist ein abgelegener Erzähler dieser
Spezies und Zeit unserem D. nicht entgangen: Paltock, Ver-
fasser von 'The Life and Adventures of Peter Wilkins, a Cornish
Man' (1751). D. zitiert daraus die 'flj'ing wives' des 'Peter Wil-
kins' (Chzwt I, 390).
Goldsmith stand unter seinen Lieblingen voran (Fo I, 38;
Am N 119). Mit heller Nachahmungslust schreibt er 1844, er sei
'all eagerness to w^rite a story about the length of that most
delightful of all stories, the Vicar of Wakefield' (Fo III, 145).
Aus den kleineren Werken des Goldsmith hat er von der Essay-
sammlung 'The Bee' (1759) berichtet; er erhielt bei seiner Ab-
fahrt aus Chatham ein Exemplar als Geschenk von seinem guten
Lehrer Mr. Giles und 'kept it for his sake and its ow^n' (Fo I,
39 f.). Auch der 'Citizen of the World' (1760—62) und die
'Essays' (1758—65) werden gestreift (Le I, 24; Fo III, 22).
Sterne mit seiner selbstironischen Sentimentalität, der uns
aus Tränen durch ein Wort scharfen Menschenverstandes wieder
ins Gleichgewicht zu bringen weiß, wurde zweimal von Dickens
ernstlich gewürdigt. Auf 'Tristram Shandy' (1759) VI, Kp. 7
bezieht sich der Satz: 'not tears like those with which recording
angels blot their entries out' (Chzvd; II, 86); auf die 'Sentimental
.Tournej' through France and Italy' (1768): 'we were never able
to agree with Sterne in pitying the man who could travel from
Dan to Beersheba' (Sk 58; Ben 28).
Die nervösen Erzählerinnen, die gegen Ende des 18. Jahrhun-
derts in England auftauchten und breite Wirkung entfalteten,
fanden bei D. Beachtung, wenn auch nicht viel Gnade. Auf die
Sittenbilder von mädchenhafter Kleinmalerei, wie sie Miss Bur-
ney z. B. in 'Evelina, or, the History of a Young Lady 's Entrance
into the World' (1788) entfaltet, spielt D. mit den Worten an:
'I have been Walking and wandering all day through a perfect Miss
Burney's Vauxhall of conjectural dark walks' (Fo IV, 65). Die
Leidenschaftsgeschichten der Mrs. Inchbald, 'Simple Story'
(1791) und 'Nature and Art' (1796) machten ihm einen gemisch-
ten Eindruck. Über das Manuskript einer Mitarbeiterin schreibt
er 1866: 'the style . . . sometimes reminds me of Mrs. Inchbald at
her best (Le III, 89). — Der Begründer des Schauerromans,
Horace Wal pole, dem die Erzählerinnen Clara Reeves und
namentlich Ann Radcliffe so viel zu verdanken hatten, läßt D.
kühl. Er kennt sein 'Castle of Otranto' (1764) und vergleicht
dessen Helm mit einem römischen Amphitheater in Verona (Le
IV, 70). Die gruselige Schloß- und Ruinenromantik der Mrs.
Radcliffe wollte er nicht mitmachen. Er kannte ihre 'My-
steries of Udolpho', 1794 (OME II, 297), und fand, daß sie im
Dickens' Beleseuheit 57
übrigen recht viel geschrieben habe: 'Mrs. Fry certainly ought to
have written more romances than Mrs. Radcliffe' (Sk 479). Ihre
allgemeine und immer gleichartige Geheimnistuerei war seiner
männlichen Art nicht sympathisch: 'Cabs whisked about ... as
any mysterious picture in anyone of Mrs. RadclifFe's Castles' (Sk
479; Ben 28). — Auf die feine Sittenschilderin Jane Austen,
die bekannte Verfasserin von 'Sense and Sensibility' (1811),
'Pride and Prejudice' (1813) u. a. wurde D. erst nach 1839 auf-
merksam (Fo I, 208). Sie und die Maria Edgeworth, von denen
Walter Scott mit so viel Bewunderung sprach und lernte, hatten
ihm offenbar nicht viel zu bieten; ebenso Jane Porter, obwohl
ihr romantischer Band 'Scottish Chiefs' (1810) ihm früh in die
Hand fiel (Fo I, 48; Ben 29). — Die verbrecherische Scheinheilig-
keit von Godwins 'Caleb Williams' (1794) widerstrebte D.s
Gerechtigkeitsgefühl; sie findet ein komisches Echo in den Wor-
ten: 'the chimnev-sweeper of the present day is no more than Paul
Pry to Caleb Williams' (Sk 168; Ben 28)."
Über Walter Scott, den Begründer des historischen Romans,
erwartet man mit Spannung sein Urteil; er kennt 'Old Mortality'
(1816) und hebt die Hauptfigur 'Belfour Burleigh' hervor (xlm N
65). Er erwähnt 'Madge Wildfire', eine führende Gestalt in 'The
Heart of Midlothian'. 1818 (Am N 51), und hat vor 1839 die
'Legend of Montrose' (1819) sowie 'Kenilworth' (1821) 'with
greater delight than ever' gelesen (Le I, 24). — Das besagt viel!
Er zieht auch 'Peveril of the Peak' (1823) an (Le L 24), hat also
die Tätigkeit des großen Schotten eingehend verfolgt. In späterer
Zeit finden wir einmal einen Tadel über den Aufbau der 'Bride of
Lammermoor' (1819). aber nicht von D. selbst zu Papier gebracht,
sondern nur ausgesprochen und von Fitz-Gerald (Gentleman's Ma-
gazine 1881, IL 578) bezeugt.
Washington Irving, der gleichzeitig mit Walter Scott die
englischen Leser anzog und durch historische Essaj^s entzückte,
stand auch bei D. hoch in Gunst. Er hat sein 'Sketch Book'
(1820), 'Bracebridge Hall' (1822) und 'Alhambra' (1832) mit
größtem Genuß gelesen, wie er selbst an Irving schreibt (Le IV,
26; Ben 29). Später hat er auch seine 'History of New-York bv
Diedrich Knickerbocker' (1809) gelobt (Am N 91). — Mit dem
englischen Essayisten Charles Lamb, dem Verfasser von 'Elia'
(1823), war er persönlich befreundet (Fo TV. 137). Bekanntschaft
mit Schriften des De Quincej^ bekundet D.s Frage an seinen
Mitarbeiter Thornbury: 'of course you know De Quincej^'s paper
on the Ratcliffe Highway murderer?' (Le III, 102), die sich auf
den Essay 'On the Knocking at the Gate in Macbeth' (1823 im
'London Magazine' erschienen) beziehen dürfte, und zwar auf Mr.
William, der 'on the stage of Ratcliffe Highway' durch 'unpar-
58 Dickens' Bolcsenheit
allelerl murders' unsterblichen Ruhm erwarb (CoUected Writings
of Th. De Quince3% London 1897, S. 390). Die Essaysammlun-
gen, die Leigh Hunt unter dem Titel 'Indicator' (1821) und 'Com-
panion' (1828) herausgab, hat D. zitiert (Le I, 24). Aus diesem
Nährboden erwuchsen ihm die eigenen 'Sketches'.
Die Schule Walter Scotts stand zeitgenössisch neben ihm und
erfährt sein höfliches Lob, vermag ihn aber nicht mehr zu beein-
flussen. Wie er über Bulwers 'Pelham' (1827) dachte, ergibt
sich aus seinem Erstlingswerk, den 'Sketches'. In der ursprüng-
lichen Zeitschriftenfasi^ung der Skizze 'Horatio Sparkins' schrieb
er: 'he talks like a second Pelham' (Ben 30), in der Buchform
aber machte er daraus 'like an oracle' (Sk 368). Anders drückt
sich D. aus, wenn er an den Verfasser selbst schreibt; da urteilt
er über 'A Strange Story' (1862): 'I have a perfect faith in such
a master-hand as yours . . . you whet my interest by what you
write of it' (Le IV, 182). Die Novelle 'Lost Tales of Miletus'
(1866) nennt er in einem Brief an seinen intimsten Freund For-
ster 'a most noble book' (Le II, 86). Man sieht deutlich, wie D.
bestrebt ist, einen Verfasser, der als sein Konkurrent erscheinen
könnte, weder öffentlich noch privatim herabzusetzen. — Von sei-
nem Freunde Ainsworth, der die von Scott begonnene Rich-
tung fortsetzt, ihr aber einen Zusatz von Schauerlichem gibt,
zieht D. die Verbrechergestalt des Dick Turpin aus dem 'Rock-
wood Castle' (1834) und den 'Jack Sheppard' (1839) an (Sk 197).
Den Roman 'Tilney Hall' (1834) des Thomas Ho od, zu dem D.
in persönlichen Beziehungen stand, nennt er in einem Brief an
Forster 'the most extraordinary jumble of impossible extravagance
and especial cleverness' (Fo IV, 22). Noch intimer war seine
Freundschaft mit Wilkie Collins, für dessen Roman 'Basil'
(1852) er schon deshalb 'a high respect' bekannte (Le I, 316).
Seinen späteren Roman 'Hide and Seek' (1854) bezeichnet er in
einem Brief an Miss Hogarth als'a very remarkable book' (Le II,
72). Über seinen weiteren Roman 'Anne Rodway' (1856) hat er
Tränen vergossen, wie er an den Verfasser berichtet (Le II, 169).
Seinen bekanntesten Roman 'The Woman in White' (1860) be-
urteilte er, abermals in einem Brief an den Autor, als 'very
interesting' (Le II, 300). — Cooper, der nach Walter Scotts
Vorgang den Indianerroman aufbrachte, hat D. nur in den Am N
202 erwähnt. Über Allston, den Verfasser der 'Romance of
Monaldi' (1841) schrieb er an Forster: 'Mr. Allston . . . is a fine
specimen of glorious old genius' (Fo II, 170). — An Danas
Seefahrerroman 'Two Years before the Mast' (1840) gefiel D. die
an Defoe anklingende glückliche Verbindung von Romantik und
Realismus : 'a book which I had much praised to him thinking it
like Defoe' (Fo II, 130).
Dickens' Belesenlieit 59
Sobald sich D. über Zeitgenossen ausspricht, kommt es ihm vor
allem darauf an, als gentleman zu erscheinen und ja nicht etwa als
neidischer Kritiker. Die bürgerlichen Erzähler seiner Umgebung
überschüttet er deshalb mit Lob. Über die Frances T r o 1 1 o p e,
Verfasserin von 'Vicar of Wrexhill' (1837), 'Widow Barnaby'
(1838) u. a. schreibt er an sie selbst: 'I am convinced that there is
no writer who has so well and accurately (I need not add enter-
tainingly) described it (nämlich Amerika und die amerikanische
Gesellschaft) in many of its aspects as you have done' (Le I, 87).
Von Douglas Jerrold, der die 'Story of a Feather' (1844) ge-
schrieben hat, berichtet er an Förster, er habe 'derived much enjoy-
ment from it' (Fo III, 145); für die unbekannte Schrift 'The Her-
mit' — es fehlt jegliche Angabe über die Gattung und Autor-
schaft der im 'Illuminated' erschienenen Dichtung — findet er in
einem Briefe an Jerrold warme Worte der Anerkennung (Le I,
164).
Ein weiteres Motiv des Lobes kommt für D. hinzu, sobald es
sich um Mitarbeiter seiner Zeitschriften 'The Household Words'
oder 'AU the Year Round' handelt. An Mrs. G a s k e 1 1 schreibt
er, nachdem ihr Roman 'Mary Barton' 1848 erschienen wnr:
'there is no living English writer whose aid I could desire to
enlist in preference to the authoress of Mary Barton — a book
that most profoundly aflFected and impressed me' (Le I, 230).
Ebenso ist er voll Lobes für Emily Jolly, in Briefen an sie, ob-
gleich ihre Romane 'Wife's Story', 'Mr. Arie', 'The Brook' und
'An Experience' (Le IV, 160, 168, 255) gar nicht in den Nach-
schlagebüchern zu finden sind. Das gleiche Verhältnis finden wir
bei Miss Boyle. Für den Beitrag 'Woodland Gossip' (1864)
spendet er ihr Lob: 'very gracefully and charmingly done. The
right feeling, the right touch; a very neat band, and very true
heart' (Le IV, 201 und Anm.). Eine andere Mitarbeiterin war
Mrs. Clif f ord, die ihm 1868 die Erzählung 'The Abbot's Pool'
geliefert hatte. Er rühmt sie als 'a new beginner' (Le IV, 244)
und glaubt, sie werde nach weiterem Bemühen eine Nachfolgerin
der Mrs. Gaskell werden (Le IV, 245). Den jüngeren Bulwer
ermutigte er zu weiteren schriftstellerischen Versuchen mit den
Worten: 'you can do a great deal more than you think for, with
whatever you touch' (Le IV, 257). Indem er an seine Mitarbeiter
Lobesbriefe richtet, führte deutlich ein wohlmeinender und klu-
ger Redakteursverstand ihm die Feder.
Etwas anderes ist es, wenn er neue Richtungen auftauchen
sieht. Den als Staatsmann wie Schriftsteller bedeutenden D Is-
raeli, der mit 'Venetia' (1836) den ersten Künstlerroman schuf,
erwähnt D. zwar nirgend, besaß aber seine Werke (Dib 298).
Miss Marti neau, die Verfasserin nationalökonomischer Ge-
60 Dickens' Belesenheit
schichten, war ihm persönlich bekannt. Er hat ihre Werke
gelesen, doch sein Urteil steht aus (Fo II, 188, 227). Von Char-
lotte Bronte, die durch ihren rührseligen Erzieherinnenroman
'Jane Eyre' (1847) zur Berühmtheit gelangte, besaß er eine Gesamt-
ausgabe ihrer Werke unter dem Schriftstellernamen Currer Bell
(Dib 298). Sommer villes ' Autobiography o£ a working Man
by one who has whistled at the Plough' (ursprünglich im 'Man-
chester Examiner' erschienen, in Buchform 1848) wird gelegent-
lich genannt (Le IV, 94 Anm.). Auf Thackeray, berühmt
durch seinen 'Vanity Fair' (1848) hielt D. als Vorsitzender bei
einem Essen zu seinen Ehren 1858 eine Rede, worin er besonders
auf 'Vanity Fair' und 'Pendennis' (1850) hinweist und deren
'treasures of mirth, wit, and wisdom' betont (Fo V, 67). Das
/Genie der George Eliot hat er sofort erkannt, als ihre 'Scenes
of Clerical Life' (1858) erschienen, und schrieb darüber an For-
ster: 'Do read them. They are the best thing I have seen since I
began my course' (Fo III, 46). — Von Charles Lever, einem
weniger bedeutenden Erzähler von Militär- und Kriegsromanen,
besaß D. die Romane 'The Daltons, or The Three Roads in Life'
(1852), 'The Dodd Family abroad' (1854), 'The Martins of Cro'
Martin' (1856) und 'Luthrel of Arram', 1865 (Dib49lb Nr. 1890).
— Von dem amerikanischen Novellisten Hawthorne hat er
'Mosses from an old Mause' (1846) mit Begeisterung gelesen (Fo
IV, 219); dagegen hat er an seinem berühmten 'Scarlett Letter'
(1850) eine merkwürdige Ausstellung zu machen: 'the psycholo-
gical part of the story is very much overdone' (Fo IV, 219). Sein
eigener Pinsel hatte mehr volkstümliche Breite, während der des
Hawthorne mehr kunstmäßige Spitze beweist. Als von der Har-
riet Beecher der Negerroman 'üncle Tom's Cabin' (1852) er-
schien, fand D. darin 'many points . . . very admirably done' (an
Mrs. Watson, Le I, 311). Das war mehr nach seinem Geschmack.
Wenn D. mit einem Schriftsteller persönlich bekannt oder be-
freundet war, so hat er natürlich das eine oder das andere Er-
zählungswerk von ihm gelegentlich erwähnt. So zieht er den
Roman 'Ranthorpe' (geschr. 1842, veröffentlicht 1847) des Le-
wes an (Le IV, 95). Chorleys unbedeutenden Roman 'Rocca-'
bella' (1859) nennt er 'a very remarkable book' (Le IV, 175).
Den ihm näherstehenden Charles Reade beglückwünscht er zu
seinem Roman 'Hard Cash' (1863) wegen der 'admirable art'
und 'surprising grace and vigour' (Le III. 41). Von Edmund
Yates ist wenigstens 'Kissing the Rod' (1866) gestreift (Fo VT,
188), und Percy Fitzgeralds 'Fatal Zero' bezeichnet er in
einem Brief an Mrs. James Field als 'a very curious analysis of
mind' (Le IV, 244). _ J •
Von gelehrten Büchern erscheint bei D. nicht viel. Für
Dickens' Belesenheit 61
philosophische Werke hat er nichts übrig, wenngleich Bacons
Werke und Humes 'Essays' (1742) in seiner Bibliothek standen
(Dib 298). Von Bacon fühlte D., daß er mehr wußte, als er
sagen wollte, und hat ihn daher 'deep and decidedly knowing' ge-
nannt (Rdge III, 76). Für philosophisches Denken zeigte D.
keine Neigung, doch haben ihn auf religiösem Gebiet bezeichnen-
derweise die Broad-Church-Ansichten am meisten angezogen.
Sobald Stanleys Buch 'Life and Correspondance of Dr. Arnold'
(von Rugby) erschienen war, rühmte es D. wegen seines religiösen
Gehaltes: 'every sentence you quote from it is the text-book of my
faith' (Fo III, 160 f.). — Literaturgeschichte liegt ihm so fern,
daß er von Disraelis 'Curiosities of Literature' (1791) nur
eine Seite liest (Fo II, 37). Er weiß von der englischen Gram-
matik des Murray (1795) und erwähnt sie in Sk 298 (Ben 30)
und NN I, 84. — Völlig fern liegen ihm auch die Kunstkritiker.
So hat er über Hazlitt gar nichts zu sagen; nur einmal be-
merkt er im Hinblick auf dessen Schrift 'Round Table, On Actors
and Acting' (ed. London 1903, Geo. Bell & Sons, Bd. I, 222, Nr.
XXXVIII), daß niemand von der Gesellschaft mit so viel Liebe
behandelt werde wie die Schauspieler (Sp 100). Von dem geist-
vollen Ruskin werden nur die 'Seven Lamps of Architecture'
(1849) gestreift (Fo IV, 218 f.). Dagegen hat ihm vieles in den
'Essays' (1841) des gedankenreichen Amerikaners Emerson ge-
fallen : 'among much that is dreamy and f ancif ul . . . the is much
more that is true and manly, honest and bold' (Am N 63).
Für rein wissenschaftliche Werke kann sich D. nicht erwär-
men, eher noch für Zeitschriften. Er scheint von Ferguson,
dem Verfasser astronomischer Bücher im 18. Jahrhundert, zu
wissen und spielt auf ihn an (Fo III, 57; Sp. 79). Mit Mrs.
Jane Marcet, die einige naturwissenschaftliche und historisch-
philosophische Abhandlungen geschrieben hat, pflegte er 1846
persönlichen Verkehr in Lausanne (Fo III, 252). — Merkwürdig
ist, wie er über die Wochenschriftenliteratur pseudo-gelehrter
Art gekommen ist. Die ersten dieser Zeitschriften erschienen
in seiner Zeit und haben ihn von Jugend an beschäftigt. Schon
als Schulknabe kennt er das 'Terrific Register' (1825 hg. in
2 Bdn.), dessen Lektüre seine Nerven bis zur Erschöpfung auf-
peitscht (Fo I, 101 Anm.), und die illustrierte Wochenschrift
Tortfolio' (1823 — 26), die er mit Vorliebe während seiner
'blacking-works' kaufte (Langton 77; Ben 29). Auch Con-
stables 'Miscellany' (1827), zitiert in PPp II, 207, ist ihm früh
in die Hände gekommen und ebenfalls eine Art pseudo-gelehrter
Naturgeschichte, Kirbvs 'Wonderful and scientific Museum'
(1802—08), erwähnt in OME III, 93.
Für Biographien hatte D. von jeher ein großes Interesse; ist
62 Dickens' Belesenheit
doch diese Gattung in der englischen Literatur immer berück-
sichtigt und gepflegt worden. Sie setzte schon im 16. Jahr-
hundert ein mit dem 'Book of Martyrs' (1563) des John Fox;
besonderen Eindruck machten D. (= Copperfield) hierin die zahl-
reichen Greuelbilder (Copf I, 194; Ben 25). Unter den Autoren
des 17. Jahrhunderts steht der feine Autobiograph und Oxforder
Gelehrte Robert Burton an der Spitze mit seiner 'Anatomy of
Melancholy' (1621) — in D.s Besitz (Dib 298). Daran reihen
sich die Tagebücher des Evelyn, das ebenfalls in D.s Bibliothek
stand (Dib 298), und des Pepys ; letzteres (1669) ist ihm sogar
ein Lieblingsbuch (Notes and Querias 10, I, 166). Daneben
scheint er irgendeine englische Übersetzung der Lebensbeschrei-
bungen des Plutarch gekannt zu haben, die er einmal zitiert
(OME III, 88). Aus dem 18. Jahrhundert interessieren ihn die
Biographien des 'Annual Register' (1758), das er zweimal an-
zieht (OME III, 74, 93). Mehrfach werden die Briefe des Earl
of Chesterfield an seinen Sohn (1774) erwähnt (Sk 281,
Rdge III, 76, Dby I, 253), und Horace Walpoles Briefe waren
in D.s Besitz (Dib 298). Auch Caulfields 'Portraits, Me-
moirs, and Characters of Remarkable Persons' (1790 — 94) hat er
beachtet und gelegentlich erwähnt (OME III, 93). Dagegen hebt
er unter den Biographen dieses Jahrhunderts mit Recht Bos-
well hervor, der eine neue Art der täglichen Beobachtung und
Aufzeichnung aufgebracht hatte. Auffallend ist, daß ihm dessen
'Life of Samuel Johnson' (1791) nicht zusagt: 'Nobody's con-
tempt for Boswell ought to be capable of increase' (Le I, 201).
Besondere Vorliebe bekundet D, für Biographien des 19. Jahr-
hunderts, namentlich für Sammlungen solcher aus der ersten
Hälfte. Da finden wir das zehnbändige 'Harleyan Miscellany'
(1813) in seiner Bibliothek (Dib 298). Wilsons 'Wonderful
Characters, comprising Memoirs and Anecdotes of the most Re-
markable Persons' (1821) werden einmal zitiert mit den Worten
'Wilson's Characters' (OME III, 93). Ein ähnliches Sammelwerk,
Murrays achtzigbändige 'Eamily Library', fortgesetzt von
Tegg (1847), finden wir abermals in D.s Bibliothek (Dib 298),
und Somner Merryweathers 'Lebensbeschreibungen und
Anekdoten von Geizhälsen' (1850; British Museum, Catalogue of
Printed Books) sind angezogen in OME III, 95, wo auch einige
von ihnen mit Namen genannt werden, wie John Overs, John
Little u. a. Neben diesen Sammelwerken interessieren ihn einige
Einzelbiographien von Zeitgenossen. Die 'Biography of Shake-
speare' (1843) des ihm persönlich nahestehenden Charles K n i g h t
nennt er in einem Brief an ihn 'a charming piece of honest
enthusiasm and perseverance' (Le I, 162), Von John Eorster
streift er einmal die 'Lives of the Statesmen of the Common-
Dickens' Belesenheit 63
wealth' (1839) in Le IV, 95. Für dessen Biographie 'Life and
Times of Oliver Goldsmitli' (1848, in 2 Bdn. 1854) kann D. sich
nicht genugtun in Lobpreisungen und anerkennenden Worten an
den Verfasser: 'impossible to give it too much praise' (Le I, 201).
Es ist bezeichnend, daß sein Biograph sein intimster Freund
wurde. — Ferner wissen wir, daß er das 'Diary' des bekann-
ten Dichter - Biographen Thomas Moore gelesen hat (Macken-
zie 241).
Geschichte interessierte D. gar nicht. In seiner Bibliothek
stand kein Buch historischen Inhalts. Ganz beiläufig streift D.
in einem Brief an Forster ein Geschichtswerk des 17. Jahrhun-
derts: Clarendon, 'History of the Rebellion and Civil Wars in
England', angefangen 1641, 1. Ausg. 1704 (Le II, 301). Daneben
findet sich auf Gibbons 'Decline and Fall of the Roman Em-
pire' (1776, 1781), das D. von der Schule her kennen mochte,
eine ganz allgemeine Anspielung: 'the Roman Empire having
worked out its destruction' (OMF III, 88). Im übrigen erscheint
etwas Sittengeschichte. Von Thomas Dekker besaß D. das
'Guls Hornebooke', 1609 (Dib 298). Über die 'Traditions of
Edinburgh' (1823) seines Zeitgenossen Robert C halmers ist er
entzückt (Le II, 361). Mit Hone, dem Verfasser des 'Every
Day Book' (1828), aus dem er so manches für sein Xm C ge-
schöpft haben mag, ist D. persönlich bekannt und erweist ihm
1842 die letzte Ehre (Fo III, 28 f.). Walter Scotts 'Letters
on Demonology' (1832) werden einmal in Sk 258 angezogen
(Ben 30). Gespannt muß man sein auf Carlyle. Wann finden
wir Carlyle bei D. zum erstenmal erwähnt? Was sagt er über
ihn? D.s erste Äußerung über Carlyle steht in einem Brief an
Prof. Feiton aus dem Jahre 1842. Hierin bekundet unser Dichter
eine seltene Hochachtung vor Carlyle als Charakter, indem er mit
Bezug auf dessen Brief über das internationale Copyright an Feiten
schreibt: 'Carlyle boldly said what all others think, and there-
fore deserved to be manfuUy supported' (Le IV, 31). Daß D. in
späteren Jahren noch weit mehr als in seiner Jugend ein aufrich-
tiger Bewunderer des großen Schotten war, bezeugt Forster mit
den Worten: 'there was no one whora in later life he honoured
so much, or had a more profound regard for' (Fo II, 175). Daher
läßt sich verstehen, daß D. mit Carlyle eine Ausnahme machte
und 1851 sogar ein Geschichtswerk von ihm liest, die 'Frencli Re-
volution', 1837 (Fo IV. 218), deren Lektüre unverkennbar in den
'Hard Times' und der TTC nachgeklungen hat. Umgekehrt stand
auch D. bei Carlyle hoch in Gunst, denn dieser ist seinerseits ein
großer Verehrer von D. gewesen und schätzte besonders dessen
Vorlesungen aus eigenen Werken (Fronde II, 290). — Aus der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begegnet nur Buckle, der
64 Dickens' Belesenheit
bekannte Verfasser der 'History of Civilisation in England'
(1857), den D. nebenbei erwähnt (Le III, 102).
Was sonst noch an gelehrten Büchern bei D. erscheint, verrät
mehr allgemeine Interessen. Im Vordergrunde stehen Reise-
werke, von denen der Dichter eine beträchtliche Anzahl nicht nur
besaß (Dib 298), sondern mit großem Vergnügen las. Forster be-
richtet von einer erstaunlichen Menge von Bücliern über Afrika-
und andere Reisen, für die D. 'au insatiable relish' hegte (Fo IV,
218). Im einzelnen wird von D. nur die Marguerite Pow^er und
ihre Beschreibung einer Reise nach Ägj^pten, 'Arabian Days and
Nights' (1823), gelegentlich angeführt (Le III, 29).
Groß war auch D.s Interesse für Werke über Volkskunde,
Kostüme, Spiele und Sport, wie a.us dem reichhaltigen Schatz
seiner Bibliothek zu folgern ist (Dib 298). Zitate oder Anspie-
lungen auf Werke solchen Inhalts finden sich nicht; die einzige
Ausnahme dieser Art bildet Hovles 'Short Treatise on Whist'
(Sk 474, Ben 30).
Von auß erenglischer Literatur steht voran die Bibel. D.
verrät eine schlichte Kenntnis von vielen Stellen, namentlich des
Neuen Testaments. Dies hat ihn viel beschäftigt und zu regem
Nachdenken veranlaßt. Er schätzte es ungemein und hielt es für
'the best book that ever was or will be knowu in the world . . .
because it teaches . . . the best lessons' (Le III, 249). Aus dieser
Überzeugung erwuchs seine leichtverständliche Darstellung der
'History of the New Testament', die ausschließlich für die Be-
lehrung seiner Kinder bestimmt war und auf Wunsch des Dich-
ters unveröffentlicht geblieben ist (Le III, 282). D. stand durch-
aus auf dem Boden des Neuen Testaments und war ein gläubiger
Sohn seiner Kirche. Zwar waren ihm leere Formen und Zwang in
religiöser Beziehung zuwider, aber das Neue Testament ist für
ihn von 'priceless value' und sein Studium ein 'unfailing guide
in life' (Le III, 239). — Von einem weiteren religiösen AVerk
aus dem Orient, dem Talmud, nennt D. wenigstens den Namen
(Chzwt II, 450). ^ _ ,^.
Im übrigen kannte D. an orientalischer Literatur die wichtig-^';
sten Märchen. So spielt er einmal auf die 'Persian Tales' (übers/"
von A. Philipps aus dem Französischen des Petit de la Croix,
1709) an mit den Worten: 'Abudah, the merchant with the ter-
rible little old woman hobbling out of the box in his bedroom'
(Chzwt I, 78). Die 'Tales of the Genii' (übersetzt von Jamej5
Ridley, 1765) gehörten zu D.s Jugendlektüre (Fo I, 38). Be-
sonders häufig zieht D. die 'iVrabian Nights' Entertainments' an.
Auch diese hat er schon früh kennengelernt, vielleicht in Forsters
(1802) oder Beaumonts Fassung (1810), die damals unter den
verschiedenen Ausgaben am bekanntesten waren (Fo I, 38; Ben
Dickeas' Belesenheit 65
31). Zahlreich sind die Anspielungen auf einzelne Märchen die-
ser Sammlung in D.s Werken. So erwähnt er z. B. 'Alladin's
palace' (Sk 195), 'the Suitana Sheherazade' (Copf I, 120); er
weiß ferner von Nebel, der in seiner dicken Masse dem Rauch
eines arabischen Märchens gleicht, sich aber nicht zu einem
menschlichen Antlitz formt (Dby I, 207), und kennt Edelsteine,
die ihren Glanz verlieren, wenn ihr Träger in Gefahr ist (Dby
III, 123); er führt 'Ali Baba' an (Xm C 40), erwähnt 'Sinbad's
Travels' (Am N 161) und 'Haroun Alraschid' (Am N 281); auch
die Prinzessin der 'Arabian Nights', die durch Besprengen mit
Goldwasser den Menschen ihre frühere Schönheit wiederverschafft,
ist ihm nicht unbekannt (Le I, 95). Die überaus häufigen Hin-
weise auf diese orientalischen Märchen beweisen, wie sehr sich
D. für sie begeistert hat. In ihnen hat er jenes traumhafte, über-
natürliche, mj^stische Geisterelement gefunden, das er mit so viel
Geschick und meisterhafter Kunst in seinem Xm C zu packender
Darstellung verarbeitete.
Was D. von französischer Literatur kannte, ist nicht be-
deutend. An gelehrter Lyrik und Epik enthält seine
Bibliothek nur eine Gesamtausgabe der Werke Berangers und
Lamartines 'Meditations', 1820 (Dib 295). Beide mag er schon
vor seiner Reise nach Frankreich gelesen haben. Während seines
Pariser Aufenthalts knüpfen sich lose Fäden persönlicher Be-
kanntschft zu Lamartine, den D. 'one of the best fellows in the
World' nennt (Le I, 199). Auch den damals schon kränklichen
Romantiker Chateaubriand und den Führer der Parnassiens,
Theophile Gautier, lernt er dort kennen, letzteren noch ehe er
sein Hauptwerk 'Emaux et Camees' (1852) veröffentlicht hatte
(Fo IV, 99).
Seine Kenntnis vom französischen Drama erwarb D. aus-
schließlich während seines Aufenthalts in Frankreich. Auf Pa-
riser Bühnen sah er mit Ausnalune von Voltaire, dessen sämt-
liche Dramen er erst im Sommer 1851 las (Fo IV, 218), nur Dra-
men von mehr oder minder bedeutenden Zeitgenossen. An Tra-
gödien erscheinen von dem älteren Dumas, mit dem D. in
persönlichem Verkehr stand (Fo IV, 99), 'Christine de Suede'
(1827) und 'Kean', 1836 (Fo III, 190, 134); daneben im Jahre
1856 seine Übersetzung des 'Orestes' (Le II, 140). Ferner bot D.
die Bühne Victor Hugos 'Lucrece Borgia', 1833 (Fo IV, 98),
'a very' remarkable and striking play' (LeIV, 86), und 'Ruy Blas',
1838 (Pemberton 236); ebenso 1847 ein neues Drama von Pon-
sard, offenbar 'Agnes de Meranie', 1846 (Fo IV, 98), und im
gleichen Jahre 'La Revolution Frangaise' von Labrousse &
Mallian. Von dem jüngeren Dumas begegnet das Drama 'La
Dame aux Camelias', 1852 (Pemberton 236), und von Henri de
ArchiT f. n. Sprachen. 140. 5
66 Dickens' Belesenheit
Kock, dem Sohn des bekannten Romanschriftstellers, 'Le Para-
dis Perdu', 1855 (Fo V, 127 f.). Wenig erbaut ist D. von Theo-
dore Murets Versdrama 'Michel Cervantes' (1856), das er als
'an infernal dose of ditch- water' bezeichnet (Fo Y, 126). Zu dem
Drama 'Jane Osborue', das D. 1855 im Porte St. Martin gesehen
hat (Le II, 101), vermochte ich den Autor nicht zu ermitteln.
Noch dürftiger ist es mit D.s Kenntnis von Komödien be-
stelllt. An Klassikern erscheint nur Moliere, von dessen Wer-
ken er eine Gesamtausgabe besaß (Dib 295). Manches mag er
daraus schon vor seinem Pariser Aufenthalt gekannt haben. In
Paris selbst sah er nur eine Aufführung des 'Don Juan', 1665 (Le
IV, 86). Bezeichnend ist, daß D. Beaumarchais' 'Barbier de
Seville' (1775) auf einer italienischen Bühne als Oper kennen-
lernte (Fo III, 135). Unter den zeitgenössischen Lustspieldichtern
treffen wir nur Scribe an, den D. persönlich kannte (FoIV, 99).
Was er von seinen Werken kennt, ist ungewiß; bezeugt ist nur,
daß er einer Aufführung von 'Adrienne Lecouvreur' (1849) bei-
gewohnt hat (Pemberton 219).
Mehr Gefallen schien D. an den zeitgenössischen Possen zu
finden — eine Erscheinung, die schon in der englischen Literatur
zu beobachten war. Da begegnen 'Les M^moirs du Diable' (1842)
von Arago & Paul Vermond (Le II, 165); 'Gentil Bernard
ou L'Art d'aimer' (1846) von Dumanoir & Clairville (Le
IV, 85); ferner Henri Murger mit seinem 'Bon Homme jadis',
1852 (Le II, 9). Für M«"^ de Gir ardin s 'La Joie fait Peur'
(1854) findet D. sogar Worte des Lobes; er nennt das Stück 'beauti-
fully imagined' (Le II, 101). Der Schwank 'Les Cheveux de ma
Femme' (1856) von Eugene Labiche & Leon Battu ist für
ihn sogar ein 'uncommonly droll piece' (Fo V, 129). — Hierher
zu zählen ist vielleicht auch ein Stück, das D. in einem Brief vom
28. Januar 1847 mit dem Titel 'English to the Gore' erwähnt
(Pemberton 212). Ich vermochte weder den französischen Titel
noch den Verfasser zu ermitteln.
Im übrigen finden wir noch eine Operette von Adolphe de
Leuven & Brunswick, 'Gibby, la Cornemuse', gedr. 1849
(Fo IV, 99), und die beiden Melodramen 'Le Medecin des Enfants'
(1855) von Bourgeois & Dennery, das D. als 'one of the
very best melodramas' lobt (Fo V, 130 Anm.), sowie Plouviers
'Le Sang Mele' (1856), das er 'a rather good melodrama' nennt
(Fo V, 127).
Was verrät D. von französischer Erzählungsliteratur? Vor
seiner Reise nach Frankreich mag er gekannt haben Rabelais,
der in Urquharts Übersetzung in seiner Bibliothek stand, und L e -
sage, dessen 'Diable boiteux' (1707) und 'Gil Blas de Santillane'
(1715) er ebenfalls besaß (Dib 295); letzteren hat er in Smolletts
Dickens' Belesenheit 67
Übersetzung bereits in Cliatham gelesen (Fo I, 38; Ben 31). Früh
hat er auch den 'Bachelier de Salamanque' (1736) kennengelernt,
denn er zitiert ihn in Chzwt I, 233. Ferner zählen hierher Ber-
nardin de St. Pierre mit seinem 'Paul et Virginie' (1787), worauf
D. schon in seinem Erstlingswerk anspielt mit den Worten: 'like
the picture of Paul — not the Saint — but he of Virginia notoriety'
(Sk 394; Ben 31), und vielleicht Voltaires Romane, wenngleich
Forster ausdrücklich berichtet, daß D. dessen 'minor tales' erst
im Sommer 1851 gelesen hat (Fo IV, 218); dazu M°>« de Stael,
die Verfasserin der Romane 'Delphine' (1802) und 'Corinne'
(1807), sowie des Buches 'De l'Allemagne' (1810), die in D.s
Bibliothek Aufnahme gefunden hatten (Dib 295), Von Honore
de Balzac besaß D. die 'Contes drolatiques', 1837 (Dib 295);
sonst erfahren wir nur, daß er den 'Pere Goriot' (1835) auf einer
italienischen Bühne gesehen hat (Fo III, 134). Auch Paul de
K 0 c k scheint D, schon vor seinem Pariser Aufenthalt zu kennen,
denn Forster berichtet, daß unser Dichter 1851 einige Romane
dieses Schriftstellers las, und bezeichnet sie als 'old favourites
with him' (Fo IV, 218). Alles übrige verdankte D. seinen Reisen.
In Paris gewann, er persönliche Fühlung mit Eugene S u e, George
Sand, Victor Hugo (Dib 295); ferner mit Edmond Ab out,
von dem er einige Werke besaß (Dib 295) und einen einzigen
Roman, 'Le Nez d'un Notaire' (1862) als 'a capital little story'
erwähnt (Fo VI, 69), sowie mit Ernest Legouve und Alphonse
Karr (Dib 295).
An gelehrten Büchern der französischen Literatur finden wir
bei D. eine Gesamtausgabe von Montaignes Werken (Dib
295). Daneben begegnen zwei Geschichts werke: Charles Rol-
lins 'Histoire Ancienne', 1730 — 38, ins Englische übersetzt 1837
(OME III, 88) und Merciers 'Tableau de Paris', 1788 (Fo
VI, 47).
Von den übrigen europäischen Literaturen erscheint nur wenig
bei D. Einzig dem Theater hat er nennenswerte Beachtung zu-
gewandt. So begegnet als Frucht seiner italienischen Reise eine
ungenannte Komödie von G o 1 d o n i , die D. in einem Nach-
mittagstheater in Albaro 1844 gesehen hat (Fo III, 135). — Von
deutscher Literatur hat er Schillers 'Wallenstein' (1799) in
der Übersetzung von Coleridge gelesen (Fo I, 233); von Goethes
Taust' (1. Teil 1808), den ihm Gounods Oper 1859 in Paris ver-
mittelte, erfahren wir sogar sein Urteil: 'a splendid work' (Le
III, 27). Daneben ein einziges Lustspiel, Kotzebues 'Stranger',
das D. 1859 auf einer englischen Bühne gesehen hat (Le II, 64).
— Dazu kommt einiges aus der Erzählungsliteratur. Voran steht
Roscoes bekannte Sammlung von italienischen, deutschen und
spanischen Romanen in Übersetzungen (1825, 1826, 1832); diese
G8 Dickens' Belesenheit
besaß D. (Dib 298). Den satirischen Ritterroman 'Don Quixote'
(1605) des Spaniers Cervantes hatD. schon in Chatham, wahr-
scheinlich in Smolletts Übersetzung (1775), gelesen (Fo I, 38;
Ben 31). Selbst ein russisches Bändchen treffen wir an, nämlich
die 'Nouvelles Eusses' (1845) des Nicolas Gogol, die D. in der
französischen Übersetzung des Louis Viardot kennen lernte (Le
IV, 221). Mit dem berühmten dänischen Märchendichter An-
dersen ist D. sogar persönlich bekannt (Lell, 185); seine Schrif-
ten kennt er schon 1847 und schätzt sie: 'the Dane whose books
I honour' (Le I, 193).
Schließlich ist noch eine Gattung zu erwähnen, die zwar auf
D.s dichterisches Schaffen im allgemeinen ohne Einfluß geblieben
ist, aber als wesentlicher Bestandteil seiner künstlerischen All-
gemeinbildung Beachtung verdient. Es ist dies die Oper. Für
diese bekundete D. schon in jungen Jahren großes Interesse, er-
freute sie sich doch gerade zur Abfassungszeit seiner 'Sketches'
in London größerer Beliebtheit als je zuvor. Von den zahlreichen
Darbietungen dieser Art auf Londoner Bühnen zu seiner Zeit er-
wähnt D. Mozarts 'Don Juan' (1787) mit den Worten: 'rising
from his chair like the ghost in Don Juan (Sk489; Ben 31). Auf
'Blaubart' geht die Anspielung: 'sufficient«information for the
most Fatima-like curiosity' (Sk 142), doch läßt sich nicht er-
weisen, ob D. das Singspiel 'Blue-Beard or Female Curiosity'
(1798) des jüngeren Colman oder die damals gleichfalls sehr be-
liebte Oper 'Raoul, chevalier Barbe-Bleue' von Gretry im Auge
hatte; es ist sogar möglich, daß 'Blaubart' schon um jene Zeit
eine Pantomime war (Ben 32). Beethovens 'Geschöpfe des
Prometheus' (1801) scheinen angezogen zu sein mit den Worten:
'the Ouvertüre to The Men of Prometheus' (Sk 431; Ben 32). Die
damals sehr beliebte Oper 'Paul et Virginie' (seit 1789 mit italie-
nischem, 1791 mit französischem und 1800 mit englischem Text)
ist genannt in Sk 410 (Ben 32). Den berühmten italienischen
Komponisten Rossini kann D. in den dreißiger Jahren in Lon-
don persönlich gesehen haben. Von seinen Opern nennt er die
Ouvertüre zu 'Tancredi' (1813) in Sk 124; aus 'La Gazza ladra'
(1817) zieht er die Arie 'Di piacer' an (Sk 296; Ben 32). Die
Oper 'Clari or The Maid of Milan' (zuerst aufgeführt 1823) des
Amerikaners Howard Payne wählte D. sogar zu einer häus-
lichen Aufführung im Jahre 1833 (Fitz-Gerald 10/11, Theater-
zettel). Aus Aubers 'Muette de Portici' (1828) erwähnt er 'Ma-
saniello', dessen Schwester 'Fanella' und die Arie 'Behold how
brightly breaks the morning' (Sk 426; Ben 32). — Dazu kommen
einige Opern, die D. auf seinen Reisen nach Italien und Frank-
reich kennen lernte. So sah er Glucks 'Orphee et Euridice'
(1774) in Paris (Fo V, 136), Rossinis 'Mose in Egitto' (1818)
Dickens' Beloseuheit 69
in Rom (Fo Y, 83). Auch Verdis 'Trovatore' (1852) vermittelte
ihm sein italienischer Aufenthalt (Le II, 30); ferner die Opern
'Scaramuccia' und 'II Pirato', deren Verfasser ich nicht zu er-
mitteln vermochte. Abermals auf französischem Boden wohnte
er im Winter 1855/56 der Aufführung einer ungenannten Oper
von Auber und Scribe bei (Fo V, 134), und in der gleichen
Spielzeit sah er Scribes 'Manon Lescaut' (1856); hier erfahren
wir sogar sein Urteil: 'delightful music, an excellent story ...
charming throughout' (Fo V, 135).
c) Kritische Grundsätze.
D. hat nie systematisch über Kritik gegrübelt, noch kritische
Aufsätze verfaßt. Alle seine literarischen Urteile kommen aus
dem Gefühl und in gelegentlichem Ton, meist als leicht hin-
geworfene Bemerkungen. In seinen Werken begegnet man ihnen
nur ganz vereinzelt; am meisten sind sie in seinen Briefen an-
zutreffen. Anerkennung, ja Bewunderung überwiegt den Tadel
und kommt oft in einer Reihe von parallelen Ausdrücken hervor-
gesprudelt; absprechende Urteile erscheinen fast stets in wohl-
wollender Form und ohne jede Härte, des öfteren verbunden mit
einem Worte des Trostes und der Ermutigung, der Belehrung und
des Rates an den Kritisierten.
Was D. an kritischen Äußerungen bietet, ist so spärlich —
ganz besonders für das 16. und 17. Jahrhundert — , daß sich
daraus irgend etwas wie eine Ästhetik nicht aufbauen läßt, aber
es genügt, um einen lehrreichen Einblick in seine Hauptprinzipien
zu eröffnen.
Großen Wert legt er auf die Gestaltung. Sie muß sein
nervous, picturesque, imaginative, original. Daher seine Begeiste-
rung selbst für mittelmäßige Leistungen, wenn sie diese Eigen-
schaft haben wie Ebenezor Jones' Gedichte 'Studies of Sensation
and Event' (Le IV, 67; vgl. oben S. 49,), für die Posse 'La Joie
fait Peur' Cbeautifully imagined' Le II, 101) der W°^ de Girar-
din, Westland Marstons Drama 'Hard Struggle' (Le IT, 227) und
Wilkie Collins' Roman 'Valentine Blyth' ('original' Le II, 68).
An Crabbe hingegen, der sich oft mit bloßen Charaktertypen in
trockenem Ton begnügte, mißfällt ihm 'a dreary want of fancy
in his poems', obgleich er ihn in jungen Jahren als Realisten hoch-
schätzte (Fo IV, 128).
Von entscheidendem Einfluß auf sein Urteil ist ferner die
Führung der Handlung. Was er von ihr fordert, ist cle-
, verness, interest, capital situations. So erklärt sich, daß er Thomas
Hoods 'Tilnev Hall' mit warmen Worten lobt ('especial cleverness'
Fo IV, 22), Wilkie Collins' Roman 'Hide and Seek' ('the cleverest
novel I have ever seen written . . .' Le II, 68) und Bulwers Lust-
70 Dickens' Bolesenheit
spiel 'Not SO bad as We Seem' begeistert preist ('strong in iuterest,
rieh in capital situations' Le IV, 10), während er Milton als lang-
weilig wegschiebt ('good, though prosy' Rdge III, 76) und für
den Autor der handlungsarmen 'Pamela' nichts übrig hat ('no
favourite of miue' Le I, 186).
Den Stoff beurteilt er im wesentlichen nach Gefühl,
Moral, Lebenswahrheit. Wendungen wie lovely, deeply,
effecting, terrihle, genuine force gehen auf das Gefühl, noble auf
die Moral, true, admirahle personation , analysis of mind, picture
of the Urne u. a. betonen die realistische Darstellung, Wo senti-
mentaler Inhalt, edles Wollen und wahrscheinliche Einkleidung
zusammentreffen, kann D. in Entzückung geraten, z. B. über
Brownings 'Blot on the Scutcheon'; er nennt das Drama 'lovely',
voll von 'most earnest feeling', 'deeply effecting', ferner 'füll of
the best emotion, profouud and yet simple and beautiful in its
vigour', endlich 'true' (Fo III, 45). Eine gemütvolle Mädchen-
gestalt wie Collins' Anne Rodway kann ihn rühren als 'admirable
personation of the girl's identity' (Le II, 169). Der hochsittliche
'Vicar of Wakefield' ist ihm 'the most delightful of all stories'
(Fo III, 145). Goethes 'Faust' bezeichnet er wegen seines hoch-
moralischen und gefühlvollen Inhalts als 'noble and sad story'
(Le III, 25). Wiederum die Moral, dazu das große Empfinden
gefällt ihm an Emersons 'Essays'; er lobt sie daher als 'true and
manly, honest and bold' (Am N 63). Lebenswahre Darstellung
kann selbst mittelmäßige Leistungen ihm schmackhaft machen.
Daher bewundert er Miß Jollys 'Wife's Story' als 'great merit
and unusual promise' (Le IV, 160). Was endlich realistischen
Inhalt betrifft, konnte D. den Tod Freitags bei Defoe nicht oft
genug lesen (vgl. oben S. 54).
Dazu gesellte sich bei D. ein eigenartiger Sinn für Humor.
Dieser allein ergötzt ihn in Addisons 'Spectator', an Leigh Hunts
'Indicator' und 'Companion', an Irvings 'History of New- York
by Diedrich Knick erbocker'. Dabei kein Wort über das Wesen
dessen, was er Humor nennt; man mag es aus seinen Mustern
ahnen; eine Definition hat er gar nicht versucht.
In manchen Briefen ergeht sich D., offenbar um dem An-
geredeten eine Freude zu machen, in ganz allgemeinen Aus-
drücken, wie genius, merit, interest and admiration. Wir dürfen
diese nicht zu ernsthaft nehmen. Sie zeigen, daß er da gar keinen
Anspruch auf charakteristisches Urteil erhob.
Aus dem Ganzen ergibt sich, daß D. trotz ungünstiger Bil-
dungsverhältnisse es verstand, von seinem Schaffensgebiet alles
Wichtige kennenzulernen. Darin verrät sich eben seine Begabung,
daß er seine Aufmerksamkeit mit aller Macht auf das richtete,
Dickens' Belescnheit 71
was er selber konnte. Mit Einflüssen seiner Vorgänger ist daher
in weitestem Umfang zu rechnen. In seinem Urteil ließ er sich
vom Gefühl leiten. Verstandeskategorien verrät er nahezu keine.
Irgendeiner Schule aus Nachdenken und Absicht sich anzuschlie-
ßen, lag ihm völlig fern. Er war Psychologe von Natur aus und
hat das Beispiel psychologischer Erzähler, die ihm vorausgingen,
lediglich instinktiv erfaßt. Erzähler, die es anders machten,
suchte er in seiner Art zu schätzen und hat sie jedenfalls neidlos
gelten lassen. Kunstmäßigen Richtungen gegenüber blieb er kühl.
Wer, wie er, auf das Volksmäßige, das Warme, das Massive ging,
der war ihm ein Gegenstand aufrichtiger Bewunderung. Daneben
gab es für ihn auch eine bloße Höflichkeitsbewunderung, die be-
sonders dann herauskam, wenn er Dankesbriefe an Lebende zu
schreiben hatte.
Berlin-Steglitz. Fritz Fiedler.
Der Diälogo de Mugeres von 1544 und seine
Bedeutung für die CastillejoForschung.
Tjlerdinand Wolf hat vor einigen 70 Jahren in einer Kloster-
A kirche zu Wiener-Neustadt einen Grabstein entdeckt, aus
dessen Inschrift hervorgeht, daß dort im Jahre 1550 der Clarissi-
miis a Consiliis et Secretis intimis Serenissimi Fernandi Romano-
rum et Germanie Regia Christophortis Castillegius natione Hispa-
pus zur Erde bestattet wurde.^ Der schlichte Grabstein läßt nicht
vermuten, daß der geheime Sekretär des Königs auch einer der
liebenswürdigsten spanischen Poeten, einer der schalkhaftesten
Satiriker seines Jahrhunderts war. Um 1490 zu Ciudad Rodrigo
geboren, befand sich Christöbal de Castillejo seit 1508 im Gefolge
des Infanten Ferdinand, mit dem er 1518 Spanien verließ, um nie
wieder dorthin zurückzukehren. Seine Verse sind wahrscheinlich
zum größten Teil am österreichischen Hofe entstanden. Einer
schönen jungen Wienerin, dem Fräulein Anna von Schaumburg,
gehörte auch seine einzige platonische Liebe, von der wir Kunde
haben. Im übrigen läßt sich aus seinen Gedichten nicht viel mehr
über sein Leben entnehmen, als daß er einmal nach Venedig kam,
und daß seine letzten Jahre durch Krankheit und Entbehrungen
verdüstert waren.
Die formelle Bedeutung des dichterischen Lebenswerkes Ca-
stillejos beruht in seinem mit Überzeugung und zäher Ausdauer
geführten Kampfe gegen die Nachahmung der italienischen Vers-
formen, deren unbestrittene Meister seine Landsleute Boscan,
Garcilaso und Mendoza waren. Die rein gefühlsmäßige Bewer-
tung seiner Dichtkunst anderseits stützt sich auf den unnachahm-
lichen Reiz seiner zierlich-munteren Verse, auf die treffende
Schärfe seiner Gesellschaftssatire und nicht zuletzt auf die un-
sägliche Zartheit seines Empfindens überall da, wo er sich in rein
lyrischen Gedankengängen bewegt. Von dem ersten dieser drei
Vorzüge gibt jedes beliebige seiner Gedichte beredtes Zeugnis,
der zweite wird am lebendigsten in dem Werke, dem die gegen-
wärtige Studie gilt, für den dritten aber möge die nachstehende
Probe (ein paar seiner schönsten sensitiven Strophen samt Ema-
nuel Geibels trefflicher Verdeutschung)^ selber sprechen.
1 Wolf hatte aus verschied<^nen Gründen die Zahl für 1556 gelesen. Nun-
mehr st«ht endgültig fest, daß 1550 das richtige ist. Vgl, C. L. Nicolay,
Life and Works of Castillejo (Philadelphia 1910] S. 28/30.
* Spanisches Liederbuch (1858) p. 38.
Der Dialogo de Mii^gere^ v. 1544 u. s. Bedeutung f. d. Castillejo-Forschung 73
Alguna vez, Dereinst, dereinst
0 pensamiento, Gedanke mein
Seräs contento. Wirst ruhig sein.
Si amor cruel Läßt Liebesglut
Me hace la guerra, Dich still nicht werdeo:
Seis pies de tierra In kühler Erden
Podrän mas que 61. Da schläfst du gut;
AUi sin 61, Dort ohne Liebe
y sin tormento Und ohne Pein
Seräs contento. Wirst ruhig sein.
Lo no alcanzado Was du im Leben
En esta vida. Nicht hast gefunden.
Ella perdida Wenn es entschwundea
Sera hallado. Wird dir's gegeben.
Que sin cuidado Dann ohne Wunden
Del mal que siento Und ohne Pein
Seräs contento. Wirst ruhig sein.
Ludwig Lemcke^ bemerkt zu dem kleinen Poem, solange es ein
Gefühl für echte Poesie gebe, werde dieses unübertreffliche Ge-
dicht Hunderte von petrarkisierenden Sonetten aufwiegen, und
ich wüßte wahrlich nicht, wie man besser über diese und manch
andere der kleineren und größeren Dichtungen Castillejos ur-
teilen könnte.
II.
Mit vielen anderen spanischen Autoren hat Castillejo das
tragische Los gemeinsam, daß er durch die Verblendung gewisser
untergeordneter Vollzugsorgane der Inquisition um den größten
Teil seines Ruhmes bei der Nachwelt gebracht worden ist. Juan
Lopez de Velasco und Blasco de Garay, so hießen die zwei un-
seligen Geisteskastraten, die von Amts wegen die in Spanien er-
scheinenden und erreichbaren Werke Castillejos vor deren Ver-
öffentlichung zu reinigen und zu bessern hatten. Soweit wir die
Sache bis heute zu übersehen vermögen, sind es besonders zwei
Dichtungen Castillejos, deren Verstümmelung sie auf dem Ge-
wissen haben: einmal der Sermon de amores und dann der Didlogo
de Mugeres, jedes in seiner Art eine der glänzendsten frauenfeind-
lichen Satiren der Weltliteratur. Wären nicht noch zu Lebzeiten
des Dichters die beiden Werke, das erstere 1542 ohne Ortsangabe,
das letztere 1544 zu Venedig, in ungekürzten Originalausgaben
erschienen, so würde uns überhaupt für das, was uns an Castillejo-
Versen durch das Walten jener beiden Zensoren zu Verluste ging,
jeglicher Maßstab fehlen. Aber auch trotz dieser Originaldrucke
, ist Castillejo die Jahrhunderte hindurch nur in expurgierten Aus-
gaben veröffentlicht, gelesen und kritisiert worden, denn die Ori-
ginale fielen wiederum zum größten Teil der Inquisition zum
Opfer.
^ Handbuch II, 290.
74 Der Diölogo de Mugeres v. 1544 u. s. Bedeutung f. d. Castillejo-Forschung
Vom Sermon de amores sind in der Ausgabe von 1542, die vor
kurzem Foulche-Delbosc in einem sorgfältigen Neudruck zugäng-
lich gemacht hat,^ ganze zwei Exemplare bekannt, die aus den
Bibliotheken Heber bzw. Salva stammen, und deren eines das
Britische Museum besitzt. Das Original des Dinlogo de Mugeres
von Venedig 1544 ist nach Duräns Äußerung in Spanien soviel
wie unauffindbar^ und auch im Britischen Museum und in der
Pariser Nationalbibliothek nach Ausweis der gedruckten Kata-
loge nicht vorhanden.^ Das neueste bibliographische Werk zur
spanischen Druckgeschichte,* das die von 1500 bis 1700 außer-
halb Spaniens gedruckten Bücher spanischer Autoren verzeichnet,
vermag für das 16. Jahrhundert etwas über 100 einschlägige
Drucke, und zwar allein für Venedig nachzuweisen, kennt jedoch
den Didlogo von 1544 nicht. Ich schließe daraus, daß der Druck
auch auf italienischen Bibliotheken nicht oder nur ganz vereinzelt
zu finden ist. Ebensowenig scheint die Wiener Hofbibliothek,
diese unerhört reiche Schatzkammer spanischer Drucke, in seinem
Besitz zu sein, da der in diesen Dingen peinlich genaue Ferdinand
Wolf bei Besprechung der Werke Castillejos^ den Druck mit kei-
nem Worte erwähnt. Unter den Bibliotheken Deutschlands ist
die Münchener Hof- und Staatsbibliothek die einzige,^ die ein
Exemplar dieses kostbaren Castillejodruckes, und zwar aus der
Sammlung Johann Jakob Fuggers, ihr eigen nennt.
Diese Seltenheit, die bei Werken, die der Inquisition zur
Beute wurden, durchaus nicht ungewöhnlich ist, erklärt es auch
hinreichend, warum das Original des Didlogo de Mugeres bis
heute in seiner Bedeutung für die Wiederherstellung des Lebens-
werkes Castillejos so wenig zur Geltung kam. In der Tat wurde
eine Ergänzung des expurgierten Didlogo erst ein einziges Mal
versucht. Salva fand als erster heraus, daß eine bestimmte Ve-
netianer Ausgabe von 1553 eines Werkes des Juan de Segura'
1 Revue hispanique Bd. 36 (1916), p. 509 ff.
' Romancero general Bd. 1 (1877), p. LXIII: ni por asonios hemos podido
ver ninguna.
* Da der Pariser Katalog der Auteurs auch les ouvrages anonymes dont
Vauteur peut etre indiquS umfaßt, so müßte der Druck, falls er vorhanden
wäre, unter Castillejo verzeichnet sein.
* H. Vaganay, Bihliographie hispanique cxtrn-p^ninsulaire. Revue hispa-
nique Bd. 42 (1918), pag. 1—304.
» F. Wolf, CastiUejos Lohspruch der Stadt Wien. Separatabdr. aus
Jahrg. 1849 der Wiener Sitzungsberichte, pag. 10. Vgl. ferner Wolfs An-
merkung zu Ticknor, Deutsche Ausgabe I, 393/94.
* Das Auskunftsbureau der Deutschen Bibliotheken hat ein zweites
Exemplar nirgend nachzuweisen vermocht.
' Proceso de cartas de amores que entre dos amantes pasaron; con vna
rnrfa del avthor para vn amigo suyo pidiendole consuelo, y vna quexa y
auiso contra Am^r. Assimesmo hay en este libro otras excellentissimaa
Dor Dittlogo de Mugcres v. 1544 u. s. Bedeutung f. d. Castillejo-Forschung 76
einen weit vollständigeren Text des Didlogo de Mugeres enthielt,
als er in allen späteren Ausgaben der Werke Castillejos zu lesen
war. Er druckte den fehlenden Teil (525 Verse) unter Nr. 1676
seines Catalogo ab, hatte jedoch zu genaueren Feststellungen
keine Gelegenheit, da auch ihm das Original von 1544 unzugäng-
lich blieb. Das Nächstliegende war nach dieser Entdeckung
Salvas, daß man annahm, der Text des Didlogo in der veneziani-
schen Segura- Ausgabe von 1553 sei nichts anderes als ein Nach-
druck eben dieses, anscheinend am gleichen Ort einige Jahre vor-
her (1544) erschienenen Castillejoschen Originales. Die tatsäch-
lichen Verhältnisse liegen jedoch anders. Auch der Text
des Didlogo in der Segura -Ausgabe ist bereits
zensiert und von allen sittlich und religiös ver-
fänglichen Stellen sorgfältig gereinigt, wie ich
auf Grund eines genauen Vergleiches der bei Salva gedruckten
Verse mit dem entsprechenden Abschnitte des Originals von 1544
feststellen konnte. Es bleibt demnach als ursprünglicher und
unverfälschter Text des Didlogo einzig und allein jener der Erst-
ausgabe von 1544, den uns das Münchener Exemplar in so glück-
licher Weise erhalten hat.
Die Bedeutung des ungekürzten Textes gegenüber den ex-
purgiert.en Drucken läßt sich am besten ermessen an einem Ver-
gleich des ersteren mit jener Ausgabe des Didlogo, die bis jetzt
als die vollständigste galt, und die zudem den Vorzug hat, daß sie
überall leicht zugänglich ist. Ich meine die von Adolfo de Castro
in Band 32 der Bihliotheca de Äutores espanoles (Madrid 1854)
veranstaltete Sammlung von Poetas liricos de los siglos XVI y
XVII, die auf Seite 180 bis 205 des ersten Halbbandes den Did-
logo zum Abdruck bringt. Wenn ich das Original der Kürze
wegen mit 0 und den Text bei Castro mit C bezeichne, so stellt
sich das Verhältnis beider (mit Auslassung aller nebensächlichen
Textvarianten) folgendermaßen dar.
1. In C finden sich sechs aus 0 zu ergänzende Lücken:
Lücke I (= C pag. 183, Sp. 2, nach Vers 44; O fol. 9/9^):
De aqui viene y assi auria
que si algun principe tiene cien mil otros a porfia,
desmandados apetitos, que si osassen dexarian
stiele jugar a dos hitos sus mugeres, o harian
sin que nadie le condene, nueua ley de bigamia . . .
Lücke U(= C pag. 187. Sp. 1, nach Vers 40; 0 fol. 17/17^):
que llegan por sus renglones en que los nouios ee ensayan,
a leer: y antes que al talamo vayan,
los secretos del plazer, saben lo que puede ser . . .
carta^s que allendc de su ditlae y pulido estülo cstan escriptas en reffranes
traydos a proposito. Y al cabo se hallara vn Dialogo muy aahroso que habla
de las mugeres. Venetia M.D.LIII.
76 Der Didlogo de Mugerc^ v. 1544 u. s. Bedeutung f. d. Castillejo-Forscliuug
Lücke III (rr: C pag. 192, Sp. 1, nach Vers 57; 0 fol. 28^);
y de hecho:
no mirando mas derecho
poner en exeeuciön
lo que con la tentacion
acordaron en el lecho .
Lücke IV (= C pag. 192, Sp. 2, nach Vers 5; 0 fol. 28^'bis29^0:
ni el cuydado
de ver y tentar el vado
por dissimuladas vias:
con que las mensajerios
tengan su cierto recaudo:
y en ausencia,
quando para mas audiencia
estan las puertas cerradas:
van Carlas enamoradas
escritas por excelencia:
con sospiros:
requiebros: puntos: y tiros:
sotilezas y primores:
quales en caso de amores
yo no basto a referiros:
bien que enpece:
que alguna vez acaece:
yr sus razones polidas
enpleadas y perdidaa
donde no se les merece:
con razon
vencidas de la passion
aruynes hazen fauores:
admitiendo seruidores
de qualquiera profession
que se rapa
a veces de la del papa
otras del pano pardillo:
no desechando capillo:
sino pueden auer capa:
y atras esto
luego se sigue muy presto
la gana de bien vestirse:
de afeitarse y de polirse
acecalando su gesto
con la vna:
por que cumple que se brufia
la que piensa amar no en. balde:
y por esso el alua y aide
se platica en catalufia
con colores:
y otras cosas ay peores
que OS podria referir:
y las dexo de dezir
por honrra de los autores . . .
Lücke V (= C pag. 202, Sp. 2, nach Vers 2; 0 fol. 52^):
ni formado: para el quäl en este mundo
para quedar despojado quanto al cuerpo fue criado
de plazer tan sin segundo:
Lücke VI (= C pag. 205, Sp. 2, nach Vers 28; 0 fol. 60):
mejor fuera:
si la ley lo permitiera
la cual en esto fue manca:
que fuera comun y franca
la henbra a quien la quisiera :
o comprara:
porque con esto quedara
el hombre en su possession :
y ella puesta en subiecion:
no no3 vendiera tan cara
su maldad:
mas teniendo libertad
de herirnos peligramos:
y esso poco que gozamos:
es con grau difficultad . . .
2. In C sind verschiedentlich einzelne Verse durch andere,
vollständig neue ersetzt. Man vergleiche folgende Stellen, wobei
die ausgemerzten Verse durch Kursivdruck bezeichnet sind:
C pag. 190, Sp. 1, Vers 23.
Alguna que aunque profesa,
Tomaria por partido
Servir mas a su marido
Que obedeoer su abadesa.
O fol. 2.3V/24.
Alguna que aunque profesa,
Tomaria por partido
Eatar mas so su marido
que encima de su ahadeaaa.
Der Didlogo de Mugeres v. 1544 u. s. Bedeutung f. d. Castillejo-Forschung
77
C pag. 190, Sp. 1, Vers 48.
Y querrian muchas horas
Verse mas en sus posadas,
Por aventura casadas,
Que quiza verse prioras
Del convento
Porque sobre el fundamento
De nuestra natura humana
Les acrecienta la gana . . .
C pag. 190, Sp. 2, Vers 57.
Dios OS guarde
Del mal que en algunas arde
C pag. 190, Sp. 2, Vers 8 von unten.
Despues que una vez airadas
Se desaman o baldonan,
Con dificultad perdonan
Aunque vayan inclinada-s,
Sometidas ;
AI sacramento rendidas,
Queriendole rescibir,
Algunas podria ser ir,
No del todo arrepentida.s,
Perdonando.
No hay sana de ningun moro
Que haga tal impresion . . .
C pag. 192, Sp. 2, Vers 26.
Una vi
En cierta tierra do fui
Vecino dos anos buenos
Con un hombre muy de menoe
A quien dio parte de si;
Y tan dada,
Que siendo nionja encerrada,
Forzosamente alli puesta . . .
0 fol. 24.
Y querrian muchas horas
Verse mas en sus posadas,
Con qualquier hombre casadas
Que llegar a ser prioras
Del convento
Porque sobre el fundamento
De SU natura liuiana
Las acrecienta la gana . . .
0 fol. 25r.
Dios OS guarde
Del fuego que entrellas arde . .
0 fol. 25v.
Despues que una vez ayradas
Se desaman o baldonan,
Nunca jamas se perdonan
Aunque vayan inclinadas,
Sometidas;
AI sacramento rendidas,
Queriendole recebir,
Confessadas pueden yr,
Pcro nunca arrepentidas,
Perdonando.
No hay sana de ningun moro
Contra nuestra religion . . .
0 fol. 29v,
Una vi
En essa Valladoli
Madre de hijos ajenos,
Con vn hombre muy de menos
A quien dio parte de si;
Y tan dada,
Que siendo monja encerrada.
Noble, hermosa y honesta . . .
Wo dem Zensor ganze Strophen zum Opfer gefallen sind,
enthielten sie, wie man sieht, Anspielungen auf die Bigamie der
Fürsten, auf den außerehelichen Beischlaf, auf die Liebestände-
leien mancher zuchtloser Nonnen, auf die Fleischeslust als den
Hauptzweck des menschlichen Körpers, und schließlich auf die
Vorteile eines Gesetzes, das gestatten würde, die Frauen nach
Bedarf und Belieben zu kaufen und zu verkaufen. Wo einzelne
Verse ausgemerzt und durch andere, zum Teil mit vollständig
verschiedenem Inhalt, ersetzt wurden, waren sie entweder gefähr-
lich für Religion und gute Sitte, oder sie enthielten allzu deut-
liche Hinweise, wie zum Exempel der Vers, in dem als Schau-
platz der erwähnten Vorgänge die gute Stadt Valladolid ge-
nannt wird.
78 ßer Didlogo de Mugeres v. 1544 ii. s. Bedeutung- f. d. Castillejo-Forscliung
Daß der InquisitionsgrifFel den kecken Didlogo so gründlich
zusammenstrich, darf uns nicht wundernehmen. Verfehlt wäre
es indes, nun, nachdem der unzensierte Text wieder aufgetaucht
ist, den Autor als Pornografen oder zuchtlosen Sittenverderber
zu brandmarken. Ich brauche wohl kaum darauf hinzuweisen,
daß die von uns ausgehobenen Verse nur im Zusammenhang des
als Gesellschaftssatire zu bewertenden Didlogo de Mugeres Sinn
und Beziehung haben. Und wenn ich oben dem Gedanken Aus-
druck gab, der Dichter sei durch das Walten der Inquisitions-
organe um den größten Teil seines Ruhmes bei der Nachwelt ge-
kommen, so möchte ich das nicht so verstanden wissen, als ob
etwa seine dichterische Bedeutung nur auf den wieder ans Licht
gezogenen paar freimütigen Versen beruhen würde. Das ist
gewiß nicht der Fall. Das eine indes steht fest, daß uns erst der
unzensierte Didlogo das rechte Bild von dem Werke, wie es der
Dichter im Sinne gehabt, und ebenso erst das rechte Bild von der
satirischen Kraft und freimütigen Offenheit gibt, mit der er der
Moral seines Jahrhunderts gegenüberstand. Mutatis mutandis
gilt das gleiche vom Sermon de amores.
m.
Neben dem eigentlichen Texte des DtaZo^'o-Originales bean-
sprucht unser besonderes Interesse der Druck an sich, weil dessen
Hersteller noch der Identifizierung bedarf.
Man könnte Gründe dafür ins Feld führen, daß das Buch über-
haupt weder in Venedig noch in irgendeiner anderen italienischen
Stadt, sondern ganz einfach in Spanien selbst hergestellt worden
sei. Doch fehlt ihnen allen letzten Endes der zwingende Beweis,
der die Annahme einer außerspanischen Offizin ausschließen
würde. Hingegen läßt sich mit absoluter Gewißheit dartun, daß
genau dieselbe Type in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts von
einem venezianischen Meister verwendet wurde, der sich ausdrück-
lich rühmte, Drucker griechischer, lateinischer und spanischer
Bücher zu sein. Daß er gerade beim Didlogo de Mugeres seinen
Namen verschwieg, hing, wie wir sehen werden, zweifellos mit
dem gefährlichen Inhalte desselben zusammen.
Um die Mitte des 16. Jahrhunderts tritt bekanntlich im
Geistesleben Italiens eine tiefgreifende Wandlung zutage, nach
Bongi^ eine repente e profonda trasformazione, per cui parve che
il secolo, di poco passata la sua metä, pigliasse un aspetto nuovo,
conie oggi direhhesi di reazione, di cui il principale carattere fu la
severitä. Der Protestantismus setzte die Geister in Verwirrung
und veranlaßte die geistlichen und weltlichen Fürsten zu scharfen
Annali di Gabriel OioUtto de Ferrari (Rom 1890), Bd. 1, pag. XXIX.
Der Diälogo de Mageres v. 1544 u.s^ Bedeutung f. i Castillejo-Forschung 79
CT A^i^Iogo t)c Ofeu ^
gercöt
Jntcrlocütoice .
3cn fe coitofe f ileno
f , ]Ro 09 pare^e SletbCo bcrmio
quee bic g03ar oclo bueno.
f alaballof
quanto mas f o q me ballo
pidb De lindoe amoics:
y tan rico D€ fauoies
que peno quandoloecatto*
9« 0(nra3on
Ue ba5ey0;(i talcs fon:
puc0 la kr De atnospcrfcto
no0 manda tcncr fecrcta
lo quef!a enel co:a(on*
5* 52>icn fena:
pero f 0 no tomaria
pla5cr grande ny fcnsillo
atroque De no De3(Uo.
y go5ar en conpania:
mi fauo:
po2 que äfft como et Doloa
Duele mae fiendo callado:
el plajer comnntcado
D!5qucfeba5emayo2.
80 Dt^r Diälogo de Mugercs v. 1544 u. s. Batleutung f. d. Castillejo-Forsehung
w
Schutzmaßnahmen gegen die ihnen drohende Gefahr. Die stete
Bedrohung Italiens durch die Türkenheere hielt das Land in
dauerndem schweren Drucke befangen. Das von 1545 bis 1563
Sekunda comcdiaoelafä^
mofy /CdcAimm loqual fetrataoete
Äcfurrection oe la oicba 4Zclc(tim : y
De lo9 aniO2C0 oe f clidca y l^olädr i«
cozregida y cmcndada po: E>omui^
^ooe/Sastclu fecretarioocl 31»^
laftrifüme &cnoz oon Xopc
oc ^oriaemba^rado: ^efa^
reoaccrcala 3Muftriffima
&cnom t)€ venccia :
j^ROffv^enelmea
tagende Konzil von Trient erließ strenge Vorschriften gegen
manche Lockerung religiösen und sittlichen Lebens. Machiavelli,
Ariosto, Bembo, Ortensio Lando und Pietro Aretino, die führen-
den Geister der ersten Cinquecentohälfte, waren gestorben, andere,
die noch lebten und schrieben, ließen das Mäntelchen notgedrun-
gen nach dem neuen Winde flattern. Die Zensurvorschriften für
die Herstellung von Büchern jeder Art verschärften sich in den
einzelnen Städten in unerhörter Weise, und das Jahr 1549 sah
bereits den ersten der Indici dei libri proihiti.
In Venedig hatte schon 1527 der Rat der Zehn eine Art Schutz-
dekret des Inhalts erlassen, daß für jedes Buch eine ausdrückliche
]® on f ranccfco oe j(£ft
^c.S>omingooe ]
iS^astelu.
schriftliche und von den Ratsvorstehern eigenhändig unterzeich-
nete Ermächtigung einzuholen sei. 1542 wurde, zweifellos unter
dem Drucke des neuen Zeitgeistes, das Dekret unter verschärfter
Strafandrohung neuerdings bekannt gegeben.^ In seiner Rigo-
^ Brown, The Venetian Printing Pre^s (London 1891) pag. 78.
Der Didlogo de Mugeres v. 1544 u. s. Bedeutung f. d. Castillejo-Forschung 81
rosität trug es freilich auch schon den Keim abermaliger Wir-
kungslosigkeit. Die Verordnung wurde häufig umgangen, indem
man anrüchigen Werken zwar die Lizenz versagte, dafür aber
stillschweigend duldete, daß sie mit gewissen Kautelen, d. h. ohne
nähere Angaben, sei es von Ort, Zeit oder Drucker, hergestellt
wurden.^ So mochte auch der vorsichtige Meister des Didlogo-
Druckes es vorziehen, seinen Namen überhaupt zu verschweigen
und das angebliche (in Wirklichkeit nicht existierende) Privileg
nur anzudeuten.
An venezianischen Drucken spanischer Sprache erschienen
in den Dezennien vor und nach 1544 (genauer gesagt zwischen
1530 und 1560) nach Vaganays bereits zitierter Bibliographie die
folgenden:
1. Tragicomedia de Calisto y Melibea, 1531, por J. B. Pedrezano.
2. Carcel de amor, 1531, idem.
3. Libro aureo de Marco Aurelio, 1532, idem.
4. Questiön de amor, 1533, idem.
5. Libro del famoso cavallero Palmer in de Oliva, 1534, por Juan Paduan
y Venturin de Rufinelli.
6. Amadis de Gaula, 1533, por Juan Antonio da Sabio.
7. Los tres libras de Primaleön y Polendos, 1534, por Juan Antonio da
Sabio.
8. Tragicomedia de Calisto y Melibea, 1534, por Estefano da Sabio.
9. Libro primero de la conquista del Peru, 1535, por Estefano da Sabio.
10. Segunda Comedia de Celestina, 1536, por Estefano da Sabio.
11. Veneris Tribunal, 1537, por Aurelio Pincio.
12. La Zucca del Doni en Spanol, 1551, por Fr. Marcolini.
13. Historia de loa amores de Clareo y Florisea, 1552, por Gabriel Gio-
lito de' Ferrari.
14. Libro segundo de las obras en coplas castellanas, 1552, idem.
15. Obras de Boseän, 1553, idem.
16. Questiön de amor, 1553, idem.
17. Libro aureo de Marco Aurelio, 1553, idem.
18. Proceso de cartas de amores, 1553, idem.
19. La Ulyxea de Homero, 1553, idem.
20. Carcel de amor, 1553, idem.
21. Sentencias y dichos de diversos sabios, 1553, idem.
22. Ariosto, Orlando furioso traducido, 1553, idem.
23. Tragicomedia de Calisto y Melibea, 1553, idem.
24. Silva de varia lecciön, 1553, idem.
25. Tragicomedia de Calisto y Melibea, 1556, idem.
26. Testamento nuevo, 1556, por Juan Philelpho.
Nun handelte es sich darum, nachzuweisen, daß in einem
oder mehreren dieser 26 Drucke die gleichen Typen verwendet
wurden wie im Didlogo de Mugeres. Das Ergebnis war folgendes:
nur ein einziger von den genannten Druckern bedient sich der
charakteristischen, in den Initialen zu starker Rundung neigen-
den und besondere Zierlichkeit anstrebenden Type des Didlogo,
1 Fumagalli, Lexicon typograficum Italiae (Florenz 1905) pag. 494.
Aidüv f. II. Sprachen. 140. (j
82 Der Diälogo dv Mngercs v. 1544 u. s. Bedeutung f. d. Castillejo-Forschung
nämlich Estefano da Sabio, der Drucker der Segunda Comedia d(
Celestina von 1536, in deren Kolofon er sich eigens als impresor
de Jihros griegos, latinos, y esparioles muy corregidos bezeichnet.^
Zum Belege habe ich nicht nur eine Seite des Z)?"«/o^o-Originals,
sondern auch den Text des Titelblattes diaser Ce/e^^/wa-Ausgabe
und die Überschrift ihrer Widmungsepistel in getreuer Nachbil-
dung hier beigegeben. Die Typen der beiden letzteren finden ihre
genauen Gegenstücke im Text des Dia'/o^ro-Druckes, Zur Prü-
fung eignen sich von den Initialen besonders die Lettern F, J, S,
weil sie auf allen drei Blättern vorkommen. Die charakteristi-
schen Formen für D, E, G in der Dedikation AUo Illustrismno
Signor Don Francesco de Est wiederholen sich in gleicher Weise
im Z)ifl7o^o-Druck ; leider stieß eine Reproduktion noch weiterer
Probeseiten aus demselben auf allzu große Schwierigkeiten. Auf
die völlige Identität der sogenannten kleinen Buchstaben brauche
ich nicht weiter hinzuweisen. Die Riesenlettern der Didlogo-
Überschrift kommen natürlich bei diesem Vergleiche überhaupt
nicht in Betracht. Das Ergebnis ist, daß der zu identifizierende
Druck entweder direkt von Estefano da Sabio oder zum mindesten
aus einer Offizin stammt, die seine Typen übernommen hatte. ^
Beide Drucke bilden übrigens gegenüber der Tatsache, daß der
sogenannte carattere corsivo in Italien schon bald nach 1500 durch
Aldo Manutio eingeführt und von den besten Druckern der
Folgezeit mit Vorliebe gepflegt wurde, ^ hervorragend schöne und
seltene Beispiele einer späten gotischen Type in diesem Lande.
Der Umstand, daß Castillejo selbst auch einmal nach Venedig
1 Die Nummern 1 mit 4, d. h. sämtliche Pedrezano-Drucke scheiden von
vornherein aus, da sie insgesamt aus der Presse der beiden Sabio hervor-
gegangen sind und Pedrezano nur der Verleger war. Den genauen Nach-
weis hierfür will ich an anderer Stelle geben. Nr. 5 und 11 haben eine
gotische, aber von der des Diälogo gänzlich verschiedene Type, wie ich auf
Grund der Originale feststellen konnte. Nr. 12 mit 26 dagegen sind über-
haupt in Antiqua oder Rundtype gedruckt, wie ich teils aus den Originalen
(so bei Nr. 12, 23, 25, 26), teils aus den bibliographischen Beschreibungen
derselben (Salvä Nr. 477, 637, 1210, 1673, 1676, Brunet IV, 1200, Revue
hisp. 33, pag. 334, Nr. 61) entnommen habe. Von den fünf Drucken der
Brüder Sabio sind Nr. 6, 7, 9 ebenfalls in Antiqua hergestellt, wie ich bei
Nr. 6 und 9 aus den Originalen, bei Nr. 7 aus Salvä (II, 90, Sp. 2) konsta-
tieren konnte, während die beiden gotischen Celestina-Drucke des Estefano
da Sabio von 1534 und 1536 zwar in den Typen des Textes, nicht aber der
Titelblätter genau übereinstimmen, wie ich ebenfalls aus den Originalen zu
entnehmen vermochte.
2 Die letztere der beiden Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, liegt zu-
nächst kein Grund vor, da sich nach Brown, pag. 101, die Tätigkeit der
Brüder Giovanantonio und Stefano da Sabio (Brown schreibt Sabbio) auf
die Zeit von 1516 bis 1560, nach Fumagalli, pag. 490, sogar auf die Zeit
von 1516 bis 1588 erstreckte.
3 Bongi, Bd. 1, pag. XXVI.
Der Diälogo de Mugcres v. 1544 u. s. Bedeutuug f. d. Castillejo-Forschung 83
kam, legt den Gedanken nahe, er könnte bei dieser Gelegenheit
den Diülogo de Mugeres dort in Druck gegeben haben. Spanier,
die sich der Vermittlung solcher Werke an italienische Verleger
annahmen, gab es gerade damals in Venedig mancherlei. So
besorgte Alf onso de UUoa die meisten der bei Giolito de' Ferrari
erschienenen spanischen Drucke, während die Brüder da Sabio in
Francisco Delicado einen spanischen Mitarbeiter besaßen, der die
Korrekturen las und den Drucken einführende Bemerkungen über
die Aussprache des Spanischen beigab. Indes läßt sich hierüber
bei dem jetzigen Stand der Castillejo-Forschung nichts Bestimm-
tes nachweisen. Es besteht vielmehr noch immer die Möglichkeit,
daß der Didlogo de Mugeres ein richtiger Raubdruck war, der dem
■Verfasser vielleicht gar nicht zu Händen kam. Denn die venezia-
nischen Buchdrucker machten damals so wenig Federlesens wie
die spanischen. ^ Zur selben Zeit führte Antonio de Guevara einen
erfolglosen Kampf gegen die Räuber seines Marco ÄiireJio und
vermochte während seines ganzen Lebens einer Unzahl von
Raubdrucken nur eine einzige authentische Ausgabe gegenüber-
zustellen.- Warum sollte nicht Castillejo von den paar zu seinen
Lebzeiten gedruckten Werken seiner Feder überhaupt nichts zu
Gesicht bekommen haben? Zumal die Inquisition mit den ihr
erreichbaren Exemplaren gerade des Didlogo von L544 gründlich
aufgeräumt haben dürfte.^
München. Ludwig Pf a ndl.
1 Brown, pag. 79: Venetian printer-puilishers were in the haut of ignor-
ing literary proprietorship altogether, and were accustomed to print any
work ihey pleased, eve7i in direct Opposition to the tcishes of the authors.
2 Vgl. Zentralhlatt für BilHoth ekswesen Bd. 32, pag. 340.
3 Die vorliegend« Studie bildet, wie ich der Vollständigkeit wegen noch
anfügen möchte, den Vorläufer einer vollständigen Neuausgabe des Didlogo-
Textes.
Bemerkungen
zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch',
Lieferung 1 und 2.
(Fortsetzung.)
acoillie, s. f., auch: Si jostent par envie AI Danois . . . tous a uneaquelhie
(auf einmal), GLißge 19277.
acoillir, vb. trans., mit pers. Obj.: ^ auc. en oder a auc. r. (Abstr.):
E s'il li plest e ü le voeille Qu'en ses bie?ifaix lux jurs m'acoeüle (zulassen
zu), Dirai . . ., MFce Purg. 14; ce cheualier a este tes compaiynons longue-
ment, encor fe loeroie ie ... que tu . . . l'acuillissies en ta compaignie ainsi
co7nme fu feis aucune foix, Abent. Gaw. 108; Tuit si ami l'acoillent a haor,
Eu8t.-Leb. 100b.
'jmdn. erringen, gewinnen': Meus aiin ensi languir Untre vivre et morir
Ee une auire acoillir Ki m'aint sans repentir, Tr. Belg. II, 38, 38.
'jmdn. angreifen, sich hermachen über jmdn., herfallen über j.': (in De
quoi do7it amour en aquel? BCond. 124, 143 'anklagen') auch: s' adrescerent
aux trois medecins et les acqucllirent dicremeiit en griffant lews faces flestries,
Pr.-Clig. 332, 14; e« retournant son chemin trouua les deux aultres de ses
ennemis, si les acquelli et occist le second larron, Fr.-Erec 270, 38; Et cedit
jour au soir . . . l'evesque d'Evreux . . . fut guette et accucilly par aucuns ses
ennemis en la rue de la Barre du Bec, Jean de Troyes, a. 1465, bei Buchon,
Chron. et Mem. I, 260t»; — a. auc. a guerre 'mit Krieg überziehen': Car li
pluiseur si fort s'orgoellent Que lor voisins a guerre aquelient, Ensi les
voellent sourtno-nter, JCond. I, 60, 78; — mit Worten angreifen: La dame
ouvri ircement Et laidenient le recueilli Et par parolles l'acoilli, JCond. 11,
200, 90.
'jmdn. ergreifen, befallen; packen': Las! mesellerie m' acueille (J. Fr.) Trop
griement, mais m'a accueilli, Mir. ND. 27, 1615; — Ainssi qu'elles cuidoient
estre En la taveryie toutes trois, Les acqueult uns vens si destrois Et si frais
qu'il les fait pasmer, Watr. 389, 252.
'jmdn. verfolgen' (Wild auf der Jagd), auch: Exemple aprendes chi en-
droit Au sengler qui est acueillies Des ciens et si est recueillies As fors
bastons per hei tuer, JCond. I, 114, 39; A la chasse 7/n cerf accoeilli, Froiss.
Po6s. II, 97, 3270; Et a la fontaine Saint Innocent xj avoit aiissi personnages
de chasseurs, qui accueillirent une bische illec estant, Jean de Troyes, a. 1461,
bei Buchon, Chron. et Mem. I, 242 b.
'treiben' (Tiere): Puis (Erec) se mest au retour et o sog acqueille toux
les aultres cheuauls (die des besiegten Räubers), Pr.-Erec 272, 5.
'jmdn. treiben, jagen' (vom Winde ausgesagt), auch: et lequel feu le vent
accueillit tellement, qu'il s'en vola et dispersa au long d'icelle charpenterie,
Jean de Troyes, a. 1472, bei Buchon, Chron. et Mem. I, Ö96b.
mit sächl. Obj.: 'unternehmen', ^ la fuie auch: la fuite est acolhue, GLißge II,
11050.
'erwerben, gewinnen': trop li fait grace aquellir (der Tau die Rose),
BCond. 145, 349.
übertr, 'fassen, in sich aufkommen lassen', auch: Et de ce trop s'enorgueilli
Et trop grayit beubant acueilli, JCond. I, 357, 52; // ne s'en doit pas orgueillir
Ne trop grant beubant acueillir, ib. II, 88, 1270; Par soti plesir Li proi de
merci acueillir, Aumosne li ert et honors, Tr. Belg. II, 140, 34; Vous auex
tort que tel duel en acuillies sur vous, Abent. Gaw. 71.
'zusammenlesen, sammeln': Adonc . . . sninx lohanz acoillit totes les pieces
des deus pierres precioses et les mist en sa niain (colligens fragmenta gem-
marum), Afr. Pr.-Leg. D 8, 1.
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 85
auc. r. a auc. r. 'zusammentun mit, vereinigen mit': Car du vostre a (ort,
sanx raison. Ä pris, iion pas une maison, Mais troys, qtie jculis vos toli, Et
les adjoint et adctiilli A la seue ou il demouroit, Qui trop petife li sembloit,
Mir. ND. 14, 584.
intr., de c. substantiviertem Inf., 'sich zu etwas in Bewegung setzen, an-
fangen zu': n n'i voleit plus demurer, Mut tost acoillent de l'errer Ipom. 9022.
rfl., a c. sbstviert. Inf., id.: Adont de toutes pars s'acoilletit Les pucelles
au caroller, Froiss. Po^s. II, 71, 2437.
acointable, adj., 'leutselig', a auc: (II est) Secrcs, discres, loyaus et
sages, Acointables a toutes gens, Froiss. Poes. II, 9, 289 ; R est ... Obi'issans,
courtois et gens, Acoiyitables a toutes gens, ib. II, 116, 3939.
acointance, s. f., 'Bekanntschaft', avoir ^ a auc: Il doit bien avoir
avantage U avoir acointance et assens A chiaus ki sotit garni de sens, JCond.
II, 46, 1511.
'(leibl.) Umgang': L'amant: Oranx mercix, dame (die ihn zum ensernble
parier in ihr Zimmer führt). Vraiement De ma vie estoie en balance, Se
n'eusse vostre acointance, Mir. ND. 18, 230.
'Vertraulichkeit, vertraulicher Umgang, Freundschaft': Docement s'entra-
colent et baisenf a estroit. Molt piaist a la. röine, quant V acointance voit,
ChSai. 2741; Et le deable et s' acointance Ouerpis sanx nidc demorance,
Ruteb. (ed. Jub.;2 m, 277, 864; (Liebe, die beim Gelage entsteht, ist heiß,
kühlt sich aber schnell ab) Si prent on tost tele acointance qui puet avoir
peu de durance, J. d'Am. Art d'Am. 210; Tant se sont luec entrebaisie, Entra-
cole, entrejöi Qu'ains tnais 7ius tel joie n'öi. Tant fu bele cele acointance, Que
bien doit estre en remembrance, Manek. 7339; Douce raixons, parole estable,
Simples regars et aniiable, Nobilites sans felonnie, Acoititatice sans vilonnie,
BCond. 279, 336; Or gardex donc s'on doit prisier avoir Contre fin euer de
loial avoifitance, Tr. Belg. II, 80, 38 (od. zum folgd.).
'Art zu begegnen, Entgegenkommen, Art', auch: Ha! dame de douce
acointaJice, Quar vous preyjge pitie de moi, Salu d'Am. (Zeitschr. 24, 363)
171; Dieus, tant me plot sa tresdouce acointance, Dont cortois sens li dona
le voloir, Tr. Belg. II, 80, 14; vostre biet oel, Vostre regars, vostre acointanbe
Et la vostre bielle samblance . . . Mont mis en ccste volente (Euch zu lieben),
Jd'Am. Artd'Am. 498; N'estoit pas d' acointance estraiyigne (kalt), Mais de
si douce ... Qtie tont li bon amer la doient, Watr. 39, 1224; Et se le trouve
(er sie) aussi ...De bei accoeil et de belle acointance, . .. B doit penser . . .
Qu'amours y a grant pari, Froiss. Poes. I, 66, 460; ses pucelles toutes, Qui
ne sont dures ne estoutes, Mes d'une acointance tresdouce, ib. II, 102, 3456.
acointe, adj. a auc: Argent scet maint divers langage, II est a toutes
gens acointes, II aime les beaus et les cointes, Froiss. Poes. II, 221, 25; —
d'auc r.: Petit prix celui qui est cointes De cors, quant ses cuers est acointes
De vilounie et de lais vices (hängt an), JCond. II, 140, 18; Ne eil ne sevent
qu'onneitrs monte Qui biaute pri^ent, tant soit cointe, S'elle n'est de bonte
acointe (innig verbunden mit), Watr. 32, 1008.
sbst., 'Liebhaber, Buhle': Et nepourquant 7nout erent cointes Et jol'ies, et
biaus acointes Orent raeointiex de nouvel, Watr. 374, 32; L'en dit par toute
ceste ville Qu'aussi comme avec vostre fille Vostre gendre avec vous s'esbat
Et gist . . ., Ainsi le dit on en conimioi, Et que pour niejit 7t est pas si cointe,
Car il est de la mere acointe Et de la fille, Mir. ND. 26, 116 (od. adj. 'verbuhlt').
acointe, s. f. 'vertrauliches Beisammensein' auch: ... puis Que pre7niers
son cors (sie) acoi7itai, Qtie tant ame sanx acointe ai Qu'a porter m'est trop
gricx li fais, Watr. 357, 58 (Scheler: aimer sans etre paye de retour).
acointenient, s. m., 'Bekanntschaft' auch: Ne fönt pas lonc acointement,
Petit dura lor parlement (sich eingehend miteinander bekannt machen, Fergus
und die gegnerische Alte), Ferg. 112, 17; — amoureus a. 'Liebesumgang,
Liebschaft': Amis, qui tant aTnh liece, Tons deduis et esbatemens Et a7noureus
86 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
acointemms, Danscs, carolles et depors, Froiss. Poes. 11, 43, 1463; — 'freund-
schaftliche Gesinnung, Freundschaft': Aufars de Danemarche qui t'aimyyie
durcment Par amors li trennst (ihr den Sperber) et par acointement, ChSax.
2775; Par bourdeors traitours mentis Le truevent si envenime, D'acointemens
faus emprime, Qu'a mort est Inrrex, et ravis, Watr. 69, 139.
persönlich gedacht: Laietis (im ostel der Courtoisie u. der Largece) iert
Donners et Besserte (Vergeltung), Aeointemens et Bei Servir (freundliches
Entgegenkommen), Watr. 189, 75.
acointier, vb. trans., mit pers. Obj.: 'jmdn. bekanntmachen mit jmdm.'
auch: J'ai bei ami, ce poise tel i a; Li roxignols du bois le m'acointa, Salu
d'Am. (Zeitschr. 24, 365) 64.
mit sächl. Obj., 'mit etw. Bekanntschaft machen, etwas kennenlernen':
Mainie contree a trespasse Et tnaint dur ostel acointie, Julian 1393; Or votis
ai bien cesti prouvee (dies), Coment li sos de sa sotie A par t'ur grosse (Heil)
acointie (erlangen), BCond. 18, 34.
'gelehrig machen': Por ^ou que trop ai jut en niue, M'est pris talens que
me remue Pour les pretidomes acointier (in Verkehr treten mit). Et voel tout
mon sens acointier A biaus mos tronver et reprendi-e: On doit sayer pour
mius aprendre, BCond. 17, 4 (Scheler: rendre habile, gracieux).
intr. 'feindlich sich nähern, augreifen, kämpfen', G. de Liege 30734; 30752;
II, 5497 laut Schelers Glossar.
rfl., auch d'auc. r.: Ne t'acointes inie d'orgueil Ne d'ire, Watr. 12, 353.
**acoise, s. f., 'Ruhe': Long temps ot convoitiet de troveir teil aquouse,
GLiege 20741.
acoisier, vb. trans., zu Regr. ND. 120, 7 stellt sich Chil maintenoient
cortoisie Ki or est morte et aeoisie, Car nus al siede n'en a eure, BCond. 4,
100 Var.
'ruhig machen, matt setzen, besiegen': Cierte, vasals, dist ilh, vos astete
aeoigict, GLiege 7298.
'jmdn. einer Sache entkleiden, berauben': acquoisiet Sera de taute honour,
infammes pronunchiet, GLiege 11, 6231.
rfl., de c. J. 'aufhören zu' auch: Sa fin aproce, li cors est agreves, Droit
entour none s'acoise de parle?; Alexius 248, 931 ; de preichier ne s' aquouse,
GLigge 8371.
intr. auch: Atant au bien boire entendi, Mes parlers lors fu acoisiex,
Watr. 378, 153 ; adquiesco, acoisier, Cath. Lille 12.
acoler, vb. trs., 'etwas in Angriff nehmen, unternehmen': Tost acomplist
son fait quant de boti euer l'acolle, GLiege 12706.
*acoler, vb. intr., 'gleiten': Si com seur hii vient acolant, Watr. 395, 112
(nach Scheler S. 512).
**acolet, 8. m., 'Aglei': Li hyalme Ig trenchaf coynfme) fuelhe d'acolet,
GLißge 4330.
acompaignier, vb. trans., 'jmdn. zu sich gesellen, avuec soi oder od soi'
auch: Fille, avoec vous je l'acompagne (die Carite), Froiss. Poes. II, 189, 940;
Et sei reconvient mult gaitier De tel o soi acompaignier Vers eui li rois ait
maltalent, Chastoiem. XXIII, 132. — 'beigesellen, gesellen zu, vereinigen
mit, auc. (r.) a auc. fr.)' auch: Scafes, eest a dire raisseles .... snnt aeom-
patgnies as grans Uburgnes (sociare), J. Meun, ArtChev. 164; Scaufes . .. sont
acompaignies Es granx liburnes et enliies, Prior. Veg. 10423; rar elles (sc.
les saintes ames) sont assemblees et acompagniees a la glorieuse vierge Marie,
a toux, les anges et les sains, Mir. ND. 28, S. 318; Et ceste doulce compagnie
Qui a vous est acompagnie, ib. 4, 199 (od. rfl.); Quant (Adam.) regarda la
compaignie (in Evas Person), Qu' [a] lui ot Diex acompagnie, Ces mos en
dist, JCond. II, 205, 82; ha, traison! chose escommeniee et maudite, C7igendree
de droicte envie et conceue de desloyaute et acompaignec a larreein et a agait,
Abent. Gaw. 103. — 'zusammengesellen mit, auc. d'auc.': Je sui bien tenus
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 87
de servir Da.me si hien acompagnie D'une si donlce compagnie, Froiss. Poes. 11,
89, 2981.
mit Plur. als Obj., 'zueinandergesellen, zusammenbringen': Pour ehou s'en
vuelt bien entremetre D' acompaignier les compaignons Ki descotJipaignent en
raisons, Bari. 7925.
^ nuc. a aur. r., jmdn. teilnehmen lassen an' auch: Biatix sire Detis, je ie
rends gracies, quant tu moi qui sui vilx et pechare as volu acompaignier a
ta graci (quia dignatus es me humilem et peccatorem tuae gratiae sociari),
Mr. Pr.-Leg. L 4, 10.
'jmdn. begleiten': et dedenx est escondus li tormenx de les ventresches et li
morx q/ii acompaigne los tormenx, Afr. Pr.-Leg. M 17, 9; la reyne acom-
pagnie de pluseurs dames et damoiselles . . . mo7ita sur vng blanc pallefroy,
Pr.-Erec 254, 3; puis acompaigne de son naim et de la damoiselle il tira
taut en voie qu'il arriva aupres de Karadigan, ib. 260, 20; ib. 261, 23; 262,
14; Puis entra en rner acompagnie de la reyne Soredamors et Alixandre
seidemeyit, Pr.-Oig. 287, 4; ib. 291, 37.
acompagnie, part., 'vereinigt, beisammen': Diex de sa graee esvertüer Vueille
tonte la compagnie Que je cy voy acompagnie. Mir. ND. 27, 1845; Treschier
sire, bien veigniex vous, Et ma dame et la compagnie Que je ci voy acom-
pagnie, ib. 34, 2598; Le benoit Dieu par so7i plaisir Soit avec ceste compagnie
Que je roy ci acompagnie En ceste place, ib. 38, 768.
intr., musik.: assono, accoynpaignier, Catb. Lille 22. — (zu den Wehkla-
genden gewendet) . . . affin que nous . . . sentons du mal que vous portex et
que nous acompaigno7is de nos soupirx, se faire le devons (mit unseren Seuf-
zern einstimmen), Pr.-Clig. 330, 10.
rfl., wie a auc. (übersetzt se alicui sociare, Afr. Pr.-Leg. M 59, 1) und
od auc. aueh ensemble od auc, avuec auc: Li taissuns s'est acunipaigniex
ensemble od eh, MFceFab. 76, 4; Ensemble od lux s'acomgaigna, ib. 100, 4;
et li autre oissel de la contree s'aco7npagnent avoec aus dusqu'a la mer, Rut.
(ed. Jub.)2 III, S. 359; Se hom s'acomjjaigne auec toi, Feelment l'aime,
Chast. XVI, 114; Drois dist, qui a houneur s'aloie, Qu'il s'acomj)agne avec
la joie Que Dieus a ses bons amis dounc, BCond. 257, 359; Pour ee souvent
s'acompagne an Avec les bons qu'on en vault mieulx, Froiss. Poes. 11, 85, 2864.
acomparagier, vb. trans., part.: 'gleichgestellt, gleichartig': jnais leur
tyrannie (die der römischen Christenfeinde) n'eetoit point accomparagee aux-
dits bandes (bei Paris), comme Dieu sgait, Journ. d'un Bourg. de Paris,
a. 1418, bei Buchon, Chron. et Mem. I, 633 a.
rfl. 'sich jmdm. gleichstellen, a auc': Dont avenu ni'est que cheoite Sui
en tel inconvenient Que moy, fiens, ordure et n'ient, Oultrageuse, fole enragee,
De caleur acomparagee Me sui a l'umble vierge mere, Mir. ND. 16, 602.
acomplir, vb. trans., 'erfüllen' ('vollständig ausführen, verwirklichen'):
le plaisir d'auc:, Chev. a l'Esp. 1090; les bons d'auc, ib. 1094; les c.omande-
menx d'auc, Afr. Pr.-Leg. M 31, 11; eil ne pucent ingaument les cortimande-
■mens acomplir qui ne s'acorderent onques aiatit (non possunt aequaliter jussa
complere qui ante pariter non fuerunt), JMeun, ArtChev. 42; Cil ne puent
pa^s acomplir Les coynayulemanx n'aemplir Qui onques ynais ne se v'cirent.
Prior. Veg. 2219; Vray Dieu, vostre conmandement Äcomplirons, Mir. ND. 35,
1376; quant tu ares acoynpli co que tu as promeis (cum ... compleveris),
Afr. Pr.-Leg. M 51, 15; Xostre sire acomplit co que ei promef, ib. J 6, 7;
Dmic furenf les prophecies Averrees e acumplies, Ke lunges avant furent dite.s,
De Salv. Hom. in Oxf. Ps. S. 368; tot quant que cnvint a huniana febleca
fu acompli en sa passion (in ejus leguntur passione completa) Afr. Pr.-
Leg. M 39, 13; Et vostre penitance aveix si acomplie Ke deus vos'at s'amour
et sa graxe otroie, Po. Mor. 414l>.
'erfüllen' ('vollenden'): Ains que li mois soit aconplis, Veng. Rag. 4771;
Quant la predicacions de nostron seignor Jesu Criet fu acomplie, . . ., Afr.
88 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
Pr.-Leg. K 4, 4 ; Quant li. XXX. jor de la dilacion furent acompli, Cromacios
... comandet ... (diebus ... acceptae dilationis expletis), ib. M 37, 1; toute
bataille commune est acomplie et fenie en l'espace de .ii. heures ou de .iii.
(gegen conflictus publicus duanini aut trium horarum certamine definitur, 'wird
entschieden'), JMeun, ArtCiiev. 96; Bataille comuyie est acomplie JE71 doues hores
et fenie, Prior. Veg. 5517; en acomplissatit L'uevre qii'ai de vos receüe, ib. 8598;
Pres ay d' acompli mon voiage, Gar illecques voy l'ermittage Ou le pape m'a
envoie, Mir. ND. 33, 1167.
acomplissement, s. m. 'Vollendung' (als Tätigkeit) : Ä l'aoomplissemsnt
donques de l'oevre qu je ai receüe par le commandement de vostre majeste je
dirai . . . (ad complementum operis 'um das Werk zu vollenden'), JMeun,
ArtChev. 135; — (als Zustand): Qui a en aoy conmcyicement de purte, par-
venir puet a acomplissement de bonte (Reinheitsanfang, Reinheit als Anfang,
Grundlage — Güteende, Güte als Ende, Krone), Mir. ND. XIV, S. 230.
'Erfüllung, Befriedigung': joie pardurable et acomplissement de lor cuers,
Jos. Arim. 368.
acomuner, vb. trans., auch: Puis at tant procureit li conte süffisant
Que l'evesqtie et le duc fait il aceumelant Etisemble, et puis fist tant qu'ils
se sunt accordans, G. de Lißge II, 12029 (nach Scheler, Gloss.).
Serm. poit. 84 fällt unter das nächste Wort.
acomu7iier, vb. trans. Das fünfsilbige acomuniier, acomeniier und das
viersilbige acomungier, acomengier erscheinen hier durcheinandergemischt.
Weitere Belege für beide: Et l'evesques sans nul delai, Quant ot la messe
defenie, Theophillus aoomennie, Ruteb. (ed. Jub.)2 III, 301, 1686; Auis lui
fu ke le ymage bele De la glorieuse mere e pucele S' entremetteit a cele feste
D'acuminer la gent, cum fist le prestre, Adgar 23, 114; Puis l'aeumunia
par ducur Del bencit cors nostre Seigiiur, ib. 36, 304.
intr. eil ki n' acomengent ynie, iroient fors de la glise (non communicantes),
Dial. Greg. 90, 19.
rfl. auch : E qui . . . fust cunfes de ses pechiex E apres acomun'iex, Pureit
ici dedenx entrer, Purg. Patr. 314; Se alcuns ne soi acomenget, il doinst
liu (Si quis non communicat, det locum), Dial. Greg. 90, 7.
aeonoistre, vb. trans., 'erkennen': et fu si povres et si mal atornc-s que
uns ne l'aconeust, s'il le v'eist en tel habit, Pr.-Jul. III, 3.
acojisivre, vb. trans. (aconsivir, JMeun, ArtChev. 17), 'erlangen, er-
ringen': . . . Beor, qui per la priere Effigeni avoit aconsegu la grace nostron
Seignor (consequi), Afr. Pr.-Leg. J 37, 3; et i ont lor fiance (auf die art des
batailles) plus qu'en toutes autres ars et est plus profitable et plus necessaire
as batilleurs, par coi il retiennent la rie et aconsivent victoire (consequi),
JMeun, ArtChev. 100.
aconter, vb. trans., 'aufzählen': Mes je ne roil plus deynorer As mes un
a tin aconter, Chev. a l'Esp. 356.
'anrechnen, jmdm. etw.': Beneurex li huem alquel ne acunterat li Sire
jyeechet (cui non imputabit Dominus peccatum), Orf. Ps. 31, 2; mit iniquitet
statt ;). Cambr. Ps. ib.
'Wert beilegen, sich kümmern um, beachten,' d'auc. r. auch: Ne de vostre
esconmeniement N'aconte je mie granment, Mir. ND. 17, 78; Regardex con
gist du chien pres; De sog meismes n'aconte nient, ib. 33, 2189; en auc. r.
auch: En ce n'aconte un pois baien, Mir. ND. 38, 834; En toux ces iourmens
rien n'aconte, ib. 38, 1783 (Toblers Beispiel = ib. 39, 1114).
**acontre, präp., 'gegen': conseil me ert done, Si jeo prenge bataile
aeontre Bonn li alose, BHaunst. 3563.
acontrer, vb. trans., 'begegnen' auch GLiege 21108.
sbstviert: a l'acontreir des lanches, GLiege 21753.
*aconvoiier, vb. trans., 'geleiten, begleiten': le roy a grant rote De gent
pour la aconvoier Y va et pour la festoier (1. beidemal li für la), Mir. ND.
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 89
31, 1460; Chier sire, bieri venu soiex Et vous toux qui V aconvoiex, ib. 37,
3271.
*aeoper, vb. intr., 'hauen', vgl. God. acopcr 1. u. dazu Bd. VIII, S. 348,
Qu'il metent totes lor e?itentes Ä eis ocire et decoper, Que on les öist acoper
Con s'il copaissent roilleis (nach Friedwagner; Hippeau: a coper), Veng.
Rag. 3210.
acorcir, vb. trans., s. auch A. DelbouUe, Rev. d'hist. litt, de Fr. I, 486.
*acordablement, adv., 'übereinstimmend, einmütig': KU facent la feste
ensement Par tuit le siecle acordablement, Adgar 40, 88.
acordance, 8. f., 'Übereinstimmung, gutes Einvernehmen' auch: ja soit
ee que eil a cheval se suelcnt naturclment descorder de ciaus a pie, toute-
Toies est entr'iaus par ceste tnenniere acordajice gardee (servabatur una con-
cordia), JMeun, ArtChev. 63; Et tote voies acordance I est reinise, Prior.
Veg. 3461; janx d' escordance, ib. 4538; s'il sont de bone acordance (gut zu-
sammenstimmen), ib. 5702; janx qui ... sont de bones acordances, ib. 2213;
. . . Cument [il] ad fet racordance Entre les reis, Ipom. 7619.
'Zusammenklang, Harmonie': Ptiis chantoient ehati^ons de Pleur, Sans
musicqiie ne accordance, Charl. d'Orl. (ed. d'Heric.) II, 269.
'Übereinkunft, Vereinbarung': Trcstout eheste acordanche tienent, JCond. I,
42, 1391.
'Vereinigung, Versöhnung, Ausgleich' (von Gegensätzen): L' acordance
(zwischen dem mestier d'armes und dem mestier d'amours) bien y voroie
(sagt Mars zu Venus), JCond. I, 101, 111; Potir ^oti acordance plenüre En
faisons (herstellen) cht en tel maniere, Que kons d'armes soit amoureus, ib.
102, 145; Ja kons d'armes joie n'eust ..., Se ne fust'par ceste acordance,
ib. 104, 217.
acorde, s. f., 'Aussöhnung, Versöhnung, Frieden', auch: Se ce n'estoit
fors pour le roy Qui de ceste acorde me prie, Ne l'escondiroie ge mie, Jeh.
Blonde 5823; Car de R. est li acorde prise Par.i. saint abe qui la pais i a
mise, RCambr. 5559; (die Mutter Gottes zu Thcophilus) Ma dou<;.or m'as iant
recordee Qiia toi sui tonte racordee Et si ferai toute t'acorde Au doux roi
de misericorde, Ruteb. (ed. Jub.)2 HI, 288, 1285; N'en (mit ihm) feroit acorde
ne plet (Var. zu concorde), Meraug. 2279; Ne eil ne veut pcs ne acorde (Var.
zu Concorde), ib. 2282; ja n'en ferai Pes ne acorde, se je n'ai Ma querele
et vostre honor quite, ibid. 2302 (Var. zu concorde); Et pour faire a Dieu
d'omme accorde (herstellen). Mir. ND. 29, 461; ... Conment a saint Perre
aie acorde, ib. 8, 450; avoir acorde A Dieu le pere, ib. 8, 707; Si qu'a lui
(mit Gott) puisse avoir accorde, ib. 14, 68; 36, 1067; qtci tant doulcement
Requiert a moy avoir accorde (Gott spricht), ib. 26, 1050; A Dieu ... M'em-
petrex paix et teile accorde . . . Que de mes pechiex soie quittes, ib. 35, 142
Ce qu'elle viault chascun garder Et attraire a la Dieu accorde, ib. 11, 462
Dieu . . ., Par la vostre misericorde Treuvent li pecheour accorde, ib. 30, 1412
Se de lui (mit Gott) veuls avoir l'acorde, Du monde dois trenchier la corde,
Watr. 393, 65.
'Tätigkeit des Versöhnens, Vermittlung': ..., Quant pour nous s'acorde
aeorda, Dont Diex sa miserieorde a En nous .... Watr. 114, 43.
'Versöhnung, Versöhnlichkeit': Par lui (Marie) so^it tuit li descorde De
pechie a Dieu racorde; Plaiiie est de douceur et d'acorde, Fontaine de miseri-
corde^, Watr. 63, 259.
'Übereinstimmung, Eintracht': Li borjois li fist quant qu'il vaut, Qui lies
et joians s'i acorde, Con eil qui desiroit V acorde, Julian 872; Li dus et ele
tant l'amoient Que fil et oste le elamoient. Trestot troi sont bien d'une
acorde (in voller Harmonie leben), ib. 919.
'Beilegung, Beschwichtigung': Mais amour et misericorde De totes courrous
a fait acorde, JBlonde 5836.
acordement, s. m., 'Aussöhnung, Frieden' auch: Li rois s'en torne,
90 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
pleitis fu de maltalent, Car dolans est de cel acordement, RCambr. 5364;
En aucun tans raruns acordement, Se il li piaist et Jhesu le consent, ib. 5973 ;
Car je le voel de euer rcquerre ... qu'il li mant Pour Diu k'il face acorde-
ment A vous et ensement a moi, Jeh. Blonde 4908.
'gutes Einvernehmen': La s'ala Orgueilx aloier Avee le vassal Hardemeyit
Et fu de son acordement Et li uns monlt de l'autre ame% (trat mit ihm in
g. Einv.), Watr. 205, 214.
'Vereinigung, Bund': Quarit li bacelers iert as cans . . . Et mouvera pour
assambler, DoJit li devra amours doubler La fierte et son Jiardement ; Chi ara
bei acordement (zw. d. mestier d' armes w. d. m. d'amors), JCond. I, 102, 166.
'Vereinbarung': Puis prisent no baron entr'iaus acordeinent D'aler a Babi-
loine (übereinkommen), Bast. 5461.
acorder, vb. intr., mus. auch: concino, is, acorder en chant, Cath. Lille 45;
(Maria zu einem Frommen, den sie in Begleitung ihrer Engel besucht) il te
covient Ävec mes anges acorder En chantant et moy recorder Äucunc loenge
noiivelle, Mir. ND. 13, 1796.
'zusammenstimmen', auch: comiibeo, assentir, aceorder, assambler, Cath.
Lille 45.
trans., mit sächl. Obj., 'in Übereinstimmung bringen mit, in Beziehung
setzen zu, anwenden auf: Ensi li plais des chanonesscs Et les parolles fele-
nesses Et li jugemens recordeis Puet par example estre acordeis Ä ehiaus
qui la vigne ahanerent, JCond. II, 45, 1466.
'ausmachen, vereinbaren' auch: Ensi fu la cose acordee Et juree d'ambe
.ii. pars, JCond. I, 104, 234; — mit daß-Satz: Si que entre lor acordereyii
Et par bo?i art estaublisserejit Que une legions souteinne 0 les äides qu'ades
meinne . . . Pooie7it es legieres batailles Soffire, Prior. Veg. 4141 ; Oiseas et
bestes s'aseinblerent, Per comjnun consoil acorderent Que la grüe dcust ce
faire, Ly. Ys. 470; II ßrent un concile et acorderent entre eis qu'il feroie7it
prediquer al pöble saini Jaque, Afr. Pr,-Leg. C 2, 1.
'gutheißen' auch: Sire, je l'accors bonnement, Mir. ND. 5, 653; Dame,
e'est bien dit, je l'accors, ib. 31, 2483; Xacorde ce qic'ilx en diront, Froisa.
Poes. III, 119, 8.
'bewilligen, zusagen, zusichern, auc. r. od. c. Inf. od. de c. Inf. od. que
c, Fut. a auc.', auch : l'autre jour avint que, quant je les veus ravoir (sc. les
lettres), eile le mes acorda doii rendre, mes que la copie l'en demorast, Froiss.
Po6s. I, S. 340; je le vous acord liement, ib. 1, 25, 831; Mais pas ne leur
ay acorde (es), ib. III, 203, 2157; Le roy lui acorda (es), Pr.-Erec 255, 15;
ib. 264, 29; par non vous voidoir acorder une demande, ib. 256, 43; — La-
quelle chose ... le dit evesque accorda faire par eonseil, Chron. Puc. d'Orl.
bei Buchon, Chron. et Mem. I, 462»; il accorda faire la dite sornmation,
ib. 462b; — et lors que Cliges a acorde d'aler a la court, messire Gauain
en est moult joieux, Pr.-Clig 321, 2; eile lui acorde d' estre s'amie, Pr.-Erec
274, 42; pour ce qu'elle ne luy acordoit de l'aymer, ib. 275, 17; — A vostre
pere vous menray, Ma fille a fem77ie li donray Par si que vous m'acordere»
Que vous tna femme aussi serex, Mir. ND. 37, 3201.
'beilegen (einen Streit)' auch: Voions se ja poriens ceste guer7-e acordeir,
PoMor 498a; Ihiec si fuissent li barun Por acordeir lor grant tenchun (zw.
d. beiden Brüdern), MBrut 2449; Elle a mainte gu^rre acordee, Car moult
atme pais et Concorde, BCond. 241, 244.
'(Herz, Willen) zu etw. geneigt machen, dahin bringen zu (a auc. r. oder a
c. Inf.)': Ne se devroit 7nie retrai7-e Li ho7n qui set le bien 7-etraire Que son euer
a che n'acordast Qiie bien desist et recordast, JCond. II, 133, 11; Qua7it il ne
veult son vouloir aceorder A faire riens que pour soi, Froiss. Poes. III, 78, 13.
'jmdm. etw. ins Herz legen, Kenntnis geben von, mitteilen' i: Ne ferai
1 Selbständiges Verbum, wenn das sonstige acorder von efhjorda kommt.
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 91
7nie lonc se^or E)i lor proeee deviser, Ainx vos vueil le conte acorder Einsi
com je sai la 7na(ire Et mes encjins et mes se»s H}-e A recorder la verite,
Meraug-. 310 Var.; 'verständlich machen, erklären': Adont tournai sus une
glose Qui nous approeuve et ?ious acorde, Si com Ovides le recorde, Les ccvres
de Pytiotens, Qui . . . Fisf iymage parlans et vive D'aige et de terre, Froiss.
Po6s. I, 257, 1296.
mit pers. Obj.; 'jmdn. versöhnen,' auch vers od. envers auc: Mult volentiers
reust de laenx delivreic, Mais ne savoit s'ele eret rer deu tote acordeie (d. h.
Begnadigung, Vergebung bei Gott gefunden h.), PoMor. 311 1>; Et mut en
o»t tresfuit graut joie demcn''ie De ce ke la dame eret ver deu tote acordeie,
ib. 395 d; Anx, serat tant jdus tost enver deu acordeix, Cant il pot le mal
faire, s'il est al bien turneix, ib. 185^; — Inf. sbstvt.: Del raeordeir fait il
(Gott) w Corte u longe atente ("Versöhnung, Begnadigung gewähren), ib. 407 c.
'jmdn. zulassen zu etw.': Bien sai ke deus vos at tote quite clameie, Vos
estes a sa grace finement acordeie, PoMor. 415 b,
refl., 'zusaramenstiramen, übereinstimmen' (eine Mehrheit unter sich): eil
ne pucent inganment les comin andern e7is acomplir qui ne s' accorderent onques
avant ne ne furent ensanihle (non possunt aequaliter iussa complere, qui ante
pariter non fuerunt), JMeun, ArtChev. 42; li bons dzis doit ... assaier a plu-
seurs fois ... comment il s'acordent (quemadmodum sibi ipsi consentiant),
ib. 98; Sainx Pox li dit: Co que tu as öi de Peron, ice croi que je ai dit,
quar nos nos acordem ensemble come une chose, quar nos avons .i. seignor
Jesu Crist (unum enim sentimus, quia unum habemus dominum J. m Chr. m),
Afr. Pr.-Leg. 17, 14; Li anc'ien si ordonerent, Et tuit ensaynble s' acorderent,
Qiie jovancel legicrement Armey . .. essaillissant Les (difla7i\. Prior. Veg. 7994;
{a auc. r., über etw. einig sein':) Li aneien Vossirent et estaublisserent, Et
a ce tresfuit s' acorderent, . . . Que tote la inoitie des gaiges Es Chevaliers fut
en satff mise, Prior. Veg. 3360 (oder a. se que, bez. a ce que, s. nachher,
in den letzten zwei Beispielen).
'sich verloben': A rosfre pere vous menray, Ma fille a femme li donray,
Par si que rnus m'acorderex Que vous ma femme aussi serez; Et quant
acorde nous serons, Nox noces ejisemble fermis Taut pour le miex, Mir. ND.
37, 3213.
'sich vereinigen mit': quant sa^is descorde (sc. amonrs) 0 le niestier d' armes
s' acorde, Grant advantaige a (er) de valoir, JCond. I, 105, 256; 'sich einigen,
einig werden mit': Chascune denree est vendue Au marchie, quant on l'i
aparte; Chieus cui ele piaist V en rcporte, S'il s' acorde a celui qui vent, JCond. II,
35, 1149.
'sich wider jmdn. vereinigen, verbünden, ein Komplot schmieden': 0 bons
emperere, cuides tu que jo diputeisso cotitra res dous qui sont acorde contre
moi (qui adversus me consensum fecerunt)? Afr. Pr.-Leg. A 17, 17.
'darüber einig werden, daß, übereinstimmend entscheiden, daß', mit que
c. Ind.: ... si qu'il s' acorderent (lat. crediderunt) que une seule legions areuc
les aydes ... pooient assex souffire es legicres batailles, JMeun, ArtChev. 75;
mit que c. Conj.: Donc s'acordent comunemant Tuit ensamble per jugemant
Que cix soit a forchex pendux, Ly. Ysop. 3273; La conrt toufe ensamble
s' acorde e'on li face misericorde, ib. 3379 ; Adonc tax li pobles s'acorda que l'um
feist rei do frere Effigeni, Afr. Pr.-Leg. J 37, 1 ; mit que c. Fut.: Ainsi tuit troi
acorde sont Que la Manekine ardero7it, Manek. 3561. Vgl. auch oben Veg. 7994.
'dahin übereinkommen, daß, vereinbaren, daß (a ce que c. Fut.)': A ce s'acor-
dent . . . Qu'il an iront . . ., ChCharr. 5116; Mais ib. s' acorderent a ce que sempres
quant la nuyt sera venue et la damoiselle sera couchee en vng pauillon toute
aeule . . ., messire Oaimain ira coucher avec li. ... A ce s'acordent amduy, si le
firent tont ainsi com ilx l'avoient dit, Abent. Gaw. 32. Vgl. auch oben Veg. 3360.
'beistimmen, zustimmen, einverstanden sein mit', a auc r.: Dame, s'a ^ou
vos acordes, Por Diu, et c'or vos racordcs Viers moi, se j'ai folie emprise
92 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
Pour rous, faifes que bien aprise, BCond. 313, 1310; Dame, fait il, je m'i
acort bien, Pr.- Julian XXXIX, 5; Je m'y aecors, Mir. ND. 2, 904; 23, 410;
34, 1346; je ni aecors bonnenicnt Et m'assens a vostre requeste, ib. 34, 892;
A vostre dit assex m' aecors, ib. 38, 490; Dame, mes cuers a ce s'aecorcle,
ib. 2, 904; nul de rous ne s'i pot acorder, Abent. Gaw. 60; M messire
Gauuain s'i acorde bien, ib. 64; — a c. Inf.: Dont est il fols ki ne s'acorde
Ä verite dire et traitier, Se del mentir se sei (jaitier, Alexius S, 208 Ha.; A
Deu servir cascuns s'acorde, C'onques entr'ans dous n'ot discorde, Julian 2693;
a roir dire tuit s'acordent, Baris. 1045; Et ne se voellent acorder As mauvais
d'ensus d'iaus cacier, JCond. I, 111, 114; A teile gent sierrir s'acorde Jehans
de Condet, ib. 142, 19; Pasc'ience a soffrir s'acorde Les gries et les tempta-
iions, ib. II, 40, 1292; 7ie il ne s'acorde A nul bien dire nule fois, Watr. 266,
1100; A morir ainsi miex m'acors, ... Que ... Mir. ND. 20, 316; Sai7it pere,
trop bien je m'acors A estre vostre der des ei, ib. 38, 74; A aler noiis ent
m' aecors, ib. 31, 1040; — de c. Inf.: Pour ce de euer, non pas envis, De
chanter avee vous m'acors. Mir. ND. 30, 1464; Dont s'acorde sans contredit
De sa promesse a aquiiter, JCond. I, 205, 1091; — a ce que c. Conj. Voles
vos a ce acorder Que vos facies ma volente? Ferg. 187, 11; Et si se voellent
(Conj.) acorder A gou que cascuns sans boisdie Pater noster pour l'atne en
die, JCond. I, 296, 198.
'den Einklang, die Übereinstimmung mit etw. wahren' {a auc. r.): Dunkes
alsi com sai7ix Faules ne soi acordet mie par ccste sentence ax paroles cid il
avoit devant dites de l'enferteit Thüyiotheu, anx repairet a ce k'il avoit entre-
laissiet, alsi fait Eliphax eii cest Heu, Job 363, 27.
'sich einer Sache hingeben, ihr huldigen (a auc. r.)': Car qui a droit amor
s'acorde, Sovent et volentiers recordc Taus les biens qu'il set de s'amie,
BCond. 308, 1164.
'mit sich einig sein betreffs etw, (en auc. r.)': Car maiyis haus kons en ce
s'acorde Qu'il veut son vois in e^iganer JEt a pou d' achoison pener, BCond. 471, 86.
'Frieden machen', auch vers auc: Dame, s'a gou rous ocordes, Por Diu,
et c'or vos racordes Viers moi, . . . faites que bien aprise, BCond. 313, 1311.
'sich vertragen, zusammenpassen, zusammenstimmen' auch: Cex piaroles
s'acordent bien, ... Mout dist la danic que cortoise Et eil dist que frans
Chevaliers, Meraug. 1372; Quant son pooir (die Nature) au mien (d. der Venus)
assamble Et il s'accordent bien ensamble, Sans le souverain Creatonr Ne por-
roit nus hotis querre tour Dont vers nous tenser se peust, JCond. II, 30, 974 ;
si que li oel et li cuers s'acordassent ensanble a ce que on vuet ferir (ut ad
illud quod feriendum est oculus pariter animusque consentiat), JMeun, Art.
Chev. 22; Si que oil et cors per saison S'acordoient andui ensainble A ce
que a ferir te seinble. Prior. Veg. 1203.
'mit etw. übereinstimmen, zu etw. stimmen, einer Sache entsprechen':
Dunkes les ierrienes dispensations soi acoi-dent solunc la cojistumc des chamox,
a la loi del chief, et del piet s'en discordent, Job 348, 12; Icesfe douteuse
maniere d'alcr et de venir par coi la mer se gete ejisi hors et se resoit en
soi meismes, quant ele s'acorde au cours des nes, ele lor aide, et quant de
lor est contraire, si les retarde (cursum navium secunda adjuvat, retardat ad-
versa, sc. haec ambiguitas), JMeun, ArtChev. 172; Quant eeste meriiere s'acorde
Es cors des nex et s'i Concorde, Ele lor fait fox. biens a faire Et les aide,
Prior. Veg. 11005; Ta grant biaute et ta nobleche S'acordent bien a ta proeehe,
Rieh. 2098 ; A l'ewangile bien s'accorde Li jugeynens fais chä deseure, JCond.
II, 44, 1448; Sy conte li auctoritex. Et s'i a<;orde veritex, Qu'il fu trop for-
metit entechiex D'orgueil, ib. II, 291, 76; 'Gratia Plena', bien ixcorde La lettre
qui a che s'acorde Qu'il n'est nus qui peust retraire Ta grace et ta niiseri-
corde, ib. II, 129, 14 (Scheler: l'öcriture qui s'exprime ainsi).
'stimmen, in Ordnung sein': Nous sons d'un eage et d'un grant, D'une
maniere et d'un aler, D'une vois et tout d'un parier, Et c'est chose qui bien
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 93
s'acorde, Car le philoKophe recorde Que sunnables quiert son sannable, Froiss.
Po6s. n, 44, 1498.
acordant 'zusammenklingend': Ralons nous ent, fil, yl est te»ips. Ätiges,
cfiantex sotis acordens Sans plus cy estre, Mir. ND. 35, 1413.
acorer, vb. trans., 'töten', übertr., auch: acorer le euer d'auc, Jeh. Blonde
1212; C'est qou que plus mon euer acore, JCond. I, 223, 1740.
acorneter, vb. trans., auch: (die Frau mit dem Säugling in der Einsam-
keit) Et si fault que Je paine mette D'aioir lait et une cornette Do?it je vous
acoryietteray, Biau fih, Mir. ND. 18, 1084.
acorre (acorir: C'on voit viort en l'ciire acorir, Watr. 18, 534), vb. intr.,
a auc. auch: Me les vit, ses reconyiut, A grant merveüle e?i acourut A eis,
Veng. Rag. 5698; andre Vbdgn.: Quant Belchis choisi et conut Lidoine, vers
li acorut, Meraug. 3780; Et toy arme pense d'acourre Contre paiens et de
secourre Aux crest'iens, Mir. ND. 33, 1653; eist m'aeort sore, Meraug. 3604.
bildl. auch: Ases en trova (Abenteuer) et de dures Batailles, tant l'en
acm-ut! Veng. Rag. 6133.
acort, s. m., mus. auch (Erzeng. Michael zu Gabr.) Qahriel, disons, ami
dous, Ce rotulel ei, bei est d'aeors (es klingt schön, zusammengesungen) Mir.
ND. 22, 1720; Ce rondel ci, qui bon me semblc. Disons, il est de bons aecors
(ist angenehm im Zusammenklange), ib. 30, 1409; Ensemble d'un assentement
Nous fault d'un motet le recort Chanter: bon fol, a nostre accort Tost vous
mettex, (einheitlicher Gesang mit uns), ib. 17, 1809; — d'aeort, par acort,
d'un acort 'mit einheitlicher Stimme': Anyes, or tost: alez devant Et chanter.
d'aeort, Mir. ND. 22, 1456; Sus, d'aeort ensemble disons Ce motet ey, ib. 27,
2125; Anyes, alex ysnellement La jus et faiies un recort D'un rotulel chanter
par acort, ib. 22, 1690; La le ehantames (sc. le rondelet) d'un acort A trois
Sans faire md descort, Froiss. Poes. I, 27, 901.
'Übereinstimmung, gutes Einvernehmen, Einigkeit, Einverständnis': Cil
ne puent pas acomplir Les comandemanx n'aemplir Qui onques mais ne se
veirent Nonques mais acort ne fcirent Wonques mais ne furent ensarnble
(mit einander übereinstimmten, sich zueinander fügten), Prior. Veg. 2222;
Soions d'aeort et moy et toy De faire une deputoison de nox loys (unterein-
ander darin einig) Mir. ND. 21, 1109; et s'il y a descort, Nous votts metterons
a accort (einig machen), ib. 35, 1321; Si penser et desir sentex Dcdens rostre
euer en discort, Prenex espoir et Vi entex Par attrempance, qui d'aeort Les
mettra, Froiss. Poes. III, 91, 24; mettons nous ... ens ou recort De Congnois-
sance, bien d'aeort Nous mettra, ib, III, 238, 5; pour les mettre d' accort
Des arguemenx qu'ils ont fais, ib. III, 270, 2896 ; et si ne contens (ich trachte)
... Qu'a mettre yens en bon accort, ib. III, 271, 2918; Chascuns eii voll sa
pari avoir (sc. de l'avoir); Mais ce ne fu pas par acort (einträchtig), Quar
monier y vi tel descort Qu'il y saehierent les espees, JCond. I, 86, 1229;
Avant tost, nous deux par accort, Sathan, preyions cest emperiere, Mir. ND. 25,
1262; par bon accort, Froiss. Poes. III, 186, 1605; Ten sui d'aeort (einver-
standen), Mir. ND. 28, 256; Froiss. III, 274, 3011; bien sui d'aecort Que
cJmntons aucun dous recort. Mir. ND. 17, 1139; II fault que ... li conmandex
Et a touz ceulx de vostre terre Qu'il soient tuit d'aecort a Pierre, Qui bien
le veult, ib. 9, 70; (Ratschläge des Vaters an seine Tochter vor ihrer Heirat)
Oreniex vostre seignor le eonte, Si que nus ne vos die honte, Soiex tox jors a
son acort: Se nel fetes, vos avrex tort (eines Sinnes, einer Meinung mit ihm),
MRayn. VI, 103, 254; Si y deveries ... donner an^ois ou prommettre Dou
vo qu'a son acord ne fuissent, Froiss. Poes. II, 124, 4192; Et ilx furent de
mon accort Pour l'argent que je leur promis (einverstanden mit mir). Mir.
ND. 26, 747; Voir, je sui bien de vostre acort, ib. 28, 130; De ey n'yras
mais phis avant, Si notis aras en eonrenant Que jamais n'en feras recort
Et que seras de nostre accort, ib. 31, 780; Soions trestoux de cest acort Et
faire en alons le recort Aic roy ensertible (hiermit einverstanden), ib. 34, 1946;
94 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch.'
Se votis estes de cest aecort, Par Mahonmet je m'y accort Estre en aiissi,
ib. 38, 543 ; Se j'eusse de mon acort Ceulx qui ont le tresor en garde De ce
palais ..., Je fusse hien, Froiss. Poes. III, 184, 1 ; eilx qui plus de son acort,
Dp vous on de moy, en ara, La rictoire li demorrn, ib. III, 279, 3138 ; Alons
donc: je ne vueil pas istre De vosfre accort, Mir. ND. 7, 545; d'un acort 'ein-
trächtig, einmütig': Jugement n'aura record, Dcsques i seent de un acord,
Oxf. Ps. S. XXIX; Et sotit ces deus vertus en vous si tres hien d'un aco7-d
que riens ne les empeche ne varie, Froiss. Poes. I, S. 327 ; Tel recort Poran
(d. i. j:>ora on) dire par esclame D'un acort, ib. II, 255, 306 ; — tnetre acort
a auc. r. 'sich einverstanden erklären mit, sich bereitfinden zu': Partout iert
de lui ramembrance Oü cils dis iert mis en recort, Si a au faire mis acort
Jchans de Condet, JCond. I, 295, 164.
'Begleichung, Ausgleich': Pour ynetfre en paix et en acort (beilegen) Et
annichiler les contens (Streit), Froiss. Poes. III, 278, 3108.
'Aussöhnung, die jmd. gewährt, Vergebung': Du grant annuy et du eon-
traire, Sire, que vous ai fait a tort, Vous requier mercxj et acort, Mir. ND.
9, 465; par acort 'gnädig, huldvoll (?)': Et lä estoit la damoiselle Dont je
m'aia her moult fort, Qui 7ious fist seoir par acort, Froiss. Poes. 1, 184, 3275.
'Übereinkunft, Vereinbarung' auch : Si fu a ce pris leur acors Que chas-
cuns une (sc. couleur) en porteroit, Watr. 314, 110; par ung commun acord,
Pr.-Erec 293, 5; Pr.-Clig. 260, 27; (die Tochter zum Vater, der sie gefragt
hat Est il nul a qui convenant Aies ne de foy ne d'amour?) De ce n'aiex.
nulle douhtance Que j'aie a nul komme al'iance N" acort nul fait (Liebespakt),
Mir. ND. 19, 567.
'Zustimmung', auch: 'Je n'y vueil, puisque le voulex, Point contredire.'
'Grant mercix, plus de cent foix, sire. De cest accort', Mir. ND. 28, 1775; La
etulroit ot moult grant descort, Gar chascune avoit grant aeort (Beifall),
JCond. II, 29, 940.
'Neigung, Wille' auch: Si est a ^ou totis mes acors Que la grant valor
de sofi cors ... on compere Ä la douce alaine au paktiere, BCond. 20, 65;
Et doit estre tous ses acors Au bien faire et au mal laissicr, ib. 47, 58; Ei
mes acors Est bien a ce que mes amis Seres, JCond. I, 318, 499; Et doit
estre tous lor acors A ce que de euer et de cors Se maintiegnent en honncste,
ib. II, 39, 1259; Et a fou ai mis mon acort Que du bien faire as boins
recort, ib. I, 258, 101.
'Sinnesart': Ne avarisse d'autre part Wavoit en lor afaire part, Car il
erent de bon acort Et piteus et misericort, BCond. 8, 198.
'Meinung, Urteil': Et ki el vous en dit, si ment, Cest bien mes acors et
mes dis, BCond. 73, 277; Par nostre acort Amours ne vous en scet nul grS,
Froiss. Poes. I, 34, 1117.
acorter, vb. trans., auch: Tu (Tod) me fais languir et si m'aeortcs ma
vie, mes c'est trop Icntement, Abent. Gaw. S. 103.
aeoster, vb. trans., mit pers. Obj. auch: Volentiers se doit on garder
De tel compaignie äcoster (sich gesellen zu), Chastoiem. VI, 72; pass. Au8-
drucksw.: Lä fu wts tamps qu'on l'assali Pour guerr'ier a tous costes, Mais
il se trouva acostes Au besoing de ses bons amis, Froiss. Poes. I, 213, 75;
aeoster auc. d'auc. 'jmdn. jmdm. zum Begleiter geben': Belle fille, je vous
acoste De Loyaute et Ic vous cargc, ib. II, 191, 1012.
'Einkehr gewähren, aufnehmen': (an den Körper) En tel ostel es acostes
(Einkehr halten) U cascwis os en ta pel crinee, Dit du Corps (Zeitschr. 22,
51) 56 (Geoffroi de Par.: Quant a la mort es ajostex, En tel ostel es acostex
Ou nies ne baingne ne ne rince).
rfl. auch : Et va vers le pertuis petit Foiblement petit et petit; Quant *Z t
fu, si s'i acoste Sus et jus, de lonc et de coste, ChCharr. 6581; Lors s'aeoste
dejoste li, Tr. Belg. I, 232, 219; Lors m'alai tantost acouter Delex Verite pour
savoir . . . le voir, Watr. 265, 1088.
1
Beinerkungeu zu 'Adolf Tobler.s Altfranzös. Wörterbuch' 95
acosttimance, s. f., abs. ('Gewohnheit, Brauch') auch: Ne tenir rnie en
vitancr L'us ne la botie acostumance, Prior. Veg. 8264; po}- la bone acostu-
mance, ib. 3624; S^on rit, pleiirer li est d' acoustumance, Ch. d'Orl. (ed. Heric.)
II, 123; d'acostimnuice: ma dame Congnoissance ... Me dist ... Que f'eusse
d' accoui>tu7nmice . . . Enclos en ma condicion Leale et bonne entcncion, . . .,
Frois3. Poes. III, 3, G5.
d'auc. r. 'Gewohnheit, Ublichkeit; Gebrauch': Anpereres rainquierres, il
appert bien par l'acoustiimance de tcs victoires qrie tu as pJainement et saye-
nient retemt les establissemens des grans hommes anciens (continuis declaratur
victoriis ac triumphis), JMeun, ArtChev. S. 39; car acoustimiance de travail
ptiet donner smivete es herberges et victoire es batailles (laboris consuetudo,
die Gewohnheit körperlicher Anstrengung), ib. S. 76; Bietis ne pourfite plus
en bataille que bien garder les ordres jmr acostumance d'uxage (adsiduo exer-
citio), ib. S. 34; Li jovenciax m'cismemant Acostumance isnelemant Doivent
aprandre de tost corre, Prior. Veg. 868; Car tex i a qu' acostumance Ont du
lotir foleniant despandre, ib. 3370; encontre la uoisouteit et la boisie del
diaule . . . cui li longe acostumance de son malice at fait trop uoisous,
SBern. (F.) 154, 17.
acostumee, s. f., auch: Dame, Je say qu' acoustumee Est que l'evesque et
li provoire Font hui moult yrant feste, Mir. ND. 5, 593.
acostumer, vb. trans, auc. a auc. r. 'jmdn. an etw. gewöhnen, jmdm.
etw. zur Gewohnheit werden lassen': Voir ce qui plus m'i acoustume (sc. die
Armen zu speisen), C'est, sire, que souvent recors Ce que Dieu si wisericors
Notis a volu . . . estre Qu'a nous a fait un biau filx naistre, Mir. ND. 40, 10.
avoir acostume 'die Gewohnheit haben', auch c. Inf.: Et li lerres avoit
aconstumeit venir ei par la soif monteir (venire consueverat), Dial. Greg. 15,
15; Mais a l'ore de sa refection uns corbeax avoit aconstumeit vcnir de la
voisine selre, Dial. Greg. 70, 3; ib. 76, 19; se la pieteiz de iugeor li defalt,
hi at aconstumeit delivrer de la permanant paine, Mor. Job 316, 5, und de
c. Inf.: sHl du pioint du jor a l'ore Ont acostumey de suscorre Lor enemis
(Text desu^ corre, zu suscorre vgl. 6160), Prior. Veg. 5060; pour cou qu'il
n'avoient mie acoustume d'aler etisi, Pr. -Julian XXXI, 6; car Erec avoit
acoustuyne de dini servir primes et aimnt toutes euvres, Pr.-Erec 257, 29; le
eiel fu eydumine bien heure et de^nie plus tost que le courx de nature n'avoit
acoustume de faire, Pr.-Clig. 297, 7; passive Ausdrucksw.: Dame, je ne les scay
QU querre (sc. les armes de saint Mercure), S'en la chasse ne sont trouvees Ou
ont este aceoustumees De garder, Mir. ND. 13, 1095 ; et le lendemain ...fit
le sennent en tel cas acoustume de faire, Jean de Troyes (1465), bei Buchon,
Chron. et Mem. I, 263».
acostumer 'pflegen', c. Inf. auch: qui bien amer acoustume, BCond. 296, 812.
rfl., a auc. r. oder a. c. Inf.: A cest usage se doit li Chevaliers acoustumer
(ad hunc usum instituendus est tiro 'ist abzurichten'), JMeun, ArtChev. S. 34;
Et si se doiveyit acoustumer li Jone homme meismement a courre (sed et cursu
praecipue adsuefaciendi sunt iuniores), ib. 16; si qu' il se puissent acoustumer
d'iluec a veoir et a conoistre lor anemis (unde et videre hostem et agnoscere
consuescant) ib. 106; Puis qu'a bie7i faire s' acoustume Et de voir dire a la
cmistume, Mir. ND. 30, 274.
acostuyne, pt. pf ., von Sachen : 'zur Gewohnheit geworden, gewohnt, in Brauch
gekommen, üblich': pour ce que l'usaige dou travail acoustume en pais ne lor
semblast pas grief en la bataille (cotidiani laboris usus), JMeun, ArtChev. 67;
r on redoute mai?is les choscs conneües rt acoustumecs et aüsees (nam quae ex
U8U sunt non timentur), ib. 106; Et arecques cc les aies (Hilfstruppen) Acoustu-
mees et estaublies, Prior. Veg. 2388; Et a la foix avient que li corages quand il
cesset de sa aconstumee parole soi desoivret par la lot^gece del tens del amor del
proime, Mor. Job 365, 37; par acostumeit desier, Senn. Bern. (F.) 50, 36; Et ...
fiit ordonne . . . que chacun quartenier et dixenier d'icelle ville fisseni faire
96 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
des feiix es lieux accoustumes de les faire (an denen es üblich war sie zu
machen), JdeTroyes (1465) bei Buchon, Chron. et M6m. I, 264b.
von Pers.: 'in einer Gewohnheit aufgegangen': Cascune nm't me guerpis-
sies . . .; Si estes ore aeoustumes Que ja n'en faiira unc nuit, Chastoiem. XII,
196; 'von Gewohnheit, geschult': Cüs Poitevins do?it vous partes, Esce uns
bregiers acoushimes? S(^auroit il faire un ongement, Une houce ou im veste-
meni Ou U7i Jupel a alerons? Cognoist il brebis et vioutons, Les scet it garir
de la rongne? Froiss. Poes. 11, 315, 21.
'gewöhnt an' auch: (d'auc. r.) pour ce que cit qui ne sont pas acoustume
de tel chose sont plus froissic par paour (quia timor magis frangit insuetos),
JMeun, ArtChev. 145; De ce ert bien acostumes, Julian 4364; les crcatures
nees, Presens et passes, Dou cognoistre acoustumees, Froiss. Poes. II, 109,
3678; (en aue. r.) Et qiiant li corages ki aconstu77ieix est es corporeix
choses, penset de cele substance, st soffret les fantasies de diverses ymagenes,
Job 338, 29.
'gewohnt zu', a c. Inf.: la chevalerie Qu'acostumee ne est mie Ä bataillier,
Prior. Veg. 5750; de c. Inf.: a Chevaliers qui ne sont pas acoustume de batil-
lier (desuetum a pugna exercitum), JMeun, ArtChev. 99, X; Et le lundy ...
fut crie en la ville de Paris que tous marchands aeoustumes de portcr vivres
en ost portassent vivres a iost du roy, JdeTroyes (1466), bei Buchon, Chron.
et Mem. I, 268 b; que . . .: La dame acoustumee estoit, Si tost com il fors en
issoit, Que a la fenestre acoutoit, Chast. 12, 45.
non acostume 'ungewohnt, ungewöhnlich': demenans ung non acoustume
duel tresatigoisseux, Pr.-Clig. 326, 37; attenviex de nourel et non acoustume
Service de tritresse, ib. 329, 36; ung non acoustume souvenir, ib. 335, 20.
acostumier, adj., non ^: meyians tel bruit de ceste non acoustumiere
joie de court que . . ., Pr.-Erec 290, 23.
**acotart, s. m., s. A. Delboulle, Rev. d'hist. litt, de Fr. I, 184 (14. J.).
acoter, vb. intr., 'sich niederlegen', ferner: el settem (lue) ara gardaroba
et trois chambres a fenestres, qui ferront el vei-gier, a acodar (in septimo epi-
caustorium et triclinia accubitalia), Afr. Pr.-Leg. F 15, 16.
acouchier, vb. rfl., au lit 'sich zu Bett legen'; Quant uns maus son
mari tou^a Au euer, si c'au lit s'acou^a, JCond. I, 224, 1758; Les fievres
m'alerent aherdre, Je m'alai acoucier au lit, Froiss. Po6s. I, 129, 1451.
acouchie 'bettlägerig', auch: Dame, vostre amour en tel point M'a rnis
que fen suis acouchiex, Mir. ND. 27, 551.
*acouchiee, s. f., 'Wöchnerin': Je sui une povre acouchee De grant dou-
leur au euer touchee, Mir. ND, 15, 787; S'il raus pleust, chier sire, attendre
(mit eurer Fahrt nach Jerus.) Qu' acouchie me laississiex (als Wöchnerin
zurückließet) Et que vostre hoir voas veissiex, H vaulsist ?niex, ib. 37, 185,
s. auch Delboulle, Rev. d'hist. litt, de Fr. I, 185.
acouper, vb. trans., 'anschuldigen', auch: Unke ne esteyum aeoupee Ne
mey ne ma meynee De baterie ne de manaee Xe de outrage kc jeo face (Non
increpavit aliquis meos filios quod se inhoneste gererent), S. Panuce 143
(Rom. 38, 423).
acoupir, vb. trans., auch: curuco, aeoupir, Gl. Lille 52; M6on I, 218,
827 = Je sui eil qui vos ucoupi Et qui la chievre vos vendi, Trubert 829.
acovenancier, vb. trans., 'jmdm. etw. zusichern, versprechen', Altfrz.
Pr.-Leg. E 9, 5, Hs. B, s. acovencier.
**acoveneier, vb. trans., id.: Quant li juif viretit que li sainx apostres ot
eonverti Hermogenem ..., acovenceront grant avoir a.ii. centurions qui eront
bailli de la terra de Jerusalem (obtulerunt pecunias centurionibus duobus),
Altfrz. Pr.-Leg. E 9, 5.
*acover, vb. trans., Une femme tenoit en ses bras aeolee Dois siens en-
fans petis; l'aige l'ot acovee, GLiege 30036 (Scheler: l'eau l'a engloutie); Tant
en abat a terre, herbe en est acouvertee (Seh.: 1. acouree, bedeckt), ib. 389.
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 97
aeoverter, vb. trs., 'bedecken', auch: Atant fut li sains cors de drap
acoverteis, GLiege 11174.
aeovertir. Vermutung für die Stelle Et ont la pel taut durc et tant
acouarcie (Tobler: 1. acovartic), Crois. II, 99; in der jüngeren Spaldinger Hs.
et itant anercie. 'bedeckt' spricht als Bedeutung nicht an. Begrifflich würde
acorni 'hornartig' (vgl. racorni, God. Cpl. u. encorni, Prior. Veg. 388, beide
gern mit dur gepaart) zusagen, durch das dem Verse jedoch eine Silbe ver-
lorenginge.
a er av enter, vb. trans., auch: obruo, acravanter, trehuchier ou abbatre,
Gl. Lille 100; (Steine) pour acraventer les anemis desous (ut demissa per
praeceps . . . hostes obruant subeuntes), JMeun, ArtChev. 142.
acreanter, vb. trans., a aue. a faire auc. r.: Et ü li compte maintenant
comment il s'estoit acompaignes a Pellias et li avoit acreante a piorter ly
loial compaignie et loyal foi, Abent. Gaw. S. 37; car i'ay acreante a donner
le Chief de Celle damoiselle du lit a ime autre damoiselle qui prie m'en a,
ib. S. 116; a auc. de faire auc. r.: certes, i'ay acreante a monseigneur Yvain
de ly faire compaignie anuit, ib. S. 69.
*aerester, vb, intr., Chi comenche l'istoire temps qu'en tous Mens acreste,
GLiege 1739 (Scheler: lever la crßte, bildl. s'enorgueillir, se distinguer).
aeroire, vb. trans., mit sächl. Obj.: jmdm. etw. darleihen, anvertrauen
(auc. r. a auc.)': ... D'amour qui vint tnon euer aeroire Sourquidier (Dat.),
cui mal fait a croire, BCond. 134, 25.
mit pers. Obj.: 'gläubig werden an': Diverses famines ... a suffert li
pobles de Rome, ancis qiie li homen acreessant ynon Deu (antequam unum
colerent homines Deum; in d. ümgbg. aorar), Afr. Pr.-Leg. M 38, 11; 'Ver-
trauen schenken': ..., S'ai tant acreu Sorquidier, Ken quidant m' a fait sor-
quidier, BCond. 134, 27.
abs., bildl. auch: Et s'il n'est tiex, il reut aeroire Sour fame trop aparam-
ment (Scheler: faire monnaie, tirer profit de sa reputation), JCond. II, 118,
48; Gar ne voudront aeroire pas A ton vivant sezir ton trespas, Watr. 405,
258; Ki seur tel plege acroit, tenir Doit bien couvent, AdHalle XX, 6, 8.
aeroissement, s. m., auch: et li ectges avenir desirra qu'il (sc. li bien
de ton regne et de ton euer) soient pardurablemetit estetidu par aeroissement
(lat. extendi in perpetuum), JMeun, ArtChev. 135.
'Vergrößerung': Vent livres toux sex te donrray Pour le bien et Vavance-
ment De ta fille en accroisseynent De son mariage (Heiratsgut), Mir. ND. 35, 381.
acroistre, vb. intr., auch: Et eti conquierent lox et gloire; De meu% en
meux tax jors acroissent, Prior. Veg. 3685 ; S'il entandissent ne säussent Que
lor enemi acräussent, Prior. Veg. 4156; quant savoient Que lor enemi acrois-
soient, ib. 5386; Beneure est l'eritage qui pour habondance de hoirs n'apetice
point, mais aeroist. Mir. ND. XXV, S. 122; vo pueple ades acroste, GLiege 8798.
trs., 'mehren' auch: Champion, charreton et cacheeur sont constumier de
hanter et de ehascun jour acroistre lor ars et leur science pour un peu de loier
ou pour grace dou ptieple (artes suas aut servare aut augere), JMeun, ArtChev.
S. 67; Champion et li eharretier Sont ehascun jor per costumanee Curioux
que il lor sciance Acroissent . . ., Prior. Veg. 3669.
'erweitem, vergrößern': ne quidcrent qu'il fust nulle phts grant gloire que
de fomler norelles cites ou de mettre lor nons as cites que li autre avoient ja
fondees en avroissant les (sub quadam amplificatione), JMeun, ArtChev. S. 134 ;
. . . En lor tox jors alargissant Et en lor tox jors acroissant (sc. les citex),
Prior. Veg. 8538.
'fördern, stärken': Et si dois tu d Dieu de dette, Que pour toi voll la mort
souffrir, Ton corps presenter et offrir Pour sa loi deffcndre et acroistre,
JCond. I, 374, 103; Dieu grace lui doint (dem Kaiser Constantin) Qu'il le
puist et eroire et cognoisfre Et la foy crest'ienne acroistre Et avoir en dilec-
eion, Mir. ND. 20, 22.
Archiy f. n. Sprachen. 140. q
98 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch
bildl. 'wachsen lassen, schwellen lassen': Vostre euer eu joie acroissiex!
Mir. ND. 16, 914.
refl. bildl. 'emporwachsen, sich erheben': Li ancien qui se voloient Cou-
noistre et qui par tout aloicnt Pour yaus en grant houneur acroistre, JCond. II,
217, 15.
**aeropole, s. f., Bien temprement l'aront a Romme en la trepolle {Schelei
schlägt vor ew l'acrepolle), GLiege 2010.
acrüir, v.intr., auch Quant Olivier ne truve, Heuer li acrüist, GLiege 18915.
*aete, s. m., 'Urkunde, Protokoll, Akte', s. A. DelbouUe, ßev. d'hist.
litt, de Fr. I, 488 (14. J.).
**aetivement, adv., s. Delboulle, ib. I, 488 (14. J.).
*aetuellement, adv., s. Delboulle, ib. I, 490 (14. J.).
acueil, s. m., auch: Et jo la pex füir voll, Dcsque seient de im aeoil
(einhellig), Oxf, Ps. S. XXX; hei ac. (freundliches Entgegenkommen, liebens-
würdiges Wesen u. dgl.) auch: Et s'est (sie) de si fres bei acueil Que tox,
li mon% l'en doit prisier, Gace Brul., Chans. LIV, 12; De quoi dont amour
en aqtiel, Se fause gent de biel aquel Font d'amer par anior semblant? BCond.
124, 144; Cuer sans venin et sans orguel, De biel apiel, de biel aquel, ib. 280,
340; eile le met en td esquel Par biel samblant, par biel aquel Que petit ei
petit l'atrait A s'amor, ib. 342, 2157 ; faire auc. de bei acocil, Lapid 190 in
Rom. 38, 60; par ton bei aceueil Si grant griefte en moi recucil Que pour
morir, Froiss. Poes. I, 7, 188; Et si le (f.) troeve aussi, quant il s'avance,
De bei aceoeil et de belle acointance, ib. I, 66, 460; ... Äs tu veti le bei ac-
eueil De ia bele, ib. III, 28, 907 ; De mon mal ... Je Ji'en sf-ai qui encouper
Fors r aceoeil Don bei aceoeil, Dame, de vostre vis der (Liebreiz des Gesichtes),
ib. II, 259, 91 ; persönl.: Moidt ai le euer du venire ire Dont j'ai Bei acueil
adire, Rose 3776; Humilites, Bei acueil et Liece (als amoureuses broquetes),
Froiss. Poes. I, 65, 438; Sa biaute est li arehiere Bei acueil, ib. II, 275, 199;
doux ac.: eile me tarde Son dotdc aceueil, Froiss. Poes. I, 151, 2194; Hz
tourtient leurs yeulx et doulcement s'entreregardcnt par un doulz acoeul qui
semond aux cuers des deux amaiis qu'ilx s' entretiengnent et perseverent a la
continuaeion de leurs entreprises, Pr.-Clig. 288, 43.
'Angriff auch: Froiss. Poes. II, 259, 90, s. vorher; Car il n'est coers que
7ie fiere Son acueil, ib. II, 275, 201.
'Anfügung, Anschlingung': (der Henker zu der zum Feuertod Verurteilten)
Dame, a genoulx ci vous mettex! Or g.a! Her par les eostex Ä eesfe estaehe ci
vous vueil, Et puis referay un acueil Par le col et par la poitritie, Ains que
je cesse mais ne fine Ne que plus face, Mir. ND. 26, 1009 (Bonnardot: lien,
noeud, boucle).
acüer, vb. trans., auch: eile {doleur) acüe les reugmes et le fluis des
humeurs, Mondev. Chir. 1267.
bildl. nach Scheler: Erament le fait prendre et puis l'evesque aetiCf]
GLißge 3006 (traiter avec vivacite, rudoyer).
*acüite, s. f., 'Spitzigkeit; Schärfe': l'acuite du coude, Mondev. Chir. 271.|
l'aeuite de l'orine, ib. 455; pour l'acuite et l'adustion du sanc et de l'hwneur,''
ib. 1568.
aeulverter, vb. trans., 'knechten', auch: Car puis que fame fait home:
aeuverier Et pere et mere li fait entroublier Couxins et freres et ses amis
charnex, De la gourpille vox doit bien ramembrer Qui siet sox l'aubre et
weult amont haper, AmAm. 568.
acurer, vb. trans., 'Sorge tragen für, sich bekümmern um' auch: et si
la ehose acure, GLiege 23268; Portant qu'il ne troroit prinche qui point
acure Le combattre avec ly, ib. II, 6333 ; Quant Joha?i l'entendit, la ehoise
fort acure, ib. II, 7481 ; de c. Inf.: et en son nom acure De faire a roi Tremus
wie pais bin mäure, ib. 2780.
**ac«s« itewr, 8. m., 8. A. Delboulle, Revue d'hist. litt, de Fr. 1, 487 (14. J.).
i
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 99
**acuse, s. m., s. A. Delboulle, ib. (14. J.).
adamasK, adama nt, 3. m., auch: E go, saciex, veraiernent, Qu'om l'adamas
hritist et fent Par le sanc de buc et de plum, . . . signeße graut raisun,
Thäun Best. 2894; E d'icest adcvmas nus dit Uns prophete en sun escrit Qua
■il Vit un barun [estant] Dedesur le [mur] d'äimant, Em en sa main l'ada-
mant out E en mi im pople estout, ib. 2923; Adamas ad de fer culur Et de
cristal la resplendur, Lib. de natura lapidum (Rom. 38, 496) 5; l'en trove
adamant De desur le munf d' Or'iant (ib. 498) 19.
adenter, vb. trans., 'umstürzen', auch ad. aue. a la terre: Tost fust a la
terre adentex Qui boire i vousist mauyre soi (sc. m. Bonne Volente), Watr. 105,
130; Avant a la terre l'adente (Imperat), Mir. ND. 9, 1173.
rfl., übertr. auch: Mondes, biaus dehors, lais dedens, Male morssure mort de
itciis Qui pour toi mordre a niort s' adente, Watr. 157, 66 (Scheler: s'attacher).
aderer, vb. rfl., 'sich anschließen': tous les confederes et allies de nous .. .
qui auront desclare se rouloir fermement adherer a ladite Concorde, Journ.
d'un Bourg. de Par. 1420, bei Buchon, Chrou. et Mem. I, 647 a.
adescr, vb. intr., von fleischl. Berührung auch, mit dem Zusatz chctrnel-
ment: Ne ja ne quier a vous charnclment adeser, Alexius Q 32 d.
vb. trans., mit en, 'jmdn. an einer Stelle berühren, treffen' auch : Ne l'ad
pas en ckar adese (bei dem Hiebe), Ipom. 4129; ebenso 4735; Mes ne l'ad
en char adese, ib. 9596; fleischlich auch: (der König will seine Tochter hei-
raten; sie sträubt sich:) ...Et oultre, si fault que f assemble Arec vous, quant
serons ensemble, Conment arex, char si osee Que de vous je soie adesee Gonme
il est de conmun usage Es assemblex en mariage? Mir. ND. 29, 318; über-
einstimmend ib. 37, 1126.
atic. r. desus auc. r.: Sa inain desus le livre adoise, Froiss. Poes. I, 107, 703.
adestrer, vb. trans., auch: dextro, mener a dextre, adexfrer, Cath. Lille 54.
Inf. sbstvt.: Et niaint autre grant prince furent a l'adestrer, BComm. 67.
rfl.: droit a la crois s'adieste, GLiege 10085 (Scheler: se placer ä c6t6).
adevaler, vb. intr., Inf. als Sbst.: Gar premiers en l'adevaler Ne fist fors
en dolour aler (Gegensatz en son remont), BCond. 360, 2636.
**adevancenient, s. m., 'Vorangehen, Vorrang': je (sc. N. D.) suis pre-
veüe estre creee par l' adevancemoit de dignite, si conme il est dit Sapieneie
po; Prior omni creata est sapiencia dignitate: La premiere de toutes choses
fu sapience creee en dignite, par laqueÜe Marie preceda, Mir. ND. 26, S. 180.
adevajicier, vb trans., 14. Jhdt. auch: Potir la pucelle adevaneier, Froiss.
Poes, in, 194, 1868; tant s'avan^a Que la pucelle adetJanga, ib. UI, 195,
1884; 15. Jhdt.: il ist de sa maison et pour adevancier Erec s'en va par les
adresces tont seul, Pr.-Erec 276, 31.
adevinaille, s. f., sans a., auch GLiege 5983 (Scheler: sans vaine sup-
position).
adevinemcnt, s. m., 'bloße Vermutung, Erdichtung': On le seet bien
eertainemefnt, N'i a point d'adecinement, JCond. II, 182, 48.
adeviner, vb. intr., 'Vermutungen anstellen, raten': Qant Franpois l'ont
veu, cJiascuns i adavine, Li uns dist qu' il est Saisnes, li autres el destine,
ChSax. 1620; // poroit moult bien estre Qu'en aultres mains venroit la lettre.
Et je ne vodroie a nul foer Qu'on adevinast sus mon coer, Froiss. Poes. I,
112, 892; Et ki adeviner sara, Si s'avise, s'il veut, commentLi nons i est
entirement, BCond. 373, 3014; Ses tu ja bien adeviner (in die Zukunft sehen)?
Adam 443.
'sich ausdenken, vermuten', auch: Ensi com mes cuers adevine, Li que>is
vne volra marier, JehBlonde 1922.
'sich etwas erfinden': Ch'ai ge Dit pour itant, se ja devine Ne devins dist
que j' adevine, Que je li voil moustrer a voir . . ., Watr. 393, 72 ; 'ins Gelag
hineinreden': Princes puissans de haute orine, Se tu crois fol qui adevine,
Tki en es en fin deceus, Watr. 142, 158.
100 Bemerkungen zu 'Adolf Toblera Altfranzös. Wörterbuch'
'Vermutungen, Betrachtungen sich hingeben, sinnen': Ainsi devise et ade-
vine Toutes Ics nuis dedans son lif, Si pense ercnt si delit, Manek. 1666.
'böse Reden führen über j.', auch: Et sour les femmes adevinent Et les
acusent et diffame^it, JCond. I, 207, 130.
trans. 'weissagen' auch : Uns naifis . . . Qui adevinoit sans mentir Co qui
estoit a avenir A cels qui illuee trespassoietit, Ferg. 100,33 Var.; pour ce c'on li
toli La paternostre qui li adevina Qu'avec les angles, in gloria celi, Sunt
hodie dolus et rapina, Watr. 307, 337.
'sich ausdenken, Mutmaßungen anstellen; erraten' auch: Or entendes et je
dirai ^on que j'en adcvhierai, Car jou n'en sai ne tant ne quant, BCond.
352, 2427; Ne stii pas eil qui l'adevine (erfinden), JCond. II, 186, 161; tnie
?ie l'adevine (ich; Scheler: Sinn: c'est verite certaine), GLiege 38892; 11,
8330; Sans riens adeviner Je le puis bien savoir, Froiss. Poes. lU, 96, 31;
Asses bien m'en examina Et de moi tant adevina Que fort estoie cnamoures,
Froiss. Poes. I, 179, 3129; Et s'adevine je l'avoie (den Namen), Qui le me
poroit tesmoignier? ib. I, 239, 841; Obj. in Form eines Satzes: Voir se dist
eil qui adevine: En grant amour gist grant häine (der vermutet), Manek. 3542;
Car caseuns set et adevine Que li rois a la Manekine (Gl. penser), Manek. 2692;
Car vous ne poes bonnement adeviner 7ie savoir quel cose il me faut, se je
ne le vous di, Froiss. I, S. 242; On pe^iseroit asses anQois Con adevinast
pour le quele Tai ores mis ce nom apele, ib. I, 241, 892; Par vertu noble et
divine, Lois jiCise (Voc), or adevine, Comnient et par quel doctrine Cils qui
le monde enluminc . . . Ressuscita dou tombiel, ib. II, 157, 5299.
mit pers. Obj.: 'durchschauen, begreifen': et dist qu'ilh n'adevine l'emjje-
reire Henry, GLiege 37825.
(**adevoques), (der Kaiser Dacien:) Dg me voir, dg sans contredit: Ou
as tu ces tresors muciez Ne qui est celi qui laissiez Les t'a? Di voir! . . .
Respons tu en ceste maniere? E semble que de moy te moques. Acerfes di,
ou adevoqucs Saras, par Mahonunet, tantost (läßt ihn darauf einsperren). Mir.
ND. 38, 1394. Ein unwahrscheinliches Wort. Bonnardot, Glossar zu d. Mir.
ND., meint, ce mot forge sans doute en langage sarrazinois peut se traduire
par 'puni, maltraite'. Ein saraz. Wort ist hier aber unbegründet, und gegen
die angenommene Bedeutung spricht saras, das ja nicht zu esti-e, sondern zu
savoir gehört. Der Wortlaut des Verses ist auch an anderer Stelle nicht in
Ordnung. Auf die scheinbare Aufforderung Acertes di bleibt nämlich die
Antwort aus; der Kaiser begnügt sich vielmehr mit der ihm vorher erteilten,
beurteilt sie und straft sogleich für dieselbe. Also war Acertes di ursprüng-
lich unmöglich eine Aufforderung. Saras tantost 'du sollst sogleich wissen
(an dir erfahren)' weist auf den Weg zur Urgestalt der Zeile. Es setzt vor
sich einen mit 'ob', sc, eingeleiteten indirekten Fragesatz voraus: Acertes di
ist also fehlerhafte Überlieferung für S'aeertes di 'ob ich ernsthaft rede, es
mit meiner Frage Ou as tu . . . ernst meine'. Von acertes seinerseits, in
Verbindung mit ou 'oder', fällt Licht auf adevoques: in diesem verbirgt sich
offenbar das Gegenteil von acertes, 'im Spaß', adevoques ist somit offenbar
eine Entstellung von a demoques, gleichbedeutend mit älterem en oder par
mocois (vgl. im besonderen Jou ne sai se vous le dites en moeois u a eliiertes,
St. Graal, s. God.) und seiner Bildung nach eine Ableitung aus dcmoquier,
für welche moque aus moquier das Muster abgab; das -s ist das adverbiale.
Die Überlieferung ist demnach so einzurichten: S'a ccrtes di ou a demoques,
Saras, par Mahomniet, tantost.
* adherent, adj., 'anhangend': les peuples d'iceux royaumes adhet'ents a ladite
couronne, Journ. d'un Bourg. de Par. 1420, bei Buchon, Chron. et Mem. I, 647 a.
adirer, vb. trans., part.: Ca este bien hoinme adire, C'on ne scet qu'il
pot devenir. Mir. ND. 36, 1773; Ha! tresdoulx Dieu ..., je te lo et mercy,
Quant tu las ainsi converti Et si de ta grace inspire Qu'il veult du nionde
estre adire Pour toy trouver (abgeschieden), ib. 9, 925.
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 101
• *arli(enient, s. m., '(anat.) Ansatz, Fortsatz': les bestes sans chief qui
ont yex si com le limas les ont sus aueuns additemens, Mondev. Chir. 134;
271; 383; aditement rosfral {^(\.dtS.t&mQTi.i\va\. rostrale, Ellenbogenhöcker) ib. 522.
*adjaccnt, adj., 'angrenzend' les parties adjaccntes de l'ulcere, H. de
Mondev., Chir. 1677.
adjugirr, vb. trans., 'zusprechen' auch: ai?is yrons (Sbj. die Teufel)
Porter la (die Seele) devant le vray juge, Si dirons qu'il la nous adjmje Com
nostre acquise, Mir. ND. 3, 972; (Berengier:) (Gern will ich mit einem von
beiden kämpfen) mais que me dites (ihr, der Kaiser) Pour le qucl d'eulx je
seraij qidttes Avoir affaire. (Kaiser:) Au quel de vous dcux cest affaire Ad-
jiujercnj? (Ostes:) Sire. par droit Je le feray, Car c' est mon fait, ib. 28, 1767.
'entscheiden, bestimmen': il leur prie (der Kaiser die Ärzte) qu'ilx lui
dient et adjuge^it du mal de sa femme la conelusion (den Ausgang), Pr.-
Clig. 329, 9 ; Toi, fortune, adjuge tos le Heu de tumbres ouqucl je reffonderay
par longue espace de pleurz et de cris ceste grant perie pour moy avenu,
ib. 334, 8; mit que c. Ind.: ..., si adjugent et deposent a la disposicion qu'ils
voient ou Corps de ce eheualier, qu'il a bomie faeon, qu'il est de bon kastei
et qu'il est bien pour empörter Vespriuier, Pr.-Erec 257, 38; par leur sentetice
il est briefment adjuqie qu'elle doit auoir Vhonneur du cerf, ib. 264, 14;
267, 22; 293, 37; Pr.-Clig. 287, 20; mit que c. Conj. (final): (le roi) . . . adjuge
qu'ilx. (die Gefangenen) soient atachies aux queues de chevaulx par pies et
par mains . . ., Pr.-Clig. 295, 15.
auc. de ..., 'verurteilen zu': 0 que chetiue femme me puis je repputer,
...de quel mort serai je adjugie, de quelle penance serai je chergie pour la
recompensacion de ce dur mesehief par m,oy mesrties aduenu? Pr.-Erec 283, 41.
* administr ateur , &.m.,?,. K.'DqVoov\\q,'Rqy. d'hist.litt. deFr.I,490(13.J.).
adpber, vb. trans., mit pers. Obj.: '(ärztlich) jmdm. Salben aufreiben':
Lors prellt eile ses ongnemens desquelx eile adoube Fenice le plus souef quelle
pocult, Pr.-Clig. 334, 39.
rfl. bildl.: Adoubex, vous de tiex atours Que cilz bons princes s'adouba.
Vaine gloire ainx nel destourba, Faus delix ne vilains pechiex, Watr. 230, 1004.
** adele, part, 'behauen': Ki ... mesist m'al col mun grant eseu bocler,
E en mun poign mun espie adole, Wilh.-Lied 1159.
adoler, vb. rfl., d'auc. r. auch: Pere, trop me vois merveillant Que de
mmi bien vous adolex,. Je tien que pere est afolex. Qui du bien son fil se
courrauce, Mir. ND. 21, 1019; Sanx. cause bien vous affolex. Ne see de quoy
vom adolex (oder: wieso, warum), ib. 23, 1858.
. adole, auch: Li sien corps est trop adolex Et pour voir sanx cause n'est
pas, Mir. ND. 32, 402; que fera nwn adolle euer? Pr.-Clig. 334, 5.
V. Sach.: 'trübselig, freudlos, elend': Jaulier des prisons de Pensee, Avex
votis le commandement De traitter ainsi rudement Les povres cueurs en ceste
annee'? ... Dedetis la chartre adoulee Tenir les deussiex doulcement, Rond.
V. TignonvUle, bei Ch. d'Orl. (ed. d'Heric.) II, 253.
adoner, vb. trans., 'zulassen, ertragen': Car qui boin grain pirent et mes-
sonne, Quant li tans (Jahreszeit) l'adonne et fiiisomie, II emploie bien sa
joneehe, Froiss. Poes. II, 192, 1036; bien l'adonnoit la Saisons, ib. 11, 207,
427 ; Et bien l'adonnoit la saisons Qu'il fuissent en esbatement, ib, II, 339, 7.
8. femer Scheler, Gl. zu Froiss. Poes.
je puis bien dire qu'il (sc. vostre euer) est mien et du mien pouex ausi
jugier qu'il est plus que rostre par lex soudaines et bonnes acointanees dont
amourx les a anexes et tellcmoii addonncx ensambre que le mien est a vous
et le vostre a moy (einander überlassen), Pr.-Clig. 324, 35.
a. son euer a ce que c. Conj.: Se nus a ce son euer adone Ke miex aint
une grise none, Ne vous en veuillies ja doloir, JCond. 11, 37, 1199; a c. Inf.:
pour example donner A ceulx qui voudront adonner Leurs cuers a lor oevres
poursivre, ib. 11, 298, 290.
102 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
rfl.: a auc, auch: 0 comme est l'amour d'une femme bonne et halle sur
cellui a qui eile s'adonnc, Pr.-Clig. 323, 7; a auc. r. auch: A mal fait donc
ne t'adonoies (Cj. Pr.), Ly. Ysop. 3329; lä s'adonent, BCond. 116, 248 Var.;
Mais la u li siens cucrs s'adonne, S'amour otroie et abandonnc Que ja ne
laira pour casti, JCond. I, 338, 1115; a ce votts vons adonneK,, Mir. ND. 36,
1264; A l'estoire dou tout m'adonne, Froiss. Poes. I, 309, 3001; a tous solas
s'adonne, ib. 11, 417, J^XXV; se sa voulente s'i addonnc, Pr.-Clig. 328, 35;
a ce que c. Ind.: Li quens Bauduvins s'ado?ma A ce que le souper donna De
large euer et liement, JCond. I, 199, 1001 ; a ce que c. Conj.: il se doit adonner
A ce que le bien li enorte Et que le mal li descnorte, ib. 11, 275, 242; a c.
Inf.: Se tes euers a mirer s'adonne, JCond. I, 95, 126; Malmreuse est la per-
sonne Qui a vous servir ne s'ado7ine, Mir. ND. 26, 68; Qrandement me sui
adonnes A regarder de chief ou cor, Froiss. Poes. II, 167, 188.
adone, part. als adj. 'hingegeben, beflissen': Soieis plus adonneis a vail-
lier que a dormir, Cato 43 (Z. f. R. Ph. 19, 86); Ce sont les langhcs adou-
nees Au mal et au bien contredites, BCond. 75, 360 ; La estoie moult adonnes
A moi deduire et solacier, Froiss. Poes. II, 136, 4594.
*adormir, vb. rfl., 'einschlafen': Los serpenx, cid ... mos sire sainx
Matheus faisoit adortnir (lat. serpentes . . . convertebat in somnum, prov.
aquest los faxia adormir), Afr. Pr.-Leg. J4, 6; (obdormire) ib. 10, 6 (God.'s
erstes Beispiel).
adosser, vb. trans., 'im Rücken von etw., einer Sache lur Seite etwas
anbringen': Et puis apres per lor prouace Tote la terre du fossey Ont tantost
desus adossey (am Rande aufgeschüttet). Prior. Veg. 1744; Moult ajai passey
longuemant Que nuns ne fit enforcemant D'environ l'ost de grant fossex Ne
terraux delex adossex, ib. 5962; Tant que il fönt un grant fossey A crate
(crete) desus adossey, ib. 5988.
'sich an jms. Rücken lehnen, an jmdn. stoßen': Et li autre per de derriere
Bedoivent avoir la matiere De quoi il facent les fossex, Quant il les aront
adossex (lat.: reliqui post ipsos ductis fossis muniunt castra, JdeMeun: et li
autre doivent faire les fosses derrier yaus, ArtChev. 34), Prior. Veg. 1774.
adosse, auch: Mes davons leus estroix alire (zum Kampfe) Et de palux
et de fossex Einpauchiex, d'arbres adossex Ou de rotes (d. i. roistes) places
grifaignes, De vaulees ou de montaignes (oder adossex, steht zu empauchiex
parallel ; JMeun : Hex estrois et empeesehiex ou de fosses ou de palus ou d'arbres
ou de 7no7itaignes, ArtChev. 96), Prior. Veg. 5590.
adoucier, vb. trans., auch: blandior, adouchier, bieder, Cath. Lille 26;
Or avex adoucie m'ire, Julian 558 ; Car femme deboinnaire et douce Les maus
de son a^ny radouce, JCond. I, 353, 1604 ; A Julien le euer adouce S'alaine
sovent et ades, Julian 4624; la surtes l'en est (der morsuretes) tant douce
Ken mordant le euer li radouce, BCond. 308, 1171 ; s. femer Scheler, Gl. zu
Froiss. Poes.
adoucir, vb. trans., 'beschwichtigen' auch: Or me fist (sc. MorpMus)
ce que li requis, Dont moidt adouci mes anuis, Froiss. Poes. I, 51, 1709.
mit pers. Obj.: 'sanft machen, zähmen': ... le feu (Amors) qui est si mer-
veilleux Qu'il adoulcist les orgueilleux . . ., Froiss. Poes. III, 60, 244.
*adougier, part. als adj.: 'schlank': Oent ot lou cors (König Baldus),
bien fait et adougie, Prise de Cordres 2315.
adreee, s. f., v. Pers.: 'Wegweiser, Führer': Gele qtd est la droife adresce
Qui tous les pecheors adresce, (in einer Hs. fortgesetzt:) Gele qtd est la droife
voie Qui toux les devoiex ravoie (die Jgfr. Maria), Ruteb. fed. Jub.)2 in, 284,
1091; Sire, je te pri htünblement, Qui es des forvoiex adresce, Que vueilles
ceste 'pecherresce (mich S.) D'enfer tencer. Mir. ND. 16, 351; Vierge, mere au
doulx roy celestre. Des desvoiex adresce et port, ib. 26, 686; De jonece, Tant
qu'en foiblece, A este (sie) voie et adreee De tous biens jjIus qu'otdtre bort,
Froiss. Poes. H, 288, 122.
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 103
'Richtung, Bestimmung, Ziel': Ou est de nostre cheminer, Barne, l'adresce?
Jlir. ND. 2, 848; Makon vous gart, biau pere hermite: Adressiex moy. —
Quelle est l'adresce, amis? De quoy Avex mestier? ib. 21, 201; que Diex
Tiengne vostre euer en leesce Et vous amamt a bonne adresce Et nous si
face, ib. 27, 1437.
avoir adrece a auc. r. 'den Weg zu etwas finden, zu etw. gelangen':
Conment peusse avoir adresce A ce qu'au filx du roij parlasse? Mir. ND.21,
564; estre en l' adrece de c. Inf. 'sich anschicken etw. zu tun': Gabriel, soions,
je votis prg, De chanter d'accort en l'adresce, ib. 27, 1286; metre auc. en
l'adrrce de c. Inf. 'jmdn. anleiten etw. zu tun': Et de ta sainte voidente Faire
m^ mcx (Imper.), danie, en l'adresce, ib. 10, 341.
en l'adrece, 'in gerader Richtung, auf geradem Wege, geradeswegs': sackiez
en voie De retour est, et (u. zwar) en l'adresce, Le roy; quanqu'il puet se
radresce, Mir. ND. 34, 1240.
adrecement, s. m., 'Richtung'. Oxf. Ps. 118, 7 eher 'Geradheit i. übertr.
Sinne, Rechtlichkeit, Ehrlichkeit' (gr. tvd^iTTj^, Prosafassung ibid. S. 341; en
droiturier euer); desgl.: Tu aprestas adreceynenx; jugement e justise en Jacob
tu fesis (tu parasti directiones: iudicium et justitiam in Jacob tu fecisti, gr.
Ev&vTT-s), Oxf. Ps. 98, 4; Adreseement aparillas, En Jacob justice fait as,
Reimps. ib. ö. 327.
'Wiedergutmachung' auch: E nostre Sires les out chastiez suvenierement,
e pur (^o repentir ne se voldront ne faire adrecement (das Getane wieder gut-
machen), LRois (Ler.) S. 402.
adrecier, vb. intr., abs.: 'das Ziel erreichen': S'il adrece (sc. li veneres),
ü convient keir Le sengler, JCond. I, 165, 56; 'Richtung nehmen': Dites moy . . .:
ozi est le recept D'un homme c'on clayme Joscet? Enseigniez le moy ... —
Pour voir, adrescie bien avex ; Que ce suis je (gut habt ihr Eure Richtung
gewählt, den richtigen Weg eingeschlagen), Mir. ND. 35, 875.
^ a at(c. r., a auc. 'Richtung wohin nehmen, sich wohin wenden, wohin
steuern': E! Diex, une nef voy venant; Ne si^y se cy adresscra Ou se vent
aler la fera Ailleurs, plus hing, Mir. ND. 27, 1314; ou les as tu laissie Ne
quel pari ont il adressie (die in das steuerlose Boot gesetzten)? ib. 34, 2566;
Dieu . . . Ale doint que bien aie adressie (den richtigen Weg eingeschlagen
zu) A celui que j'ay taut trade, ib. 17, 1560; — en auc. r,: Ainsi maintes
fernes bestornent . . ., Les autres adrescent en bien, Ensement que Diex le con-
sent, JCond. II, 204, 44.
trans. mit sächl. Obj. 'richten, kehren, lenken (wohin)' auch: (DettsJ adre-
ceise vostros allemenx a via perdurabla, Afr. Pr.-Leg. K 71, 5; mit a c. Inf.:
Jja meie volunte seie7it adrecedes les meies veies a guarder tes justificaciuns
(utinam dirigantur viae meae ad custodiendas iustificationes tuas), Oxf. Ps.
118, 5 (Cambr. Ps. esdrecier); Chius qui puet sen euer justicier Et a raison
faire adrecier, JCond. I, 142, 25; Ensi dois ta langhe adrecier A biau parier,
ib. I, 153, 72.
lenken, leiten': Ha! sire (Gott), vueilliex adresser Mes euvres pa jus tele-
ment Que ce .-^oit a mon sauvement. Mir. ND. 32, 2181.
'in gerade Richtung bringen': Et soit la saiete adrecie, [Soit] traite a
eheval ou a pie, Prior. Veg. 1206 (= et que la saiete voist droit, soit traite a
piet ou a eheval, JMeun, ArtChev. 22).
'anlegen': Car se per droit so7it estauhlies Les aherges et bien adrecies
Per bon sant et per hone part, Li eh-evaliers säurs u parc Sont jor et nuit
et totes hores, Prior. Veg. 1602; Car il (sc. le palais) estoit Imigs, haulx et
drois, Bien adreciez en tous endrois, Froiss. Poes. III, 54, 56.
'in die richtige Lage bringen, in Bereitschaft setzen; aufstellen': Ens el
point que paien adrecent Lor mangonieaus et lor tres drccent, Lor vient
JuViens afendant, Julian 2409 ; N'onques tref ne porent drecier, Nis un man-
gonel adrecier, ib. 2470; et se ceste (sc. arbaleste, lat. ballista) est atempree et
104 Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch'
adreseie par honinies qui bien en sont äuse et qui ont avant bien comieu sa
mesure et son pooir, eile tresperce tout quafiqu'ele fiert (quae si iuxta artem
mechanicarn temperetur et ab exercitatis hominibus dirigatur, 'bedienen'),
JMeun, ArtChev. 153.
'anordnen, einrichten': De trestote la gent a pie, Comant ü seront adracie
(Überschrift), Prior. Veg. 2032 ; Comant doivcnt estre estaublies Les legions et
adracies (Überschrift), ib. 2420; Et de eesies dis compaignies, Puis qu'eles
sont bien adrecies, Est fondce la legions ploinne, ib. 2536.
'in Ordnung bringen': Sis los e sis cunseil est teus, KU apres eus mut
tost irra E lur päis adrescera Par le conmn cunseil d'eus tux, (die Verhält-
nisse ihres Landes; ihrem L. zurechthelfen), Ipom. 2122.
'verwirklichen, ausführen' auch : Et JuPiens son oirre adrece, Vers la forest
maintenant vint, Julian 188 (denkbar auch ano y.oivov von Vers la forest
und dann adrecier 'richten') ; Pensex de la chose adreseier Tantdis que je
m'iray mucier Ileuc dcrrierc, Mir. ND. 31, 2484; Vous, clers, vostre chant
adrescex Et de floreter ne eessex En alant, tant que soyons la: Regina celi,
lettare, alleluia (anstimmen). Mir. ND. 40, 2656.
'in Wirksamkeit setzen': S'on vouloit komme justicier A mort pour droiture
adrecier, ..., Watr. 211, 392.
'jmdm. etw. zureichen; zuweisen, zuerteilen': AnQois les sert de tel leece,
Quant ele a niangier lor adreee, Del baisier ne se pot tenir, Julian 3276; Je
li fas (ihm: Gott) un veu et promesse, Que, se la victoire m'adresse, Si tost
que conquis les aray. Au saint septdcre ni'en iray Cotn pelerin, Mir. ND. 32, 1759.
mitpers. Obj.: 'lenken, leiten': Par sa volente nos adrece (Gott), Julian 2822;
Dav. Proph. 216, 892; Adresciex moi, Mir. ND.21, 201; mit a c. Inf.: Regarde
moi et si m'adresee A toi servir de la peresce {de, aus, abhg. v. adr.), Reim-
psalt. 12, 2 in Oxf. Ps. S. 269.
'geleiten, begleiten' Et touz jours m'a fait compaigtiie Geste dame et si
adressie (so treu) Que depuis ne m'a point laissie, Mir. ND. 30, 1548; mit
Ortsbest.: Seigneurs, ... En l'ostel de Chestre adresciex Geste dame, et la la
laissiex Et revenez a moy icy, Mir. ND. 29, 817.
'treiben', mit a c. Inf.: Gertcs, foleur vous adres(;a A venir cy, Mir. ND. 24,
77; Amis, quelle cause t'adresce A venir cy? ib. 31, 1367.
'zum Gedeihen bringen': Li fil de tes sers habiterunt e la semence d'els
en siede sera adrecee (wird gedeihen), Oxf. Ps. 101, 29 (et semen eorum in
saeculum dirigetur; Reimps., ib. S. 329; Et lor semence ert esdreciee A tous
jors niais et essauciee).
'zurechtweisen, unterweisen', auch: ... se vaillant home et saige Et qui
saichcnt d' armes l'iisage . . . Sont rctenux et aleu Por tox les autres avancier
Et ensotngnier et adrecier ..., Prior. Veg. 3282 ; En tous biens estoit adreciex,
JCond. II, 183, 65; mit a c. Inf., 'erziehen zu': C'est grans merveille et gratis
meschiex C'uns hom ne puet estre adrechiex Au bien en son euer retenir,
ib. II, 262, 38.
'ausstatten, versehen': et uns de ces chars est establis a la comjxiigme de
ces .XI. armer et adrecier et servir (ad armandum vel dirigendum, im Lat.
auf carroballistac gehend, 'zur Bedienung und Richtung der Wurfgeschütze'),
JMeun, ArtChev. 68; d'auc. r. auch: Ghius l'adre^a de canqu'il vot, JCond. I,
215, 1483; Quant vaillcms kons n'est adrechiex De boin consseil, ib. U, 165, 138.
rfl. 'sich wenden, seine Schritte lenken, ziehen': Et li los ... Fuiant par
un ehc/min s'adrcsce, Par ou marcheant eheminoicnt, Gd'Angl. 798C (wrs m«
cheminV); 'daherstürmen': Erec3020; Clig. 3420; 'sich wohin wenden', vers...,
auch: Quanqti'ele se pot adrecier, S'est vcrs les loges adrecier, ChCharr. 5919;
eti . . .: Dex est mes los et ma vcrtus. Et si est fais en moi salus, Vois de
salut et de liece Es ostes des justes s'adresse, Reimps. 117, 15 in Oxf. Ps.
S. 340.
'sich einrichten, verfahren': Seveax non tant por nos fcra Que ele nos
Bemerkungen zu 'Adolf Toblers Altfranzös. Wörterbuch' 105
conncillern En qud maniere le ferons. Et nos nos cn adreenrons {rn hin-
sichtlich dessen) Solone ce que ele dira, Julian 3046.
'sich einer Sache zuwenden', a aue. r.: KU n'csi pensee si 7narie . . .,
S'a l'rscoutfr Ips chans s'ndreche, Que ses amiis ne li estanche, JCond. ü,
42, 1358; a faire auc. r. ('darauf bedacht sein, darauf ausgehen'): Cil est
floris de bone techr, Qni n s'onnour faire s'adrece, BCond. 258, 389; Et ü de
plus en plus s'adresee Ä grant orgueil a demener Et a ses roisins fourmener,
JCond. II, 153, 96; Chascuns a bien faire s'adresee, Watr. 205, 184; Si li
eonmandes . . ., pour monter en haultesse, Qu'a espouser aussi s'athesce, Qui?
la fille de l'eynperiere, Mir. ND. 33, 1995; en auc. r. (gerichtet sein auf'):
Tötete vertus, toute hautesse En son sanetifiier s'adresse, Reimps. 95, 6 in
Oxf. Ps. S. 326.
'sich anschicken', de c. Inf. auch: Or est temps de moy adrescier D'aler
au Saint prre nuncier Ce qui m'cst conmande a faire, Mir. ND. 14, 1056.
'gutmachen' auch: Avant un po que venissiex, Par confession adressiex
Mesfoie . . . De toux les yneffaix. que fis onques, Mir. ND. 27, 1561.
'sich Recht schaffen' auch: Äinssi se set Dicx adrecier Des grans mauvais
et les eotifont, Watr. 263, 1002.
adreeie 'wohlgeordnet': Li Romain ... i firent dis compaignies Ordotmecs
et adracies, Qu'ausi sont eome un propres cgrs, Prior. Veg. 3426 (JMeun,
ArtChev. S. 63 nur ordcnnces).
'wohlgeschult, wohlausgebildet': Cil bachelers de bonnes mours, Biaus en
armes et adrceirx, Watr. 316, 159 ; En tous biens estoit adreciez Et a Dieu
servir adreciex De sainte vie, JCond. II, 183, 66.
'wohlgeartet': Amours, je te ßs Ja hommage Pour la plus belle et la plus
sage, La mieuls adreeie en corage A man samblant Qu' onques veisse en m,on
eage, Froiss. Poes. I, 3, 77.
a droit, adj.: 'gerade': L'on ne doit mie en moult de leus Les murs faire
adroix, mes angleus, Prior. Veg. 8656 (gegen droix, 8401).
'in Ordnung', mal a.: Endcmenticrs qu'il . . . S'an issent . . . Per les partes
qui sont atroifes. Per les charricres mal adroites, Prior. Veg. 6172.
'geeignet': Se nous trovons un Heu qui soit beaux et adrois Pour fonder
une ville, GLiege 716.
aduire, vb. trans., auc. a, aue. 'jmdn. Jmdm. zuführen': A lur raisim
destruire Lor deit l'uni cels aduire Qui ..., Geburt Jesu 18 (Stzgsber. Berl.
Akad. 1903, Sonderabdr. 14); Adui me celui qui te sanet (adduc ad me),
Air. Pr.-Leg. M 42, 14.
**adurable, adj., = adure: Clovis li adurables, GLiege 2447.
*adurer, vb. trans., 'abhärten, gewohnen', en c. Inf.: Et si set son euer
adurer En la bonne voie poursirre Pour la fin de ses fes eonsivre, JCond. II,
239, 118; entsprechend adure (hartnäckig dabei beharrend): l'homme adure
En mal faire et fol et despert, ib. II, 214, 108.
(Schluß folgt.)
Berlin. G. Cohn.
Kleinere Mitteilungen.
Zur altenglischen Wortgeschichte.
A e. milc "Milch'.
H. Weyhe hat PBBeitr. 31, 43 ff. die Vorgeschichte des ae.-anglischen
milc aufgehellt. Es handelt sich um eine auf den Nominativ übertragene
Form des Gen. und Dat. : Nom. *melnk z= meoluc, Gen. Dat. melulci- = *milic,
milc. Auch auf deutschem Boden lebt eine Obliquusform von Milch weiter.
Hessisches niel/ geht, wie ich Zs. f. hochdeutsche Mundarten 6, 10 gezeigt
habe, auf den Dativ miluhi, milihi (Graff II, 721) zurück, i vor i erscheint
im Hessischen als e. Dieser merkwürdige i-Umlaut des i bedarf noch weiterer
Untersuchung (vgl. die Nachweise bei Behaghel, Geschichte der deutschen
Sprache* S. 143) ; auch im Mnl. finden sich Spuren dieser Erscheinung (vgl.
Franck, Mnl. Gr.^ § 69,).
Ae. j eare Aiv. :=z j earwe.
Das ae. Adverb jeare an Stelle von jearwe wird von Holthausen. Anglia-
Beiblatt 15, 70 aus dem Komparativ jearor erklärt. Man hat zwar öfters
Positivformen aus Komparativen erklären wollen; da aber der Positiv in
der Spraehe viel fester steht als der Komparativ, kommen mir diese Er-
klärungen bedenklich vor. In unserem Falle hat stärker als der Komparativ
die Form jcaru wirken können, die im Paradigma des Adjektivs eine große
Rolle spielt: sie wird gebraucht als Nom. Sing, aller Genera, Akk. Sing.
Neutr., Nom. Akk. Plur. Neutr. Die Form hatte dieselbe Endung wie hwatu
:=z Nom. Sing. Fem., Nom. Akk. Plur. zu hwmt. Nach dem Muster von Adj.
hwatu : Adv. htcate konnte man zum Adj. jeartt ein neues Adv. jeare bilden.
Gießen. Wilhelm Hörn.
Note on the Anglo-Saxon Indicia Monasterialia.
Paragraphs 104 and 105 of the Anglo-Saxon Indicia Monasterialia, published
by F. Kluge in the second voIume of Techmer's Interyiationale Zeitschrift für
ahgemeine Sprachin'ssensehaft, read as follows:
104. Gyf \)\i hosa habban wille, J)onne stric {)ü üppweard on Jimum
sceancum mid J)inum twära handum.
105. Gylecan täcen bis {)set f)ü strece ford |)m wenstre handstoc and plyce
innan mid |)!nre wynstran bände.
Kluge translates 105: 'Das Zeichen für ... ist, daß du die linke Hand-
stauche hervorstreckst und sie mit der linken Hand innen faltest,' i leaving the
Word gylecan untranslated. In the 'Liste der Stichworte dieses KatechismuB
der Zeichensprache' he gives the word with a mark of interrogation and
without a translation. The Dictionaries do not give the word, and I know
no other place where it occurs.
I believe that we have to do with a scribal error and that we must read
'pylecan'. The word occurs in the division dealing with articies of dress.
1 Plyccan is 'to pluck', not 'falten'. Napier, Contributions to Old English
Lexicography, p. 51.
Kleinere Mitteilungen 107
The para^aph immediately preceding beg:in3 with 'gyf, that is to say with
a Word having for its two first letters 'g' and 'y'. The scribe began to
write 'gy' looking at the wrong word first, and completed it with the rest
of the right ^yo^d 'lecan'. Pilece, pylece occurs in Wright-Wülcker, 328. 11
^Pellicie, pylece', and is quoted in Bosworth-Toller from Bouterwek's Scread-
unga.^ In Stratmann-Bradley 'pilche' is explained as 'pilch, flannel or fuj
gannent'; in the Oxford Dictionary 'pilch' is defined as 'an outer garment
made of skin dressed with the hair; in later use, a leathern or coarse woollen
outer garment.' That the pilch could be part of a monk's or friar's dress
is evident from Pierce the Plouyhynatis Crede, 243. Pierce says that an
Austin friar told him that bis Order was first founded, upon which bis inter-
locutor bursts out:
'Fyrst felawel' qua{) he 'fy on bis pilchel'^
The Latin pellicia, -Ha, -cea is amply exemplified in Ducange. The fol-
lowing quotations from that dictionary will sufficiently prove that pellicia
was common in the Middle Ages as the name of a part of the monastic
habit.
Hoc anno proximo babeant omnes claustrales Monasterii S. Martialis Pel-
liceas et tunicas, in festo S. Michaelis unusquisque Pelliceam et tunicam,
sequenti anno- tunicam, et alio subsequenti Pelliceam et sie deinceps inter-
polatae PelUceae agninae erunt. Codex Ms. Martialis Lemovic. num. 58 pag. ult.
Paria pellitiarum, froccorum, et cucullorum. Chronic. Andrense 24.
In the last quotation the pellicia is mentioned together with two other
articles of the monastic habit, viz. the froccns or floccus the frock, the 'outer
and characteristic dress of a monk', and the cuculla or cowl.
Further reference may be made to the Pellicium chorale, and to the
superpellicium (surplice) '(vestis) sie appellata', inquit Durandus in Ration, lib.3
cap. 1 n. 10, 11, 'eo quod antiquitus super tunicas pellicias de pellibus mor-
tuorum animalium factas induebatur, quod adhuc in quibusdam Ecclesiis ob-
servatur' (Ducange). The Encyclopaedia Britaimica, i. v. surplice, says: 'Its
name is derived . . . from the fact that it was formerly put on over the für
garments which used to be wom in church ... as a protection against the
cold.' Cp. The Catholic Encyclopedia, i. v. surplice.*
1 believe that it is superfluous to adduce further evidence that 'gylece'
is a ghostword and that 'pylece' should be substituted.
Amsterdam. A. E. H. Swaen.
Bibliographisches zu John Forhes' Songs and Fancies.
Im 131. und 132. Bande dieser Zeitschrift hat Wilhelm Bolle eingehend
über da^ älteste in Schottland gedruckte Liederbuch gehandelt, als dessen
Verleger John Forbes von Aberdeen zeichnet. Bolle hat seiner Wiedergabe
des Textes die dritte Auflage, von 1682, zugrunde gelegt. Mit vieler Be-
^ = JPAinc, Alcuin's Interrogationes Seyeivulfi, Anglia VII, 30.
2 (;^_ Chrodegang LH: Sume preostas syn J)e eallinga gymad J)?et heora
'reaf swete atince, 7 t>3et heora feil swa side hangion J)set se fot ne setywe.
' The name of the surplice arises from the fact that it was wom by the
clergy, especially in Northern Europe, over (super) the universally customary
für clothing. fhis is stated by Durandus and by the English grammarian
Gerlandus each of whom lived "to the thirteenth centurv-. 1. c.
108 Kleinere Mitteilungen
rechtigung, denn die beiden früheren, von 1662 und 1666, gehören zu den
größten bibliographischen Seltenheiten, während sich die dritte häufiger
findet. Bolle sagt-, von der ersten Ausgabe, die Ritson und Stenhouse noch
kannten, habe sich kein Exemplar mehr erhalten; auf die zweite habe
Wooldridge in seiner Neuausgabe von Chappel's Populär Music of the Olden
Time Bezug genommen. Stenhouse hat die erste Ausgabe sicher gekannt: er
druckt Forbes' Widmungsschreiben auf S. XXXV — XXXVII seiner Illustra-
tions of the Lyric Poetry and Music of Scotland ab. Für Hitson läßt sich
diese Kenntnis, soweit ich sehe, nicht nachweisen. Er zitiert nur die Aus-
gabe von 1666, also die zweite.^ Sein Handexemplar dürfte durch die Ver-
steigerung der Britwell Court Library durch Sotheby in London im Dezember
vorigen Jahres zum Vorschein gekommen sein. Der Katalog führt unter
Nr. 54 ein Exemplar dieser zweiten Ausgabe an : with Ms. notes of J. Ritson
on fly-leaf. Das Titelblatt unterscheidet sich in Kleinigkeiten von dem eines
weiteren Exemplares in derselben Sammlung, das die handschriftlichen
Signaturen Alexander Lindsays und Jeannet Forbes' trägt, also möglicher-
weise aus der Familie des Drucker.s und Verlegers stammt. Unter Nr. 52
kam das einzige jetzt noch bekannte Exemplar der ersten Ausgabe unter
den Hammer. Bolle ist also insofern zu berichtigen, wenn auch die flüchtige
Erscheinung der vielgesuchten Rarität sich nicht in bleibende Gegenwart
verwandeln wird. Ein gewisser G. D. Smith hat es um f 150 gekauft. Ver-
mutlich wird es in einer Privatbibliothek jenseits des Ozeans verschwinden.
Ein wissenschaftlicher Verlust erwächst uns daraus nicht. Das Exemplar
wird im Katalog als im allgemeinen gut erhalten be,schrieben. Es stammt
aus der Bibliothek des schottischen Historikers und Altertumsforschers
George Chalmers (1742 — 1825), eines Mannes von vielseitiger Gelehrsamkeit,
den mancherlei Beziehungen mit der literargeschichtlichen Forschung des
Scottschen Freundeskreises verbinden. Ein weiteres von John Forbes ge-
drucktes Werk befand sich gleichfalls in der Britwell-Bibliothek : Psalm
Tunes to four Voices, Aberdeen 1666. Auch hiervon ist kein zweites Exem-
plar bekannt geworden. Sein früherer Besitzer war David Laing in Edin-
burgh.
In diesem Zusammenhang sei es mir gestattet, auf eine soeben veröffent-
lichte Abhandlung (ursprünglich Leipziger Dissertation) von Nelly Diem
hinzuweisen: Beiträge zur Geschichte der schottischen Musik im 17. Jahr-
hundert nach bisher nicht veröffentlichten Manuskripten; Hug & Co., Zürich
und Leipzig 1919. Die Abhandlung enthält kritische Textabdrucke des
Leyden-Ms. (16.39) und des Hume-Ms. (1704), berichtet in einer inhaltsreichen
Einleitung über eine Reihe anderer Mss. ähnlicher Art, bietet eine ziemlich
umfassende Bibliographie und anhangsweise interessante Musikbeilagen aus
den von der Verfasserin untersuchten Liedersammlungen, so daß wir jetzt
über diese Gruppe von Veröffentlichungen im ganzen recht gut unterrichtet
sind. Die Wichtigkeit von Forbes' Songs and Fancies tritt auch in der
Diemschen Arbeit an vielen Stellen eindringlich genug zutage. —
Entsprechend der ungewöhnlichen Seltenheit der in der Britwell Court
Library enthaltenen Drucke wurden bei der Versteigerung phantastische
^ Scotish Songs I, S. III und CHI: the Aberdeen collection, printed in
1666 usw.
Kleinere Mitteilungen 109
Preise erzielt. Das Ergebnis eines Tages belief sich auf f 110 356. Die
erste Folio- Ausgabe der Werke Shakespeares brachte f 2300, die dritte £ 2400 ;
die Quarto 1600 von Mach Adoe about Nothing £ 2200; die vorshake-
spearesche Tragödie von Richard III. (1594) £ 2000; Caxtons Reynard the
Foxe (1481) f 5900; eine Serie von Broadsides und Ballads aus der Heber-
Sammlung £ 6400! Man denkt unwillkürlich daran, daß der Schauspieler
AUeyn sein Exemplar der Sonette Shakespeares um 5 Pence erwerben konnte.
Auch Bücherpreise sind ein Stück Wirtschaftsgeschichte. Es beginnt in den
großen Kulturperioden der Völker und scheint seinen Abschluß zu finden
in den Bibliotheken der amerikanischen Trustmagnaten: der Weg vom leben-
digen Organismus zur Mumie.
Hans Hecht.
Zu Griulio Bertoni, *I Trovatori d'Italia', Modena 1915.
Zu den hier veröffentlichten Texten haben schon Lewent, Lit.-Bl. 36, 348
und Schultz-Gora, Herrigs Arch. 134, 194 zahlreiche Verbesserungen und
Besserungsvorschläge mitgeteilt. Es sei mir gestattet, einige weitere hinzu-
zufügen.
1, 3. Emperador avem de tal manera
Que non a sen ni saber ni menbranza;
Plus ibriacs no s'asec en chadera
Ni plus volpills no porta escut ni lanza . . .,
Ni plus malvaz no fez vers ni chansos.
Zu chadera die Anmerkung: 'Qui ha certamente il senso di "trono", non
quello commune di seggiola.' Ist das wirklich so gewiß?
2,50. C'us tant larcs no-s scgna
De neguna voz.
Dazu die Anmerkung : 'Locuzione abbastanza usata . . . Basterä un esempio,
fra i parecchi che si potrebbero citare: Genser dona nos senh Arn. Ca-
talan (Rayn., Lex. V, 227).' Die Mitteilung der übrigen Beispiele wäre er-
wünscht gewesen; mir sind weitere Belege nicht bekannt, denn an der von
Rayn. angeführten Stelle liegt nicht senhar, sondern cenher vor.
3, 48 — 50. Enves totz cels &a}) vos an acordansa
E que -US servon de grat e volontier,
Vos non tenetz sagramen ni fiansa.
Übs. 'tutti coloro che sono in buoni rapporti con voi'. Nein, sondern 'die
mit euch ein Übereinkommen getroffen, einen Vertrag geschlossen haben'.
Wegen fiansa, das B. 'fedeltä' übersetzt, vgl. Sppl. Wb. fizansa 1) Schluß.
4, 19 ff. Mas s'il saubes cum vi'auci malamen
Lo mals d'amor e la pena q'ieu trai,
Tant es valens e de fin pretz verai
E tant si fai lauzar a tota gen,
Q'ieu cre n'agra meroe, mon escien.
'Tormenta' ist als Wiedergabe von auci zu schwach; 'zugrunde richtet'. Auch
die Übersetzung 'che si rende degna d'essere tanto lodata da tutti' trifft
nicht das Richtige; 'und in so hohem Grade erwirbt sie sich das Lob aller
Leute, so sehr wird sie von allen gelobt'.
110 Kleinere Mitteilungen
5, 14. E cel, q'esser volra sabenz
Qals es eil de cui sui jausenz,
An la genchor del mont vezer,
Q'est«rs no-ill lo ans far saber.
Ich glaube, trot^ des in der Anmerkung Gesagten, daß hier, ebenso wie 6,
22, quals mit 'wer', nicht mit 'wie beschaffen' wiederzugeben ist.
6, 8. Qu'en lieis es senz, honors e cortesia,
Ocnz acuillirs ab tant hclla paria
Com no la ve que non si'enveios
Del sieu ric pretz.
Oenz acuillirs ist mit 'gentili maniere' zu frei übersetzt. Wegen bela paria
vgl. Sppl. Wb. 1, V. paria 4).
6, 17. Devria. Schreibe deuria (Druckfehler?).
6,23. E qi-m volgues enquerre d'esta flor
Cals es ni don, be-m ditz mos essiens:
Qui me n'enquier, senibla-<m desconoisseiis,
Puois tant au hom dire de sa rieor.
Ist sem'bla-'m' am Platze und nicht vielmehr das von Hs. C überlieferte
Bernila aufzunehmen? 'Und wenn mich jemand fragen sollte, wer diese
holde Frauenblüte ist und woher sie stammt, dann sagt mir mein Wissen
(d. h. doch wohl : dann weiß ich sehr gut) : wer mich danach fragt, scheint
ein desconoissens (d. h. muß ein d. sein), da man so sehr ihre Vortrefflichkeit
verkünden hört.' Wie ist aber desconoissens zu deuten? Bertoni übersetzt
'che costui non sarebbe punto hene informato'. Das paßt doch rucht, denn
es wird ja gegen den Fragenden gerade der Vorwurf erhoben, daß er fragt,
trotzdem er gut unterrichtet sein könnte und müßte, da alle Welt die Dame
rühmt. Etwa 'Dummkopf?
7,16. No-i. Schreibe no i, da der Vers zwei Silben verlangt.
7, 22. Qu'ades me somon de Tentendre
Mos cors.
Übs. 'mi invita a desiderarla'. L' ist Artikel; wäre er Fürwort, müßte die
betonte Form lieis stehen.
7,23—27. Dune q'en faras? Vols t'en partir? —
Oc eu. — Per qe? — Quar trop foleia
Qui sec son dan. — E se-t plaideja
Amors, er eis te-n jauzirt —
Hoc, qar mal grat dels lanzengiers
Mi rent a lieis.
Die Stelle bleibt mir trotz der Bemerkungen von Jeanroy, Stimming und
Bertoni unklar. Jedenfalls ist creis nicht 'du glaubst'. Zwar sagt Stim-
ming, Gröbers Zs. 34, 227, daß 'im Sing, der Indic. Präs. von creire neben
den korrekten Formen mit e bekanntlich auch nach dem Inf. gebildete mit
ei vorkommen', aber eine 2. Sing, mit ei ist m. W. nirgend belegt.
7, 48. Gaignar halte ich nicht für zulässig; ändere g[az]aignar.
8, 11 — 12. Pois Mon Restaur non puosc vezer
Lo douz ris ni-1 plazen esgar.
De mos huoills non sai mais que far.
Übs. 'poichö non posso vedere il dolce riso ... del Mio Ristoro'. Daß, wie
es in der Anmerkung heißt, Mon Restaur von Lo douz i'is abhängt, halte
i
Kleinere Mitteilungen 111
ich für unmöglich, und Stimming ist m. E. durchaus im Recht, wenn er
Mon Restaur als Akkus, ansieht und hinter vezer ein Komma setzt.
9, 29 — 30. Que quant n'an los gratz mal soffriz . . .
Non voill al dir, mas mal estai.
Die einzige Hs. D hat mals und in der letzten Zeile lal dir. Ist etwa — ich
frage das unter aller Reserve — grans mals zu ändern, und ist nicht V, 30
das überlieferte Val 'das andere, das Übrige' beizubehalten?
9,40. Trähi. Ändere trai (: fai).
10, 1. D'un saluz me voill entremettre
Tal que a midons sapcha dir
Tot mon talan e mon desir.
Ein Obl. Sg. saluz ist unmöglich. Als Bezeichnung der Dichtungsart ist bis
jetzt nur der Plural salutz belegt, und zwar in der Flamenca als Femininum,
während in dem von Rayn. angeführten Beispiel, Raim. Vidal, Abrils 41,
das Geschlecht sich nicht erkennen läßt. Alle Belege weisen den Obliq.
Plur. auf, nur Flamenca 7176 steht der regelrechte weibl. Nom. Plur. salutz.
Danach ist Bertonis Anmerkung zu berichtigen. An unserer Stelle würde
ich ohne Bedenken, trotzdem keine der Hs. so überliefert, salut in den Text
setzen.
10, 26. E se lo ver dir en volgues,
Ben sai qe-m fora valedor
Lo genz cors gais de la genchor
A cui fos anc clamat merces.
Dazu die Anmerkung: 'Stimming, Gröbers Zs. 34, 228, intende : cuore, ma
io credo che si tratti della designazione di persona. Manca, perö, il pos-
sessiv©.' Das ist ein Irrtum; Stimming sagt im Gegenteil: 'nicht: il gentil
cuore, sondern cors (corpus) =z Person'. Wieso hier ein Poss. Pron. fehlen
sollte, verstehe ich nicht.
16, 44. Anmkg. De lui bezieht sich auf Vemperador V. 10.
16, 25 ff. Joan, l'aigla que [vitz], tan fort ventava
El gran tesaur, qe mena en Lombardia
L'emperaire, e la naus qe-1 portava
Es la granz ostz dels Alamanz bandia.
Bertoni akzeptiert hier den Text Crescinis, Man. prov. 53, 25 flf. Ich habe
Lit. Bl. 16, 232 vorgeschlagen, zu lesen: l'aura que tan fort[tnenJ ventava
E-l gran[z] tesaur [sj qe men<i en Lombardia L'emperaire e la naus qe-l
[focj portava Es la granz ostz. Vielleicht dürfte man noch el naus statt
e la naus ändern. Bertoni weist diesen Verschlag zurück mit der Begrün-
dung 'a me questa erasi pare veramente troppo forte, tanto piü che il passo
si presta ad altra interpretazione'. Genügt diese aber? Geben V. 25 — 26
in B.s Deutung einen befriedigenden Sinn? Und fehlt bei ihr nicht die
doch notwendige Erklärung des Str. 3 genannten Adlers? Und wie sollte es
sich erklären, daß Str. 3 das Schiff plena de foc ist, Str. 4 aber den Kaiser
oder den Schatz (worauf B. das lo beziehen will, ist nicht ersichtlich) trägt,
die beide vorher nicht genannt sind? Lewent stimmt dagegen meinem Vor-
schlag bei, fügt aber hinzu: 'will man El nicht gelten lassen, so mag man es
durch Es ersetzen'. Das geht jedoch nicht, da der Artikel hier doch gewiß
nicht fehlen darf; vgl. V. 27 es l a granz ostz. Das Bedenken gegen e-l ■=:
112 Kleinere Mitteilungen
es lo ist aber m. E. nicht begründet, denn er findet sich E fe lonas clau-
zura^ ... E-ls murs e las arqueiras e-ls covinens solers On el leos malignes
e-l sieus gonfanoniers Crois. Alb. 7590; die Hs. hat el n leo. Ferner ibid.
7579: E meja de Garona, on e-l(s) fils montaners, Ac doas tors, wo Paul
Meyer es l ändern möchte, wie ibid. 4537 steht: E en la bela plassa on es l
carni batutz. Für 7nal = mas lo siehe Suppl. Wb. V, 26b, für vol ^^ vos lo
Lit. Bl. 10, 182 zu 5, 39; sul =: siis lo ist bekannt, ebenso no-n, von = nos
ne, vos ne; vgl. Stimm ing, Lit. Bl. 2, 182. Vgl. auch die Anmerkungen von
Chabaneau zu Deux Mss. 38, 23 und 52, 40 und von Schultz-Gora zu Briefe
R. de Vaq. II, 9. Stimming führt auch ilasme-l=: hlasmet lo (Tenzone Aim.
de Pegulhan — Guilh. de Berguedan, Mahn Ged. 50, 4 Hs. C = Hs. A Nr.
431, 4) an, zu dem sich garde-ls =z gardet los stellt, vgl. Lit. Bl. 10, 183 zu
14, 19. Und laise-l = laiset lo ist wohl auch Guilh. Fig. 10, 9 statt des über-
lieferten laises einzuführen: Figueira, Bertramz fetz he, car ses apel
Lais6-l Joe sohre-.l majestre d'en sordel. Hier sei auch de-s^=idet se
Montanhagol 8, 39 erwähnt, das Tobler, Herrigs Arch. 101, 466 als unerhört
bezeichnet und dem auch ich kein weiteres ähnliches Beispiel beifügen kann.
Stimming a. a. 0. zitiert auch mete-us := metez vos, converte-us = con-
vertetz vos aus Guir. Riquier. Dazu stellen sich gara-us z= garatz vos Cres-
cini. Man. prov.- 39, 4 (Tenzone Guir. de Salinhac-Peironet) und diga-m =:
digatz me Guir. de Bornelh 65, 49 Var., vgl. Lit. Bl. 16, 230, Z. 1. Wer
trotz all dieser Beispiele am e-l =z es lo Anstoß nimmt, könnte es l schrei-
ben, da dieses, wie oben bemerkt, Crois. Alb. 4537 sich findet, und da auch
sonst Fälle von Enklisis an konsonantischem Auslaut mehrfach vorkommen,
vgl. die Anmerkung zu Arn. Daniel 4, 33, Tobler, Herrigs Arch. 101, 465 zu
XIV, 68 und die folgenden Stellen : Taurel, per senat T eing l marqes de
Monferat Au. du Midi 18, 174, V. 43 (Tenzone Taurel — Falconet) ; G uti-
le m l vescoms q'a pretz verai D'esta razo jutge, si-l plai Studj fil. rom,
8, 479, Z. 4 V. u. (Tenzone Guilhem — Guigenet) ; Tota l'otz es destreita, si lo
Rozer Is vedatz. Es steht aber in der Hs. nicht es l, sondern el, und von
der Überlieferung abzuweichen, ist ohne zwingenden Grund nicht er-
laubt; ein solcher liegt aber, wie mir scheint, hier nicht vor.
17. Das Gedicht hat, wie Zenker, Folquet de Romans S. 88 — 89, hervor-
hebt, den gleichen Bau wie P. Raimon de Tolosa 'Atressi cum la candela'
(Bartsch-Koschwitz Chr. S. 95), das an Str. 1 u. 6 auch dieselben Reime hat.
Bertonis Gestaltung von V. 7 — 8 und 18 — 19 ist also unrichtig. Zur
Strophenfolge und der Bedeutung von el V. 1 siehe Appel, Lit. Bl. 17, 169
zu XII.
18, 3 flf. S'una dompna amatz de fin talan
Ei avetz mes lo cor e V entendenssa
Qe-us den s'amor et ill fai s'en pregar
Tan tro conois qe non i pot pechar.
Übs. 'ed in essa avete messo il cuore e anche il desiderio che vi conceda il
suo amore'. Ist nicht zu verstehen: 'und ihr Herz und Sinn darauf ge-
richtet habt, daß sie euch ihre Liebe schenke"? — Zum letzten Verse die
Anmerkung: 'Non puö peccare in amore, quindi non puö accondiscendere'.
voglie, s'io bene intendo'; Übs. 'finchö conosce che non puö accondiscendere'.
Lewent deutet 'nicht sündigt, sich nichts vergibt'. Der Vers findet doch
seine Erklärung durch V. 22 — 24: E taing que an doptan Ca tal non don
s'amor qe-is n'an vanan Ni-n leu fol hruch en faich ni eu parvenssa. Die
Kleinere Mitteilungen 113
letzten Worte übersetzt B. 'sia raceontando conie stanno le cose sia lascion-
dole intravedere". Ist nicht zu verstehen 'durch sein Tun und Benehmen'?
18,28. Car paors es de leu joi conqui^tat
C'autre l'agues per aquel eis mercat.
Die Übersetzung 'una gioia facilmente conquistata' trifft das Richtige, aber
im Text würde ich de joi Icu conquistat ändern; vgl. die Lesarten der Hss.
C E.
21.9. Car cill ou bos pretz s'atura,
Lo (sc. lo cor) m'emblet e no-1 qer niai
Cobrar ni talan no ai.
In der letzten Zeile ist mit der Hs. und Guarnerio non zu lesen.
23, 25. Conoisenza kann doch nicht mit 'equilibrio' übersetzt werden.
24, 24. Wegen scmondre vgl. Sppl. Wb. somonre 3).
25, 3. Daß und warum ich, abweichend von Guarnerio und Bertoni, mich
in der Deutung des Verses Raynouard ansehließe, habe ich Gröbers Zs. 12,
124 — 125 auseinandergesetzt.
25. 10, Valenz dompna aobre tota valenza,
Vo8 pot honi ben lauzar ses contradir.
Übs. '0 Donna valete che valete al di lä d'agni valore, vi si puö ben lodare
senza essere contradetti'. Es ist m. E. das Komma nicht nach valenza, son-
dern nach donina zu setzen und die Übersetzung demgemäß zu ändern. Wäre
B.s Auffassung richtig, dann müßte doch Domna valenz soire stehen.
25, 19. Übs. Bisogno steht nicht im Text.
25, 34 u. 36. Vgl. Gröbers Zs. 22, 125.
25,49. Preiatz, sius plaz, vostre car fil de me
Que m'aleuge mos mals e-ls conseriers
Qu'eu trairai lai tan greus e tan sobriers
Qu'endreg (Text en dreg) lo cors la morz no-m fai t*anenza.
Übs. 'i mali e gli afanni che avrö a sopportare [dopo morte] tanto grandi'.
Lai ist 'im Jenseits, in jener Welt'; vgl. sai 4), Sppl. Wb. VII, 423.
27, 10. Tant pens en Heys e tan l'am coralmens
Que nüeyt c jorn tem mi falh' (Text: falh) al pensar.
Sollte vielleicht zu deiit^n sein: 'ich denke so sehr an sie und liebe sie so
innig, daß ich fürchte, daß Tag und Nacht meinem An-sie-denken nicht ge-
nügen', d. h. wenn ich auch Tag und Nacht an sie denke, so ist das noch
nicht genug?
27, 16. Zu fer und caramida vgl. Lit. Bl. 19, 159, Z. 3 fiF.
27, 32. Tan mi destreing lo dartz don sui feritz
AI cor d'amor, per qe 1 mortz n'es asida
Car il non es tot eissamen ferida.
Schreibe non. Die richtige Übersetzung der Stelle hat Lewent gegeben;
der Sinn ist doch 'weil sie (die Dame) mich nicht auch liebt wie ich sie*.
28, 9 — 10. Chantarai, si tot d'amor
Muer, quar l'am tan ses falhensa,
E pauc vey Heys qu'ieu azor.
Das Komma nach falhensa ist zu streichen ; es ist zu übersetzen : 'ich sterbe,
weil ich sie so treu liebe und sie, die ich vergöttere, wenig sehe'; vgl.
V. 49—50: Quar pietz trai que si moria Qui pauc ve so qu'ama fort.
Archiv f. n. Spracben. 140. g
114 Kleinere Mitteilungen
29, 8. Der Vers ist um eine Silbe zu kurz. Korr. destemprada, falls
nicht statt des doch wohl verderbt überlieferten orgoill ein dreisilbiges Wort
einzuführen ist,
31,35. E-il pic son vengut e-il maill
Ab qe-il pros loin de nuaill
Rompon portas ab trebaill.
Übs. 'senza paura'. Aber mialha bedeutet nicht 'Furcht', sondern 'Trägheit,
Lässigkeit'.
31, 50 — »51. Qe anc no fon recrezutz
De donar ni espcrdutz
Per guerra, anz a vencutz
Sos guerriers.
Übs. 'egli non si ö ancora distolto dal (JoQare n6 ha sofferto per g-uerra'.
Aber ünc non ist 'niemals' und esperdut 'entsetzt, vor Furcht oder Schrecken
außer sich'.
34, 20. Anz vueill chantar d'amar e joi aver
De qu'ieu mi lau, e del mais ai fiansa.
Vgl. 35,53: D'aitan mi lau el soireplus aten De ros, domna. Lo mais
und lo sohreplus sind 'das Übrige'. Se lauzar ist nicht nur in der zweiten,
sondern auch in der ersten Stelle mit 'zufrieden sein' wiederzugeben.
34, 21. Se elamar ist nicht 'protestare', sondern 'sich beklagen'.
34, 26. Es ad amic adoncs amors esglai.
Sentit n'agr'eu em fag o en semblansa.
Schon Lewent hat angemerkt, daß E s'ad zu lesen ist und daß in adoncs das
Verb stecken muß. Er will a doncs lesen; sollte nicht eher aduiz zu ändern
sein? Vgl. 35,7: Que chans adus gran^ hea maintas sazos.
35, 6. Del mal d'amor q'eu tem fort que m'aucia. Die Übersetzung 'che
mi faccia sofFrire' ist zu schwach.
35, 18 — 19. Qu'a guerrers ail cor e-ls oils amdos.
E qui de for a guerrer dinz l'ostal,
Non pot aver plag plus deseomunal.
V. 18 hat eine Silbe zu wenig; kor. ai lo. De for wird mit 'stando di fuori'
übersetzt; nach Lewent soll es 'gewohnheitsmäßig' bedeuten. Beides ist,
denke ich, abzulehnen. Es ist defor a guerr'et dinz l'ostal zu schreiben
'wenn einer draußen und im Hause Streit hat', draußen mit den Augen,
drinnen mit dem Herzen. Vgl. auch Appel, Chr. 78, 9 ff. — Deseomunal, das
'straordinario' übersetzt wird, ist hier 'arg, schlimm'.
35, 28 u. 30. Ni eu, amors, non agra temsut vos
Si no m'eron li meu contrarius.
Mas trait m'an li meu oill desleial
Con trai lo bosc lo fuetz de la destral.
Mit li meu- sollen nach der Anmerkung 'i miei, i miei compagni, cioö gli
occhi e il euore' sein, während die Übersetzung 'se i miei occhi non mi
fossero avversi' lautet. Und das ist gewiß das Richtige, denn von der Schuld
des Herzens ist erst in der folgenden Strophe die Rede. Nach dem Abdruck
Mahn, Ged. 713 hat Hs. I nicht li meu, sondern li meu oill; es ist also li
zu tilgen und meu oill in den Text zu setzen. — Für fuetz ist futz la.
Kleinere Mitteilungen 115
fust K überliefert, Z. 26 fust, das B. in fust[z} ändert. Eine Änderung war
unnötig; ob aber der Dichter futz oder fust gebraucht hat — beide Formen
sind zulässig — , ist nicht zu entscheiden.
35, 34 u. 37. Que vos intretz, amors, per mon vezer
Inz e mon cor, e-1 cors fes faillimen
Que -US alberget ses cosseil de mon sen.
Mas pos ill quet an fag vostre plazer,
Fassatz lur ben per vostra cortesia . . .
De me nous prec, sol qe fassatz ioios
Aquetz trachors qe m'an fag enveios.
übs. 'ma del momento ehe gli occhi, queti, vi hanno compiacciuto'. Aber was
soll hier 'ruhig'? Und warum wird das Herz nicht erwähnt? Hs. I hat
il quei, Ka qei. Sollte nicht in li trei, das Herz und die beiden Augen, zu
ändern sein? — Für enveios ist doch wohl in Hinblick auf enoi V. 40 enueios
zu schreiben.
35, 53. Siehe oben zu 34, 20.
35, 55. Fals. Korr. Fols, wie auch V. 60 st-eht. Von Falschheit kann hier
doch keine Hede sein.
37,26. Das überlieferte fins galiaire ist zu belassen; durch Hinzufügung
eines [c] nach fins würde der Vers zu lang. Wegen der Bedeutung vgl. Sppl.
Wb. fin 4.
37,46. Der Vers hat eine Silbe zu viel; korr. sobtana statt subitana.
38, 3. En chantar d'aquest segle fals
Ai tant obra perduda,
Dont tem aver pcnas mortals,
Si meroes no m'ajuda.
Übs. 'ch'io temo d'aver meritato le pene d'inferno'. Aver meritato steht nicht
im Tecst und genügt auch dem Sinne nicht; 'icb fürchte, daß ich tödliche
Qualen werde erleiden müssen (sc. in der Hölle)'.
38, 19. Aitals merces m'agrada,
Quar es secors
Dels peccadors
Cui CS razos loniada.
Übs. 'che hanno perduto il ben dell' intelletto'. Ist nicht zu verstehen: 'denen
das Recht fern ist, d. h. nicht zur Seite steht', d. h. die von Rechts wegen
verloren wären, wenn ihnen nicht Gnade helfen würde? Razos und merces
werden ja auch sonst, so Nr. 39 Str. 3 u. 4, einander gegenübergestellt.
38, 73 u. 75. Per qu'ieu vos quier
Cosseill entier
Et ajuda certana.
Sia-m merces prosmana,
Maire de Dieu,
Don m'arma sia sana.
Cosseill wird 'consiglio' übersetzt; sollte es hier nicht eher 'Hilfe' sein? —
Übs. von V. 75 'la vostra misericordia non sia tarda a venire'. Ich denke,
es ist zu deuten: 'sei mir nahe, stehe mir zur Seite'; vgl. V. 67 Ära vos
prec ... Queno-m siatz lonhdana, das B. 'che non mi abbandoniate' über-
setzt, und die vorhergehende Bemerkung zu 38, 19.
116 Kleinere Mitteiliingon
39, 28 ff. E si merces np m'es amia,
Tot nion afar tem que dechaia,
Que razos fort nien cspaventa
Qi no m'es parens ni vezina,
Ans m'es a dan per ma. faillensa.
Die von Bertoni und Leweut gegebenen Deutungen scheinen mir schwerlich
befriedigend. Ich möchte fragen, ob nicht folgendermaßen zu verstehen ist:
'dann fürchte ich, daß es mit meiner ganzen Sache, Angelegenheit schlecht
gehen wird, denn Recht, Gerechtigkeit erfüllt mich in bezug darauf (sc. wie
es mit meiner Sache gehen wird} mit Schrecken, sie (die Gerechtigkeit), die
mir nicht hilfreich zur Seite steht, sondern mir meiner Schuld wegen zum
Schaden gereicht', mit anderen Worten: wenn es nach Recht und Billigkeit
geht, dann muß ich wegen meiner Sünden verdammt werden, nur Gnade
kann mir helfen. Auf diese setzt der Dichter denn auch seine ganze Hoff-
nung, indem er fortfährt V. 36 — 40:
Sol que vostra merces mi sia
Ajudaritz, dretz no m'esmaia
Ni blan razon ni sa -parenta.
Pero mcrgut ai dretz m'aueia!
Mas vostra rnerees me n'estraia
E ja ma mort non li consenta.
Ob wohl ajudaritz wirklich haltbar ist? Ändert man nicht besser, wie es
in Hs. a nachträglich geschehen ist, in ajudairitzt — 8a parenta macht be-
sondere Schwierigkeiten. Ich frage mich, ob nicht etwa dret damit gemeint
sein kann; razon und dret sind verwandt. Worin sie sich unterscheiden, oder,
besser noch, welchen Unterschied der Dichter zwischen beiden machen woUt«^,
falls er sich darüber überhaupt klar war, vermag ich nicht zu sagen. Nach
Lewent ist dret die allgemein waltende Gerechtigkeit, die Lohn und Strafe
austeilt; ist dret etwa das Recht, dem der Richter beim Urteilsspruch zu
folgen hat, vgl. qu'aia mcrcc ... al jutjar V. 47 — 48, und razon 'Gerechtig-
keit, Billigkeit'? — V. 40 scheint Pero 'aber' kaum am Platze; man würde
doch eher erwarten 'zwar habe ich nach dem Recht den Tod verdient, aber .. .'.
Überliefert ist Pero demergutz sui dretz m'aueia. Sollte nicht Pero zu tilgen
sein? Ob demergutz sui möglich ist, ob demergut ai zu ändern ist, oder ob
sonstwie geändert werden müßte, wage ich nicht zu entscheiden; vgl. Sppl.
Wb. demerir. — Den letzten Vers übersetzt B. 'e non consenta la mia morte,
senza salvezza'. Von 'senza salvezza' steht nichts im Text, dagegen fehlt in
der Übersetzung das li; daß dieses sich auf dretz bezieht — vgl. die An-
merkung — , ist zweifellos.
40, 13. Se cel qi fall agues lo dol e-1 dan,
Tot l'agr' amors, c'aitan mal si capte,
Q'e?. destreing Tun e laiss'a l'autre-l fre.
Wenn man in el nicht einen Fehler der gemeinsamen Vorlage der drei Hss.,
die das Gedicht enthalten, sehen und dafür il einsetzen will, ist amors hier
männlich, worin Bertoni S. 169 einen Italianismus sehen will. Darin möchte
ich ihm beistimmen. Schultz-Gora meint zwar, diese Annahme sei nicht
nötig, da sieh masc. amors auch Appel Chr. 85, 26 (Tenzone Catola-Marca-
brun, nicht Mönch von Mont.) finde. Hier hat allerdings Appel zuerst mit
der Hs. Qtt'amors si'ah engan mesclatz gelesen, und so hat auch der Text
Kleinere Mitteilungen 117
von Dojeanne, aber später hat Appel das handschriftliche amors in amor
geändert, und er schreibt jetzt: Qu'amor si ab engan mesclatz 'daß ihr so
Lieb' uud Betrug vermengt'. Und daran hat er m. E. sehr recht getan, denn
wenn wir Hunderte von Belegen von weibl. amor, color, valor usw. haben,
sind wir nur dann zur Annahme männl. Geschlechts berechtigt, wenn kein
anderer Auswegbleibt; nur bei Trobadors italienischer Herkunft dürfte man
vielleicht weniger streng verfahren dürfen. Darum würde ich auch in Pois
forsa m'en amors . . . A cui det Dens aitan de seingnoratgc Que cui e l vol
destreing e pren c lia^ Mönch von Mont. 15, 56 ohne Zögern el, das von den
Hss. AB und nach der Variantenangabe bei Klein auch in CD (was aber
noch nachzuprüfen wäre) überliefert ist, durch ques Hs. I ersetzen; Hs. F
qui si, T qui se, R Qe se quel play. — In der von B. in der Anmerkung
angeführten Stelle Flamenca2 3334: Qu' eiss' Amors non val ad amor. E per
so • m fai mais de paor, Quar, s' Amors ad amor valgues, Eu am l o mais
que nulla res, E degram hen valer Amors E contr'amor faire socors; Car
amors es lo 7nals c'om a, Et Amors es zo quel mal fa ist sicher eine Ände-
rung nötig, nicht nur weil Amors für den Dichter weiblich ist, vgl. V. 2564,
3193, 3848, sondern auch des Sinnes wegen, denn davon, daß Guilhem Amor
liebe, kann natürlich nicht die Rede sein. Paul Meyer, Flamencal S. 336
übersetzt gewiß richtig: 'si Amour pouvait quelque chose contre l'amour, il
devrait bien me secourir, moi qui aime plus qu'homme du monde'. Ob etwa
Änderung von lo in molt genügen würde? Bertoni führt in der Anmerkung
noch die folgende Stelle an: Mas amor no auch ni no vei Ni vo sai ves qal
part s'esfai. Per q'eu non puos contendre a lui, Mas grcii- m'es car de
mi no-s fui Hs. G fol. 122c {S. 402 Z. 6; Raimb. d'Aur.). Er fügt hinzu,
daß sie nichts für ein männliches amor beweise, da lui auch als betontes
Av eibliches Pers.-Pron. vorkomme. Dagegen erhebt Schultz-Gora den
Einwand, daß es nicht sicher sei, daß die Trobadors lui für lieis gebraucht
hätten; die von V. Eisner, Person. Pron. im Altprov. S. 23 angeführten
stammten entweder nicht aus lyrischen Gedichten oder doch nur aus ganz
späten, sonst aber seien sie mißverstanden bis auf eine, wo aber die Va-
riante lieis vorhanden sei. Mir scheint aber, daß gerade unsere Stelle von
entscheidender Beweiskraft ist, denn einerseits ist lui durch den Reim ge-
sichert, anderseits steht einige Zeilen weiter: Ainors se mostra vilann
und S'amors fos tan hen enseignada. Es ist also amors auch hier
Femininum und folglich lui weibliches Pronomen. Auch Appel, Prov.
Tnedifa S. XVIIT gibt ein Beispiel, wo weibl. lui durch den Reim gesichert ist
(Am. de la Broqueira). Man wird also auch in den Fällen, wo weibl. lui im
Innern des Verses steht (außer den schon bekannten Fällen auch Guir. Riq.
71. 156). gegen weibl. lui nichts einwenden können. Wegen weiterer Belege
aus Prosadenkmälern vgl. W. Suchier, Enfant sage S. 419 zu 102 und Coulet,
Rev. IgK. rom. 45, 380.
40, 40. Beure hat hier doch wohl die Bedeutung 'büßen'; vgl. den vierten
Beleg bei Rayn. II, 217 und Sppl. Wb. Irure 3).
41,2. Eu non chant ges per talan de chantar;
Mas si chant eu, non chant, mas chantan plor.
Die Übs. 'ma se canto, non canto [a vero], ma . . .' trifft gewiß nicht das
Richtige. Appel, Prov. Ined. S. 182 interpungiert ...de chantar. — Mas si
chant eu? Non chant, mas . . ., Tobler, Verm. Beiträge 'II, 236, Anm. 2 . . . 'de
118 Kleinere Mitteilungen
chantar, Mas si chant. — eu? — non chant, mas . . . Ich möchte vorschlagen
. . . de chantar, mas si chant eu. Non chant, mas . . . 'ich singe nicht aus
Lust am Singen, aber doch singe ich. Ich singe nicht, sondern . . .'. Vgl.
faz eu 'das tue ich doch' Nr. 35, 55.
41, 21 u. 22. Mort es tot zo qu'el mon era de car . . .,
E zo per que prezavon domneiar,
E zo per que valia neis valenza
E zo per que estavs, autr' enan.
Übs. 'e ciö per cui ancora era stimato il merito, e ciö per cui si faceva a gara
a migliorarsi'. Aber neis ist doch nicht ancora. Mir scheint, daß die Deu-
tung Appels, Prov. Ined. S. 183 'das wodurch (Appel: um derenwillen) selbst
die Trefflichkeit erst Wert erhielt' das Richtige trifft; doch darf nicht ver-
schwiegen werden, daß gerade das so wichtige 'erst' nicht im Text steht. —
Wie B. zu seiner Deutung des letzten Verses gekommen ist, sehe ich nicht
recht. Ich weiß nicht, wie zu deuten ist. Ob man etwa, der in Hs. a vor-
genommenen Korrektur entsprechend, antrenan lesen und 'das wodurch sie
(sc. valensa) vorne dran war, in erster Reihe stand' deuten dürfte? Aber
schon der Umstand, daß dann valensa in zwei Versen Subjekt wäre, während
sonst jeder der vorhergehenden Verse ein besonderes Subjekt hat, erregt
Bedenken.
41, 41 u. 42. E si tot sai en reman dechaenza,
Li Saint angel, la-n portaran chantan;
Per son profieg, si tot nos torn'a dan,
No-s deu adur de plorar estenenza.
Übs. 'Per suo vantaggio, bench& torni a nostro danno, non dobbiamo astenerci
dal piangere'. Das gibt doch keinen Sinn. Welchen Vorteil sollte die Ver-
storbene wohl davon haben, wenn die Zurückbleibenden nicht weinen? Schon
Schultz-Gora hat hervorgehoben, daß die Stelle so nicht verständlich ist, die
Übersetzung nicht in den Zusammenhang paßt, und daß über das eigentüm-
liche adur nichts gesagt wird. Wenn eine gewagte Frage erlaubt ist, sei
mir die folgende gestatt-et. Ist etwa die Interpunktion nach chantan zu
streichen, nach profieg ein Punkt zu setzen, Nos statt No:s zu schreiben,
adur = aduire, adurre anzusehen [redurre ist im Sppl. Wb. belegt.; trar für
traire bei Zorzi und sonst, vgl. Chabaneau, Rev. Igs. rom. 25, 197) und zu
übersetzen: 'die Engel werden sie davontragen zu ihrem (sc. der Verstor-
benen) Vorteil. Wenn das uns auch zum Schaden ausschlägt., so muß es uns
doch Enthaltsamkeit vom Weinen bringen', d. h. wenn ihr Tod für uns auch
ein herber Verlust ist, so sollen wir doch, da. sie dadurch der ewigen Selig-
keit teilhaft geworden ist, nicht klagen; der Gedanke, daß die Verstorbene
bei Gott ist, soll den Zurückbleibenden ein Trost sein. Vgl. Nr. 42, 21 ff.:
Grans es lo dols e maier for'assatz Dels cavaliers qui son mort en Siiria, Si
no-ls agues Dieus pres en compaignia.
42, 21. Meillor. Zu dem in der Anmerkung Gresagten ist zu bemerken,
daß Rayn. IV, 183 zwei Belege von melhorar mit o in unbetonter Silbe an-
führt, vier weitere Sppl. Wb. s. v. melhorar 1), 7) und Schluß; ein Beleg mit
0 in betont«r Silbe ibid. melhorar 9), allerdings nicht im Reim.
42, 29. Q'il troberan a pro de cassadors.
Übs. 'che troverebbero molti inseguitori'. Aber o pro de heißt doch nicht
'viele'. Mir bleibt die ganze Stelle unklar.
Kleinere Mitteilungen 119
42, 39. E-1 reis engles aia cor de l'acors . . .
E pas la mar ab poder e no-s feingna.
übs. 's'infinga'; Lewent 'er verstelle sich nicht, mit dem Nebensinn er sei
nicht träge'. Man wird 'zögern, zaudern' übersetzen dürfen; vgl. Sppl. Wb.
fenher 4).
42, 44. Lewents Deutung der Stelle trifft gewiß das Richtige. Der Sinn
ist: wenn auch die Spanier ruhmvoll gegen die Sarazenen in ihrem eigenen
Lande gekämpft haben, so genügt das doch nicht, um sie von der Verpflich-
tung, auch am Kampfe im heiligen Lande teilzunehmen, zu befreien, denn
jene sind nicht die Zerstörer des heiligen Grabes, die es jetzt zu bekä.mpfea
gibt.
43, 7. Mas los cabals es razos q'ie-n retraia,
Sivals per dir als avols zo qeil pes
E per plazer dels gais e dels cortes.
Bertoni hat in der Anmerkung zu der Stelle und S. 167 die Änderung in
qels erwogen, aber zurückgewiesen; Lewent hält sie dagegen für empfeh-
lenswert. Ich möchte Bertoni beistimmen, denn li als Dat. Plur. findet sich
noch einmal bei Cigala 41, 32: C'oi mais en dol et consir viuran, E zo li
er piegz de mort, a ma parvenza, und ist ja auch sonst, wenn auch nicht
häufig, zu belegen, vgl. Chabaneau, Romania 5, 372, Revue des Igs. rom. 25,
113—114, 32, 514 zu 253 u. 33, 606 zu 34, 7; Schultz-Gora, Prov. Dicht. IV,
15 Anmkg.; Bertoni, An. du Midi 24, 213 zu 646. Bertoni selbst führt S. 167
zwei der von Chabaneau beigebrachten Belege an, von denen aber Guilh. de
la Barra 115: E Dieus ... Los fey venir ... En .1. fort de mar tan suait
Hon lunh temps no periro nau Ni vens no l i poc contrastar m. E. nicht be-
weisend ist, denn li kann sich ja auf den Obl. wSing. nau beziehen. Wie der
vorletzte Vers zu verstehen ist, ist mir allerdings nicht recht klar.
43, 17. Mas d'aquels paucs non es razos c'om taia
Sos onratz faitz.
Da zu bemerkt Lewent; 'Li<;gt hier nicht ein Schreibfehler für Los vor, so
hat man es offenbar mit einem Italianismus, wenn nicht des Dichters, so des
Schreibers zu tun. Denn es ist bekannt, daß suo im Altital. auch als Posses-
sivum der Mehrheit verwendet wurde.' Aber auch prov. Beispiele solcher
Verwendung fehlen ja nicht, wenn auch die Belege fast ausschließlich nicht-
lyrischen Texten entstammen; vgl. Chabaneau, Romania 4, 345 u. 5, 234 und
Revue des Igs. rom. 7. 77. 26, 116; 32, 528 zu 889; 33, 606 zu 35, 24; 37, 484;
Priv. Manosque S. LXXXII; Jeanroy, Voyage Purgatoire S. Patrice S. XL
Anm. 2 und endlich Zorzi, Biogr. II, 5 Anm.
43, 43. Eu non teing ies per cavallier
Qui non socor de bon talen
0 de son poder franchamen
Dieu, pos el n'a tan gran mestier.
Es ist doch gewiß E statt 0 zu ändern, wie es die Übersetzung auch tut.
43, 52. Hom demanda tot jorn e qier
A Dieu conseil e garimen.
Übs. 'cou.siglio e aiuto'. Besser wohl 'Hilfe und Schutz".
45, 35. De l'amoros sospir
Qe-m venc dal cor e-m ciecet far fenir.
120 Kleinere Mitteilungen
Übs. 'e parve mi facesse morire'. Es ist doch wohl zu deuten 'und mich fast
getötet hätte'.
47, 9. Que tot zo q'ieu puesc ni q'ieu sai
Vos profer et ancara mai,
Que j>auc mi sembla zo qu'eu ai
Ad honrar vos si com s'eschai,
Per qu'eu d'aillors m'en propcerai.
Die Hss. überliefern in der letzten Zeile proptcrai I K, prompttrai a, und
Schultz-Gora hat durchaus recht, wenn er empromptarai lesen möchte, nur
ist darin m. E. nicht ital. inprontare, sondern das Sppl. WTd. II, 406 belegte
emprumtar zu sehen, und pauc ist 'zu wenig' zu deuten, vgl. Sppl. 'Wb. pauc
6). Es ist, denke ich, zu verstehen: 'was ich kann und weiß, biete ich euch
dar und noch mehr, denn zu wenig scheint mir das, was ich habe, um euch sn
zu ehren, wie es sich gebührt. Deshalb werde ich mir von einem andern
leihen'. Was aber mit dem 'noch mehr' gemeint ist und von wem der Dichter
leihen will, ist mir nicht klar.
47,26. Et auriam per enemic
Qui-us fezes enoi ni destric,
Ni-m creiria d'aisso chastic,
Q'aissi deu hom amar amic.
Übs. 'senza prendere consiglio da alcuno in ciö'. Nein, sondern 'und in bezug
darauf würde ich keiner Ermahnung willfahren (oder: auf keinen Tadel
hören)', d. h. davon würde ich nicht abgehen, auch wenn man mir das Gegen-
teil riete (oder: auch deswegen tadelte).
47,51. Failliit (3 Perf.,). Die Hs. hat jaUh; cor. failhi.
50, 22. Deul. Das l ist nicht überliefert und nicht zu ergänzen, vgl. Lit.
Bl. 10, 183 zu 14, 22.
50, 24. Tanz cavalUers. Warum wird tatiz mit 'sifatti' übersetzt?
50, 25. Wegen muzatge vgl. Sppl. Wb. V, 353a. Wie der Text richtig zu
lesen ist. hat schon Schultz-Gora gesagt, razonar ist hier 'verteidigen'.
50, 31 — 32. Die richtige Deutung hat Levfent gegeben, nur glaube ich
nicht, daß per s'amor 'trotz (unbeschadet) seiner Liebe' bedeuten kann.
50, 40. E car los drutz cochatz tan malamen,
Lur faill poders, don vos sohra feunia.
Übs. 'su voi ricade il torto'. Nein, sondern 'deswegen beherrscht, überwäl-
tigt euch Zorn, Unwille', d. h. darüber seid ihr sehr aufgebracht.
50, 46 — 48. Ma chascus razon pren.
Qar sai qe ha tan de recrezemen
Q'ai maior ops poders li failliria.
Die Stelle hat B. mißverstanden. Es ist nicht nur, wie Schultz-Gora und
Lewent anmerken, razon 'Vorwand' zu deuten, sondern m. E. auch für sai
mit IK sap zu lesen oder die Lesart von Hs. M. aufzunehmen. AI maior ops
ist ebenso zu erklären wie im letzten Beleg s. v. ops 5), Sppl. Wb. V, 500;
vgl. auch V. 50 .
Domna, poder ai eu et ardimen,
Non contra vos, qe-us venzes en jazen, •
wo die letzten Worte, die B. 'con tutta facilitä (litteralmente: vi vincerei
dormendo)' übersetzt, 'beim Beiliegen' zu deuten sind.
Kleinere Mitteilungen 121
51, 25. Qe del sieu cors veser no-m prent gran cura,
Se-1 giorn la vei vestid'e no la toc.
Die übs. 'chö se durante la giornata la vedo vestita, e non la tocco, ciö signi-
fica che non mi interessa molto' triflFt nicht, das Richtige. 'Sie zu sehen, trage
ich keine Sorge, ist mir gleichgültig, wenn ich sie bei Tage bekleidet sehe
und nicht berühre', d. h. es liegt mir nichts daran, sie in ihren Kleidern aus
der Entfernung zu sehen, ich will sie nackt in den Armen halten (V. 6 — 7).
53, 18. 'scondire
No-us en podetz, s'ieu ia haia zo qu'ieu dezire
übs. 'se io ho gia ottenuta la vittoria che desidero'. Lewent bemerkt dazu :
'Der Konjunktiv ist durchaus unberechtigt; lies s'ieu ia hai azo.' Ich meine,
es ist nichts zu ändern und zu deuten: 'so wahr ich jemals haben möge, was
ich ersehne', d. h. so wahr ich hoffe, daß meine Wünsche in Erfüllung gehen
mögen.
54, 8. Qar eil qi m'a del tot el sieu poder
Mi mostr'orgueil e fai noii da dever.
Übs. 'e so che non fa sul serio.' Nein, sondern 'sie handelt nicht wie sie
handeln sollte'.
55,21. Mesclat'. Korr. mesclad' (Druckfehler).
55,41. Amics Symon, ben par qe-us etz fegnenz,
Qar non avetz lo cor dels amadors.
Übs. 'ben si vede che siete ondeggiante'. Ich verstehe: Ihr heuchelt, d. h. Ihr
seid kein wahrer Liebhaber.
55, 61. Estiers mi donz c'ades meillur'e genza. Nicht 'piace', sondern
'schöner wird', vgl. Sppl. Wh. gensar 1).
56, 48. Mas aquel que sap far
Mais de plazers, de bon cor plus meillura
Das Komma ist nach cor statt nach plazers zu setzen; vgl. V. 16 Qi de hon
cor sai (cor. sap) far [hos] faitz plazentz. Nach den Varianten hat die Hs.
hier sai faitz faitz pl., nach den Var. zum Abdruck in den Trov. min. di
Genova S. 8 sai faitz pl. Wie ist überliefert? — V. 48 ist demnach die Über-
setzung zu ändern, abgesehen davon, daß de. hon cor doch wohl unter keinen
Umständen 'egregiamente' bedeuten könnte.
57, 4. Car etz tant conoissenz, vos voil,
Segn'en Lanfranc, qerer d'amor,
Q'ie-n voil appenr'et ai paor
Non trassaillis als prims essais.
übs. 'temo di restar vinto'. Wie sollte trassalhir wohl zu der Bedeutung
kommen? Ich denke, es ist 'verkehrt, schlecht handeln, eigentl. die richtige
Grenze, das rechte Maß überschreiten' zu verstehen; vgl. E s'eu ges per
s'amor trassalh ... Ni-lh m'enquer calque no-dever. Guir. de Bornelh
11,49; 07ie falhimens e mespreizos, Con fols trassalh, Fai delixtrar Con-
vcns e mans e gazardos ibid. 17. 28; Böses, si tot adora-sfalh, E mals.simalfa
e trassalh Per colpa de cor que iw-l val At de Mons IV, 132; ferner
Gavaudan 7, 13 u. 14.
57, 9. Esser ioios de ist hier dem conqucrer V. 6 synonym. Lewent hat
122 Kleinere Mitteilungen
also das Richtige erkannt, nur ist tant que nicht 'bis', sondern 'so sehr, so
weit, daß'.
57, 30. Aver sabor heißt doch nicht 'aver peso'.
57, 62. Symon, ab mi si deu teuer . . .
Na Flors, e s'il n'es acordanz,
No-m chal s'en Jacmes ten ab vos.
Da in der ersten Zeile reflex. tener und V. 58 der Nomin. Jacme steht, ist
Jacmes zu schreiben. Damit wird die Anmerkung hinfällig.
58, 45. S'ieti agues volgut ist mit 'se mi fossi accontentato' nicht richtig
wiedergegeben.
58, 53. E ben pauc vos vei enveios
De joi ni d'ouor cobeitos
Qu'enaissi metetz en soan
L'auzor e saubut honramen
Per joi don res non sabria.
In den Trov. min. Genova S. 18 hatt« B. lauzor gedruckt, er hat jetzt aber
die von Jeanroy, Romania 33, 611, vorgeschlagene Änderung in l'auzor an-
genommen. Jeanroys Gründe scheinen mir nicht stichhaltig; der Zusaxn-
menhang verlangt weder ein Adjektiv, noch ist der Artikel notwendig, auch
ist das Gerede der Leute doch gewiß nicht die 'höchste' Ehre. Es ist lauzor
zu schreiben, das dem lau V. 35 entspricht.
59, 28. Ni ieu non l'o prezera,
Q'il fez a mi, anz me-n desesperera.
Es ist, denke ich, Qil zu schreiben; 'wenn jemand (eine) mir das täte'.
60, 61 flF. E quar non tain q'esser deia
Pros domna d'avol autreg,
Nom pren del iazer enveia,
Qu'ieu am mais q'eu non enveg.
Mas vostre fols cors dereia
E vol ab gien passar dreg,
Per q'ieu non conseil qeus crieica
Domna qui a pretz eleg,
Qar nous vei prim ni adreg
Ves qe fin'amor plaideia.
B. übersetzt die ersten beiden Zeilen 'poichd non conviene che una donna
prode miserevolmente si conceda'. Ist das richtig? Oder ist nicht vielmehr
'etwas Schlechtes gewähre' zu verstehen? — Creia ist hier doch 'willfahren'.
— Übersetzung der letzten Zeile 'verso ciö che 6 presidio di fino amore'.
Trov. minori Genova 'verso ciö che riguarda fino amore'. Aber plaidejar
heißt doch weder das eine noch das andere. Mir bleibt der Sinn unklar.
60, 64. Mas ieu ...
Voil lo iazer ...
E del domnei me refreg
Car qecs ab st donz domneia.
Übs. 'ciascuno puö donneare con la propria donna'. Warum 'propria'?
62, 14. Luecs. Aus der Bemerkung, daß 'auch Hs. a luec' hat, ist wohl zu
schließen, daß B. luec in den Text setzen wollt«. Das von I K überlieferte
luccs haben Pelaez, Crescini und Bertoni in seinem Abdruck in den Trov.
min. Genova aufgenommen, während der Text in Bartsch-Koßchwitz' Chr.
luec hat. Ist nicht luec vorzuziehen?
Kleinere Mitteilungen 123
62, 16. Se van desconoissen. Vgl. Sppl. WT>. desconoiser 2).
62,20. E qui vos venz, ar no-s cug que-1 n'eschaia
Laus ni bon pretz.
Cb.s. 'non credo'. Aber cug ist 3. Pers. Präs. Konj.
63, 1. Die Frage ist: wollt ihr lieber ohne Gegenliebe zu finden treu
lieben als durch List und Trug die Liebe der Dame gewinnen oder wollt ihr
lieber durch Falschheit ihre Liebe gewinnen als vergeblich schmachten. Es
ist also in der Übersetzung Ditemi dunque zu tilgen, o vor siete zu ergänzen
und che statt o vor di languire zu schreiben,
64, 9. Car jois e pretz revendra qi-s perdia,
Car la pros coms proenzals Lombardia
Vol conquerer et Toscas et Puilles,
Et d'autra part Couratz vol son paes
E-1 reis Matfre non s'i acorda mia,
Per qu'entre-ls faitz aura pretz sa hailia.
Übs. 'Per questo, fra le imprese, acquisterä pregio la signoria di Carlo'. Es
ist doch gewiß zu verstehen 'Pretz wird herrschen', nicht Karl. Sollte statt
des auch Bertoni nicht befriedigenden faitz etwa tres zu ändern sein (vgl.
V. 47) ?
64, 29. E si Conratz non es valens e pros,
Deslignara, car li seu an Soria;
Non era-1 seu bastant, se plus noi fos.
Soria steht schon V. 17 als Reimwort, auch kann die letzte Zeile doch nicht
'e non sarebbero i suoi possessi bastanti, se non fossero maggiori' bedeuten.
Hs. a hat qal seu. ancessoria, und das ist, meine ich, zu bewahren und das
Semikolon am Ende des Verses zu tilgen ; q'al seu' ancessoria 'seinen Vor-
fahren genügte nicht'. Godefroy hat ancesseric; der enklitische Obliq. des
weibl. Artikels findet sich auch Nr. 62, 34.
64, 37 u. 40. Sei reis Matfres fos princeps coratjos
Ni zo qe te conques per galiardia,
S'era o pert, qant es reis, per un dos
N'aura blasme, car mais de caresti<i.
Lo deu gardar com plus l'ac a fadia.
Übs. von V. 40 'tanto piü lo deve difendere da ogni diminuzione'. Hs. a hat
qua mais, und ich denke, das ist zu bewahren und a carestia dem a fadia
gegenüberzustellen. Auch ist, meine ich, in der ersten Zeile fos in fo zu
ändern und das Ganze so zu deuten : 'wenn König Manfred ein mutiger Fürst
war (d. h. mutig zur Zeit, als er noch Fürst, noch nicht König war) und
das, was er besitzt, durch Mut gewann, so wird er, wenn er es jetzt, da er
König ist, verliert, doppelt getadelt werden, denn mit um so größerer Liebe,
Sorgfaltimuß er es hüten, mit je größerer Mühe er es erwarb'. Vgl. carestia
Sppl. Wb. I, 213.
65, 24. Avenir + Inf. findet sich auch Revue d. Igs. rom. 20, 55 V. 92 (Arn.
de Mar.): La vostra grans leutatz E:l deport e-l solaz ...Mi fan teuer
enclaus Ins el cor tal desir Don nv'a v enra mor ir, 8e no-us en pren merces.
65, 25 ff. Vor atiteza ist -9^. ausgefallen, vgl. Trov. min. Genova 14,25. —
Wegen manes siehe Sppl. Wb. manes 2. — Die richtige Deutung von V. 28
gab Jeanroy, Romania 33, 612. — Wegen portar senhoria siehe Sppl. Wb.
senhoria 10). — V. 31 — 32 e non cobeit l'aver Lo sohre^lus kann unmöglich
124 Kleinere Mitteilungen
'non aspiri a troppo avere' bedeuten. Ich frage mich, ob nicht das V zu tilgen
und zu deuten ist 'und er begehre nicht das Übrige zu haben'. Was aber mit
dem 'Übrigen' gemeint ist, kann ich um so weniger sagen, als mir auch die
Bedeutung des vorhergehenden prcnda la votz nicht klar ist.
65, 40. I qe qe sia
Pez e balanz los digz e-ls faitz en ver
E'l miels prendre no7i perda per voler.
Die Übersetzung 'e per voler troppo non perda il meglio' ist irrig; troppo,
worauf es hier doch besonders ankäme, steht nicht im Text. Wie zu ver-
stehen ist, zeigen 55, 6 und 63. 46 und vor allem Sordel 40, 69 ff., auf den schon
Crescini hingewiesen hat: E lai an la halanza niais pcndra, Tenez, car he vos
en prendra. E nos (rrwo-i/s) o tuella voluntatz, Qar soven vei ... Que per
voluntat es lo senz Desviatz.
65,42. Tant a-1 reis cor qe noil plairia
Hom senz cor en sa compagnia,
Segn'en Sordel, per q'eu non l'aus vezer,
Qe mon cor a tals don no-1 pois (sie!) mover.
Wie sollte wohl senz cor 'verliebt' bedeuten können, wie die Anmerkung er-
klärt? Es liegt hier ein Wortspiel vor; cor 'Herz' und 'Mut'.
67, 30. Pogra kann hier nur erste Person sein.
67, 40. Desconoissen steht hier im Gegensatz zu cortes, ist also mit sco-
noseenti unrichtig übersetzt.
67, 41. Oimais mi par que hen si'aguitatz
D'aisso qu'a dig, e, s'el no s'en apaia,
De Venecians queira-ls faitz honratz.
Übs. 'ch'egli nc abbia abbastanza. con ciö che ha detto'. Der Sinn ist doch
'das, was er gesagt hat, ist ihm (durch meine Antwort) heimgezahlt worden;
wenn ihm aber das noch nicht genügt, dann . . .'.
67, 62 ff. Wie ich, abweichend von Bertoni, die Verse auffasse, habe ich
in der Anmerkung zu Zorzi 14, 62 gesagt. Ob aber meine Auffassung die
richtige ist?
68. Zum Bau der Strophe vgl. Zorzi S. 31 und Anmerkung.
68, 1 — 2. Si • l monz fondes a maravilla gran,
Non l'auria ges a descovinenza . . .,
Puois Quonratz reis —
E d'Austorica l'auz ducs Federics . . .
Tan malamenz
Son mort.
Übs. 'Se il mondo so dissolvesse con grande maraviglia, non nie ne adonterei'.
Ich verstehe 'wenn die Welt in ganz wunderbarer Weise zusammenstürzte
(schon Eayn. übersetzt hier "crouler"), würde ich das nicht für etwas Un-
passendes halten, d. h. so wäre das naeh meiner Ansicht ganz am Platze,
ganz richtig'.*^
68, 25 ff. Der Dichter sagt, daß schon die Erinnerung an den Tod der
beiden Fürsten ihn gerechterweise töten müßte.
1 Siehe meine Erklärung der Stelle in 'Provenzalische Studien' Heft I,
S. 86. Sch.-G.
Kleinere Mitteilungen 125
Qar anc non fon hom joves ni antica
Qe-1 mein vaillenz
Trop fort
No-ill sobrandes.
Die Stelle ist von Bertoni ganz mißverstanden worden, und auch Lewent hat
den richtigen Sinn nicht erkannt. Es ist zu deuten: 'denn nie gab es einen
Menschen, jung oder alt, den der weniger Treffliche (sc. von den beiden,
Konradin und Friedrich) nicht in hohem Maße übertroffen hätte'.
68, 31 — 32. Qu'il e lur faig eron tan d'agradage
Que per I'auzir,
Ben qu'om no-ls conogues,
L'irat sentir
Fazion alrgrage.
übs. 'gli uomini irati menavan gioia'. Es ist nicht nur, wie schon Lewent
anmerkt, irat unrichtig übersetzt, sondern auch fazion sentir, und Subjekt
zu fazion ist nicht Virat, sondern il. Es ist zu übersetzen 'ließen sie (sc. die
beiden Fürsten) den Traurigen Freude empfinden', d. h. machten ihn froh.
68, 36. Die Anmerkung stammt von Paul Meyer, Romania 13, 483.
68, 59. In der Übersetzung ist conoscenti Druckfehler für nemici.
68, 72 ff. Vgl. die Anmerkung zu Zorzi 18, 51 und die Bemerkung Cha-
baneaus, Rev. d. Igs. rom. 25, 200.
E. Levy (f).
Zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Völkerpsychologie.
Karl Voßlers viel angefeindetes und viel gerühmtes, in der Neuheit und
Fülle seiner Gedanken sicherlich genial zu nennendes Werk von 1913:
'Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwicklung' scheint mir ein
ebenso verwegenes wie bescheidenes Programm zu bedeuten. Seine Ver-
wegenheit liegt in diesem Gedankengang begründet: Voßler geht davon aus,
daß Sprache in ihren feinsten Komplexen, aber auch in ihren unschein-
barsten, kleinsten Körperteilen, in ihrem Satzbau nicht anders als in ihren
Formen, ja in ihren Lauten nichts ungeistig, nichts rein körperlich, nichts
rein zufällig Entstandenes sein könne. Er will die Geistesart eines Volkes
in seiner Sprache finden, die Sprache aus dieser Geistesart erklären. Was
so ganz und gar zum Wesen der Allgemeinheit paßt, daß es ihr in Fleisch
und Blut übergeht, daß sie es mit Selbstverständlichkeit, ohne erneutes
Nachdenken, ohne Bewußtheit, mechanisch anwendet: eine solche Aus-
drucksart wird zur Allgemeinsprache, wird zur Sprachnorm, zur Gram-
matik also, im Gegensatz zur persönlichen unerstarrt individuellen Aus-
drucksweise. Und so besteht Wechselwirkung zwischen Erkenntnis der
Sprache und Erkenntnis der geistigen Beschaffenheit eines Volkes. Nun
liegt es verhältnismäßig nahe, das Syntaktische derart aus kultureller
Besonderheit herzuleiten. Einen schwierigeren Kampf mit der Materie
kostet es schon, in der Formenlehre die geistige Sonderart aufzusuchen.
Zum verwegenen und im letzten Grunde doch wohl vergeblichen Bemühen
aber wird dieses Ringen um das Geistige der Lautgestalt einer Sprache
gegenüber. Hier ist doch zu viel unerklärlich Körperliches im Spiel. Und
dennoch ist auch dieses Bemühen Karl Voßlers kein ganz fruchtloses zu
nennen, denn wenn er auch nicht rein geistig erklären kann, was offenbar
126 Kleinere Mitteilungen
nicht dem Geistigen allein angehört, so hat er doch auch hier manches der
Geisteswissenschaft zurückerobert, was ganz an die Physiologie und Me-
chanik verlorengegangen schien. Mit dieser Verwegenheit zuengst ver-
knüpft und manchem Fachmann nicht weniger anstößig als sie ist Voßlers
Bescheidenheit. Man hört Urteile, die darauf hinauslaufen, daß Voßlers
philologisches Buch die typische Arbeit eines Niehtphilologen, eines Literar-
historikers sei. Hierin steckt ein wenig Wahrheit. Richtiger müßte es
heißen : Voßlers Sprachgeschichte sei von einem Philologen und Literar-
historiker, ganz richtig: von einem Manne der Sprachwissenschaft und der
Geistesgeschichte verfaßt. Die Bescheidenheit Voßlers besteht eben darin,
daß ihm Philologie keine in sich abgeschlossene, für sich allein bestehende
Wissenschaft ist, sondern eine Hilfswissenschaft, wenn man so sagen darf:
im doppelten, im aktiven und passiven Sinne, eine Wissenschaft, die un-
gemein zur Erkenntnis der Volkseigenarten beiträgt, die aber selbst erst zur
Wissenschaft werden kann, wo solche Volkseigenarten schon von anderer
Seite her (durch Geschichte, Literatur, Kunst usw.) bekannt sind, anders
ausgedrückt: die durch die Resultate der Geistesgeschichte überhaupt erst
erhallt wird, von sich aus aber kostbare Proben auf diese Resultate macht
und sie bekräftigt oder als fehlerhaft erscheinen läßt. Einen Gefahrpunkt
freilich birgt Voßlers Betrachtungsweise. Er ist der Ansicht, daß vor dem
Erscheinen eines schöpferischen Genies die Geistigkeit seines Volkes und
seiner Epoche im Keime und unbewußt schon das in sich trage, was der
Genius nun verkünden wird. Woraus aber diese Keime, dieses Unbewußte
erkennen? Eben aus dem unbewußten, erstarrten, mechanisierten Gesamt-
ausdruck eines Volkes, aus seiner Sprache, Voßler sieht am damaligen
französischen Sprachstand, daß Frankreich für Descartes reif ist, er sieht
den Cartesianismus vorgebildet in der Logik des damaligen Französisch.
Hier ist gewiß die Gefahr eines künstlerischen Hineindeutens — aber es ist
doch nur retrospektive Prophezeiung, die geübt wird, und schließlich ge-
schieht nichts anderes, als daß der Kenner der französischen Philosophie das
spezifisch Französische ihres Wesens aus seiner Kenntnis der französischen
Sprache bekräftigt.
Voßlers Buch, das der gewissermaßen isoliert und exakt naturwissen-
schaftlich arbeitenden Sprachwissenschaft neue Wege zeigte, und das un-
geheures Material in wenige hundert Seiten zusammendrängte, mußte sich
natürlich vielfach auf Mutmaßungen und Andeutungen beschränken; ein
Romanist kann es geradezu als Aufgabensammlung betrachten. Nun hat
es Voßlers Schüler Lerch (der als Toblers Schüler begann) mit fleißigstem
Sammeleifer und beherrschender Sachkenntnis unternommen, die neue Me-
thode auf eine Einzelheit anzuwenden. Und hierbei springt ein Doppeltes
überraschend stark hervor: einmal das prachtvoll Lebendige dieser neuen
Methode, sodann aber auch ihre Gefahr in jeder nur einigermaßen unvor-
sichtigen oder stürmischen Hand. Um das zu beleuchten, will ich im fol-
genden nur den allgemeinen Gedankengehalt in Lerchs Schrift prüfen; eine
Darstellung der, wie ich glaube, mustergültigen Fachuntersuchung, die dem
Ideengehalt Körper und Stütze verleiht, würde hier nur ablenkend wirken.
Voßler hatte für die Samsonstiftung der bayrischen Akademie der Wis-
.senschaften dieses Thema als Preisfrage gestellt: 'Die Verwendung des
romanischen Futurums als Ausdruck eines sittlichen Sollens'. Unter dem
gleichen Titel ist nun, mehr als 400 Seiten stark und also ebenso reich mit
Kleinere Mitteilungen 127
Material beladen, wie Voßlers Sprachgeschichte davon entblößt ist, Eugen
L e r c h s 'preisgekrönte Arbeit' bei Reisland in Leipzig erschienen. Lerch
gibt für das Futurum, das keine bloße Aussage, sondern einen Willen in
sich trägt, eine ebenso eigenartige wie einleuchtende Definition. Ich möchte
sie sogleich in Beispiele auflösen. Wenn ich von jemandem einen Dienst
verlange, so kann ich im Imperativ sagen: Tu mir den Dienst! Dann
rechne ich mit dem Willen des andern und befehle ihm, sich meinem
Willen zu fügen. Ich kann aber auch sagen: Du wirst mir den Dienst
tun! Dann habe ich viel brutaler befohlen als im Imperativ; denn nun
rechne ich gar nicht mehr mit dem Willen des Angeredeten, mit einer
etwaigen Ablehnung, sondern ich bin gewiß, daß er sich mir fügen wird, ich
kenne meine Macht über ihn, und es schwingt ja auch schon die Drohung
mit: Wehe dir, wenn du mir nicht zu Diensten bist! Dieses 'Heische-
futurum', das sehr viel energischer befiehlt als der Imperativ, nennt Lerch
das 'kategorische'. Nun kann ich mir aber den angeführten Satz auch ganz
anders ausgesprochen denken: Du wirst mir den Dienst tun — nicht wahr?
Du wirst ihn mir doch nicht abschlagen, den kleinen Gefallen? Ich habe
kein Recht und keine Macht zu befehlen, ich bin meiner Sache gar nicht
sicher, ich möchte es nur gar zu gern mir und noch lieber dem anderen
einreden, daß er mir den Dienst tun wird. Hier ist das Futurum höf-
licher, milder, zaghafter und doch auch wieder beschwörender als der Im-
perativ. Und das nennt Lerch sehr fein ein 'suggestives' Futurum.
Man sucht dem anderen seinen Willen zu suggerieren.
Wer derart den Sinn für die Nuancierungen des Sprachgebrauchs
schärft, erhöht offenbar die Möglichkeiten, den geistigen Zustand eines Vol-
kes zu erkennen, und so leistet Lerchs 'systematischer Teil' gewiß auch dem
Geschichtsforscher, dem Literar- und Kulturhistoriker wesentliche Dienste
und ist Philologie als aktive Hilfswissenschaft im edelsten Sinne. Aber
nun fügt Lerch an seine Untersuchung einen zweiten 'auf das Französische
beschränkten historischen Teil', worin er sich ganz und gar als Voßlers
Schüler erweist. Er lädt dem schmächtigen Futurum die ganze Rüstung
der Voßlerschen Kulturbetrachtungen auf, verstärkt sie noch durch allerlei
Lesefrüchte und eigene Exkurse, so daß man ein wenig an den Knappen
Georg in Goetzens Rüstung erinnert wird, und geht nach braver Knappen-
art sehr viel unvorsichtiger vor als der erfahrene Ritter selber. Gleich die
einleitenden und basierenden Sätze dieses Abschnittes sind arg anfechtbar.
'In diesem Teil müssen wir nun die verschiedenen Verwendungsarten des
Heischefuturums, das wir im systematischen Teil sich wie in einem Prisma
brechen ließen, wieder zur Einheit des weißen Lichtes zusammenfassen. Kate-
gorisches Verbot und Gebot, suggestive Bitte und suggestiver Ratschlag im Fu-
turum haben, bei aller Verschiedenheit im einzelnen, das eine gemeinsam:
daß sie darauf verzichten, die Willensimpulse des Angeredeten überhaupt
erst in Schwingung zu versetzen (wie es doch das Normale ist und durch
den Imperativ geschieht). Ob ich zu jemand kategorisch sage: Tu te tairas!
oder suggestiv: Tu viendras (n'est-ce pas?) — beide Ausdrucksweisen kom-
men darin zusammen, daß ich seinen Eigenwillen nicht genügend respek-
tiere, daß ich über ihn verfüge wie über einen mir gehörigen Gegenstand'
(S. 286). Das ist zum mindesten eine sehr einseitige Auffassung. Mit dem
gleichen Rechte kann ich behaupten: Das suggestive Futurum respektiert
den Eigenwillen des anderen sehr viel stärker, als der Imperativ dies tut;
128 Kleinere Mitteilungen
denn es befiehlt ja nicht direkt, sondern überredet, schmeichelt sich ein,
überlistet: der das Suggestivfuturum Gebrauchende steht einem Eigenwillen
gegenüber, den er durch offenen Befehl nicht brechen zu können glaubt, den
er stärker, liebevoller und heimlicher zu überwinden suchen muß. Wenn es
eine unanfechtbare Gemeinsamkeit im Gebrauch der beiden Heischef utura
gibt, so liegt sie offenbar nur darin, daß beide dem Imperativ gegenüber die
dringlichere, heißere, subjektivere Ausdrucksform bedeuten. Damit dürfte
es zusammenhängen, daß man zum mindesten die schriftlich fixierten, ja
daß man sogar gelegentlich die gesprochenen Heischefutura nicht immer mit
Sicherheit als suggestiv oder kategorisch wird rubrizieren können. 'Du
wirst mir den Dienst tun!' kann ja Bitte und Drohung gleichzeitig ent-
halten: Ich bitte dich recht herzlich darum — solltest du aber dennoch ab-
lehnen, so greif ich zum Revolver! Will man also aus der häufigen Ver-
wendung des Heischefuturums in einer Sprache einen Schluß auf die Eigen-
art des betreffenden Volkes ziehen, so kann man nur sagen: es muß ein
impulsives Volk sein, das so spricht, ein impulsiveres als eine Nation, der
der kühlere Imperativ leichter über die Lippen geht. Brutaler, despotischer,
auf sein Ich beschränkter, blinder gegen fremde Eigenart als das Volk des
Imperativs kann ich die Nation des Heischefuturums keineswegs nennen,
denn noch einmal : der kühle Imperativ steht mitteninne zwischen dem herri-
scher begehrenden kategorischen und dem respektvoller werbenden sug-
gestiven Futurum. Und auch zu diesem Ergebnis, daß das Heischefuturum
auf ein impulsives Volk hindeutet, wird der Philologe unmöglich von sich
aus gelangen. Erst die impulsive Geistesart des Volkes, die sich ihm aus
Geschichte, Literatur usw. ergibt, kann ihn auf den Gedanken bringen, in
dem an sich stummen Futurum den Willen stärker sprechen zu hören als in
der normalen Befehlsform. So weit braucht der Philologe die Hilfe der
übrigen Geisteswissenschaft. Hat sie ihn dann freilich angeleitet, so leistet
er ihr eben den wesentlichsten Gegendienst: er macht die Probe auf ihr
Exempel. Die Völkerpsychologie zeigt an manchen Einzelheiten, daß sie
es in irgendeinem Fall mit einem impulsiven Volke zu tun hat: der Philo-
loge rechnet an der erstarrten Ausdruckform, an dem allgemeinen Sprach-
gebrauch nach und bestätigt: wirklich, dies Volk ist impulsiv, denn es hat
Überfluß am Heischefuturum. So denke ich mir, in di&ser bescheidenen Art,
hat Voßler seine Preisfrage nach der Verwendung des romanischen Futurums
gestellt.
Und was macht nun der Übereifer eines neu Bekehrten daraus — denn
als solcher bekennt sich der Verfasser Voßler gegenüber — ? Lerch rechnet eine
besondere Häufigkeit des Heischefuturums für das Französische nicht nur
dem Deutschen, sondern (was schwerer zu erweisen sein dürfte) auch den
verwandten romanischen Sprachen gegenüber heraus, nennt es 'etwas spezi-
fisch Französisches' und schließt hieraus nun auf eine spezifisch französische
Geistesart. Begnügt sich aber nicht damit, solche Eigenart im Impulsiven
zu entdecken — das Impulsive kommt ja allen romanischen Völkern dem
Germanen gegenüber zu — , sondern schließt auf Despotie, Brutalität, Miß-
achtung des fremden Ichs, Fanatismus, will alles dies aus dem häufigeren
Gebrauch des Heischefuturums ablesen, wie man den Stromverbrauch am
Zähler der elektrischen Leitung abliest. Aber der Zähler ist falsch kon-
struiert oder doch zum mindesten nicht überzeugend, denn wenn mir Lerch
etwa einwenden will, wie es an manchen Stellen seines Buches den Anschein
Kleinere Mitteilungen 129
hat, daß sich das Heischefuturum überhaupt nicht an den Willen des Auf-
geforderten wendet, sondern diesen wie eine willenlose Sache behandelt, über
die verfügt wird ('Du wirst das tun!' statt der Anrede an den Willen: 'Tu
das!'), so ist dies ein Trugschluß, da das Eigentümliche des Heischefuturums
ja eben darin besteht, daß es die einfache Zukunft-saussage, das normale
Futurum Imperativisch belastet, sozusagen zu einem Superlativ des Impera-
tivs macht und also besonders intensiv auf den fremden Willen einwirken
läßt.
Aber Lerch begeht eine zweite Unvorsichtigkeit. Er zieht mit Fleiß und Ver-
ständnis alles herbei, was insbesondere Voßler, daneben aber noch mancher
Kulturhistoriker und Dichter über die französische Volksseele gesagt haben.
Er bringt ein gewaltiges Anklagematerial zusammen, das immer wieder auf
dies eine hinausläuft: der Franzose ist herrschsüchtig, er mißachtet den
fremden Willen, die fremde Eigenart. Und alles dies soll nun nicht nur zur
Erklärung das Heischefuturums dienen, ja es soll vielleicht nicht einmal nur
ganz besonders überzeugend durch das Heischefuturum erhärtet werden.
Vielmehr gewinnt man den Eindruck, wenn sich freilich der Verfasser auch
gehütet hat, dies klar auszusprechen, als glaube er, der Sprachforscher, der
Finder des Heischefuturums, all diese persönlichen und Einzelbemerkungen
(denen er viele entgegengesetzte hätte beifügen können!) überflüssig ge-
macht zu haben durch seine Konstatierung der despotischen Sprachform, als
sei über die Geistesart der Franzosen nicht nur das Baste, sondern das einzig
wahrhaft Gültige, weil das einzig Allgemeine, Überindivuduelle in dem ein-
zelnen Sprachfaktum niedergelegt. Ich bin mir zweifelhaft, ob aus der Ge-
samtheit der Sprache allein ein absolutes Urteil über den Geist eines Volkes
gefunden werden kann; ich bin aber überzeugt, daß auf ein Einzelfaktum
solches Urteil nicht zu basieren ist. Hier liegt sprachwissenschaftliche
Hj-bris vor.
Und solche Hybris gewinnt nun in diesem Augenblick einen besonders
peinlichen Beigeschmack. Der Verfasser ist, wie jeder Deutsche, erbittert
über das gegenwärtige Verhalten der übermütigen Sieger; die Beispiele für
den Fanatismus der Franzosen (den offenbar vorhandenen, nur gerade aus
dem Heischefuturum nicht erweisbaren!) drängen sich ihm in die Feder,
und mit gleicher Natürlichkeit und Aufrichtigkeit folgt dann immer die
Beteuerung: ich schreibe aber ganz unparteilich, ich bin Eomanist aus Liebe
zu allem Schönen auf romanischem und also auch französischem Boden —
ich muß nur die Wahrheit bekennen können, wie ich sie finde, auch wenn
sie den Franzosen bitter ist! — Aber er bekennt eine Wahrheit, die nun
gerade aus seinem Thema nicht herauszulesen ist, und damit bekommt seine
wissenschaftliche Arbeit etwas Schiefes, etwas Tendenziöses, etwas Politi-
sierendes — was wir sonst gerade dem impulsiveren Franzosen vorzuwerfen
pflegen. Es scheint, als hätte der Krieg auch in dieser Beziehung schädi-
gend auf uns eingewirkt: ein Bonner Romanist (Curtius, 'Die literarischen
Wegbereiter des neuen Frankreich') beweist mir aus unzulänglichen moder-
nen Literaturleistungen der Franzosen, daß sie zur europäischen Führer-
rolle ersehen sind, und ein Münchner Romanist beweist mir aus unzu-
länglichem Sprachmaterial eine peinliche Charaktereigenschaft der Fran-
zosen. So wenigstens könnte man dem Anschein nach das sehr ernste
Münchener und das sehr wenig ernste Bonner Buch in Vergleichung setzen.
Das Traurige ist, daß Lerch sich diesen Verdacht auflädt, sich gegen ihn
Archiv f. n. Sprachen. 140. 9
130 Kleinere Mitteilungen
verteidigen muß, ohne im geringsten der Parteilichkeit schuldig zu sein,
d. h. der gegen die Franzosen. Aber er ist parteilich seinem Futurum und
der Sprachwissenschaft gegenüber: er läßt sie der Völkerpsychologie allzu
stolz erhobenen Hauptes entgegentreten.
Und endlich läßt sich noch in einem anderen Punkte zwischen den so
wesensungleichen beiden Büchern eine eigentümliche Beziehung aufstellen.
Der Bonner Literarhistoriker nimmt alle Äußerungen der modernen fran-
zösischen Literatur bitter ernst; er sieht nicht, wie dem Franzosen allzu leicht
Ernst und Spiel, Geist und Esprit, Wahrheit und Koketterie ineinander-
fließen. Wie nun, wenn ich Lerchs Heischefuturum heranzöge und be-
hauptete: wie in diesem Futurgebrauch Drohung und Schmeichelei inein-
anderströmen, und wie diese Ausdrucksform den Franzosen näher liegt als
der eindeutige Befehl des Imperativs, so eben ist ihre geistige Eigenart?
Dann hätte ich einen genau so stichhaltigen oder nicht stichhaltigen Be-
weis für etwas Volkspsychologisches auf etwas Sprachwissenschaftliches
basiert, wie Lerch das tut. Und wäre in den gleichen Fehler verfallen
wie er: den der sprachwissenschaftlichen Hybris.
München. Victor Klemperer.
Zu *Goufre de Satenie\
Es ist nicht ohne Reiz, den Ursprung nebst Verwendung dieser Redensart
zu verfolgen und dabei auf manch volkskundliches Moment zu stoßen.
Im Tomoiement Antecrist^ liest man folgende zwei Stellen:
v. 474 Apres mengier aporter vi
Un gingenbraz eonfit en soufre;
Et disoient tuit qu'il el goufre
De satenie fu confit,
N'ert pas ostieus a desconfit
Ou Antecriz fu ostelez.
Der Dichter hat offenbar 'goufre de satenie' mit Satan =: Antichrist ver-
knüpft und dies 'satenie' als Satansreich, somit auch Residenz des Anti-
christ aufgefaßt.
V. 3458 Volcanus les portes d'enfer
En sa forge toutes forja,
Qui son ostel et sa forge a
Pres du goufre de satrenie
El grant chemin de Foi-mentie
Et de mort soubite et d'enfer.
Auch hier befinden wir uns durchaus in der Nähe des teuflischen Reiches.
Daß es sich um einen Strudel handelt, der alles verschlingt, was in seine
Nähe kommt, lehren die beiden Stellen des Roman de R(;nart:^
Br. VII V. 629 Ce est li gorz de Satenie:'^
Que quant que il ateint s'i nie.
1 Li Tornoiemenz Antecrit von Huon de Mery, hg. G. W i m m e r, Mar-
burg 1888 (Ausg. u. Abh. LXXVI).
2 Le Roman de Renart, p. p. E. Martin, Strasbourg 1882—87.
3 V. 1. C'est li goufre de saternie, aber H: de satelUe.
Kleinere Mitteilungen 131
Br. XXII V. 456 Je ne sai que je vos en die:
C'est li goufres de Satenie^
Qui tout englout et tout regoit.
Bemerkenswert sind dabei die Lesarten Satcllie, Sathalie, die uns zeigen,
daß mit Satenie eine volksetymologische Umdeutung vorging, da sonst diese
Lesarten nicht so leicht sich einstellen konnten. Mit Unrecht meint daher
J. Grimm2 bei der Erörterung des Artikels 'Teufel' in seiner Mythologie,
daß bei beiden Renartstellen goufre de satenie, saternie an das Teufelsreich
zu denken sei und saternie an Saturn anschlage.
Eine bestinmite Lokalisierung gibt die Kreuzzugsschilderung des Am-
broüe,^ und damit rücken wir in eine enger begrenzte Sphäre von Über-
lieferungen aller Art:
V. 1318 Dreit al gofre de Sartalee,
Qui est un trop dotos trespas;
N'ad plus dotos en toz les pas:
De quatre mers est la bataille,
Dont chescone l'autre bataille.
Dazu bemerkt der Herausgeber G. Paris im Eigennamenverzeichnis: 'Sar-
talee, Satalie, l'anc. Attalia, ville d'Asie Mineure. Le "gouffre (golfe) de
Satalie", cßlöbre par l'agitation de la mer et consid6r6 comme tr6s pörilleux
pour les navires, a ete l'objet au moyen äge de nombreuses legendes, qui
remontent peut-etre ä l'antiquite.' Leider hat G. Paris diese mittelalterlichen
Legenden nicht näher angedeutet. Ähnlich heißt es in einer Jeru^alemreise
des seigneur d'Anglure:*
Appres passasmes par devant le gouffre de Sathalie. — quant nous eusmes
passö le gouffre de Sathalie, nous eusmes vent si contraire.
Wir sehen, daß es sich um den stürmereichen Golf von Satalia (Satalieh oder
Adalia) in Kleinasien an der Küste Syriens handelt, der von jeher den
Schiffen gefährlich war und an den sich manche Sagen knüpften. Unter
diesen ragt die Gorgonensage hervor, als eine seltsame Verdrehung der
Mythe vom Haupt der Meduse, die bei Gervasius von Tilbury^ fol-
gende Form zeigt:
Inter Rhodum et Cyprum sunt Syrtes, que vulgo Gulfus Sataliae nomi-
nantur, ubi caput Gorgonis in mare proiectum dicunt, respiciuntque Sata-
liam urbem, quae ad Soldanum Iconii dicitur pertinere. Tradunt autem
Gorgonem meretricem fuisse, quae sua pulchritudine homines mentis impotes
reddebat. Eius caput Perseus in mare proiecit. Indigenae referunt militem
quendam reginam adamasse, cuius stupro cum frui non posset, ipsam mor-
tuam et sepultam furtivo coitu cognivit, ex qua genuit caput tarn monstro-
sum. In conceptione miles per vocem in aere audivit: 'Quod pariet, suo in-
1 V. 1. L. Ce est li gorz de Sathalie.
» Dt. Mythologie, 4. Aufl., Berlin 1876, S. 825.
ä L'Estoire de la guerre sainte par Ambroise p. p. G. P a r i s , Paris 1897.
Auf diese Stelle machte mich Prof. Dr. E. Lommatzsch gütigst aufmerksam,
desgleichen auf die folgende.
* F. B o n u a r d o t et A u g. L o n g n o n, Le saint voyage de Jherusalem
du seigneur d'Anglure, Paris 1878, S. 10 u. 89.
5 F. Liebrecht, Des Gervasius von Tilbury Otia imperialia, Hannover
1856, S. 11.
9*
132 Kleinere Mitteilungen
tuitu omnia conspecta perdet et eonsumet.' Post novem mensium decursum
miles aperto tumulo caput reperit, a cuius facie se semper avertit, et cum
hostibus illud ostendebat, ipsos statim cum urbibus perdebat. Tandem in mari
navigans, in gremio amasiae obdormivit, quae clanculo clavem scrinii, in quo
repositum erat caput, subripuit, et cum stulta speculatrix caput respexerat,
statim obiit. Expergefactus miles, re comperta doloreque tactus, caput
erexit, et ab erecto vultu conspectus, cum nave periit. Hinc tradunt in
capite septennii caput faciem ad superiora vertere, et hoc periculum in mari
navigantibus generare.
Eine andere Fassung bietet Hoger de Hoveden (f nach 1201) in
seinen Annalen bei der Schilderung von der Rückreise des Königs Philipp
August von Frankreich, da er von Accon aus die Inseln im griechischen
Meer passierte. Bemerkenswert ist dabei, daß Satan hier innerhalb der Sage
auftritt :i
Deinde transivit per insulas de Yse, in quarum una est castellum, quod
dicitur castellum Rüge. Ibi fuit quondam quaedam puella, quae Yse vocaba-
tur, a cuius nomine insulae illae dictae sunt. Indigeuae quidem narrant, quod
quidam miles dilexit puellam illam et illa noluit consentire illi, quamdiu
vixit: defuncta autem illa, miles accessit et concubuit cum illa dicens: 'Quod
cum Viva facere non potui, cum mortua feci.' Et statim intravit Satan in
eam et ait: 'Ecce genuisti in me filium et cum natus fuerit, aflferam eum
ad ta' Et post novem menses, cum tempus pariendi instaret, peperit filium
abortivum et portans eum ad militem ait: 'Ecce filius tuus, quem genuisti;
abscide caput eins et reserva tibi. Quandocumque enim volueris inimicum
tuimi vincere vel t-erram illius destruere, capitis abscisi vultus discooperiatux
et respiciat inimicum tuum vel t^rram eins, et statim peribunt; et cum
cessare volueris, recooperiatur vultus et eessabit tribulatio.' Et factum est
ita. Post multum vero temporis miles ille iixorem duxit, quae saepius in-
terrogavit eum, qua arte vel quo ingeuio ipse ita destruebat inimicos suos
sine armis et sine exercitu: ille autem ei dicere noluit, sed increpavit eam,
ut taceret. Contigit ergo quodam die, dum miles abesset, quod illa accessit
ad arcam, in qua sperabat secretum illud esse domini sui, per quod ille ita
operabatur inique, et invenit in arca caput illud detestabile et statim abiens
proiecit illud in gulfo Sataliae. Et dicunt nautae, quod, quandocumque caput
illud fuerit resupinum, commotus est gulfus ille adeo, quod nulla navis
potest transire illum; et quaudo caput supinum est, tunc potest navis tran-
sire illum. Credat hoc Judaeus Apella, non ego.
Nur geringe Abweichungen hiervon bietet der Bericht bei John Brom-
ton. 2 Nicht Satan, sondern jene im Grabe geschändete Jungfrau kündet
dem Ritter die Mißgeburt an: Cui ista dicitur respondisse: 'Ecce filium in
me genuisti et cum tempus pariendi advenerit, ego afferam filium tuum tibi'
eit. Hinter dum miles abesset ist der Zusatz: et ipsa cum solis puellis suis
in secretiori thalamo esset. Der Schlußsatz lautet: Et quando caput illud
supinum iacet, tranquillitas magna fit in gulfo. — Die Fassung Rogers
scheint ursprünglicher zu sein. Im Schluß dieser Lokalsage sieht F. L.
Schwarz ' den 'Hinweis auf den beim Gewitter nach oben kommenden Ge-
witterkopf, während er sonst in der Tiefe ruht, gerade wie auch der Gorgo
1 Bei F. Lieb recht a. a. O. S. 92 flF. Chronica magistri Rogeri de
Hovedene ed. by W. Stubbs, vol. III, London 1870, S. 158.
2 Bei F. L. W. Schwarz, Der Ursprung der Mythologie, Berlin 1860,
S. 89, Anm.
3 A. a. 0. S. 90.
Kleinere Mitteilungen 133
Haupt bei Homer in der Unterwelt war, und Odysseus nur fürchtete, daß
Persephone es heraufschicke'. Dieser meteorologischen Auffassung der Ge-
witterwolke schließt sich W. H. Röscher' an, 'denn es läßt sich kaum be-
zweifeln, daß man unter dem ins Meer geschleuderten abgeschnittenen Kopfe,
welcher bald nach oben, bald nach unten gewandt ist, eine aus dem Meere
emporsteigende Wetterwolke zu verstehen hat, aus deren wechselnder Ge-
stalt und Bewegung man entweder auf Gewitterstürme oder auf Windstillen
zu schließen pflegte'.
Die gleiche Vorstellung eines Unwetters, aber diesmal in Form eines ge-
waltigen schwarzen Drachevs, der in den Wolken daherkommt, zeigt eine
andere durch die Kreuzzüge übermittelte Tradition, die Roger de Hove-
d e n an zweiter Stelle2 bietet :
Et est aliud mirabile quod unoquoque mense anni semel contingit. Vi-
detur quod draco niger et ingens veniat in nubibus coeli, qui mittit caput
suum in gulfo Sataliac, et haurit aqims, et attrahit ita vehementer, quod si
navis aliqua fuerit ibi, quamvis fuerit onusta, tarnen haiiritur et defertur in
sublime. Volentes autem hoc vitare periculum, oportet quod, cum viderint
moustrum illud, statim faciant tumultum magnum et clamationes altas, per-
cnitientes in tabulis, ut auditis clamoribus draco ille elongetur ab eis. Nos
aut^m dicimus hoc non esse draconem, sed aestum solis qui attrahit ad se
aquas maris.
Im Chronicon des J o h. B r o m t o n 3 findet sich folgende Ausschmückung:
Videtur enim quod draco magnus et niger in nuhibus veniat et caput
suum in undis mittat et cauda eins videtur quod sit coelo infixa; et draco
nie undas hauriendo ciun tanta aviditat« ad se attrahit, quod si navis aliqua
licet onusta viris vel quibuslibet aliis ponderosis propter haustum illum
fuerit, tamen hauritur et defertur in sublime.
Zu einem förmlichen Roman ausgesponnen erscheint diese Erzählung von
der Jungfrauschändung und dem Gorgonenhaupt bei Walter Map in
dessen Schrift De nugis curialium ,^ dist. IV, cap. 12: De sutore Constan-
tinopolitano fantastico. Die Handlung wird in die Zeit des durch Zauber-
künste berühmten Gerbert (des späteren Papstes Silvester II,) verlegt: Ein
junger Schuhmacher, Künstler in seinem Fach, dazu hervorragend in Leibes-
übungen, verliebt sich in eine vornehme Jungfrau, deren zarten Fuß er be-
schuht hat. Um ihre Hand zu gewinnen, verkauft er sein väterliches Besitz-
tum und glaubt, indem er Ritterdienste nimmt, erhört zu werden. Ihr Vater
weist ihn barsch ab, weshalb er sieh einer Räuberbande anschließt. Da hört
er, daß sie gestorben sei; trotzdem verzichtet er nicht auf sein Vorhaben:
... ad exequia properat et visa tumulatione locoque notato nocte
proxima solus effodit tumulum, et ad mortuam quasi ad vivam ingreditur.
1 Die Gorgonen und Verwandtes, Leipzig 1879, S. 110. Röscher ver-
weist ferner auf ein griechisches SchifJermärchen (S. 126), von Polites
(in der Schrift 'O neol imv roQyövcov /u.vd'os nnoa xc^ 'Elirjvixtp Xacö.
Athen 1878, S. 27) erzählt, das aber zu unserem Gegenstande nur eine ent-
fernte Beziehung aufweist.
2 Ed. Stubbs, vol. III, S. 159.
3 Bei Schwarz a. a. O. S. 35, der mit Recht den Drachen als eine
Wasserhose deutet.
< Gualteri Mapes De nugis curialium, ed. by Thomas Wright, Cam-
den Society 1850, S. 176.
134 Kleinere Mitteilungen
Quo scelere peracto, ex mortua resurgens audit ut tempore partus illuc re-
vertatur, delaturus inde quod genuerit.
Er erhält von der Toten ein Menschenhaupt mit dem Gebot, es nur seinen
Feinden zu zeigen:
Oorgoneum praetendit ostentum, obrigescunt miseri, vident instar 3/e-
diisae malitian. Supra modum timetur, et ab omnibus in dominum a<x;ipitur,
ne pereant. Nemo causam intelligit pestis iuvisae subitaeque mortis; simul
enim vident et pereunt, sine voce, sine gemitu.
Er herrscht nun unumschränkt und erhält die Erbin des verstorbenen
Kaisers von Konstantinopel zur Frau. Unvorsichtig genug, verrät er ihr
sein Geheimnis; sie holt aus der Truhe, worin das Haupt verschlossen war,
während er schläft, es heraus und hält es ihm vor, so daß er zugrunde geht.
Seine Gemahlin aber läßt das scheußliche Haupt ins Meer werfen. An dieser
Stelle entsteht der gefährliche Strudel, der eindrucksvoll beschrieben wird:
Facta est cum arenis ebullitio pelagi, tanquam avulsus a fundo designet
aestus fugam saltu subito resilientium aquarum et abhorrentium in illis iram
altissimi, et quasi mare nauseans reicere conetur quod in ipsum suo tellus
aegra puerperio convalescens evomuit. Exaltabant in sidera fluctus, et ignis
instar altissima pet-ebant. Sed post dies paucos monstrorum mutata sen-
tentia, quae sidera petebant aquae deorsum tendunt faciuntque voraginem
circuitu sempiternae vertiginis. Cumulus fuerat quod nunc fossa est. Limus
enim profundi non sustinens abhominationem et maris horrorem exinanitus
est, et stupore defecit, hiatuque dehiscens infinito permeabilis eis usque in
abyssi novissimum facta est, unde scmper absorbcre sufficit quicquid infun-
dere potest maris immanitas. Charybdi sub Messana persimilis. Quicquid
incidit casu vel ab avido rictu attrahitur, irremediabiliter periclitatur.
Als echte Lokalsage charakterisiert sich diese Erzählung, da auf jene ge-
schändete Jungfrau der Name des Ortes übertragen wird:
... et quia nomen erat virgini Satalia, vorago SataUae nominatur, et
evitatur ab omnibus, quod vulgo dicitur Goufre de Satalie.
Der Verfasser zeigt gleichzeitig durch das letztere Zitat, daß er einer fran-
zösischen Überlieferung gefolgt ist.
Eine entfernte Erinnerung an diese Geschichte findet sich in der Reise-
beschreibung des Jean de Mandeville. Die betreffende Stelle kann
ich nur nach der englischen Übersetzung^ geben:
From this isle of "Rhodes we go to Cyprus . . . And meu pass that way
by a place which was a great city and a great land; and the city was called
Sathalie. This city and the land were lost through the folly of a young man,
who had a fair damsel whom he loved well for his paramour, and she died
suddenly and was placed in a tomb of marble; and for the great love that
he had to her, be went in the night to her tomb, and opeued it and went in
[and lay by her and went his way]. And when it came to the end of nine
months, there came a voice to him, and said: 'Go to the tomb of that
woman, and open it, and behold what thou hast begotten on her; and if thou
omittest to go, thou shalt have a great härm.' And he went and opened the
tomb: and there came out a snake. very hideous to behold which immedia-
tely flew about the city and the country, and soon after the city was
swallowed up. And there are many perilous passages.
Tb. Wright, Early Travels in Palestine, London 1848, S. 140.
Kleinere Mitteilungen 135
Einen Nachhall all dieser Sagen bildet eine merkwürdige Episode im
inedierten Rom<in de Berinus de Rome, den ich aus der Hs. Wien, Hofbibl.
3436 (geschrieben 1482) zwecks künftiger Ausgabe kopiert habe. Es wird da
in ähnlich grauenvoller Sphäre folgendes berichtet:
(Bl. 65r.) II avoit en cellui temps en Egipte ung homme qui Alterchans
estoit nommez, lequel occist son pere, sa mere et chassa son frere hors de
son pals pour sa mauvaise voulent^ acomplir de sa seur qu'il amoit (Hs.
avoit) encontre loyaultö; et fist tant qu'il l'eut a femme oomme s'e.spouse,
et si fut la meschine comme moult angoisseuse, car eile savoit bien que
c'estoit contre Dieu et contre droit, mais eile ne lui ousoit deveer pour la
cruaultß de luy. Tant fut Alterchans en la compaignie de sa seur qu'elle fut
engainte d'enfant, de quoy la meschine fut moult doulente ne eile ne se po-
voit saouler de plourer ne de dueil faire. Et quant Alterchans le seeut, si
en fut moult aussi courroucie comme eil qui fei eatoyt et de pute nature,
tant que l'ennemy vint a lui et lui dist: 'Alterchan, je voy que tu es pencif
et piain d'ire pour tu seur qui est engainte, si te diray que tu feras: Pren
ung bateau et entre dedans toy et ta seur, puis te fay singler en mer et la
occy lie et l'enfant. Et je t'asseur que pour ce faire seulement tu auras teile
seigneurie que tout le monde te doubtera.' Or povez veoir comment le deable
si engingnoit Alterchan qui estoit homs de mauvaise vie et condicion et de
pou de foy, et de tant fut il plus legiers a decevoir ainsi qu'il apparut, «ir
il crey tel conseil de quoy il advint puis se dy graus merveilles, ainsi comme
vous porrez ouir. Car Alterchan quant il ot eu l'enortement de Tenuerny, il
pourquist tant et engingna que entre lui et sa seur furent en mer et single-
rent tant qu'ilz furent loing de terre. Lors prist le fei cuvers ung glaive
qu'il avoit aprestö et en fery sa. seur qui en lui se fioit parmy le corps et
l'occist. Apres ce il lui ouvry le ventre et en tira hors l'enfant innocent et
k« couppa en deux parties. puis gecta seur et enfant tout en la mer.
Pour ceste dure cruault^ß Dieu consenty a l'ennemy de monstrer son
povoir, par quoy vengence fust prise de tel meffait, si que tantost que le fei
Alterchans ot fait cellui oultrageux homicide, la mer se commenga a en-
grossier et a enfler, ly air fut troubl^, le eiel s'ouvry et saillirent menue-
ment estincelles, esclices et tonnerres et s'esmurent les vens si grossement
qu'il estoit bien avis que le monde deust finer. Et aveeques ce la mer et
la terre s'ouvrirent et engloutirent Alterchan ou toute la nef ou il estoit et
l'emporta jusques en abisme. Le lieu ou oelle adventure advint de la nef
est ores appell6 de toutes gens qui par la passent ou vont par mer "gouffrc
de Sataine", et lui mist on cel nom pour la raison de ce que 'goufTre' en
grieu vault autant a dire en frangois comme 'vengence' et la meschine qui
la fut murdrie de son frere Alterchan ot a nom Sathania, si que 'gouffre de
Sathaine' est a entendre 'vengence de Sathaine'. Et en ce lieu est encores
ung grant pereil de mer et y sont mainte bonne gent perie . . . Par celle
adventure fu la faicte une riviere horrible et crueu-^e qui va et vient ou
gouffre de Sathaine parmy la terre qui s'aouvry. Et est celle eaue si mer-
veilleusc que riens qui vive n'y peut atoucher qui lors ne meure de cruelle
mort. Et avecques ce eile sault de hault en bas et bout et escume de teile
mauiere que du veoir a on grant hideur pour la grant tempeste qu'elle par
demeinne. Et veult on dire que puls Teure que Alterchans fut peri, on a
mainteffoiz en celle riviere veu le corps flocter par dessus, et si recorde on
par verite que tout ce qui perist en ce gouffre de mer vient en la riviere de
Blandie, si que on y voit souvent suronder par dessus les hommes mors,
les nefz, le,s mas et les voilles.
Greifswald. A 1 f o n s H i 1 k a.
Sitzungsberichte
der Gesellschaft für das Studium der neueren Sprachen
für das Jahr 1919.
Sitzung vom 14. Januar 1919.
Herr K Olsen spricht zur Kritik und Interpretation provenzalischer
Texte. Unter Zugrundelegung eines Teiles seines demnächst erscheinenden
3. Heftes der 'Dichtungen der Trobadors' behandelt er eine Anzahl Pro-
bleme altprovenzalischer Textkritik. Er begründet seine von früheren Re-
konstruktionen abweichende Textgestaltung der Kanzone des G. Faidit Can
vei reverdir (Dichtgn. Nr. 35) und des Partimens N'Ehles chausetz (BGr.
127, 2, Dichtgn. Nr. 48). Für manche noch unklare Stelle aus bereits edier-
ten Texten gibt er neue Interpretationen, und zwar 1. gramma-
tische, 2. lexikalische, 3. sachliche: 1. An zahlreichen Bei-
spielen weist er für pos und pos que (pos tot und desque) konzessiven
Sinn und an einigen für pos auch adversative Bedeutung nach (s. Dich-
tungen S. 192, 2171 u. 236 bezw. S. 197); 2. er deutet bei B. Born^ 2, 11
(S. 1771) tener alcun en regart 'es auf jd. abgesehen haben', entnimmt ebenda
dem V. 14 das Wort l'acoralha .'die Schlägerei, Mörderei', schlägt für B.
Born 7, 2 (S. 224*) mon enalsat 'mein Rehabilitierter' vor, übersetzt beim
Mönch von Montaudon 9, 49 (s. S. 197^) prestaire mit 'Zahler' liest bei
G. Faidit, Gr. 167,58 v. 14 (S. 183) maljazer rr afrz. malgesir und tut der
Ausdrücke acusatiii, conjunctiu usw. in Nr. 50 der Dichtgn. mit anderer als
grammatischer Bedeutung Erwähnung; 3. er zeigt (s. S. 188) gegenüber Rob.
Meyer an Gr. ,167, 54 II, daß G. Faidit seine Geliebte Jordana nicht
fälschlich der Untreue geziehen habe, und gibt (s. S. 211* u. 212 zu 39)
für augur de gralha eine andere 'Erklärung als Hensel. Dem Texte des Ge-
dichtes des Mönchs von Mont., Gr. 173, 12, fügt er aus der Hs. 0 ein in den
Ausgaben noch fehlendes zweizeiliges Geleit hinzu (s. S. 217^).
Zum Schluß ergänzt der Vortragende noch die im Lex. rom. 1, 484 nach
Hs. / edierte Kanzone des G. de la Tor Qui sap (Gr. 236, 7) mit Hilfe der
Hs. G (Bertoni S. 359) und macht zu Raynouards Text einige Besserungs-
vorschläge: V. 1 suffrenz; 9 en amar servir] en Amor ^crvir. In v. 18 — 24
E vcirai bis fai amar schreibe man statt amors beidemal Amors, setze
Komma na^'h mal und nach sospir (hier Strophen -Enjambement), Semikolon
nach cor und tilge das Komma nach cel. Zur Füllung der nach v. 30 von
Eaynouard durch Punkte angedeuteten Lücke bietet G folgende neue
Strophe dar:
IV. 31 Gar vos, on son mei pesar,
Domna, ses cui no-m plaz res,
M'avez en tal preison mes,
34 Qe-m fai soven sospirar.
Pero car
Mi son li dolz mal, qe-m fai
37 Per vos Amors, e l'esglai;
Car eu sai
C'aissi com hom vol jauzir
40 Lo be, deu lo mal sofrir.
(Var. zu IV: 34 sospirat, 40 bes; in 35 bedeutet car 'lieb'). Man lese v. 46
Cortezi'e pretz verai, 49 Gen rir'e gen acuilUr, 53 Qu'i und 54 Quc-m. —
Die Hss. D K L N stehen für das Lied noch aus.
Herr K u 1 1 n e r weist auf eine Parallele zu dem Anonymon (Kolsen
Sitzungsberichte d. Gesellschaft f. d. Studium d. neueren Sprachen 137
Nr. 50) hin, die sieh in C j- r a n o s Le pidant joue findet; auch Herr Born
weist auf eine Parallele hin.
Die Herren Pariselle und Born werden zu Rechnungsprüfern er-
nannt.
Sitzung vom 28. Januar 1919.
Herr W o 1 f f erörtert den Begriff des Komischen. Der Vortrag wird im
Druck erscheinen.
Der Vorsitzende weist an einigen Beispielen (Mozarts Dorfmusi-
kanten Beckmesser und die Prügelei in den Meistersängern) nach, daß es
auch der Musik möglich sei, komische Wirkungen zu erzielen.
Herr C a s s i r e r sieht in den von dem Vortragenden genannten, für
die Begriffsbestimmung des Komischen in Betracht kommenden Momenten
nur solche von allgemein ästhetischer Gültigkeit. Er meint, daß für die hier
zur Frage stehende Definition noch andere Momente, so dasjenige der Über-
raschung, heranzuziehen seien.
An der weiteren Diskussion beteiligen sich die Herren K u 1 1 n e r und
G a d e.
Sitzung vom 11. Februar 1919.
Herr Aronstein spricht über Des nationale Ereignis im englischen
Renaissance- Drama. Der Vortrag wird im Druck erscheinen.
Die Herren Oberlehrer Paul Schmidt und Direktor Dr. S i e f k e n
werden zur Aufnahme vorgeschlagen.
Sitzung vom 25. Februar 1919.
Herr Ludwig spricht über Schlemihle. Der Reiz des Chamissoschen
Märchens beruht, abgesehen von seinem Kunstwert, auf der Persönlichkeit
des Helden, der dem älteren Pechvogel seinen Namen gegeben hat, und auf
dem glücklichen Motiv des Schattenkaufes. Die Nachahmungen scheiden sich
also in die Gruppen der Pechvogelgeschichten, der Verkaufsmärchen, als
dritte Gruppe kommen noch Fortsetzungen in Betracht, die Chamissos
Faden weiterspinnen. Der Vortragende zählt diese Nachkommenschaft des
Chamissoschen Märchens auf, charakterisiert die einzelnen Werke und ver-
folgt an ihnen die Entwicklung des Motivs.
Herr K u 1 1 n e r erinnert daran, daß schon Lafontaine in seinem Le Sa-
vetier et le Financier das Motiv vom verlorenen Schlaf verwendet hat. Auf
weitere dichterische Behandlungen des Schlemihl-Typus und verwandter Na-
turen machen die Herren Fuchs (Bittners Oper Höllisches Gold) , H e r r -
mann (F. Ansteys Erzählung Vice Versa) und Herzfeld (Mary Woll-
ston ecraft Shelleys Roman Frankenstein) aufmerksam.
Die Herren Oberlehrer Paul Schmidt und Direktor Dr. S i e f k e n
werden aufgenommen.
Sitzung vom 11. März 1919.
Herr S p i e s sprach über die Verwendung der Alliteration im englischen
Kulturlehen der Neuzeit. Der Vortragende warf zunächst einen Rückblick
auf die altenglische und mittelenglische Zeit sowie auf die bisherigen Unter-
suchungen über Alliteration im Neuenglischen, wobei zwei Greifswalder
Seminararbeiten, die eine kritische Bibliographie enthalten, vorgelegt wur-
den. Nicht behandelt wurden lautmalende Ausdrücke wie fiddle-faddle,
topsy-turoy; ebenso blieben Verbindungen mit Reim außer Betracht, wie
The masses and the classes, Man Poioer and Van Power := Mensch und Ma-
138 Sitzungsberichte d. GeselLschaft f. d. Studium d. neueren Sprachen
schine, Thoughts and After-thoughts von Beerbohm Tree 1915, Schlagwörter
wie Home Rule is Rome Rule und ähnliches.
Die eigentliche vokalische Alliteration klingt wohl in ererbten Formeln
wie Odds and Ends (eine Londoner Revue 1915) nach; auch liegt in Wen-
dungen wie Actor and Author (Überschrift, Daily Chroniole 13. Okt. 1916)
oder Gedichtanfängen wie From Amiens to Aibeville (Cornhill Magazine
Mai 1918, S. 474) eine moderne Umwertung der vokalischen Alliteration
vor. Keinesfalls hierher gehören Stilfiguren wie unioept, unhonoured, and
nnsung (National Review April 1915, S. 168). — Die Qualität der Allitera-
tion im modern-englischen Kulturleben bietet eine bunte, regellose Mischung
dar, z. B.: platform, press, and ptilpit (The New Europe 12. Dezember 1918,
S. 193,), Press, Platform, and Parliament (von S. L. Hughes, London 1918),
Cash and Credit at Oxford (Times 2. Mai 1914), Throiigh Terror to Triumph
(Worte von Lloyd George, Daily Chron. 24. August 1915). — Häufung der
konsonantischen Alliteration ist sehr beliebt: Brief, hright, and irotherly
(Sinnspruch für Zusammenkünfte von Munitionsarbeiter innen), Railroads,
Rates, and Regulation (vom amerikanischen Prof. Ripley 1913), Musings
and Memories of a Musician (von Sir George Henschel 1917), Sun, Sand,
and Sin (von J. Kennedy 1916).
Der Vortragende erörterte des weiteren: 1. das Verhältnis vom Akzent
zur Alliteration (vgl. Winston Churchill, Front London to Ladysmith; A.
Ponsonby, Democracy and Diplomacy 1916; Memorials and Monuments 1915;
J. G. Legge, Rhyme and Revolution in Germany, 1919). — 2. Ursachen und
Gründe der Alliteration (ererbter Formelschatz, analoge Neubildungen,
Affektwirkungen, psychologische Gruppenbildung und ihre Folgen). —
3. Den Zusammenhang mit anderen stilistischen Erscheinungen (Beispiele
wie a home-to-home canvass; Ton-for-Ton Policy; The gr< nt puhlic who malce
or mar success (World 5. November 1918). — 4. Abtrennung des Zufälligen.
— 5. Die Alliteration in der Übersetzung. — 6. Eine größere Anzahl von
Beispielen wurde, nach Verwendungsgebieten geordnet, vorgeführt, z. B. :
a) Geschäftsreklame: A tonic for the times. — b) Journalismus: the Model
class, the middle class, the muddle class; Men not menus will win the war
(Pall Mall Gazette 13. Juni 1918). — c) Büchertitel: Down in Devon 1914;
Kaiser, Krupp, and Kultur (von Th. A. Cook 1915); Me as a 3Iodel (von W.
R. Titt«rton 1914). — d) Im öffentlichen Leben: Britain for the British,
Taxes for Titles, Cape to Cairo, Cape — Cairo — Calcutta, Taxicahs, Telc-
phones, and Typists, three of London's chief worries in war-time; zahllose
Beispiele aus dem Theaterleben: James and John, Potash and Perlmutter
(wozu R. Ciaren ce, Stage Cyclopaedia, London 1919, zu vergleichen wäre).
Das behandelte Thema ist vom Vortragenden 1918 als Greifswalder
Preisaufgabe gestellt worden.
Sitzung vom 25. März 1919.
Herr Kuttner spricht über Barhusses Roman Le Feu. Der Vortrag
wird im Druck erscheinen.
Zur Aufnahme werden die Herren Dr. Fiedler, Stud.-Ref. Klose,
Obl. Dr. W i s k e und Obl. H a n i t s c h vorgeschlagen,
Sitzung vom 8. April 1919.
Herr S p i e s sprach über Kultnrprohleme im kommenden England. Der
Vortragende stellte im Anschluß an E. A. Freeman's Wort von der Bedeu-
tung der normannischen Eroberung diesem in seiner Art und Wirkung vor-
nehmlich aristokratischen Ereignis den Weltkrieg mit seinen demokratischen
Begleiterscheinungen und Folgen an die Seite. Er behandelte 1. die mili-
Sitzungsberichte d. Gesellschaft f. d. Studium d. neueren Sprachen 139
tärische Demokratie in Gestalt der allgemeinen Wehrpflicht; 2. die politische
in Gestalt des neuen Unterhauswahl rechts 1918, der Oberhausreformbewe-
giing und der Stellung der Monarchie, und, nach kurzen Hinweisen auf
wirtschaftliche Fragen, 3. die intellektuelle Demokratie in Gestalt des Unter-
richtsgesetzes 1918 und der geplanten Mittel- und Hochschulreform, wobei
deren Hauptprobleme unter Ausblicken auf neuest-e englische Literatur-
orzeugnisse kurz gestreift wurden. — Die vorgerückte Zeit gestattete leider
nicht mehr die Behandlung der Demokratisierung der englischen Sprache,
der Literatur und des Theaters.
Herr Gade weist auf die shop-steicards hin, die neben der Militarisie-
rung und Bureaukratisierung Englands die markanteste soziale Erscheinung
in dem Umwandlungsprozeß sind, der dieses Land ergriffen hat.
Die zur Aufnahme vorgeschlagenen Herren werden aufgenommen.
Sitzung vom 29. April 1919.
Herr Michaelis spricht über Charles de Villiers, ein Mittler zwischen
Frankreich und Deutschland.
Der Vortrag wird in der Internationalen Monatsschrift abgedruckt
werden.
Herr Obl. F r e u d e 1 wird zur Aufnahme vorgeschlagen.
Sitzung vom 13. Mai 1919.
Die Kassenprüfer haben die vorgeschriebene Prüfung vorgenommen.
Dem Kassierer wird Entlastung erteilt.
Herr Krüger gibt Verbesserungen zu. Schlegels Übersetzung von
Shakespeare und eine Reihe von Erklärungen englischer Redensarten.
Die Herren Herrmann und Block äußern sich zu dem Vortrag.
Herr Ludwig macht zu der Redewendung he is the very spit of his
father darauf aufmerksam, daß der Volksglaube den Speichel in Beziehung
zu der Seele setzt.
Herr Obl. F r e u d e 1 wird in die Gesellschaft aufgenommen.
Sitzung vom 14. Oktober 1919.
Herr W o 1 f f spricht über Ariosts Satiren. Der Vortrag wird im
'Archiv' erscheinen.
Auf der Vortagung des Allgem. deutschen Neuphilologen-Verbandes am
1./2. November wird Herr Kuttner die Gesellschaft vertreten.
Sitzung vom. 28. Oktober 1919.
Herr Ludwig spricht über Nietzsche und Shakespeare. Der Vortrag
wird im 'Archiv' erscheinen.
Herr Lektor G a u t i e r wird zur Aufnahme vorgeschlagen.
Sitzung vom 11. November 1919.
Herr Kuttner berichtet über die Vortagung des Allgem. deutschen
Neuphilologen-Verbandes in Halle am 1./2. November.
Der Vorstand wird wiedergewählte
Herr G a u t i e r wird aufgenommen.
Die Herren Obl. Dr. Walter und Obl. T h e e 1 werden zur Aufnahme
vorgeschlagen.
140 Sitzungsberichte d. Gesellschaft f. d. Studium d. neueren Sprachen
Sitzung vom 25. November 1919.
Herr B r a n d 1 hält in den Räumen des Englischen Seminars einen
Lichtbildervortrag über Shakespeares London.
Die vorgeschlagenen Herren werden aufgenommen.
Zur Aufnahme sind vorgeschlagen worden : Obl. S e v g e r, Obl. G e r i k e,
Stud.-Ref. Dr. G 1 a w e und Stud.-Ref. W o 1 1 m a n n. '
Sitzung vom 16. -Dezember 1919.
Die Gesellschaft hat das Mitglied Herrn Stud. -Assessor Glagow durch
den Tod verloren.
Von der Leitung des Allgem. deutschen Neuphilologen-Verbandes sind
uns eine Anzahl Leitsätze zugegangen, die zur Verteilung gelangen.
Herr Walter spricht über Prosper Merimee und die russische Lite-
ratur.
Herr T i k t i n fragt. na<:-h dem Wesen des Setch, Herr Spatz nach der
Teilnahme der Brandenburger an den polnisch - kosakischen Kämpfen
von 1651.
Der Vortragende gibt eine erschöpfende Auskunft.
Die vorgeschlagenen Herren werden in die Gesellschaft aufgenommen.
Verzeichnis der Mitglieder
der Berliner Gesellschaft für das Stadium der neueren Sprachen.
Januar 1920.
Vorstand.
Vorsitzender : Herr Ad. Müller.
Stellvertretender Vorsitzender : „ A. L u d w i g.
Schriftführer: „ M. Wolf f.
Stellvertretender Schriftführer: „ H. G a d e.
Erster Kassenführer: „ M. Kuttner.
Zweiter Kassenführer : „ G. 0 p i t z.
A. Ehrenmitglieder.
Herr Dr. M e y e r - L ü b k e, Wilhelm, ord. Professor an der Universität,
Mitglied der k. k. Akademie der Wissenschaften zu Wien. Bonn.
Frau V a s c o n c e 1 1 o s, Carolina Michaelis de, Dr. phil. Porto, Cedofeita.
B. Ordentliche Mitglieder.
Herr Dr. Änderten, Berlin-Reinickendorf, Pvosidenzstr. 47.
„ Dr. Aronstein, Ph., Professor, Oberlehrer an der V. städt. Real-
schule. Berlin NW 87, Elberfelder Str. 28.
„ Dr. Becker, Gustav, Oberlehrer an der Charlottenschule. Berlin
W 30, Zietenstr. 21.
„ Dr. B e r g e r, Rudolf, Oberlehrer am Lessing-Gymnasium. Berlin
NW 2.3, Altonaer Str. 21.
„ Dr. Beyer, Bruno, Oberlehrer an der städt. Realschule in Char
lottenburg. Charlottenburg, Lohmeyerstr. 6.
„ Dr. Bitterhof f_ Max, Oberlehrer an der XIII. städt. Realschule.
Berlin NWrCrefelder Str. 11.
„ Dr. Block, John, Professor, Oberlehrer an der Goetheschule. Haien-
see, Seesener Str. 18.
„ Dr. Bolle, Wilhelm, Leiter des Realgymnasiums i. E. in Friedrichs-
felde. Karlshorst, Tresckow-Allee 91.
„ Dr. Born, Max, Studienrat an der Chamissoschule. Schöneberg,
Berchtesgadener Str. 22/23.
„ Dr. B r a n d 1, Alois, Geh. Regierungsrat, ord. Professor an der Uni-
versität, Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Berlin
W 10, Kaiserin-Augusta-Str. 73 III.
„ Dr. B r ü ß, Friedrich, Oberlehrer an der Oberrealschule. Berlin-Wil-
mersdorf, Mannheimer Str. 44.
„ Dr. B u c h e n a u, Artur, Stadt schul rat. Charlottenburg V, Schloß-
straße 46.
,, Dr. Carel, George, Profs-^^or, Oberlehrer a. D. Berlin- Steglitz, Bran-
denburgische Straße 2 a, III r.
„ Dr. C a s s i r e r, E., Univ.-Prof. Berlin W 50, Prager Str. 8/9.
„ Dr. Churchill, George B., Professor am Amherst College. Amherst,
Massachusetts, U. S. A.
„ Dr. Cohn, Georg. Berlin-Friedenau, Kaiserallee 114.
„ Dr. Dammholz, Rudolf, Professor, Geh. Stud.-Rat, Direkter der
Auguste-Viktoria-Schule und des Mädchen-Realgymnasiums.
Charlottenburg, Nürnberger Str. 63.
„ Doegen, Wilh., Oberlehrer an der XI. städt. Realschule. Zehlendorf,
Alsenstr. 121.
142 Verzeichnis der Mitglieder der Berliner Gesellschaft f. n. Spr.
Herr Dr. D r i e s e n, Otto, Oberlehrer an der städt. Realschule in Char-
lottenburg. Charlottenburg, Giesebrechtstr. 6.
„ Dr. D ü V e 1, Wilh,, Direktor der Herderschule. Charlottenburg, Bayern-
allee 4.
Dr. E b e 1 i n g, Georg, ord, Professor a. d. Universität. Kiel, Feldstr. 88.
Dr. E n g w e r, Theodor, Geh. Oberregierungsrat und Vortragender Bat
im Kultusministerium. Berlin-Wilmersdorf, Prinzregentenstr. 76.
Dr. Fiedler, Fritz, Oberlehrer. Berlin-Steglitz, Bergstr. 11.
Freudel, Karl, Oberlehrer, Berlin NO 35, Elbinger Str. 58.
F r i e d 1 ä n d e r, J., Oberlehrer an der III. Oberrealschule. Berlin,
Schönhauser Allee 31.
Dr. Friedmann, Georg, Professor, Oberlehrer an der V. städtisdien
Realschule. Charlottenburg- Westend, Akazienallee 43.
Dr. Fuchs, Max, Professor, Oberlehrer an der VI. städt. Realschule.
Friedenau, Stuben rauchstr. 5.
Dr. Gade, Heinrich, Professor, Oberlehrer am Andreas-Realgymnasium.
Berlin NO 43, Am Friedrichshain 7 III b.
Gautier, Paul, Lektor. Berlin W 62, Kalckreuthstr. 1, Pension Preuß.
Dr. G e r i k e, Oberlehrer, Berlin-Lichtenberg, Möllendorfstr. 12 I r.
Dr. Glawe, Studien-Assessor,' Berlin N, Invalidenstr. 159.
Dr. G 1 ö g e, Georg-, Oberlehrer. Berlin-Friedenau, Rotdornstr. 3.
H a n i t s c h, E., Oberlehrer. Berlin-Treptow, Defreggerstr. 1 a.
Dr. Hausknecht, Emil, Direktor a. D., Professor an der Uni-
versität. Lausanne, Avenue d'Ouchy 96.
Dr. Herrmann, Albert, Professor, Oberlehrer an der XII. städt.
Realschule. Berlin NO 43, Am Friedrichshain 13.
Dr. H e r z f e 1 d, Georg. Berlin W, v. d. Heydt-Str. 4.
Dr. H i 1 1 e, Karl, Oberlehrer am Realgymnasium in Lichtenberg.
Berlin-Lichtenberg, Rathausstr. 6.
Dr. Hoffmann, Fritz, Oberlehrer am Lyzeum i. E. in Reinicken-
dorf. Berlin-Hermsdorf, Hennigsdorfer Str. 6.
Holland, Reinhard, Oberlehrer, Berlin NO* 55, Hufelandstr. 8 IIL
Dr. H ö r n i n g, Willy, Oberlehrer am Realgymnasium zu Lichtenberg.
Lichtenberg-Berlin, Möllendorfstr. 108/9.
K e ß m a n n, A., Oberlehrer. Berlin NW, Calvinstr. 20.
Klose, Gerhard, Studien- Assessor. Berlin N 58, Fr.anseckystr. 46.
Dr. K o 1 s e n, Adolf, Professor, Berlin W 30, Schwäbische Str. 3 IIL
Dr. Krueger, Gustav, Professor, Oberlehrer a. D., Lektor des Eng-
lischen an der Technischen Hochschule zu Charlottenburg.
Berlin W 10, Bendlerstr. 17.
Dr. Kuttner, Max, Professor, Direktor der Bertram - Realschule.
Berlin-Steglitz, Am Stadtpark 1.
Lach, Paul, Handelsschuldirektor a. D. Berlin S 14, Dresdener
Straße 90 I.
L a h m a n n, Gustav, ordentl. Lehrer an der Schillerschule. Berlin
NW 52, Thomasiusstr. 2.
Dr. L a m p r e c h t, F., Professor, Oberlehrer am Gymnasium zum
Grauen Kloster. Berlin C 2, Klosterstr. 73 IL
Langenscheid t, C, Verlagsbuchhändler. Berlin- Schöneberg, Bahn-
straße 29/30.
Dr. Lewent, Kurt, Oberlehrer am Dorotheenstädtischen Realgym-
nasium. Berlin NW 87, Solinger Str. 4.
Dr. L o m m a t z s c h, Erhard, Professor an der Universität. Haien-
see-Berlin, Johann-Georg-Str. 11.
Dr. L ö s c h h o r n, Hans, Professor, Oberlehrer a. D. Berlin W 35,
Genthiner Str. 41 III.
Vorzeicliiiis der Mitglieder der Berliner Gesellschaft f. n. Spr. 143
Herr Dr. Ludwig, Albert, Direktor des Realgymnasiums zu Lichtenberg.
Lichtenberg-Berlin, Parkaue.
„ Luft, Friedrich, Professor, Oberlehrer am Hohenzollerngymnasium.
Berlin-Friedenau, Kaiserallee 74.
„ Dr. L u m m e r t, August, Oberlehrer an der Dorotheenschule. Berlin
NW 21, Dortmunder Str. 2.
„ Dr. Michaelis, Paul, Kand. d. höh. Schulamts. Berlin NO 55,
Raabestr. 17.
„ Dr. M o r f, Heinrich, Geh. Reg.-Rat, ord. Professor an der Universität,
Mitglied der Akademie der Wissenschaften.
., Dr. Müller, Adolf. Professor, Oberlehrer a. D. Berlin-Friedenau,
Kaiserallee 114.
„ Dr. Müller, August, Professor, Oberlehrer an der Kgl. Elisabeth-
schule. Berlin SW 47, Großbeerenstr. 55 part.
„ Dr. Naetebus, Gotthold, Direktor der Universitäts-Bibliothek. Groß-
Lichterfelde 0, Frauenstr. 3.
„ Dr. Nobiling, Fr., Professor, Oberlehrer an der Oberrealschule II in
Charlottenburg. Charlottenburg, Schillerstr. 8.
,, Opitz, G., Geh. Studienrat, Oberlehrer a. D. Steglitz, Grenzburg-
straße 6.
„ Dr. Otto, Ernst, Direktor des Realgymnasiums. Berlin-Reinicken-
dorf-Ost, Bernerstr.
„ Dr. Pariselle, Eug§ne, Professor, Lektor der französischen Sprache
an der Universität. Berlin W 30, Landshuter Str. 36 IL
„ Dr. Philipp, Karl, Professor, Oberlehrer an der Oberrealschule.
Kottbus, Wallstr. 45.
„ Dr. Platow, Hans, Oberlehrer an der mit dem Gymnasium verbun-
denen Realschule. Zehlendorf-Wa., Heidestr. 1.
„ Dr. Püschel, Kurt, Oberlehrer an der Kierschner-Oberrealschule.
Berlin NW 21, Bochumer Str. 4.
„ Dr. R i s o p, Alfred, Professor, Oberlehrer a. D. Berlin - Steglitz,
Schloßstr. 49.
„ Roettgers, Benno, Professor, Direktor der 8. Realschule. Berlin
N 31, Rheinsberger Str. 4/5.
„ Roland, Max, Oberlehrer. Potsdam, Breite Str. 30.
„ Dr. Rosenberg, Felix, Professor, Oberlehrer am KöUnischen Gym-
nasium. Berlin-Lichterfelde, Unt-er den Eichen 127.
„ Dr. Sabersky, Heinrich. Berlin W 35, Genthiner Str. 28 I.
„ Dr. Saß, Ernst, Oberlehrer am Mommsen-Gymnasium. Grunewald,
Humboldtstr. 6a.
,j Dr. Schleich, Gustav, Professor, Geh. Stud.-Rat, Direktor des Fried-
rich-Realgymnasiums. Berlin S 53, Schleiermacherstr. 23.
„ Dr. Schienner, R., Professor, Oberlehrer an der Luisenstädtischen
Oberrealschule. Berlin SW, Großbeerenstr. 25 III.
„ Dr. Schmidt, Karl, Professor, Oberlehrer am Kaiser-Wilhelm-Real-
gymnasium. Berlin-Tempelhof, Hohenzollernkorso 4.
„ Dr. Schmidt, Karl August, Oberlehrer an der Luisenstädtischen
Oberrealschule. Berlin S 61, Lehniner Str. 9 IV.
„ Schmidt, Paul, Oberlehrer. Berlin NW 21, Essener Str. 20.
„ Schreiber, Wilhelm, Direktor der städt. Humboldt-Realschule in
Tegel. Tegel, Graf-Roedern-Korso 1.
„ Dr. S e i b t, Robert, Professor, Oberlehrer am Königstädtischen Gym-
nasium. Berlin W 50, Meinekestr. 15.
„ Dr. Seyger, Oberlehrer. Berlin-Lichtenberg, MöUendorfstr. 11.
„ Dr. S i e f k e n, 0., Direktor. Berlin-Treptow, Neue Krugallee 6.
„ S m i t h. James, M. A., Lehrer des Englischen.
144 V<>rz('i('lini.s dor Mitgliodor dor Bcrlinor Gesellschaft f. n. Spr.
ilerr Dr. S ö h r i n g, Otto, Gymnasialdirektor, Hilfsarbeiter im Auswärtigen
Amt. Lichterfelde, Elisabethstr. 16.
„ Dr. Spatz, Willy, Professor, Berlin-Wilmersdorf, Uhlandstr. 107.
„ Dr. Speck, Johannes, Oberlehrer am Paulsen-Realgymnasium. Berlin-
yteglitz, Birkbuschstr. 16.
„ Dr. S p i e s, Heinrich, ord. Professor an der Universität. Greifswald,
Blücherstr. 2.
„ Dr. S p 1 e 1 1 s t ö ß e r, Willy, Professor, Oberlehrer an der XIII. städt.
Realschule in Berlin. Berlin-Halensee, Schweidnitzstr. 7.
„ Dr. Strohmeyer, Fritz, Professor, Direktor des Lyzeums IV in
Berlin-Wilmersdorf. Wilmersdorf, Weimarische Str. 24.
„ Theel, Adalbert, Oberlehrer, Spandau, Augusta-Ufer 15.
„ T h i e d k e, Gustav, Oberlehrer am Helmholtz-Gymnasium zu Schöne-
berg. Friedenau, Stierstr. 5.
„ Dr. Tiktin, H., Professor am Orient. Seminar. Berlin-Friedenau,
Isoldestr. 1.
,, Dr. Tob 1er, Rudolf, Professor, Oberlehrer am Joachimsthalschen
Gymnasium. Templin, Uckermark, Joach.-Gymn. Villa V.
„ Dr. Vollmer, Erich, Professor, Oberlehrer am Bismarck-Gymnasium.
Berlin-Wilmersdorf, Nassauische Str. 37 I.
,, Dr. Wagner, Max Leop., Privatdozent an der Universität. Berlin-
Charlottenburg, Kantstr. 31
„ Dr. Walter, Erwin, Oberlehrer. Charlottenburg, Gutenbergstr. 12 IL
„ Dr. W e n d e, Fritz. Charlottenburg, Berliner Str. 22.
,, Wilke, Felix, Professor, Oberlehrer au der Kaiser-Friedrich-Schule
in Charlottenburg. Berlin W 15, Ilohenzollerndamm 3.
„ Dr. W i n c k 1 e r, Carl, Professor, Oberlehrer am Lyzeum in Grune-
wald. Grunewald, Siemensstr. 22.
„ Dr. W i s k e, Friedrich, Oberlehrer. Berlin N 58, Stubbenkamme r-
straße 1.
„ Dr. jur. Wol f f, Max J., Professor. Berlin W 15, Wielandstr. 24.
„ Weltmann, Studien -ASvsessor. Charlottenburg V, Sophie-Char-
lotte-Str. 46.
„ Zack, Julius, Professor, Oberlehrer an der XIII. städt. Realschule.
Berlin SW 46, Luckenwalder Str. 10.
I
Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Wolfram Suchier, Dr. Christoph Philipp Hoester: Ein deutscher
kaiserlich gekrönter Dichter des 18. Jahrhunderts, Borna-Leipzig,
Buchverlag R. Noske, 1918.
Für Philologen und Literarhistoriker darf keine noch ungelöste Frage zu
klein sein; keine literarische Persönlichkeit darf zu unbedeutend erscheinen,
ura von der wissenschaftlichen Kritik beachtet zu werden: denn einerseits
gibt nur die Kenntnis auch mittelmäßiger und kleiner Begabungen den
rechten Schlüssel für die Einachätzung des wirklich Großen, und anderseits
gehen oft sehr bedeutsame literarische Erscheinungen im Grunde auf be-
scheidene Anregungen Unbedeutender zurück. So ist eine monographische
Behandlung Chr. Ph. Hoesters an sich völlig zu rechtfertigen; allerdings fragt
es sich, in welcher Form und in welchem Umfang eine solche abgefaßt wird.
Daß Wolfram Suchier, der Verfasser des vorliegenden Buches, starkes Emp-
finden für die Proportion zwischen Hoesters Bedeutung und der Ausbreitung
seiner Untersuchung gehabt hätte, läßt sich schwerlich behaupten. —
Er stellt eine biographische Darstellung voran: mit unendlichem Fleiß
werden alle die auffindbaren Daten zusammengetragen oder erschlossen. Wir
sehen, wie der 1721 zu Kassel Geborene sich durch einen Jugendstreich
manchen späteren Weg verlegt. Aus dem Studenten wird ein unter seinem
Amte ächzender Rektor einer kleinen hessischen Schule, der schließlich den
Doktorgrad erhält und dem in Göttiugen sogar von Albrecht v. Hailer die
Dichterkrönung zuteil wird. Dessenungeachtet scheitern alle seine Bemühungen
um eine Dozentur an der Marburger Universität an dem sicherlich begrün-
deten Mißtrauen der dortigen Professoren. Schließlich finden wir Hoester
als kleinen Regierungsbeamten in Westfalen. Seit 1749 sind jedoch alle
Spuren verloren.
Schon aus diesen kurzen Andeutungen dürfte zu ersehen sein, daß Hoesters
Leben manches kulturhistorisch interessante Moment in sich birgt: die Dichter-
krönung, die fehlgeschlagene Habilitation, sein langwieriges Ansuchen um
Aufnahme in die Kgl. Großbritannische Deutsche Gesellschaft in Göttingen
und manches andre Erlebnis sind sehr wohl geeignet, die Zustände des da-
maligen deutschen Geisteslebens zu verdeutlichen. Doch wird die vorliegende
Darstellung dem Leser sehr verleidet durch eine wissenschaftlich sicher nicht
zu rechtfertigende, fast schulmeisterliche biographische Kritik. Lebensdar-
Btellung ist wissenschaftlich-biographisches Endziel — aber doch nicht,
einem längst Toten noch pädagogische Rügen zu erteilen. —
Der Biographie folgt eine sehr sorgfältig ausgearbeitete Bibliographie, die
uns Aufschluß gibt über Hoesters im Druck erschienene Werke: 22 Schriften,
die in den Jahren 1742 — 49 teils in Marburg, teils in Kassel erschienen sind
und in denen es sich vielfach um die damals übliche Gelegenheitslyrik han-
delt; und zwar um Gelegenheitspoesie konventionellster Art. Schon eine
metrische Statistik des Verfassers offenbart des Dichters starkes Unvermögen:
nur allergebräuchlichste Versmaße werden verwendet. Dagegen übernimmt
Hoester die Gewohnheit des Mottos, sowie die Eigenart der wörtlichen Gleich-
förmigkeit von Strophen- und Zeilenanfängen von Günther, dem er auch
sonst nachstrebt, dem er aber — im Gegensatz zu Suchiers Behauptung —
nicht im geringsten nahekommt, da ihm jede Leidenschaftlichkeit mangelt
und ihm selbst stilistische Anklänge mißlingen.
Schier unmöglich erscheint uns — Aviewohl sonst methodisch begrüßens-
wert — Suchiers Analyse der Gedichte Hoesters nach geistigen Leitlinien;
denn hier wird jede einzelne Stelle — ungeachtet ihres Zusammenhangs mit
dem übrigen Gedicht — rein äußerlich auf irgendein willkürlich angenom-
Arcliiv £. u. Sprachen. 140. \Q
146 Beairteilungen und kurze Anzeigen
menes, biographisches Moment hin ausgedeutet. Ja, diese wieder mit großer
schulmeisterlicher Überlegenheit erörterten Auslegungen der Gedichte gehen
80 weit, daß der Verfasser z. B. ausrechnet, an welchem Tage Hoester sein
Mädchen zum erstenmal geküßt hat — gar nicht erst zu reden von des Ver-
fassers Bemühungen um Hoesters Züchtigkeit.
Über diesen völlig unwissenschaftlichen Spaziergängen verabsäumt es aber
der Verfasser völlg, sich in den Geist dieser dichterisch zwar sehr belang-
losen, aber kulturhistorisch interessanten Persönlichkeit zu versenken. Wohl
wird der Name des Philosophen Wolff genannt; daß aber Hoesters ver-
schrobene und nüchterne Auffassungsweise nicht nur in poetischer, sondern
auch schon in rein vitaler Hinsicht lediglich im Zeitalter Wolffs und unter
dem starken Eindruck von dessen Lehre möglich war, wird mit keinem Wort
erwähnt. Desgleichen ist die biographische Aussauguug schuld daran, daß
nur jene Dichtungen hervorgehoben werden, die biographische Anspielungen
bieten. In diesen letzteren steht Hoester übrigens, wie schon bedeutet —
im Gegensatz zu Suchiers Darlegungen — nicht Günther, sondern viel eher
noch der Steifheit von Canitz und Besser nahe. Dagegen tut Suchier die —
freilich nicht allzu zahlreichen — satirischen Gedichte mit ein paar nichts-
sagenden Worten ab, wiewohl ganz offenbar in diesen Hoesters Stärke liegt
— sofern eben von einer solchen überhaupt geredet werden kann. Diese
satirischen Gedichte stehen sichtlich ebenfalls unter Canitz', aber auch schon
unter Hagedorns Einfluß — und dies wäre sicherlich erwähnenswert gewesen.
Suchiers Buch Avird künftig von den Bearbeitern des 18. Jahrhunderts
herangezogen werden müssen; sie alle aber werden mit dem Rezensenten
bedauern müssen, daß der Verfasser dem allgemein -kulturhistorischen und
dem geistesgeschichtlichen Moment allzu wenig Beachtung geschenkt hat.
Wien, Heinz Kindermann.
Literaturgeschichte der deutschen Schweiz im Mittelalter. Ein Vor-
trag mit anschUeßenden Ausführungen und Erläuterungen von
Dr. Samuel Singer, ord. Professor an der Universität Bern.
Bern, A. Francke, 1916. 52 S. 8o. M. 2.
Ein hübsches Heftchen, dem mancher Anregung und Belehrung danken
wird. Es leidet zwar an einer gewissen inneren Zwiespältigkeit; es möchte
zweierlei sein, populäre Einführung in Vortragform und Ergänzung des Bäch-
toldschen Werkes nach dem neuesten Stande der Forschung. Bei einheit-
licher Darstellung hätte ein noch geschlosseneres literarhistorisches Gesamt-
bild entstehen können, während jetzt ein paar kleinere Leute in die An-
merkungen verbannt sind, die auch sonst durch Einschränkung, Beweis-
führung und Belege gegen manche Kühnheit des Urteils im Texte selbst
milder stimmen.
In den Anmerkungen liegt also der Hauptwert. Im Vorbeigehen zwar
nur, aber doch stets mit gründlicher Kenntnis, werden ein paar schwebende
Streitfragen behandelt: die literarische Stellung Ekkehards, die Heimat Hart-
manns, das Alter des Lanzelet. Das Verdienstlichste und Neueste bietet S.
auch hier auf dem Gebiete, das er wie keiner beherrscht: überraschende Be-
ziehungen mhd. Dichter zu französischen Vorbildern werden wiederum auf-
gedeckt. Manche Äußerung mag leichte Bedenken wecken. So leidet das
erfreuliche Eintreten für die Nibelungias unter der Einschränkung, daß in-
haltliche Berührungen mit dem Waltharius nicht zugegeben werden; während
doch meines Erachtens in der Schlußgruppierung (hier und dort Günther und
Hagen gegen den überlegenen Helden) die stärkste, durch die alte Gestalt
der Nibelungensage nicht gerechtfertigte Beziehung der beiden lateinischen
Epen liegt. — Nicht glücklich ist die Hartmannsche Poesie gekennzeichnet
Beurteilungen und kurze Anzeigen 147
mit den Worten: 'Nirgends tritt wie hier das religiöse Empfinden hinter dem
aristokratisch-ästhetischen zurück' (S. 14). Wie mancher Epiker ist viel mehr
Weltkind und schreibt für Weltkinder als der Dichter des Gregor, wenn er
auch nach diesem noch einen Iwein geschaffen hat! Die gänzliche Teilnahm-
losigkeit der Schweiz gegenüber den Gedichten aus dem Bereiche der Helden-
sage wäre erst völlig erwiesen, wenn wir genau wüßten, ob das in dem
Fundort der Nibelungenhandschriften sich kundtuende Interesse an dem Lied
schon antiquarisch oder noch lebendig literarisch gewesen ist. Etwas zu
dürftig sind die historischen Volkslieder bedacht; sie hätten Anspruch auf
stärkere Herausarbeitung, gerade weil S. in ihrem 'Volksliedcharakter' mit
Recht kein entscheidendes Wesens- und Entstehungsmerkmal sieht.
Der Text des Vortrags selbst zeigt nicht immer zu seinem Vorteil das
Bestreben, Höhepunkte herauszuarbeiten und der Schweiz einen Löwenanteil
an der literarhistorischen Entwicklung zu sichern. An den wahllosen Lokal-
patriotismus, mit dem vor hundert Jahren der alte Laßberg alle denkbaren
Poeten für die Schweiz reklamiert hat, darf man dabei freilich nicht denken,
S. verleugnet auch hier nicht seine gewissenhaft kritische Art. Aber es
trübt doch den Eindruck, daß die berechtigte Zuteilung an die Schweiz bei
Konrad von Würzburg mit einem kleinen, bei Hartmann mit einem größeren
und bei Fleck mit einem ganz großen Fragezeichen zu versehen ist. Hat
auf diese Weise die populäre Abrundung und Pointierung Nachteile mit sich
gebracht, so soll die Geschicklichkeit und werbende Kraft der äußeren Form
des Vortrags deshalb nicht verkannt werden. Namentlich erscheint die Schluß-
wendung heute doppelt beherzigenswert: viel mehr noch als während des
Krieges muß in der Gegenwart den deutsch sprechenden und schreibenden
Schweizern eindringlich gemacht werden, wie sehr ihr Land in geistiger Hin-
sicht 'eine gute alte Provinz Deutschlands' stets gewesen ist und naturgemäß
bleiben muß.
Berlin. Hermann Schneider.
Walther Brecht, Conrad Ferdinand Meyer und das Kunstwerk
seiner Gedichtsammlung. Wien und Leipzig, Braumüller,
1918. XIII, 233 S.
Den Spuren des schaffenden Genius nachzugehen vom Kunstwerk, wie es
uns vorliegt, bis zu seinem lebendigen Urquell im Innern des schöpferischen
Subjekts, bleibt immer ein schwieriges Unterfangen, das außer einer oft
recht mühevollen philologischen Forscherarbeit auch ein tiefdringeudes Ein-
fühlen in des Künstlers Art, zu schaffen und zu schauen, fordert, nicht selten
auch ein mehr intuitives als verstandesmäßiges Erfassen und Lösen der sich
darbietenden Probleme verlangt.. Brecht hat diesen Weg zu gehen versucht,
indem er die Gedichtsammlung, die C. F. Meyer im Alter zusammenstellte,
zum Gegenstand seiner Untersuchung maclite. Was sagt uns diese Samm-
lung durch Anordnung und Auswahl über die Probleme, die Meyers Leben
und Wirken bestimmten? Das ist die Frage, die das Buch beantworten will.
Überraschend ist es, welch reiche Aufschlüsse sich im Laufe der Darstellung
nicht nur für das dichterische Schaffen Meyers, ja des Dichters, des Künst-
lers überhaupt ergeben, sondern auch für die einzelnen Gedichte; wie sie
gehoben, beleuchtet und getragen werden von ihrer Umgebung, auf die sie
selbst wiederum Licht verbreiten. So stellt sich uns die ganze Sammlung dar
als ein vielverzweigtes, architektonisch fast überreich gegliedertes Gebäude,
dessen Ganzes doch wieder von edelster Harmonie durchdrungen und ge-
tragen wird. Die Entwicklung des Dichters vom subjektiv fühlenden zum
objektiv betrachtenden Künstler, sein Plinstreben zu vollkomm.ener Ästheti-
sierung seiner ethischen Werte liegt offen vor uns; auch hier zeigt sich,
10*
148 Beurteilungen und kurze Anzeigen
welch, genialer Vertreter seines künstlerischen Ideals, der 'großen Kunst',
Meyer war, eines ästhetischen Formalismus, der Michelangelo und Schiller,
Renaissance und Klassizismus, zu Ausgangspunkten hat.
Bei einer so scheuen und zurücklialtenden Natur wie Meyer, der viel
lieber verbarg, was ihn bewegte, als es aufdeckte, ist der subjektiven Deu-
tung in derartigen Untersuchungen naturgemäß viel Riuini gelassen. So
könnte mau auch hier in mancheu Punkten anderer Meinung sein als Brecht.
Ich greife heraus, was mir beachtenswert erscheint:
In der Besprechung des Zyklus 'Liebe' behandelt der Verfasser auf S. 99 S.
"Drei Gedichte an eine Niehtbezeichnete' : 'Hirtenfeuer', 'Laß scharren deiner
Rosse Huf, 'Dämmergang' und im Anschluß daran 'Die tote Liebe'. Daß das
letztere sich auf Clelia Weidmann oder gar auf Betsy Meyer bezieht (auch
bei Brecht und A. Frey nur Annahme), erscheint mir dem Wortlaut nach
undenkbar; ebenso unsicher mindestens die Beziehung der drei vorhergehen-
den Gedichte auf Betsy. Freilich bringt- Brecht für das mittlere 'Laß schar-
ren usf.' ihr eigenes Zeugnis; ist das aber gerade bei einem Planne wie
C. F. Meyer absolut maßgebend, und müssen deshalb die beiden anderen sich
dem anschließen? Namentlich der 'Dämmergang' scheint mir viel zu zart
und innig, um auf die Schwester gedeutet werden zu können. Jedenfalls ist
die ganze Hypothese nicht sicher genug, um in der Tabelle die Zusammen-
fassung der drei erstgenannten Gedichte unter das Stichwort 'Schwester' zu
rechtfertigen. Hier liegt, wohl eine petitio prineipii vor, die den Verfasser
der Symmetrie des Aufbaues halber bewog, die Vermutung zur Tatsache wer-
den zu lassen, ihm selber unbewußt. Es sind eben 'Gedichte an eine nicht
Genannte'; wie warnt doch das Einleitungsgedicht: 'Forsche nicht danach,
welch Antlitz mir gefiel!'
Hier und da ließe sich die Darstellung wohl noch vertiefen, manche Linie
sich noch schärfer ziehen. Z. B. halte ich die drei Gedichte 'Schwüle', 'In
Harmesnächten' und 'Votivtafel' für einander durchaus parallel, ohne diese
parallelisierende Steigerung des Grundgedankens auf die beiden letzten be-
schränken zu wollen (im Zyklus 'Stunde', S. 42 f.). Alle drei bringen 'die
Heilung' für einen 'gefährlichen Zustand' (Brecht), erst in unbestimmtem
Naturgefühl sich äußernd, dann in christlich-mystischer Nachtstimmung,
endlich in antik-heidnischer Form, in fest umrissener, visionärer Gestaltung.
So ergibt sieb ein schöngeschwungener Stimmungsbogen, dessen Linie mir
in der Brechtschen Darstellung nicht ganz erfaßt zu sein scheint.
Derartige Besserungen dürften auch anderswo noch notwendig sein; dem
Wert des Buches wird dadurch nicht der geringste Abbruch getan. Es hat
einen bisher kaum betretenen Weg gebahnt, auf dem lioffentlich noch mancher
Forscher dem Entdecker folgen wird. Noch eine Frage: Ist 'antikisch' (S. 11)
nicht ein kleines Ungeheuer?
Hannover. H. Beyer.
Jolm Mavnard Keynes, The economic consequences of the Peace.
London, Macmillan, 1920. VI, 280 S.
Auch den heutigen Geist Englands umfaßt die jetzige Anglistik. Ihn
spiegelt so gut wie die Dichtung auch die Politik, sofern sie die Wirklich-
keit wissenschaftlich erhellt. Darf schon deshalb diese philologische Zeit-
schrift das Werk eines Volkswirts anzeigen, so kommt hinzu, daß dieser, als
erster aus Englands führenden Universitäts- und Amtskreisen, die bisher
nur von Arbeiterpartei und Regierungsopposition vertretene Meinung tapfer
verficht, jener Versailler Friede von 1919 müsse gemildert werden, der mit
der Wirtschaft Deutschlands, ja des ganzen Festlandes, unsere Universitäten
samt der Anglistik ertöten würde, wenn seine Ausführung überhaupt mög-
lich wäre.
ßeiirteiUiugen uud kurze Anzeigen 149
Keyues ist Fellow of King's College zu Cambridge. Im Krieg vertrat er
das britisclie Schatzamt bei der Pariser Konferenz und den Exehequerkanzler
im Ilöc-bsten Wirtschafts rat der Alliierten, wo er den 'Xotschrei Mittel- und
Osteuropas hörte', und bis 7. 6. 19, 'als alle Hoffnung auf Besserung des
Friedensvertrages schwand', an der Beratung der wirtschaftlichen Para-
graphen teilnahm; dort hat er die Großen Vier bei ihrer verhängnisvollen
Arbeit scharfäugig beobachtet. Er schließt seine Schrift im November 1919
ab. — Er i.st kein Freund der Deutschen: ihm erscheint z. B. Elsaß 1871
'gestohlen', Bismarck's spirit in des Siegers Gier, dem Besiegten Lebens-
uot wendigkeiten fortzunehmen, der Krieg 1914 verschuldet vom deutschen
Volk [nicht von der Regierung] allein, die Politik unter Wilhelm II. selb-
stisch und wahnsinnig, und, falls Deutschland siegte, der Welt eine Gewalt-
tyrannei sicher. Kein Hauch deutscher Kultur, kein Mitgefühl mit dem
Sturze historischer Größe durchweht das Buch, während doch Deutsche nach
1815 die Große Armee besangen, und nationale Gelehrte 1871 bekannten, der
Weltgeist benötige auch den esprit gauloisl Von Deutschlands gedanken-
reicher Publizistik zu Politik und Wirtschaft 1914 — 19 kennt Keynes nichts.
Kaum eine Spur kommt vor vom ül>ergang der deutschen Verfassung zur
Demokratie, von den schmerzhaft<?n Geburtswehen einer Gesellschaftsordnung
ohne erbliche Herrsehaftsklasse, von den Sturmzeichen zur Umwälzung des
Arbeiterverhältnisses vielleicht für die gesamte Welt. Er begreift zwar die
notwendig den Kapitalismus begleitende Schattenseite, meint aber, die vier
Diplomaten, die er in ehrlicher Entrüstung wirtschaftlich unzuständige
Ignoranten schilt, hätten ohne grundstürzende Änderung des gesellschaft-
lichen Systems die Kriegswunden der Wirtschaft Europa-s heilen können. —
Insularer Imperialist, tadelt Keynes wohl Frankreichs Eroberungssucht an
Saar und Ehein, aber nicht die britische Eroberung der Kolonien; Amerika
möge die Schulden der Alliierten streichen; daß England Schiffe, Eisen-
bahnen, Handel, Boden, Fahrhabe, Nutzrechte an Deutschland oder deutsche
Private zurückgebe oder ersetze, fordert er nicht: die ärgsten Pläne zur
Zerschmetterung der Wirtschaft Deutschlands gibt er den Franzasen schuld.
Um so bedeutsamer, daß dieser Mann die beiden für Deutschland nicht
neuen Tatsachen der Angelsachsenwelt verkündet: die Sieger haben das bei
ihrer Annahme des Waffeu.stillstande,s Deutschland gegebene Versprechen
gebrochen, sich an die Wilsoniana zu halten [ich nenne der Kürze halber so
die Vierzehn Punkte samt den vier folgenden maßgebenden Ansprachen des
Präsidenten vom 11. Februar, 6. April, 4. Juli und 27. September], und ihm
einen Frieden aufgezwungen, der, für die Besiegten unerträglich, überhaupt
unausführbar, den Zusammenbruch der ganzen Wirtschaft des Festlandes
Kuropas bedeutet. In Paris erst bekennt Verf., vom Engländer zum Euro-
päer geworden zu sein. Höchst Wichtiges bringt das Buch für die Geschichts-
wissenschaft durch die historische Erklärung jenes Wortbruches, für die
Nationalökonomie durch den statistischen Nachweis der vom Vertrage ver-
ursachten Verelendung Deutschlands und für die zukünftige Staatskunst
durch Besserungsvorschläge, eingegeben von weiter Kenntnis, scharfer Denk-
arbeit, schöpferischer Phantasie und menschenfreundlichem Optimismus.
Das rein wirtschaftliche Thema wird streng eingehalten, in so heil-
loser Verwirrung auch die sonstige staatliche Lage Mitteleuropas und des
Ostens hinterbleibt.. Keynes schreibt kurz, klar, wohlgeordnet, phrasenlos,
lebhaft und anziehend. Offenbar tief ethisch entrüstet ob der Treubrüchig-
keit, Heuchelei, Macht- und Habgier jener drei Erdballorduer [vom Italiener
hören wir wenig], namentlich ob leichtfertiger Achtlosigkeit auf die wirt-
schaftlichen Folgen ihres Tuns, bemüht er sich doch, allseitig abzuwägen, die
Fehler zu erklären und ruhig zu urteilen. Zu literarischer Glanzleistung
erhebt sich das innere und äußere Bildnis Clemenceaus und Wilsons [das
Deutschlands Zeitungen im Januar 1920 brachten] und die Schilderung der
150 Beurteilungen und kurze Anzeigen
bedrückenden geistigen Atmosphäre der Konferenz: wie bei einer geträuni-
teu Nachtmar, so widers^iricht die Entscheidung der logisch notwendigen
Wirklichkeitslage.
Verf. beginnt mit 'Europa vor dem Kriege', zurückgehend bis 1870. Die
Wirtschaft des Festlandes baute sich seitdem schon verwickelt, künstlich,
unsicher auf. Angesichts der zwar steigenden Lebenshaltung des Arbeiters,
die dank Technik und Weltmarkt sich stetig erleichterte und ihn zufrieden-
stellend [doch nicht in Deutschland!] in Ruhe künftigen Aufstieg seiner
Klasse erhoffen ließ, vergaß man die Gefahren des Imperialismus, Völker-
hasses und Militarismus [letztere beide möchte icli als Kriegsursachen leug-
nen] samt der Volkszunahme, vor deren Drohen Malthus mitkRecht gewarnt
hatte. Die Deutschen wuchsen 1870 — 1914 von 40 auf 68 Millionen, mußten
durch Industrie ihre Nahrung bezahlen und konnten das, indem sie ihre
Kohlenförderung von 30 auf 190 Millionen Tonnen steigerten; sie wurden
für alle Länder die größten Käufer und Verkäufer, so auch für Britannien
(ausgenommen britische Einfuhr aus den Vereinigten Staaten und Ausfuhr
nach Indien). Möglich ward dies, weil der Verkehr Mittel- und Osteuropas
von den Zollgrenzen nur dreier Reiche gehemmt war. Deutschland verlieh
25 Milliarden als Anlage ins Au.sland und dazugehörige Organisatoren. Dies
gesamte System störte der Krieg plötzlich und vernichtet jetzt der Friede
dauernd. Eine andere Gefahr lag im Kapitalismus: indem der Reiche nicht
vergeudete, sondern sparte und anlegte, ward das Vermögen unter den
Klassen immer ungleicher. Die Grundlage dafür, die Genügsamkeit des [eng-
lischen] Arbeiters, ist 1920 nicht herstellbar. [Verf. geht auf Englands So-
zialisierung oder Betriebsrat nicht ein, auch nicht auf den Grundunterschied
gegen Deutschland, daß drüben Privateigentum und überliefertes Recht
religiöses Ansehen genießen.] — Der Einkauf amerikanischen Roh- und
Nahrungsstoffes für Europa, haperte schon vor 1914 an der Teuerung über
See, wo ihn das wachsende Volk selbst aufzubrauchen sich anschickte. So
konnte Hoover 1917 die für Europas Erhaltung nötigen Produkte nur be-
kommen durch Versprechen von Mindestpreisen an seine Landwirte für das
zu Erzeugende. Die Aushilfe durch Rußland. Rumänien [und Ungarn] für
den Ausfall amerikanischer Einfuhr unterband der Krieg: Europas Hungers-
not mußte folgen.
'Die Konferenz' [so betitelt sich Kapitel 3] empfing die bestimmtesten
und weitestgehenden Forderungen stets von Frankreich. Clemenceau rech-
nete nämlich, er würde nachlassen müssen erst den Alliierten, dann (wozu
es leider nicht kam,) den Deutschen. Vor England und Amerika gab er sich
gemäßigt, indem er Forderungen von Klotz und Loucheur fallen ließ. Wäh-
rend diese Minister die Verhandlung begannen, .sprach er selbst nur selten,
ein zynisches oder entscheidendes Wort einwerfend, bisweilen mit leiden-
schaftlicher Kraft. Die Hauptidee der wirtschaftlichen Vernichtung Deutsch-
lands hielt er fest. Er, an Alter, Charakter, Geist, Wissen, auch durch Kennt-
nis des Englischen, der bedeutendste der vier, übersah allein die Kollegen
und die Folgen des Vertrages. Pessimist gegenüber jeder Besserung der
Menschennatur, skeptisch gegen Völkerbund und Selbstbestimmung der Na-
tionen als Ideologenspiele, trieb er Bismarcks Politik für sein Vaterland
allein, unbekümmert um fremde Nationen oder Europa. Der Deutsche (meinte
er) verstehe nur Einschüchterung, kenne nicht Edelmut, Ehre, Würde, Er-
barmen oder Gewissen beim Verhandeln, müsse also den Frieden diktiert
bekommen. Im jahrhundertelangen Ringen Frankreichs und Deutschlands
beschließe 1918 nur wieder einen Abschnitt; da nun letzteres seit 1871 Volks-
zahl, Industrie, Seefahrt, Reichtum weit höher entwickelt hatte, konnte er
es nicht großmütig oder anständig behandeln oder auf Wilsoniana bloß durch
Worte verpflichten. Er fühlte, wie jede geforderte neue Garantie es noch
mehr zur Rache reize, und mußte also dem Gegner die Wirtschaft zerschmet-
Beuitoiluugpn und kurze Anzeigen 151
tern und deren Wiederaufbau unterbinden. Anderen überließ er, durch
jesuitische Sophismen und Taschenspielerkünste dies Wilson darzustellen als
mit dessen Programm vereinbar. Dieser, der 1918 materiell und moralisch
unerhörte Macht besaß, der Verfüger über Europas Finanz und Nahrung,
wie ein Prophet, von dem die Welt gerechte Neuordnung erhoffen durfte, ver-
riet das allgemeine Vertrauen durch persönliche Schwäche. Wohlmeinend,
doch ohne beherrschende oder scharfe Intelligenz, ohne Kenntnis der Men-
schen, der Lage Europas, des Französischen (so daß er Orlando schon sprach-
lich fernstand), langsam begreifend, unfähig zum Anpassen, taktisch un-
geschickt, im Verhandeln ungeübt, unterlag Clemenceau und George, der
instinktiv wie ein Medium sofort ahnt, was die andere Partei wollen oder
einwenden wird, und sich gemäß ihrer Eitelkeit. Schwäche oder Selbstzucht
dagegen waffnet. Wilson überragt freilich die Parteipolitik und hegt hohe
Ideen, für die er kraftvoll beten und predigen kann. Aber wie ein schottischer
Presbyterianergeistlicher ist er doch wesentlich theologisch gerichtet. Die
Einzelausführungen zu den Wilsoniana, nämlich die Paragraphen des Frie-
dens- oder Völkerbundes samt dessen Einverleibung in den Staatenvertrag,
hatte er nicht klar und fertig durchdacht; die Ideen blieben nebelhaft un-
vollständig. Seine fähigen Beiräte, die außer Hoiise freilich auch wenig mehr
von Europa wußten, befrage er nicht regelmäßig, selbst House immer we-
niger. Unberaten folgte er also nur den Entwürfen meist britischer oder
französischer Herkunft, beseitigte sie nur, wo sie, damit er anderswo nach-
gebe, absichtlich alles Maß überschritten, und meinte den Verdacht der
Deutschenfreundschaft durch besondere Strenge widerlegen zu müssen. Er
hätte freilich die Alternative gehabt, wütend über die Pariser Enttäuschung
heimzukehren. Allein seine Stellung war durch die Kongreßwahl schon ge-
schwächt, der Vertrag wäre ohne ihn noch schlimmer für Deutschland ge-
worden [?], wo noch Terror drohte, und dann war der Völkerbund, den er
für wichtiger hielt als den nur vorübergehend vielleicht schädliclien Vertrag,
ewig verloren. Also bestellte er die der Konferenz einmal angedrohte Heim-
reise ab und glitt auf die schiefe Ebene der Kompromisse. Selbst so noch
konnte er kraft seiner Übermacht Frankreichs [warum niclit auch Englands]
ärgste Pläne gegen Deutschland bei geschickter Tatkraft abwenden; sta.tt
dessen bewilligte er gewissenhaft, wie .sein schottischer Ahn nur bibelgemäß
handelte, alles, was ihm das Kolleg als den Wilsoniana nicht widersprechend
nachwies. Ein Beispiel, wie er irregeführt wurde: Österreich den Anschluß
an Deutschland außer mit Frankreichs Bewilligung verbieten, verstieße gegen
Selbstbestimmung der Nationen ; also anerkennt Deutschland Österreichs
Unabhängigkeit, außer wenn der Völkerbundsrat sie ändert; dieser aber be-
schließt laut eines anderen Paragraphen nur einstimmig. Ähnlich wird die
Zuweisung Danzigs an Polen, die Fremdherrschaft über Deutschlands Ströme
verhüllt. Und seinen Beiräten zum Trotz gestand Wilson zu, Kriegspension
der Alliierten gehöre zu dem von Deutschen der Zivil bevölkerung an-
getanen Schaden, dessen Gutmachung die Entente vor dem Wafi'enstillstand
ausbeduugen. Der selbstgerechte Amerikaner konnte BrockdorfFs Nachweis
des Betruges an Deutschland nicht zulassen, und George versuchte [?] nun
zuletzt umsonst, den in fünf Monaten Umnebelten in fünf Tagen aufzuklären.
[Verf. betont zuwenig, daß kein gewöhnlicher Autokrat, der gewäl\lte wie
der geborene, der Niedertracht umschmeichelnder Umgebung widersteht.]
'Der Vertrag' wird im 4. Kapitel geschildert als in grellem Widerspruch
zu den weisen und großmütigen, nur teilweise unklaren und mehrdeutigen
Wilsoniana, worin Beseitigung der Wirtschaftsschranken, allgemeine Ab-
rüstung, Kolonien-Regelung, Nicht- Annexion (Elsaß und polnisches Preußen
ausgenommen) und Verbot der besonderen Staatsverträge vorkamen. [Verf.
erwähnt nicht, daß nur Staatsmänner der Angelsachsen-Imperien einem
gegen den Völkerbund Widerspenstigen den Weltmarkt zu sperren drohen
152 Bt'urteilimgeü und kurze Anzeigen
können; denn diese selbst lachen in ihrer Autarkie der Drohung.] Wilsons
Programm ertrank im Sumpfe von Paris. Die internationale Pflicht-
verletzung der Entente ähnelte dem deutschen Einmarsch in Belgien [wo
war ihre Notwehr?]. Die Antwort Brockdorffs entbehrte Würde und Größe,
ließ auch die Unehrlichkeit des Vertrages unenthüllt; sie hätte, auch besser
formuliert, damals schwerlich noch geholfen. Absehend ausdrücklich von
Ungerechtigkeit und Treubruch, weist nun Verf. als Wirtschaftspolitiker die
Folgen des Vertrages auf. Von den drei Grundlagen des deutscheu Wirt-
schaftssystems zerstört der Vertrag vollständig deu Überseeverkehr. Deutsche
verfrachten fortan auf fremdem Schiff, das allein ihre Häfen belebt, ver-
lieren samt den Kolonien ohne Entschädigung das Staats- und Privateigen-
tum wie auch Nutzungsrecht außerhalb Deutschlands, auch im Elsaß die
Eisenbahn (für die der Sieger 1871 zahlte). Brockdorff übertrieb zwar, wenn
er solche Härte als einen Augriff gegen das Privateigentum überhaupt gei-
ßelte; aber ein Bruch des internationalen Privatrechts liegt vor. Diesen ent-
schuldigt. [?] die Künstlichkeit jener juristischen Trennung zwischen Staat
und Privaten. [Als ständen die Großen Vier sonst dem Sozialismus nahe!]
Das durch den Sieger liquidierte Privatvermögen Deutscher deckt zunächst
die Ansprüche gegen ihr Debet und [!] das ihrer Verbündeten, fließt dann
an die Gutmachungskommission oder, wenn jener Siegerstaates will, an
Deutschland: kraft dieser Alternative darf Amerika letzteres versorgen.
Anfänglich war ein Clearinghouse der Privatansprüche auf Wechselseitig-
keit geplant: die Vollständigkeit des Sieges [d. h. die Wehr losmachung ohne
Erfüllung der Gegenbedingung!] ermöglichte, den Plan fallen zu lassen.
Die Gutmachungskommission kann für die am 1. Mai 1921 fälligen 20 Mil-
liarden [als Geld meine ich stets Goldmark] alle deutsehe Habe außerhalb
Dcutscldands fassen, so auch bei dessen östlichen Nachbarn, wo naturgemäß
seine Unternehmung jetzt hinstreben möchte; sie kann Zahlung in Gold.
Waren, Schiffen oder Wertpapieren sich wählen, und schon durch diese
Wahl, vom Werte abgesehen, den Handel ihm lähmen. So ist die deutsche
Wirtschaft verjagt- vom Gebiet der deutschen Verbündeten wie der Feinde.
[Unsere Rechts- und Wirtschaftskenner bestaunen diese technisch vollendete
C^rausamkeit.] — Die zweite Grundlage deutscher Wirtschaft war 'Kohle
(mehr als Blut!) und Eisen'. Frankreich [als ob es allein diktiert hätte!]
erhält, neben dem 'verständigen' Ersatz der durch Zerstörung seiner Gruben
entgangenen Kohle, die Saargrubeu samt der Herrschaft dort [was Verf.
heftig tadelt]. Daß Oberschlesien wenigstens abstimmt, setzte auf Brock-
dorffs Protest L. George durch, der Deutschlands Beschränkung im Osten
mißbilligt [sofern sie Polen. Frankreichs Freund, stärkt; von Memel und
dem Baltikum schweigt Keynes]. Da Deutschland außerdem die Gutmachungs-
kommission mit Kohle l>eliefert, verliert es fast die Hälfte seines Kohlen-
verbrauchs von 1913, muß also Fabriken schließen. Frankreich und Italien,
deren Staatsmänner diese unmögliche Lieferung ihren Völkern versprachen,
werden darauf bestehen. Vielleicht schafft sich Deutschland Ersatz durch
Braunkohle. Da auch neutrale Nachbarn Deutschlands von dessen Kohle ab-
hängen und nur dagegen ihm Nahrung liefern, bedarf es internationaler
Regelung der verzweifelten Kohlenlage, aus der sonst Revolution erwächst.
— Die Hiebe der Alliierten gegen Deutschlands letzte Wirtschaftssäule, näm-
lich Verkehr und Zoll, schädigen mehr, teilweise aus sinnloser, lächer-
licher Gier, als sie geradezu vernichten; Deutschland muß z B. aus Elsaß,
Luxemburg, Polen die Einfuhr, auch Luxus, frei zulassen, alliierte Waren
mit bevorzugter Schnelligkeit befördern, Eisenbahnmaterial in besserem als
dem eigenen Zustand abliefern. Die Alliierten-Beaufsichtigung der Ströme
Deutschlands kann letzterem den Verkehr unterbinden, ist fürs internationale
Interesse unnötig und zählt Deutsche nur in Minderzahl zu Mitgliedern:
gleich als befählen Festlandsmächte über Themse und Londons Hafen.
Beurteilungen und kurze Anzeigen 153
Fast, den halben Band füllt das Kapitel 'Gutmacliung'. Da Deutschland
sie nie ganz ausführen kann, droht die Gefahr, daß Frankreich Rheinland
beliebig lauge besetzt hält, wo dessen Diplomaten noch auf eine klerikale
Sonderrepublik hinstreben; hoflentlich vergebens [sagt der Engländer, fran-
zösischer Übermacht abgeneigt] . Noch Ende Oktober 1918 dachten die Staats-
männer der Alliierten nur an den Schaden, der ihren Zivilisten direkt
durch Deutschlands Wehrmacht geschehen ist. Brita-nnien verlangte an-
gesichts der Schwere der anderen Bedingungen damals noch keine hohe Geld-
summe. Freilich muß der 'Schaden' im Text der Wilsoniana den zur See
durch U-Boot wie durch legitime Prise gescheheneu umfassen; und Schädi-
gung in Adria und am Suezkanal fallen vielleicht auch darunter. Da.gegen
nur eine unehrliche Auslegung führte dann zu der unerfüllbaren Forderung,
Deutschland .solle erstatten allen Nachteil der alliierten Völker aus Be-
steuerung zu Kriegs- und Peusionskosten, aus Handelsverlust., aus Flucht
vor seinen okkupierenden Heeren. Während Klotz, um Frankreich vor
Bankerott zu bewahren, für dieses allein, wo doch nur 4 v. H. des Landes
zerstört sind, 134 Milliarden fordert, gebühren nach dem Verf. allen Alliier-
ten zusammen 42, die Deutschland zahlen kann. Einschließlich des bis
1. Mai 1921 Anzumeldenden fordern jene aber vielleicht 480: maß- und sinn-
los, weil unerfüllbar. Jene Umdeutung verschuldeten Clemenceaus Haß und
L. Georges Wahlmaehe: behufs vStimmenfangs verschwieg er Britanniens
Verpflichtung auf die Wilsoniana und versprach Dezember 1918, obwohl er
nicht an die Möglichkeit glaubte, der Masse Deutschlands letzten Pfennig
und Tragung der Kriegskosten.
Der Treubruch erklärt sich teilweise daraus, daß die Sieger im November
1918 überrascht sahen, Deutsehland hätte sich wenige Tage später ergeben
müssen [und war gefahrlos, da es in letzter Selbsttäuschung in Wehrlosig-
keit eingewilligt, und den Endsieger zum Entscheider angerufen hatte]. Das
britische Schatzamt warnte schon Dezember 1918 vor dem Traume eines
Londoner Bankiers, George solle 400 Milliarden fordern. Mit letzterem
stießen ins Lügenhorn Northcliffe, Eric Geddes und der Arbeiterminister
Barnes, der zuerst hang the Kaiser schrie. Verf. schreibt diese moralische
Verdammung der führenden Staatsmänner nieder nur after painful eonsi-
dcration. Wilson verstand Deutschlands Verantwortung für allen Kriegs-
schaden der alliierten Staaten und Bürger moralisch, George aber finanziell!
Es ist der schändlichste Mißbrauch des Siegas. Durch Zalilen weist Verf.
die Unmöglichkeit nach, daß Deutschland das ihm Auferlegte in Geld oder
Ware zahle, die notwendig folgende Zerstörung des Wertes unseres Papier-
geldes und die künftige Verarmung. Wenn ein Sidney Low in Times 3. 12. 18
Deutschlands Mineralwerte auf .500 Milliarden schätzte, die doch für 6 käuf-
lich sind, begreift man die verrückte Überschätzung beim englischen Publi-
kum. Zu Deutschlands Ersparnis [?] durch Heeresauflösung darf nicht ein-
fach das Jahresersparnis von 1913 addiert werden, um da,s 1920 Verfügbare
zu erhalten; ist doch die Wirtschaft zerstört und die Ausgabe durch den
Krieg riesenhaft vermehrt.
Verf. beschreibt ausführlich Zweck, Zuständigkeit, Verfassung und Ver-
fahren der allmächtigen Gutmachungskommission mit freier Kritik und
trüber Voraussicht für uns: wo sie Deutschland eine Schuld erlassen oder
stunden will, muß sie einstimmig sein! Mit höherer Gewalt, als der Kaiser
besaß, wird sie der wirtschaftliche Beherrscher Deutschlands, das ihren Hun-
derten von Beamten die von ihr festgesetzten Gehälter zahlt; denn sie über-
wacht, wie viel Steuern es einzieht, um der Entente zahlen zu können, und
wie viel Nahrung und "Rohstoff es zum Weiterleben braucht. Hoffentlich aber
wird sie aus einem Werkzeug des Raubes kraft Kenntnisnahme von Mittel-
europas Schwäche unabsichtlich zum Mittel der wirtschaftlichen Herstellung,
wozu Wien Vorzeichen bot. — Höchst mißgünstig urteilt Verf. über Deutsch-
154 Bcurlt'ihiiigcn und kurzr Anzeigen
lands C4egengebot von 100 Milliarden: dunkel und unehrlich wollte es den
Diplomaten nur helfen, ihre Völker zu betrügen, und anrechnen alles im
WalTenstillstand Ausgelieferte samt der Kriegsmarine, sowie u. a. Eisen-
Imhnen und einen Staatsschuldenanteil der abgetretenen Gebiete, so daß nur
30 statt der von der Entente geforderten 160 Milliarden geblieben wären
[was aber dem Schlußvorschlage des Verfassers fast gleichkommt; s. u.].
'Europa nach dem Vertrage' [so betitelt sich das vorletzte Kapitel] ist
unfähig, sich selbst zu erhalten; besonders Nahrung bedürfen nach Hoover
100 000 000 Europäer von Amerika; Erwerbslose, von denen Europa im Juli
1919 15 000 000 unterstützte, stauen sich in Zentren ohne Auswanderungs-
möglichkeit; die Lebenshaltung sinkt bis zum Hunger, der der alten Kultur
den Sturz droht. Der Frieden verurteilt also Millionen Deutscher zum Tode.
Die Senkung der deutschen Landwirtschaft seit 1913 erweist Verf. wieder in
Ziffern. [Er erwähnt nicht, daß unser Arbeiter weniger leidet als der
ärmere Mittelstand samt Intelligenz und Beamtentum.] Bedeutungsvoll für
die gesellschaftliche Umwälzung der ganzen Welt ist die Schilderung vom
eingeschüchterten Kapitalismus, zunächst Britanniens, der außer in Amerika
an sich selbst nicht mehr glaubt, schon seinen Namen des internationalen
Finauzmannes ungern hört und von seinen Geschöpfen, Regierung und Presse,
sich ruinieren läßt. — Die gelähmte Wirtschaft leilit Krücken vom Staat:
die Künstlichkeit der billigen Preise erhellt am Beispiel des Brotes in
Deutschland: es müßte bei freiem Handel, angesichts der Markentwertung
auf ein Zehntel gegen Gold und der Steigerung des Auslandsgetreides im
Weltmarkt aufs Doppelte, das Zwanzig[jetzt Dreißig] fache des Preises von
1913 kosten. Deutsche Einfuhr, seit Aufhebung der Blockade möglich, ks^nn
den Auslandspreis in Gold nicht zahlen noch auch borgen, da niemand weiß,
wie tief 1920 die Papiermark sinken wird. Frankreichs und Italiens Wirt-
schaften kranken aber fast ebenso gefährlich. Die Defizite der Staaten, die
Verf. anführt, wachsen 1920 erschreckend. Österreichs Empörung über den
Eutentevertrag, an dem Verf. selbst mitarbeitete, nennt er unwiderleglich.
England, so führt Keynes im Schlußabschnitt über 'Heilmittel' aus, steht
der Gefahr eines Aufstände« oder einer Katastrophe fern und ist vom Reich-
tum des J.ihres 1914 doch nur auf etwa 1900 herabgebracht; die allerdings
riesige Passivität der Handelsbilanz und Fehlsumme des Staatshaushalts
scheinen doch ausgleichbar. — Der unmögliche Versailler Friede kann erst
nach Weclisel der vier Regierungen gebessert werden. [Verf. verrät nicht
die Absicht, George zu stürzen.] Verf. schlägt, vor: Deutschland erhalte das
bisher Ausgelieferte zu 10 Milliarden augerechnet und zahle 30 hinzu,
30 Jahre lang jährlich 1. werde Völkerbundsmitglied, stelle neben Neutralen
Mitglieder zur Gutmachnngskommission, liefere, falls es Oberschlesien be-
hält, was die Entente fördern muß, Frankreich die diesem verlorene Kohle,
erhalte 1930 die Saar frei zurück und aus Lothringen Minette gegen Kohle.
Bis 1930 gelte kein Schutzzoll innerhalb des Völkerbundes. Das beseitigt
etwas vom Schaden der neuen Zollgrenzen. Freilich verwirklicht sich damit
teilweise der Traum der Deutschen von Mitteleuropa; doch nehmen nun die
anderen Völker [nämlich Briten] daran teil. Aufhören muß *is Streben,
Deutschland zu verelenden. Nur anf dem Papier verlöre Frankreich durch
solche Milderung des Vertrages, weil dieser ja doch unausführbar wäre. Bri-
tannien verzichte auf Geld (zugunsten der Herstellung des in Belgien, Frank-
reich, Serbien Zerstörten, die 30 Milliarden kosten wird) und reinige sich
mit solchem Opfer von seinem Treubruch. Amerika verzichte auf die im
Kriege ausgeliehenen 38 Milliarden; denn nur die Amerikaner um Hoover,
urteilt Verf., der mit ihnen wie Franzosen und Italienern seit 1916 finanziell
verhandelt hat, sehen Europas Lage richtig und fühlen, wie Menschen sollen.
Britannien, das an die jetzt bankerotten Alliierten Riesensummen lieh, ist
nur zwei Fünftel so leistungsfähig wie Amerika, das 20 Milliarden Schuld-
Beurteilungen und kurze Anzeigen 155
papiere ,«cit 1914 zurückkaufte, und zahlt« doch dreifach so viel Kriegskost.en.
Im Innern bedarf jedes Land Kapitalst€uer, denn nicht viele Jahre mehr
wird der Arbeiter sich für Abtragung der Schuld an Fremde opfern. Sofort
braucht Europa Amerikas Darlehn zur Einfuhr und Währungsgesundung.
Erst wenn sich das Festland zur Solidarität bekehrt, wird aber Amerika, der
Einmengung längst überdrüssig, vereint mit Britannien ihm Kredit be-
sorgen; zunächst genügen 4 Milliarden für Nahrung und Rohstoff; Garantie
müßten alle Völkerbündler übernehmen. — Wa.s Verf. von Deutschlands
innerer Parteilage und Beziehung zu Rußland sagt, erfordert, weil schief
gesehen oder hier bekannt oder schon überholt, weniger Beachtung; doch
tritt er auch hierin richtig [vom Briten- wie Europäer-Standpunkt] dem
Plane Frankreichs entgegen, Deutschlands Einheit und Rulie zu untergraben
und Polen samt Rumänien gegen Deutschland samt Rußland zu stärken;
Polen braucht vielmehr wirtschaftlich letztere beide. Er tadelt, daß die
Entente Rußland blockiert. Der Deutsche möge mit Unternehmung und
Organisation seine Nachbarn in Süd und Ost wieder produktiv machen.
Trotz Rassen- und Nationalhaß muß die Entente begreifen, daß ihrer Wirt-
schaft Deutschland zum gefährlichsten Wettbewerber erwächst, wenn dieses
nicht Rußland als Markt gewinnt. Von 1920 aber wird nicht mehr ein
Staatsmänner-Kolleg, sondern die Unterströmung wirtschaftlicher Macht-
verhältnisse die Welt regieren. Da nicht etwa falsche Verteilung die Schuld
an jetziger Not trägt-, so hilft die "Revolution dieser nicht ab. Wir können
die öffentliche Meinung durch Klärung der Ideen, Zerstreuen des Hasses und
Solidaritätsgefühl beeinflussen. — Zu Ende ruft Verf. in hymnischer Form
den Geist des kommenden Zeitalters an, der Weltklugheit vereinen möge
mit Liebe zur ^Menschheit.
Berlin. F. Lieber mann.
Margot Henschel, Zur Sprachgeographie Südwestgalliens. Ber-
liner Diss. Braiinschweig und Berlin. G. Westermann, o. D.
a9i7). 118 S. Mit 13 Tafeln.
Mit vorliegender Arbeit stürzt sich die Verfasserin frischen Mutes in
die Diskussion einer der schwierigsten Fragen, welche die romanische
Sprachwissenschaft kennt. Sie setzt sich zum Ziele, die Südwestgallien
durchziehenden Dialektgrenzen genau zu bestimmen nach ihrem Verlauf
und ihrer Stärke und die LTrsachen ihrer Entstehung festzustellen. Seitdem
Morfs Forschungen für die dialektale Einteilung Frankreichs so fruchtbare
neue Gesichtspunkt« eröffnet haben, müssen diese Probleme die Aufmerksam-
keit der jungen Sprachforscher anziehen.
Die Resultate, zu denen M. H. gelangt, widersprechen zum Teil der bis-
herigen Auffassung. Seit Luchaire hatte man das Gebiet, das im Süden von
den Pyrenäen, im Westen vom Meere, im Nordosten von der Garonne und
der Ariöge begrenzt ist, wegen seiner stark ausgeprägten Eigenart als gas-
kognischen Dialekt dem übrigen Südfrankreich gegenübergestellt. M. H.
schafft ein neues Mundartgebiet, indem sie die genannte Nordostgrenze von
der Einmündung des Tarn in die Garonne an zuerst dem Tarn und dann
ungefähr den Nordgrenzen der Departemente Haute-Garonne und Aude fol-
gen läßt. Dieses 'Südwestgallische' ist also gleich dem bisherigen Gaskogni-
schen, vermehrt um die diesem früher nicht zugerechneten Teile der De-
partemente Haute-Garonne und Arigge, sowie um das ganze Departement
Aude. In Anlehnung an Morfs Ideen wird die Entstehung dieser nordöst
liehen Grenze der uralten Handelsstraße Narbonne — Bordeaux zugeschrie-
ben. — Innerhalb des 'Südwestgallischen' wird eine Scheidung vorgenommen
in das Aquitanische, das dem oben Gaskognisch genannten ent-spricht, und
156 Beurteilungen und kurze Anzeigen
— mangels eines zutreffenderen Namens — das 'Südwestlanguedokisclie'.
Die der Garonne und der Ariöge folgende Grenze zwischen den beiden, die
M. H. an Wichtigkeit der oben besprochenen nachstellt, soll auf die eth-
nische Verschiedenheit (Gallier — Aquitanier) und auf die in jener Gegend
bis ins spätere Mittelalter vorhandenen tiefen Wälder zurückgehen.
Den sprachlichen Teil ihrer Beweisführung leistet M. H. nur an Hand
der lautlichen und lexikalischen Verhältnisse.
Der Teil, dem wir das größte Interesse entgegenbringen, ist naturgemäß
die Beschreibung und Umgrenzung des 'Südwestgallischen'. Hier, wo eine
neue Idee begründet werden sollte, mußte vor allem auf Präzision, auf genaue
Übereinstimmung der verschiedenen Isophonen und Isolexen geachtet wer-
den. Dievse Forderung ist nun aber in keiner Weise erfüllt. Die nicht zahl-
reichen Grenzen weisen in ihrem Verlauf so große Abweichungen von-
einander auf, daß von Bildung eines einigermaßen geschlossenen Dialekt-
gebietes keine Eede sein kann. Bald fällt ein Teil des Departements Aude
oder des Departements Haute-Garonne weg, bald werden — was noch viel
schlimmer ist — Teile der Departemente Herault, Lot, Tarn, Tarn-et-Ga-
ronne oder diese beiden letzteren ganz mit einbezogen, ja, einzelne Grenz-
linien greifen sogar bis in die Departemente Aveyron und Dordogne über.
Es ist klar, daß eine so große 'Bewegungsfreiheit' die von M. H. hier ver-
fochtene Idee tinannehmbar machen muß, auch wenn die angeführten laut-
lichen Erscheinungen stark einschneidend und alt wären. Das ist aber nur
ausnahmsweise der Fall, so etwa beim Nichteintritt der Synkope.^ Verfehlt
ist es auch, unter den 'Lautwandeln gemeingalloromanischer Art, in deren
Entwicklung der Südwesten auf einer älteren Stufe stehengeblieben ist',
etwa -it<C-ct- aufzuführen. Die darauf sich stützende Grenze trennt näm-
lich nicht etwa älteres -it- von seiner jüngeren Weiterentwicklung, sondern
von gleichaltrigem -tf- und entspricht ziemlich genau der von Suchier für
den Grundriß gezeichneten Karte VI. Weiter nordöstlich, z. B. in der
Auvergne, erscheinen denn auch, genau Suchier entsprechend, wiederum
Formen mit -it- (vgl. die Karte lait des ALF).
Ganz unglücklich ist sodann das die Isolexen darstellende Kapitel, das,
wie auch bei den anderen Abschnitten, in drei Teile zerfällt: 1. Grtippe:
Begriffe werden im Südwesten durch Wörter wiedergegeben, die das übrige
Gallien nicht kennt; 2. Wörter erscheinen in einer bestimmten Bedeutung
aufs Südwestgallische beschränkt, in anderem Sinne oder in Ableitungen
im übrigen Gallien; 3. Bezeichnungen, die einst in ganz Gallien auftraten,
aber heute auf den Südwesten beschränkt sind. Die folgenden Bemerkungen
mögen zeigen, wie mangelhaft hier die Beweisführung ist: Die unzweifelhaft
auf lt. p u p p a 'Brustwarze. 2 zurückgehende Wortfamilie von pupa 'allaiter'
ist axich sonst südfranzösisch, vgl. pr. poupa 'teter', lyon. jmpillon 'bout de
la mamelle', wald. pupa 'mamelle', forez. popelou 'bout du sein'. — Der
Name des Stechginsters, tujs, der übrigens auch in der Bedeutung 'bugrane'
vorkommt, scheint mir mit männlichem Geschlecht im prov. tuy, nizz. tucis
'Eibe' wiederzukehren (s. Rolland, Flore 11. 247). 3 — jaoga 'Stechginster'
gehört zu dem auch in Westfrankreich bekannten »jauga, das Meyer-
Lübke an die Spitze seines Artikels 4579 setzt. — klot 'mare' ist in Süd-
1 Gerade hier aber zeigt die Isophone eine von der vorgeschlagenen Dia-
lektgrenze sehr stark abweichende Form.
2 Wozu Indog. Forsch. 15, 62 zu vergleichen ist.
s Das vielumstrittene Wort scheint mir auf th u y a 'Lebensbaum' (klass.
t h y i a) zurückzugehen, zu dem ja auch die Formen der Pyrenäenhalbinsel
gut passen. Das prov. tvy würde dann der männlichen Form des Adjektivs
thyus (gr. &viog) entsprechen. Vielleicht ist auch direkt vom Griechi-
schen auszugehen.
Beurteilungen und kurze Anzeigen 157
f rankreich weitverbreitet und findet sich auch saü der von M. H. selber an-
geführten Karte creux in der Vendße und in der Schweiz. Warum wird
peskjte erwähnt, das d(x-ii auch altfranz. ist und auch den heutigen Mund-
arten nicht unbekannt ist, vgl. z. B. St. Etienne: pecheuri 'petit amas
d'eivu, bourbier'. — Das got. *koka 'Kuchen' hat auch weiter nördlich
Ableger zurückgelassen, so forez. couquccs 'espece de beignet', St. Etienne:
voitqucya 'beignet aux pommes'. — L a r 'foyer' ist wohl auch im Schweiz, le
sowie im aveyr. lart 'pav6 du foyer' wiederzuerkennen. — Dem gask. estalbja
'öpargner' entsprechen lyon. etogi, centr. e f auger, piem. strabid etc., die
allerdings im ALF nicht verzeichnet sind. — Schon ein Blick auf Meyer-
Lübke, REW 4687 hätte gelehrt, daß die Wortsippe von kekeja in ganz
Frankreich verbreitet ist. mekeja gehört zu mek 'bögue', das apr. vielleicht
"muef bedeutet und von Bertoni, Annales du Midi 20, 401 auf gr. urxfh
zurückgeführt wird. — Der Typus *mansionaticum, der ähnlich wie
mansiouata ursprünglich die ganze Familie, dann die Kinderschar be-
zeichnet und schließlich seine kollektive Bedeutung verloren hat, kehrt auch
im poit. mein<ige 'enfant' (Laianne) wieder. — Goujat 'Knabe' findet sein
Gegenstück in norm, goujart und ist in der Bedeutung 'jeune domestique'
weitverbreitet. — Unerklärlich ist mir, warum » a 1 b a r i s i 'saule' an-
geführt wird, das auf der Atlaskarte selbst bis ins Charente- und Creuse-
Departement hinaufreicht und in Nordfrankreich weitverbreitet ist, vgl.
z. B. Yonne: aube, bourb. aubier, bmanc. ob je. — Den Typus vitalba
'clematite' spiegeln auch sav. jable, waadtl. vizarbrc, limous. gizaubo, aveyr.
bidalbo etc. wider, wie übrigens zum Teil schon aus der Atlaskarte zu er-
sehen war. Vgl. auch die Rev. phil. frang. 23, 292 zusammengestellten For-
men. — Kaso 'louehe' ist nach Bedeutung und Ursprung identisch mit
argonn. casse 'poche en cuivre ä lougue queue', Me.sson: käs, sav. kassa 'id.'
usw. Vgl. Meyer-Lübke sub cyathos. — Buzigo 'jachere' ist das gall.
*bodica (Meyer-Lübke 1184) und hat nichts mit fodicare zu tun.
Es ist auch poit., limous., auvergn., wie schon aus der Atlaskarte zu ersehen
war, und kommt sogar bei Jaubert vor: boitige. Ebenso zeigt die Karte
vervactum auf einem ausgedehnten Gebiet. — Der Typus t h y r s u s
'morceau' ist noelx heute sehr weit verbreitet: Hyßres: tros (RLR 37, 312),
aveyr. troiios, b. lim. tro, lyon. forez. troc, fr. comt. trou, trö. — Für 'oublier'
sagt man auch in Nizza: denembra (R. Forsch. 9, 279).
Nicht viel zuverlässiger sind die für da,s 'Südwestlanguedokische' allein
aufgestellten Isolexen. So ist ancus 'hamegon' auch gask. (Gers: anquet,
bearn. anquede) und montböl. (anichot) und erscheint auf der Atlaskarte
im Berner Jura. — Cymbalum ist auch im aveyr. cimboul zur Bedeu-
tung 'clochette' gelangt. — Daß eskana 'ßtrangler' auch gask. und aveyr. ist,
zeigte ebenfalls der Atlas. — Rector 'curö' ist auch aveyr., bearn. und
dialektal nordfranzösisch, besonders bretonisch. — Ous 'chien', das in älterer
Zeit in ganz Gallien nachzuweisen ist, hat sich auch heute noch im bearn.
gos, im aveyr. gous, im wallon. go gehalten. — Tustuno 'poupee' reicht
zu weit ins gaskognische Sprachgebiet hinein, als daß es für das 'Südwest-
languedokische' allein in Anspruch genommen werden dürfte.
Weitaus am besten geraten ist der Abschnitt über das Aquitanische
(Gaskognische). Die Lautgrenzen gegen Nordosten wie gegen das 'Südwest-
languedokische' sind za.hlreich und einschneidend. M. H. bespricht hier,
und zwar glücklich, nicht nur die von Siiehier, Fleischer u. a. her bekannten
Lautzüge, sondern auch eine ganze Anzalil von ihr selbst zuerst aufgestellter.
Auch die Isolexen sind fast durchweg gut gewählt. Zu streichen sind etwa
die folgenden: stp 'champiguon', das auch im Dep. Aude noch vorkommt,
vgl. Rev. dial. rom. 5, 67; maxi IIa 'joue', das auch wallon., pikard..
gask. Form wäre übrigens nicht aubo, sondern aubä anzuführen.
158 Beurteilungen und kurze Anzeigen
champ., sav. ist; glmhelet 'vrille', das in h. manc. gumiblet, b. manc. gibls
etc. wiederkehrt; mansionata 'fille', das sich, auch sonst in galloroma-
nischen Mundarten noch findet, z. B. im Lothr. ; »^bot 'toupie', dessen Ab-
leitung von caepulla mir etwas zweifelhaft erscheint. Es müßte eine
maskuline Neubildung von hohem Alter sein, übrigens ist das Wort auch
limous. und ist sogar von Jaubert in sein Wörterbuch aufgenommen worden.
Erscheint hier die Beweisführung schon von einer ganz anderen Festigkeit
als im erstgenannten Teil, so ließe sie sich noch durch eine große Anzahl
lexikalischer Eigentümlichkeiten des Gaskognischen verstärken, welche M. H.
entgangen sind. Das mag hier mit Eücksicht auf den Haum unausgeführt
bleiben.
Von den Resultaten, die M. H. vermeint aus ihrer Arbeit ziehen zu kön-
nen, bleibt also nur die genaue Festlegung und Beschreibung der gaskogni-
schen Nordostgrenze. Ihre Führung entspricht auch jetzt noch der von
Luchaire vor mehr als vierzig Jahren aufgezeigten. Jedoch gebührt M. H.
das Verdienst, diese Grenze eindringlicher darzustellen, als es bisher ge-
schehen ist. Von dem historischen Teil ihrer Forschungen, der einen schar-
fen Blick für das Wesentliche und gute Belesenheit in den Geschichtsquellen
verrät, bleibt allerdings recht wenig mehr, was in Beziehung zu dem sprach-
lichen Teil gesetzt werden könnte. Da der Nachweis einer 'südwestgallischen'
Sprachscheide mißlungen ist, fallen ohne weiteres auch die Ausführungen
über deren Ursache dahin. Es wäre denn, man wollte dieselben für den Teil
der gaskognischen Nordostgrenze anerkennen, der mit jener Grenze zusam-
menfällt. Dann müßte man aber die sich als Einheit darstellende gas-
kognische Sprachgrenze als heterogen auffassen, was man ohne zwingenden
Beweis wohl kaum zu tun geneigt ist. Die vielen geschichtlichen Tatsachen,
die M. H. beibringt, können daher höchstens als sekundäre JMomente ge-
wertet werden. Die eigentliche Ursache der Sonderstellung der Gaskogne
innerhalb der Galloromania bleibt uns auch jetzt noch verborgen. Das Beste,
was hierüber gesagt worden ist, ist immer noch Caesars Wort: Oallos ob
Aguitanis Garumna flumen dividit. — Und noch eine weitere Erkenntnis
eröffnet sich uns aus der Kritik der vorliegenden Arbeit: Gesetzt auch, man
wollte die von Morf mit so großer suggestiver Kraft vorgetragene Theorie
über die Entstehung der französisch-provenzalischen Sprachgrenze auf Grund
der nördlich daran vorbeiziehenden Römerstraße ohne neue Überprüfung
annehmen, so müßte man sich doch hüten, zu glauben, daß nun jede wichtige
Verkehrslinie eine Sprachgrenze schaffen müsse. Ebenso lehrt dieses instruk-
tive Beispiel, daß auch die Bistumsgrenzen, deren dialektgrenzbildende Kraft
in vielen Fällen sicher erwiesen ist, nicht notwendigerweise die Grundlage
für die Entstehung der Mundarten abgeben: die Bistümer Bordeaux, Bazas,
Agen und Toulouse werden von der gaskognischen Nordostgrenze so ziemlich
mitten durchgeschnitten, während an ihrer Nordgrenze keine eigentliche
Dialekt-scheide liegt. Es kann eben auch in unserer Wissenschaft nie genug
betont und besonders Anfängern eingeschärft werden, daß man absolut vor-
aussetzungslos an die Tatsachen herantreten muß.
Es wären noch recht viele Einzelbemerkungen zu machen, die ich aber
mit Rücksicht auf den Raum unterdrücke. Auch würden sie den Allgemein-
eindruck der Arbeit nicht mehr beeinflussen. Nur die methodische Be-
merkung möchte ich mir noch gestatten, daß es ganz unmöglich ist, nur an
Hand des Atlas linguistique lexikologische Forschungen zu machen und
Grenzen festlegen zu wollen.
Erfreulich sind die äußerst klare und übersichtliche Darstellung und die
große Belesenheit in der historischen wie in der linguistischen Literatur,
durch die sich die Dissertation von M. H. auszeichnet.
Aarau. W. v. Wartburg.
Beurteilungen und kurze Anzeigen 159
Vicente Garcia de Diego, Elementos de gramatica histörica castel-
lana. Burgos '914. 322 p. 8°. 6 Pts.
Nach Anlage und Ausführung zu urteilen, sind die Elementos de gra-
mätica histörica castellana für Personen bestimmt, die einen ersten Einblick
in die Entwicklungsgeschichte der kastilischen Schriftsprache tun wollen,
darum also besonders für Studierende geeignet, aber auch all denen zu emp-
fehlen, die bei der Lektüre der Klassiker auf sprachliche Schwierigkeiten
stoßen. Der Verfasser hat der Darstellung der Syntax erfreulicherweise einen
breiten Umfang (ein Drittel des ganzen BuchesJ gegeben und dabei in erster
Linie den Sprachgebrauch der hervorragenden literarischen Denkmäler frü-
herer Zeiten berücksichtigt. Das Handbuch bildet eine willkommene Ergän-
zung zu dem (1920 in 4., verbesserter Auflage erschienenen) Manual clemcntal
de gramätica histörica espanola des Madrider Romanisten Menendez
P i d a 1 gerade wegen der bevorzugten Berücksichtigung der Syntax und
der Darstellung der Wortbildungslehre. Diese beiden Teile hat Menöndez
Pidal in seinem 'Manual' bekanntlich nicht behandelt. In der Art der Dar-
stellung von Laut- und Formeulehre gehen die genannten Verfasser ziemlich
auseinander. Während sich Garcfa Diego in seinem stofflich umfassenderen
Handbuch in der Auswahl von Belegen Beschränkung auferlegen mußte, auch
in der Beschreibung der laut- und formengeschichtlichen Vorgänge ziemlich
kurz zu fassen' hatte, konnte Men6ndez Pidal in seinem Manual weiter aus-
greifen und bei aller Einfachheit der Darstellung Eiuzelfragen und -probleme
besser herausarbeiten. Gleichwohl bringt das Buch von Garcia Diego gerade
in Laut- und Formenlehre manches Neue und Beachtenswerte. Darauf
möchte ich an dieser Stelle hinweisen. Der Verfasser benutzt Material, das
er durch eine aufmerksame Beobachtung der heutigen Volks-
sprache von Kastilien gewonnen hat, und zeigt an einigen wenigen,
aber sehr lehrreichen Beispielen, daß die Mundart des kastilischen Zentral-
plateaus sehr vorteilhaft zur Erklärung der Entwicklung der Schriftsprache
herangezogen werden kann und benutzt zu werden verdient. Als Einheimi-
scher, der in den Provinzen Burgos, Avila und Soria gelebt hat, war Garcla
Diego (dem wir übrigens auch eine recht gediegene Darstellung der Ele-
mentos de gramätica histörica gallega. Burgos 1909 [Laut- und Formen-
lehre] verdanken) besonders dazu berufen, auf einem 'campo tan förtil e
inexplorado', wie es die Volkssprache ist, Umschau zu halten und zu ernten.
Die Ergebnisse dieser dankenswerten Blütenlese sind in einem inhaltsreichen
Aufsatz der Revista de filologla espanola III (1916), 301—18 'Dialectalis-
mos' niedergelegt und schon teilweise in der Gramätica histörica espanola
verwertet. 'Pongo especial empeno en senalar la supervivencia de muchos
fenömenos cläsicos, y aun de la lengua primitiva, eu nuestra lengua actual,
especialmente en la hablada, donde persisten, ya lozanos, ya petrificados, no
pocos de los que son tenidos por arcaicos. Tambißn apelo con frecuencia al
testimonio de la lengua viviente para dar fe de diversos fenömenos (palabras
y fenömenos fonfiticos, morfolögicos y sintäcticos) , que por no hallarse o uo
ser frecuentes en la lengua escrita, no son registrados en los diccionarios ni
en las gramäticas: omisiön disculpable en los filölogos extranos que tra-
bajan sobre textos literarios, pero no en los nuestros que por desdön han
prescindido de est« tan fßrtil e inexplorado campo.' Mir will scheinen, daß
Garcia Diego auf gutem Wege ist. Man möchte nur wünschen, daß der eifrige
Sammler seine Arbeit fortsetzt. Erfolg kann ihm nicht ausbleiben.
Zu der Einleitung, in der die allgemeine Entwicklung der spani-
schen Sprache dargestellt wird, möchte ich folgende Ergänzungen und Ver-
besserungen geben, die vielleicht bei einer Neuauflage Verwendung finden
können: p. 30. Das Katalanische zu den provenzalischen Dialekten zu zäh-
len, ist nicht erlaubt. Die sprachlichen Unterschiede zwischen dem Süd-
KJO Beurteilungen und kurze Anzeigen
französischen und Katalanischen, die man bis jetzt schon in großer Zahl
nachgewiesen hat (vgl. Salow, Sprcwh geographische Untersuchungen über
den östl. Teil des kat.-lang. Grenzgebietes. Hambiirg 1912; Krüger,
l^prachgeographische Untersuchungen in Languedoc und Roussillon. Ham-
burg 1913; Spitzer, Syntaktische Notizen zum Catalanischen. Rev. de
dial. rom. VI (1914), 81 ff.,), sind bedeutsam genug, um dem Katalanischen
eine Sonderstellung einzuräumen. — p. 11, 14 hätte sich ein Hinweis auf die
wichtige Studie von Carnoy, Lo latim d'Espagne. 2e ed. Bruxelles 1906 emp-
fohlen. — ' Die Eigenart des dialecto navarro-aragones ist p. 12 nicht richtig
erfaßt. 'El navarro-aragonös con feuömenos comunes con el catalän ha sido
casi absorbido por la iuvasiön del castellano.' Von einer eigentlichen Be-
einflussung durch das Katalanische kann nur in einer gewissen Grenzzone
gesprochen werden (vgl. jetzt Griera, La frontera catalano-aragonesa.
Diss. Zürich. Barcelona 1914), im übrigen zeigt die Mundart doch selb-
ständigen Charakter. Man darf wohl über die heutige Sprache in den ara-
gonesischen Tälern noch weit umfassendere Mitteilungen erwarten, als sie
Saroi'haudy^ in seinen Artikeln gegeben hat.
In dem lauthistorischen Teil fällt öfter eine nicht ganz klare
Ausdrucksweise auf, die Mißverständnisse bei dem Leser hervorruft. Gänz-
lich unverständlich ist u. a,, was p. 26 Z. 1 — 2 über den früheren Laut-
wert von c, g im Gegensatz zu z gesagt wird. 'C dental y f eran mäs
fuertes que z, de un sonido igual o semejante al actual de c, z', ebenso
die Bemerkung p. 25 über Nasal vor bilabialem Verschlußlaut 'm ante
oonsonante tiene el sonido de n, como combate (conbate)'. — Unbefriedigend
ist das Kapitel über Diphthongbildungen (p. 30 ff.) : z. B. p. 31 A. 2 'La
diptongaciön tiende hacia el oscurecimento de la. vocal mäs debil, antiayer,
cranio, Buadil, etc.', wo es sich einfach um die Erscheinung handelt, die ich
'Studien' p. 130 besprochen habe. p. 32 "la dislocacion del acento Ueva
a la diptongaciön, como judex [sie!] jüez juez, r e g i n a reina reina' usf.
Die Frage der Akzentuierung zweier unmittelbar aufeinander folgender
Vokale im Spanischen ist so schwierig und dabei so wenig untersucht, daß
sich vor allem empfiehlt, bei Erörterungen über diesen Gegenstand eine Tin-
zweideutige Ausdrucksweise anzuwenden. — § 62, 2 'Una yod pucde ascurecer
[sie!] las vocales anteriores e, o' Beispiele: s ep i a > ;i&ia, *renione>
rinon ... — § 62, 3 'Por asimilaciön de la i implicita (!) de las consonantes
paladiales ie se reduce a i ante IV castiello > castillo usw. —
§ 32 A. 5 macht D. darauf aufmerksam, daß auch in Kastilien der Wandel
von fue- zu jue- eintrete (juerte, juerza, juera) und geht dabei auf die Ent-
stehung dieser Formen ein 'yo sospecho que ante «e de huertc la h adquiriö
un sonido distinto, acaso mäs fuerte que en los demäs casos de hacer, hijo.
y que mirada desde antiguo esa pronunciaciön como un vulgarismo, se usaba
y triunfö al fin la f, quedando relegada a la plebe la. pronunciaciön juerte,
juerza'. Wenn der Wandel von fue > [hwe-] (nehmen wir diese Lautung für
die zweideutige Graphie jue- in Hinblick auf das gleichzeitig genannte hue-
an) nicht so verbreitet ist wie der von f a- > [ha-] (f acere > hacer usf.),
so hat dies seine guten Gründe: die langandauernde intensive Lippentätig-
keit bei Aussprache eines [fwe-] läßt die Senkung der Unterlippe bei [f-],
die letzten Endes zu [h-] führt, nicht zu (V e r f., Studien zur Lautgeschichte
'westspanischer Mundarten p. 181). Der Wandel von fue- > htie- ist nicht
allgemein durchgedrungen und hat in der älteren Schriftsprache nur ver-
einzelt seinen Ausdruck gefunden, an einen bewußten Verzicht auf die
Aussprache hjie- vermag ich demnach nicht zu glauben. Die Annahme eines
1 Garcia de Diego hat neuerdings in einem folleto 'Caracteres
fundamentales del dialecto aragonös', Zaragoza 1918, 18 p., zusammengestellt,
was wir über das Aragoni.sche wissen.
.
Beurtfilungen und kurze Anzeigen 161
'besonderen Lautos' wird überflüssig. Es sei bemerkt, daß fuc- auch zu
[xwe-] werden kann, entweder über [liwe-J oder aus [fwe-] unmittelbar (vgl.
Studien § 234 und im Anschluß hieran Rev. de filologfa espanola III, 305).
§ 41 A. 4 wird die Entwicklung von vulture > butrc, multu > mu
besprochen und die Frage aufgeworfen, ob hutre, mu auf huitre, inuy zurück-
gehen oder aber direkter \'erlust des ursprünglichen vorkonsoua.utischen l
anzusetzen ist. Ich vermag mich zu dieser letzteren Auffassung nicht zu be-
kennen, da uns 1. die Zwischenstufen huitre, muy usw. belegt sind und
2. neben der Kurzform [mu] auch [mi] steht. Beide sind aus proklitischem
muy herzuleiten. Vgl. Studien § 317.
§ 58 S. 55. matarlo [matnhlo]. Haben wir es wirklich mit einem laryn-
galen Aspiranten zu tun?
§ 63, 7. Ich habe Studieii § 73 versucht, den Wandel fruente > frente,
culuchra > eulchra usw. zu erklären. Meine Deutuug wird von Ronjat,
RLR LIX (1916), 123 ohne Angabe von Gründen abgelehnt.
s- bleibt bekanntermaßen im Kastilischen zumeist erhalten. Mitunter
wandelt es sich zu [x-] : s e r i c a > jerga, s e p i a > jihia; s u c u > jugo,
SucT o ^ Jiicar; s ap o n e > jobön, S a 1 o n e > JaZ(5?i. Die Erklärung
für diese Veränderung macht Schwierigkeiten. Vielleicht tragen die folgen-
den Bemerkungen zur Lösung der Frage bei. Menendez Pidal (Ma-
nual2 p. 72) und Haussen (Gram. hist. § 110) denken an den Einfluß
eines fremden Lautsystems. Die Untersuchung der Mundarten der iberi-
schen Halbinsel führt jedoch zu der Erkenntnis, daß es sich bei dem Wandel
um eine solche Einwirkung von außen im allgemeinen nicht handeln kann.
Sowohl im Katalanischen^ wie im Spanischen und Portugiesischeu begegnet
der Wandel. Wörter machen ihn durch, wo es schwer hält, arabischen Ein-
fluß anzunehmen. Zu den Daten, die ich Studien p. 164 — 168 gegeben habe,
bringt Garcia Diego § 32, 4 und A. 6 beachtenswerte Ergänzungen.
Unabhängig voneinander kommen Castro, Rev. de filologla espanola I,
102, Garcia Diego und ich selbst (1. c.) zu dem Schluß, daß ein organischer
W^andel kaum bezweifelt werden kann. Sehr richtig bemerkt Garcia Diego:
'es poco creible que una influencia extrana haya llegado a palabras tan
idiomäticas como jurco, presentando aün mayor vitalidad que en castellano en
regiones que como Galicia han recibido muy atenuada esta influencia, como
aal via sarja, jarja, saxu seijo, jeijo, sartor sastre, jastre, sabulu
sabre, jähre, sorna, jorna, soca soga, Joga, sargas, jargas, sibilu silgaro,
jilgaro, etc.: estas vacilaciones que existen en el castellano actual, como
sorba serba, jerba, sardo, jardo, ex amen ensambre, enjam,bre, sirle, jirlc,
chirle, repartidas en localidades distintas de Burgos, y otras con relaciön
a la lengua antigua, como sueu sugo en Covarrubias, med. jiigo, inducen
mäs bien a pensar en un fenomeno interno: jugo, julnta, pueden haberse
producido bajo la influencia de enjugar, enjabna' (p. 38 A. 6). Ca.stro
1. c. denkt an eine spontane Palatalisierung entsprechend l-, n- im West-
spanischen.
Ich habe bereits Studien p. 165, 166 und Rev. dial. rom. VI, 231 darauf
hingewiesen, daß die auf s- folgenden Vokale von bestimmendem Einfluß ge-
wesen sein mögen, und werde in dieser Auffassung durch Beobachtungen, die
jüngst in anderen Teilen der Tlomania gemacht worden sind, bestärkt. Hinzu
kommt, daß die Natur des spanischen s- einem Wandel in der Richtung auf
[s] günstig ist.
Leider sind wir über die Artikulation des [s] auf der iberischen Halb-
insel noch nicht so unterriclitot, wie man wohl wünschen möchte. So viel
scheint aber festzustehen, daß es im allgemeinen [s] näher steht als etwa
1 Vgl. noch Boll. del Dicc. de la lleng. cat. VIII, 263 ; 239.
Archiv f. n. Sprachen. 140. -i i
162 Beurteilungen und kurze Anzf?igen
französisch s-.* [s] trägt gewissermaßen den Keim zu einer
Verschiebung in der Richtung auf [s] in sich-
Damit wird der Übergang von [s-] > [s] verständlich. Vollends begrei-
fen wir den Wandel, wenn auf [s-] Vokale wie [i] oder [u] folgen. Deren
Natur begünstigt diese Veränderung. Studien § 217 und Literaturbl. f. germ.
u. rom. Phil. 1918 p. 125 habe ich zu erklären versucht, weshalb auf [s-]
folgender Palatalvokal (in erster Linie [i]) den Wandel [s-] > [§-] be-
günstigt. Zu der auf romanischem Gebiet nicht seltenen Erscheinung hat
neuerdings Zaun, Die Mundart von Aniane (1917) §§ 144 b, 226 inter-
essante Daten beigebracht: er hat im Languedokischen eine Zwischenstufe
[§i] zwischen [si] und [si] nachgewiesen, ähnlich Bruneau.
Andererseits findet der Wandel [su-] > [su-], dem ich in Extremadura
begegnet bin {Studien § 216: sticia [su;^a], smi/o [suza], sndando [suando],
suegro [sw^gru] gegenüber seis [sqI], [sal], sortija [sQrtiha]), eine auf-
fallende Parallele in Ardennenmundarten. Bruneau, Etud. phon. des
patois d'Ardenne (1913) stellt § 230 S. 388 ausdrücklich fest, daß Ts arden-
nais diffßre sensiblement de Vs parisien' [vgl. das oben über die Daten des s
der Iberischen Halbinsel Gesagte] und findet §§ 235, 241 die nämlichen
Grundlagen für die Veränderung des s-, wie wir sie auf der Iberischen Halb-
insel festzustellen Gelegenheit haben : s kann zu [s] vor [i] , [ü] und [u]
werden : [suf] soufre, [sufl] souffle, [suflo] sifflet, [sur] source usf. 'La r6-
partition irrßguliöre des exemples [man denke an den heutigen Zustand in
Spanien! !] montre bien qu'il s'agit d'un ph6nom§ne secondaire et de carac-
töre local ... II ya, en r6alit6, labialisation,'^ et uon palat-alisation de Vs,
comme le montre la nature des voyelles devant lesquelles se produit r6-
guliörement ce changement: dans la rögion ardennaise les exemples sont
particuliörement fröquents devant [u], qui exige un avancement et arron-
dissement des lövres trös marqu4. Cette voyelle se prononce avec la pointe
de la langue 6tendue sur le plancher de la bouche et la racine de la langue
relevße vers le fond du palais: cette position est assez semblable ä celle
qu'exige le [s].' Man kann über diese letztere Bemerkung anderer Meinung
sein, die Veränderung erfolgt aber in den Ardennen unter genau den
gleichen Umständen wie im Spanischen.
Auch in der Lunigiana (dem oberitalienischen Dialekt, der Charakter-
züge des Ligurischen, Emilianischen und Toskanischen in sich vereint,) ist
letzthin von Giannarelli, Rev. de dial. rom. V (1913), 294 der Wandel
von [su] > [su] (neben dem Wandel von [si-] > [si-]) nachgewiesen wor-
den: subia, sugo.
Diese Tatsachen müssen uns in der Auffassung bestärken, daß die Ver-
änderung des [s-] auf der Iberischen Halbinsel im allgemeinen einen orga-
nischen Wandel 3 dar.stellt. Noch vermögen wir nicht zu über.schauen, wes-
halb manche Wörter die Veränderung mitgemacht haben, andere dagegen bei
[s-] stehengeblieben sind. Auch die Verbreitung des Wandels genau fest-
zustellen, bleibt späterer Forschung vorbehalten. Auch bleibt festzustellen,
weshalb von [s] aus eine Entwicklung in zweierlei Richtung, zu [x] und zu
[e], eingetreten ist. Noch ist mit anderen Worten über die Frage das letzte
1 Josselyn, Phon. esp. p. 97 — 98. — Colton, Phon. cmt. p. 124:
'La consonne s a une articulation assez 61oign6e des dents en castillan';
Schädel, Rev. de dial. rom. I, 23 A. 1 : 'Rillenbildung durch das Zungen-
blatt ... jedoch Reibung am Zahnfortsatz ; die in Spanien weitverbreitete
Variante des [s] , dem [.s] näherstehend.' — Neuerdings NavarroTomäs,
Manual de pronunciaciön espanola, 1918, p. 82 — 83.
i Vgl. über das labiale Element in s MiUardet, RLR LX, 77, 78, 88.
8 Wie in griechischen Dialekten. Vgl. Pernot, Etudes de linguistique
nöo-helienique I, 1907, p. 283—286.
Beurteilungen und kurze Anzeigen 163
Urteil nicht gesprochen. Von einer intensiven Bearbeitung der spanischen
Mundarten erhoffen wir auch für sie wertvolle Aufschlüsse. Immerhin schien
es mir an der Zeit, über die allgemeine Entwicklungstendenz aufzuklären.
Hamburg. Fritz Krüger.
Ludwig Pfandl, Robert Southey und Spanien. Leben und Dich-
tung eines englischen Romantikers unter dem Einflüsse seiner
Beziehungen zur Pyrenäischen Halbinsel. (Extrait de la
Revue Hispanique, tome XXYIII.) New York, Paris 1913.
315 S. 8«.
Von den englischen Romantikern hat sich wohl Southey am eingehendsten
mit spanischer Sprache und Literatur befaßt. Neben seinen durch die spa-
nische Literatur angeregten Dichtungen sind es auch zwei historische Werke,
die sein tiefgehendes Interesse für die Pyrenäenhalbinsel bekunden. Leider
ist aber die 'Geschichte Portugals' noch ungedruekt und in unzugänglichem
Privatbesitz. Solange diese aber nicht veröffentlicht ist, wäre es verfrüht,
über Southey als Geschichtschreiber der Pj-renäenhalbinsel zu urteilen, da
sein zweites historisches Werk, die 'Bistory of the Peninsular War', weniger
eine historische Untersuchung darstellt als eine Hetzschrift gegen Napoleon.
Sie ist auch nicht die Frucht seines Hispanismus, sondern verdankt der teil-
nehmenden Beobachtung an den zeitgenössischen Ereignissen ihre Ent-
stehung. Southeys Beziehungen zu Spanien und Portugal können also nur
aus seinen dichterischen Werken und seinen zahlreichen Briefen erschlossen
werden, die Pfandl genau und eingehend durchforscht hat.
Zunächst drängt sich jedoch die Frage auf: Durch welche Umstände kam
Southey mit Spanien in Berührung? Pfandl hat die Beantwortung dieser
Frage in einem ersten Kapitel: 'Southeys persönliche Beziehungen zur
Pyrenäischen Halbinsel. Die chronologische Entwicklung seines Hispanis-
mus' behandelt, dem sich ein zweites: 'Spanien in Southeys Dichtung' an-
schließt.
I. Southey war von seinem Onkel, Herbert Hill, der in Lissabon lebte,
eingeladen worden. Der junge Dichter verläßt England im Jahre 1795, lan-
det in Coruüa und reist von hier über Lugo-Ponferrada nach Madrid, wo er
am 2. Januar 1796 ankommt. Aber infolge des kalten Wiuterklimas währt
der Aufenthalt nur zehn Tage. Dann geht die Reise über Badajoz nach
Lissabon. Southeys Onkel hatte in langen Jahren eine an gedruckten und
ungedruckten Schätzen reiche Bibliothek gesammelt, die von Southey weid-
lich ausgenützt, gelesen, übersetzt und exzerpiert wurde. Aber das Heimweh
nach England, wo er seine ihm kurz vor der Abreise angetraute Edith ge-
lassen hatte, erfaßte ihn allmählich so stark, daß er schon am 5. Mai Lissa-
bon wieder verließ und direkt nach Portsmouth fuhr. Seine Gesundheit
machte bereits drei Jahre später eine Reise nach dem Süden notwendig. Am
1. April 1800 erst konnte Southey, diesmal mit seiner Frau, die zweite Reise
nach Lissabon antreten. Dort und in Cintra kräftigte sich seine Gesundheit
zusehends. Im Februar 1801 wurde eine kleine Reise nach Coimbra gemacht,
die über Thomar und Santarem wieder nach Lissabon zurückführte. Auch
in den südlichen Teil Portugals kam Southey im April. Unterdessen waren
aber die Zeiten trübe geworden. England stand mit Portugal auf dem
Kriegsfuß, Edith und Southeys Mutter drängten zur Heimkehr. So kehrte
das Ehepaar Southey im Juni 1801 auf dem direkten Seeweg nach England
zurück. Es sollte Southeys letzter Aufenthalt auf der Halbinsel gewesen
sein. In England gelangten die Früchte seiner Eindrücke und Studien zur
Reife. Pfandl unterscheidet zwei Perioden in des Dichters Schaffen, die
epische (1795 — 1814) mit den Hauptwerken 'Amadis' (1803), 'Palmerin'
11*
164 Beurteilungen und kurze Anzeigen
(1807), (Cid' (1808), 'Rodrigo' (1814) und verschiedenen kleineren Gedichten,
dann die historisch-biographische (1814 — 1843), in die die un-
veröffentlichte 'Geschichte von Portugal' und die 'Geschichte des Peninsular
War' fällt. Gründlich und eingehend legt uns Pfandl dar, wie Southey
Hispanist geworden ist, welches die Entstehungsgeschichte der einzelnen
Werke ist, welche Pläne Southey außerdem noch beschäftigten und welches
seine Beziehungen zu zeitgenössischen Hispanisten (Lord Holland, Walter
Savage Landor, John Hockham Frere) waren.
II. Literarhistorisch ist der zweite Teil der Studie: 'Spanien in Southeys
Dichtung', am wertvollsten. Hier zeigt sich Pfandl als gründlicher Kenner
der ganzen einschlägigen Materie und als Meister des Wortes, dessen Dar-
stellung man mit ungemindertem Interesse bis zum Schlüsse verfolgt. So
ziehen von Southeys selbständigen Dichtungen 'La Caba', 'Roderick the Last
of the Goths, ein verfehlt aufgebautes Epos, 'The Pilgrim of Compostella',
'eine kulturhistorische Satire ersten Hanges', 'Queen Marys Christening',
'eine einfältig fromme Legende zur Satire umgedicht«t', an uns vorüber. Bei
Southeys freien Übersetzungen: dem 'Amadis', der 'Chronicle of the Cid',
dem 'Palmerin of England', legt die Untersuchung dar, wie sich Southey
seinen Quellen gegenüber verhalten hat und worin sich nach Inhalt und
Form seine Übersetzungskunst zeigt.
In einem imifangreichen Schlußkapitel wird die Frage untersucht, in-
wieweit Southeys Beziehungen zu Spanien für seine Beurteilung als Mensch
und Dichter von Bedeutung sind. So ist z. B. seine nicht nur dichterische,
sondern auch kritische Beschäftigung mit der mittelalterlichen Literatur
und ihren Problemen ein Zug von Southeyscher von Spanien beeinflußter
Romantik, wie ihn ähnlich höchstens noch Walter Scott besaß, wie er indes
Byron, Shelley, Wordsworth, Keats gänzlich mangelte.
Vielleicht würde es sich auch lohnen, Southeys Einfluß in Spanien nach-
zugehen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Duque de Rivas z. B. von
Walter Scott und Southey Anregungen empfing.
Würzburg. , AdalbertHämel.
Eva Seifert, Zur Entwicklung der Proparoxytona auf 'ite, ~ita,
~itu im Galloromanischen. Berliner Dissertation 1919. 121 S.
Vorliegende Untersiichung einer Gruppe von Proparoxytonis auf gallo-
romanischem Gebiet verdient im ganzen Lob. Ausgegangen wird von den
heutigen Formen, soweit sie sich auf Grund des Atlas linguistique, von Dia-
lektwörterbüchern und einzelsprachlichen Darstellungen ermitteln lassen,
jedoch erfahren auch die mittelalterlichen Reflexe gebührende, wenn auch
nicht immer ganz ausreichende Berücksichtigung. Den einzelnen in Betracht
kommenden Wörtern werden als Anhang die Proparoxytona mit t und r in
den Nachtonsilben angeschlossen. Es stellt sich zunächst heraus, was frei-
lich für viele längst ausgemacht war, daß eine Scheidung in Maskulina und
Feminina keine Berechtigung hat, und die Neumann-Gierachsche Theorie,
daß bei a der Ultima Synkope früher eintrete, der Grundlage entbehrt.
Weiterhin erhalten wir als allgemeingefaßtes Ergebnis für den Süden: Vor-
wiegende Synkopierung auf stimmhafter Basis mit Landschaften im Osten,
die Neigung zur Umgehung der Synkope und in ihren heutigen Formen
Akzentverschiebung aufweisen (Südosten); im Frankoprovenzalischen : über-
wiegen stimmhafter Gebilde (im Südosten Unterbleiben der Synkope) : für
den Norden: im Osten Unterbleiben der Synkope (Sonorisierung der Ex-
plosivlaute), während das Zentrum und der Norden durch Synkope auf
stimonloser Basis gekennzeichnet wird und die westlichen Landschaften Syn-
kope auf stimmhafter Basis zeigen.
Im einzelnen sei folgendes bemerkt. Es fällt auf, daß bei der Durch-
Beurtt'ilungon und kurze Anzeigen 165
mustening der einschlägigen Literatur die Verfasserin für die Dissertationen
von Wendel und Herford ein fremdes Urteil anführt, statt ein eigenes zu
äußern. Auch ist e^ nicht ganz richtig, daß ich im E.-B. die Proparoxytona
ohne Gliederung irgendwelcher Art aufführe; eine solche ist § 61
wenigstens angedeutet (Liquiden), wozu denn auch das von der Verfasserin
S. 29 Gresagte stimmt. Warum wird prov. anta S. 5.5 nicht erwähnt, und
worauf gründet sich die Behauptung, daß haunipa 'entweder spät eindrang
oder überhaupt nicht als volkstümlicher Begriff gefaßt werden kann' (S. 113)?
Caiuwpem oder cannapum (S. 30, 121) bedarf eines Sternchens, a.uch hätte
der Meinung von Thomas, Essais S. 409, daß diese Form vielleicht sinapem
ihre Entstehung verdanke, gedacht werden können. Wo ist cambita (S. 46)
belegt? Frz. chaintre kann weder von *camit€m noch von *camiita kommen
(S. 46 Anm. 6), s. Thomas, Mßlanges S. 45. Man vermißt S. 52 die alt-
französischen Reflexe von culcita, S. 56 afrz. muete < *movita, S. 57 prov.
perda, venda, renda (perdoa, vendoa, redoa), s. E.-B. § 60 und 157, Appel,
Prov. Lautlehre § 41c, 60 d und vgl. Archiv 135, 474, ferner S. 61 das
häufige afrz. andain. S. 68 Abschnitt 2 wird etwas als sicher hingestellt,
was kurz vorher (S. 68 oben) nur gefragt wird. Ein prov. espirt (S. 91)
kann nicht ein Deverbale von spirare sein. Da bei Berger, Lehnwörter
S. 129 afrz. espirt nur mit Sternchen erscheint, so hätte es sich empfohlen,
auf die wenigen Belegstellen hinzuweisen ; ich kenne nur Godefroy III, 533a
und Brandan (Bartsch und Horning, Langue et litten Sp. 75, V. 12). Die
Deutung der Form befriedigt übrigens nicht recht. Ziemlich kühn ist die
Meinung, daß nichts hindere, gask. maläu als aus altem malave {malauel)
erwachsen anzusehen, indem e in dem Diphthongen aufgegangen sein soll.
Jena. 0. S c h u 1 1 z - G o r a.
A. Lombard, La correspondance de l'abbe Du Bos. (Ouvrage con-
tenant 3 fac-sim.) Paris, libr. Hachette, 1913. 90 S.
Ders., L'abbe Du Bos. Un initiateur de la pensee moderne (1670 —
1742). (Ouvr. renferm. un portr. une planche hors texte et
3 fac-sim. d'autogr. Ebenda 1913. YIII, 614 S.
Mehr als zehn Jahre sind verstrichen, seit Lombard in einer ausgezeich-
neten kleinen Schrift über die Querelle des anciens et des modernes die erst«
Frucht seiner Du Bos-Studien vorlegte. Die umfangreiche Dissertation, die
nachher aus ihnen erwachs, setzt dem klugen, auf so viel Gebieten heimi-
schen Abb4 das Denkmal, das er längst verdient« — er,, den der Untertitel
mit Eecht als Bahnbrec-her rühmt und der beinahe zu den großen Schrift-
stellern des 18. Jahrhunderts zählen könnte, wenn er etwas mehr Phantasie,
Künstlerblut, Sinn für Stil und literarische Wirkungen besessen hätte. Die
Nebenthese gibt, chronologisch geordnet, ein Inventar der Briefe von und
an D., von denen L. ein paar schon edierte, aber schwer zugänerliche abdruckt,
ferner die unedierten, von ihm entdeckten. Sie sind zum Teil recht inter-
essant, so der ausführliche an Bayle (August 1696) und die folgenden Be-
richte an dieselbe Adresse. Die Korrespondenz hat auch Interesse für die
Biographie von D., die bisher nur schlecht bekannt war, da man aus einer
einzigen und noch dazu unzuverlässigen Quelle schöpfte (einer manches ab-
sichtlich entstellenden Denkschrift für den Prozeß, den seine Schwester um
die Erbschaft anstrengte), und die nun L. zwar auch nicht lückenlos, aber
in den wesentlichen Zügen auf Grund einer Fülle von mühsam zusammen-
getragenem Material aufbaut. Der I. Teil zeichnet das Bild von D.s Persön-
lichkeit und der rastlosen Tätigkeit, die er als Gelehrter, Kritiker, Polomist,
als Mitglied der Akademie und (ab 1722) ihr secr^taire perp<5tuel, als Po-
166 Beurteilungen und kurze Anzeigen
litiker und Diplomat (Gehilfe und Berater des Kardinal-Ministers Dubois)
in Frankreich und auf Reisen nach England, Holland, Italien, der Schweiz
entfaltete. Daß die Lebensgeschichte eines geistig so überaus regen Mannes,
der Beziehungen zu so verschiedenen Kreisen unterhielt, von dem Bayle und
Voltaire sich Belehrung holten, zugleich ein fesselndes Stück Kultur- und
Geistesgeschichte spiegelt, versteht sich von selbst, und man muß sich wun-
dern, daß die französische Forschung ihm nicht schon früher mehr Beachtung
geschenkt hat. Schon durch seine historischen Arbeiten hätte er Anspruch
darauf gehabt, namentlich durch sein historisches Hauptwerk, die Histoire
critique de la monarchie francaise (1734), die methodisch ebenso bedeutsam
ist wie inhaltlich als erste Studie über die Übergangszeit zwischen dem Zu-
sammenbruch der römischen Herrschaft in Gallien und dem sich allmählich
formenden Königtum Frankreich. Im III. Teil behandelt L. die Geschichts-
auffassung von D. und den starken Einfluß, den sein Romanismus in Europa
ausgeübt hat, umreißt darin auch den nicht geringen Anteil, der D. an der
Entwicklung der Geschichtschreibung zur Wissenschaft zukommt, da er seine
Darstellung auf den soliden Unterbau sorgfältiger Dokumentierung stützt
und moralische wie religiöse Erwägungen (freilich nicht die politischen)
ausschaltet.
Den Literarhistoriker interessiert am meisten D.s Ästhetik, mit der sich
der II. (breiteste) Teil von L.s These beschäftigt. In 7 Kapiteln untersucht
L. die Rgflexions critiques sur la poßsie et sur la peinture, ihre Entstehung
und Gliederung, die Hauptgedanken und ihr Werden, D.s Verhältnis zur
klassischen Poetik und die Wege, auf denen er, besonders von englischen
Denkern, Locke. Addison, wohl auch Shaftesbury, beeinflußt, zu seinem
Sensualismus gelangt ist. Weitere 6 Kapitel untersuchen die Nachgeschichte
der Rgflesions, den Widerhall, den sie fanden, in Frankreich bis tief ins
19. Jahrhundert, in Italien, in England, in Deutschland, wo die Anregungen
von D. auf den fruchtbarsten Boden fielen und wo seine Autorität die Herr-
schaft des französischen klassizistischen Geschmacks lange überdauerte, da
er gerade im Kampf gegen den Klassizismus wertvolle Waffen lieferte, auch
einem Lessing, der ihm offenbar mehr verdankt, als man bisher annahm.
Wenn L. im Vorwort sagt, eine vollständige Geschichte der Röflexions würde
zugleich eine Geschichte alles dessen sein, was über literarische Kritik und
Ästhetik überhaupt geschrieben worden ist, so übertreibt er kaum, da viele
von D.s Ideen so sehr Gemeingut geworden sind, daß sie auch bei Kritikern
wiederkehren, die nicht bewußt auf ihnen fußen, wie z. B. Taine. Die Über-
setzungen der Röflexions ins Englische, Holländische, Deutsche geben nur
eine schwache Ahnung von ihrer universellen Verbreitung, da der Urtext in
den zahlreichen französischen Ausgaben, die der ersten von 1719 folgten
(darunter auch eine in Deutschland erschienene von 1760), in allen Händen
war. — Das Schöpferische, das, worin D. vom Klassizismus abbiegt und
über ihn hinaus die moderne Ästhetik anbahnt, wird vornehmlich durch die
zwei folgenden Tatsachen charakterisiert: 1. durch den Bruch mit dem klas-
sizistischen Rationalismus, da D. nicht mehr die Vernunft als oberste Rich-
terin in Kunstdingen anerkennt, sondern das ästhetische Gefühl, und zwar
Gefühl nicht als intellektualistischen Prozeß gedeutet, sondern als sinnlichen,
als die Arbeit eines sechsten, dem Geruchs- oder Tastempfinden entsprechen-
den Sinnes; wie D. sich diesen Prozeß denkt, veranschaulicht sein kühner
Vergleich mit einem Ragout, bei dem niemand mit Überlegungen und Vernunft-
schlüssen operiert, um festzustellen, ob es gut oder schlecht schmeckt. Und
2. durch den Bruch mit dem klassizistischen Dogmatismus, da D. das Pro-
gramm einer Kritik entwirft, die zwar auch allgemeine Gesetze der Kunst
anerkennt, aber sie nicht mehr aprioristisch postuliert, sondern aus der Er-
fahrung ableitet und in ihnen keine unfehlbaren, unwandelbaren, absolut
verpflichtenden Regeln sieht, sondern nur die Formulierung der Bedingun-
Beurteilungen und kurze Anzeigen 167
gen, unter denen ein Werk gefallen kann. Den vielerlei Konsequenzen nach-
zugehen, die sich aus diesen beiden Leitsätzen ergeben, würde hier zu weit
führen. L. zergliedert auf das genaueste das System im ganzen wie jede ein-
zelne Auswirkung (Begriffsbestimmung des ästhetischen Lustgefühls, Auf-
fassung vom Verhältnis zwischen Dichtkunst und Malerei, Stellungnahme
zum Problem des Fortschritts, im Streit um die Oper, Klimatheorie etc.,).
Er zeigt ebenso bestimmt, wo seine Verdienste liegen wie seine Grenzen,
worin das Befangensein in zeitgenössischen Vorurteilen ihn hindert, seine
Erkenntnis zu Ende zu denken.
Eins wäre m. E. noch schärfer zu betonen gewesen, als L. tut: nämlich
daß D. mit dem Dogmatismus durchaus nicht so radikal bricht als mit dem
Intellektualismus. Mir scheint, L. sieht jenen zu ausschließlich an diesen
gebunden. Das war allerdings der Fall im Klassizismus, wo die Autorität
der Regeln unmittelbar aus dem Glauben an eine absolute, durch die Ver-
nunft erkennbare Wahrheit floß. Aber Voraussetzung für eine dogmatische
Ästhetik ist doch nur, daß an irgendeinen absoluten Maßstab geglaubt wird,
gleichviel, wie er beschaffen ist und ob er mit Hilfe der Vernunft oder des
Gefühls oder eines anderen Organs eruiert wird. Bei D. rückt das Gefühl in
das Amt, das bei Boileau die Vernunft verwaltete. Und wenn er auch viel
mehr historisch und viel weniger spekulativ denkt und mit seiner Klima-
theorie einen kraftvollen Anlauf nimmt, die Abarten des Genies und des
literarischen Empfindens in ihrer zeitlichen und geographischen, physischen
Bedingtheit zu erfassen, so hat er doch ernste Mühe, die literarische Tole-
ranz zu betätigen, zu der er sich bekennt. Die normativen Eierschalen kle-
ben ihm noch an.^ Seine Lehre mündet in einen Relativismus oder (im Hin-
blick auf den nationalen Charakter jeder Literatur gesprochen) in einen
Kosmopolitismus, von dem das 17. Jahrhundert sich noch nichts träumen
ließ. Aber der Schritt von der Lehre zu ihrer Anwendung fällt ihm äußerst
schwer. L. weist selbst darauf hin, daß D. sich nicht aufschwingen kann,
Ronsard gerecht zu werden, d. h. ihn historisch aus Ronsards Zeit zu be-
greifen.
Ein paar kleine Einwendungen, die man machen könnte, schmälern die
ansehnliche Leistung L.s in nichts. Man darf sie um so dankbarer begrüßen,
als seltsamerweise für die Erforschung der ästhetischen Theorien im 18. Jahr-
hundert, in der entscheidenden Zeit der Zersetzung des Klassizismus, noch
herzlich wenig geschehen ist. Bedenken erregt nur die Dickleibigkeit des
Buches. Sie ist vor allem deshalb zu bedauern, weil man den Eindruck nicht
los wird, daß die Darstellung erheblich an Klarheit gewonnen hätte, wenn
L. gezwungen gewesen wäre, sie unter Verzicht auf jede Weitschweifigkeit
auf engeren Raum zusammenzupressen. Aber dieser Vorwurf trifft nicht so
sehr L. persönlich als die in Frankreich sich immer mehr einbürgernde Un-
sitte, Dissertationen um jeden Preis zu Bänden von mindestens einem halben
Tausend Seiten anschwellen zu lassen.
Freiburg i. Br. H. Heiß.
Leo Spitzer, Über einige Wörter der Liebessprache. Vier Auf-
sätze. Leipzig, 0. R. Reisland, 1918. 74 S. Gr.-8". (I.)
Ders., Anti-Chamberlain. Betrachtungen eines Linguisten über
Houston Stewart Chamberlains 'Kriegsaufsätze' und die
Sprachbewertung im allgemeinen. Leipzig, 0. R. Reisland,
1918. 82 S. Gr.-8°. (H.)
* Vgl. auch den immer noch lesenswerten Abschnitt in H. von Steins
Entstehung der neueren Ästhetik (1886) S. 238.
168 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Ders., Fremdwörterhatz; und Fremdvölkerhaß. Eine Streitschrift
gegen die Sprachreinigung. Wien, Manz'sche Buchhandlung,
1918. 66 S. Gr.-8«. (III.)
I enthält vier Arbeiten: 1. 'Onomasiologische Bemerkungen zu den ro-
manischen Ausdrücken für "lieben"' {amare; span. querer, kat. e^timar und
voler, ptg. gostar, ital. voler hcne, rhätorom. voler hene und aver gugent
usw.). Auf die hübschen Einzelbeobachtungen kann ich nicht eingehen; wenn
Sp. sie (wofern ich ihn recht verstehe) dahin summieren möchte, daß sich
aus der Bevorzugung des einen Ausdrucks (und dem Verwerfen der an-
deren) für die Psyche des betreffenden Volkes so gut wie gar nichts schließen
lasse, so scheint mir das ebenso einseitig wie die von ihm an seinem Vor-
gänger Abel bekämpfte 'zu weitgehende Verwertung eines allgemein psycho-
logischen Bedeutungsvorganges zur psychologischen Charakteristik eines
Volkes'. Gewiß ist die Neigung, das vieldeutige amare einerseits durch sipn-
lichere Ausdrücke wie querer und anderseits durch spiritualistische wie
estiinar zu ersetzen, etwas Allgemeines, bei allen Völkern zu Findende^: der
Liebende hat eben überall das Bestreben, der Geliebten zu sagen, daß er sie
'anders' liebe als 'die andern' lieben, 'heißer' öder 'edler'; im Deutschen ge-
braucht er im ersteren Falle etwa verlangen (Heine: '. . . Da hab' ich ihr
gestanden Mein Sehnen und Verlangen'; Ric. Huch: '. . . Mich verlangt nach
dir Wie die Flut nach dem Strande ...'), ja, er würde wohl sogar vor 6e-
gehren (das R. Dehmel indessen gebraucht: 'Da ich dich liebe, darf ich dich
begehren',) nicht zurückseheuen, wenn dieses Wort nicht von den Zehn Ge-
boten her mit der Bedeutung des Sündigen behaftet wäre, wohingegen der
Spanier dort sagt.: No cobdiciaräs ... ('Futurum' S. 68), querer für 'heiß
lieben' also unbedenklich verwenden konnte, so daß es freilich falsch wäre,
aus der Bevorzugung von querer und der Abneigung gegen begehren {querer
wäre übrigens zutreffender zu übersetzen mit erstreben) Schlüsse auf die
Verschiedenheit des spanischen und des deutschen Volkscharakters zu ziehen.
Aber ich glaxibe doch, daß eine kulturhistorische Untersuchung des
Problems, warum die eine oder die andere romanische Sprache amare zu-
gunsten anderer Wörter zurückgedrängt hat, und warum gerade zugunsten
des einen und nicht des anderen, bemerkenswerte Unterschiede, wo nicht
zwischen den verschiedenen Völkern, so doch zwischen den verschiedenen
Kulturepochen innerhalb einer bestimmten Volksgemeinschaft ergeben
müßte. Sp. hat das Problem hier nur negativ, nihilistisch gestreift — viel-
leicht schenkt er uns einmal eine positive Bearbeitung. Auch die sprach-
lichen Unterschiede und Wandlungen beruhen nicht auf purem Zufall.
2. 'Frz. cocotte': Zugunsten von Nyrops Etymologie (IV 302): 'Cocotte,
formation onomatopöique (comp, coq, coco, cocorico), s'emploie comme terme
enfantin pour dösigner une poule; c'est atissi un terme d'amitiß qu'on adresse
ä une petite fille: ma petitc cocotte. Comme mot hypocoristique le mot a
6t6 appliqu^ aux filles galantes' wird Meyer-Lübkes Erklärung (mfrz. cocotte,
coquasse 'Art Kasserolle' > 'zinnernes Weingefäß' > 'betrimkene Frau' >
Dirne) abgelehnt; Meyer-Lübkes Einwand, ein solcher Ausdruck habe sich
schwerlich aus einem Kosewort entwickeln können, wird durch ein-
leuchtende Erwägungen und Parallelen widerlegt ('der die Dirne Liebchen
nennende Mann schont nicht nur die Dirne, sondern sich').
3. 'Deutsch Elefant = "Vertrauter zweier Liebenden", französisch chan-
delier "dasselbe"'. Deutsch Elefant in diesem Sinne ist schon 1841 von
dem Humoristen Saphir erwähnt und 'vielleicht vollständig richtig' erklärt
worden: 'Warum man die Vertrauten, Rendezvous-Garden, Brief -Übermittler,
Schildwachposten der Liebe "Elefanten" nennt? Warum? Wahrscheinlich
weil zu der Liebe selbst eine Engelsgeduld gehört; der Vertraute aber
von Liebenden zu sein, dazu gehört eine Elefanten-Natur! Man muß eine
Beurteilungen und kurze Anzeigen 169
solche Ausdauer haben wie ein Elefant; man muß so klug sein wie ein Ele-
fant; man muß eine solche alles riechende Nase haben wie ein Elefant, und
man muß sich so zu allen Kunststücken abrichten lassen können wie ein
Elefant!' Frz. wird das Wort in derselben Bedeutung bei Sachs -Vilatte
und im Supplement (nach 1878) belegt. Da nun im Französischen die
ältere Benennung le chayidelier ist (Titel einer Komödie von Musset, 1835),
so zögert Sp., den deutschen Gebrauch aus dem Französischen herzuleiten
(für das Umgekehrte kann er sich begreiflicherweise noch schwerer ent-
scheiden). Aber können denn um 1835 — 40 in Frankreich nicht eliphant
und chandclier (vielleicht mit einer kleinen Bedeutungsnuance oder in ver-
schiedenen Gesellschaftskreisen) nebeneinander bestanden haben? — Ein
neuerer deutscher Beleg für Elefant wäre: Walter Bloem, Das lockende Spiel,
Berlin, Ullstein, S. 194.
4. 'Afrz. cotip, nfrz. cocu "Hahnrei".' Unter den Deutungen des afrz.
Wortes für 'Hahnrei' scheint mir die ansprechendste die von Brinkmann:
coiipaud von couper in der Bedeutung 'kappen', also als 'Kapaun' (wie
Hahnrei r=: Hahnreh), coup müßte dann rückgebildet sein. Sp. denkt an
zwei weitere Möglichkeiten: 1. coup 'Hahnrei' (nebst coupeau, couperau)
gehöre zu Godefroys acouper 'rendre un mari sot' (nebst acoupee = 'd6-
bauchöe, en parlant d'une femme mariöe' etc.) und prov. copar ('couvrir d'un
chapeau'? Levy; bei Marcabru nach Sp. auch 'ehelich betrügen'); diese acou-
per und copar bringt Sp. mit afrz. alve (a)coupee, aprov. acopada 'Hauben-
lerche' zusammen : gehaubter Vogel > dummer Vogel > dummer Mensch.
2. coupaude eine, der man als Zeichen der Entehrung den Rock abgeschnitten
hat, danach maskulines coupaud und rückgebildetes coup. — cocu < cuculus
'Kuckuck' (wie deutsch Gauch, englisch cuckold), schon bei T. Atkinson
Jenkins.
IL Die beiden anderen Schriften sind 'Kriegsschriften' und werden dem
Schicksal derartiger Veröffentlichungen (seien sie nun 'kriegerischer' oder,
wie diese, 'pazifistischer' Richtung) kaum entgehen. Sie bekämpfen Sub-
jektivität mit Subjektivität, nationalistische Einseitigkeit mit inter- bzw.
antinationalistischer. Und warum hat Sp. sich überdies gerade H. St. Cham-
berlain, diesen heillosen Dilettanten und Fälscher von Goethe-Zitaten, dem
man nicht einmal die iona fides zubilligen kann, dessen Betrachtungen über
pax und Friede kein vernünftiger Mensch, geschweige denn ein Linguist
ernst nimmt — warum hat er sich ausgerechnet ihn als Zielscheibe ge-
wählt? Warum sagt er, gegen die 'Sprachwürderung' (= Sprachbewertung)
kämpfend, 'Chamberlain', wo er doch 'Voßler' meint? Glaubt er wirklich,
mit Chamberlains Unglaublichkeiten etwas gegen Voßler beweisen zu kön-
nen? Warum übersieht er den gewaltigen Unterschied zwischen der vor-
eingenommenen, nur der Rechtfertigung schon fertiger Meinungen dienenden
Wertung Chamberlains %-on der vorbildlich unbefangenen Deutung
sprachlicher Erscheinungen durch Voßler, der nichts will als erkennen? —
Es wäre Papiervenschwendung, ihm in diesem Kampfe gegen Windmühlen
folgen zu wollen. Gewiß: wer wäre nicht einverstanden mit seinem Kampf
gegen Leute, die auch die sprachlichen Verschiedenheiten als Mittel der
Völkerverhetzung mißbrauchen — aber muß man nun gleich das Kind mit
dem Bade ausschütten und solche Verschiedenheiten einfach leugnen wollen'
III. Wer die These aufstellt, die 'Allesverdeutscher' seien identisch mit
den 'Alldeutschen' und wie diese zu bekämpfen, darf sich nicht wundern,
wenn er Widerspruch findet, und auch ich kann Sp. in diesem Falle nicht
beispringen. Er beruft sich auf meine Zurückweisung des pöbelhaften Radau-
Sprachreinigers Eduard Engel — allein wie ich mich gegen dessen Über-
treibungen gewandt habe, so muß ich mich nun gegen die entgegengesetzten
Übertreibungen Spitzers wenden. Sp. freilich wird den Widersprechenden
für national befangen halten — ich glaube, die Befangenheit ist eher auf
170 Beurteilungen und kurze Anzeigen
seiner Seite. Gewiß hat der Allgemeine Deutsche Sprachverein sich gern der
vaterländischen Begeisterung bedient und sich von ihr tragen laasen — aber
war das nicht sein gutes Recht? Schaden wir denn einem anderen Volke
damit, daß wir uns bemühen, möglichst Deutsch zu sprechen? Wenn die
anderen Völker es uns etwa verübelten, daß wir in Sprache, Sitte, Kleidung
usw. deutsch sein wollen, so wäre mtnnes Erachtens der Chauvinismus auf
ihrer Seite. Für mich ist der Kampf zwischen den 'Puristen' und den
'Fremdwörtlern' gar nicht in erster Linie ein Kampf zwischen den mehr
national und den mehr international Gesinnten, sondern zwischen den Mehr-
und den Mindergebildeten, und sieh diesem Verlangen des 'Volkes', Zutritt
zu erhalten zu den Schätzen der Wissenschaften, widersetzen zu wollen,
schiene mir engherzig und dünkelhaft. 'Reaktionär' ist in diesem Sinne
nicht die Sprachreiniguiig, sondern der Kampf gegen sie. Im übrigen aber
gehört diese Schrift, strenggenommen, nicht in den Rahmen dieser Zeit-
schrift; wenn meine längeren Ausführungen an anderem Orte Sp. nicht über-
zeugen konnten, so wird es mir hier, auf engerem Räume, noch weniger
gelingen.*
* Eine Kleinigkeit: S. 12 wird (neben Karl Kraus und Hugo v. Hof-
mannsthal) Gustav Landauer als 'führender Geist' bezeichnet; sollte hier
nicht eine Verwechslung vorliegen mit dem S. 12 erwähnten Verfasser einer
Schrift 'Der Verruf des Fremden' namens Georg Landauer?
München. Eugen Lerch.
Berichtigung.
Die in Wager's Magdalena ed. Carpenter ^1902 ausgefallenen Verse (vgl.
Arch. 139 213) gab ich im Shaksp.-Jb. 39 316 exakt an; auch meinen Ab-
schreiber und — da ich ein Jahr zugewartet hatte — gleich die Selbst-
verbesserung des Herausgebers. A. B.
Zur Katharinenlegende:
Die Quelle der Jugendgeschichte Katharinas, insbesondere
in der mittelniederdeutschen Dichtung und in der mittel-
niederländischen Prosa (hg. Collinson, 1915).
A. Die lateinischen Handschriftengruppen.
Die lateinischen Quellen der Bekehrungsgeschichte (Conver-
sio) Katharinas von Alexandrien haben bisher, da stets die
Passio im Vordergrunde der Forschung stand, nur geringe Be-
achtung erfahren, zumal das handschriftliche Material noch nicht
zur Genüge hervorgezogen worden ist. H. Knust ^ bringt nur
spärliche Anspielungen hierauf vorwiegend in den Landes-
sprachen, kennt aber keine alte lateinische Aufzeichnung dieser
romanhaft ausgeschmückten Geschichte, höchstens verweilt er
etwas länger bei der späten lateinischen Fassung des Kartäuser-
mönchs Petrus Dorlandus, die freilich entgegen Knusts Vermutung
kein Gebilde von dessen klösterlicher Phantasie, sondern eine
nur wenig ausgeschmückte Nacherzählung nach einer alten Vor-
lage darstellt. Der Bollandistentext ihres Brüsseler Katalogs ^
bietet kein einheitliches Bild, da die beiden dort mitgeteilten
Teile der Nativitas und der Conversio zwei verschiedenen Fas-
sungen entsprechen, die in derselben Handschrift nacheinander
stehen. H. Varnhagens^ Fassung ist nur einer der letzten, frei
ausgestalteten Ausläufer dieser Erzählung. Dies gilt ebenso von
Spinas ■* Fassung, der Quelle der alttschechischen Dichtung.
Eine Durchsicht des Bestandes der an Katharinentexten über-
aus reichen Breslauer Kgl. und Universitäts-Bibliothek, der den
von Spina S. XIV ff. aufgezählten Prager Codices kaum nachsteht,
zumal in Schlesien wie in Böhmen der Kult der Heiligen in
außerordentlicher Blüte stand, ergab folgendes:
Diese Geschichte vom König Costus, dem Vater Katharinas,
von der Geburt seiner Tochter, ihrer gelehrten Erziehung, ihrer
Bekehrung durch einen Einsiedler zum Christentum und von
ihrer mystischen Vermählung mit Christus wurde in C y p e r n
lokalisiert. Sie ist sekundären Ursprungs. Die hier vorgetragene
Deutung des Namens Catharina = universalis ruina
(seil, deorum), die durch die Legenda aurea so bekannt ge-
worden ist, weist auf die Lateiner als ihre Urheber hin. Die
1 Geschichte der Legenden der heiligen Katharina von Alexandrien und
der heiligen Maria Aegyptiaca. Halle 1890, S. 44. 46. 58. 70. 89. 99. 114.
121 ff. 137. 140.
2 Cat. codd. hagiogr. Bibl. regiae Bruxellensis I 2 (1889), S. 162 ff.
* Zur Geschichte der Legende der Katharina von Alexandrien. Erlangen
1891, S. 18 ff.
♦ Die alttschechische Katharinenlegende. Prag 1913, S. 1 ff.
Archiv f. n. Sprachen. 140. 12
172 Zur Katharinenlegende
Angabe des Stephan von Lusignan,^ er habe die Legende zu
Famagusta in einem griechischen Buche gelesen, muß auf ge-
gründeten Zweifel stoßen. Ein solcher griechischer Text ist uns
überdies nicht erhalten.
Die schlesischen Handschriften enthalten folgende Gruppen
dieser Überlieferung:
Gruppe la. Der zyprische König Costus, nach der Stadt
Costa, dem späteren Famagusta, so benannt, ist lange
ohne Thronerben. Er herrscht über Griechenland, Cypern, Alex-
andrien, Damaskus und die Insel Rodis (sie). In der ägyptischen
Stadt Rodiam veranstaltet er, um einen Erben von seinen Göt-
tern zu erlangen, ein feierliches Opferfest, woran sich das ganze
Volk beteiligen muß. Aber alles Flehen ist umsonst, die Königin
bleibt unfruchtbar. Da entbietet er durch einen Brief den Astro-
nomen Alphoncius (oder Alphorius) zu sich, auf daß er
ihm helfe. Dieser rät ihm, eine goldene Bildsäule mit der Auf-
schrift 'Dem obersten aller Götter' zu errichten, da dieser viel-
leicht eigens geehrt sein wolle. Aber das neue Götterbild ver-
wandelt sich zum Staunen und Schrecken aller in das Bild des
Gekreuzigten. Ihm wird nun nach dem Rat des Astronomen
geopfert und das Bild vom König selbst feierlich in einen Tempel
gebracht, wo sofort die Götzen von ihren Fundamenten herab-
stürzen. Die Königin gebiert darauf eine schöne Tochter. Die
Geburt wird dem König von Alphoncius, da beide in einer nahen
Burg in jener Nacht weilen, mittels seiner Sternenkunde verkün-
digt und unmittelbar darauf die frohe Nachricht durch einen Eil-
boten bestätigt. Alphoncius veranlaßt den beglückten Vater, dem
Kinde den Namen Katherina = universalis deorum
ruina zu geben.
Costus wird einer Verschwörung mit dem Perserkönig beim
Kaiser verdächtigt, der nach Alexandrien eilt und ihn dahin
nebst Familie entbietet. Obwohl seine Unschuld bald heraus-
kommt, muß er fortab in Alexandrien residieren.
Katherina zeichnet sich durch Schönheit nicht minder wie
durch Gelehrsamkeit aus, so daß sie als Kleinod Griechenlands
(gemma Graeciae) gilt. Auf dem Totenbette setzt sie ihr
alter Vater zur Regentin ein und gebietet ihr, nur einen ihr
völlig Ebenbürtigen zu heiraten. Die Mutter bemüht sich ver-
gebens, sie zu einer passenden Ehe, nämlich mit dem Sohne des
Kaisers selbst, zu bestimmen, da Katherina ihre Bedingungen
nicht erfüllt sieht.
Bei einer dringenden Reise an die Grenzen des Reiches ver-
1 Vgl. J. Hackett, A history of the orthodox Church of Cyprus.
London 1901, S. 395, und H. Delehaye, Les legendes hagiographiques.
Bruxelles 1906, S. 64.
Zur Katbarinenlegende 173
fehlen Mutter und Tochter nebst Gefolge den Weg und müssen
im Walde übernachten; die Jungfrau ruft um Mitternacht den
Heiland an. Am nächsten Morgen sieht sie in einem Tale die
von einem Kreuz überragte Hütte eines Einsiedlers. Die Mutter
tritt bei ihm ein und berichtet dem frommen Manne unter anderem
den Widerstand ihrer Tochter gegen eine Ehe. Der Klausner
verspricht, ihr zuzureden, und bringt alle auf den richtigen Weg,
worauf die Staatsgeschäfte erledigt werden können. Hierauf
kehren Mutter und Tochter zum Einsiedler zurück. Mit Ver-
wunderung vernimmt dieser aus Katherinas Mund, wie sie an den
letzten Wunsch ihres Vaters gebunden sei, zugleich auch ihre
gelehrten Zitate über den Wert jungfräulichen Lebens. Da
kommt ihm der Gedanke, daß Gott dies herrliche Geschöpf zu
seinem besonderen Werkzeug auserlesen habe, und er erzählt
ihr von jenem allmächtigen und allweisen König und seiner
jungfräulichen Mutter, der eine reine Braut für evnge Zeiten
suche. Sie bestürmt ihn mit neugierigen Fragen und Bitten,
ihr Mutter nebst Sohn zu zeigen. Endlich überreicht er ihr
deren Bild und heißt sie in der kommenden Nacht daheim in
ihrem Kämmerlein auf den Knien das Erscheinen beider im
heißen Gebet herabzuflehen. Da sie nicht sofort sich ihr zeigen,
schläft sie ermattet ein, und im Traume erblickt sie auf einer
herrlichen Wiese die Mutter in strahlender Schönheit, wie sie das
Kind auf ihren Armen trägt. Aber dieses wendet sein Antlitz
von der Jungfrau ab und bemerkt auf die Fürsprache der Mutter
hin, daß Katherina sich auch nicht mit einer einzigen der ge-
ringsten Dienerinnen ihres Palastes messen dürfe. Die Vision
entschwindet, und Katherina sucht, von nur wenigen Dienern
angeblich zur Jagd begleitet, den Einsiedler auf, dem sie das
Gesehene berichtet. Ein Engel befiehlt diesem, sie zu taufen
und in den Heilswahrheiten zu unterweisen. Er vollführt den
Auftrag, und aufgefordert, nunmehr gereinigt nochmals in der
Nacht vor dem Bilde zu wachen, erhält sie dasselbe Traumgesicht
in so überwältigendem Glänze, daß sie sich schämt, früher selbst
ob ihrer Schönheit von den Menschen gepriesen worden zu sein.
Jetzt erst erkennt das Kind ihre Reinheit und Demut an, nimmt
Katherina auf Fürbitten Marias zur Seelenbraut an und über-
reicht ihr den Verlobungsring mit einer von Engelshand ver-
fertigten Umschrift. Darauf verläßt es die Arme der Mutter,
erscheint ihr als der Heiland mit der Dornenkrone und den fünf
blutigen Wundmalen und verheißt ihr die ewige Krone des Lebens
als Lohn ihrer Treue. Unter Engelsgesängen entschwindet die
Vision, und als Katherina erwacht, bestätigt der Ring an ihrem
Finger die Wahrheit des Gesehenen. Voll Freude eilt sie zum
Klausner zurück, der diese Kunde mit heißem Dank gegen
12*
174 Zur Katharinenlegende
Christus begrüßt und sie zur Standhaftigkeit ermahnt, da ihr die
Krone des Martyriums für den himmlischen Bräutigam bald be-
vorstehe. Auch ein Evangelienbuch gibt er ihr mit, damit sie
im Glauben befestigt werde. Unter heißen Tränen und Segens-
wünschen verläßt sie den Mann Gottes. Nach dem baldigen Tode
der Mutter übernimmt sie selbständig die Zügel der Regierung
zwei Jahre hindurch, bekehrt ihre Untertanen, spendet Almosen
und gewährt Zuflucht den vor dem römischen Kaiser flüchtigen
Christen.-^
Gruppe Ib. Mit einigen Änderungen stilistischer, aber auch
inhaltlicher Art erscheint dieselbe Hauptfassung in drei Bres-
lauer Handschriften.^ Hier ist ein Brief des Kaisers an den
König Costus eingeschoben, und von der Mutter wird erzählt, daß
sie in Katherina dringt, dem Sohne des Kaisers ihre Hand zu
reichen. Während der Vision ist auch der Einsiedler neben
Mutter und Kind redend und fürbittend eingeführt, überhaupt
der Schlußteil stark erweitert, z. B. Christus selbst befiehlt Ka-
therina, zum Einsiedler zurückzukehren, um in einem reinen
Quell getauft zu werden. Sie fragt den Mann Gottes zunächst,
ob dies seltene Wasser auch käuflich werde zu beschaffen mög-
lich sein. Es fehlt die Verwandlung des Jesuskindes in den
leidenden Christus mit Dornenkrone, ferner die Überreichung des
Evangelienbuches durch ihren Berater. Katherina wird als Herr-
scherin über Cypern ausdrücklich genannt: regnum patris
sui, quod ut testatur quedam scriptura satis
autentica, fuitregni Cypri, iurehereditario pos-
sidebat; reges enim Cypri de cognatione sancte
Katherine se esse protestantur. Dies ist wiederum ein
deutlicher Hinweis darauf, daß sich in Cypern dieser Zweig un-
serer Legende entwickelt hat.
Gruppe II. Die ganze Geburtsgeschichte Katherinas nebst
der Rolle des Astrologen Alphoncius (Alphorius) fehlt. Ihr
Vater Costus hat seine Residenz in Constantia = Sala-
mi nia. Der Kaiser Maxentius verbannt ihn auf die falsche
Nachricht von seinem geheimen Bündnis mit dem Perserkönig
nach Alexandria, wohin Costus auch seine Gemahlin nebst Toch-
ter kommen läßt. Er genießt das Vertrauen des Kaisers, und die
Witwe wird nach dem Tode des cyprischen Königs gebeten,
Katherina mit dem Sohne des Kaisers zu vermählen. Diese wei-
gert sich beharrlich, mit der bekannten Motivierung der völligen
Ebenbürtigkeit seitens des Bräutigams, ihrem Drängen nach-
zugeben, was die Mutter mit tiefstem Schmerze erfüllt und ver-
1 Hss. Univ.-Bibl. Breslau: I Qu. 126, Bl. 137; I Qu. 308, BL 185;
IV Fol. 51, Bl. 324; IV Qu. 163, Bl. 1; IV Qu. 164 a, Bl. 1.
» I Fol. 530, Bl. 242 v; IV Fol. 64, Bl. 32 v; IV Fol. 18311, Bl. 393 v.
Zur Katharinenlegende 175
anlaßt, den Beistand eines nahe bei Alexandria wohnenden Ein-
siedlers nachzusuchen, der aber bald, von der Klugheit der Jung-
frau gefesselt, zu ihrer Bekehrung schreitet. Die Visionen und
die subarrhatio sind in den einzelnen Texten mehr oder min-
der ausgeschmückt. Überall befiehlt Christus selbst Katherinas
Rückkehr zum Einsiedler, damit sie das Bad der Taufe emp-
fange.^
Gruppe III. Dies ist die von Spina als Spiegel version
bezeichnete Verflachung der Legende. Wiederum fehlt die Ge-
burtsgeschichte, die Gelehrsamkeit Katherinas wird aber kurz
gestreift, ebenso der Tod ihres Vaters Custos. Es melden sich
viele Freier, darunter ein vornehmer Jüngling. Auf Wunsch
der Mutter nimmt sie dessen Werbung an, betrachtet aber dann
reuevoll im Spiegel ihre Schönheit und entschließt sich 'ex
quadam presumptione', keinen zu heiraten, der nicht so schön,
so klug und so vornehm sei wie sie selbst. Umsonst ist das
Drängen der Mutter und der Verwandten. Die Mutter bringt sie
zu einem christlichen Einsiedler, bei dem Christen wie Heiden
sich oft Rat holen. Er spannt ihre Neugierde wegen des von ihm
vorgeschlagenen, über alle erhabenen Bräutigams auf die Folter,
da er ihr erst bei einem zweiten Besuche Näheres über ihn mit-
teilt. Das Madonnenbild, das er ihr überreicht, ist aus Holz.
In der ersten Vision erscheint auch der Einsiedler, der hier die
Rolle des Vermittlers spielt. Wie in Gruppe II fragt ihn Ka-
therina, ob jenes Reinigungswasser für Geld zu haben sei. Er
beginnt die Predigt mit dem Hinweis darauf, daß diese Quelle
(fontanea aqua) aus der Seite Christi hervorfließe.^
B. Die lateinische Quelle für die niederdeutsche
Dichtung und die niederländische Prosa.
Die neueste Publikation zur Katharinenlegende von Dr. Wil-
liam Edward Collinson,-^ die infolge des Ausbruchs des Krieges
allzu rasch abgeschlossen werden mußte, behandelt nur kurz die
Quelle für die Jugend Katherinas, wie sie in der mittelnieder-
deutschen Dichtung (B) und in der mittelniederländischen Prosa
(N) geschildert ist. Er begnügt sich, die bedeutenderen Ab-
weichungen beider Texte voneinander hervorzuheben, und zieht
zur Vergleichung nur die späte Form bei Petrus Dorlandus
heran, da er eben mit völlig unzulänglichem Material arbeitet.
Es ist aber ganz überflüssig, dem Bericht des holländischen Kar-
täusers quellgeschichtlichen Wert beizulegen, weil uns die Vor-
» Hss. Univ.-Bibl. Breslau: I Qu. 70, Bl. 157; I Qu. 364, Bl. 7.
2 Ebenda: I Fol. 587, Bl. 121; IV Qu. 167, Bl. 33 v.
3 Die Katharinenlegende der Hs. II, 143 der Kgl. Bibliothek zu Brüssel.
Heidelberg 1915. Germanist. Bibl., Heft 10.
176 Zur Katharinenlegende
läge für beide Texte zur Verfügung steht, die CoUinson nur
geahnt hat: 'Die angeführten Abweichungen zeigen, daß B und N
unabhängig entstanden sind; es ist aber wohl möglich, daß die
beiden auf dieselbe, noch nicht ermittelte lateinische Quelle
zurückgehen' (S. 75).
Zunächst ergibt sich, daß N einer besseren und vollständigeren
Überlieferung als B folgt, die zu unserer Gruppe I gehört. Aber
diese ist bereits getrübt:
1) Costus herrscht lange über Alexandria, ohne einen
Nachkommen zu haben. Da versammelt er seine Philosophen,
und ein alter Ritter gibt ihm den Rat, sein ganzes Volk zum
Opferfest einzuberufen. Dies geschieht, aber da die heidnischen
Götter nur Teufel sind, bleibt sein Wunsch unerfüllt. In B
fehlt die Vorberatung, die Handlung setzt gleich mit dem Ein-
laden des gesamten Volkes nach der Stadt Rodyan ein.
2) In B und N wird der König von einem seiner Untertanen
auf den Astronomen aus Griechenland aufmerksam gemacht, der
in B Alphorius, in N Alphoncius heißt. Dieser Hinweis
ist sicher nur eine Wiederholung des obigen Motivs, das in der
Quelle steht, also ein Zusatz. In B fehlt der Wortlaut des Briefes
an Alphoncius, in N steht er in indirekter Rede.
3) Für die Erzählung vom Gießen des Bildes mit der Auf-
schrift 'Gott aller Götter' und von seiner Verwandlung in das
Bild des Gekreuzigten ist N genauer als B, wo auch der Gold-
schmied nicht ausdrücklich erwähnt wird. Wenn in N das
Wunder zweimal geschieht, so tritt für uns sicher wieder ledig-
lich die kürzende Tendenz von B hervor. Das Wehklagen des
Teufels beim Aufstellen des neuen Bildes im Tempel ist ein
dichterischer Zug von B.
4) Die Prosa macht aus dem lateinischen castrum, in dem
Costus und der Astronom vor der Geburt Katherinas weilen, ein
Kloster, was auf einen Lesefehler (claustrum statt castrum)
zurückgehen wird, hingegen hat der Dichter die Entfernung
dieses Schlosses von der Residenz (zwei Meilen) nicht auf-
genommen.
5) Nach B und N ist die Reise und das Verirren Katherinas
in einem Walde durch ihre Flucht bedingt, da Streitig-
keiten im Reiche entstehen. Diese seltsame Begründung be-
weist, daß beide Texte einem (eher germanischen als lateinischen)
Typus ^ folgen, der den lateinischen Wortlaut an jener Stelle
1 Dieser Typus könnte auch für die gemeinsame Umstellung (das Kreuz
wird erst nach der Geburt der Königstochter nach dem heidnischen
Tempel gebracht) verantwortlich gemacht werden. Aber in N wie in B
ist außerdem an richtiger Stelle diese Tatsache bereits vermerkt, so daß
dies Motiv zweimal gebracht wird.
Zur Katharinenlegende 177
entweder mißverstanden oder absichtlich abgeändert hat. Für
diesen Teil ist ferner bemerkenswert, daß die Rolle der Mutter
völlig weggefallen ist, dies ist demnach bereits dem Original zu-
zuweisen. Für die Schilderung von der Zusammenkunft mit dem
Einsiedler ist N weit getreuer als B, wo Katherina sofort an die
Zelle des heiligen Mannes klopft, während es in N heißt: 'Sie
mußte mit ihrem Gefolge (10 Jungfrauen, 12 Frauen und 12 Rit-
tern) im Walde übernachten, aber um Mitternacht stand sie auf
und betete zum Gott aller Götter, wie es ihr Vater befohlen
hatte. Am Morgen, da sie ihren Weg suchten, sah sie in einem
Tal eine kleine Zelle und befahl ihrem Gesinde, nachzusehen,
wer dort wohne. Zuletzt ging sie aber selbst mit, erblickte das
Kreuzesbild über der Zelle und hörte von den Boten, daß dort nur
ein alter Mann lebe, der den Weg nicht kenne. Da wollte sie
selbst eintreten, zumal er und sie denselben Gott anbeteten. Sie
fragte ihn, warum er dies einsame Leben gewählt habe.'
6) B bringt den Zusatz, daß ihr Gefolge ob ihrer langen
Unterredung mit dem Klausner ungeduldig und unwillig ge-
worden sei. Dies findet sich in keinem lateinischen Text an-
gedeutet.
7) Der Hinweis auf die geringste Dienerin des himmlischen
Hofes fehlt in B, auch das Gespräch zwischen Gottesmutter und
Sohn. Der Befehl zur Taufe Katherinas durch den Einsiedler
kommt in N durch Christus selbst in einer Offenbarung, während
in B infolge eines Gebets des Greises eine Stimme ihm diesen
Auftrag gibt. Auch hier ist die Fassung IST durchsichtiger, doch
werden wir sehen, daß beide Texte einander einfach ergänzen.
8) Dies ist ebenso für die Vermählungsszene der Fall, denn
abermals schaltet B die Anrede Marias an ihren Sohn aus, er-
wähnt nichts von der Dornenkrone und den Wundmalen Christi,
noch von Katherinas Rückkehr zum Einsiedler, der sie auffordert,
fortab den Brautschleier zu tragen, und ihr ein Evangelienbuch
mitgibt. N hingegen läßt die Engelsgesänge beim Entschwinden
der Vision weg, auch die Angabe, daß der Ring von Engels-
händen angefertigt war, fügt aber zuletzt hinzu, daß Katherina
ihre Umgebung wegen ihrer langen Abwesenheit trösten muß.
In der noch inedierten lateinischen Sammlung, die unter dem
Namen Viaticum narrationum bekannt ist, stieß ich auf
eine Erzählungsform dieser Jugendgeschichte Katherinas, die
ziemlich die gleichen Eigentümlichkeiten wie die beiden ger-
manischen Texte enthält, jedenfalls also jene gemeinsame latei-
nische Quelle, aus der der Kompilator geschöpft hat. uns getreu
darbietet. Dies Viaticum narrationum wird einem Henmannus
Bononiensis zugeschrieben und befindet sich in der einzigen
Handschrift der Kgl. Bibliothek Kopenhagen ¥r. 380 Fol. (An
178 Zur Katharinenlegende
fang oder Mitte XV. Jahrhunderts).^ Über dessen Benutzung
durch Hermann Korner in seiner Chronik hat J. Schwalm ^
bereits gehandelt. Eine Abschrift, die heute das Eigentum der
AVedekindstiftung in Götiingen bildet, stand mir zur Verfügung.
Unser Text steht dort auf Bl. 23^' — 2^ nach den Stichworten:
Gratia Dei predestinantur homines ad vitam eternam. Mehrere
Fehler dieser Handschrift zeigen, daß uns hier kein Original, nur
eine Abschrift des Werkes vorliegt, was auch unser Text be-
stätigt. Der Kompilator folgt einer von mir bisher nicht auf-
gefundenen lateinischen Gruppe, die ich als Ic bezeichne und die
sicher im deutschen Sprachgebiet ihren Ursprung hat, da im
Viaticum auch ein deutscher Satz: du kanst wol wrien sich er-
halten hat. Auch in dieser Rezension ist bereits die Rolle der
Mutter ausgeschaltet, und die hervorstechendsten Merkmale sind
die folgenden: 1) Costus gilt nur als König von Alexandria, es
fehlt also die Einleitung über das cyprische Costa = Famagusta.
2) Das Gießen der Bildsäule findet wiederholt statt. 3) Die
Verleumdung des Königs Costus fehlt, die Unterweisung Kathe-
rinas ist kürzer dargestellt. 4) Die Königinmutter stirbt kurz
nach ihrem Gemahl. 5) Das Gefolge Katherinas wird näher an-
gegeben. Bevor sie in die Zelle des Einsiedlers tritt, schickt sie
einige Diener voraus, die ihr melden, daß deren Bewohner, ein
Greis, weder eine Kenntnis des richtigen Weges noch der Men-
schen überhaupt habe. Katherina fragt ihn zunächst nach der
Ursache seiner Zurückgezogenheit, er aber beginnt ihr sofort von
den wichtigsten christlichen Lehren zu berichten. Die Arbeit
des umgestaltenden Kompilators erscheint klar darin, daß ein
Stück aus den Zureden der Mutter an die Jungfrau aus Gruppe la
in der Rede des Klausners entsprechend verwendet wird: Äd hec
senex respondit: 'Quid est hoc quod dicis, filia? de quo iactas te,
Katherina? Ecce nobilissimus imperatoris unicus filius forte
acciperet te in uxorem, si voluntatem tuam et consensum. sihl
intimare velles.' 6) Katherina lächelt über das Bemühen des
Alten, den Heiratsvermittler spielen zu wollen, ein Motiv, das
noch einmal auftritt. 7) Auf sein Gebet hin offenbart sich ihm
Christus, der ihm befiehlt, die Jungfrau zu taufen. 8) Die Ver-
mählungsszene endet damit, daß der Heiland ihre Linke unter
sein Dulderhaupt legt, und sich von ihrer Rechten keusch um-
fangen läßt. 9) Der Schluß fehlt im Viaticum, aber es bleibt die
Vermutung gerechtfertigt, daß, wie auch die deutschen Texte be-
weisen, seine Quelle vollständig gewesen ist.
i Vgl. E. Steffenhagen und A. W e t z e 1 , Die Klosterbibliothek
zu Bordesholm und die Gottorfer Bibliothek (Kiel 1884), S. 89, Nr. 18.
2 Hermann Korner, Chronica novella, hg. von J. Schwalm
(Göttingen 1895), S. XXIII ff.
Zur Katharinenlegende 179
Es unterliegt keinem Zweifel, daß der niederdeutsche und der
niederländische Text durch eine besondere Zwischenstufe auf die-
ser lateinischen Fassung Ic^ fußen. Inhaltlich stellen sie eine be-
trächtliche Kürzung der Bekehrungsgeschichte dar, so daß der
Gesamteindruck nicht gerade erfreulich ist für den, der die Ge-
samtentwicklung in ihren Phasen verfolgt hat und endlich bei B
und IST anlangt.
Ist es demnach gelungen, die Quelle von B (v. 1 — 500) nebst
N zu ermitteln und Collinsons Ausgabe nach dieser Richtung hin
zu vervollständigen, so dürfte den Germanisten auch ein Hinweis
auf eine md. Katharinenlegende in Prosa nicht unwill-
kommen sein, die noch enger als B und N an die lateinische
Gruppe Ic angelehnt ist und die oben angeführten eigentümlichen
Züge in völliger Reinheit enthält. Es handelt sich um die bisher
unbeachtete Handschrift der Breslauer Kgl. und Universitäts-
Bibliothek IV Qu 165 (XV. Jahrhunderu; auf die Conversio folgt
die Passio), über die gelegentlich wird Näheres zu berichten sein.
C. Zum cyprischen Ursprünge der Bekehrungs-
geschichte der heiligen Katharina.
Der Anfang der lat. Hauptversion der Conversio der hei-
ligen Katherina weist auf Cypern als die Heimat dieser Tradition
hin: Costus habe seinen Namen von seiner cyprischen Haupt-
stadt Costa, dem späteren Famagusta, erhalten. Die Ruinen
seines Palastes, der früher mitten in der Residenz gestanden habe,
§eien jetzt, eine Meile davon entfernt, noch zu sehen. Eine Kirche
darin, jetzt im Besitze der Griechen, gelte als die Geburtsstätte
Katherinas. Die Gruppe II weiß zu berichten, daß Costus nach
seiner Residenzstadt Constantia, dem sonstigen Salaminia,
benannt worden sei. Doch lassen sich diese scheinbar abweichen-
den Angaben wohl miteinander vereinigen, denn die glänzende
Handels- und Hafenstadt Famagusta, früher 'Afi(.i6xo)atoq (ge-
gründet 274 V. Chr. durch Ptolomaeus Philadelphus), mit ihrem
romanisierten Namen, ward auf den Trümmern von Constantia
aufgebaut. So vermerkt Alex. Palma di Cesnola: ^ 'It appears
that the town of Arsinoe was anterior in point of date to
Salaminia, and from the former the town of Salamis was
colonised- Among the ruins of Salamis a village gradually arose,
and rapidly increased in size, which afterwards acquired the
* Infolge Raummangels konnte der Abdruck der Version des Viaticum
narrationum neben dem der ausgedehnten Hauptfassung nicht erfolgen.
Sein umfängliches Material an Katharinentexten gedenkt der Verfasser
späterhin in einer Sonderpublikation niederzulegen.
2 Salaminia. 2nd ed. London 1884, S. 5.
180 Zur Katharinenlegende
name of Constantia. lipon the ruins of this, in its turn, the
city of Famagusta was built. Famagusta, too, feil under the
power of the Turks.' Auch Knust ^ zitiert Berichte von Reise-
Schriftstellern über die Spuren einer solchen c,ypriotischen Über-
lieferung: 'Doch nicht bloß die Stätten, welche die ursprüngliche
Tradition mit dem Märtyrertum der Heiligen verbanden, rühmten
sich vielfacher Erinnerungszeichen an sie, auch der Ort, in wel-
chem sie der späteren Legende zufolge geboren sein sollte, wollte
^icht leer ausgehen. Salamina auf Zypern besaß nach Ludolf
und Tschudi eine ihr geweihte Kapelle, und nach Gumpenberg
und Tschudi wurde dort auch ihr Palast, und heute noch dessen
Ruinen, gezeigt. Dies ist insofern nicht ohne Wichtigkeit, als
dadurch das Alter und die Lebenskraft dieses Teils der Sage
bewiesen wird.'
Wir haben demnach, einfach auf Grund unseres erweiterten
handschriftlichen Materials, bezüglich der cyprischen Herkunft
der Bekehrungsgeschichte Katherinas die Tatsache festzustellen,
daß hierzu, ganz ähnlich wie die Deutung des Namens Kathe-
rina = Cataruina, eine falsche Etj^mologie die Veranlassung
gegeben hat, die eben den Namen Costus an Famagusta oder
gar an Constantia gewaltsam anknüpfen wollte. Damit ist
des Rätsels Lösung erbracht, die Knust zwar geahnt, aber durch
ein nachdrücklicheres Forschen nach den lateinischen Texten zu
erbringen versäumt hat: 'Da auch drei deutsche Bearbeiter Costus
in Cypern herrschen lassen, so muß auch in diesem Punkte für
alle eine gemeinschaftliche Quelle vorausgesetzt werden. Von
einer lateinischen Katharinenlegende, welcher diese Stelle zu-
geschrieben werden könnte, hat sich aber bis jetzt keine Spur ge-
funden. Oder hätten wir anzunehmen, die Sage sei überhaupt
nur durch schriftliche oder mündliche Reiseberichte über cy-
prische, mit Katharinens Namen im Laufe der Zeit verknüpfte
Denkmäler weiterverbreitet worden? Wie aber entstand die
Sage selbst? Verdankte sie etwa, worauf uns Capgraves ehrlich
gemeinte Erklärung hinweisen könnte, ihren Ursprung einer fal-
schen Etymologie? Dann haben wir hier ein Seitenstück zu
Cataruina.' ^
Zu Anfang unseres Aufsatzes haben wir bereits die merk-
würdigen Angaben des Stephan von Lusignan erwähnt, der eine
griechische Katharinenlegende in Famagusta mit ähnlicher Über-
lieferung gelesen haben will, wie ich zuerst aus dem Werke des
Bollandisten Hippolyte Delehaye^ ersehen habe, der sich seiner-
seits auf J. IJackett beruft. Ich muß Delehayes Zitat ganz hier-
hersetzen, da es näher geprüft zu werden verdient: 'Tout le monde
■
a. a. 0. S. 169. ^ ^ a. 0. S. 100, Anm. 5. ^ a. a. 0. S. 64.
Zur Katharinenlegende 181
connait la legende de la grande sainte Catherine. Par sa nais-
sance et par son martyre, les biographes l'ont rattachee ä la ville
d'x'^lexandrie. Cela n'a pas empeche les Cypriotes d'accaparer,
par des artifices aussi naifs que peu avouables, une sainte dont
le culte, comme aussi la legende, fut des plus populaires dans
l'eglise grecque comme dans l'eglise romaine. Or, £tienne de
Lusignan pretend avoir lu ä Famaguste le texte grec d'une his-
toire de sainte Catherine, oü l'on apprend d'abord que le fameux
Costos, pere de la sainte, n'etait point roi d'figj^pte, mois bien de
Chypre, et, pour preuve, il a laisse son nom ä la ville de Sala-
mine. appelee desormais Constantia. Dans des circonstances
difficiles, Diocletien fit venir Costos ä Alexandrie et lui confia
le gouvernement de l'figypte. C'est alors que naquit Catherine.
On sait avec quel soin eile fut elevee et comme eile devint habile
dans tous les arts liberaux. Apres la mort de son pere, eile
retourna dans l'ile de Chypre, oü son oncle, apprenant qu'elle
etait chretienne, la mit en prison — une prison que l'on montrait
encore du temps de Lusignan — puis la renvoya en Egypte, oü
l'empereur Maxence, desesperant de la convaincre, la fit mettre
ä mort. Elle subit le martyre ä Alexandrie, ce qui fit dire,
ajoute le chroniqueur, qu'elle etait originaire de cette ville.'
Ich habe nicht geruht, bis ich jenes sehr seltene Werk des
Cyprioten Stephan-^ mir besorgt habe. Der Titel des Exemplars
der Göttinger Universitäts-Bibliothek lautet: Chorograffia, et
breve historia universale dell'Isola de Cipro principiando al tempo
di ISToe per in sino al 1572, per il R. P. Lettore Fr- Steffano Lu-
signano di Cipro dell'Ordine de Predicatori. In Bologna, Per
Alessandro Benaccio. 1573. Con licentia de'Superiori. Hier
stößt man auf folgende Stellen: (Beschreibung von Salamina)
Questa dunque e alla marina discosta daFamagosta due leghe:
e fu chiamata dipoi Costanza dal Re Costa padre di Santa
Catherina martire: & in greca si chiama Famagosta Vecchia
. . . Fuori della cittä e la prigione di Santa Catherina; laquale ha
edificata le murra, fondamenti, & il tetto in cinque pietre; e iui
fü prima posta: e volendola condurre in Alessandria, fü menata
ä PafFo, e posta in prigione: e condutta poscia in Alessandria,
fü martirizata (Bl. 12""). — (Berühmte Personen Cyperns) Caterina.
* Geboren 1537 in Nicosia auf Cypern. Sein Werk begann er, nachdem
er vor dem Ansturm der Türken erst nach Eom geflohen war, in Neapel
1570 und vollendete es in Bologna 1572. Seit 1577 lebte er in Paris. Auch
französische Ausgaben sind vorhanden unter dem Titel: Estienne de Lu-
signan. Description et histoire abr^g^e de toute l'isle de Cypre depuis le
temps de No^ jusqu'en 1572, Paris 1580, ferner Histoire gönörale du Royaume
de Cypre. Paris 1613. Vgl. E. Oberhummer, Die Insel Cypern, Bd. I
(München 1903), S. 466. Nouv. Biogr. Universelle, t. XXXII (1860), S. 278.
182 Zur Katharincnlegende
La leggenda, e tutti li historiografi pongono, che ella fusse di
Alessandria, ma li Famagostani hanno una leggenda
greca, laquale dice esser di Cipro, da Famagosta vecchia ;
e era figliuola del Re Costa: dal quäle la cittä fü chiamata da
Salamina Constantia: e in essa citta, come habbiamo detto
di sopra, e la Ina prigione; e poi condutta ä Paffo, e posta in
prigione, e de li in Alessandria; fü martirizata. II padre suo
Costa fü al tempo di Diocletiano Imperatore, alquale l'Egitto gli
era ribellato per causa di Achilleo, ö Arclieo; e havendolo Dio-
cletiano superato, e vinto, chiamo Costa da Cipro, e lo fece Re
di Alessandria: e cosi fu martirizata Caterina, come habbiamo
detto. Pietro Calo da Chiosa ^ chiama Chaterina Regina de Cipro
nella sua historia, e di cio esser Cipriota vedesi nel dominio piu di
sotto (Bl. 25''). — (Die Herrscher in Cypern) Circa li anni del nostro
Signore 290. in Cipro era Re Costa: il quäle fece chiamare la
cittä di Salamina Constantia dove esso f aceva residentia,
e li suoi Re predecessori. Era in questo tempo Diocletiano Im-
peratore, ed in Egitto regnava Achilleo; il quäle si rebellö dalF
Imperio Romano: onde Diocletiano andö da Roma in Egitto,
e vinse Achilleo, e gli diede la morte, e la cittä la mise ä sacco.
Allhora chiamo il Re Costa da Cipro, e gli diede il governo del
Regno di Egitto; il quäl lascio nel Regno di Cipro un suo fra-
tello: ed essendo in Alessandria, mori, e lascio una figliuola Cathe-
rina: la quäle cosi giovinetta; diventö delle-arti liberali sapientis-
sima. II Regno di Alessandria fü preso da Maxentio figliuolo di
Diocletiano Imperatore. Catherina, essendo morto il padre, fü
condotta in Cipro al Zio Re, il quäle stantiava in Salamina, over
Constantia. Costui vedendo la nepote essere Christiana, temendo
Maxentio, mise in prigione Catherina in Salamina: la quäl pri-
gione, come dicemmo, sta in piedi: e dipoi la volse mandare ä
Maxentio in Egitto, ö per revocarla, ö per castigarla: perche era
bellissima giovane, e sapientissima. La cavö dalla prigione, e la
mandö ä Paffo per imbarcarla: e quivi di novo fü posta in pri-
gione, fin che la nave fusse preparata, e poi la condussero in
Allessandria. Ella andö nel palazzo del padre, e vedendo un
giorno Maxentio, che perseguitava li Christiani, andö da lui, e lo
riprese, e la martirizö, come per l'historia e noto, e perche e mar-
tirizata in Alessandria, tutte le historie latine eccetto Pietro Calo
* Gestorben 1310. Der Dominikaner Petro Calo da Chiosa (Chiozza,
Chioggia) ist der Verfasser zweier starker Bände Vite de' Santi (nur hand-
schriftlicli in Italien vorhanden). Vgl. über ihn außer Fabricius. Bibl.
medii aevi s. v. Calo besonders Tiraboschi, Storia della letter. ital. Vi (1795),
S. 168. Es wäre wichtig, Calos Bericht näher kennenzulernen. Jeden-
falls stammt also die cypriotische Lokalisierung der Eltern Katharinas
bereits aus der Zeit vor 1300.
Zur Katharinenlegende 183
da Chioza dicono essere Alessandrina: ma giä dicemo de sopra
(Bl. 39^).
Schwerlich kann man diesem durch allerlei historische Zu-
taten bemerkenswerten Berichte Stephans von Lusignan ent-
nehmen, daß dies alles in einem griechischen Buche ent-
halten gewesen sei, da, wie bereits bemerkt, wir von der Existenz
eines solchen nichts wissen und jene Anspielung auf die 1 e -
genda graeca nur die allgemeine volkstümliche Tradition im
Auge hat, vor allem angelehnt an ein Gefängnis Katharinas.
Einen anderen Bericht, den des Archimandriten Kyprianos, des-
sen Buch 'lotOQia XQOvo/.oyim) vf]g viqoov Kvjvqov (Venedig
1788) mir nicht zugänglich ist, erwähnt J. Hackett: ^ 'Kyprianos'
Version of the legend differs materially from the above. He says
that her father, whom he calls Constans, was removed from
his Kingdom of Cyprus and banished to Alexandria because he
was suspected by the Emperors of plotting with the Persians.
On his death in exile Catharine, who had accompanied him, re-
turned to Cyprus. Moved by the persecutions, to which she saw
the Christians there subjected, she resolved to court a, martyr's
death. Boldly proclaiming her faith in Christ, she was appre-
hended by the governor and cast into prison at Famagusta.
Subsequently, by order of the tyrant Maximinus, who was her
father's personal enemy, she was conveyed to Alexandria, and
there put to death'. Auch hier ist von der Bekehrungsgeschichte
selbst nichts gesagt, nur jenes Stück über die Verleumdung des
Königs Costus, als ob er sich mit den Persern verschworen hätte,
begegnet uns in unseren lateinischen Texten. Ähnlich fabeln
übrigens Stephan und Kyprianos über den Ursprung des Städte-
namens Constantia, nämlich daß er auf einen König Con-
stans zurückgehe. Hackett (S. 244) erwähnt dies gleichfalls:
'We are informed that the Emperor Hadrian, having regard to
the remoteness of some of the provinces from Rome, sent thither
certain governors, or petty kings, as they are called, whom he
invested with independant powers f or their good order and go-
vernment. One of these so-styled Kinglets, who exercised autho-
rity about A. D. 290, during the reign of the Emperor Diolectian,
was Constans, after whom the city of Salamis was called
Constantia.' Hingegen steht es fest, daß diese Benennung
nach Kaiser Flavius Constantius IL, dem dritten Sohne Kon-
stantins des Großen, erfolgt ist, der die Ruinen von Salamis
nach dem großen Erdbeben 345 wieder aufbaute und die neue
Stadt nach sich selbst benannte. Doch ist es nicht unsere Absicht,
die Fäden dieser cypriotischen Sage, die von der Conversio selbst
1 a. a. 0. S. 396.
184 Zur Katharinenlegende
nichts sagt und übrigens unseren lateinischen Versionen ganz
fremde Bestandteile angesetzt hat, noch weiter zu verfolgen. Wir
weisen aber auf die merkwürdige Katharinendichtung des John
Capgrave (1394 — 1464) hin, demzufolge der Priester Arrek
das griechische Original des Athanasius, die die Passio enthält,
in Cypem auf wunderbare Weise zur Zeit Urbans V. (1362 bis
1370) gefunden und ins Lateinische übersetzt haben soll.-^ Bei
Capgrave ist Costus König von Griechenland, Syrien und Cypern.
Die beiden Hauptstädte seines Reiches sind Amalek in Cypern,
der Freihafen für Syrien, und Alexandria in Ägypten. Im hohen
Alter wird ihm und der Königin Meliades von Armenien die
Tochter geboren, deren Namen over all + ryne (= ruina)
bedeutet. Aber Capgrave weiß nichts von den Opfern in Rodyan,
noch von Alphoncius, auch die Bekehrungsgeschichte (Einsiedler
Adrian, ein Felsenheiliger, der auf Marias Geheiß nach Alexan-
dria kommt) weicht von sämtlichen Texten bedeutend ab. Darin
zeigt sich das Streben nach Variation, daß, um das Gedächtnis
des Königs Costus zu ehren, seine Residenzstadt Amalek, wo er
zumeist lebte und auch starb, den Namen Famagost bekommen
haben soll, indem das c von Costus in ein g hierbei verwandelt
wurde (I v. 489 ff.). Weit einleuchtender wird in unserem lat.
Haupttext der Conversio das Gegenteil ausgesagt, daß eben Costus
nach der Stadt Costa = Famagosta benannt wurde. Jene
angebliche lateinische Vorlage Capgraves, die er dem Arrek
zuschreibt, dürfte von ihm erdichtet sein. Auch ist es möglich,
daß ihn dazu eine dunkle Erinnerung an die lateinische Be-
arbeitung der Passio durch einen Arechis^ veranlaßt hat.
* The Life of St. Katharina of Alexandria ed. by C. Hör at mann.
London 1893 = Early English Text Society. Original Series. 100. Vgl.
K n u s t a. a. 0. S. 97.
2 Vgl. H. Varnhagen a. a. 0. S. 2 ff.
Greifswald. Alfons Hilka.
Aus dem Lager der Berliner Romantik.
1803 — 1804 hielt A. W. Schlegel seine berühmten Vorlesungen
in Berlin, in denen er über altdeutsche Dichtung und über das
Nibelungenlied ungeahnte Enthüllungen darbot. Unter seinen
Zuhörern saßen zwei junge Männer, die, von seiner Darstellung
bis in ihr Innerstes ergriffen, sich mit voller Begeisterung in die
neuverkündete Herrlichkeit altdeutscher Poesie vertieften und
sich zur Zeit der größten nationalen Unterdrückung befruch-
tenden Träumereien von deutscher Größe und deutschem Helden-
ruhm — in der Vergangenheit — überließen. Der eine von ihnen
sollte zum begeisterten Vorkämpfer des Nibelungenliedes, der
andere zum Wiedererwecker des germanischen Rittertums werden.
Die persönliche Freundschaft von v. d. Hagen und Fouque,^
ihre schriftstellerischen Beziehungen und auch die Ähnlichkeit
ihres literarischen Schicksals^ rechtfertigen ihre Zusammenstel-
lung an dieser Stelle, an der wir einige ungedruckte Briefe aus
der Wiener k. k. Hofbibliothek der Öffentlichkeit zu übergeben
beabsichtigen.
Es ist bekannt, daß außer A. W. Schlegel auch Johannes
V. Müller und L. T^eck auf die Entstehung der von der Hagen-
schen Nibelungen-Bearbeitung eingewirkt haben, ^ ebenfalls be-
kannt ist die ärgerliche Äußerung Friedrich Schlegels über dies
^ Ein poetischer Widerhall dieser Freundschaft findet sich in der Wid-
mung 'An Fichte' im Heldendes Nordens:
Nun ist verschwunden jener Zweifel Wahn,
Verschwunden vor den Bessern, Liebenden;
Wie sich auch Dumpfheit sperrt und Leerheit wundert.
Denn viele starke Jünger, bergmannskühn,
Sie drangen froh den lieben Vätern nach
In den verrufnen, vielgescheuten Fels,
Und von den alten, treuen Geistern unten
Mit elterlicher Traulichkeit begrüßt,
Erforschten sie manch edlen Schatzes Kammer
Und brachten schön geläutert Gold herauf;
Vor allem das vom Nibelungenhort.
Drob ein geweihter Sehatzesgräber, noch
Mit starker Wünschelrut ein Hagen kämpft,
Verbessernd so des grimmen Hagne Schuld.
Viel schon gewann er, wird noch mehr gewinnen.
Daß, die noch Kinder sind in dieser Zeit,
Dereinst aufwachsen mit der teuern Lehre
Von Siegfrieds Taten, von Kriemhildens Treu!
2 Josef Körner, 'Nibelungenforschungen der deutschen Romantik' (Leipzig
1»11), p. 128 ff.
* Hagen widmete sein Werk Job. Müller; als Muster zu seiner Moderni-
sierung diente ihm Tiecks Übertragung der Minnesänger. (Vgl. R. Raumer,
'Geschichte der germ. Philologie' [1870], p. 331 ff.
186 Aus dem Lager der Berliner Romantik
Unterfangen 'eines anderen'.-^ Friedrich Schlegel wurde in dieser
seiner Haltung durchweg von persönlichen Motiven geleitet, auch
konnte er v. d. Hagen gegenüber um so weniger im Recht sein,
da dieser bei seinem Unternehmen selbst von Fr. Schlegelschen
Ideen Anregungen erhalten und dies in einem höflichen Briefe
nach Köln dankbarst anerkannt hatte. Er suchte in seiner naiven
Unwissenheit ein näheres Verhältnis zu Schlegel anzubahnen und
ihn für seine verschiedenen wissenschaftlichen Pläne zu gewinnen.
Im Mittelpunkte seiner Untersuchungen stand sein ganzes
Leben hindurch das Nibelungenlied und die epische Dichtung des
Mittelalters, darum beziehen sich seine Bitten und Wünsche
hauptsächlich auf dieses Gebiet seines literarischen Wirkens.
Seine Zuschrift eröffnete tatsächlich eine briefliche Verbindung
der beiden Schriftsteller.
Heinrich v. d. Hagen an Friedrich Schlegel.
1.
Berlin d. 25 t Sept. 7.
Hochgeehrtester Herr Professor,
Mit Vergnügen ergreife ich diese Gelegenheit, dem Exemplare meiner
Bearbeitung der Nibelungen,* welches die Frau Professorin Unger^ Ihnen
zusenden will, diese wenigen Worte zum Zeichen meiner schon lange ge-
hegten Achtung beizufügen u. mich auch um Ihr freundliches Wohlwollen
zu bewerben, besonders da Ihr allbekanter Eifer für die alte vaterländische
Literatur nicht wenig den meinen angefacht u genährt hat.* Meine Plane
in Ansehung derselben werden Sie aus dem Anhange ersehen, u wen ich Ihnen
nach dem Geleisteten derselben nicht unwürdig erscheine, so bitte ich Sie recht
freundlich um Mitwirkung zu denselben, besonders was die Aufstellung
eines vollständigen Heldenbuchs deutscher Nazion angeht, in gleicher Weise
wie die Nibelungen bearbeitet u aus den ältesten Urkunden ;6 ich habe dazu
schon die Dresdner, Straßburger u Münchener Handschriften u Drucke,
auch habe ich durch Uhden Hoffnung zu den Vatikanischen,^ mich dünkt
1 Schlegel an Tieck, 26. August 1807. (K. Holtei, 'Briefe an L. Tieck'
[Breslau 1864], III, p. 332.)
2 'Der Nibelunden Lied.' Berlin, Unger, 1807.
ä Die Frau des Verlegers Unger, auch als Romanschriftstellerin bekannt
und hierin Rivalin von Dorothea Schlegel.
* Über Schlegels Verdienste um das deutsche Altertum vgl. R. Soko-
lowsky, 'Der altdeutsche Minnesang im Zeitalter der deutschen Klassiker
und Romantiker' (Dortmund 1906), p. 120; Raumer, 'Geschichte der ger-
manischen Philologie' (1870), p. 308 fiF.
» Auch L. Tieck beschäftigte sich lange Zeit mit dem Plane eines moder-
nisierten Heldenbuches und trat zu einem gemeinschaftlichen Unternehmen
mit Hagen in Verbindung, er stellte ihm auch seine Abschriften und Be-
arbeitungen zur Verfügung, dieser gab aber das Heldenbuch doch allein
heraus. (Vgl. L. G. Klee, 'Zu L. Tiecks germanistischen Studien'. Progr.
[Bautzen 1895], p. 25 ff.)
8 Später erhielt er die Abschrift der Vatikanischen Manuskripte von
Tieck (Klee, a.a.O.). — • Wilh. Uhden, Archäologe und preußischer Geschäfts-
träger im Vatikan vor Humboldt; Förderer deutscher Kunst in Rom. (Vgl.
Fr. Noack, 'Das deutsche Rotn' [Rom 1912], p. 143.)
Aus dem Lager der Berliner Romantik 187
aber imer, es müßten in Ihrer Gegend, dem eigentlichen Schauplatz so vieler
dieser Fabeln (der Nibel., des Rosengarten, Ecken Ausfahrt) u dem alten
Mittelpunkt des Fränkischen Reichs, noch manche Stücke dieser Art zu
finden sein, zur Ausfüllung verschiedener Lücken in diesem sonst so großen
u eng verbundenen Cyklus. Bis dahin muß die Vorrede zum gedruckten
Heldenbuch^ u besonders die Wilkina- u Niflunga-Saga, welche, beide Ein
Werk, ein wahrer thesaurus deutscher Heldenfabeln sind,^ zur Ergänzung,
so wie zum Leitfaden des mythischen Zusamenhanges dienen. Eine Ent-
deckung dieser Art würde äußerst erfreulich sein. Außerdem werden Sie
nächstens wohl eine Ankündigung zur Fortsetzung der MüUerschen Sam-
lung,^ oder vielmehr Anfang einer neuen, durch mich u meinen Freund
Büsching zu Gesicht bekomen:* sollten Sie auch hiezu durch Mittheilung
guter Originale, oder Abschriften derselben mitwirken köjTen u wollen, so
würden wir es mit Dank erkenen. Endlich möchten wir diese Bitte auch
zur Fortsetzung einer von uns vor 1/2 Jahr herausgegebenen Samlung deut-
scher Volkslieder* (denen Niederländische u Französische beigefügt sind)
wiederhohlen. Sie sehen der Plane, wie der Bitten, sind auf einmal viele,
aber was auch nur davon in Erfüllung gehen mag, so ist schon der gute
Wille, sowie das Vergnügen des Planmachens, so ist schon der Beifall der
Trefl'liclien und Verehrten Lohnes genug; u mein nächster Wunsch ist nur,
mir diesen von Ihnen in etwas zu verdienen.
Ihr ergebenster
Fr. Heinrich v. d. Hagen.
Die historische Einleitung zu den Nib., worin ich von der Geschichte des
Mythus u aller damit zusameuhangenden Fabeln des Heldenb., von ihrer
historischen Grundlage u Literatur handele wird nächstens als ein beson-
deres Werk erscheinen," dahin gehörige Mittheilungen wären mir aber imer
noch willkomen.
Adresse: An den Herrn Professor Friedrich Schlegel
Wohlgebohren zuCöln.
Mittlerweile war Schlegel nach Wien übersiedelt. Eine
mehrere Jahre später erschienene Lebensskizze von ihm berichtet
über diese Übersiedelung: 'Ein von ihm mit vorzüglicher Liebe
bearbeitetes, aber niemahls herausgekommenes historisches Drama,
Carl der Fünfte, war die Ursache, daß er sich im Herbst des
Jahres 1808 nach Wien begab, um daselbst durch Benutzung der
historischen Documente der Archive seinem streng historischen
Dichterwerke eine größere Vollendung zu ertheilen.''^ Er arbeitete
^ Es ist die prosaische Vorrede des zuerst im 15. Jahrhundert gedruckten
'Heldenbuches' gemeint (neu hg. A. v. Keller, 'Bibl. des Lit. Vereins in Stutt-
gart', Bd. 87), die aus einer Straßburger Handschrift auch in Hagens
'Grundriß' (p. 2 ff.) mitgeteilt ist.
' Dieselbe Meinung in Hagen-Büsching, 'Museum für altdeutsche Lite-
ratur und Kunst' II, p. 337 ff., und 'Grundriß', p. 1.
3 Chr. H. Myller, 'Sammlung deutscher Gedichte aus dem 12., 13. und
14. Jahrhundert' I, 1782—1784.
« 'Deutsche Gedichte des Mittelalters' I, 1808.
^ 'Sammlung deutscher Volkslieder' von v. d. Hagen und Büsching, 1807.
8 In dieser Form nicht erschienen. (Vgl. Th. Abeling, 'Das Nibelungen-
lied und seine Literatur', Leipzig 1907, Suppl. 1909.)
^ Hormayrs 'Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst'
1817, p. 149.
Archiv f. n. Sprachen. 140. 23
188 Aus dem Lager der Berliner Romantik
tatsächlich schon seit Jahren an einem Drama über Karl V./
und leicht möglich konnte er dies Werk als Vorwand zu seiner
Wiener Reise angeführt haben. In Wirklichkeit aber waren es
politische Gründe, die ihn dahin führten. Wenn Dorothea am
30. Juni 1806 Caroline Paulus zuruft: 'Ich sage Dir, es ist jetzt
in ganz Deutschland kein Heil als unter dem Hause Oesterreich!',^
so bringt sie eigentlich die Anschauung Friedrichs zum Aus-
druck; schon seit dem November desselben Jahres kommen
wiederholt die Wiener Pläne und Aussichten in ihrer Korrespon-
denz zur Sprache.^ Ihre Hoifnungen sollten sich bald verwirk-
lichen, Schlegel war in österreichischen Staatsdienst getreten und
hatte eine nicht unbedeutende politische Rolle überkommen,
außerdem aber fand er als Journalist und Redakteur einen auch
seiner literarischen Vergangenheit angemessenen Wirkungskreis.
Auch die in Wien befindlichen literarischen Schätze aus dem
deutschen Altertum zogen seine Aufmerksamkeit auf sich, so daß
er ihre Erschließung und Veröffentlichung zu einer der Haupt-
aufgaben seines 1812 gegründeten 'Deutschen Museums' machen
konnte. So parallellaufende Bestrebungen mußten eine weitere
Annäherung v. d. Hagens zur Folge haben, auch die wechsel-
seitigen Beziehungen zu Fouque, den ja A. W. Schlegel in die
Literatur eingeführt hatte, mußten die weitere Verbindung mit
Hagen ermöglichen. Ein Brief des letzteren, der auf Wiener
Manuskripte bezügliche Bitten enthalten haben muß, ist derzeit
verschollen; der nächste aber, der an Schlegel mit neuen Bitten
herantritt, ist erhalten geblieben.
2.
Berlin d. Uten Oct. 1811.
Von unserm gemeinschaftlichen Freunde, dem wackern Fouqug (oder
Volk»r,* wie ich ihn lieber nenne) habe ich einige Papiere für Sie erhalten,
welche ich Ihnen hier übersende. Wir haben, wie ich höre, von Ihnen eine
Rezension zu erwarten von dem Helden des Nordens,^ auf welche ich sehr
begierig bin. Den Iten Theil habe ich damals in der Hall. Lit. Z. an-
^ 'Dorothea von Schlegel und deren Söhne Johannes und Philipp Veit.
Briefwechsel', hg. von J. M. Raich (Mainz 1881), I, p. 192 f., 206, 214, 221,
247, 250, 290. — In Wien ließ er seinen Plan ganz fallen. (Hormayr an
Böttiger 6. II. 1829. Kgl. Bibliothek zu Dresden.)
» Raich I, p. 166. ^ Ebenda I, p. 187, 208.
♦ Wahrscheinlich infolge der Ähnlichkeit der beiden Namen. Fouquö
selbst leitete seinen Familiennamen von einem normannischen 'Folko' ab,
den er dann auf seinen Lieblingshelden in der Erzählung 'Sintram und seine
Gefährten' und im Roman 'Der Zauberring' übertrug. Freunde wie Doro-
thea begegneten dieser Vorliebe mit zuvorkommender Nachsicht und nannten
ihn in ihrem Briefwechsel mit seinem Lieblingsnamen. (Vgl. 'Briefe an
Fouquö' [Berlin 1848], p. 374 ff.)
"* Die bekannte Nibelungen-Trilogie Fouqu6s (1810). Schlegels Rezension
erschien im 'Deutschen Museum' (1812), p. 185 ff.
Aus dem Lager der Berliner Romantik 189
gezeigt,* werde es aber wol dabei bewenden lassen. — Bei dieser Gelegen-
heit bitte ich Sie auch recht freundlich um eine baldige Antwort meines
vielleicht zu langen Briefes; ich habe schon lange auf eine oder andre der
darin erbetenen Abschriften gehoft, u thue es jetzt um so mehr, da ich
nächstens eine Ankündigung des 2-ten Bandes der Saml. Altd. Ged. bekannt
machen werde. Unterdeß ist von mir (außer dem Narren-* u Heldenbuch*)
jetzt eben der liter. Grundriß zur Gesch. der deut. Poesie bis 1500 fertig
geworden,* welchen Ihnen Hitzig^ vermuthlich auch schicken wird. In
Rücksicht auf diesen ist immer noch die Entdeckung eines deutschen
Walther von Aquitanien zu Wien* ein f romer Wunsch, der viel-
leicht Ihnen zu erfüllen aufbehalten. Demnächst möchte ich Sie besonders
auf das S. 548 angeführte Mspt. der ehmaligen Windhagenschen
Bibl., jetzt zu Wien, aufmerksam machen.^ Ist es ein besonderes Gedicht
Dietrich von Bern, oder nur Theil einer aus solchen Gedichten mit ge-
zogenen Chronik, wie die Heinrichs von München?^ Es liegt uns doch so
besonders viel daran, den ganzen Cyklus der nazionalen Dichtungen kennen
zu lernen.
Ich freue mich sehr darauf, Ihnen bald beträchtlich näher zu kommen,
indem ich in wenigen Tagen von hier als Bibliothekar nach Breslau gehe;
u ich hoffe zuverlässig von dort aus Sie nächstens zu besuchen u Ihre mir
schon so lange erwünschte persönliche Bekanntschaft zu machen. Die
erste Reise, die ich von dort mache, ist gewiß Wien, wohin mich auch be-
sonders der große Hort altdeutscher Hdst. so mächtig zieht. — Zuförderst
bitte ich Sie aber noch, mich recht bald mit einer Antwort zu erfreuen
u mich in freundschaftlichem Andenken zu behalten. T^ ti. •
Der Ihrige
F. H. V. d. Hagen
Ich bin so frei gewesen. Hitzigen aufzutragen Ihnen ein Exempl. von
Nyerups Symbol, ad lit. Teut. ant.^ beizulegen, von welchem der Heraus-
geber mir die 12 letzten Exempl. zum gelegentlichen Absatz geschickt hat.
Da diese Samlung reichhaltig u nicht häufig ist, so ist sie Ihnen vielleicht
willkommen. Sonst findet sich dort auch wol irgend ein Liebhaber dazu.
Eben erhalte ich Hofstäters Buch;" es scheint mir doch sehr überflüßig.
1 Der erste Teil 'Sigurd der Schlangen töter' war 1808 erschienen.
Hagens ausführliche Rezension steht in Nr. 245—246, 7. und 8. Sept. 1809,
der Haller Allg. Lit. Zeitung III, Sp. 49—59.
2 Halle 1811.
* Die Erneuerung des Heldenbuches, Bd. I, 1811.
* Berlin, Duncker und Humblot, 1812. Als Verfasser sind Hagen und
Büsching angegeben, doch ist es ganz das Werk des ersteren.
* Julius Eduard Hitzig, der Freund und Verleger Fouqu4s.
° Kritische .Behandlung der Wiener Walther-Manuskripte durch R. Hein-
zel in den Sitzungsberichten der Wiener Akademie, Phil.-Hist. Klasse,
Bd. 117, 1889.
^ Es handelt sich um den Cod. ms. 2779 ('Deutsches Heldenbuch' III
[1871], S. VI, irrtümlich 2279) der Wiener Hofbibliothek, enthaltend die
'Kaiserchronik bis auf die Gegenkaiser Konrad und Friedrich', 'Dietrichs
Flucht zu den Hunnen', die 'Ravennaschlacht' usw. (Hoffmann von Fallers-
leben: 'Verzeichnis der altdeutschen Handschriften der k. k. Hofbibliothek
zu Wien' [Leipzig 1841], p. 13 ff.).
8 Es ist die Fortsetzung der 'Weltchronik' von Rudolf v. Ems gemeint.
8 Rasmus Nyerup, dänischer Germanist, Professor in Kopenhagen, Mit-
arbeiter und Freund v. d. Hagens. Sein Werk 'Symbolae ad literaturam
Teutonicam antiquam' war 1787 erschienen.
*» Felix Franz Hofstätter, 'Altdeutsche Gedichte aus den Zeiten der
Tafelrunde', 2 Teile, Wien 1811.
13*
190 Aus dem Lager der Berliner Romantik
Auch Fouque, der Freund v. d. Hagens, stand mit Friedrich
in Korrespondenz. In der Ausgabe des Fouqueschen Brief-
wechsels sind drei Briefe Schlegels mitgeteilt/ von Fouques Ant-
worten aber sind bloß einige Zeilen erhalten, die er einem Brief
Philipp Veits beigefügt hat,^ außerdem ist ein Brief an Doro-
thea und Friedrich^ und einer an Dorothea allein'^ bekannt. Ein
weiteres Schreiben an Friedrich kommt hier zum Abdruck. Es
ist die Antwort auf den Brief Schlegels vom 22. Juni 1811, in
dem dieser dem preußischen Dichter über den Eindruck des 'Sigurd'
und über seine geplante Rezension berichtet, ferner Aufschluß
über Hülsens Nachlaß bittet und Fouque ermuntert, 'der nordi-
schen Muse nicht ungetreu' zu werden. Auf diese Zeilen über-
strömt der Dichter des Nordens seinen geistigen Führer mit einer
endlosen Reihe von literarischen Plänen.
Fouque an Friedrich Schlegel.
Nennhausen bei Rathenaw in der Mark Brandenburg,
am 25. Julius 11.
Ihr liebreicher und ehrender Brief hat mich unendlich erfreut. Ich
erkenne es für einen großen Seegen Gottes an, daß mein Sigurd so tief in
Gemüther, wie das Ihrige und das Ihrer Frau Gemahlin — denn ich weiß
durch unsern Isidorus,^ daß auch sie ihn gern und öfters wieder liest —
zu dringen vermochte. Schon früher habe ich es Ihnen gesagt, daß ganz
besonders bei jenem Gedichte das Leben Ihrer Poesie mich umschwebte, und
daß ich Niemandem auf der Welt lieber damit gefalle, als eben Ihnen. Daß
mir nun dieser Wunsch in solchem Maa.ße erfüllt ist, verdanke ich, wie es
mir mein klarstes Gefühl sagt, nicht eigner Kraft, sonder dem unnenn-
baren Etwas, welches Gott aus Gnaden giebt und das sich oftmals aus dem
Menschen auf eine Weise herausspricht, über die er in seiner Ichheit kaum
Rechenschaft geben kann, dafern er aber ehrlich mit sich umgeht, in eben
dieser Ichheit nicht anders, als die tiefste Demuth empfinden kann. —
Sie haben mir das ganze Herz aufgeschlossen mit Ihren Worten, und müssen
es nun schon gütig aufnehmen, wenn sich Ihnen auch das Verborgenere
darin kund zu geben strebt.
Ohne Zweifel sind nun die vaterländischen Schauspiele^ bereits in Ihren
Händen, und ich wünsche vom ganzen Herzen,'' daß Sie und Ihre Frau Ge-
mahlin auch an dieser Dichtung Freude finden mögen. Den Waldemar
trage ich seit, meiner Kindheit mit mir herum,^ und habe ihn oftmalen in
^ 'Briefe an Friedrich Baron de la Motte Fouquö', hg. von Albertine
Baronin de la Motte Fouqu6 (Berlin 1848), p. 368—373.
2 Raich, 'Dorothea v. Schlegel' (Mainz 1881) II, p. 201. — 6. Sept. 1813.
3 Ebenda II, 210. — 29. Sept. 1813.
4 Ebenda II, 267. — 24. Juni 1814.
6 Schriftstellername des Grafen Otto Heinrich v. Loeben (1786—1825),
der als Lyriker in der romantischen Bewegung einen geachteten Platz ein-
nahm.
8 'Vaterländische Schauspiele' 1811. — I. 'Waldemar der Pilger, Mark-
graf von Brandenburg.' — IL 'Die Ritter und die Bauern.'
^ Ursprünglich 'Seele' statt 'Herzen'.
8 Die 'Lebensgeschichte des Baron Friedrich de la Motte Fouqu6. Auf-
Aus dem Lager der Berliner Romantik 191
Wald und Garten vor andern Kindern oder auch ganz allein aufgeführt.
Es ist gut, daß ich ihm diese theatralischen Darstelhmgen im Voraus habe
angedeihen lassen; auf unsern heutigen Bühnen möcht« er schwerlich dazu
gelangen. Ihr Bruder — mein mir unendlich lieber und verehrter Meister
— ließ mir vor einiger Zeit einmal durch Chamisso schreiben, ich solle
doch für die Bühne dichten; es seien ja selbst Aeschylos und Shakespeare
bereit gewesen, sich nach ihr zu fügen. Aber ich mußte ihm erwiedern,
daß Aeschylos und Shakespeare auch keine Ahnung von einem Bühnenwesen,
wie unser heutiges leider ist, gehabt hätten, und daß ich nun schon bei
meiner Weise bleiben müsse, höchstens auf eine mögliche Darstellbarkeit
Rücksicht nehmend. Was meinen Sie dazu? — Der nordischen Muse will
ich, Ihrer Mahnung getreu, gewiß immer meine hauptsächlichsten Kräfte
zuwenden. Zwei Heldenspiele liegen fertig, zu deren Beschluß aber mir die
Sage noch immer zu dunkel leuchtet.^ Ich denke mich um deren willen mit
Gräter^ in Briefwechsel zu setzen. Jetzt dichte ich an einem großen Ritter-
roman, welcher Deutsche, Spanische, Französische, Englische und vorzüg-
lich meine lieben Nordländischen Ritter unter einander in Berührung
bringen soll.^ Nach dessen Beendigung schwebt mir ein Heldenspiel von
dem Leben und Thaten Alboins vor,* deren Lesung in Paul Warnefrieds
gestis Langobardorum mich sehr anregt. — Was unsres Hülsens^ Nachlaß
betrifft, der allerdings in sofern er der Welt bestimmt war, ihr nicht vor-
enthalten werden darf, so habe ich darüber an seinen nächsten und, wenn
ich mich so ausdrücken darf, von ihm durchdrungensten Freund, Erich
von Berger,^ geschrieben. Er muß die Papiere in Händen haben, und ist
wohl befugt, sie zu ordnen und bekannt zu machen. Ich habe ihm meine
Hülfe bei der Herausgabe angeboten, oder ihn, falls er mir das Geschäft
übertragen will, um die seinige gebeten. Nur werden wir leider in Hin-
sicht des W i e vielleicht genöthigt sein auf Aeußerlichkeiten Rücksicht
zu nehmen, denn Hülsens Wittwe und Kind sind arm zurückgeblieben.
Inwiefern dies bestimmen kann, muß Berger, der die Umstände der Fa-
milie genau kennt, am besten entscheiden, und ich habe desfalls bei ihm
angefragt. Sobald dies Geschäft, für das Sie sich mit so freundschaftlicher
Treue interessiren, einen bestimmten Gang nimmt, erhalten Sie Nachricht
darüber von mir. —
Eine Abschrift der Hagenschen Sigurdrezension erhalten Sie entweder
beigehend oder nächstens durch meinen Freund Hitzig. Was er Ihnen aber
gewiß bei legt, ist das Frühlingsheft meiner Jahreszeiten ( der Verfasser des
Todesbundes bin ich selbst).' Hier komme ich nun mit einer recht herzlichen
gezeichnet durch ihn selbst' (Halle 1840, p. 305), erwähnt auch, daß dieses
Stück seit seinen Knaben jähren in ihm geschlummert hat.
1 Wahrscheinlich zwei der 1813 erschienenen 'Dramatischen Dichtungen
für Deutsche', von denen 'Alf und Yngwi', 'Irmensäule' und 'Runenschrift'
in Betracht kommen können.
' Der bekannte Germanist.
3 'Der Zauberring' (1812).
* 'Alboin der Laugobardeukönig. Ein Heldenspiel' (1813).
"* Der mystische Philosoph der romantischen Schule, Erzieher und Freund
Fouquäs, Gatte seiner Kusine. Vgl. über ihn: R. Haym, 'Die romantische
Schule' (1914') ; 'Lebensgeschichte des Baron Fr. de la Motte Fouqu6', p. 66ff.,
294 f. — Auch Schelling interessierte sich für den Nachlaß ('Briefe an
Fouquß', p. 349), den Fouqug in seiner 'Allgemeinen Zeitschrift von Teut-
schen für Teutsche' (1813) Heft 2 herausgab.
« Joh. Erich v. Berger, Professor der Philosophie in Kiel (1772—1833).
' 'Jahreszeiten, eine Vierteljahrsschrift für romantische Dichtungen', die
schon mit dem Winterheft 1814 einging. Das erste Heft brachte 'Undine,
eine Erzählung vom Verfasser des Todesbundes'. Anfänglich wurde infolge
192 Aus dem Lager der Berliner Romantik
Bitte. Unterstützen Sie diese Zeitschrift mit Beiträgen; wenn es sein
kann, recht bald. Romanze, JErzählung, Dramatisches Gedicht, was es auch
sei, ich werde es aus Ihrer Hand mit innigem Dank empfangen. Durch die
Aeußerung im Vorwort, man wolle blos unterhalten, lassen Sie sich gewiß
nicht abschrecken, wohl fühlend, es sei dies ein Versuch, ob es sich das Volk
einmal gefallen lassen wolle, daß man ihm nach einer Einleitung, wie es sie
fordert, etwas Gutes geben könne. Machen Sie meine Hoffnung auf Ihre
freundschaftliche Beihülfe nicht zu Wasser; ich vertraue so fest darauf, und
sehe ihr mit so vieler Freude entgegen.^
Dem lieben Isidorus habe ich Ihren Gruß bereits zugeschrieben. Ja wohl
ist das ein recht herzensguter, kindlich reiner Mensch, in dem gewiß noch
vieles Herrliche liegt, und zu seiner Zeit hervorströmen wird an das Licht
der Welt. Es ist mir gelungen, ihn zu einem recht ernsten Studium der
Nibelungen zu bringen, und ich habe eine große Freude darüber.
Leben Sie wohl, und kann es sein, so erquicken Sie mich bald wieder
einmal durch Ihre Worte. Ihrer Frau Gemahlin meinen innigsten und ehr-
erbietigsten Gruß. Ich bin mit herzlicher Achtung und Freundschaft
ganz der Ihrige
Fouquö.
Aus zeitgenössischen Berichten erhellt die ungemeine Popu-
larität, deren sich Fouque im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahr-
hunderts in Wien erfreute. Wenn auch die Lobeserhebungen
seiner Wiener Korrespondenten, wie die Familie Schlegel oder
M. V. Collin^ nicht eben hoch beanschlagt werden können, muß
dem unparteiischen Zeugnis Brentanos^ um so mehr Wichtigkeit
beigemessen werden. Fouque war in Wien Mode geworden, Bei-
träge von ihm efschienen in den Zeitschriften, Werke von ihm
wurden nachgedruckt, und seine Beliebtheit erstreckte sich auch
auf die Provinzgebiete der Wiener Kultur.'* In den 'Briefen an
Fouque' ist aus der Wiener Schriftstellerwelt außer dem Ehepaar
Schlegel bloß Matthäus v. Collin vertreten, doch wissen wir, daß
auch Frau Pichler freundschaftlich mit ihm verkehrte, und selbst
eine Verbindung mit Hormayr wird vielleicht angenommen
werden können.^ Von Collin brachten die 'Briefe' fünf Zu-
schriften; sein erstes Schreiben wird wohl verlorengegangen sein,
da der undatierte Brief Collins, der in der Ausgabe an erster
Stelle steht, schon eine Antwort auf Fouques hier folgenden
ersten ist.
einer Verwechslung von 'Todesbund' und 'Tugendbund' Gneisenau für den
Verfasser gehalten ('Lebensgeschichte von Fouquö', p. 306). Fouqu6 scheint
diesem Gerücht vorbeugen zu wollen.
^ Schlegel lieferte keine Beiträge zu den 'Jahreszeiten'. Vgl. 'Bibliographi-
sches Repertorium' I. Walzel-Houben, 'Zeitschriften der Romantik', 212 ff.
2 'Briefe an Fouqu6', p. 58 ff., 368 ff.
3 Reinhold Steig, 'Achim von Arnim und Clemens Brentano' (Stuttgart
1894), p. 336. — Wien, 5. April 1814.
* M. Murko, 'Deutsche Einflüsse auf die Anfänge der böhmischen Ro-
mantik' (Graz 1897), p. 26, 41.
ö In Hormayrs 'Archiv' war 1813 eine prosaische Sage und eine Ballade
von Fouqu6 erschienen.
Aus dem Lager der Berliner Romantik 193
Fouque an Matthäus v. Colli n.
1.
An Herrn Matthäus Edlen von Collin.
Die herzliche Achtung, welche ich Ihrem seeligen Bruder^ schon seit dessen
erstem Auftreten schuldigerweise zollte, hat sich noch sehr gesteigert seit
vor Ihrer kräftigen Schilderung sein Bild in höchster Eigenthümlichkeit und
unverkennbarer Wahrheit vor mir heraufgestiegen ist. Aber Sie haben mir
noch mehr bescheert, als das; Sie haben mir und jedem Empfänglichen ein
klares Bild des so höchst wichtigen, so vielfach ringenden Zeitalters auf-
gestellt, in welches Heinrich CoUins edles Leben fiel. Sehr vieles ist mir
anschaulicher, reiner, freier seitdem geworden, und es versteht sich also
von selbst, daß ich Ihnen für eine Kräftigung und Erhellung meines ganzen
Seins zu danken habe. Sie wissen ohne Weitres, wie viel das sagt.
Sodann empfangen Sie auch freundlich meinen herzlichen Dank für die
Mittheilung Ihrer dramatischen Dichtungen.* Mein Lieblingsheld darunter
bleibt der tapfre Babenberger,^ der mir gar tief ins Herz gegriffen hat!
Der Marius ist sehr reich an erhebenden und erschütternden Momenten, und
vielleicht rührt meine ausschließliche Vorliebe für den streitbaren Friedrich
mit von meiner Vorliebe für alles Ritterthum her. Aber es ist nun ein-
mal so.
Ich schrieb Ihnen nicht früher, weil ich erst Alles, was Sie mir so gütig
zusandten, lesen wollte, und weil man Werke, wie die Ihrigen, weder
flüchtig lesen kann, noch darf.
Nächstens sende ich Ihnen durch unsern Freund Büsching ein Werklein
von mir, dessen Titelkupfer Ihnen, dem persönlich unbekannten gütigen
Freunde sagen mag, wie ich aussehe.* Lassen Sie mich doch wissen, ob Ihr
Antlitz dem Ihres seeligen Bruders gleicht.'
Mit aufrichtiger Achtung
Ihr ganz ergebener
Friedrich Baron de la Motte Fouqu§
Major und Ritter.
Anmerkung auf der Außenseite: 'pr. 19t Xbr 814'.
Nach längerer Pause suchte Collin Fouque am 7. August 1816
wieder auf, doch hat sich dessen Antwort nicht erhalten. Auf
seine nächste Zuschrift vom 31. März 1817 erfolgte folgendes
Schreiben:
^ Der zu seiner Zeit gefeierte Wiener Dramatiker Heinrich Josef
V. Collin (1772—1811), dessen sämtliche Werke der jüngere Bruder (1813—14)
herausgab und mit einer eingehenden Biographie (Bd. VI) versah.
^ 'Dramatische Dichtungen von M. v. Collin' I — II (Pest, Hartleben,
1813), enthaltend: 'Der Tod Friedrichs des Streitbaren', 'Der Cid', 'Marius',
'Calthon und Colmal'.
3 Friedrich der Streitbare.
* Wie aus der Antwort CoUins ersichtlich, war auch dieser Brief durch
Büsching vermittelt worden. Fouquö meint hier das Winterheft 1814 der
'Jahreszeiten', dem ein Porträt von Philipp Veit beigefügt war, das aber
im Kupferstich in Wien schon früher allgemein verbreitet gewesen.
5 Das Bild H. J. Collins in der Gesamtausgabe von 1813—1814.
194 Aus dem Lager der Berliner Romantik
Herrn v. Colli n.
Nennhausen, am 5 t Julius 1817.
Ihre vaterländischen Dichtungen^ sind mir wie aus der Seele geschrieben,
geehrter Herr und Freund. Ich konnte gar nicht vom Lesen fortkommen,
und ward dann natürlich nochmals zu Friedrich des Streitbaren Tode hin-
gezogen. Sie schreiten rüstig und schön vorwärts auf der betretnen, edlen
Bahn,^ in Eigenthümlichkeit und Kraft, der Tugend und den Mängeln,
ja den Lastern Ihrer Helden das volle Recht gebend, und eben dadurch sie
unserm Gemüthe so nahe rückend, und — wo Versöhnung möglich ward —
uns die Versöhnung so freudig in's Herz legend. Wenn ich Einzelnheiten
loben soll, so stelle ich den Hadmar Kunring* oben an, diesen Helden von
furchtbar tragischer Größe, beinah so schauerlich, ja gräßlich als Hagene,
und dennoch von tiefer, bisweilen wirklich zarter Liebenswürdigkeit. Man
geräth nahe dran, an der Möglichkeit seiner innern Rettung zu verzweifeln,
und fühlt sich nun unbeschreiblich beruhigt., und sicher darüber am Schluß.
Er faßt seine Buße eben so kräftig, oder vielmehr weit kräftiger an, als
vorhin die Sünde, und wird gewiß gar herrlich und klar damit zu Stande
kommen. Nun bekenne ich noch, daß mir eine Kleinigkeit fehlt, eine Thor-
heit vielleicht. Ich hätte gern von der dummen Liese^ Dummheiten — von
den nicht unsittlichen versteht sich von selbst — mehr aus der wunderlichen
Kreatur eignem Munde vernommen. Es war aber freilich wohl in gewisser
Hinsicht allzuverletzlich geworden. Steckt ja doch ohnehin ein tiefer, war-
nender, fast schwermüthiger Ernst in dieser tollen Erscheinung und der
Bethörung zwei muthiger Ritter für sie! — Nur daß freilich ein Hartneid'
ganz drüber zu Grunde gehn muß; für einen Hadmar wird es nur eine
irdische Fegfeuerflamme mehr. — Butes hat mich mit Bewunderung erfüllt,
aber doch am Schlüsse mit allzutrübem Entsetzen. Es leuchtet der ewige
Himmel wohl mit seiner Wahrheit durch die heidnischen Wetterwolken hin.
aber ich hätte gern noch mehr von der lichten Bläue mit eigenen Augen
erschaut. — Nehmen Sie meinen herzlichsten Dank für die ganze reiche
Gabe, und möge es Ihnen Gott verleihen, noch recht viel, vorzüglich in
Ihrer oesterreichischen Heldenbahn zu dichten, Ihnen und uns Allen zur
Erquickung und Erhebung.
Hoffentlich ist mein früherer Brief nun schon längst in Ihren Händen.
]\lit meinem altsächsischen Bildersaale* schreitet es rasch, und wie ich hoflfe,
gut vorwärts. Ueberhaupt werde ich Sie nun bald mit erwiedernden Liebes-
grüßen fast überschütten können. Möchten Sie so viele Freude daran
finden, als ich an den Ihrigen. — Mit meiner Gesundheit geht es Gottlob
sehr erträglich; weit besser wenigstens, als im vorigen Jahr.
Erhalten Sie mir Ihre Freundschaft, und lassen Sie unsre Mittheilungen
nicht so lange unterbrochen werden.
Mit aufrichtiger Hochachtung der Ihrige
L. M. Fouquß.
1 'Dramatische Dichtungen' III— IV (Pest, Hartleben, 1817), enthaltend:
'Bela.s Krieg mit dem Vater', 'Die feindlichen Söhne', 'Der Tod Heinrich
des Grausamen', 'Butes', 'Der Streit am Grabe', 'Die Kunringer'.
2 Vgl. Jos. Wihan, 'M. v. Collin und die patriotisch-nationalen Kunst-
bestrebungen in Österreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts'. ('Euphorien'
1901, Ergänzungsheft V.)
' Personen in den 'Kunringern'. Liese, die Geliebte Hadmars, trotz
ihrem Namen gar nicht dumm. Die ganze Gestalt ist verfehlt. Hartneid
von Ort ist Hadmars Rivale bei Liese.
« I— IV, 1818—1820.
Aus dem Lager der Berliner Romantik 195
Sein letzter Brief ist die Antwort auf Collins Zeilen vom
30. Januar 1818.
3.
An H. Matthäus v. Coli in.
Nennhausen, am 14 t April 1818.
Mein hochverehrter Freund,
Während Sie mit der Sorge um Ihr liebes Kind kämpften,^ und der
Herr Ihnen seine Gnade erwies, sah es auch bei mir gar ernsthaft aus.
Zwar Gottlob so beängstigend traf es mich nicht, als Sie, denn die Gefahr
galt nur mir selbst. Alle Nachwehen des Jahres Dreizehn waren in mir
aufgewacht,'' und hatten sich zum concentrischen Angriff verbündet, der
aber durch eine glückliche Kriesis zu meinem Besten ausschlug, so daß
auch ich zum innigsten Dankgefühl gegen unsern lieben Vater im Himmel
angeregt bin. Das Nähere wird Ihnen Freund Büsching mittheilen; ich
Genesender, durch ärztliche Vorschriften und rückgebliebene Arbeiten noch
immer in meiner Zeit sehr beengt, sage Ihnen heut nur in gedrängten
Worten, daß ich mich gar herzlich auf die verheißenen Kinder Ihrer Muse
freue, und daß ich beikommenden Sohn der meinigen Ihrem freundschaft-
lichen Wohlwollen bestens empfehle. — Ueber unsre Ansichten des gegen-
wärtigen Zeitmomentes' müssen wir uns bei bessrer Muße noch einmal
gegenseitig recht gründlich aussprechen. Und das wird uns nicht schwer
fallen, denn in dem Hauptsatze: 'Was Gott thut, da.s ist wohlgethan!' sind
wir ja vollkommen einig. Wer auf dieses Fundament bauet baut recht und
gut und zu Gottes Ehre, und wird sich mit den andern Baumeistern
von gleicher Gesinnung irgendwo überraschend auf gleicher Bahn zusammen-
finden, mag auch in den ersten Baurissen dort und hier eine noch so
scheinbare Verschiedenheit kund geworden sein. — Nur für die Einleitung
einer Frage: haben Sie Hallers Restauration der Staatswissenschaft ge-
lesen?* Ich verdanke diesem Werke manchen Kampf und manchen Sieg
in meinem Innern. —
Noch komme ich mit einer Bitte. In Ihrer Kaiserstadt wohnet auf
der Landstraße in der Ungergasse im sogenannten
Ritternschen Poststall Nr. .3 0 6. ein Dichter, Namens Joh. Nep.
Gunz.5 der mir ein Trauerspiel zur Ansicht mittheilen ließ, genannt: die
Größen. Ich glaube unverkennbare Spuren der ächten Begeisterung darin
zu entdecken, aber auch das eben so unverkennbare Bedürfniß einer kräf-
tigen kritischen Leitung. Möchten doch Sie dies gute Werk an ihm voll-
führen! Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie ihm in meinem Namen
sagen wollten, daß nur meine Krankheit mich habe verhindern können, ihm
^ Vgl. Collins Brief vom 30. I. 1818 ('Briefe an Fouqu6', p. 70).
' Über die Erkrankung Fouqu6s bei Lützen und den Wiederausbruch
der Krankheit 1818 vgl. 'Lebensgeschichte Fouquäs', p. 317, 331.
3 Er spürte die Veränderung des Zeitgeistes, die er auch an der all-
gemeinen Beurteilung seiner Leistungen wahrnehmen konnte. Die freieren
Gesinnungen und die studentischen Bestrebungen der Zeit waren ihm ziem-
lich verhaßt. Daraus läßt sich auch sein Auftreten für das Andenken Kotze-
bues erklären.
* Karl Ludwig v. Haller, 'Restauration der Staatswissenschaft oder
Theorie des natürlichen geselligen Zustandes, der Chimäre des künstlich
bürgerlichen entgegengesezt' I — VI (1816 — 1825). Es machte einen großen
Eindruck auf die Zeitgenossen, so auf Adam Müller ('öst.-ung. Revue' N. F.
VIII, 287), Stolberg ('Auz. f. deutsches Altertum' IV, 383).
^ Ein wenig bekannter Wiener Schriftsteller.
196 Aus dem Lager der Berliner Romantik
auf seinen freundlichen Brief vom 22t December zu antworten; aus der-
selben Ursache auch sei es mir unmöglich gewesen, mit dem Grafen Brühl^
in Berlin ordentlich wegen der Aufführung jener Dichtung zu unterhandeln,
doch seie wohl auch überhaupt bei dem nur kaum von der Asche erstehenden
Theater' wenig Aussicht dazu. — "Vielleicht wehrte und wehrt mir Gott
eben deshalb das direkte Antworten, um den hoffnungsvollen Dichter in
Ihren Schutz und Schirm zu bringen. —
Gott sei mit Ihnen, und erhalte mir Ihre Freundschaft. — Viel Glück
zu der Wiener Literaturzeitung I^ Ich freue mich allemal herzlich, wenn
ein solches Institut in solche Hände kommt. — Habe ich erst einmal wieder
die Hand etwas freier, so biete ich Ihnen wohl einen oder ein paar Bei-
träge an. — y^j^ Herzen der Ihrige
Fouqu6.*
Karoline Pichler berichtet in ihren Memoiren über ihre Ver-
bindung mit Fouque: 'Ich stand schon längere Zeit mit unserm
gefeierten Sänger der Undine, dem Freiherrn von Fouque in brief-
lichem Verkehr, welcher sich, wenn ich nicht irre, bei Gelegen-
heit eines Geschäfts mit der Buchhandlung meiner Schwägerin
durch meine nachgesuchte Vermittlung angesponnen hatte.
Später hatte mir Baron Fouque seine Gunlaugurssage sehr ehren-
voll gewidmet, und so kam es, daß ich einige Jahre hindurch
mit ihm und auch einmal mit seiner Gemahlin, der Dichterin,
Briefe wechselte.'^ Ihre Verbindung mußte schon 1813 erfolgt
sein, da Pichler damals schon als Mitarbeiterin von Fouqu^s
'Musen' erscheint, ihr Briefwechsel scheint aber erst 1825 oder
1826 begonnen zu haben. ^ Diese Briefe der Pichler sind nicht
bekannt, von den Schreiben des Dichters befinden sich zwei in der
Autographensammlung der Wiener k. k. Hofbibliothek, wohin sie
aus dem Pichlerschen Nachlaß gekommen sind.
Fouque an Karoline Pichler.
1.
Gnädigste Frau,
Die Huld, mit welcher Sie meine früheren ehrerbietigen Grüße auf-
genommen haben, erweckt mir die Dreistigkeit, Sie unterthänigst um einen
gütigen Rath zu bitten. Ich arbeite an einem Trauerspiel: Der Jarl
I
1 Karl Friedrich Moritz Paul Graf v. Brühl (1772—1837), seit 1815
Generalintendant der Königlichen Schauspiele in Berlin.
2 Das Berliner Theater brannte am 29. Juni 1817 ab.
' Ein eigentümlicher Glückwunsch, wenn man bedenkt, daß die 'Wiener
Allg. Literaturzeitung', deren Redakteur Collin von 1814 an gewesen, eben
1818 einging. Oder sollte hier eine Verwechslung mit den 1818 gegründeten
'Wiener Jahrbüchern der Literatur' obwalten? _
* Randbemerkung mit Bleistift: 'praes. 12 t May 818'.
s 'Denkwürdigkeiten aus meinem Leben 1769 — 1843', hg. von E. K.
Blümml ('Denkwürdigkeiten aus Altösterreich'; München, Müller, 1914),
II, p. 226.
6 Ebenda II, p. 547 Anm.
Aus dem Lager der Berliner Romantik 197
der Orkney -Inseln geheißen,! und möchte wohl gern einmal ein
Werk von mir früher auf der Bühne, als im Druck vor der Welt er-
scheinen lassen. Hier in Berlin hat die Opern- und Balett-Lust die
Repertoire dergestalt ueberhäuft, daß selbst die Wiederbelebung meiner von
den Flammen verscheuchten Undine, obgleich das Publikum mannigfach
nach ihr verlangt und sie doch auch ein Opernkleid anhat, erst im Herbst
dieses Jahres stattfinden wird.* Glauben Sie, daß eines der Theater Ihrer
Kaiserstadt sich für meinen Jarl interessiren könnte, so bitte ich um einen
gütigen Wink, wie ich die Sache anzustellen hätte. Auf jeden Fall möchte
ich die einzuschickende Abschrift am liebsten erst in Ihre Hand senden.
Dieser Jarl der Orkney-Inseln ist mir sehr lieb, und deshalb würde es
mich freuen, ihn ehr, als jedem Andern in dem mir sehr theuern Wien,
einer verehrten Dichterin vorzustellen.
Hoffentlich haben Sie ein Exemplar meiner Gunlaugur-Saga' erhalten,
für deren schöne Ausstattung ich der Verlagshandlung aufs lebhafteste
dankbar bin.
Voll inniger Hochachtung habe ich die Ehre, zu verharren Gnädige Frau
Ihr ganz unterthäniger
Berlin, am 5ten Maerz 1826. La Motte Fouquö.
Eine gütige Antwort von Ihnen würde mich wieder auf dem Lande
finden: zu Nennhausen bei Rathenaw, in der Kurmark Brandenburg.
Nennhausen bei Rathenaw, in der Kurmark Brandenburg
am 23. Nov. 31.
Sie werden es nun schon wissen, gnädige Frau, wie arm und umdüstert
für diese Welt Ihr unglücklicher, hier unterzeichneter Sanges Freund
geworden ist, durch den Tod seines Liebsten auf dieser Welt.*
Oft. wann die Zäher n so recht heiß, und just eben dann doch so recht
mild und kindlich aus meinen Augen strömen, muß ich, auch jetzt noch
unwillkürlich, wie staunend ausrufen: 'Ach, ich hätt' es nicht gedacht!'
und dann fließen die Zähren reicher noch. Ja : 'reich!' Das ist das rechte
Wort dafür, denn es bringt so holde Linderung mit diesen Strömen in
meine bis an den Tod wunde Seele, als mit den irdischen Strömen Gold
und Erquickung über die irdische, paradiesverarmt-e Welt. —
Ihrer gütigen Theilnahme, gnädige Frau, eben so gewiß, als meines
frommen Leides, hatte ich Ihnen schon vor etwa 14 Tagen durch meinen
Freund, den Buchhändler Reimer^ in Berlin, eine Denkschrift, nur für
nähere Theilnehmende bestimmt, zusenden lassen. Hoffentlich sind die
ernsten Kunden schon in Ihrer Hand. Dann gewiß in Ihrem Herzen auch. —
Das beifolgende kleine Gedicht bittet um Ihren Schutz für die Ein-
1 'Der Jarl der Orkney-Inseln', Trauerspiel in 5 Aufzügen, Prag 1829.
' Der erste Komponist der 'Undine' war E. T. A. Hoffmann, dessen Ver-
tonung großen Erfolg hatte, durch den Brand von 1817 aber von der Bühne
verschwand. Später unternahm Fouquö mit dem Kapellmeister Karl
Girschner eine vollständige Umarbeitung, die aber erst 1837, und zwar in
Danzig ein einziges Mal zur Aufführung gelangte. {'Lebensgeschichte von
Fouqug', p. 345 f.)
' 'Die Sage von dem Gunlaugur, genannt Drachenzunge und Rafn dem
Skalden.' Wien, Anton Pichler, 1826.
* Tod seiner Frau, der Dichterin Karoline Fouqu6 geb. Briest, gestorben
11. Juli 1831.
5 Georg Andreas Reimer, der bekannte Buchhändler in Berlin.
198 Aus dem Lager der Berliner Romantik
rückung in irgend ein Wiener Blatt,^ nebst der hinzugefügten Anmerkung,
durch die unwillkürliche Verspätung wol nothwendig geworden, überhaupt
wol aber auch beachtenswerth als Zeichen der Zeit. —
Ihre mir verheißne Dichtung hat mir Herr Liebeskind in Leipzig' bis
heute noch nicht gesendet. Meine Tochter Maria' und ich sehe verlangend
darnach aus.
Bald hoffe ich durch eine Anstellung im Kriegs-Dienst den Unbilden
der heutigsten Druckwelt enthoben zu sein, nimmer aber, will's Gott, treu-
los zu werden dem Umgang der Muse. Sie besucht mich in meiner Trauer
hold und reich. Ueber meinem Grabe mögen die Blüthen, welche sie mir
bringt, auch einst aufgehn für die Welt. —
Voll der innigsten Verehrung Ihr ganz unterthäniger
La Motte Fouquß.
Budapest. Arthur Weber.
1 über dieses Gedicht und seine Erscheinung konnte nichts Näheres
festgestellt werden.
2 August Liebeskind, Buchhändler zu Leipzig.
3 Fouqu^s 1803 geborene Tochter Maria Luise Caroline.
Die Reimsprache der sog. kentisehen
Fassung der 'Sieben weisen Meister'.
Die sog. kentische Fassung der 'Sieben weisen Meister' (B ran dl,
Pauls Grdr. 11, 1. S. 635, Körting, Grundr.^ § 717) hat, wie
schon K öl hing (Ausg. des Arthour und Merlin, altengl. Bibl. 4,
Leipz. 1890, S. LXXXVI f.) erwähnt, viele sprachliche Eigentüm-
liclikeiten gemeinsam mit Arthour u. Merlin, Kyng Alysau7ider
(Hs.: 0 = Land 622, Oxford; L = Lincoln's Lm 150, und Auchin-
leck-Hs., fragment, ed. Weber, Metr. Romances I, Edinb. 1810,
nach 0) und Richard Löivenherx. Brandl (a. a. 0.) reiht diese
Denkmäler ihrer Sprache wegen unter die kentischen, Morsbach
[Me. Oram. S. 10) unter die dem Kentischen verwandten ein, wäh-
rend neuerdings W. Heuser {Alt-Lo?idon, Osnabrück u. Straß-
burg 1914) die Sprache als Londonerisch bezeichnet. Bezüglich
des Richard verweise ich auf die Darstellung in meiner Ausgabe
dieses Romans (Wiener Beiträge f. engl. Phil. 42, S. 37 f., bes.
S. 48), worin die Berücksichtigung der gesamten Überheferung die
Ergebnisse der Untersuchung Kölbings korrigiert. Abschriften aller
Hss. der Sieben weisen Meister, die ich in HinbHck auf eine Text-
ausgabe 1914 herstellte (A = Auchinleck-Ms., Ar = Arundel-Ms.
140, fragmentarisch, E = Egerton Ms. 1995, B = Hs. Balliol
College, Oxford, 354, F = Hs. Ff. H— 38 der Univ. Bibl. Cam-
bridge) ermöghchen mir eine ähnhche Korrektur bezüglich dieses
Denkmals. Die Untersuchung des Hss.-Yerhältnisses durch Killis
Campbell {Study of the romance of the Seven Sages. Diss.
Baltimore 1898, auch in Publ. Mod. Lang. Ass. of Am. XIV,
1899, S. 1 — 107) und in seiner Ausgabe der nördl. Version [Alhion
Series, Boston 1907, S. XL f.), der ich nichts hinzuzufügen habe,
ergibt, daß A und Ar eine, E und B eine zweite Gruppe von Hss.
sind, während F selbständig eine dritte darstellt, eine bis zum Be-
ginn der 13. Erzählung überhaupt sehr freie Bearbeitung, welche
die Reihenfolge der Geschichten ändert, neue einführt und vor
allem sehr kürzt. Ich betrachte daher in zwei dieser Gruppen
gleich überlieferte Reime als höchstwahrscheinhch original, wobei
ich jedoch F erst vom Beginn der 13. Erzählung benütze. Das
Ergebnis ist (Verszählung nach A oder Ar):
1. Reimtechnik.
A. Konsonantisch unreine Reime: Verschiedene Nasale reimen unterein-
ander man-.came Ar 215, 665; ioun-.costom A 2213; versch. Zischlaute
broth : therof A 961, dissche : ywis Ar 978, 1016; verwandte Dentale tcot:
maidenhod A 326.
B. Vokalisch unreine Reime: Vernachlässigung der Vokalquantität wahr-
scheinlich in men : sleen A 384, therinne : steine (Schwein) A 750, liuind : fi?id
200 Die Roimsprache der sog. kent. Fassung der 'Sieben weisen Meister'
A 2245, isitvyse Ar 2575 (doch hier Quantitätsausgleich möglich; Luick,
Unters, x. engl. Lautgesch. § 419; Morsbach, Areh. C, S. TOf.); wahrschein-
lich Kürzung des langen Vokals in vpon : doti (Inf.) A 240, anon : vpon A 730,
Ar 2393, euerychone : on Ar 283, lemman : anone A 2339, men : ajen A 714,
1069, 1137, uimmen : ajen A 662, tenimen Ar 1965; Vernachlässigung der
Vokaliqualität (außer gemein-me. g : ö und ^ : f im Auslaut) bei Reimen von
^ : e im Inlaut teß : dep A 805, quen : sien A 935, rede {read) : glede (gled) Ar 934,
grete : jete {gut) Ar 2527, lere {Imran) : here {hieran) E 3342 (belegt EF), dann
au : pu in owe {aice) : elbowe A 1753. Nur scheinbar unrein sind bifel (ae.
bifeoll prät. sing.) : Aueril A 945 wegen der auch von Chaucer benutzten
Kürzungsform mit i (siehe Wild, Spracht. Eigentümlichkeiten der wichtigsten
Chaucer-Hss. Wiener Beitr. 44, S. 135 f.), dann here (ne. hair) : tere (prät.
sing, zu teran) A 344 wegen möglicher Analogieform an das Prät, Plur. und
hale (ae. hälo) : tale Ar 491 wegen möglicher früher Kürzung und späterer
Dehnnng (siehe Wild, a. a. 0. S. 71 als Erklärung entsprechender Schrei-
bungen in Ch.-Hss.) ; weiteres afterward : lord A 1675, 1. louerd. Reime von
ü-:ö kommen wie in anderen südl. Denkmälern vor: bilwuep : louep Ar 911,
sone {sunu) : done (Inf.) A 1121, : mone Ar 2570. In conie (prät. Sing.) : Rome
A 2263 kann die Analogieform com vorliegen (Luick, Unters. § 584).
2. Reimsprache.
1. Vokale in HochtonsUben. Die Vokal Quantität ist wegen ihrer Vernach-
lässigung im Reim nicht genau festlegbar.
Vokalqualität. Wg. a > ws. cb gebunden mit a in fast : käst (an kasta)
A 310; mit e in had : bed Ar 610. Wg. a > ws. ea neben Palatal reimt mit a in
gute : abate (frz. abaitre) Ar 1899, doch ae. Plur. gaiu neben Sing. geat. Wg.
a > WS. ea vor r -f Kons, reimt mit a in : scharp : carp (an karpa) A 2438, mit e
in yyiark : derk (ae. deorc) A 1464, sterc : icerk A 1989. Wg. a vor Nasal reimt
1. vor gedeckter Nasalis m. o in lemman : anone Ar 2339 ; 2. vor Nas. in
offener Silbe mit a in schäme -.blame Ar 1586, -.dame A 1658, 2014, 2125,
2498; name-.fame A 1097, 2207, : Jawe (Eigenn.) Ar 1535. Wg. a vor Z -f
Kons. > WS. ea, angl. a reimt mit e in helde : weide A 1433 ; ohne Dehnung helue
: seine A 251, bihelue : himselue A 192. Ae. ce -\- g > ws. es reimt gew. mit
gemein-me. ai, so seid : ipaied A 100, 1483, 2083, : itraid A 1581 ; aber auch
mit e in ised : red A 1780. Ae. e -\- g > ws. S in ongegn, ws. ongeän, ongen
liegt folgenden Reimen zugrunde: ajen-.tvimmen A 663, -.men A 715, 1138.
Für die gemein-me. Form mit ai keine Reime. Palatal + wg. e reimt mit e in
jelp-.help A 1160, scheid: held Ar 1901; mit i in bijete : wite (Konj. Präs.)
A 918, (Inf.) 939, 955; forjet : wryt (Part. Prät.) Ar 2219, jeue {Iiii.):lyue
(Inf.) Ar 2005, doch ist hier auch e möglich (von ae. leofast, leofast, vgl.
Sievers, Ägs. Qram.^ § 416 A. 2b, Bülbring, AI. Eletn. Buch § 235—239).
Umlaut von u > ae.y in geschl. Silbe reimt mit e in hid (prät. zu hydan) : bed
A 69, 147, feile (fyllo) : asmelle A 759, kynde : ende Ar 373, : sehende A 1659,
: ende Ar 1528, sinne : heniie A 1176, knet (zu cmjttan) : ifet A 1382, list (zu
lystan) : best A 1521, hei {hyll) : tvell A 2277, jschet : set Ar 2075, fullfyll : teil
Ar 2528, hirie (afrz. ü, hurter) : smerte A 134; mit i in rigge:ligge A 791,
sy7ie : winne Ar 704, fullfyll : tinjll Ar 2436, gylt (ae. gylt sb.) : tvylt Ar 2536.
In offener Silbe reimt es mit e in dide istede Ar 2147, iuel : detiel A 739. Wg.
ai > ae. ä reimt ausnahmslos mit g und ö, Beispiele zahlreich. Wg. ai > ae.
ä -\- g, w reimt mit au in aknaice : drawe A 920, thraive : drawe A 708, awe
: latve A 1476. nought (ae. Tiäiviht) reimt mit au und ou z. B.: bicaujt A 1157;
broujt Ar 477. Ae. ä (< wg. ai mit «-Umlaut) reimt gekürzt mit a in lasse
-.passe A 1172, neuyrthelasse : solas Ar 2320, nepeles : was Ar 2184 (stets mit
a, siehe später), last : hast (Subst.) A 1132. (}ot. e, wg. ä > ws. ^, angl. kent. S
reimt bis auf streie {strttkt) : het (ae. het, Prät. zu hätan) Ar 404 stets mit f
verschiedener Herkunft in sptche : teehe A 14, wede : siede (ae. stede) A 607,
Die Reimsprache der sog. kent. Fassung der 'Sieben weisen Meister' 201
eue {mfm) : leue A 739, red. {rcBd) : ded A 1161, 2150, : lede A 2391 usw. Ge-
kürzt reimt es mit Kürzung aus ae. « in dmd (Prät.) : mad A 770. Reime
mit nede {dede : nede A 1318, rede : nede A 1623, Ar 1796) lassen keine Schlüsse
zu wegen ae. nead neben nied, ned, siehe NED. Ae. pär reimt als pere
(gemein-me.) : forbere E 2903 (belegt EBF), dann als pare : kare A 1347. Got. e,
wg. ä nach Palatal > ws. eä, angl. kent. e reimt mit e in yere (Jahr) : dere
F 2386 (belegt FB). Wg. au > ae. Sa + t-Umlaut > streng ws. U, angl., kent.
und sächs. Patois e reimt nur mit e in here : ehere A 11, : 7nanere A 177, 2202,
poivere A 1425, -.lere E 3343 (belegt EF), herde:ferde A 1311, 1365. Ae. te
in gtet (Herkunft unklar, Sievers, Ags. Gramß § 74, A. 1) reimt mit e in
jete : grete (groß) Ar 2528. Ae. e, eo, ea (mit Ebnung) + g, h, an. eyj in
deyja (sterben) reimt 1. mit ai in neghj : sfeghj (Prät. *steah st. stäg) A 773,
bewraid : biiraicl A 1889, hyje (heah) : seje {seah) Ar 2130, daide (starb) : laide
(legte) A 2449; 2. mit * in lie (lügen) : /?a/ene A 2022, : pie (Elster) A 2085,
2146, : signifie A 2275; : Hongry Ar 2032, ye (Auge) : hy (Eile) E 3197 (belegt
EF). Umlaut von il > ae. y reimt 1. mit e in /es^ (/^«O • ^^^^^ -^ 342, /er
•.gardiner A 1632, 1640, : ihere A 1738, : .s^oe/er A 2471, : eher A 2501; 2. mit
i in pride : side A 472, Ute : i'tszVe A 1003, : respite Ar 55, : profite A 1038,
'.sodomite A 1429, •.smite A 2565.
2. Vokale in Nebentonsilben. Für Veränderungen der Vokale unter starkem
Nebenton keine Reimbelege. Aussprache eines End-e nirgends für den Reim
erforderlich.
3. Konsonanten. Ae. p reimt mit d in ded (deap) : red (Rat) A 1394,
Ar 2009, wie auch in anderen Dichtungen (siehe meine Richard- Ausg. S. 29).
Über Reime von § : s siehe vorn. Die Adverbialendung reimt als -lieh in
sikerlich : suich A 1392, n-onderlich : rych Ar 2328, preuelich : lieh Ar 2360;
als -li in sikeli : ivhi A 142, 2299, : redy Ar 2266, : lotebi A 1310.
4. Flexivisches. Dat. Sing, von mayi reimt wahrscheinlich als men : ajen
A 1137. Plurale auf -n reimen in fon : tion A 736, : anon A 1884. Pron.
Pers. reimt in scho (1. sehe) : fre Ar 2045 wie gemein-me. Verbum : Ind. Präs.
3. Pers. Sing, nur mit der Endung -ep in doth : soth A 130, bep : tep A 2575.
Part. Präs. mit -ing in habbyng : icit^iessing (Verb.-Subst.) A 558; mit -ind
in liuind : find A 2245. Inf. in mehrsilbigen Formen stets endungslos, ein-
silbig mit oder ohne w in zahlreichen Beispielen. Der Präsensstamm der
2. schw. Konj. wird ohne -i- gebildet (zahl. Beisp.) bis auf die analog. Form
waranty : amy (afrz. ami) Ar 1917. Das Part. Prät. der starken Verba ist bis
auf boren : com (Subst.) A 1058 in mehrsilbigen Formen stets endungslos, in
einsilbigen ist -n gewöhnlich erhalten: igo^i : non A 1056, 1630, : anon A 644,
lain : puteyn A15ß6, idon:euerichon A 1799, misdon -.non A 1964:, done:anon
Ar 2345, 2454; aber endungslos ido : therto A 460, :toA905, 2580, :mo
A 1858, vndo : to A 1803, ybee : me E 3349 (belegt EF). Ausgleich zwischen
Sing, und Plur. -Vokal im Prät. ist durch Reime nicht zu belegen; der Sing.-
Vokal ist noch nicht an den Plur. angeglichen in spak : blac A 1846, fond
: hond A 2155. stale : s?nale A 1988 ist die 'Kompromißform' mit Vokal-
qualität des Sing, und Quantität des Plurals, jeue (Part. Prät.) : leue Ar 2233
die auch sonst belegte Analogieform, siehe Cornelius, Palatalisierung
(Morsbachs Studien 30), S. 19. Ae. habban reimt als kabbe : gabbe A 1610,
als haue-.knaue Ar 37, 2142 und E 3396 (belegt EF); libban als libbe-.sibbe
A 154, iribbe A 1437; als liueiidrzue A 1530, -.jene Ar 2004; licgan als
ligge : rigge A 792 ; secgan als sai : dai 1588. Vom Verb.-Subst. lautet die
3. Pers. Präs. Ind. Sing, bloß is (zahlreiche Beispiele), die 3. Pers. Präs. Konj.
Sing, be (: he Ar 2105), die 3. Pers. Prät. Ind. Sing, tvas (zahlreiche Beispiele),
der Plur. Prät. were (: bere A 38, Ar 2316, : dere B 3587, belegt BF). Von
Prät. Präs. stehen im Reim von cunnan conne (hxi.) : sonne (Sonne) A4,
(Konj. Präs.) : sonne (desgl.) A 1030; von magan mag (Präs. Konj.) : rfay
Ar 1520; von möt mote (Präs. Plur.) : böte (Subst.) A 1442.
202 Die Reimsprache der sog. kent. Fassung der 'Siebe» weisen Meister'
In der Reimtechnik weichen also die 'Sieben weisen Meister'
von den besser reimenden me. Dichtungen im kurzen Eeimpaar bis
auf den vereinzelten au : o^^-Reim nicht ab, sie ist ähnUch der im
R(ichard), aber bedeutend besser als im A(rthour) und M(erlin) und
(Kyng) A(lysauudre). Siehe die Zusammenstellung auf S. 31 f.
meiner R-Ausgabe.
Sprachlich unterscheiden sich die 'Sieben weisen Meister' vom
R. bloß geringfügig {ongen ist im R. nicht belegt, in den 'S. w. M.'
die Formen mit ai nicht; pore einmal im R, jare für jeär ein-
mal im R; i/ im R gewöhnlich e, seltener ?, in 'S. w. M.' um-
gekehrt; -liehe im R nur einmal, neben seltenem -lik und gewöhn-
Uchem -ly, hier -liehe neben seltenerem -ly die gewöhnliche Form;
die 3. Pers. Sing. Präs. auf -s, die im R einmal vorkommt, nicht
in 'S. w. M.'; Part. Präs. -end und wes für was, je einmal im R,
neben -ing und -ind wie in 'S. w. M.' hier nicht, Eindringen des
Sing.-Vok. in den Plur. Prät. d. st. Verba); man kann also als be-
wiesen ansehen, daß diese beiden Dichtungen den gleichen
Sprachgebrauch in ihren Reimen zeigen. Anders bei AM und
A; siehe hierüber Kölbings Darstellung in der Einleitung seiner
AM-Ausgabe, die ich für A durch Ausscheidung aller nicht auch
in Hs. L gleich wie in 0 überlieferten Reime korrigiere. Die Kol-
lationen beider stellte mir Prof. Brandl seinerzeit zur Verfügung.
Hierbei ergibt sich:
1. Vokalismus: Wg. a > ws. cb ist a bis auf gres -.pres {in. presse) AM 7972.
Wg. a > WS. ea neben Palatal reimt mit a in jare (jearu) : fare (ae. faran)
AM 1423, 2357, 3694, A 1187; mit e in schaß: laß AM 7457, dann togedre
(ae. togcedere) : ivedre A 3741, 6084. Wg. a > ws. ea vor r + Kons, läßt sich
in AM und A hinsichtlich seiner Lautqualität nicht festlegen, weil hier auch
sicheres me. a mit sicherem e vor r reimen. Wg. a vor Nasal. Vor ge-
decktem Nasal bloß Selbstreime oder solche mit Eigennamen, vor Nas. in
offener Silbe bloß a. Wg. a vor / > ws. ea, angl. a reimt mit Dehnung im
A mit e oder o, im A bis auf einen Fall stets mit e. Ohne Dehnung in
AM und A bloß mit e. Ae. ce -\- g > ws. « in sade kommt neben Formen
mit ai vor. Über Reime von smde mit ae. a in offener Silbe und ai : oi-
Reime siehe später. Ae. e -\- g > ws. e in ongegn, ws. ongeän, ongen reimt
in AM und A häufig mit e, e und gelegentlich mit a. Palatal + wg. e reimt
mit i in giefan und gietan, mit e in gieldan, gielpan. Mit i reimt auch ae.
genge. /-Umlaut von tc > ae. y reimt mit e, seltener mit i. Wg. ai > ae. ä
reimt ausnahmslos mit g. Die von Kölbing verzeichneten Reime mit a sind
teils Eigennamen, drof-.gave A 3896 ist in L anders überliefert, on:ojan
AM 3630 und nan : ojan AM 6263 sind wohl Kürzungsformen, mare : fare
AM 69 kann auf ae. m^ra zurückgehen und ein « : ä-Reim sein, abade : sade
AM 6423 ist wohl irgendwie verderbt. Wg. ai > ae. ä -\- g oder w reimt ge-
wöhnlich mit au, im AM zweimal mit ou. nought, ought reimt mit au und
ou. Got. e, wg. ä, WS. <«, angl. kent. e reimt mit q und e, die im Reim nicht
geschieden werden. Über Reime mit me. ä siehe später. Got. e, wg. ä neben
Palatal > ws. eä, angl. kent. e reimt mit e, in ws. jcär auch mit a in jare
■.fare AM 6771.,, Ae. e. So, ea (mit Ebnung) -f- g, h, an eyj in degja reimt
mit ai und t. Über den Reim sleije : anuye (ne. annoy) A 9 f . siehe später.
7-Umlaut von ü> SiG.y reimt im A ziemlich gleich häufig mit t und e, ein-
Die Reimsprache der sog. kent. Fassung der 'Sieben weisen Meister' 203
mal mit frz. ü in füre : dure 4323 ; im AM häufiger mit e, seltener mit T.
Reime von ae. u- : ö kommen gelegentlich vor. Reime mit Abschwächung
von Vokalen unter starkem Nebenton und mit ausgesprochenem unbetontem
End-e kommen nicht vor. Auffallend sind aber Reime von me. ai ver-
schiedener Herkunft mit afrz. oi, ui und zw. byurye {biirreyan) : boye A 4377
(ev. nicht ne. boy, sondern boie, Henker, nach NED und Diez mit afrz. buie
'Kette' in Zusammenhang zu bringen), seide : anoycd A 877, 1288, 1599, 1668,
2941, 3087, 4159, AM 7226, day : anoy AM 7080, 7263, sleije {sleah) : anuye
A 9, neije {neah) : anoye A 6116, dye (sterben) : anoye A 6569. Dann Reime
von me. f > ae. <b = wg. ai + /-Umlaut und ws. ce, angl. kent. e < ws. ä,
got. e mit me. ä < ae. a in offener Silbe oder frz. a und zw. seide. (1. sede)
: made A 524, 7339, AM 526, 1358, 1872, 2398, clanc (ae. däne) : mane (ae.
manu) A 2228, arerith : farith A 4077, rade (ae. rcedan) : made A 4649,
AM 4258, 5016, 6118, hale (ae. hcelo) : tale AM 30, hapen (ae. h^pen) : matpcn
(zu ae. maäa) AM 483 und 8107, : scapcn (zu ae. scaäa) AM 6718, 7004, 7012,
7511, -.bapen (ae. bapian) AM 6813, 9918, ferrade : yludc AM 1788, 8583,
: made AM 3528, rade (ae. rted) : ymade AM 62, 1601, 2048, 2824, 2860, 4117,
slapc : ape AM 814, sade (ae. sM) : made AM 936, forlate (ae. forlMan) : gate
A]\I 1310, bilaue {belcefan) : haue AM 1999, dale (ae. dml) : smale AM 3835,
mast (ae. m^st) : bast (afrz. bast) AM 4443, aue (ae. ^fen) : haue AM 5381,
grade : made AM 7118. Weitere Reime mit frz. haste, die auch in anderen
Denkmälern vorkommen (vgl. Behrens, Z. Oesch. d.frx. Spr. in Engl., S. 75),
so daß an Beeinflussung durch ae. hmst zu denken sein könnte, nämlich mast
: hest A 1417, AM 115, 1725, 2213 u. ö., best : hast A 3396, fairest : hast A 5242
und Reime mit Prät., wo 'Kompromißformen' (Vokalqual, des Sing., Quantität
des Plurals) möglich sind, spake : ytake A 2922, : lake A 5310, bispake : take
AM 2505, : rake (ae. racian) AM 8037, bare : care A 5452, : ivare (ae. warian)
AM 1686, jaue: staue A5842, bade -.made AM 376, quape:rape AM 1592, 8027.
Endlich Reime von i mit e, z. B. skile : iiele (z. helian) A 439 f., deine : ivithinne
A 5928, seile : stille AM 1300 f., ivesche : yivis AM 2583 und zahlreiche Reime
mit iville wie seile : wille A 3724 f., wille : teile A 5042 f. u, a., aber auch ver-
einzelt von t:e wie stedc-.ride A 2237, wide:glede AM 1499. Reime von
gekürztem e : * und i : e auch wo Kürzung kaum eingetreten ist (qwede : niyde
A 8020, jede : myde A 4780, 5772, 6832, AM 4859, 5267, stille : castel AM 1973)
sind häufig.
2. Konsonantismus. Ae. deap reimt im AM zweimal mit d. Me. S reimt
häufig mit s.
3. Flexion. Plurale auf -n, endungslose und umgelautete Plurale stehen
häufig im Reim. Von den Verbalendungen erscheinen die 3. Pers. Sing. Ind.
Präs. mit -p und gelegentlich mit -s, der Ind. Plur. auf -p, oder er ist endungs-
los {-n ist stellenweise möglich, aber nirgends nötig; solche auf -s sind mit
Kölbing, a. a. 0. S. XCIII, nicht beweisbar). Plui-. Konj, Präs., Prät. Plur.,
Indik. und Part. Prät. sind endungslos; in Reimen mit Subst. im Plur. wäre
stellenweise ein -n möglich. Einsilbige Inf. u. Part, reimen mit und ohne -n.
Das Part. Präs. endigt auf -iyig und -ind. Der Präs. -Stamm der zweiten
BW. Konj. hat gelegentlich das -i- bewahrt, auch kommen analogisch frz.
Verba mit -i- vor. Die Ablautsstufe des Prät.-Plur. ist vom Sing, ver-
schieden bis auf fleyje (z. fleogan) : cyje (Augen) A 2360, stoive (z. stlgan)
ibowe (boga) A 1209, schof-.grof AM 8780. Ae. bycgan reimt als abuyne
•.reyn A 2992, als abuyge-.egge {ae. ecg) A 2971, abigge : flegge (schrecklich,
vgl. ae. fleegan) AM 3364. — habhan als habbe : gabbe (an gabba) A 312,
idahbe A 2305, 2793, 7303, habben (Präs.-Plur.) : tmiien {ae. crabba, Plur.)
A4982, :pra66e A4966; als haue : knaue A413, : bilaue {bil^fan Inf.) A2000,
: awe («/en) A 5382. — libban als libbe : sibbe A bOSQ, 5983, 6328, : ribbe
A7965, AM 8192; als lyue : forjeue A IGll , AM 1589, : jiwe AM 2455, 4147,
4154, 4912, 6576, 6569, 8961, : dryuen A 5730. — lecgan bloß als legge : egge
Archiv f. n. Sprachen. 140. _[^
204 Die Reimsprache der sog. kent, Fassung der 'Sieben weisen Meister'
A 3662, AM 2026, 6426, 7466, u. ö. — lecgan als legge : egge A 3662, AM
2026, 6426, 7466, 9086 u. ö. — seegan als segge : egge A 1839, 2151, : brigge
AM 7730, 7794; als sag sehr oft. Vom Verb, subst. reimt die 3. Pers. Sing.
Ind. Präs. als is, die 1. u. 3. Pers. Sing. Ind. Prät. als was und im AM
\iermal als wes, der Plur. u. d. Konj. Prät. als were und wäre. Von den
Prät. Präsentien und Anomalen stehen im Reim von icitan des Präs. Plur.
loite : bijete AM 4561 und 6474; von cimnan des Präs. Plur. conne : nonne
AM 1191; von dearr bloß die 2. Pers. Sing. Präs. darst : arst {^rcst) AM 1089;
von seulan das Plur. Präs. sehidlc : falle AM 8424; von mag an das Plur.
Ind. Präs. mowe : avowe A 3452, 6323, AM 946, mag : dag A 144, AM 74,
: Tholomcg A 7505; das Konj. Präs. mow : avowe AM 1051; mot bloß das Plur.
Präs. tnote : böte AM 3411.
Die zwei Dichtungen zeigen also alle spracbliclien Eigentüm-
lichkeiten der 'S. w. M.' und des R, darüber hinaus aber noch die
Formen ogan, togedere, dann vor allem Reime von e : a vor r, von
cd : oi, ae. <s, d:ä, l:e und zahlreicher gekürzter e : ^. Die Sprache
aller vier Denkmäler unterscheidet sich deutlich von strengkentischen
(siehe die Zusammenstellung in meiner R- Ausgabe S.48); die Sprache
der 'S. w. M.' und des R unterscheidet sich von der Chaucers bloß
in folgendem: vereinzeltes e für ae. <^, Vorkommen der Form sede
statt Saide, au < ö -\- w, g und das Part. Präs. auf -ind. Dies alles
sind Formen, die in London zwar nicht unbekannt waren und die
bloß der auf Sprachreinheit bedachte Chaucer gemieden hat. Doch
findet sich gres für gras in Ch.-Hss. (Wild, a. a. 0. S. 42) und
Londoner Kirchenurkunden (W. Zopf, Zimi Sprachgebrauch in
den Kirchen- Urkunden von St. Mary at Hill, London. Berl. Diss.
1910, S. 20). Bis zur Londoner Proklamation Hemrichs IIL (1258)
scheint sich überhaupt der Lautwert c? erhalten zu haben (E. Dölle,
Zur Sprache Londons vor Chaucer, Morsbachs Studien 32, S. 92).
sede findet sich bei A. Davy (ds. S. 30); au < ä -\- w, g ist in den
ältesten Londoner Urkunden üblich (Dölle, a.a.O. S. 41), wird
aber dann bis auf einen Reim von Jmoiv mit au bei Capgrave
(Dibelius, Angl. XXIII, S. 186) allgemein durch ou verdrängt; erst
im 15. Jahrh. tauchen wieder az/-Schreibungen auf (Zopf, a. a. 0.
S.52, Süßbier, Sprache der Cely-Papers. Berl. Diss. 1905. S.51,
52). Part. Präs. auf -inde erhalten sich bis Caxton und in die
Cely-Papers (Zopf, a. a. 0. S. 85, Süßbier, a. a. 0. S. 86). Aber
auch die besonderen Eigentümhchkeiten des Reimgebrauchs im A
und AM lassen sich am ehesten, als Londonerisch erklären, sie
lassen sich freilich erst in der Überlieferung aus dem 14. imd
15. Jahrh. nachweisen. So Verwechslung von a und e vor r in
Ch.-Hss. (Wild, a.a.O. S. 8— 39) und häufig im 15. Jahrh. (Zopf,
a. a. 0. S. 18, 19), Verwechslung von i und e in Schreibungen, bei
gekürztem und ungekiü-ztem e (Zopf, a. a. 0. S. 36, Süßbier, a.a.O.
S. 39, Zachrisson, Pronunciation of Engl, voivels 1400 — 1700,
Göteijorg 1915, S. 69). togedere (bei Ch. togider) ist eine gewöhn-
liche Form (Süßbier, S. 23). ä für ae. W und ^ endhch erweist
Die Reimsprache der sog. kent. Fassung der 'Sieben weisen Meister' 205
Heuser, a.a.O. S. 37 f. als in London heimisch. Die Reime ai:oi
endlich erklärt Behrens, Z. Gesch. d. frx,. Spr. in Engl. (frz. Stud.
V/2, 18SG) S. 160 als Nachwirkung der zentralfrz. Form mit [ilei\
während Heuser (a. a. 0. S. 61) an eine hauptstädtische Sprach-
gewohnheit denkt, also etwa an eine Aussprache [a/J, wie sie für
die spätere Zeit durch Schreibungsverwechslungen mit i, y erwiesen
ist (Zachrisson, a. a. O. S. 89).
Es ist daher mit ziemhcher Sicherheit anzmiehmen, daß die
vier Gedichte in London entstanden sind, bzw. zumindest Londoner
Sprachgebrauch in ihren Reimen folgen, und zwar die 'S. w. M.'
und R (in den ursprünghcheu Teilen) der gewählteren Sprache,
wie sie Chaucer noch etwas verfeinert benutzt, A und AM sorg-
loser, ohne besondere Auswahl, was auch zu der wenig sorgfältigen
Reimtechnik dieser Dichtungen recht gut paßt. Ihre (oder ihr) Ver-
fasser stehen jedenfalls eine sociale Schicht tiefer als die der beiden
anderen Denkmäler.
Wien.
Karl Brunner.
14 .
Ariosts Satiren.
Im Nachlasse Ariosts fanden sich neben vielen unausgeführten
Arbeiten sieben fertige Satiren in einer sauberen, zusammen-
hängenden Abschrift. Jahrhundertelang war man der Ansicht,
daß der Dichter das Manuskript eigenhändig geschrieben habe, und
zu Ehren seines dreihundertjährigen Geburtstages hat Viani ein
Faksimile dieses nachgelassenen Werkes herausgegeben. Neuere
Untersuchungen haben diese Annahme erschüttert, ein genauer Ver-
gleich der Schrift der Satiren und der zahh-eichen von Ariost selbst-
geschriebenen Briefe hat ergeben, daß der Schreiber nicht mit dem
Verfasser identisch ist. Immerhin handelt es sich um eine Hand-
schrift, die Ariost zu seinem eigenen Gebrauche hatte herstellen
lassen und in die er, solange er lebte, Verbesserungen eintrug.
Es ist ja bekannt, daß er sich nur schwer entschließen konnte, ein
Werk als fertig herauszugeben, und daß er unermüdlich im Aus-
feilen und Verbessern war. So enthalten auch die vergilbten Blätter
der Satiren zahlreiche Kon-ekturen, die aber nicht alle von dem
Dichter selber stammen. Nach ihm hat noch eine zweite Hand
eingegriffen, vermutKch Doni, als er 1550 die Venezianer Ausgabe
der Satiren für Giolito besorgte. Auf jeden Fall sind diese Ab-
änderungen erst nach dem Tode des Verfassers hinzugekommen,
denn sie fehlen in den ersten Drucken, die unmittelbar nach seinem
Ableben erschienen. Die früheste, uns bekannte Ausgabe stammt
aus dem Jahre 1534, sie trägt zwar den Vermerk di nuovo stam-
jpate, aber die WahrscheinHchkeit spricht dafür, daß sie die erste
war. Weitere Ausgaben sind im 16. Jahrhundert zahlreich, Poli-
dorii fürt etwa zwanzig auf, ohne daß seine Zusammenstellung voll-
ständig wäre; ich selbst besitze eine Ausgabe der Satiren von 1581
(Venezia Orazio de' Gobbi), die ihm unbekannt ist. Im 17. Jahr-
hundert sind die Gedichte so gut wie verschollen, teilweise infolge
der Unduldsamkeit der Kirche, die an ihren meist sehr harmlosen
Spaßen und Angriffen Anstoß nahm, ja sie in verschiedenen Orten
auf den Index setzte. Das 18. Jahrhundert zeigte wieder stärkeres
Interesse für Ariosts Werke, darunter auch für die Satiren, doch
betrachtete man sie zumeist als eine Nebenarbeit, die im Anschluß
an den Orlando unter den opei-e tninori untergebracht wurde.
Einzelausgaben sind in dieser Zeit selten, zumeist nichtitalienischen
Ursprungs. Neuerdings hat man den Satiren eine erhöhte Auf-
merksamkeit zugewendet. Wir betrachten es als wichtigste Auf-
gabe der literarischen Forschung, durch das Kunstwerk zu der
Person des Schöpfers durchzudringen, und in dieser Hinsicht bieten
die sieben Gedichte äußerst wertvolles Material. Mag auch in ihnen
^ Ppere minori in versi e in i^rosa. Firenze 1857 I, X f.
Ariosts Satiren 207
manches auf Konvention und Überlieferung beruhen, mag nicht
jedes Wort eine persönhche Bedeutung besitzen, so tritt hier Ariost
doch ähnlich wie in den Prologen seiner Komödien in eigener Ge-
stalt vor uns hin und spricht mit eigenen Worten zu uns.
Es ist fraglich, ob wir in den sieben Satiren alle Gedichte dieser
Gattung besitzen, die Ariost geschrieben hat. Die Herausgeber der
wertvollen x4.usgabe von 1550 versprechen auf dem Titelblatt neben
den bekannten zwei weitere unveröffentlichte Satiren, die freilich in
ihrem Bande nicht enthalten sind, und der Sohn des Dichters Vir-
ginio erzählt in seinen Memoiren, daß sich im Nachlaß seines Vaters
das Bruchstück einer an Castiglione gerichteten Satire gefunden
habe. Auch von ihr ist nichts auf uns gekommen; aus der Tat-
sache geht jedoch hervor, daß Ariost die ihm offenbar sympathische
Dichtungsart fortzusetzen gedachte, ja ihr einen größeren Aufschwung
geben wollte, als er der letzten Krankheit zum Opfer fiel. Die
ersten fünf Satiren sind alle an Verwandte und Freunde des Dich-
ters gerichtet, die sechste an den Sekretär des Herzogs, sie halten
sich also innerhalb des begrenzten Ferrareser Kreises, während die
siebente an Bemlo und die geplante achte an Castiglione darüber
hinausgehen und in die hohe Literatur eintreten, die sich in diesen
beiden führenden Geistern verkörperte. In ihnen spricht oder wollte
Ariost zu ganz Italien sprechen.
Er selbst hat, wie gesagt, diese Gedichte nicht herausgegeben;
sei es, daß er die Korrektur der vorhandenen noch nicht für ab-
geschlossen hielt, sei es, daß er sie durch weitere zu vermehren
wünschte, aber die Satiren waren doch schon zu seinen Lebzeiten
bekannt. Der Dichter Alamani, der sich auch mit Erfolg als Sa-
tiriker betätigte, erkennt 1532 Ariost als Vorbild und Meister auf
diesem Gebiete an,i und da jener damals schon seit längerer Zeit
in Frankreich lebte, so setzt seine Kenntnis einen ziemhch aus-
gedehnten Umlauf der Satiren voraus. Der Gedanke liegt nahe,
daß die Personen, an die die Satiren gerichtet sind, diese wirklich
erhielten und, stolz auf diese Ehre, weitergaben. Aber man darf
sich durch die Briefform nicht täuschen lassen; sie ist traditionell,
übernommen von Horaz und Juvenal, und beruht schon bei diesen
auf Konvention. Wenn beispielsweise Horaz in einem Gedicht an
den steinreichen Mäcenas das Lob der Einfachheit singt, so fehlt jede
Beziehung zu dem angeblichen Adressaten. Ahnhch verhält es
sich mit der dritten Satire 2 Ariosts. Er erteilt dort dem Vetter
' Tambara, Ausgabe der Satiren. Livomo 1903. Einleitung S. 4. Auch
der mit Ariost befreundete Bentivoglio hat sie offenbar zu Lebzeiten des
Verfassers gekannt und ist durch sein Vorbild zum Satiriker geworden. Das
läßt sich der Sat. V des Bentivoglio entnehmen.
2 Die Numerierung nach der von Polidori._, In der Ausgabe von Berardi
Campobasso 1918 ist dies die fünfte, in der Übersetzung von Gildemeister,
208 Ariosts Satiren
Annibale Maleguccio Ratschläge wegen der Wahl einer Frau, aber
wie sich aus der Einleitung ergibt, hatte dieser schon seine Wahl
getroffen, er hätte also nicht die geringste Verwendung für die
Weisheiten des Dichters gehabt. Die zweite Satire wendet sich
an den Bruder Alessandro und seinen Freund Ludovico da Bagno,
die beide den Kardinal von Este auf seiner Fahrt nach Ungarn
begleiteten, während der Dichter auf diesen anstrengenden Dienst
verzichtet hatte; sie enthält so scharfe Ausfälle gegen seinen früheren
und den jetzigen Patron der Adressaten, daß sie für diese bei der auf-
brausenden Gemütsart des Kardinals ein gef ährhches Danaergeschenk
gewesen wäre. Wenn diese Satire überhaupt bei dessen Lebzeiten
geschrieben wurde, so behielt sie der Autor sicher vorsichtig in
seinem Schreibtisch. Auch die sechste Satire kann nicht wirklich
abgeschickt sein. Ariost war gewiß durch und durch Dichter, aber
den ehrenvollen Antrag, als Gesandter des Herzogs nach Rom zu
gehen, lehnte der im Staatsdienst ergraute Verfasser sicher nicht
in Terzinen, sondern in einem prosaischen Aktenstück ab. In der
siebenten Satire endlich empfiehlt Ariost seinen Sohn dem gelehrten
Bembo und bittet ihn, einen guten griechischen Lehrer für den
Jüngling zu suchen. Das wirkhche Begleitschreiben, das Virginio
nach Padua mitnahm, ist aber erhalten, und in ihm findet sich
noch nicht einmal ein Hinweis auf die poetische Einführung. Bei
diesen vier Satiren unterliegt es keinem Zweifel, daß die Briefform nur
eine äußerliche Einkleidung ist, daß es sich um selbständige Gedichte
handelt, die nur von einem bestimmten, den Adressaten besonders
interessierenden Ereignis ihren Ausgang nehmen. Die Anrede
des Freundes hat kaum eine größere Bedeutmig als die Widmung,
die man einer Komödie oder sonstigen Dichtung vorzusetzen pflegte.
Bei den Satiren I, IV und V ist es dem Inhalte nach nicht un-
bedingt ausgeschlossen, daß sie als poetische Sendschreiben ver-
wendet wurden, wenn auch die freimütige Kritik an der Gönner-
schaft des Herzogs Bedenken erregt. Die Gleichheit des Stils
zwingt aber zu der Annahme, daß diese Satiren dieselbe Bedeutung
wie die andern vier besitzen, und daß sie zum mindesten in der
jetzigen Form nicht abgeschickt wurden. Wir können uns den Her-
gang wohl so erklären, daß der ersten Satire ein wirklicher ge-
reimter Brief zugrunde liegt. Der Dichter kündigte dem jüngeren
Bruder Galasso seine bevorstehende Ankunft in Rom in Terzinen
an und beauftragt ihn, für ein angemessenes Quartier zu sorgen.
Die beifällige Aufnahme dieses Scherzes mag Ariost dann zur
künstlerischen Durcharbeit des ersten Entwurfes und zur Fortsetzung
der Satirendichtung bestimmt haben. Er beabsichtigte offenbar,
herausgegeben von Hej^se (Berlin 1904), steht dies Gedicht an erster Stelle.
Die Zitate, soweit sie deutsch sind, entstammen dieser vortrefflichen Über-
tragung.
Ariosts Satiren 209
erst mit der ganzen Sammlung in die Offentliclikeit zu treten, aber
bei der Harmlosigkeit der meisten Gedichte bestand kein Bedenken,
Freunden und Bekannten schon einen Einblick in das Manuskript
zu gewähren.
Dadurch, daß die Satiren mit den in ihnen erwähnten Ereig-
nissen nur in einem mittelbaren Zusammenhang stehen, wird ihre Da-
tierung erschwert. Die tatsächhchen Vorgänge lassen auf die Ab-
fassungszeit nur insoweit einen Schluß zu, als sie einen frühesten
Termin, einen termiuus post quem bilden. Immerhin läßt sich das
Entstehungsjahr der meisten mit ziemlicher Genauigkeit angeben,
mit Ausnahme der ersten, die nach Tambarai 1512 oder 1513,
nach Berardi^ und anderen erst 1517 verfaßt ist. Der spätere
Termin muß als der wahrscheinlichere angesehen werden, da sonst
die erste Satire durch einen Zeitraum von fünf Jahren von den
nachfolgenden getrennt wäre. Die zweite ist nach dem Aufbruch
des Kardinals und vor dem Eintritt in den herzoglichen Dienst
geschrieben. Von der di'itten läßt sich nur sagen, daß sie nach
der Hochzeit des Vetters Annibale Malaguzzi entworfen wurde, die
1520 stattgefunden haben soll. Die vierte fällt nach dem April
1918, wo Ariost in den Dienst des Herzogs trat, und vermutlich
vor dem Juli desselben Jahres, in dem der Kardinal Bibbiena nach
Frankreich abreiste. Die fünfte und sechste stammen aus der
Garfagnana, und zwar aus dem Jahre 1523; in der sechsten gibt
der Dichter selber an, daß er damals 49 Jahre zählte. Die siebente
endlich ist 1531 anzusetzen, etwa gleichzeitig mit dem Brief, den
Virginio dem z. Z. in Padua lebenden 3embo überbrachte. Die
Satirendichtung beginnt danach mit dem 40. Lebensjahre des Ver-
fassers und erstreckt sich bis zu seinem Tode. Dem entspricht auch
der Ton der Gedichte : es ist der des gereiften Mannes, der manches
erlebt, mit den großen Hoffnungen der Jugend abgeschlossen hat
und dem die Enttäuschungen nicht erspart geblieben sind.
Wie das gesamte poetische Schaffen der Renaissance, so steht
auch die Satire unter antikem Einfluß. Darüber waren sich so-
wohl die Autoren als die Theoretiker des 16. Jahrhunderts klar, 3
nur vermischten die letzteren die griechischen 2'drt;^0i mit der satura,
die altrömischen oder besser lateinischen Ursprunges ist, denn die
Dichter, die sie pflegen, entstammen in der Hauptsache der Pro-
vinz. Quintihan erklärt mit Stolz: Satira tota 7wstra. Und in der
1 Giov. Tambara, Sfudi sulle Satira di L. A. Udine 1877. S. 20 ff.
2 Berardi. 1. c. 35. Die dritte Satire wird von Berardi (nach seiner Zäh-
lung die fünfte) zwischen 1519 und 1523 angesetzt.
^ Sansovino in Discorso sopra la Materia della Satira, Einleitung zu einer
Sammlung Sette Libri di Satire. Venetia 1560 und Paterno in Lcttra sovra
la Materia della Satira in Satire di cinqtie Poeti illustri. Venetia 1560. Auch
Dietrich in Pidcüiella 75 ff. (Leipzig 1907) bringt die Satura mit den ^läxv^oi
in Verbindung.
210 Ariosts Satiren
Tat können wir in ihr eine dem italienischen Geist im besonderen
Maße angepaßte Form und Gattung sehen. Es ist daher begreif-
lich, daß Ariost sich zur Satire berufen fühlte, denn er ist der
Dichter, der nach dem Urteil Carduccis ü genio, il sentimento, e
Vindole des itaüenischen Volkes am schärfsten zusammengefaßt
und zum Ausdruck gebracht hat. Um Ursprung und Wesen der
Satire und zunächst der römischen satura zu verstehen, muß man
sich vor Augen halten, daß die ersten Verfasser von Satiren, wie
Ennius und Pacuvius, in ihren hohen Dichtungen nur Nachahmer
der Griechen waren, aber sie blieben doch Dichter, die gelegent-
lich das Bedürfnis fühlten, dem Zwang der Nachahmung und dem
gleich lästigen Zwang des stilisierten Wortes zu entfliehen. Für
diese Gedichte, in denen sie sich selber geben durften, in denen
sie frei von der Leber weg redeten und sich mit den Ereignissen
ihrer Zeit auseinandersetzten, erfand Ennius die Bezeichnung satura,
die wir am besten durch Vermischtes oder Allerlei wiedergeben.
Die Satura war in erster Linie Gelegenheitsgedicht, und diesen
Charakter behielt sie auch, als sie von Lucilius, der zu dem KJreis
des jüngeren Scipio gehörte, zu einer literarischen Gattung erhoben
wurde. Mommsen vergleicht ihn mit Beranger, und dieser Ver-
gleich ist richtig, insofern die Dichtungen beider sich durch Volks-
tümlichkeit, Unmittelbarkeit der Empfindung und Freiheit der Form
auszeichnen, aber diese Freiheit ist bei dem Franzosen eine Folge
seiner souveränen Beherrschung der Form, bei dem Lateiner Flüchtig-
keit und Lässigkeit. Lucilius schreibt schlechte Verse; mit spielen-
der Leichtigkeit plaudert er über aktuelle Ereignisse, zumeist poli-
tische, die natürlich ihn und die Römer des 2. Jahrhunderts v. Chr.
zumeist interessieren; gelegentlich werden aber auch literarische und
moralische Fragen mit guter Laune erörtert. Eine beißende Kritik
liegt dem Verfasser fern, doch stellt er gern die schlechtere neue
Zeit in Gegensatz zu der guten alten. Ihre Einfachheit wird ge-
rühmt, die neumodische Üppigkeit und der zunehmende Luxus ge-
tadelt. Das sind die Töne, die sich bei allen späteren Satirikern,
auch bei Ariost, vsiederfinden.
Varros Menippische Satiren, die in populärer Form moralphilo-
sophische Themen behandeln, sind für die Entwicklung von geringer
Bedeutmig. Der belesene Polyhistor steht stark unter dem Ein-
fluß der Griechen, und vielleicht ist es diesem Umstände zuzu-
schreiben, daß die späteren Römer nicht an ihn, sondern an Lucilius
anknüpfen. Horaz hat diese Abhängigkeit ausdrücklich anerkannt,
Persius ließ sich durch Lucilius für die Satire begeistern, und wenn
für Juvenal keine direkten Zeugnisse vorliegen, so sind seine Be-
ziehungen zu dem ältesten Satiriker darum nicht weniger deutlich.
Horaz steht ihm nicht nur zeitlich, sondern auch geistig am näch-
sten, aber er unterscheidet sich durch die bessere Form von seinem
Arioöts Satiren 211
Vorgänger. Während dieser noch verschiedene Metren anwendet,
hält der Zeitgenosse des Augustus an seinen eleganten Hexametern
fest. Auch er bietet keine mitleidlose Enthüllung von menschlichen
Lastern, sondern entwirft fein abgerundete Augenblicksbilder gesell-
schaftlicher Schwachheiten, die mit liebenswürdigem Spott und bester
Laune gezeichnet sind. Horaz ist kein Mann der sittlichen Empö-
rung, er weiß es selber, und durchdrungen von dem Gefühl der
eigenen Schwäche schildert er seine Menschlichkeit mit behaglichem
Humor. Er fühlt nicht den Beruf zum Sittenrichter, er verurteilt
nicht die Torheiten seiner Mitmenschen, sondern plaudert und lächelt
über sie im Bewußtsein seiner überlegenen, allerdings nicht sehr
tiefen Weisheit. Von einem aktuellen Ereignis ausgehend, läßt er
sich scheinbar wie Lucilius treiben, aber er ist ein Künstler, der
bei aller Freiheit sein Ziel fest im Auge behält. Seine Satiren
sind ein geschlossenes Kunstwerk, kein wirres Durcheinander wie
die seines Vorgängers. Auch er tut einen Griff in das volle
Leben und schreibt Gelegenheitsgedichte, nur daß er sich ent-
sprechend den Zeitverhältnissen von der Politik fernhält. Das war
zu gefährlich, und Horaz ist kein Mann, sich der Gefahr auszusetzen.
Der aktuelle Charakter der Satire geht bei Persius und Juve-
nal verloren. Ersterer deklamierte zwar mit der ganzen Empörung
der Jugend gegen ein verderbtes Jahrhundert, aber mit Ausnahme
der ersten Satire gegen die Schriftsteller seiner Zeit trägt er einen
zeitlosen Charakter und behandelt stoische Lehrsätze, wobei er aller-
dings ganz im Sinne des Horaz die goldene Mittelstraße empfiehlt.
Persius ist abstrakt und theoretisch, ohne Witz und ohne Humor.
Wo Horaz launig ist, wird er pathetisch; wo jener lächelt, dekla-
miert der jüngere Dichter. Dieser rhetorische Charakter tritt bei
Juvenal noch stärker hervor. Wer seine Satiren liest, ist geneigt,
ihn wegen der Rücksichtslosigkeit und des Freimuts, mit denen er
die Laster der höchsten Kreise geißelt, zu bewundern; aber diese
rücksichtslosen Angriffe richten sich gegen Leute, die seit 100 Jahren
im Grabe modern, sie haben nur theoretische Bedeutung; die Ent-
rüstung ist künstlich, nicht die des in seinen heiligsten Gefühlen
beleidigten Moralisten, sondern des Rhetors, den Enttäuschungen
und persönliche Verbitterung zur Darstellung der schwärzesten
Seiten des gesellschaftlichen Lebens drängen. Juvenals Satire ist
persönlich, aber nicht zeitlich. Auch er besitzt keinen Humor und
wenig Witz. Seine gleichmäßig gallige Schilderung wirkt eintönig
und auf die Dauer langweilig, zumal da sein künstlerisches Gefühl
äußerst gering ist. Seine Komposition ist schlecht; die Satire zer-
flattert und verfehlt trotz der schwärzesten Farben ihre Wirkung.
Juvenal will ein strenger Sittenrichter sein, aber ihm fehlt dazu die
Größe des Charakters, und in dieser Beziehung bleibt er selbst
hinter Persius zurück.
212 Ariosta Satiren
Gleiche Ursachen bringen gleiche Erscheinungen hervor. Wie
einst die Lateiner, so fühlten sich auch die Italiener des ausgehen-
den Quattrocento durch die Nachahmung und den kasuistischen
AVortzwang eingeengt. Auch sie suchten einen Ausweg, eine
Möglichkeit, sich freier, selbständiger und persönlicher auszugeben,
als es die Nachbildung der Antike und der mustergültige Petrar-
kismus erlaubten. Da die hohe Poesie diesem Drang vorschlossen
war, brach er sich in einer bodenständigen, realistischen Dichtung
Bahn, in der die Verfasser alles und jedes, selbst das Gemeinste
aussprachen und sich selbst mit zynischer Offenheit gaben. Als
Reaktion gegen die Unnatur einer gewaltsam aufgepfropften Kunst-
poesie erschien zu Ende des 15. und noch mehr im 16. Jahi'hundert
eine unübersehbare Menge von Capitoli, Epistole, Satiren, Madriga-
lessi u. a. m., die man teilweise nur als Schmutzliteratur bezeichnen
kann. Der antike Einfluß fehlt auch hier nicht, aber er fällt
weniger ins Gewicht, da er auf Realismus und Beobachtung der
Wirklichkeit drängt. Die Eigenschaften des italienischen Volkes,
die in der hohen Poesie unterdrückt wurden, seine Spottsucht, Lach-
lust, seine Freude am Niedrigen, sein gesunder Wirklichkeitssinn,
seine Skepsis, seine Fähigkeit, dem Großen eine komische, dem
Kleinen eine ernste Seite abzugewinnen, kommen in dieser Literatur zum
Ausdruck. Die Bezeichnung spielt dabei eine untergeordnete Rolle,
und es ist schwer, einen begrifflichen Unterschied zwischen Satire,
Epistel und einem Capitolo anzugeben. Auch die Zeitgenossen ver-
mochten es nicht. Wenn z. B. Sansovino (1. c.) als das Wesen der
Satire betrachtet, daß sie cose umili e hasse in einem stil umile e
basso behandelte und simplicitä mit acerhitä verbindet, so ..sind
das Allgemeinheiten, die ebensogut auf das Capitolo passen. Ahn-
hch äußert sich Paterno (1. c): Der Stil der Satire soll umile e
pedestre, non molto dalla prosa lontano sein, aber nicht insipido,
troppo sordido, e osceno] sie verlangt spirito e energia e con pen-
sata temperanxa impensato progresso, sowie Witz, Geist und Lebendig-
keit. Auch damit ist nicht viel anzufangen. Wichtiger ist, wenn
er als Zweck der Satire bezeichnet: esaltare la viriü e diradicare
i vüii. Die moralische Absicht ist offenbar das entscheidende Merk-
mal, das die Satire von den anderen, ihr nahestehenden Gattungen
trennt. Diese Auffassung fügte sich trefflich in die ästhetische Lehre
der Renaissance ein, der es ja vor allem darauf ankam, den mora-
lischen Nutzen der Poesie nachzuweisen. Wenn also die Satire diesen
lehrhaften Zweck in besonderem Maße erfüllte, so folgt daraus, daß
sie auch besonders hoch geschätzt und mit besonderer Vorhebe gepflegt
wurde. Ariost war viel zu sehr Künstler, um sich mit Kunsttheorien
zu befassen, aber es kann keinem Zweifel unterliegen, daß auch er
dieser Ansicht huldigte und daß er es als Aufgabe der Satire be-
trachtete, zu der Belehrung und Besserung der Menschen beizutragen.
Ariosts Satiren 213
Man kann ihn als den Schöpfer der itahenischen Satire be-
zeichnen, wenn er auch einen und zwar sehr bedeutenden Vor-
gänger in Antonio Vinciguerra, dem Sekretär der Repubhk Venedig,
besaß, dessen sechs Satiren 1485 erschienen. Aber dieser steht
mit seinem ungeheuren Pessimismus, mit seiner Verzweiflung an
der Welt völlig allein. Misera eiade sccolo infelice! ruft er aus.
In den cieco viver 7wstro, dem sinnlosen Leben, sieht er nichts als
die kurze Dämmerung einer zwecklosen Hoffnung. Der Mensch
ist das elendeste Geschöpf, Nascemo infetti. Die Welt erscheint
ihm wie Hamlet als ein Garten voll Unkraut. Er vergleicht sich
selbst mit einer Latrine, die Kot, Urin, Krankheit, Schmerzen und
Trauer von sich gibt, und drei Jahrhunderte vor Leopardi bezeichnet
er die Welt als fango mortal che e hello in vista. Daß Ariost
die Gedichte Vinciguerras gekannt hat, ist anzunehmen, aber einen
Einfluß konnte deren verzweifelte Stimmung auf sein kindHch-
fröhliches Dichtergemüt nicht ausüben, höchstens daß sie ihn zum
Widerspruch reizte. Wenn z. B. der Venezianer die Ehe für einen
Iniomo d'intelletto verwirft, das Weib ein idolo di lussuria nennt
und in beinahe Schopenhauerscher Weise den Geschlechtstrieb als
eine Verblendung des Einzelnen zwecks Erhaltung des Ganzen be-
zeichnet, so erklärt Ariost (Sat. IH):
daß niemand ohne Frau zur Seite
im Guten nicht vollkommen werden kann,
noch ohne Sünden leben, wer nicht freite. '
Was Liebe ist, was Menschlichkeit bedeute,
erfährt er (der Ehelose) nie.
Stärker können die Gegensätze nicht sein. Dagegen hat der jüngere
Dichter die Form des älteren übernommen, es ist die Terzine. Der
Vers der Bivina Commedia hatte im Laufe der Jahrhunderte seine
Erhabenheit zugunsten der Ottava eingebüßt. Bei Vinciguerra be-
sitzt er noch einen Rest vom Geiste und der Kraft Dantes, im
16. Jahrhundert dagegen wurde er völlig zum Metrum der realisti-
schen Tagespoesie. Ariost verwendet in seinen Satiren ausschließ-
hch die Terzine, die meisten Satiriker folgten seinem Beispiele, und
nur in Ausnahmefällen finden sich der sdrucciolo sciolto, der ende-
casillabo sciolto oder die Stanze.
Inniger sind die Beziehungen Ariosts zu den römischen Satiri-
kern. Zwar die Fragmente des Lucilius wurden erst 1597 heraus-
gegeben, jedoch konnte sich unser Dichter aus den zahlreichen
Zitaten bei Cicero und Varro ein Bild von dessen Kunst machen.
Ein direkter Einfluß ist trotzdem nicht wahrnehmbar; was die
beiden Satiriker gemeinsam haben, wird durch Horaz vermittelt,
höchstens der Spott über die Ausländerwelt, sei es, daß man sich
als Spanier gebärdet (Sat. I, 76 ff.) oder seinen guten christhchen
214 Ariosts Satiren
Taufnamen in einen klassischen verwandelt (VII, 58 ff.), könnte
durch Lucilius' Schilderung der Gräkomanie (II, 85) hervorgerufen
sein. Am meisten verdankt Ariost dem Horaz, der bekanntlich
sein Lieblingsschriftsteller war. Der Römer diente ihm als Vor-
bild für seine jugendliche lateinische Liebeslyrik, und durch die
Erklärung horazischer Gedichte soll er später die bewundernde An-
erkennung der römischen Gelehrten errungen haben. Wenn der
Sänger des Furioso dem Lateiner an schaffender Phantasie auch
weit überlegen ist, so besteht zwischen beiden doch eine geistige
Wahlverwandtschaft, die besonders in ihren Satiren zum Ausdruck
kommt. Beide standen schon im reifen Alter, als sie sich dieser
Dichtungsart widmeten; beide hatten das Leben von der ernsten
Seite kennengelernt und manche Enttäuschung erlebt; beide wissen,
daß die Welt voll von Fehlern und Unvollkommenheiten ist, aber
die Torheit der Menschen versetzt sie nicht in flammende Ent-
rüstung, sondern lockt ihnen nur ein kluges Lächeln weltmännischer
Weisheit ab. Beiden ist die künstlerisch vollendete Darstellung
dieser Verkehrtheiten zum Schluß wichtiger und interessanter als
die Besserung der Menschen, zu der weder der Zeitgenosse Leos X.
noch der des Augustus Vertrauen hat. Ariost steht seiner eigenen
Weisheit skeptisch gegenüber. Er macht (Sat. III) die schönsten
Vorschläge, wie man sich der Treue seiner Frau vergewissern kann,
um wehmütig zuzugeben, daß seine Ratschläge nichts nützen werden,
wenn sie die Absicht hat, ihren Mann zu betrügen. Er wie Horaz
leben in einem Jahrhundert, wo die großen Interessen des öffent-
lichen Lebens längst erloschen sind, und wo es nur noch eine be-
deutende Idee gibt, die Kunst. Das Bewußtsein ihres Künstler-
tums ist die treibende Kraft ihres Lebens und Schaffens, es ver-
leiht beiden den Mut, sich mit ihren Fehlern und menschlichen
Unvollkommenheiten hüllenlos darzustellen. Sie sind groß als Künstler,
warum sollten sie auch groß als Menschen sein? Es liegt auf der
Hand, daß Ariost dabei der empfangende, Horaz der gebende Teil
ist, aber nichts wäre falscher und ungerechter, als von einer Nach-
ahmung zu reden. Die Ähnlichkeit ergibt sich aus der Wesens-
gleichheit der beiden Dichter. Wenn z. B. Ariost die Einfachheit
rühmt und das ärmliche Mahl am eigenen Tisch der Schlemmerei
an der Tafel des Gönners vorzieht, so konnte er die Idee dem
Horaz entnehmen, aber sie ist darum nicht weniger seine eigenste
Empfindung, ja sie trägt vielleicht in seinem Munde sogar einen
persönlicheren Charakter als in dem seines Vorgängers. Die Welt-
anschauung beider Dichter ist in vieler Hinsicht die gleiche, aber
es spricht für die Selbständigkeit des Italieners, daß er stofflich
von Horaz herzhch wenig übernommen hat. In dieser Beziehung
boten ihm Persius und Juvenal mehr. Wenn er beispielsweise in
der siebenten Satire gegen die Humanisten loszieht, so spürt man
Ariosts Satireu 215
den Einfluß der ersten des Persius. Wenn Juvenal über die
Nichtigkeit der voniehmen Abstammung ohne eigene Tüchtigkeit
spottet, so greift Ariost dieses Thema auf, freihch um es in ganz
anderem Geiste zu verarbeiten. Der Römer klagt auch über die
unwürdige Behandlung der Hienten durch den Patron sowie über
die geringe Schätzung und schlechte Entlohnung der gelehrten Be-
rufe; diese Beschwerden mußten besonderen Eindruck auf den
modernen Dichter machen, der schwer unter dem Joch seines
Gönners, des Kardinals von Este, litt und später nur kümmerlich
von den dürftigen Zuwendungen des Herzogs Alfonso lebte. Wo
er z. B. in der zweiten Satire auf diese schlimmen Erfahrungen zu
sprechen kommt, geschieht es mit einer Bitterkeit, die ihm sonst
fremd ist und sich vielleicht wenigstens teilweise auf den Einfluß
Juvenals zurückführen läßt. Diesem ist unser Dichter an Menschen-
Hebe, Humor und Liebenswürdigkeit ebenso weit überlegen wie als
Künstler. Er erreicht zwar nicht ganz die Kunstfertigkeit des
Horaz; offenbar hat er die geschickte Technik, mit der dessen
Satiren aufgebaut sind, nicht erkannt. Er sah Zufall, Laune und
Willkür, wo in Wirklichkeit die genaueste Berechnung waltet, oder
glaubte im Geiste Horaz' zu handeln, wenn er sich planlos treiben
läßt, ohne zu merken, daß sein Vorbild wohl die Zügel lockert,
aber stets fest in der Hand hält, während sie bei ihm gelegentlich
am Boden schleifen. Dante in De vulg. eloquentia I, 15 erhebt
gegen die Ferrareser den Vorwurf der garrulitas (loquacitä); in
Ariosts Satiren gibt es verschiedene Stellen, die ihn rechtfertigen,
aber wenn dieser Mangel auch besteht, wenn der Dichter bisweilen
abschweift imd sein Thema aus dem Auge verliert, so verfällt er
doch niemals in die Planlosigkeit und Zerfahi-enheit Juvenals.
Sansovino bezeichnet die Satiren als ardentissime riprenditrici
delle cose non buone. Das trifft auf die Gedichte Ariosts nicht
zu und kann es auch nicht bei einem Verfasser, den selbst ein
scheelsüchtiger Beurteiler wie Aretin ^ als die somma bo?itade, als
den Inbegriff der Güte, bezeichnet. Diese Güte oder milde Nach-
sicht kommt überall zum Ausdruck. Ariost rät (Sat. IH) zu einer
humanen Behandlung der Frau, während noch Shakespeare eine
Tracht Prügel für ein geeignetes Mittel zur Herstellung des ehe-
lichen Friedens hält; er empfiehlt (Sat. VII), die Jugend mit Güte
zu erziehen, selbst auf Kosten der Gelehrsamkeit, und sogar für
die Tiere hat er ein fühlendes Herz. Er ermahnt (Sat. I) den
Bruder Galasso, der ihm in Rom Quartier bestellen soll: 'An den
Pferden auch tu deine Pflicht'. Über seine eigene Harmlosigkeit
und über die seiner Satiren ist der Dichter völhg klar, wenn er
V, 49 f. erklärt:
Im Prolog der Cortigiana.
216 Ariosts Satiren
Ich töte nicht, ich haue nicht, vor mir ist
ein jeder sicher.
Er schildert wohl die Laster der Humanisten, aber er weiß (VII, 94 ff.):
Wollt ich jedoch auf sie die Geißel schwenken,
so kam ich wegen Raubes in Verdacht
an Aretins und an Pistojas Schränken.
Nein, die giftigen Waffen dieser Satiriker will und kann Ariost
nicht führen; bei ihm überwiegt der Humor, das verzeihende Mit-
leid eines großen und weichen Herzens, die Schärfe. Er stellt
menschliche Laster und Torheiten dar, und gewiß fällt manchmal
ein hartes Wort des Unmuts, aber der Geist, der das Ganze be-
seelt, ist milde und verzeihend. Sein Humor versöhnt mit den dar-
gestellten Schwächen, er lächelt sie weg und löst sie in Nichts auf.
Verkehrtheiten, über die man so harmlos und launig plaudern kann,
können nicht so schlimm sein, es sind Zufälligkeiten, die man be-
lacht, keine Fehler, die notwendigerweise der Menschheit anhaften.
Ariosts Welt ist trotz einzelner Mängel gut, während der Pessimis-
mus die eigenthche Grundlage der Satire ist. Er gehört nicht zu
den größten auf diesem Gebiet, aber wenn er durch seinen Optimis-
mus als Satiriker verliert, so gewinnt er dadurch als Mensch und
Dichter.
Der Verfasser des Orlando, der auf einem Flügelroß über Meer
und Länder jagt, ist kein Weltverneiner. Aber man kann nicht
immer durch die Wolken fhegen, in den Satiren schickt er sich zu
einem irdischen Spaziergang an. Auch ein solcher hat seine Reize
mid ist geeignet, ihn und seine Freunde zu amüsieren, wenn man
dabei auch keine wunderbaren und überraschenden Dinge sieht, wie
bei einem Ausflug nach dem Mond. Ariost legt nur Wert auf die
Darstellung, nicht auf den Stoff. Die Gegenstände seiner Satire
sind alles andere als neu. In erster Linie müssen natürlich die
Pfaffen herhalten. Das war im 16. Jahrhundert selbstverständlich.
Zwar hatte schon das ganze Mittelalter über ihre Streiche und
ihre Verkommenheit gelacht, aber das Thema war unerschöpflich
und wurde von dem Publikum der Renaissance stets dankbar auf-
genommen. Ariost hat es gründlich ausgebeutet, besonders die
Ehelosigkeit der Priester, die mit Notwendigkeit zur Unsitthchkeit
führt, mißfällt ihm,
drum ist die Klerisei
auch solche gierige, grausame Meute,
wie wölfisch sie, wie eselhaft sie sei. (III, 24—26.)
Fast die ganze erste Satire ist diesem Thema gewidmet. Er schil-
dert den Pater, der 'rot wie ein Krebs', voll von Wein auf die
Kanzel steigt, um dem 'nüchternen' Volk das Evangelium auszu-
deuten. Er spottet über die Schlemmerei der Mönche, über die
Bischöfe, die ihr Amt auf Vorschuß gekauft haben und daher be-
Arioats Satiren 217
ständig in Geldnot sind, und über die ehrgeizigen Kardinäle, ja
selbst bis zum Papste erhebt er sich,
der nicht ruht, bis Kinder und Nepoten
er aus dem bürgerlichen Stand erhebt,
der sich nicht scheut, Italien dem Bürgerkrieg preiszugeben, um
seine Bastarde zu versorgen. Es klingt sehr bedenküch, wenn es
von ihm heißt:
Bannflüche fertigt er in aller Eil'
für seine Nachbarn; für die Wölfe und Raben
des grimmen Mars hält man den Ablaß feil,
aber man muß bedenken, daß weder die Flüche noch der Ablaß-
handel in Italien tragisch genommen wurden. Ein deutscher Mönch,
wie Fra Martino, dessen Unglauben Ariost übrigens nicht 'streng
und grämlich' nimmt (VII, 43), mochte sich über derartige Dinge
empören, die Italiener hatten sich längst daran gewöhnt und lachten
darüber. Man braucht nur an Macchiavelhs Fra Timoteo zu denken,
um die Harmlosigkeit der Ariostschen Ausfälle zu verstehen.
Einen ebenso dankbaren und behebten Stoff wie die Pfaffen
boten die Weiber. In der dritten Satire schildert Ariost die Miß-
stände der Ehe, die nicht ausbleiben können, ob man nun eine
schöne oder eine häßliche Frau wählt. Im ersten Fall hat man
Sorgen und Eifersucht, im zweiten 'Pein fürs Leben', wenn mau
auch nicht die Gefahr läuft, betrogen zu werden. Dieses Unglück
ist bei einer schönen Frau beinahe unvermeidlich, und nur ein
sicheres Mittel gibt es dagegen, das der Teufel einem armen, von
der Eifersucht gequälten Maler in einer Facetie des Poggio (No. 133)
angibt. Ariost hat diesen derben Spaß, der auch sonst sehr be-
liebt war^ und dem unerschöpflichen Repertoire mittelalterlicher
Schwanke entstammt, in graziöse Verse gebracht. Auch was er
sonst an den Frauen zu tadeln hat, ihre Putzsucht, Uberhebung,
ihren Stolz und ihre Mißwirtschaft, beruht auf Überheferung, und
der konventionelle Charakter dieser Kritik tritt um so klarer zu-
tage, als sie sowohl zum Leben des Dichters als zu den Stellen,
wo er seiner eigenen Auffassung folgt, im schärfsten Widerspruch
steht. Er selbst betrachtete es als das größte Glück, als er end-
lich seine Alessandra heimführen konnte, und er lebte mit ihr in
ungestörtester Harmonie, ja in derselben Satire, wo er in der be-
liebten Form des Mittelalters über die Frauen spottet, zeigt er
sich, wo er seine eigene Ansicht ausspricht, als ein begeisterter
Verehrer der Ehe, ohne die man 'im Guten nicht vollkommen
werden kann' und nicht weiß, was 'Liebe und MenscliHchkeit be-
deuten'. Hier spricht er wirklich aus, was er für seine Alessandra,
' Er findet sich bei Rabelais 'Pantagruel' III, 38, und Lafontaine, Confes
in, 12. Auch Shakespeare nimmt im Kaufmann von Venedig auf diese ßing-
fabel Bezug.
218 Ariosts Satiren
die den Mittelpunkt seines Lebens und Denkens bildete, empfand:
Sei zärtlich, liebe sie mit solchem Sinn,
wie sie dich Heben soll; lob ihre Sachen,
und was sie tut für dich, nimm dankbar hin. (II, 253—255.)
Dieses Gedicht zeigt deutlich, wie Persönliches und Unpersönhches
in den Satiren nebeneinander stehen. In den meisten Fällen durch-
dringen sich die beiden Elemente. Die Laster der Humanisten,
die Nichtsnutzigkeit der Höfhnge, der Geiz und die Kargheit der
Gönner hat Ariost sicher selber gesehen und gespürt, aber darum
gehörten sie doch zu den üblichen Themen seiner Zeit, die zahl-
reiche Schriftsteller vor und nach ihm behandelt haben, manche,
z. B. Aretin, sogar viel schärfer als er. Er empfiehlt die goldene
Mittelstraße, wie alle Sath-iker seit Lucilius, aber er hatte dabei
sicher nicht das Bewußtsein, daß er eine tausendjährige Weisheit
wiederholte, sondern es geschah aus semer eigenen Empfindung
heraus. Er war ein Mann der Mäßigung. Selbst in der Religion
wünscht er eine wohlabgestimmte Frömmigkeit (III, 197 — 199);
seine Vaterlandsliebe findet sich mit den Grenzen eines Hein-
staates ab, und selbst seine Liebe ist in der Jugend mehr ästhetisch,
später mehr treue Anhänglichkeit als stürmische Wallung. Seine
Phantasie ist überschwenghch, im Leben steht er ohne größere
Leidenschaften da, und das Bekenntnis zur guten Mitte, das im
Munde eines großen Dichters etwas spießbürgerlich anmutet, ent-
spricht seiner Neigung, wenn es auch in keiner Weise originell ist.
Die Originalität des Satirikers liegt nicht im Stoff, sondern vor
allem in der Stellung, die der Verfasser innerhalb dieses Werkes
sich selber zuweist. Er ist nicht nur Subjekt, sondern auch Ob-
jekt der Komik. Er selbst, der Dichter im praktischen Leben,
ist der Gegenstand seiner Satü^e.
Ariost ist durch und durch Künstler, d. h. ein Mensch, der völhg
von seinen Launen, Stimmungen und augenbhcklichen Eingebungen
abhängig ist. Er kennt seinen Charakter, und schon in jungen
Jahren schreibt er ein lateinisches Gedicht De sua ipisus ?nobüi-
iate. Zwang verträgt er nicht. In Satire I sagt er:
Ich hab' ein unbeständig Herz im Leibe,
drum war mir, mich zu binden, stets verhaßt.
Er weiß, wenn er heiratet, hat er Lust, Priester zu werden, und
wenn er Priester wird, hat er das Bedürfnis nach einer Frau. Er
ist Dichter, aber vom Dichten kann man nicht leben, zumal in
jener Zeit, wo die Kunst des Lesens auf eine kleine Oberschicht
beschränkt, der Nachdruck aber so gut wie unbeschränkt war. Er
hat nicht nur für sich, sondern auch für die zahbeichen jungen
Geschwister und seine alternde Mutter zu sorgen. Der Konflikt
zwischen Kunst und Broterwerb durchzieht sein ganzes Leben; aber
so ernst er im Leben gewesen sein mag, in der Dichtmig wird er
Ariosts Satiren 219
niemals tragisch. Nach der Sitte der Zeit trat er in den Dienst
des Kardinals von Este __und erwartet von ihm eine angemessene
Pension, doch zu seiner Überraschuug ist dem wenig kunstsinnigen
Gönner mit Versen nicht gedient, sondern er will praktische
Leistungen, er gönnt Ariost
selten einen Ruhetag,
und statt zum Dichten braucht' er mich zum Reiten,
und über Stock und Stein im steten Flug. (VII, 237—239.)
Er sandte ihn als Vertreter an verschiedene italienische Höfe, ein
diplomatischer Dienst, zu dem man Dichter und Gelehrte von Ruf
gern verwendete, da sie das Latein glänzend beherrschten und durch
ihren Ruhm überall Eingang fanden. Aber das Reisen ist Ariost
ein Greuel, vielleicht weniger das Reisen selber als der Zwang,
daß er reisen muß. Während er von Ort zu Ort gejagt wh-d, ist
sein Ideal, still im bescheidenen eigenen Häuschen zu leben oder
die Villeggiatura guter Freunde zu teilen, wie er Sat. V, 115 ff. sie
beschreibt:
Anmut'ge Landschaft stimmte stets aufs beste
zum Schreiben mich; sie hat es oft getan
in unserm Reggio, meinem Wiegenneste.
Noch heut' entzückt mich dein Maurizian,
das schöne Haus, das Flüßlein, die Asyle, (ombroso seggio)
die schatt'gen, so die Nymphen sich ersahn;
der Weiher, der den Garten rings mit Kühle
umschließt, der frische Bach, der erst die Au
bewässert und hernach treibt er die Mühle.
Dort möchte er träumen, dichten, fabulieren. Seine Phantasie er-
schließt ihm Herrlichkeiten, mit denen keine Ferne wetteifern kann.
Wozu also reisen? Nur weil der Patron es befiehlt. Im Jahre 1513
scheint sich eine Gelegenheit zu bieten, das verhaßte 'Joch des
heiligen Kardinals' abzuschütteln. Leo X. besteigt den päpstlichen
Tliron, dem Ariost früher freundschafthch nahegestanden hat. Mit
köstlicher Selbstironie erzählt er, wie er nach Rom kommt, um sich
bei dem neuen Oberhirten in Erinnerung zu bringen. Die Auf-
nahme entspricht seinen kühnsten Hoffnungen. Der Papst erhebt
sich von seinem heihgen Sitze, nimmt die Hand des Dichters, um-
armt und küßt ihn auf beide Wangen 'väterhch'. Doch der prak-
tische Erfolg bleibt aus, im strömenden Regen muß er zu seinem
emsamen Abendessen im 'Lamm' zurückkehren. Er tröstet sich
damit, daß der Papst erst an die vielen Nepoten denken müsse,
und daß man zum Schluß als Kardinal auch nicht glücklich sei.
Aber auf Rom hofft er nicht mehr. Als ihm zehn Jahre später
der Gesandtenposten bei der Kurie angetragen wird (Sat. VI), mit
dem Bemerken, daß er dort 'Ehi'e und Gut' einheimsen könne,
lehnt er ab: An Ehre habe er genug und auf Reichtum hoffe er
ArchiT f. n. Sprachen. 140. ]^5
220 Ariosts Satiren
nicht mehr. So verbringt er weitere Jahre im Dienste des Kardi-
nals, aber stolz erklärt er (11, 262), wenn dieser
Meint, daß er mich gekauft mit seinen Gaben,
so geb' ich sie zurück, leicht fällt die Wahl,
und will nur meine Freiheit wieder haben. i
Endlich erfolgt der Bruch. Der Dichter hat nun die Freiheit, aber
auch die Armut. Natürlich kann er sie nicht ertragen, und schon
nach wenigen Monaten begibt er sich wieder in den 'Käfig, der der
Nachtigall zur Plage wird'. Er tritt in den Dienst des Herzogs.
Und weil ich leben muß von fremdem Gut,
ist's besser, mich beim Herzog satt zu laben,
als bei geringem Volk mit Bettelei
mein täglich Brot zusammen mir zu schaben. (IV, 24—28.)
Nun klagt er wieder über den Dienst, der sich von dem früheren
nur dadurch vorteilhaft unterscheidet, daß er zu Hause bleiben
kann. Aber Alfons' Kasse ist durch den Krieg erschöpft, er hat
kein Geld mehr für das Mäzenatentum, und so schickt er den
Dichter als Statthalter in die Garfagnana, ein wildes Bergland mit
einer verwilderten Bevölkerung, das nach den letzten Wirren an
Ferrara gefallen war. Ariost selbst meint (V, 177), der Fürst habe
mehr an die Not seines Dichters als an die seiner neuen Unter-
tanen gedacht. Eine ungeeignetere Wahl konnte er kaum treffen,
sie wird höchstens noch durch die Berufung Sancho Pansas zum
Statthalter seiner Insel überboten. Ariost hat die volle Einsicht
in das Groteske seiner Stellung:
Wie man ein Land regiert, will der ermessen?
Ein Mann, den wenig von den Fünfzig trennt
und noch von Knabennarretei besessen?
Sein Reich besteht aus 83 Ortschaften, und in allen gibt es nur
Mord und Totschlag, nur Diebstahl und Zank. Die Mörder sind
zahlreicher als die Häscher, und mit emgerollter Fahne geht ihnen
die Polizei vorsichtig aus dem Wege. Er selbst, der Herr Gouver-
neur, bittet, schmeichelt, droht, verurteilt, spricht frei und vor allem
schreibt er Akten, 'täglich neue Bogen an seinen Herrn um Bei-
stand oder Rat\ Mit hinreißender Selbstü-onie schildert er sich in
seiner ganzen Hilflosigkeit. Er vergleicht sich mit dem Huhn,
das mit dem gefundenen Juwel nichts anzufangen weiß, und mit
dem Schiffer, der vom König ein Pferd erhält, aber nur zu rudern,
und nicht zu reiten versteht, und er kommt zu der Einsicht, daß^
er kein Reiter ist. Auch der Herzog muß wohl allmählich erkannt
haben, daß man aus einem Dichter, und noch dazu dem piü fan-
tastico e capriccioso, wie ihn Carducci^ nennt, keinen Landrat
1 Übrigens auch eine Erinnerung an Horaz, Sat. I, VII, 35—39. Inspice
si possum donata reponere laetus, cf. Berardi 1. c. S. 30.
2 Delle Poesie latine edite ad ineditc d. L. A. S. 18.
Ariosts Satiren 221
machen kann. Er rief ihn nach Ferrara zurück, wo Ariost seine
letzten Lebensjahre in dem heiß ersehnten eigenen Heim, an der
Seite seiner Alessandra in Unabhängigkeit, frei von jedem lästigen
Zwang verbringen dm-fte. Ob das Glück seinen Erwartungen ent-
sprach? Es scheint fast nicht so, denn er, dem das Reisen so
verhaßt war, solange er reisen mußte, besucht in den nächsten
Jalu'en Venedig, Correggio und Mantua. Ariost war eine gesellige
Natur. Schon der Gedanke, allein zu Mittag zu speisen, ist ihm
unerträglich (II, 163), er brauchte Menschen und Bewegung, und
vermutlich trieb es ihn von der Stille des eigenen Heims wieder
in den Lärm des Lebens hinaus.
Die Forscher, die sich mit den Satiren beschäftigen, greifen
zumeist nur einzelne Stellen heraus, die sie als Belege für Ariosts
Ehrenhaftigkeit und Aufrichtigkeit, seine Bescheidenheit und seine
Vorliebe für die Einfachheit anführen. Das ist eine äußerliche
Betrachtung, die an Eigenschaften haftet, die sich entweder von
selbst verstehen oder doch für das innerste Wesen des Dichters
wenig besagen. Der Wert der Satiren besteht in dem Lebensbild,
das er von sich selber entwü-ft. Beruht dieses auf Wahrheit? Das
Dasein des Dichters war nicht leicht, reich an Ungnade, Zurück-
setzung und Kränkung; mid ist es ihm wirklich gelungen, alle diese
Widerwärtigkeiten,
des Unterdrückers Zwang, des Stolzen Hohn,
des Rechtes Aufschub,
den Übermut der Amter und die Schmach,
die Unwert schweigendem Verdienst erweist,
so leicht zu tragen, wie es nach den Gedichten den Anschein hat?
Es ist wenig wahrscheinlich, eher muß man annehmen, daß sein
empfindliches Dichterherz schwer darunter gelitten hat. Aber das,
was ihm das Leben vergällte, das rang er in der Poesie nieder,
das löste er mit überlegenem Humor in Scherz auf. Das Lebens-
bild der Satiren ist ein Kunstwerk, vielleicht das größte, das unser
Dichter geschaffen hat, imd um es zu schaffen, dazu bedurfte er
nicht nur eines starken Talentes, sondern in erster Linie einer
seehschen Größe, die sich durch äußerliches Mißgeschick zwar ge-
legenthch verstimmen, aber nicht dauernd erbittern ließ. Pietro
Aretino hat, wie schon erwähnt, Ariost als die somma boyitade be-
zeichnet. Vielleicht war . niemand besser geeignet, den Charakter
unseres Dichters zu beurteilen, als der Pamphletist, der in jeder
Beziehung sein Widerpart war. Er ließ sich von dem Bösen über-
winden, Ariost überwand das Böse mit Gutem.
Berlin. Max J. Wolff.
15^
Maupassant und Flaubert.
inlaubert hat bis zu seinem Tode, am 5. Mai 1880, Maupassant
X seine Freundschaft und Sorge geschenkt, die fast an Vaterliebe
grenzte. Maupassant war ihm ein Erinnerungsbild seiner Jugend,
ein Stück neugeschenkter Jugend aus der Zeit des Freundschafts-
bundes von Gustave und Caroline Flaubert mit Alfred und Laure
le Poittevin. Fl.s Liebe zu dem etwas älteren, früh verstorbenen
Alfred hat nie aufgehört. Als er an Laure de Maupassant geb.
le Poittevin den ersten — erhaltenen — Brief, nachdem sie sich
längere Zeit aus den Augen verloren hatten, als Antwortbrief schreibt,
wohl Ende 1863, da ist der ganze Brief voll vom Andenken an
Alfred: Elle (der Brief) m'a appoj'U, comme sur im souffle d'air
frais, toute la senteur de ma jeiinesse, oü notre jpauvre Alfred a
tenu une si grande jüace! Ce sotivenir ne me quitte pas. II
n'est point de joiir, et fose dire presqiie point d'heure oü je ne
songe ä lui! Aus dieser romantisch-sentimentalen Erinnerungs-
stimmung heraus warf er sich mit seiner unverbrauchten Liebes-
kraft, die er so gerne gab, wenn er die eigenen Hemmungen über-
winden konnte, auf den jungen Guy, den Sohn der Freundin und
vor allem den Neffen des Freundes, dem er auffallend glich. So
wurde er Mentor und Freund M.s, sobald dieser reif und fähig
war, Fl. zu begreifen. Und der frühreife, begabte Junge dankte
ihm mit getreuer Liebe und Verehrung. Der weise Einsiedler von
Croisset gab dem jungen Guy seine Prägung, und über den Tod
Fl.s hinaus wirkt sie. Nicht allzulange darüber hinaus; denn, wenn
auch die Verehrung bis zu M.s Tode fortdauerte, die Schülerschaft,
das Verständnis und die Nachfolge Flaubertscher Kunstanschauung
schwand. M. ging eigene, künstlerisch schlechtere Wege; vielleicht
hat er Fl.s Wege nie ganz verstanden, er folgte ihm nur als
Schüler. Aber der Einfluß Fl.s ist doch sehr groß gewesen und
soll im folgenden abgegrenzt und festgelegt werden.
Am sinnfälligsten, aber auch am äußerlichsten ist der Einfluß
Fl.s auf die Kunsttheorie und Weltanschauung M.s zu merken.
Neubert hat kürzlich 'Die literarische Kritik Guy de Maupassants',
Supplementheft VIII u. IX der Zeitsclu-ift für franz. Sprache und
Literatur 1914 und 1919 passim darauf hingewiesen. Die Leit-
sätze Fl.s: Les ho7i7ieurs deshonoretit, le titre degrade, la fonction
abrutit, kehren bei M. wieder: Trois choses de^honorent un ecri-
vain: La Revue des deux mondes, la decoratiofi de la Legion
d'honneur et l'Äcademie frangaise, also stark ins Praktische, Kon-
krete und Oberflächliche gewandt. Dieser Ausspruch M.s ist be-
stritten, vielleicht deshalb, weil M. zum mindesten seine Ansicht
über die 'Revue' geändert hat. 1880 lehnt sie seine 'Derniere es-
Maupassant und Flaubert 223
capade' ab; aber später schloß er einen günstigen Vertrag mit ihr
ab, jährlich mindestens 15 Druckbogen, den Bogen zu 1500 Frank,
zu liefern. Er hätte nicht der praktische Xormanne sein müssen,
wenn er solch eine Anerbietung aus prinzipiellen Gründen ausge-
schlagen hätte. Er ist als Schriftsteller nur 40 Jahre alt geworden;
wer weiß, was aus seinen Theorien über Orden und Akademie
noch geworden wäre.
In ähnlicher Weise übernimmt M. weitere Leitsätze Fl.s, aber
er kehrt sie immer ins Schlagworthafte und Phrasenhafte. Was bei
Fl. errungenes Resultat ist, ist bei M. übernommenes Programm.
Die fanatische, alles andere verzehrende, uneigennützige Liebe zur
Kunst macht den Künstler aus. Das hat M. von Fl. gelernt, aber
er konnte die Kunst nicht ausschließhch lieben, er liebte das Leben,
er liebte Sport und Weiber zu sehr. Am 15. Juli 1878 schreibt
Fl. an M.: Pour un ariiste, ü n'y a qu'un: fout sacrifie?' ä l'art.
La vie doit etre considerce par lui comme un moyen, rien de
plus ... In den Briefen M.s an Fl. (Edition Conard, Boule de
Suif) finden wir keine Töne, die wie die von Fl. angeschlagenen
klingen. Wohl Entmutigung und Depression, aber nicht über die
Kunst, sondern über das Leben. Und wenn M. in dem oft zitierten
Aufsatz über George Sand im Gaulois 13. Mai 1882 sagt: 'Neben
dem sehr berechtigten Wunsch, Geld zu verdienen, neben dem ganz
natMichen Verlangen nach Ruhm liebt der Künstler leidenschaft-
lich, was er hervorbringt, und muß es heben', so zeigt das mehr
'gesunden Menschenverstand' als Flaubertschen Kunstfanatismus.
Man verstehe mich recht: nicht daß er anders urteilt als Fl. soll
ihm vorgeworfen werden, das ist sein gutes Recht; aber daß er so
tut — wenn es ihm paßt — , als stände er auf dem Standpunkt
Fl.s, daß er sich mit Redensarten schmückt, während Fl. sein
Leben daransetzte, das ist Pose oder Unehrlichkeit oder Nicht-
verstehen.
Zusammenfassend äußert er sich über sein Verhältnis zu Fl.
in der Vorrede zu den Briefen Fl.s an George Sand: bewundernd,
aber wieder oberflächlich, das wichtigste mißverstehend bewundernd;
er spricht von Fl.s erhabener Objektivität und der ImpassibüiU
des Künstlers, bewmidernd und als ob er ganz auf dem gleichen
Boden stände. Dann fügt er nüchtern und kühl hinzu: 'Das waren
für ihn Glaubensartikel'. Das heißt auf deutsch: Für mich sind
sie es nicht! M. spricht von der ImpassibüiU des Dichters und
gleichzeitig 'fecris jMvce que je souffre' . Auch hier will ich sein
Prinzip — falls es eins ist — nicht angreifen. Aber er kann
nicht Fl. als sein Ideal hinstellen, wenn er auf ganz anderem Stand-
punkt steht. Die Wesensähnlichkeit der 'beiden Normannen' haben
auch die Literarhistoriker immer viel mehr betont als M. selber,
80 daß es zur Binsenwahrheit geworden ist, Fl. und M. als eine
224 Maupassant und Flaubert
Art künstlerische Einheit anzusehen. M. ist Fl.s Schüler gewesen,
aher im äußerlichen Sinne, er ist von ihm literarisch eingepaukt
worden. Was jedoch die große Schülerschaft ausmacht, das Durch-
drungensein von den Ideen des Meisters und eigenes Verarbeiten
des vom Meister Übernommenen, etwa wie Nietzsche um Wagner
gerungen hat, das hat M. nie getan und nie versucht. Er hat nie
mit Fl. innerlich abgerechnet, er hat nur von ihm genommen, was
und wann es ihm paßte. Er wußte, daß Fl. ein großer Künstler
war, und er liebte und verehrte zeitlebens den großen Menschen,
aber er hat nie um Fl.s Kunst gerungen, sie wohl in ihrer Aus-
schließlichkeit nie verstanden.
Als weitere 'Erbschaft' Fl.s fülirt Neubert IX, 101 die Ver-
achtung des Bourgeois an. Er sagt: 'Es unterliegt nicht dem ge-
ringsten Zweifel', fährt dann fort: 'nur daß sie nicht in dem Maße
bei dem Schüler ausgeprägt war wie bei dem Meister, der den
"Bourgeois" mit einem fast krankhaften Hasse verfolgte.' Aber
das ist gerade das Entscheidende ; der Haß gegen das Unkünstlerische,
Unschöne ist das Charakteristische bei Fl., ist das eminent Künst-
lerische, diese grenzenlos gesteigerte Sensibihtät gegen das Häß-
liche und Banausische; nicht daß Fl. den Bourgeois haßt, sondern
wie er ihn haßt; nicht die Tatsache, sondern der Grad. Bei Fl.
ist es Haß, bei M. Verachtung. Die Verachtung des Bourgeois
ist ein literarischer Gemeinplatz; den Bourgeois haben auch die
ganzen Romantiker, Murger, Leconte de Lisie und die Parnassiens,
Zola, Mendes, Barres, die Symbolisten und unzählige andere ver-
achtet. Jeder Künstler, jeder Boheme, ja sogar jeder junge Mensch
verachtet den Spießer. Dieser Gemeinplatz mündet in die Trivi-
alität des Studenten, der den Philister verspottet und verlacht; es
ist fast eine Pubertätserscheinung. Aber Fl.s Haß gegen den
Bourgeois ist ein Kunstprinzip, hervorgegangen aus der feindlichen
Einsamkeit des Großen, aus dem Kampfe des Denkers und Phan-
tasten gegen die Realitäten der Welt; es ist der Kampf von Don
Quijote, von Stendhal, Schopenhauer und Nietzsche gegen die blöde
Umwelt, während M.s Bourgeoisverachtung die von Mm'ger ist,
wenn einem PhiHster ein Streich gespielt wird, oder die des Stu-
denten, der 'Ruhig, Philister!' singt. Also M. hat von Fl. gelernt,
daß man als Künstler den Bourgeois verachten muß, aber er hat
die Tiefe und das Leidenschaftliche daran nicht verstanden. Der
abgründige Haß bei Fl. (man denke an 'Bouvard et Pecuchet' und
den 'Dictionnaire des idees regues') ist zu einem Gemeinplatz und
zu einer Platitüde geworden. Ich muß somit der herrschenden
Ansicht widersprechen, daß M. von Fl.s Kunsttheorie imprägniert
gewesen wäre; es war bloß eine leichte Tünche.
Viel wichtiger ist die ganz persönliche und direkte Beeinflussung
M.s durch Fl., als M. richtigen Unterricht bei Fl. hatte; mündlich
Maupassant und Flaubert 225
und iu Briefen belehrt und ermahnt er den jungen Guy während
dessen ganzer Vorbereitungszeit bis zu seinem Tode. M. selbst be-
richtet darüber in dem Vorwort 'Le Roman' zu 'Pierre et Jean':
Plus tard, Flaubert, que je voyais quelquefois, se prit d'affection
jjour moi. J'osai lui soivmettre quelques essais. B les lut avec
honte et me rcpondit: Oe ne sais pas si vous aurez du talent. Ce
que vous m'avex apporte prouve une cei'taine intelligence, mais
71 ouhliex point ceci, jeune komme, que le talent — suivant le
tnot de Buffon — n'est qu'une longue patience. Travaillez!' Je
travaülai, et je revins souvent chez lui, compi-enant que je lui
jjlaisais, car il s'etait mis ä m'appeller, en riant, son disciple.
Pendant $ept ans je fis des vers, je fis des contes, je fis des nou-
velles, je fis meine un drame detestable. B n'en est rien reste.
Le maitre lisait tout, puis, le dimanche suivant, en dejeunant,
developpait ses criiiques ... Fl. lehrte ihn : B s'agit de regarder
tout ce qu'on veut exprimer assex longtemps et avec assez d' atten-
tion pour en decouvrir un aspect qui n'ait ete vu et dit par
yersonne. B y a, dans tout, de l'inexplore, parce que nous sommes
habitues ä ne nous servir de nos yeux qu'avec le souvenir de ce
qu'on a pense avant nous sur ce que nous coyitemplons. La
moindre chose contient un peu d'inconnu. Trouvous-le. Pour
decrire un feu qui flamhe et un arbre dans une plaijie, demeu-
rons en face de ce feu et de cet arbre jusqu'ä ce qu'ils ne ressem-
blent plus, pour nous, ä aucun autre arbre et ä aucun autre
feu. C'est de cette fagon qu'on devient original. Ayant, en outre,
pose cette verite qu'il n'y a pas, de par le monde entier, deux
grains de sable, deux 7nouches, deux fnairis ou deux nez absolu-
ment pareils, il me forgait ä exprimer, en quelques phrases, un
etre ou im objet de maniere a le particulariser nettement, ä le
distinguer de tous les untres etres ou de tous les autres objets
de meme race ou de meme espece.
Also Durchkorrigieren, theoretische Anweisungen und Aufgaben-
stellen umfaßte die Lehrtätigkeit Fl.s. Das Korrigieren stelle ich
zurück, da Fl. das bis zu seinem Tode durchführte; zu den theo-
retischen Anweisungen, die er bei Fl. in Paris, in der Rue Murillo,
und in Croisset erfuhr, kommen die Anregungen und Ermahnungen
in den Briefen. Zunächst das Aufgabenstellen. M. gibt selbst ein
Beispiel 1. c: Quand vous passez, me disait-il, devant un epicier
assis sur sa jJorte, devant un concierge qui fume sa pipe, devant
une Station de fiacres, montrez-moi cet epicier et ce concierge,
leur pose, toute leur äpparence physique contenant aussi, indique
par l'adresäe de l'image, toute leur nature morale, de fagon ä ce
que je ne les confonde ,avec aucun autre epicier ou avec aucu7i
autre concierge, et faites-moi voir, par un seid mot, en quoi un
cheval de fiacre ne ressemble pas aux cinquante autres qui le
226 Maupassant und Flaubert
siävent et le precedent. Ein glücklicher Zufall hat uns einen zweiten
Bericht über diese Aufgabestellung erhalten. Adolphe Brisson
erzählt, Lumbroso, Souvenirs sur Maupassant, Rome 1908,
S. 127 : Demain matin, tu mar eher as dans la rue jusqu'ä ce qiie
tu apergoives'un concierge s'appliquant ä balayer le trottoir de-
vant sa maison. Alors tu t'arreteras, tu co?itempleras ce spec-
tacle, tu fen penetreras et tu consigneras fidelement les sensations
de tout ordre qu'il aura suggerees ä ton imagination. Vite ä
l'ouvrage! et soigne ton pipelet! Que je le reconaisse si jamais
je le rencontrc. Diese Version ist sicher die richtige; schon der
Stil ist ganz der gutmütig polternde Fl.s, und der 'pipelet' in dieser
famihären Verwendung ist typisch Fl. Wenn M.s Bericht etwas
abweicht, so genügt schon der zeithche Unterschied zur Begründung.
'Pierre et Jean' ist 1888 erschienen. Damals lag das weit zurück,
M. war der arrivierte Schriftsteller und legte vielleicht keinen iiber-
triebenen Wert darauf, gerade das Schülermäßige hervorzuheben.
Das Duzen ist kein Grund gegen sorgfältige Überlieferung Brissons,
wenn auch Fl. erstmalig unter dem 13. Februar 1880 (Corr. IV)
M. duzt, während er ihn am 8. Januar 1880 noch mit vous an-
redet; es paßt ganz zu der hitzigen, stürmisch-väterlichen Art Fl.s,
daß er den Schüler im Eifer der Kunstbegeisterung duzt, wie auch
im Brief über Boule de Suif, Corr. IV, 354 das Du durchbricht.
Diesen hitzigen, etwas tyrannischen Eifer und Sorge hat Fl. auch
in den Briefen an M. Er ist ihm ans Herz gew^achsen als Neffe
und Sohn Le Poittevin, als Schriftsteller von Zukunft, und er ge-
fiel ihm als Mensch, was ja auch M. an der oben zitierten Stelle
etwas unbescheiden deutlich hervorhebt. Im Briefe an Laure
de Maupassant, 23. Febmar 1873, lobt er den Sohn, behält sich
aber ein endgültiges Urteil über Guys Talent vor: Je crois notre
jeune gargon un peu flmieur et mediocrement apre au t?'avaü.
Je voudrais lui voir entreprendre une oeuvre de longue haieine,
füt-elle detestablef Ce qu'il m'a montre vaut bien tout ce qu'on
i?nprime chez les Parnassiens . . . Ävec le temps il gagnera de
Voriginalite, une maniere individuelle de voir et de sentir (car
tout est lä); pour ce qui est du resultat, du succes, qu' importe! . . .
Darin steckt das ganze Kunstprinzip Fl.s. Ob es auch Mutter und
Sohn M. ganz lag? Wenn Fl. sagt: 'N'en faisons ptas un rate!'
so ist die Mutter einverstanden; sobald er es verstehen kann, auch
Guy. Aber Fl. meint verfehlte Künstlerschaft, die M.s verfehlte
Existenz schlechthin. Ist das nicht der Gegensatz zwischen künst-
lerischer Anschauung und Anschauung des 'gesunden Menschen-
verstandes' oder, wenn es auch M. entsetzen würde," des Bour-
geois? Am 20. Juni 1873 empfiehlt Fl. Guy gute Lektüre: 'L'aba^i-
donnee' von Turgenjeff. Am 25. Oktober 1876 empfiehlt er ihm
einen Stoff für Artikel, Geschichte der modernen Kiitik, also
Maupassant und Flaubert 227
wieder eine Aufgabe, die M. übrigens nie geschrieben hat. "Weih-
nachten 1876 erkundigt er sich nach dem Gedeihen eines histo-
rischen Dramas,
Einmal hat M. deprimiert und in bilHger "Weltverachtung an
Fl. geschrieben, in dem — gekürzten — Brief vom 3. August 1878
(Boule de Suif, Ed. Conard S. CVIIIfi). Fl. antwortet unter dem
15. Juli 1878: Vous vous plaig?iex des femmes qui sont 'mo7io-
tones' . II y a im remede hien siynple, c'est de ne pas vous en ser-
vir. 'Les ev^nements ne so7it pas varies.' Cela est une plainte
realiste et d'aüleurs, qu'en savex-vous? II s'agit de les regarder
de plus preß. Avez-vo?(s jamais cru ä l'existe?ice des choses, est-
ce que tont ii'est pas une Illusion? II n'y a de vrai que les
'rapports' , c'est-ä-dire la fago7i dont nous percevons les objets.
'Les vices sont mesquins' , mais tout est mesquin! 'E n'y a pas
assex de tournures de phi'asesf Cherchex et vous trouverex . . .
II faut, entendex-vous, jeune liomme, ü faut travailler plus que ga.
J'arrive ä vous soiqjgonne?- d'etre legerement caleux. Trop de
putains! trop de canotage! oui, vionsieur! Le civilise n' a pas tant
besoin de locomoiion que pretendent messieiü's les medecins. Vous
etes ne pour faire des vers, faites-en. Er warnt ihn vor der 'tristesse'
und schließt rührend-humorvoll: Croyex-en V ejcperience d'un scJieik
ä qui aucune exiravagance n'est etrangere. Hinter dieser derben,
polternden und wieder humorvollen Art des Ermahnens und Aus-
schimpfens sehen wir das innere Wohlwollen, die väterliche Art
bei Fl., die sich nicht nur auf den Schriftsteller, sondern auch auf
den Menschen M. erstreckt. Fl. führt M. bei nützlichen Leuten
ein; er empfiehlt ihn an Zeitungen und Zeitschriften; er inter-
essiert sich für seine amtliche Karriere, er drückt durch, daß M.
das Marineministerium mit dem des öffentlichen Unterrichts ver-
tauschen kann, was etwas angenehmer ist; er empfiehlt ihn an
Raoul Duval von der 'Nation', der später beim Prozeß wegen des
'unsittlichen' Gedichtes in 'Des Vers' helfen muß; er schlägt ihm
Themen für Zeitungsartikel vor, er, der die Zeitungen gehaßt hat;
er verschafft ihm Verleger; schreibt den berühmten Verteidiguugs-
brief für den Gedichtband im Gaulois (21. Februar 1880), schreibt
ihm alle vorzunehmenden Schritte genau vor und gibt ihm die
nötigen Empfehlungen, um eine öffentliche Anklage zu verhindern;
als er annimmt, daß M. kein Geld hat, ihn in Croisset zu be-
suchen: J'ai un double louis sujjerbe ä ton Service. Un refus par
delicatesse serait de la canaillerie ä mon endroit (wohl Februar
1880, Corr. IV, S. 378). Kurz, in den Briefen kommt die ganze
zärtlich sorgende Liebe Fl.s heraus, der Guy alles geben will, was
^ Einer der Briefe muß falsch datiert sein, da Fl.s Brief evident die Ant-
wort auf den von M. ist.
228 Maupassant und Flaubert
er hat: Unterstützung jeder Art^ in Dingen der Kunst wie des
Lebens. Und M. dankt mit der Widmung seines Gedichtbandes:
A Gustave Flaubert
A rUlustre et paternel a7ni
que faime de toute ma tendresse,
ä l'irreprochable mattre
que fadmire avant tous.
Nun als letztes das kritische Durchkorrigieren, daß Fl. bis zu
seinem Tode durchgeführt hat, ein schulmäßiges Durchkämmen des
Stils, das sich aus Fl.s enorm hoher Einschätzung des Stils ergab,
und das er auch z. B. bei Zolas 'Conquete de Hassans' in einem
Brief an Zola vom 3. Juni 1874 und 'Nana', am 15. Februar 1880
anwendet. Er kritisiert schonungslos die Versuche und später die
Werke M.s dm-ch. Der schon erwähnte A. Brisson erzählt, Lum-
broso 1. c. S. 197, von einer solchen Lektion: '3Io7i fils, tu vas me
couper ces epithetes. Et ce verbe? Que vient faire ici ce verbe?'
II se fächait lorsque deux phrases se suivant avaient le mhne
destin et le meme rytkme. Mahn, Guy de Maupassant, Berlin
1908, sagt S. 79: 'Randbemerkungen zu dem bis jetzt Manuskript
gebhebenen Gedichtband, den Leon Fontaine aufbewahrt, rühren
unzweifelhaft von Fl. her und legen Zeugnis ab von seiner Uner-
bittlichkeit.' Schade, daß das unveröff enthebt ist. M. erwähnt
diese Schulung durch Fl. in der Vorrede zu Pierre et Jean nicht,
aber darauf zielt wohl, wenn Pol Neveux von M. gehört hat (Boule
de Suif, Ed. Conard S. XXII): Durant sept annees Fl. depega,
pulverisa les gaiiches essais de l'eleve, dont les progres restaient
incertains. Dafür haben wir die Kritik Fl.s über einzelne Gedichte,
die später in 'Des Vers' erschienen, aus seinen Briefen an M., also
Werke des Dreißigjährigen, deren einem Fl. dieselbe Unerbittlich-
keit zeigte wie denen des Jünglings. Am 25. Oktober 1879 schreibt
er: C'est tres bien votre Venus. Je n'y vois rien ä reprendre que
deux petites mco?'rectio7is grammaticales, mais elles peuvent se
defendi'e. Dormez su7' vos deux oreüJes. Ccst boyi. Es handelt
sich um die 'Venus rustique' aus dem Gedichtband, Ed. Conard
S. 117 ff.; die beiden Unkorrektheiten lassen sich natüi*hch nicht
feststellen. Sonst ist Fl. also zufrieden. Wohl aus dem Januar
1880 (Corr. IV, 353): Quant ä votre mur plein de vers splendides,
ü y a des disparates de ton. Aussi le mot bagatelle nous verse
une douche glacee. Ueffet comique arrive trop tot, mais admettons
que je n'aie rien dit; il faut voir V ensemble. Es handelt sich um
'Le mur', Ed. Conard S. Iff. Das Wort bagatelle kommt nicht
darin vor. Das Gedicht ist im Januarheft 1880 der 'Revue mo-
derne et naturaliste' 1 erschienen; vielleicht hat Fl. 'Le mur' in
^ In Deutschland unauftreibbar.
Maupassant und Flaubert 229
dieser Zeitschi'ift gelesen, vielleicht steht dort noch das angefeindete
Wort. Die Edition Conard sagt 1. c. S. 8 darüber: le texte, assez
differant d'aiUeiirs en certains passages. Das wichtige ist, daß
M. Fl. folgt; in der definitiven Ausgabe fehlt das Wort. Die Ejritik
ist streng, erkennt aber auch manches an.
Unter dem 8. Januar 1880 schreibt Fl.: Le füre est hon! Des
Vers, pur G. de M. Gardez-le. Februar oder März 1880 (Corr. IV,
378) schreibt Fl.: Maintenant causons de Desirs. Eh hien! mon
jeune komme, la dite piece ne me platt pas du tout. Elle indiqtie
une facilite deplorable. Un de mes chers desirs, un desir
qid est eher! Avoir des ailes, parhleu! le souhait est com-
mun. Les deux vers suivants so7it bons, mais au quatrieme les
oiseaux surpris ne sont pas surpris puisqiie tu es ä les
poursuivre, ä rnoi?is qiie suiyris ne veuille dire etonnes? Je
voudrais, je voudrais. Ävec une pareille tou7'nure on peut
aller indefiniment tant qu'on a de Vencre! Et la composition?
oü est eile? Ainsi qu'un grand flambeau, Vimage me semble
comique; outre qu'un flambeau ne laisse pas de flamme, jmisqu' il
la jjorte. Des fronts en cheveux noirs aux fronts en che-
veux roux. Charmant, 7nais rappelle trop le vers de Menard:
So7(s ies cheveux chätains et sous tes cheveux gris. Oui je vou-
drais. Pourquoi oui? Clair de lune excellent. L'affolante
bataille, atroce! En soninie je fengage ä supprimer cette piece,
eile n'est pas ä la hauteur des autres. Lä-dessus ton vieux
t'embrasse. Severe, nuäs juste.
Das Gedicht 'Desirs' steht in der Ed. Conard S. 65 ff. Es läßt
sich zum Teil feststellen, wie M. sich zu der Kritik gestellt hat.
Un de mes chers desirs ist ersetzt durch Le reve p)Oiir les
uns; aber dadurch änderte er auch in der zweiten Strophe, die mit
D'autres voudraient beginnt. '"Offenbar sind die beiden ersten
Strophen nicht unwesentlich verändert, weil in der definitiven Aus-
gabe die erste davon handelt, was les U7is, die zweite, was les
autres möchten; erst die dritte beginnt mit: Moi, ce que, j'aimerais.
Ursprünglich ha,ndelten offenbar auch die ersten zwei von dem,
was der Dichter wollte.
Avoir des ailes ist geblieben. Die vierte Zeile der ersten
Strophe hat M. total geändert, statt oiseaux surpris reimt jetzt
les cieux assoynbris, was eine Umformung der ganzen Zeile be-
dingte. Je voudrais steht immer noch an drei Strophenanfängen,
das neue J'adorerais, das erste Wort der sechsten Strophe, ersetzt
offenbar das angefeindete Oui je voudrais und streicht gleichzeitig
ein voudrais. Ainsi qu'un grand flambeau ist ersetzt durch une
fJainme eternelle, wodurch Reim und Sinn umgestaltet werden
mußte. Der Vers: Des fronts en cheveux 7ioirs etc. ist geblieben;
das ironisch gelobte clair de lune ebenfalls. L'affolante bataille,
230 Maupassant und Flaubert
die Fl. atroce fand, ist verschwunden; sie muß in der letzten
Strophe gestanden haben, wohl in den ersten Zeilen; wo, kann ich
nicht erraten.
M. hat also das meiste dieser recht scharfen Kritik angenommen.
Er vertrug auch derben Tadel, was ihn nur ehrt. Noch bei einem
weiteren Gedicht sind wir in der Lage, die definitive Gestalt mit
einer früheren Fassung zu vergleichen: 'Sommation sans respect'
(Ed. Conard S. 91 ff.). In einem Briefe an die Mutter (Boule de
Suif S. XXXV f.) vom 8. März 1875 sagt M.: 'Voici une piece de
vei's que j'ai faite dernierement. Sommation respectueuse.' Und
nun zitiert er die erste Fassung des Gedichtes. Sie hat 1 1 Strophen,
die definitive 14. Bloß sechs Strophen der ersten Fassung sind in
definitive übernommen worden, die drei ersten, die zwei letzten und
die siebente des Entwurfs, die der fünften der definitiven Fassung
entspricht. Die Varianten in diesen Strophen sind nicht sehr
wichtig: In der zweiten Zeile der ersten Strophe ist in der defini-
tiven Fassung bete durch g7'os ersetzt, weil bete in der ersten Zeile
der zweiten Strophe Reimwort ist. Die dritte Strophe ist ganz um-
geändert worden, mit neuem Reimschema. Bei grotesque epou-
vantail der vorletzten Strophe ersetzt grotesque ein inieril der ersten
Fassung; M. entfernte die metrische Härte, jmeril zweisilbig zählen
zu müssen. Schließlich ist auch der Titel verändert, das ironische
Sommation respectueuse durch das positive Sommation sans
respect. Wichtiger ist, was M. inhaltlich geändert hat. Die nicht
in die definitive Fassung übernommenen Strophen bringen die Rede,
daß Gott uns beide füreinander geschaffen hat, Gott sieht nicht
nach der Mitgift, Gott lachte selbst über den häßlichen Ehemann.
Diese Tirade ist in der definitiven Fassung ersetzt durch eine
boshafte, anschauliche Schilderung des Äußeren und der Art des
Gatten. Also sentimentale Gemeinplätze ersetzt durch anschauliche
Schilderung; ,das subjektiv Triviale durch das objektiv Plastische.
Wäre diese Änderung nicht ganz im Sinne Fl.s, wenn sie nicht
tatsächlich von Fl. selbst ist?
M. konnte mit dem Gesamturteil Fl.s durchaus zufrieden sein.
Ganz einverstanden war Fl. immer noch nicht; er schreibt, ohne
Datum, Corr. IV, 380: J'ai lu immediatement ton volume, que je
connaissais du reste, aux trois quarts. Nous le reverrons ensemble.
Also er will ihn mit M. nochmals durchgehen. Immerhin wertete
er den Band ziemlich hoch, höher als M. selbst, der ihn nie ge-
liebt hat und später bereut hat, ihn veröffentlicht zu haben. Jules
Lemaitre sagte: Vers d'un yrosateur. Versen gegenüber war Fl.,
der die Verse von Bouilhet wunderschön fand, offenbar nicht so
kritisch wie sonst. Sein Wichtigstes bei der Kritik waren Fragen
des Stils, und mit drei Punkten, der deplorable facilite, der 'scie'
der vielen je voudrais und der von Brisson erwähnten Über-
Maupassaut und Flaubert 231
lastung mit überflüssigen und liederlich gewählten Worten trifft er
ins Schwarze. Ich werde noch oft bei der Stilkritik der Werke
M.s darauf zurückkommen müssen.
1880, ein paar Wochen vor 'Des Vers' erschien 'Beule de Suif
in dem Sammelband 'Soirees de Medan'. Er wurde, besonders
durch M.s Novelle, ein großer Erfolg. Fl, hatte von der geplanten
Novelle schon gewußt, wohl nicht von der geplanten Zusammen-
arbeit der sechs 'Medanistes'. So verstehe ich eine Stelle aus Fl.s
Brief vom 2. Januar 1880: Ah! ga, vous allez donc puhlier im
volume! Un volume de vers bien entendu, mais d' apres votre
lettre le conte rouennais e?i fait partie? Et puis vous dites nos
epreuves; qui cela, nous? J'ai grande envie de voir l'elucubra-
Uon anti-patriotique. II faudrait qu'elle füt bien forte pour me
revolter. Fl. denkt zunächst an den Gedichtband, an dem M.
ja schon seit Jahren arbeitete; aber 'conte rouennais' geht wohl
sicher auf Boule de Suif, denn Üucuhration anti-patriotique paßt
doch nur darauf, und 'nous' sind die Medanisten.
Vor dem Erscheinen sah Fl. das Manuskript mid war begeistert;
ohne Datum (wohl Anfang Januar 1880, Corr. IV, 354) schreibt
er den bekannten Brief: Mais il me tarde de vous dire que.je
considere 'Boule de Suif comme un chef d' oeuvre. Oui! jeune
komme! Ni plus, ni m.oins, cela est d'un mattre. C'est bien
wiginal de conception, entieremeyit bien compris et d'un excelletit
style. Le paysage et les persomiages se voient et la jjsychologie
est forte. Bref, je suis ravi, deux ou trois fois j'ai ri tout haut
(sie) ... Ce petit coute restera, soyex-en sür! ... J'ai envie
de te becotter pendant un quart d'heure! Non! vraiement, je suis
content! Je me suis amuse et j'admire. Ferner undatiert (nach
dem 19. Februar 1880, Corr. IV, 37 9 f): J'ai relu Boule de Suif
et je maintiens que c'est un chef d' oeuvre. Täche d'en faire une
douxaine comme ga! et tu seras unhomme! Er empfiehlt in dem
ersten Brief (Corr. IV, 354), zwei Stellen zu streichen: qui ne sont
mauvttises du tout, mais qui peuvent faire crier les imbeciles
parce qu'elles out l'air de dire: 'moi je m'en f...: i° dans
quelles fosses'.^ Zum Verständnis muß ich die Stelle nach ihrem
Wortlaut im Manuskript von 'Boule de Suif ergänzen; also: dans
quelles fosses d'aisances avez-vous plonge, ö fusils ä tabatiere,
es handelt sich um von den Franzosen weggeworfene Flinten. Der
Brief Fl.s lautet weiter: Ce jeune komme jette de la fange ä nos
arynes; et 2° le mot tetons (bei der Beschreibung von Boule de
! Suif). Aj)res quoi le goüt le plus begueule n'aurait rie?i ä vous
i reprocker. Er sagt ferner: Je vous ai mis sur U7i petit 'tnorceau
\ de papier mes remarques de pion. Tenez-en compte, je les crois
* In der Corr. IV, 355 steht ein sinnloses frises statt foases; überhaupt
läßt die Herausgabe der Corr. sehr zu wünschen übrig.
232 Maupassant und Flaubert
bonnes. Natürlich ist der Zettel nicht erhalten, aber im Manuskript
finden sich eine Anzahl Korrekturen, darunter die zwei eben an-
geführten Stellen, die M. in FI.s Sinn geändert hat; ferner haben
im Gedichtband das Gedicht 'Desirs' und das Gedicht 'Sommation'
allein Korrekturen erfahren, bei 'Desirs' nachweislich und bei
'Sommation' wahrscheinlich von FL, und endlich sind die Korrek-
turen in der Tat gut und stimmen durchaus zu FI.s Stilkritik; so
habe ich wohl ein Recht, anzunehmen, daß der Zettel in M.s
Hände gekommen ist, und daß die Korrekturen in das Manuskript
aufgenommen sind. Ob alle Korrekturen von Fl. stammen, läßt
sich natürlich nicht erweisen, aber die, die nicht von Fl. sind, sind
zum mindesten in seinem Sinne.
M. spricht in der Einleitung zu Pierre et Jean S. XXXIII
über FI.s Stillehre: Quelque soit la chose qii'on veut dire, il n'y a
qu'un mot pour l'exprmier, qu'un verbe jJOiir l'animer et qu'un
adjectif pour la qualifier. II faul donc cherclier, jusqu'ä ce
qu'on les ait decouverts, ce mot, ce verbe et cet adjectif, et 7ie
Jamals se contenter de l'ä peu jjres, ne jamais avoir recours ä
des super cheries, meme heureuses. . . .
Von diesem Standpunkt aus verstehen wir den Sinn von FI.s
Korrekturen zu Boule de Suif. Ich greife die wichtigsten heraus:
Ed. Conard S. 3: allure molle für tratnee, eparpülee, das be-
zeichnende Adjektiv statt zweier nichtssagender.
S. 4: division moulue dans une grande bataüle statt hachee,
das originelle Wort statt des trivialen.
S. 6: De par le monsti'ueux 'droit de guerre' . Das überflüssige,
die Wirkung schwächende monstrueux ist gestrichen.
S. 8: Schilderung des besetzten Rouen: Les rues semblaient
Vivantes comme au temps des Franr-ais; rien en apparence
n'etait change que Vuniforme des soldats. Dafür knapp und an-
schaulich: Les Franc;ais ne sortaient guere encore, mais les sol-
dats prussiens grouillaie^it dans les rues.
S. 9: souve7it für chaque jour. Die billige Übertreibung ist
gestrichen.
S. 10: Les vases du fleuve etaient pleinefsj de ces vengearices
obscures. Statt des sehr beliebig gewählten Adjektivs pleines:
e?isevelissaient.
S. 10: Die sentimentale Tirade: C etaient le devouement des
pauvres ä leurs miserables foyers qui travaillaient chaque nuii
dans Vombre, streicht Fl. weg.
S. 16: toute petite, toute mignonne, toute jolie. toute petite
gestrichen.
S. 16: d'un oeil ravi, dafür air.
S. 19: un gros bedon ersetzt durch une gorge enorme, um
nicht faire crier les imbeciles.
Maupassant und Flaubert 233
S. 33: la voix (Iure d'ioi allemand, dure gestrichen, da über-
flüssig und nur den Stil belastend.
S. 37: Sa gi'cinde harhc, qui avait pris elle-meme la nuance
de son breuvage atme, für pr/s elle-meme: ga7~de, knapp und pla-
stisch.
S. 41: Boide de Suif, dont le ve^itre et les teto7is se melaient
soiis un 'peignoir de cachemir, dafür: qui paraissait plus 7'eplete
eneore, abgeschwächt, um die Spießer nicht zu ärgern.
Alle Korrekturen bedeuten eine Präzisiening und ein Erzielen
von deutlicherer, bildhafterer Anschaulichkeit. So ist Beule de Suif
stilistisch wohl das beste Werk von M. Es hatte einen großen
Erfolg beim Publikum, wohl wegen des pikanten Themas, aber
auch infolge der graziösen und diurchaus lustigen, liebenswürdig-
ironischen Darstellung. Fl. erklärte es, wne schon erwähnt, als ein
Meisterwerk; es mußte ihm auch liegen; die Verhöhnung des Bour-
geois war sehr deutlich und ziemlich heftig, dazu konnte es als
Dokument menschhcher Dummheit und Gemeinheit angesprochen
werden, war also ganz imprägniert von Flaubertschen Ideen. Eigen
war der leichte, tändelnde, spöttelnde Ton, über den Fl. nicht ver-
fügte; aber m der Gesinnung, im Tenor war es em Kind von Fl.
Deshalb — - sicher unbewußt — liebte er die Novelle und übersah,
woran wir ims stoßen: das zu derb Aufgetragene und zu sehr Kon-
struierte. Die Vertreter der 'guten Gesellschaft' sind feige und er-
bärmlich, die einzig Anständige in Gesinnung und Handeln ist die
Dirne; also ein sentimentales Requisit der Romantik. Die Dirnen
als Heldinnen sind ja überhaupt sehr beliebt bei M., der für sie
immer \iel übrig hatte (cp. A. Brisson, 1. c. S. 128). Nun das
Konstruierte: der Edelmann, der Fabrikant, der Kaufmann (jetzt
würde man Schieber sagen), der demoki-atische Agitator, die Kirche,
repräsentiert dm'ch die zwei Nonnen; außerhalb der Gesellschaft
die Dirne, die geschwätzige, impulsive und naive 'Stimme des
Volkes', die am Ende die einzig respektable ist.
Der Erfolg von Boule de Suif war eine der letzten Freuden
.Fl.s. Am 5. Mai 1880 ist er gestorben. Aber hört mit seinem
Tode sein Einfluß auf? Ich denke nicht. Mindestens sieben Jahre
des Unten-ichts in Flaubertschen Ideen und Flaubertscher Stil-
theorie können nicht mit einem Schlage vergessen sein. Ich habe
M.s Werke daraufhin durchgelesen; je weiter man sich von Fl.s
Todesjahr entfernt, desto größer werden die Unterschiede, und
andere Einflüsse machen sich bemerkbar. So finde ich Spuren
Flaubertschen Geistes bloß in zwei Büchern, in dem Novellenband
'La Maison Tellier' und dem Roman 'Une Vie', die Novellen aus
I( dem Jahre 1881, der Roman von 1883. Dies Resultat paßt zu
'dem Bilde, das ich von Fl.s Einfluß auf M. gab: mehr eine ober-
: flächhche Tünche, mehr Respekt vor einem anerkannten und ver-
234 Maupassant und Flaubert
ehrten Künstler als ein Verarbeiten und Insichaufnehmen eines
Kunstprinzips. Sobald der persönliche Kontakt fehlt, schwächt sich
der Einfluß; bloß die ersten paar Jahre nach dem Tode des
Meisters wirkte er noch, bloß beim ersten Novellenband und beim
ersten Roman. Auch nicht alle Novellen dieses Bandes zeigen
die Spuren Fl.s, sondern nur zwei: die Titelnovelle und 'Histoire
d'une fille de ferme'.
Mit der Novelle 'La Maison Tellier' blieb M. im alten Fahr-
wasser, er nützte den Erfolg von Boule de Suif aus. Er dachte
vielleicht an den Rat Fl.s nach Boule de Suif, Corr. IV, 380:
Täche d'en faire une douzame comme ga. Im Januar 1881 ist
die NoveUe fast vollendet; Boule de Suif S. CXLVI an die Mutter:
J'ai presque fini ma nouvelle sur les femmes de hordel ä la
premiere communion. Je crois que c'est au moins egal ä Boule
de Suif, si non superiem . Auf seiner Reise in Algier, Sommer
1881, trifft er Lemaitre und erzählt ihm von seiner Novelle, dont la
premiere partie se passait dans un mauvais lieu ei la seconde dans
une eglise. Die Grundidee der Novelle ist stark im Sinne Fl.s. Die
Dirnen, die unter Führung der Bordellmutter an der ersten Kom-
munion im kleinen Dorfe teilnehmen, die durch ihr Beispiel das
ganze Dorf in eine Woge des Glaubens mit hineinreißen, die den
alten Priester zum einzigen Male seines Lebens ein Wunder des
Glaubens erleben lassen, die dann glücklich und zufrieden zu ihrer
alten Tätigkeit zurückkehren, dies Spielen mit den sogenannten
höchsten Dingen (wie in 'Coeur simple' Felicites Papagei zu einer
Art heiliger Geist wird), diese Erkenntnis menschlicher Dummheit
zeigt noch die Tatze des alten Löwen von Croisset. Vermieden
hätte Fl. die bilHgen Outriertheiten, die er ja auch bei Boule
de Suif zu streichen riet: den Vergleich der Laterne am Bordell
mit der Laterne einer Madonnenstatue, la ijetite lanterne de 7nado7ie.^
Als die 'Damen' im Dorfe Spazierengehen, bekreuzigt sich eine
halbblinde Alte comme devant une jjrocessio7i. Auch hier ist der
Witz dürftig und zu billig, das Ausspielen der Gegensätze 'Kirche
und Bordell' ist zu sehr gewollt und konstruiert. Das schlimmste
ist das Kinobild, wie die kleine Konstanze im Bett zusammen mit
Rosa la Rosse schläft. Et jusqu'au jour la commimiante reposa
son fro7it sur le sein nu de la jjrostituee!
Fl. hätte auch den Stil gekämmt, einige überflüssige und lästige
Adjektiva gestrichen oder ersetzt: calme et profond sonimeil, coeur
^ Diese Pointe findet M. so ausgezeichnet, daß er sie zweimal bringt.
Ebenso den Anschlag am Bordell: Ferme pour cause de preyniere communion,
den er auch zweimal wörtlich zitiert. Es ist sonst nicht M.s Art, seine
Witze so breitzutreten; dazu versteht er zuviel von der Technik des Witzes,
daß Wiederholung die Pointe abbricht. Ich erinnere mich auch nicht, in
anderen Novellen dieses Ausquetschen eines Witzes gefunden zu haben.
Maupassant uud Flaubert 235
inqidet et trouhle, emotion vague et penible; er hätte der facilite
der Trivialitäten, wie: De cet oeil qui i'epond 'oui', un 'oui' jüiis
disant et plus delicieux qu'ime parole! Einhalt geboten. Er hätte
also die zu billigen Wirkungen nicht geduldet und M. zum 'Travail
du style' ermahnt. Aber er wäre mit der Novelle zufrieden ge-
wesen; auch sie ist graziös erzählt, der Höhepunkt, die Feier in
der Kirche, ist recht diskret und geschickt herausgearbeitet, das
Tempo der Novelle ist leicht und nicht ermüdend und der Schluß-
wirbel uud die Schlußpointe gut gewählt. Varianten zu Maison
Tellier existieren nicht. Novellen pflegte M. nur zu feilen, wenn
sie früher in einer Zeitung oder Zeitschrift erschienen waren;
Maison Telher kam gleich in Buchform heraus.
Die zweite für mich wichtige Novelle ist: 'Histoire d'une fille
de ferme'. Es ist die Geschichte einer Magd auf einer Ferme,
die einen Geliebten hat, der sie schwanger sitzen läßt; sie heiratet
später den Fermier und, da sie zusammen keine Kinder haben,
nimmt er schließlich ihren unehelichen Jungen an Kindes Statt an.
Der Einfluß von Fl.s Novelle 'Un cceur simple' ist evident. Das-
selbe Problem, die Geschichte eines braven, unselbstischen und un-
selbständigen Dienstmädchens, die gleiche Desillusionierung durch
die liebe, die — gehemmt — in der Liebe zur Arbeit und für
andere einmündet. Was M. Eigenes hinzutat, war — natürlich —
die Unterstreichung des Geschlechtlichen, was Fl. nur eben mit
andeutet, und der verschiedene Ausgang: bei M. ein bourgeoiser
Schluß, Ende gut, alles gut, mit der Schlußpointe aus dem Rühr-
stück.
Manches am Stil hätte FL nicht gefallen: die Leichtigkeit der
Trivialitäten, wie: une douceur qui lui penetrait au coeur; tout
envahi par le desir; folle d' impalience et d'inquietude; u?ie souf-
france iiouvelle, une souffrance de toutes les heures, de toutes
les minutes; eile voulait la paix, le repos complet, dormir sans
fin; etranglee par une angoisse; son pietit d'oü venait tout son
malheur, mais d'oü venait aussi tout son bonheur sur la terre;
die beliebigen und unpräzisen Adjektiva: midi brillant; mollesse
delicieuse; yeux brillants; persistance acharnee; aurore empour-
pree; frafcheur delicieuse; mare profonde; immense douleur; re-
volte desesperee; larmes ruisselantes.
Stilistisch ist diese Novelle vernachlässigter und liederUcher als
'Boule de Suif und 'Maison Tellier'. M. ist schon hier, was Henri
Gheon später von ihm sagt: 'un iinprovisateur plein de mau-
vais goüt et d'ime speciale gräce' . Dabei hat M. diese Novelle
umgearbeitet und korrigiert. Sie war schon vor der Buchform am
26. März 1881 in der 'Revue politique et litteraire' erschienen, und
die damahge Gestalt weicht nicht unwesentlich von der endgültigen
Fassung ab. Am Ende des vierten Kapitels gibt Rose sich dem
Archiv f. n. Sprachen. 140. jß
236 . Maupassant und Flaubert
Pächter hin, während in der definitiven Form sie sich nach
Widerstand nehmen läßt. Auch die Herbeiführung der Lösung ist
eine andere: sie sieht, wie ihr Mann mit dem Cure spricht, sie
besucht den Cure und gesteht dann ihrem Manne alles. Die defi-
nitive Fassung ist die psychologisch bessere; die Passivität des
Mädchens ist stärker betont, sie hat keine Initiative und läßt mehr
alles mit sich geschehen, sie läßt sich ins Glück wie ins Unglück
treiben. Die stilistischen Varianten sind ganz unbedeutend.
Als letztes Werk, worin Fl.s Einfluß stark mitspricht, betrachte
ich 'Une Vie', erschienen als Feuilleton im Gil-Blas vom 27. Fe-
bruar bis 6. April 1883, im selben Jahre noch in Buchform. Die
Komposition ist hier eine andere; das liegt nicht am Charakter des
Romans, denn die behandelten drei Novellen sind ja kleine Romane.
Es hegt offenbar ein neuer Einfluß vor. Unter dem 2. Dezember
1878 schreibt M. an Fl. über 'Nana' (Boule de Suif S. CXnf.):
La dimsion du livre ne me platt ims. Au Heu de conduire son
action directemeiit du commencemerit ä la fin, ü la divise, comme
le Nabab en chapitres qui forment de veritables actes se passant
au mime Heu, ne renfermant qu'un fait et, par conseqiietit, il
evite ainsi touie espeee de transitio7i, ce qui est plus facile. —
Ainsi: i*'" chapitre: Une representation aux Varietes. — 2* cha-
pitre: L' ajypartement de Nana. — 3^ chapitre: Une soiree chex le
comte Nupha [im Buche : Muffat]. — 4^ chapitre : Un soujjer chez
Nana etc. Diese — hier befeindete — Technik der Komposition
wendet M. in seinem Roman an: Kapitel I: Mädchenleben. Ka-
pitel II: Fernes Auftauchen des Zukünftigen. Kapitel III: Ver-
lobung etc. In diese 14 Kapitel sind Einlagen eingestreut, die
zum Teil — wie immer bei M. — aus Chi'oniken aus dem Gil-
Blas und Gaulois übernommen' sind. Die rührende Geschichte der
Tante Lison erschien am 7. Mai 1881 im Gaulois, dann 1900 im
'Pere Milon', dem Nachlaßband, der aus alten Chroniken etc. vom
Verleger fabriziert wurde, als 'Par un soir de printemps'; die Hoch-
zeitsreise als 'Voj-age de noce' im Gaulois 18. August 1882; die
korsischen Vendettageschichten (Une Vie, Ollen dorf f o. J. S. 97ff.)
gehören in Stil und Inhalt zu der Geschichte 'Un bandit corse'
im Pere Milon; die normannische Heirat, Une Vie S. 178 — 182,
ist auf den Ton der kleinen Bauerngeschichten gestimmt, wo die
ganze Komik in der Situation liegt, wie die Bauern sich bei gleich-
gültig welchem Anlaß imerwartet, gerissen oder bodenlos indifferent
zeigen, etwa wie im 'Aveu', 'Lapin', 'Une Vente', 'Tribunaux rusti-
ques' etc. Die Entdeckung des Ehebruchs der Mutter durch die
Briefe, S. 214 ff., cp. 'La Veillee' im Pere Milon; das Drama in
der Hirteuhütte, S. 247 ff., war im Thema schon benutzt im 'Saut
du berger', Gil-Blas vom 9. März 1882 und wieder im Pere Milon;
sogar die unnovellenhafte Beschreibung des Abschiedes Jeannes von
Maupassant und Flaubert 237
ihren Möbeln, an denen ihr halbes Leben hängt, S. 294 f., erscheint
als 'Vieux ob^ets' als Brief zurechtgemacht im Pere Milon.
Also die Komposition zeigt den Einfluß von Zola und M.s
eigenartige Manier der Verwertung eigener früherer Produkte. Der
Einfluß Fl.s tritt dagegen hervor in der leitenden Idee und im
Inhalt. Die leitende Idee ist die der Desillusion; die Heldin wird
vom Leben enttäuscht als Frau, als Tochter und als Mutter. Alles
wird anders und niedriger, als sie in ihren Träumen erhofft hatte;
als letztes bleibt ihi' die kleine Enkeltochter. Wird sie an der
auch wieder eine Enttäuschung erleben?
Man hat auf die Ähnlichkeit mit Fl. schon früher hingewiesen
(Mahn S. 319), aber merkwih'digerweise auf 'Un coeur simple'.
Mahn hat es nicht schwer, das nur sehr summarische der Über-
einstimmungen darzulegen und diese Ansicht abzulehnen. Er über-
sieht, daß eine viel stärkere und wirklich vitale Beeinflussung durch
em anderes AVerk Fl.s vorliegt, durch die 'Education sentimentale'.
Das junge Mädchen ist eigentlich schon imfähig fürs Leben, eben
durch eine education se)itime)itale; und nun erlebt sie eine Ent-
täuschung nach der anderen. Jeanne ist eigentlich nur ein weib-
licher Frederic; und am Schluß des Buches sprechen Frederic und
Charles von einem Schülerstreich: C'est lä ce que nous avons eu
de yneüleur! dit Frederic. Oui, peut-eh'e? C'est lä ce que iioiis
avons eu de meilleurf dit Deslauriers. Ganz ähnhch schließt
'Une Vie' mit der Betrachtung Rosalies: La me, voyex-vous, ga
n'est jamais si bon ni si mauvais qa'on croit. Trotz dieser
Ähnlichkeit der Schlußpointe wieder die diametrale Verschiedenheit
der 'beiden Normannen'. Bei Fl. tiefe tragische Resignation, die
sich einen halb ironischen, halb lachenden Anstrich gibt, weil sie
weinen möchte; bei M. die Resignation des oberflächlichen soge-
nannten gesunden Menschenverstandes.
Die 'Education' war das große Vorbild für 'üne Vie', aber M.
hat die Geschichte hi ein anderes Milieu gehoben, in das ihm ver-
traute der kleinen normannischen Landedelleute, seine eigene Sphäre
der Jugendzeit. Jeanne ist in vielem das Abbild seiner Mutter,
Laure le Poittevin de Maupassant. Der leichtsinnige Ehemann,
das Nebeneinanderleben, die Tragödie in der Hirtenhütte, die in
Wirklichkeit durchaus untragisch verlief, das Verbummeln des
Sohnes (Herve de Maupassant), die Hoffnung auf die Enkelin
(Simonne), alles das hat M. aus dem Eigensten entnommen. Und
dazu wollte er sein Heimatland schildern, seine Normandie; wollte
sagen, daß er sie liebte und was sie ihm gewesen ist. Et il con-
[fesse ä ses amis qu'ü obeit . . . ä une veritable necessite de deli-
miter la plaine natale teile qu'elle charma ses jeunes amiees
(Pol Neveux, Beule de Suif S. XLVI). So ist die Entstehungs-
igeschichte von 'Une Vie' eine dm-chaus komplexe, aus verscliiedenen
16*
238 Maupassant und Flaubert
Einflüssen und Erfahrungen zusammengesetzt. Aber Fl.s Einfluß
erscheint mir unwiderleghch und gerade im AUerwichtigsten nach-
weisbar. Hierzu kommt, was nach meiner Ansicht von Fl.s Ein-
fluß gilt: je weniger Zeit nach Fl.s Tod verstrichen ist, desto
stärker war noch sein Einfluß. M. begann das Werk bereits in
der ersten Hälfte des Jahres 1881 (Mahn S. 320), wenn es auch
erst 1883 veröffentlicht wurde. Der erste Roman floß ihm eben
nicht so leicht aus der Feder. Louis Barthou ist im Besitz eines
unvollendeten Manuskripts von 'Une Vie', das auf dem Deckel von
M.s Hand die Aufschrift vieux manusciipt trägt. Ein weiteres
Fragment besitzt Leon Hennique, über das nichts Näheres bekannt
ist. Die Unterschiede sind nicht unbeträchthch; so hat vor allem
im Manuskript Barthou Jeanne einen Bruder Henri, der sehr stark
an den gleichnamigen Sohn im Roman erinnert und dessen Stelle
einnimmt. Der Stil im Fragment ist im ganzen breiter und un-
präziser, ebenso in den nicht sehr wichtigen Korrekturen des defi-
nitiven Manuskripts für die Romanausgabe. Es ist, als ob FL, der
tote Meister, zum letztenmal dem geliebten Schüler das Werk
durchgesehen hätte; aber nicht mehr scharf und knapp, sondern
farbloser und ohne die alte Energie. Das Bild des alten Ideals
ist eben im Schwinden.
Im Stil dringen die von Fl. gerügten Fehler, die auch mir
durchaus als solche erscheinen, wieder stark vor:
Die 'beliebigen' Adjektiva: joie infinie; oeü morne; ?mif lumi-
neuse; oeü ravi; regards plei7is de passion; affection i?idescrip-
tible; jouissance exquise; teiidresse delwiense; charme tendre;
branches greles; douleur horrible; malheurs indefinis; gorge
profonde; soulagement immense; idees singidieres. Als Klang-
wirkung ist venaient de venir scheußlich. Triviahtäten wie: un
Souffle frais et doux passa, comme un soupir heureux de la terre.
Une affinite l'unissait ä cette poesie vivante. Des regards pas-
sionncs si longs que les mnes semblent se meler. On pleure par-
fois les illusions avec atdant de tristesse que les 7norts.
Die facilite wird zur Geschwätzigkeit; es beginnen die Satz-
ungeheuer, die sich beim späteren M. mehren. S. 170 ein Satz
von 82 Wörtern, S. 294 gleich einer von 85 und einer von 90,
S. 238 sogar einer von 129.
Von dem mehrfach wiederholten je voudrais im Gedicht 'Desirs'
sagte Fl. (S. 229): Ävec une pareille tournwe on peut aller inde-
finiment tant qu'on a de l'encre! Dieselbe tournure taucht wieder
auf: C'est lä que . . ., c'est lä qu'il . . ., c'est aiissi lä qu'elle ...
S. 195; les jours ..., ces jours ..., ces jours ... S. 221; de
V affection . . ., de V affection . . ., de V affection ... S. 258; la
mer . . ., la mer . . ., la mer . . . S. 303. Das schlimmste Beispiel
steht'S. 315, wo sechs Sätze hintereinander mit Elle beginnen.
Maupassant und Flaubert 239
So haben wir M.s Werdegang unter Fl.s Einfluß verfolgt, von
den Scliülerarbeiten, von dem schulmäßigen Durchsehen der Ge-
dichte an zur ersten Novelle, die ihm Erfolg und den vollen Bei-
fall Fl.s brachte, bei der er seine Besseningen als älterer Fach-
genosse und nicht mehr als Lehrer schlechthin gab, und zu den
nach Fl.s Tode erschienenen Frühwerken, wobei wir feststellen
konnten, wie der Einfluß des alten Meisters abebbt. M. ist seinen
eigenen Weg weitergegangen, der ihn jäh zu Ruhm, Geld und un-
erhörter Beliebtheit führte. 1890 waren 373000 Bände Maupassant
verkauft (Lumbroso S. 4.56). Aber er ist von den Wegen der
reinen Kunst abgegangen, der Kunst, die er nie so geliebt hat wie
die wahren Künstler, wie Fl. sie geliebt hat. In Deutschland hat,
soviel ich sehe, kein Literarhistoriker an M.s 'reiner Kunst' ge-
zweifelt; z. B. schreibt Morf, Die romanischen Literaturen S. 390:
'ein Talent, das in Fl.s rein artistischer Tradition bheb'. Die Fran-
zosen sind skeptischer gewesen. Die facüite, vor der schon Fl.
warnte, wirft ihm Henri Gheon vor: la facüite l'a perdiie; Ja fa-
cüite n'est pas le genie. Scharf und unfreundhch zugespitzt, aber
kaum übertrieben sagt Stuart Merrill: 07nj de 31. est un auteur
prise des commis-voyageurs ! Und das zeitgenössische Urteil Ed-
mond de Goncourts, das die Freunde M.s ihm so gewaltig ver-
übelten, trifft nach meiner Ansicht, vollkommen gerecht Lob und
Tadel abwägend, ins Schwarze: AI. est un tres remarqtmble wo-
velUere, un tres charmant conteur de nouvelles, 7nais un styliste,
un grand ecrivain, non, non!
Und ich glaube, Fl. wäre zu demselben Urteil gekommen, wenn
er die Ent^sncklung seines 'che7'i' erlebt hätte. Allem gegenüber^
gerade allem, was er liebte, Mensch oder Kunstwerk, war er stets,
was er im Briefe über M.s Gedicht 'Desirs' gesagt hat, und was
jeder Kunstkritiker (also auch ich) sein will: Severe, mais juste.^
Jena. Heinrich Geizer.
^ Was hier als Artikel erscheint, ist ein Kapitel aus einem Buch über
Maupassant, das noch in diesem Jahre erscheinen wird. Daraus erklären sich
manche Urteile über den späteren M., die ich an dieser Stelle nicht ausführ-
lich begründen kann.
Das Sardische im Romanischen etymolo-
gischen Wörterbuch von Meyer-Lübke.
(Lieferung 9 u. 10.)
8522. taedium: Dazu log. tcyu, cp. tcu 'das Wehklagen um
den Toten bei der Leichenfeier', wie Subak, ZRPh XXXin(1909),
669 erkannte. Zu -dy- s. Lautl. § 174. Zur Bedeutung, an der
M.-L. vielleicht Anstoß nahm, ist zu bemerken, daß taedium schon
iu spätlateinischer Zeit, in der Vulgata und bei den Ivirchenvätern
'Gram, Betrübnis' bedeutete und gi'iech. limi), ä'Ai]dla übersetzte,
s. Ron seh, Itala u. Vulgata S. 325 und Semasiol. Beiträge I, 69.
8534. taikka (got.): sa. takka entlehnt aus it. tacca.
8542. taliare: log. taiare, cp. tcdlai.
8547. tamariciuin: Der alte Name der Tamariske ist im Sard.
tamarike, CSP 192 und als Ortsname ebd. 187, 312, 344, 356;
daraus nlog. tamariye (REW 8548); es ist wenig wahrscheinlich,
daß das daneben vorkommende log. tamarittu auf lat. tamaricium
zui-ückgeht; vielmehr düi'fte es kat. tamarit entsprechen. Cp. tra-
mäxxu ist eine Entstellung, i
8562. tantus: cp. ianda 'Anteil, zugeteiltes Tagewerk' = span.
tanda von gleicher Bedeutung.
8569. *Taraiitum: log. ^ar//7a^M?a 'Holzwurm' ist nur gall.-sass.
und nordlog. und entlehnt (?r!); s. Litbl. 1916, Sp. 380.
8606. taxo: Daß die sard. Wörter für den Marder mit taxo,
wie M.-L. selbst zweifelnd annimmt, etwas zu tun haben, halte ich
für ganz unwahi'scheinhch. Nirgends begegnet eine ^-Form. Das
Tier heißt bitt. grassi}yile, nuor. grassißile, fomi. assißile, in der
Baronia (Orosei, Siniscola): grassUe\ log. meist assile, in Abbasanta,
Ghilarza: kassfle, im Campidano von Milis: kassi (dort schwindet -1-),
gallur. vassili, sass. bassili. Im Campidano ist das Wort nicht
bekannt. Die zentralsard. Formen erklären sich von selbst als 'fett-
haarig, mit glänzendem Haar', eine Benennung, die auf den Marder
sehr gut paßt. Wenn wie gewöhnlich die zentralen Formen als die
ursprünglichen angesehen werden dürfen, so sind die übrigen Entstel-
lungen infolge der satzphonetischen Erscheinungen mit sekundärem
Schwund des -ß-. Solche Entstellungen begegnen immer am häufig-
1 Die öynkopierimg kann nicht mit Salvioni, RIL XLII, 857 als 'laut-
gerecht' angesehen werden und wird auch nicht, wie dieser will, durch log.
iraynatta 'Matratze' gestützt; denn dieses, neben dem nordlog. und sass.-gall.
tramdxxa (s. Spano II, unt. materasso) vorkommt, ist ein Eindringling aus
dem Festlande, vgl. apul. strmna-,xo 'rancio, letto dei marinai' (de Vincen-
tiis), veron. stramaxxo 'coltrice' (Angeli), vegl. stramuäs (Ive, AGI IX, 183);
das log. -tt- ist nichts als Angleichung des -xx- an die log. Lautgewohnheit.
Das Sardische im Rom. etym. Wörterbuch von Meyer-Lübke 241
sten dann, wenn die ursprüngliche Bedeutung des Wortes nicht
mehr erkannt wird.*
8610. tecum: log. cp. Inaüeyiis.
8618. tegula: Lies ZRPh Bh. XII, 46 statt ZRPh XII, 40.
8665. termen: log. trcmene, cp. tremini Grenze.
8671. terraneiis: log. espc terranxa eine Art Erdwespe (vgl.
ariola terrania im CSF 311).
8677. testudo, testugo: nuor. testüyine, log. tostume, fostöine
(Campus, Fon. S. 29), cp. tostohü, iostoiim\ die o-Formen durch
tostu 'hart' beeinflußt.
8705. therion (griech.): Das von Guarnerio angenommene
Etymon für log. tirryöJu, cp. zirryolu ist höchst fragHch; in den
Zentraldialekten sagt man: pipirryolu, pikki7'ryölu; die Wörter
werden meist für die Fledermaus gebraucht, auch für- den Hirsch-
käfer, und hängen mit anderen Tiernamen dunklen Ursprungs zu-
sammen. YermutHch handelt es sich um Wörter der vorrömischen
Sprache (ähnlich wie bei einer Reihe von Pflanzennamen).
8727. tibia: log. t/viu kann nicht bodenständig sein, sondern
ist Uml)ildung aus dem span. medizinischen Ausdruck tibia.
8750: tiugere: Guarnerio meint RILomb. XLIV, 1102 an-
läßlich des vom Anonimo Bonorv. verzeichneten log. tintieddu
'macchia nera che ha il grano annebbiato' (no. 786), intintieddare
'picchiettare di nero' (no. 380) 'non puö pensarsi che a intintu -\-
nieddii "tinto di nero"'. Daß bei den log. Wörtern tintu herein-
spielt, ist möglich; aber die vom An. Bonorv. angegebene Be-
deutung ist jedenfalls nicht die ursprüngliche. Das Wort ist näm-
lich in ganz Sardinien in einer anderen Bedeutung verbreitet, fin-
den vom Herdfeuer aufsteigenden Ruß, der in den kaminlosen
Häusern die Wände bedeckt. Die Formen sind: bitt. pipyeddu,
nuor. pipißeddu, log. (Padria, Bonorva, Olmedo) tintyeddu, cp.
sixxyeddii, sinxyeddu. Die bekannte Trias p — t — z [s) im
An- und Inlaut spricht gegen tintu als ursprünglichen Bestandteil
des Wortes, und von nieddu kann nicht die Rede sein, da das an-
lautende n doch nicht verschwinden könnte. Dagegen ist der Zu-
sammenhang mit nwor. pipöne, log. fittöne, cp. ;;ü^dw2' 'Feuerbrand,
brennende Holzscheite auf dem im Boden eingelassenen Herde' =
titione (mit dem an den Inlaut assimilierten Anlaut^ — t — z) laut-
lich und begrifflich naheliegend; man vergleiche dazu auch span. tixön
Feuerbrand, tixnar rußen, tiuie Ruß, tixna Schwärze, tixnön Rußfleck.
1 Man könnte freilich auch annehmen, die bitt.-nuor. Formen seien volks-
etymologische Deutungen eines nicht verständlichen {k)assile; aber bei dem
konservativen Charakter der Zentraldialckte ist das wenig wahrscheinlich;
auch zeigen die Zwischenstufen, wie in der Baronia und in Fonni, deutlich,
daß von den Zentralformen auszugehen ist. Endlich, wie würde sich {k)assile
aus sich selbst erkläi-en?
242 Das Sardischo im Rom. etym. Wörterbuch von Meycr-Lübke
8755. tirare: Die Angabe: kat. (> campid.) tira 'Leisten' ist
doch wohl ein Irrtum; sowohl span. wie kat. (und das daraus ent-
lehnte camp.) tira bedeuten einzig und allein 'ein schmaler Streifen
Leinwand'. (Die ital. Übersetzung 'lista' bei Spauo, die wohl
Ursache des Irrtums sein dürfte, bedeutet auch nicht 'Leisten',
sondern 'Streifen').
8759. titta: Lies am Schluß von Absatz 2: AStSard. I, 414
statt IX, 414.
8767. tok: log. tokkare, cp. tokkai in der Bedeutung 'an der
Tür klopfen' entspricht span. tocar a la j)uerta.
8781. *tonsare: log. tusörzu auch heute noch 'Zeit und Ort
der Schafschur'; im Campidano: tundiäröxM.
8791. torculare: Lies ZRPh XXXIII, 485 statt 455.
8794. tornare: cp. turra 'Schöpflöffel' kann schwerlich von
dem gleichbedeutenden log. trudda, turiidda getrennt werden ; M.-L.
zweifelt denn auch und erwähnt das Wort auch unter Nr. 8949
triüla; iurra ist aus triüla über turla entstanden, wie aürra^
feürra, meürra aus harula, ferula, merula. Die Übersetzung
'Kochlöffel' (Nr. 8949) erweckt falsche Vorstellungen. Das log.
und cp. Wort bezeichnet einen großen kurzstieligen Holzlöffel, der
zum Herausfischen der Molken, zum Herausschöpfen der Getreide-
körner, Bohnen usw. aus einem Korbe, auch zum Herausschöpfen
des Wassers aus einem Kahn verwendet wird. — Im Camp, be-
deutet turra auch die hohle Hand; Spano übersetzt 'rovescio della
mano, metacarpo'; aber was er unter metacarpo versteht, zeigt
Teil Ü: 'pianta dessa 7nami\ Wäre das Wort ein Verbalsubstantiv,
wie M.-L. meint, so müßte es ^torra lauten; denn das Vb. lautet
nirgends anders als torrai; turrai ist etwas anderes, nämlich 'rösten'
= kat. turrar (neben der Schreibung torrar). Es ist also tur?'a
'hohle Hand' identisch mit turra 'Schöpfkelle', was hinsichtlich der
Bedeutung keiner Erörterung bedarf. — Log. turrosu kann dagegen
wohl Ableitung von to?'rare sein mit dissimiliertem vortonigem o.
8796. tornus: log. törinii ist sichthch Umstellung aus it. tornio\
daneben tornu = it. torno.
8833. tradux: log. traiyääu 'sermento con grappoli' vermerkt
Spano für Ozieri; es ist dasselbe Wort, das sonst triyääu, triyärzu,
triya, triya lautet = tri chila, ^tric'la (Nr. 8894). Da sonst tradux
in Sardinien nicht bezeugt ist und Ozieri kein konservativer Ort ist,
ist eine zufällige Einmischung von tra- wahrscheinlicher.
8839. tragula: log. traiu, cp. trayu bezeichnen zunächst eine
Schleife aus Baumzweigen, auf der Steine und sonstige Lasten be-
fördert werden, dann auch die Dreschwalze, die die Rinder nach-
schleppen; cp. auch trdngidu. Das algher. tragu (so statt tragu
bei M.-L.) ist wie so ziemlich alle auf die Landwirtschaft bezüg-
hchen Wörter im Katalanischen von Alghero ein Sardismus.
Das Sardische im Rom. etym. Wörterbuch von Meyer-Lübke 243
8886. 2. trebba: Lies log. triulas statt triulos. Dies, wie cp.
treulos 'Juli' kann nicht von trebla kommen, sondern ist Ableitung
vom Vb. log. triulare, cp. treulai.
8894. trichila: s. Nr. 8833.
8899. trifoliiim: Die gewöhnliche log. Form ist nuor. trivözu,
log. triöxu, cp. trevidlu, travüllu, triivüllu. Bei den cp. Wörtern
kommt vielleicht die griechische Form triphyllon in Betracht wie
bei span. trebol.
8968. *tufula: cp. tüvulu bezeichnet die Ketteneimer der
Wassermühle, die im Logudoro kadüffu, kadüffulu, kadöfidu heißen;
alle diese Wörter düi'ften gleichbedeutendem kat. catüfol, cadufipl),
alcaduf entsprechen, wobei der Wegfall des anlautenden ca- im
Cp. durch die Bedeutungsähnlichkeit des it. tubo sich erklärt. —
Zu tudda Sproß vgl. jetzt Jud, Ro XLni, 194 und Wagner,
AStSa'XI (1916), 184.
8996. turbiscus: Die sardischen Wörter sind doch wohl ein-
heimisch.
8999. turdus: log. turdu, cp. turdu, truäu.
9018. tutare: bitt. tiitare auslöschen, log. tuäare das Feuer
mit Asche oder Erde zudecken.
9071. ungula: Lies i7igiriünga statt ingirringa.
9079. iirceolus: log. iirtsölu ist ein aus dem Galluresischen
ins Nordlog. gedrungenes Lehnwort (daher das -ts-), das dem eigent-
hchen Sardischen fehlt.
9092. urvum: Ich zweifle an der Herkunft von log. arßäda,
cp. orßääa 'Pflugschar' von urvum, da Bedeutung wie Suffix und
das überall wiederkehrende a- eine andere Basis verlangen. i
9104. uva: log. üa ist vom Norden her eingedrungen und nur
nordlog.; sardisch dafür acina.
9120 a. vaduiii: cp. bau, du (acp. bau, Carte volg. I, 3); log.
baäu (x it. guado).
9120b. Tafer: log. cp. marfmu 'verworfen, schurkisch' kann
nicht aus dem Sizil. stammen, da eine solche Entlehnung vereinzelt
dastände ; es entspricht gleichbedeutendem kat. marfus, span. marfux
(aus dem Spanischen stammt natürlich auch das sizilianische Wort,
ebenso wie nap. marfuso und das veraltete ital. inalfusso).
9147. vapor: cp. pamjoa gegenüber log. sass. va^npa gewiß
wie dieses Entlehnung aus dem Ital.
9173. vectis: fonn. bette, ette Stange, Hebel.
9184. Telum: log. richtiger belu.
9223. verbum: gewöhnlich im Plural: log. sos berßos, cp. is
breßiis Zauberformeln zum Verhexen der Flintenkugeln, zum Ab-
lenken des BHtzes usw.
1 Ich werde auf das Wort demnächst in meinem 'Ländlichen Leben Sar-
diniens' zurückkommen.
244 Das Sardiscbe im Rom. etym. Wörterbuch von Meyer-Lübke
9228. veritas: log. vcridade natürlich aus it. veritä.
9231. vermis: Die gebräuchliche cp. Form ist bremi.
9239. Terres: Ein log. ^vcrra 'Jähzorn', das M.-L. anführt,
gibt es meines AVissens nicht; offenbar hegt eine Verwechslung vor.
9248. yersus: log. bessu, csu bedeutet weder 'Richtung' noch
'Art und Weise', sondern 'modo, vezzo', d. h. 'schlechter Brauch,
Unart', ebenso wie gall. vessu; beide entsprechen it. vezxo.
9253. yerticillus: Die Form vertigeddu stammt nach Spano
aus Orosei, d. h. der Baronia; in Bitti: vertikeddn, nuor. ortigeddu,
cp. ortyeddu.
9291. Tetulus: log. bexxu, cp. beccu aus it. vecchio entlehnt,
vgl. Wagner, Litbl. 1916, Sp. 377 u. 380.**— Dagegen ist log.
{b)eyrn, beyn 'alt' (von Bäumen), 'wurmstichig' (vom Holz) ein direkter
Fortsetzer von Teclus.
9299. yibex: Ein gallur. .^rimici 'Narbe' gibt es nicht. Bei
Spano steht vinici f.; aber auch das ist ein Irrtum; vinici ist der
Plur. des Sing, vinfcca. Es kann also auch das Etymon M-L.s
nicht aufrechterhalten bleiben. Offenbar hängt das Wort mit vino
zusammen, 'Weinmal, rotes Mal',
9306. *Ticen(la: bitt. bisenda kann nur aus dem Norden
stammen, ist also festländisches Lehnwort.
9327. viginti: Lies log. binti statt vinti.
9361. Tirga: log. birga.
9364. Tirgo: nuor. sar birgines 'die Feen, die nach dem Volks-
glauben in den Grotten der Urzeit hausen (= yanas). ■
9369. yirilis: Lies in der Klammer log. sirüe statt serila.
9389. yitex: nuor. viUkinzu, log. biäiyin&u, (b)iäriyin%u be-
deuten 1. Weinranke, 2. wilder Wein (clematis vitalba). Der von
Salvioni, RILomb. XLII, 857 angenommene Zusammenhang mit
yitex, um das ;• in {b)idriyi)iiu zu erklären (wie it. vetrk-e), ist
schon deshalb hinfällig, weil die Bedeutung von yitex eine ganz
andere ist; yitex ist bekanntlich eine Weidenart. Das Wort ist
in Sardinien überhaupt nicht vertreten. Salvioni sagt zwar: C'e
invece idrighinxu 'vitalba, vetrice'; aber letztere Angabe ('vetrice')
muß auf Zerstreutheit beruhen; denn weder bei Spano noch bei
Cara befindet sich eine derartige Definition.
Wir müssen also schon von yitis ausgehen oder von yitic-ida,
vgl. it. viticcio. {b)iäriyiniu und das von Spano auch angegebene
triyinxu veranlassen Salvioni zu einem höchst gezwungenen Laut-
kunststück: La forma trighinxu si riannoderä direttamente all'
*ärighinxu, da cui procede idri-; vale a dire, si tratterä, come in
trementu atrameutii, inchiostro, di una apocope anteriore al ridursi
di -tr in dr.' Für uns erklärt sich die Form einfacher durch
Einmischung des bedeutungsverwandten iriya, triyariu Weinlaube,
Rankenwerk.
Das Sardische im Rom. etj-m. Wörterbuch von Meyer-Liibke 245
9406. yitiiliis: Lies nuor. briku, log. hiYru, hiyu (statt viyii).
9410. Tiyenda: log. bidanda wird von Spano mit 'pastume,
pasta', cp. rianda, fianda mit 'pasta di minestra' übersetzt; ili
beiden Fällen bedeuten die Wörter nicht 'Gebäck' und auch nicht
'Mehlspeisen', wie Meyer-Lüb>ke übersetzt, sondern 'Teigwaren,
Maccheroni' (was man italienisch bekanntUch als pasta, pasta
asciutta bezeichnet), und dasselbe (also auch nicht 'Gebäck') be-
deutet genues. vidanda, vianda ('pasta asciutta', Frisoni), von dem
die sard. Wörter entlehnt sind. Die Maccheroni, die ein Haupt-
nahrungsmittel der Insel sind, werden aus Genua bezogen, und
heute sind die großen Maccheronifabriken {Pastifici) in Cagliari,
die fast ganz Sardinien versehen, in der Hand genuesischer Firmen.
9418. viTula: log. male de sas vhdas (wohl erst aus it. vivola).
9432. volaticus: In Sardinien ist nuor. bolätica, log. bolääiya,
olädiya, boläniiya der Name der vor dem Auge tanzenden Horn-
hautflecken, des Leukoms.
9464. vulpes: Lies log. gurpe statt campid.; das Wort ist auf
einige Gennargentu-Dörfer beschränkt (OUolai, Olzai).
9465. "^TÜsus: cscrn^. malaäm dess' urzii Herzschlächtigkeit der
Pferde (bolsaggine).
9470. vulya: Auch heute noch log. urßa, ulßa, bidßa Gebär-
mutter, an manchen Orten auch Mutterkuchen (Placenta).
9479. wallten: log. abbaidare, sass. abbaiddd 'schauen' können
unmöglich auf das germanische Etymon zurückgehen. Schon die
Beschränkung auf den Norden der Insel legt kontinentalen Ursprung
nahe; die Wörter sind aus ait. guaitare (alomb. aguaitar etc.) ent-
lehnt, wie kors. guäita, Litbl. 1916, Sp. 382. — camp, abbettai
'warten' gehört gewiß nicht hierher, sondern ist = it. aspettare,
wie addibettu = it. a dispetto. In beiden AVörtern trat Assimila-
tion von sp > pp und dann Sonorisierung ein, ein Fall, der bei
Fremdwörtern nicht vereinzelt steht.
9483. waidaujau: Das l von log. balaniare stammt offenbar
von balanxa Wage (vgl. it. bikmcio); auf keinen Fall kann es mit
Salvion i, AStSa V, 213 als hiatustilgend angesehen werden; Sal-
vioni vergißt, daß es sich um ein Lehnwort handelt (vgl. camp.
gu-adangai, gall. gadanä), das also nicht verpflichtet ist, sein -d-
zu verlieren; daher kann auch von einer 'normal rispondenza'
*banxare keine Rede sein.^
^ Auch die übrigen Beispiele Salvionis für ein hiatustilgendes l be-
trachte ich als hinfällig. Neben pilinxones steht bitt. pirinzones, Campus,
Fon. S. 61, §143; auch sonst log. jjeäinxones, cp. jKäingones mit erhaltenem
-d-, d. h. auch hier haben wir es mit Lehnwörtern aus \t. pe(lifjno7ii zu tun,
wie meist bei medizinischen Ausdrücken (ob die -r-Fonuen auf pernio direkt
zurückgehen [Nr. 6420], bezweifle ich jetzt). Daß -r- für -d- stehen kann,
wie im ganzen Süden, gibt auch Salvioni zu. Im übrigen vgl. Wagner,
ZRPh XXXIV (1910), 580—581 u. XXXIX (1919), 730 ff.
246 Das Sardische im Rom. etym. Wörterbuch von Meyer-Lübke
9499. wango: Die sard. Wörter sind hier zu streichen und
stehen schon richtiger unter Nr. 3777 glandula. Log. gdngulas,
gall. gänguli ist ebenso wie ganga als Lehnwort aus it. gängola
aufzufassen. Vgl. Schuchardt, ZRPh Bh. VI, 18 und Jud,
Ro XLIV (1915), 116 — 117. gcilhga und gdngtda ist übrigens
nicht 'Kehle' schlechtweg, sondern entsprechend it. gavigne die Ver-
tiefung an der Kehle zwischen den Mandeldrüsen und dem Kinn,
d. h. die Stelle, an der man jemand bei der Kehle packt, daher
cp. aggangai, log. aggangulittare an der Kehle packen, erdrosseln.
Auch daraus ergibt sich der Zusammenhang mit it. gängola 'Mandel-
drüse' = glandula.
9502. wardan: log. bardare natürUch entlehnt aus it. guardare\
bärdya ■= it. guardia; bärdyas, ärdyas, gudrdyas (Spano, s. v.
crae) auch 'Schlüsselbart' = kat. guardias, guardas, span. guardas
de la llave 'Schlüsselbart'. ^
9627. ziziplius: log. cp. xinzula entlehnt aus it. xdzxola.
S. 764, Anm. 1: gall. auggd: lies 'bedeutet scheuen' statt
scheinen.
Berhn. Max Leopold Wagner.
^ Daß log. ba- keineswegs auf germ. wa- zurückgeht (was ja bei dem
Fehlen eines germanischen Einflusses von vornherein ausgeschlossen ist),
sondern die Entsprechung von it. span. kat. gua- ist, zeigen neben obigen
deutlich Lehnwörter Avie log. harrrUu (cp. orredchi) == it. guarnello ; log. har-
dana = ait. gualdana (s. zu Nr. 6921).
Kleinere Mitteilungen.
über die Echtheit des Seseuheimer Liedes 'Bälde seh ich
Rickgen wiedei*'.
Ed. Schröder wendet sich im Goethe- Jahrbuch 1919, S. 82 ff. gegen
Reuschel (Euphorion 1919, S. 57 — 61); seine Einwände sind durchaus be-
rechtigt. V. 5 — 6 bietet der Erklärung keine Schwierigkeit, weder wenn
man sie wörtlich (vgl. D. j. G. II, 100 'alle Mädgen, die Gnade vor meinen
Augen finden wollen, müssen sie lernen und singen'), noch weniger, wenn
man sie anakreontisch versteht. Der Anakreontiker dichtet seine Lieder für
Freunde und Mädchen, von denen sie gesungen werden, vgl. Gleim, Schriften
1802, I, S. 400 und Minor-Sauer, Studien z. Goethe-Phil. 1880, S. 12. V. 8—10
mag man auch in anakreontischem Sinne deuten, vgl. D. j. G. I, 213, 236; Uz,
Werke D. L. D., Nr. 83—38, S. 297; Götz, Gedichte D. L. D., Nr. 42, S. 16.
Lied Nr, 8 kann also sehr wohl in der Straßburger Zeit entstanden sein ;
die von Reuschel richtig bemerkten Anklänge von V. 13— 16 an Gleims
Gedicht 'Der reiche Mann' (Euphorion 1918, S. 60) bieten noch keinen Anlaß
zur Verlegung in Goethes Leipziger Zeit. Ich glaube vielmehr, diese Über-
einstimmung läßt sich auch anders erklären.
Betrachten wir einmal Lied Nr. 8 zusammen mit Nr. 5 'Wo bist du itzt,
mein unvergeßlich Mädchen?' und zwar ohne Beziehung zu einem be-
stimmten Verfasser.
Die Gedichte scheinen in der Situation verwandt. Nr. 5: Die Geliebte
ist verreist; der Dichter ist allein zurückgeblieben; Sehnsucht nach der Ge-
liebten und Bitte um baldige Rückkehr, Nr. 8: In Erwartung der Rückkehr;
Freude über baldiges Wiedersehen,
Inhaltliche Übereinstimmung der beiden Lieder:
Nr. 5, 2 Wo singst du itzt? — Nr. 8, 6 Wenn sie meine Lieder sang.
Zu Nr. 5, 3 'wo triumphiert das Städtchen' bemerkt Bielschowsky
(Friederike und Lili 1906, S. 71) : 'diese Wendung hat etwas von dem ge-
zierten und gepuderten Stil der Anakreontik an sich, die wir nicht einmal
in Goethes Leipziger Liedern voll ausgeprägt finden', vgl. jedoch D. ]. G. I,
271 'Und triumphiert wohl gar'.
Andere anakreontische Formen: Nr. 8, 9 ängsten — Nr. 5, 14 bang;
vgl. 'Die Laune des Verliebten', D, j. G. I, 275 u. 277; Gleim, Schriften
1802, II, 213,
Nr. 5, 7 zärtlich, 12 Nachtigall ; Nr. 8, 3 munter, tanzen, 11 Gram, 14 'Freude,
süß und rein',
Anakreontische Motive finden wir Nr, 5, 5 — 8 Verknüpfung von Gefühl
und Landschaft;! Nr. 8, 15—16 'Nicht für aller Klöster Wein'.
In beiden Gedichten treffen wir Verwendung der Alliteration, darunter
die von den Anakreontikern bevorzugten w- und 1- Alliterationen : Nr. 5, 15
Winter werden — Nr. 8, 8 liebe Liebe.
Die beiden Lieder scheinen weiter durch Gleims Lyrik gleicherweise
beeinflußt zu sein, besonders durch das Gedicht 'Bitte um eine Stunde'
(1749); vgl, auch E, v. Kleist, 'Amynt', 1751 an Gleim gesandt, und das
'Lied eines Lappländers' (1757).
1 Ein von der Anakreontik übernommenes schäferliches Motiv.
Nr.
5,
2 Wo singst du itzt?
Nr.
8,
6 Wenn sie meine Lieder
sang.
Nr.
8,
5 hats mir geklungen;
Nr.
8,
5 Ach wie, ... wenn sie;
Nr.
8,
3 tanzen meine Lieder;
Nr.
5,
13 0 komm zurücki
Komm' bald zurücki
Nr.
8,
13 ich habe
Nr
8
15 — 16 Ja, ich gäbe diese Gabe
Nicht für aller Kloster
Wein.
248 Kleinere Mitteilungen
Gleim, Bitte um eine Stunde Sesenheimer Lied.
V. 1—2 Wo ist sie itzt, ihr Echo Nr. 5, 1 Wo bist du itzt, mein un-
tut es kund! vergeßlich Mädchen?
Wo ist sie itzt ...?
V. 5 ... wo schallet dein Gesang.
V. 6 Wer höret dich jetzt meine
Lieder singen?
V. 7 ... be}' deiner Saiten Klang;
V. 13 0 wie . . ., wenn ich sie;
V. 14 tanzeten die Stunden;
V. 21 Komm, komm zurücki
Gleim, 'Der reiche Mann' (1767).
ich habe
V. 2 das göttliche Geschenk, die Gabe
V. 5 Und täglich eine Flasche Wein
Anklänge an Gleims Lyrik zeigt vielleicht noch : Nr. 5, 7 '. . . Dir nachzuweinen
mit deinem Freund'; vgl. Gleim, Romanzen, Schiiften I, 223: Sie weint ...
um ihren Freund. Nr. 5, 13 Hirt und Herden, Gleim II, 38 Hirt und Herde.
Diese Übereinstimmungen lassen vermuten, daß beide Gedichte möglicher-
weise von einem Verfasser stammen.
Da aber Nr. 5 Lenz unzweifelhaft zugehört, müßte auch Nr. 8 von Lenz
herrühren.
Betrachten wir jetzt Lied Nr. 8 in Beziehung zu Lenz.
Die häufige Anwendung der Alliteration scheint auf Lenz zu deuten,
vgl. Lenz, Gesammelte Sshriften, herausg. von F. Blei, I, S. 48 'sie stürzten
die Stiegen stumm hinunter'; I, 192 tanzend mit träumendem Blick; I, 212,
213, 217 'Heilig ist es von Gott — Was mii- im Herzen glüht' ; I, 220 heilige,
himmlische Flamme; 1,211
'Ich wuchs empor, wie Weidenbäume
Ihr niedrig Haupt in lichte Wolken heben';
vgl. dazu V. 3 — 4 Munter — meine — Melodie.
Ferner Blei IV, 167 hoch, hehr und heilig.
Desgleichen finden wir bei ihm häiifig rhetorische Wiederholungen;
vgl. Blei I, S. 105, 111, 131 f., 135, 143, 170, 179.
Zu V. 4 'süß'te Melodie' sei bemerkt: das damals sehr beliebte Wort 'süß'
kommt bei Lenz bedeutend häufiger vor als beim jungen Goethe; vgl. auch
D. j. G. I, 277 'Hörst du dort die Schalmeien? Die schöne Melodie.'
Zu V. 8 lange lang vgl. Lenz, Briefe 1918, I, 142 'Lange, lange habe ich
die Züge dieser Mutterhand mit stummer Inbrunst an meine Lippen gehalten'.
Zu V. 8 liebe Liebe vgl. 'Yarrows Ufer', Blei I, 147 'Bleich, bleich in
Wahrheit, liebe Liebe dul' und Blei I, 134 'Grausame Liebel ihr reißt
mich hinunter. Reißt denn, Geliebtel' Als Beispiele für Lenzens Vorliebe
für die 1-Alliteration diene Blei I, 213 'Winde der lauen Luft. Lerne von
ihnen . . .' und Blei I, 143 'Und deckte
Mit Lilien den Rubinenmund,
Mit Lilien sie um und um
Und klagte so sein Leiden stumm.'
Kleinere Mitteilungen 249
Zu V. 15 'gäbe diese Gabe' vgl. Blei I, 9 ängsteude Todesangst, I, 17
täuschender Traum.
Zu V. 7 — 8 vgl. Blei I, 108 'Da alles singet In unsern Tagen, schwieg
ich lang.
Zu V. 9 'tiefe Schmerzen' vgl. Blei I, 118, 125 u. 186 'Wenn die Seele
ihrer Leiden Höh' und Tief nicht mehr verstand'; vgl. auch Bielschowsky,
S. 82.
Zu V. 9 'ängsten' vgl. Briefe I, 24 'In Sesenheim bin ich gewesen. Ist
es Trägheit oder Gewissensangst, die mir die Hand zu Blei macht, wenn
ich Ihnen die kleinen Szenen abschildern will, in denen ich und eine andere
Person die einzigen Akteurs sind'. An Salzmann 28. Juni 1772, dem Tage
der Rückkehr Friederikens.
V. 11 — 12 leuchtet ein traditionelles lyrisches Motiv hindurch: das Ver-
gegenständlichen des Liedes und das hätschelnde, kokettierende Tändeln des
Dichters mit diesem seinem Kinde, desgl. Blei I, 108
'Was hält mich ab, mein Liedel dir zu zeigen?
Ach du verstehst es nicht — doch zeig' ich's hier
Den Bäumen — — '
Zu V. 14 vgl. Blei I, 219 . . . verspricht dir reine, Tausend reine Lebens-
freuden, und Blei I, 214, 218; desgl. Uz, Werke D. L. D., S. 239.
Zu V. 1 — 2: 'wiedersehn' und 'umarmen' scheinen bei Lenz in assozia-
tiver Beziehung zu stehen, vgl. Briefe 11, 147 *. . . bis ich die Meinigen
wiedergesehen, von denen ich dennoch einige bis jetzt noch nicht um-
armt habe'. ^
Ferner scheinen bei Cenz durch Assoziation verbunden: Liebe, Freude,
Wein; vgl. 'An die Sonne', Blei I, 164
'Seele der Welt, unermüdete Sonne I
Mutter der Liebe, der Freude, des Weinsl'
Daher vielleicht die Folge in unserm Gedicht: V. 8 Liebe, V. 14 Freude,
V. 16 Wein.
Man könnte einwenden, zwischen V. 8 'Liebe' und V. 14 'Freude' liegt
eine ganze Strophe. Doch wäre darauf zu erwidern, der Rhythmus der
Worte in V. 9 — 21 eilt ohne Pause vorüber, dadurch wird V. 9 — 11 als
einheitliche gedankliche Impression empfunden, und diese Impression wieder
ist im Fluß der Bewußtseinsinhalte, welche das Gedicht darstellt, als Ein-
schub, ja als ungebetener Eindringling zu betrachten.
Mit dem 'Doch' in V. 13 wird er wieder verdrängt und mit 'jetzt sing'
ich' auf das 'lange nicht gesungen' inV. 7 zurückgegriffen; dadurch
wird in dem Ruhepunkte hinter 'ich' in V. 13 das durch V. 8 mit 'lange' in
Verknüpfung stehende Wort 'Liebe' wieder ins Bewußtsein gehoben — 'und
ich habe' — geht das Lied weiter — 'volle Freude'.
V. 15—16 zeigt Anklänge an Gleims Gedicht 'Der reiche Mann'. Nun
wissen wir aber, daß Lenz 1772 in seinem Dichten durch Gleims Lyrik be-
einflußt wurde. September 1772 schickt er an Salzmann die Romanze 'Pira-
mus und Thisbe', eine Nachahmung der parodistischen Romanzen Gleims.
Lied Nr. 5 zeigt, wie wir sahen, Anklänge an Gleim, ferner scheint an Gleim
zu erinnern die Stelle: 'als Wein und Liebe mich wider Willen zum Ver-
brecher machten' (Die Aussteuer 1772), Blei II, 77; vgl. Gleim II, 103
'Der Friedensstifter': 'Wein und Liebe Bändigt Helden, Wein und Liebe
macht Verträge' (Anakreon 38).
250 Kleinere Mitteilungen
Diese Erwägungen machen es möglich, daß Lenz V. 15 — 16 geschrieben
haben kann. Dadurch wird Lenz noch nicht zum Nachahmer der Anakreon-
tiker. Er selbst würde einer solchen Beurteilung heftig widersprechen : 'Aber
Liebesgötter, Grazien! Allenfalls ein Wisch, Name und schielende Anspie-
lungen, der Füttern der Gelehrten. Und mag es eine Hure sein, man sieht
so genau nicht drauf, flittert sie doch, daß es eine Lust ist.' Blei IV, 211.
Seine Lyrik ist nie 'Name, Flitter und schielende Anspielung', sondern immer
Ausdruck des Selbsterlebten — wie auch unser Lied — , wenn er auch da-
für noch nicht immer eigene Formen gefunden hat, sondern sich öfter noch
der anakreontischen Ausdrucksformen und anakreontischer Motive bedient
(z. B. das Motiv des 'Liebhabers in allen Gestalten', 22. Lied Anakreons, ver-
wendet er in 'Heilige Quelle', Blei I, 142, und '0 war' ich leicht wie Zephir,
wie eine Sylphe', Blei I, 143).
Betrachten wir jetzt die beiden Lieder Nr. 5 und Nr. 8 als einheitliches
Ganzes, so werden wir finden, daß wir- mit drei Wendungen eine Brücke zu
den gleichzeitig (1772) entstandenen Werken Lenzens schlagen können.
Nr. 5, 6 'Und es vereint
Der Himmel sich, dir nachzuweinen . . .'
entspricht: Piramus und Thisbe (1772) 'Der Himmel selbst fing an zu
weinen', Blei I, 73.
Nr. 5, 3 'wo triumphiert das Städtchen' vgl. Amor vincit omnia (1771/72)
'Götterbild! hier triumphierest du . . .'
Nr. 8, 3 tanzen meine Lieder vgl. Amor vincit omnia, 'Ein Liedchen
mit dem End' Eurer Zunge tanzen, Blei 1, 278.
Berücksichtigt man folgende Beobachtung, so scheint das gleichzeitige
Vorkommen dieser anakreontischen Wendungen nicht zufällig zu sein.
Bei Lenz treffen wir nämlich in Arbeiten und Briefen, die in dem gleichen
Zeitraum entstanden sind, häufig dieselben Wendungen und Ausdrücke, so
daß man umgekehrt aus dieser sprachlichen Übereinstimmung auf gleich-
zeitige Entstehung schließen kann.
Durch diese Darlegungen glaube ich so viel ei-wiesen zu haben, daß man
die Möglichkeit der Autorschaft Lenzens nicht wird von der Hand weisen
können. Im Sprachgut wird man spezifisch Lenzisches zwar nicht auffinden
können, ebensowenig wie man im Lied Nr. 1 spezifisch Goethesches (vgl. Goethe-
Jahrb. 1919, S. 97; 'fühlbar' gebraucht auch Lenz, Blei I 97, desgl. 'fühllos'
Blei I 99) wird feststellen können; aber Lied Nr. 5 und Nr, 8 scheinen doch
so viel Beziehungen miteinander zu haben, daß die Möglichkeit besteht, daß
sie von einem Verfasser stammen.
Enthalten nun auch die Worte unseres Liedes nichts spezifisch Lenzisches,
so glaube ich doch aus der Empfindungsweise, die hinter den Worten liegt,
etwas Lenz Eigentümliches herausdeuten und so von der Annahme der
Möglichkeit zu der Annahme der Wahrscheinlichkeit der Verfasserschaft
Lenzens fortschreiten zu können.
Die Verse 5—6 enthalten anscheinend ein anakreontisches Motiv, aber da
das ganze Lied als Ausdruck des Erlebten anzusehen ist, wird man diese
Verse allein nicht anakreontisch deuten können, sondern annehmen müssen,
daß sie auf wirklich Erlebtes und Empfundenes zurückgehen. Und da
scheint mir Lenzens Liebesgefühl hindurchzuleuchten, jene Art des Liebes-
gefühls, die — der affektierten Erotik der Schäferpoesie zwar nicht allzufem
stehend, aber mehr ans Pathologische streifend — man mit Hörigkeit der
Kleinere Mitteilungen 25l
Liebe bezeichnen mag, und für die in Klang und Ton der Stimme ein be-
sonders wirksamer erotischer Reiz liegt. In 'Lilis Park' finden wir diese Erotik
dargestellt: 'Ich höre die liebe, liebe Stimme wieder ..., Ach, singt sie
wohl, daß ich sie hören soll?' vgl. meine Ausführungen im 'Archiv für
neuere Sprachen' 1920, S. 155. Es sei noch hinzugefügt: Lenz, Gesammelte
Schriften, herausg. von Lewy, IV, S. 131: 'Wollen Sie nicht mit uns tanzen?
fragte sie mit einer Silberstimme, die alle Saiten des aufmerksamen Pondolfo
entzückend durchklang. Dieses Einladende, dieses Bewegliche, dieses An-
schmiegende, Furchtsame und doch Liebeskühne im Ton und der Kadenzie-
ning der Silben füllte seine ganze Seele mit einer gewissen Lieblichkeit, Be-
gierlichkeit, Zudringlichkeit und Beweglichkeit usw.'
So bleibt als Resultat der Untersuchung:
Es besteht die Möglichkeit der Verfasserschaft Lenzens, zwei Punkte
scheinen jedoch für deren Wahrscheinlichkeit zu sprechen: die inhalt-
liche und formale Übereinstimmung der Lieder Nr. 8 und Nr. 5, und
das Durchklingen der Empfindungsweise Lenzens in Nr. 8.
Königsberg i. Pr. Rudolf Ball of.
Neue kritische Bemerkungen zu Uhlands Briefwechsel und
Tagehuch.
(Vgl. Archiv 1919, Bd. 138, S. 221 ff.)
1. Zu Bw. I S. 33, Anm. 2. Am 12. Mai 1807 schreibt Kölle an Uhland :
'Fr. Schlegel muß Cotta Geld schuldig sein, sonst würde er nichts ins Morgen-
blatt gestiftet haben, das bei vielen anderen Vorzügen unbeschreiblich un-
poetisch ist. Eben dieses verhinderte mich auch, die Satire: Der Kiffhäuser
Berg zu vollenden.'
2. Zu Bw. I S. 152, Anm. 1. Zu Chamissos Mitteilungen , nach denen
Koreff schon im Herbst 1806 in Paris eingetroffen sein muß (Archiv 1919,
Bd. 138, S. 222), stimmt Koreff s eigene Angabe in seinem für den Kanzler
von Hardenberg bestimmten Lebensabriß [im Geheimen Staatsarchiv in Berlin,
Hardenbergscher Nachlaß, K. 50], daß er nach dem 'Unglück der französischen
Unterjochung' sehr bald 'Ruhm und Vertrauen in der großen Stadt' genoß
und einer ihrer gesuchtesten Arzte wurde. Er will bis zu 30000 Frank
jährlich verdient haben. Er verläßt 1811 Paris, ist 1815 vorübergehend in
den Pariser Lazaretten tätig und kehrt erst Anfang der zwanziger Jahre zu
dauerndem Aufenthalt nach Paris zurück. Literatur über ihn:
Biogr. Porträts, aus Vamhagens Nachlaß, Hamburg 1871, S. 1 ff.
Voss. Ztg. 18.— 25. Nov. 1906.
Münchener Allg. Ztg. 8.— 10. Jan. 1907.
Lenz : Geschichte der Universität Berlin I 552 ff.
3. Zu Bw. I S. 291, No. 334. Der im Tgb. 9. März 1812 erwähnte Brief
ist der unter No. 330 abgedruckte. Es heißt dort: 'Ich lege meine letzten
Auszüge bei (nämlich aus den fils d'Aimon); hast Du die früheren (vgl. Tgb.
23. n. 1811 und Bw. 1. XII. 1811) aus bloßer Höflichkeit willkommen ge-
heißen, so trifft Dich billige Strafe.'
4. Zu Bw. I S. 302, Anm. 1. Bekker ließ bereits 1816—18 in Beriin
einen 8 bändigen griechischen und lateinischen Plato erscheinen. F.A.Wolf
veröffentlichte 1811 eine Erklärung zum Phädon, 1812—20 drei Dialoge mit
klassischer lateinischer Übersetzung.
Archiv f. n. Sprachen. 140. I'J
252 Kleinere Mitteilungen
5. Zu Tgb: 20. März 1810. Uhland notiert: 'Absendung der Papiere
Varnhagens nach Berlin.' Über diese Papiere gibt das Original des Briefes
Varnhagens an Rahel vom 27. 6. 1810 Aufschluß. Es heißt dort: 'Sind die
Urquijo'schen Briefe angekommen? Uhländ sagt mir, er habe sie von Tü-
bingen vor seiner Abreise abgesandt.' [Diese Sätze sind übrigens nicht in
dem aus Varnhagens Nachlaß 1874 herausgegebenen Briefwechsel zwischen
V. und Rahel abgedruckt. Der Originalbrief in der V.-Sammlung der Staats-
bibliothek zu Berlin, Mappe Varnhagen.] Es handelt sich hier offenbar um
die Briefe des Don Raphael d'Urquijo an Rahel. Zwischen Urquijo, der seit
1802 spanischer Gesandtschaftssekretär in Berlin war, und Rahel bestand
IV2 Jahre lang eine leidenschaftliche Neigung; infolge tyrannischer Eifersucht
Urquijoä erfolgte 1804 der Bruch. V. sagt in seinen ungedruckten Notizen:
'Rahel hat diesen nie verwunden. Diese Leidenschaft, ihre Wendung, Ur-
quijo selbst, bleiben ihr ein stetes Problem; ihr Gemüth ist immerdar davon
erfüllt.' Urquijos Briefe sind abgedruckt in Ludmilla Assings Buch: Aus
Raheis Herzensleben.
6. Zu Tgb. 30. Jrnii 1810. Uhland notiert: 'Wiedersehen Varnhagens
auf der Galerie.' [D. h. im südlichen Verbindungsbau zwischen dem alten
Louvre und den Tuilerien; hier waren die Kunstschätze untergebracht.] Hat
sich Uhland im Datum geirrt? Nach Varnhagens unter 5 mitgeteilter Frage
im Briefe vom 27. Juni könnte es scheinen, daß Uhland spätestens am
27. Juni mit Varnhagen gesprochen habe. Dieser scheinbare Widerspruch wird
durch die Tatsache aufgeklärt, daß Varnhagen den am 27. Juni geschriebenen
Brief erbricht, um in einer kurzen Nachschrift über den grauenvollen Brand
beim Feste des Fürsten Schwarzenberg zu berichten. [V.s ausführlicher Be-
richt in seinen Denkwürdigkeiten Bd. 2.] Bei dieser Gelegenheit wird er
dann auch die obigen Sätze nachgetragen haben. Hierfür spricht auch die
Tatsache, daß diese Sätze am Rande quer geschrieben sind.
Warnemünde. Wilhelm Mo es tue.
Der erste Psalm in niederländischer Dichtung vom Jahre 1740.
Durch einen Glückszufall bin ich in den Besitz eines zwei Teile um-
fassenden, in schwarzbraunen Sammet gebundenen Bandes gekommen, dessen
erster Teil folgenden Titel hat. Oben liest man in einer aufgeschlagenen
Bibel auf der linken Seite: Het Woort des Heeren blyft in der eeuwigheyt.
Auf der rechten: Ende dit is het woort dat onder u verkondigt is 1 Petr.
1 vers 23. Darunter von zwei Säulen eingefaßt: Het Nieuwe Testament
ofte alle Boecken des Nieuwen Verbondts onses Heeren lesu Christi door
last van de Hoogh. Mog. Heeren Staten Generael der vereenigte Neder-
landen en volgens 't Besluyt vande Sinode Nationael gehouden tot Dordrecht
in de jaaren 1613 ende 1619. üit de Oorspronckelycke in onse Neder-
landtsche Taal getrouwelyck overgeset. Tot Dordrecht By Jacob en Hendrik
Keur. Der zweite Teil trägt den Titel De GL Psalmen des Propheten
Davids Met eenige andere Lofsangen: Uj't den Francoyschen in Nederlant-
schen dichte overgeset door Petrum Dathenum; ... Mitsgaders De
Christelicke Cätechismo, Formulieren en Gebeden de Gereformeerde Kercken.
Te Dordrecht, By Jacob en Hendrik Keur. A». 1740. — Von der 'Acte van
Authorisatie' (Rückseite des Titels) (26. November 1737) und dem auf den beiden
folgenden Seiten befindlichen 'Inhoudt des Nieuwen Testaments' abgesehen, die
Kleinere Mitteilungen 253
sich der Antiqua bedienen, ist alles übrige in Fraktur gedruckt, mit Aus-
nahme der Überschriften der einzelnen Bücher, z. B. Het Heyligh Euangelium,
Na [de beschrijvinge] Matthei; Und der hier und da der Verdeutlichung halber
zugefügten Worte, z. B. Matth. 2, 16: 'Als Herodes sagh dat hij van de Wijse
bedrogen was, doe wiert hij seer toornigh, ende [eenige] afgesonden heb-
bende, heeft omgebracht alle de kinderen die binnen Bethlehem, ende in alle
des selfs lautpalen [waren] van twee jaren [oudt] ende daer ander, na den
tijt dien hij van de Wijse neerstelick ondersocht hadde' — 'neerstelick'
gründlich; 'neerstelick ondersocht hadde', griech. ^xoißojoe — man vergleiche
die deutsche Bibelübersetzung. — Da ich in mein Lehrb. d. niederl. Spr. den
ersten Psalm aus 'Het boek der Psalmen, nevens de gezangen, bij de her-
vormde kerk van Nederland in gebruik' aufgenommen hatte, war ich natür-
lich gespannt darauf, zu sehen, welche Form im Jahre 1740 dafür beliebt
worden war, und ich darf annehmen, daß die Vergleichung beider, die in
vielfacher Beziehung allerlei Beobachtungen machen läßt, willkommen sein
wird. Ich lasse deshalb den 'Den eersten Psalm' in Abschrift folgen:
1. Die niet en gaet in der godtloosen raet,
Die op den wegh der sondaers niet en staet,
En niet en sit by den spotters onreyne;
Maer dagh en nacht heeft in Godts wet alleyne
AI sijnen lust, ja spreeckt daer van eenpaer,
Die mensch is welgelucksaligh voorwaer.
2. Hy sal gelijck zijn eenen schoonen boom,
Geplant by eenen klaren waterstroom,
Die sijn vruchten geeft in bequame tijden.
Van welcke geen droogs bladt valt bezijden:
Soo sal die mensche saligh zijn bekent,
Met al sijn doen, tot welcken hy hem wendt.
3. Maer soo en is 't met den godtloosen niet.
Die als kaf verstroyt werden daer men 't siet,
't Welck van den wint hier en daer wert gedreven:
Soo sullen sy in Godts gerichte beven,
En niet bestaen, maer haest vergaen beschaemt,
Met den vromen werden sy niet genaemt.
4. Godt kent den wegh, en der vromen gemoet,
Hij draeght sorge voor hen en voor haer goet;
Dies sulien sy welgelucksalig wesen:
Maer nademael dat onse Godt gepresen,
Op der godtloosen wegen niet en acht,
Sy en haer doen werden tot niet gebracht.
Am Rande finden sich die sechs Verse der Prosaübersetzung, wovon
ich den dritten Vers anführe: Want hy sal zijn als een boom, geplant aen
waterbeecken, die sijne vrucht geeft in sijnen tijt, ende welckes bladt niet
af en valt: ende al wat hy doet, sal wel gelucken.
Ich lenke die Aufmerksamkeit auch auf die alte, von der heutigen ab-
weichende Schreibung, vor allem auf die damals noch zulässige Freiheit des
Versbaus, wo Hebung und Senkung die Stelle vertauschen können und niir
die Silben gezählt werden. Der Inhalt wirkt in der ihm gegebenen Form
kräftig und eindrucksvoll.
Dortmund. C. Th. Lion.
17*
254 Kleinere Mitteilungen '
Tom Pradler Bauerntheater.i
Wieder ist ein gutes, echtes Stück Alt-Innsbruck ganz leise und spurlos
verschwunden, etwas Ureigenes unserer Stadt, das weit über die Grenzen
des Landes bekannt und beliebt war, das Pradler Bauerntheater. Die Sonne
des Glückes und Erfolges lachte stets über dem luftigen Musentempel, wenn
der Spielleiter der alten Überlieferung, der Wiedergabe des romantischen
Ritterschauspiels, getreu blieb. Bombenvoll erzitterte der hölzerne Stadel
von dem Beifallssturm seines dankbaren Besuches; aber wehe, wenn der
Burgvogt die zurückgelassene Gräfin zu arg bedrängte, dann nahmen die
Zuschauer in kernigen Worten Partei für die verfolgte Unschuld und schleu-
derten saftige Reden gegen den stets rothaarigen Bösewicht, während so
manchem Weiblein eine Zähre tiefempfundenen Mitleids über die Wange
rann. Alles aber vereinigte sich wieder im lautesten Jubel, wenn der lustige
Knappe mit seinen Witzen, Gstanzeln und Gsangeln aus dem Stegreif eiiv-
setzte und seine Zuschauer die Schlechtigkeit der Welt vergessen ließ. Ja,
das war das ganze Geheimnis des Pradler Theaters: die Stücke, einer alten
Überlieferung folgend, waren für das urwüchsige, natürlich empfindende,
unverbildete Volk geschrieben und von Mutter Natur mit Witz und Humor
begabte, unverkünstelte Schauspieler, die das alte Ritter- und Schauerstück
voll erfaßten und in der richtigen Weise wiedergaben, verstanden es, das
Herz des Volkes zu packen.
Wenn ein lieber, verdienter Freund von hinnen geht, dann gebührt ihm
ein wohlwollender Nachruf; und wenn er, wie es sich ja für das Pradler
Theater geziemt, einem tragischen Tode erliegt, dessen letzten Akt zu be-
sprechen allerdings noch nicht an der Zeit ist, dann erst recht. So sei denn
im folgenden eine kurze Geschichte unseres nun zerstörten Musentempels
seinen Freunden übergeben.
Am 7. Oktober 1866, wenn ich recht berichtet bin, schloß das Theater
in der Höttingerau mit dem romantischen Ritterschauspiel 'Maria, Gräfin von
Halwig oder die Georgsburg' seine Pforten. Bald darauf wurde der Stadel,
in dem die Bühne aufgeschlagen war — den offenen Zuschauerraum schützte
bei schlechtem Wetter eine Flache — niedergerissen. Es war damals das
letzte der Innsbrucker Bauerntheater, die Volksbühnen in Ambras, Pradl,
Mühlau, Büchsenhausen, beim Stamser waren bereits früher von den Musen
verlassen worden. So hatte das romantische Rittersehauspiel seine letzte
Heimstätte in Innsbruck verloren und harrte in den Jahren 1867 und 1868
der Erlösung. Schauspieler, Bühneneinrichtung, Garderobe und vor allem
die allgemeine Sehnsucht nach der großen Gaudi waren vorhanden, und so
bedurfte es nur eines rührigen Mannes, um das alte Bauemtheater wieder
zum Leben zu erwecken. Das war Sebastian Meister, der alte Tiroler Volks-
sänger, der sich nach weiten Reisen in Innsbruck zur Ruhe gesetzt hatte.
Im Jahre 1868 schritt er an den Bau des neuen, nun verschwundenen
Theaters im Lodronischen Hof, den er im gleichen Jahre erwarb, nachdem
er vorher das Grubersche Wirtshaus am Innrain geführt hatte. Mit Fisch-
händler Riegl kaufte er vom alten Theater in der Höttingerau die Kulissen
und mit den von der alten Bühne übernommenen Schauspielern, dem
Schneidermeister Ferdinand Rauter, Schuster Josef Brock, dem früheren
Theaterdirekter, Tischlermeister Pfötscher, dem heute noch lebenden un-
Aus dem 'Alpenland', 4. Juni 1920.
Kleinere Mitteilungen 255
übertroffenen Komiker Alois Lener u. a. eröffnete Meister am 3. Mai 1869
das Pradler Theater mit dem bis in die letzte Zeit noch zugkräftigen Stücke
'Die Beatushöhle'. Großes romantisches Ritterschauspiel mit Gesang und
einem Vorspiele 'Der Tournierpreis', große Pantomime mit erklärendem Ge-
sänge. Beginn V22 Uhr, Ende V28 Uhr. Sitz in der Nobelgalerie oder num.
Sitz im Parterre 40 Kr., 1. Platz 30, 2. Platz 20, 3. Platz 10 Kr. Deko-
rationen vom Dekorationsmaler Juliani, Kostüme neu, nach Zeichnung des
Bartinger Seppl (auch einer, der einen Nachruf verdiente), von Anton Polli,
dem bekannten Inhaber einer Maskenleihanstalt. Die Rüstungen von J. Zu-
christian. So der erste Theaterzettel. Das Theater war bei der Eröffnungs-
vorstellung so überfüllt, daß zahlreiche Besucher bei der Kasse abgewiesen
wurden und sich für den entgangenen Genuß im schattigen Wirtsgarten des
'Lodronischen Hofes' bei mehreren Seideln Wein und Schweinsbrateln —
glückliche Zeit — entschädigen mußten. Das Stück wurde an den folgenden
Sonn- und Feiertagen bei stets vollem Hause wiederholt und erst am
13. Juni durch 'Balbina von Avignon' oder 'Die Wege der Vorsehung sind
wunderbar', großes romantisches Ritterschauspiel in 5 Akten, abgelöst. Auch
'Balbina' füllte einen Monat lang das Theater. Am 18. Juli kam dann das
große historische Ritterschauspiel 'Die Waisen von Neapel' mit der humo-
ristischen Tiroler Szene mit Gesang 'Die drei Leutascher auf der Alm' an
die Reihe, worin Sebastian Meister als Dörfschulmeister das Publikum er-
götzte. Als letztes Stück der 'Saison' ging am 22. August unter großem
Beifall das Ritterschauspiel 'Erich von Treuenstein' über die Bretter, mit dem
das Spieljahr am 26. September 'zum Vorteile der Theatermitglieder' schloß.
Das Pradler Theater hatte seine Probe bestanden. Getrost konnte es
am Ostersonntag 1870 wieder seine Pforten eröffnen, großartiger Erfolg und
voller Besuch blieben ihm treu. Für das Stück 'Die Blutrache' oder 'Der
Sturz des Hauses Guastali" hatte Bartinger Seppl die prächtige Felsengrotte
neu gemalt, für das Stück 'Johanna Montfaucon' holte man den vom Höt-
tingerau-Theater noch beliebten alten Schwaller von Hall als Räuberhaupt-
raann Rudrich. — Auch das nächste Jahr 1871 ging für unser Theater
glücklich vorüber; begonnen wurde am Ostermontag, geschlossen am Kirch-
weihsonntag, wobei ein Widder ausgespielt wurde. Einen Riesenerfolg hatte
in diesem Jahre das Stück 'Jutta von Rottenburg' oder 'Die Ahnengruft auf
Eulenhorst'; da gab es einen türkischen Garten mit 'lebendem' Springbrunnen
und Schwan, eine naturgetreue Lanigerbalgerei, welche die Pradler selbst-
verständlich echt unter dem Gejohle der Zuschauer aufführten.
Im Jahre 1872 übernahm Josef Brock, der beliebte Direktor des ein-
stigen Höttingerau-Theaters, die Spielleitung. Sein Garderobier war der
bekannte Anton Polli. Fast durchwegs wurden Ritterstücke aus dem Spiel-
plan der Höttingerau-Bühne gegeben, so auch mit großem Erfolg 'Herzog
Friedrich mit der leeren Tasche' oder 'Emma von Wolkenstein, das Heu-
mädchen von Tirol'. Auch im folgenden Jahre hatte das vaterländische
Schauspiel 'Kaiser Maximilian auf der Martinswand', worin Kunz von der
Rosen seine übermütigen Lokalwitze machte, großen Erfolg.
Eine denkwürdige Änderung gab es für unser Pradler Theater im Jahre
1875. Seit dem Jahre 1871 war Othegraven Direktor des Innsbrucker Stadt-
theaters oder richtiger des k. k. Hof- und Nationalthcaters, wie unsere jetzt
städtische Bühne bis 1886 hieß. Othegraven war der tüchtigste und unter-
nehmendste Theaterdirektor, den die Innsbrucker je hatten. Bei seiner Unter-
256 Kleinere Mitteilungen
nehraungslust und im Vertrauen auf seine Beliebtheit bei den Innsbruckern
versuchte er es, die Spielzeit auch über den Sommer auszudehnen und im
Jahre 1875 auch das Pradler Theater in seinen Wirkungskreis cinzubeziehen.
Er spielte im Theater bis Ende April, und ab 2. Mai 1875 spielte er mit
seiner Truppe im 'Lodronischen Hof. Er ließ das Theater frisch tünchen,
mit Fahnen und Emblemen ausschmücken, eine Kaiserbüste wurde zwischen
Blumen angebracht, die Parterresitze amphitheatralisch erhöht. An Sonn-
und Feiertagen gab er in Pradl zwei Vorstellungen und spielte auch an
einzelnen Wochentagen. Er gab Stücke von Anzengruber, Nestroy, Benedix,
Kotzebue, Birch-Pfeiffer, Franz Kaiser u. a. Othegraven suchte durch eifrige
Reklame in den Innsbrucker Zeitungen sich einen guten Besuch zu sichern
und unterdrückte auch jede Reklame der alten Pradler Truppe, so daß wir
über sie keine Nachricht aus diesem Jahre überkommen haben. Vermutlich
spielten die Pradler in diesem Jahre unter Ferdinand Brix, dem als Liebes-
boten wohlbekannten Innsbrucker Packträger, im alten Schießstand. Othe-
graven ließ es jedoch bei der ersten Saison im Pradler Theater bewenden,
schloß dasselbe nach fünfmonatlicher Spieldauer am 26. September und bezog
am 1. Oktober wieder sein Hof- und Nationaltheater.
Im nächsten Sommer 1876 war die alte Pradler Gesellschaft unter der
Spielleitung ihres Garderobiers Anton Polli wieder auf ihrer Pradler Bühne
und brachte dort das alte Ritterschauspiel wieder zu Ehren, Infolge des
kalten Wetters konnte das Theater erst am 7. Mai eröffnet werden. Das
vaterländische Schauspiel war in diesem Jahre vertreten durch 'Der Wirt
am Sand oder das Jahr 1809', ländliches Gemälde von Vitus Augetti. Dabei
gab es eine Tiroler Hochzeit mit Nationaltanz, besondere Wirkung erzielte
die Erschießung Andreas Hofers.
Schlecht ließ sich das Spieljahr 1877 an. Wegen der Ungunst des Wetters
begann das Spiel erst am 6. Mai. Der ganze Mai war naßkalt, dagegen
herrschte im Juni eine tropische Hitze, außerdem spielte noch immer das
Nationaltheater. Doch von Ende Juni ab hatten die Pradler wieder ihre
alte Zugkraft.
Im nächsten Jahre verschwindet wieder die Pradler Truppe von ihrer
angestammten Bühne, dafür spielt daselbst der Schauspieler Hensel vom
Stadttheater mit einer Truppe. Das Theater, das bisher immer den Namen
'Pradler Sommertheater' führte, hieß nun 'Tiroler Volksbühne'. Hensel
brachte Volksstücke wie 'Der Hallodri', 'Agnes Bernauer', 'Das letzte Auf-
gebot' u. a. zur Aufführung. Das Unternehmen scheint jedoch nicht recht
gezogen zu haben, denn im folgenden Jahre 1879 treffen wir auf der Pradler
Bühne wieder die alte Truppe unter der Leitung des Packträgers Ferdinand
Brix, der als Intrigant eine der Hauptfiguren des Theaters war. Er scheint
die Spielleitung bis zum Jahre 1883 behalten zu haben, in welchem Jahre
der 'Lodi-onische Hof in den Besitz des Wirtes Josef Anton Krautschneider
überging. Die Spielleitung führte in diesem Jahre der Goldschmied Mayr.
Im nächsten Jahre übernahm Ferdinand Rauter, der von der Höttingerau
her noch beliebte Schauspieler, der wohl allen Innsbruckern noch in bester
Erinnerung ist, die Direktion und behielt sie in zielbewußter Führung bis
zum Jahre 1904. Rauter verstand eine prächtige Truppe trefflicher Schau-
spieler auszubilden und brachte das Theater im Verein mit seiner späteren
Nachfolgerin in der Spielleitung, Josefine Weiß, zur eigentlichen Blüte.
Rauter starb am 20. Februar 1905. So mancher besucht wehmutsvoll noch
Kleinere Mitteilungen 257
die Grabstätte des 'Alten von Pradl' im St. Nikolauser Friedhof. Unter
Rauter wurden die neuen Dekorationen von Franz Inzigneri, einem alten
originellen Mitglied der Pradler Truppe, gemalt, von ihm stammt auch die
Neubemalun'g des alten vom Bartinger Seppl noch hermhrenden Theater-
vorhanges. Er zeigte früher die Figuren Erzherzogs Ferdinands und der
Philippine Welser, die Farbe war aber mit der Zeit abgefallen, so daß man
zum großen Gaudium des Publikums hindurchsah.
Wir kommen schon in die Zeit, die allen Innsbruckem geläufig ist, und
können uns daher kurz fassen. Eine Neuerung sei noch aus dem Jahre 1889
erwähnt. Seit diesem Jahre erscheinen nämlich die Namen aller Mitspielen-
den auf dem Theaterzettel, was vielleicht für den künftigen Chronisten des
Theaters von Wert ist. Am 2. August 1891 feierte der beliebte, heute noch
sich bester Gesundheit erfreuende Komiker Alois Lener das 40. Jahr seiner
Bühnentätigkeit, die er noch am Theater in der Höttingerau begonnen hatte
So mancher wird sich noch des ulkigen Knappen Pietro in dem Stück
'Robert Graf von Lasserillo' oder der 'Kungerturm von Spaletto' erinnern,
welche Rolle sich Lener zum Benefiz erkoren hatte. Am 29. Mai 1892 er-
schien der heute in allen deutschen Landen berühmte Direktor Ferdinand
Exl zum ersten Male auf dem Pradler Theaterzettel. Er gab den Herold im
schaurigen Ritterschauspiel 'Katharina Howard', der Herzog Etheiwood das
Haupt abschlägt. Wie Exl selbst schreibt, war der Anfang schwer. Die
Pradler hatten damals prächtige Schauspieler, ja ganze Schauapielerfamilien,
die den Kern der Trappe bildeten ; ich nenne nur die Namen : Rauter, Weiß,
Wöll, Gstöttner, Lener u. a.
Das nächste Jahr 1893 brachte wieder eine Änderung, die für unser
Pradler Theater nicht ohne Einfluß blieb. Diq Pradler begannen unter
Direktor Rauter nach alter Gewohnheit am Ostermontag ihr Spiel in Pradl,
In diesem Jahre wurde die Tiroler Landesausstellung veranstaltet, eines der
wichtigsten Ereignisse in Innsbrucks neuester Geschichte. Ein Strom von
Fremden war zu erwarten, der sich auch tatsächlich einstellte. Von allen
Seiten wurde für Vergnügungen für die Fremden gesorgt; so wurde auch
das Volkstheater beim Löwenhaus gebaut. Der neue Bau, für ein Volks-
theater wie geschaffen, lockte die alten Pradler, sie verließen im Mai noch
die altgewohnte Bühne und eröffneten unter der Direktion Rauter-Weiß am
Pfingstmontag das neue Löwenhaustheater mit dem zugkräftigen Ritterstück
'Georg Freigraf von Aarau' oder 'Die Bluthochzeit auf Falkenstein'. Frau
Josefine Weiß sprach den Prolog. Im Pradler Theater war inzwischen
Direktor Erdmann vom Stadttheater mit seinen Schauspielern eingezogen. —
Die Pradler Bühnenbretter mußten damals Ungewohntes über sich ergehen
lassen; Stücke wie 'Die Gigerln von Wien', 'Mein Leopold' und ähnliche
sollten das Theater füllen. Der Erfolg scheint nicht besonders gewesen zu
sein ; am 27. August bereits wurde die Pradler Bühne geschlossen, Erdmann
ging als Theaterdirektor nach Dornbirn. — Auch im folgenden Jahre spielten
die Pradler vom Ostermontag bis Kirchweihsonntag noch im Löwenhaus.
Hans und Ferdinand Gstöttner feierten dort ihr 25jähriges Schauspieler-
Jubiläum. Im Pradler Theater spielte der Schauspieler Hans Robert aus
München mit einer Truppe, der auch Ludwig Gürtler angehörte. Gegeben
wurden Volksstücke und Singspiele, die Spielzeit dauerte vom 15. April bis
9. September.
Reuig kehrte im Jahre 1895 die Direktion ßauter-Weiß wieder nach
258 Kleinere Mitteilungen
Piadl zurück. Doch Kerntruppen, wie die Lener und Gstöttner, hatten sich
abgesondert und spielten mit Franz Wöll, Ludwig Gürtler u. a. unter der
Leitung des bereits genannten Franz Inzigneri auf der von den Pradlem
selbst kreierten Konkurrenzbühne im Löwenhaus. Die Direktion Rauter-
Weiß verstand es jedoch, die entstandenen Lücken durch Heranziehung und
Ausbildung neuer Kräfte auszufüllen und so das Pradler Theater wieder in
die Höhe zu bringen. Die Pradler gewannen den alten Ferd. Brix wieder,
der nun nach löjähriger Pause, im 74. Lebensjahre, wieder unter Riesen-
beifall die Bühne betrat. Direktor Rauter feierte sein SOjähriges Bühnen-
jubiläum, Ferd. Exl hatte sein erstes Benefiz als Learl im 'Jägerblut', Anna
Weiß, die Tochter der Frau Direktor Josefine Weiß, war vom Stadttheater
in Konstanz hereingekommen; kurz, es gab eine gute Saison in Pradl, wäh-
rend die Konkurrenz im Löwenhaus schlechte Geschäfte machte. In den
folgenden Jahren kehrte noch mancher der abgefallenen Pradler Schauspieler
ins alte Heim wieder zurück, ja, im Jahre 1897 bestand gar keine Konkurrenz
mehr, da in ganz Innsbruck, außer in Pradl, kein Sommertheater mehr spielte.
Eine zweite Sommerbühne wäre für Pradl an und für sich nicht besonders
gefährlich gewesen, schon wegen der Ritterstücke, die am zugki'äftigsten
waren und nur von den Pradlern gespielt werden konnten; aber das Ver-
hängnisvolle war, daJJ sich jedes Konkurrenzunternehmen aus den Pradlern
selbst heraus durch Spaltung bildete und dadurch den Mutterschoß bedenk-
lich schwächte.
Die gefährlichste Probe für das Pradler Theater war die Gründung der
Exltruppe, die sich zum großen Teile aus den besten Spielern der Pradler
zusammensetzte. Am Ostermontag 1902 traten die Exlleute zum ersten Male
im 'Österreichischen Hof mit dem 'Pfarrer von Kirchfeld' auf, 1904 erscheinen
sie schon im 'Löwenhaus'-Theater als festgefügte Truppe, im Sturmschritt
der hohen Kunst sich nähernd. Frau Josefine Weiß, auch altes Theaterblut
— ihre Großmutter Kühnel geb. Danner war schon im Theater beim
'Stamser' aufgetreten — , hatte seit dem Tode Rauters allein die Leitung der
Pradler Bühne übernommen, und ihr gelang es wieder, trotz des Verlustes
ihrer besten Spieler, neue Kräfte zu finden und so den Betrieb zur Freude
des alten Pradler Publikums, das sich aus allen Kreisen der Stadt und Um-
gebung zusammensetzte, weiterzuführen. Das Pradler Theater blieb bei
seiner alten Tradition, der Pflege des Ritterstückes in der überkommenen,
allerdings der Zeit entsprechend etwas verfeinerten Weise, und übte damit
die alte Zugkraft aus, trotz aller anderen Sommertheater, die im Laufe der
Jahre entstanden.
Selbst der Weltkrieg konnte unserem Pradler Theater unter seiner tat-
kräftigen Direktorin Frau Weiß nichts anhaben. In den Jahren 1914 bis
1917 wurde noch nach alter Sitte an allen Sonn- und Feiertagen in Pradl
gespielt, und als das Theater am 28. Oktober 1917 mit dem auch auf dieser
Bühne in letzter Zeit eingeführten Allerseelenstücke 'Der Müller und sein
Kind' das Spieljahr schloß, da ahnte es weder der alte Müller noch sonst
jemand, daß unter den Geistern, die zum Sterben in diesem Jahre bestimmt,
an ihm vorüberzogen, auch der des Pradlers Theaters sei. Es war das
Totenstück unserer nun bald 50jährigen Bühne geworden.
In der Karwoche 1920 wurde das Schauspielhaus niedergerissen. Über
die letzten Ereignisse, die zu diesem tragischen Ende führten, wird wohl in
späteren Jahren einmal berichtet werden können.
Kleinere Mitteilungen 259
Ich bin überzeugt, über das Pradler Theater wird in den nächsten
fünfzig Jahren mehr geschrieben werden als während der ganzen Zeit seines
Bestandes. Vor allem wird der Literarhistoriker sich des romantischen
Ritterschauspiels bemächtigen , das seinen Ursprung aus der Zeit des Ab-
sterbens des geistlichen Volksschauspiels herleitet. Zum Glück besitzt die
letzte Spielleiterin, Frau Josefine Weiß, noch fast sämtliche Spieltexte.
Mögen dieselben einmal an einem sicheren Orte für alle Zeiten geborgen
werden; denn das romantische Ritterschauspiel, das immer mehr vom Volks-
stück verdrängt wird und nur mehr auf einigen Dorfbühnen, insbesondere
in Buch bei Schwaz gepflegt wird, dürfte bald der Geschichte angehören.
Auch der Kulturhistoriker wird das Pradler Theater, in dem nicht zünf-
tige Schauspieler, sondern nur Dilettanten voll Liebe, Lust und Geschick
zum Komödiantentum das Publikum ergötzten, in den Bereich seines
Forschungsgebietes aufnehmen. Hoffen wir, daß der Kulturhistoriker nicht
einst berichten muß, daß die Pradler Bühne, auf der noch immer die be-
drängte Unschuld gerettet, das Böse bestraft und das Gute belohnt wurde,
kurz, die Moral Sieger blieb, durch ein Kino ersetzt wurde. Auch die Ge-
schichte des zünftigen Theaters wird dankbar des Pradler Theaters gedenken
müssen, war es doch die Schule unserer berühmten Exlleute und manch
anderer heute auf großen Bühnen wirkenden Schauspieler von gutem Namen.
Und welch reiche Fundgrube wird unser Theater, seine Spieler und seine
Stücke mit den Lokalwitzen und Gstanzeln für den Linsbrucker Lokal-
historiker erst bieten! Möge es nur allen diesen Forschern gelingen, den
reichen Schatz noch rechtzeitig zu sichern.
Kaspar Schwarz.
Zum Balladenrhytlimus.
Der Unterschied zwischen dem stattlichen, kräftigen Rhythmus einer alten
Volksballade und dem Geklingel einer späteren Straßenballade fällt beim
Lesen einiger Zeilen auf. Eine weitere Untersuchung darüber, wodurch
eigentlich dieser Unterschied bedingt ist, fehlt. Man begnügt sich damit,
auf die Unregelmäßigkeit im Metrum der älteren Balladen hinzuweisen und
sie der größeren Regelmäßigkeit der späteren gegenüberzustellen. So Brandl
in Pauls Grdr. ILli, S. 840, Schipper, Altengl. Metrik (Engl. Metrik 1. Teil),
S. 349, K. Nessler, Geschichte der Ballade Chevy Chase (Palaestra 112),
S. 28 f.
Ich versuche daher im folgenden einige der Hauptunterschiede darzulegen
und beschränke mich hierbei für die Untersuchung auf Sir Patrick Spence
und die ältere Chevj'-Chase-Ballade einerseits, auf die jüngere Chevy-Chase-
Ballade anderseits. Mehr Material heranzuziehen, erscheint überflüssig, da es
sich ja um typische Unterschiede handelt, die schon an wenigen typischen
Beispielen zum Ausdruck kommen müssen. Von Kunstdichtem schließt sich
Coleridge im Ancient Mariner mehr dem Gebrauch der Volksballaden an,
Cowper in John Gilpin dem der Straßenballaden, so daß man an diesen
beiden Dichtungen die künstlerische Verwertungsmöglichkeit dieser Eigen-
arten erkennen kann. Bei einer metrischen Untersuchung der Volksballaden
bietet allerdings die Überlieferung leicht Anlaß zu Fehlschlüssen. Selbst von
den 18 bei ChUd überlieferten Fassungen des Sir Patriok Spence stammt
keine unmittelbare aus dem Munde von Volkssängern. Es ist also vielleicht
mit Veränderungen, Weglassungen oder Zusätzen von Abschreibern oder Ge-
260 Kleinere Mitteilungen
dächtnisfehleni von Mittelspersonen zu rechnen. Die ältere Chevy-Chase ist
auch kaum Aufzeichnung aus dem Volksmunde, vgl. N essler, a. a. 0.,
S. 7 — 10. Ich habe daher Verse, in denen durch leichte Korrekturen der
Eh\-thmus regelmäßig wird, nicht raitbetrachtet, z. B. Chevy Chase A 7^:
A hondrith (fat), hartes (ded) thar lay, oder 13 1 : Leave of the bt-ytlyrig of
the deare (he sayd), oder 133; For neuer sithe ye tcear (on yotir mothers)
borne (die eingeklammerten Wörter wären zur Korrektur wegzulassen);
weiter habe ich offenkundig verderbte Verse ausgeschieden, so Ch. Ch. 153,
172 u.a. Selbstverständlich gestatte ich beim Lesen alle irgendwie üblichen
Freiheiten der volkstümlichen Poesie und die dialektischer Art, so auch un-
silbischen bestimmten Artikel, ohne dies als metrische Unregelmäßigkeit zu
bezeichnen. Über die Balladenstrophe selbst vgl. Schipper a. a. 0. (Septenar-
paar).
In der Volksballade verzeichne ich nun folgende Abweichungen vom
regelmäßigen Schema des Septenarpaars:
1. zweisilbiger Auftakt, oft in Chew Chase, z. B. 12, 71, 121, 123, 173,
211 u. 5.
2. fehlender Auftakt: Sir P. Sp. 2i {Up and spak an eidern knight),
Chevy Chase oft, z.B. 4i, 53, 6^, Hl, 113. 183, 213 usw.
3. zweisilbige Senkung: Sir P. Sp. l^: 0 uhar will I get (a) giiid sailor
(a unsicher überliefert); oft in Ch. Ch. z. B. 16, 32, 41, 53, lOi, 10^, 163,
184, 213 usw.
4. fehlende Senkung zweimal in Ch. Ch.:
Both with spear hryny and brand 111;
/ X r / X X '
Ayid that was seene verament 263.
X ' X ' / X
5. dreiheb ige statt vierhebige erste Halbzeiien bei klingendem Schluß:
Ch. Ch. 13, 15, 181, 523, 531, 533, 551 und vielleicht auch Sir P. Sp. 13 u.
23. Vgl. darüber Nessler, a.a.O. S. 29.
6. vierhebige statt dreihebige zweite Haibzeilen, nur Ch.Ch. 34* (Nessler,
S. 30).
7. satzbetonte Silben stehen in der metrischen Senkung, die metrische Hebung
fällt auf eine vorausgehende oder folgende unbetonte Silbe, z. B. S. P. Sp.
11, 12:
The king sits in Dumfernling toune
Drinkin g the bluid-red wine.
X ' X / X '
Ebenso 22, 31, 4^, 103: Ch. Ch.: li, 34, 5^, 71, 84, 102, 165, 233, 283,
343, 463, 473, 511, 573, 643.
Von dieson Unregelmäßigkeiten finden sich in der Sü-aßenballade (Chevy
Chase B) bloß:
1. Fehlender Auftakt einmal 441;
2. mehrsilbige Senkung, einmal 633;
3. satzbetonte Silben in metrischer Senkung öfter: z.B. 3i, 43, 51, 82,
113, 134, 142, 153, 181, 183, 201, 212, 242 u. ö.
4. Sehr häufig aber fällt die metrische Hebung auf eine satzunbetonte
Partikel oder irgend ein Füllwort, ohne daß ein satzbetoutes Wort in der*
Kleinere Mitteilungen 261
vorhergehenden oder folgenden Senkung steht, so 23 (is), 2* {of), 3i (in),
43 (to), 54 (^o), 74 {(lid), 81 (Aar/), 91 (on) 92 (fo), 10 1 {throv/jh) usw.
Dies ist für die Strai5enballade vor allem t^-pisch.
Im Anrient Mariner verzeichne ich die meisten Freiheiten der Volks-
ballade, so zweisilbigen Auftakt (3, 32, 71, 80, 87 u. Ö.), fehlender Auftakt
(22, 29, 119, 121, 168 u. ö.), fehlende Senkung (197, im Ausruf), satzbetonte
Wörter in metrischer Senkung (2, 10, 17, 25, 34, 35 u. ö., besonders wenn
die Aufmerksamkeit auf dieses Tf ort gelenkt werden soll), dann aber auch
gelegentlich schwach betonte Wörter in der metrischen Hebung, ohne daß
satztonige in der Senkung stehen, also wie in den Strafjenballaden (40, 47,
65, 109, 136, 138 u. ö.) Im John Gilpin finden sich aber bloß die beiden
letzteren Freiheiten (41, 44, 46, 62, 64, 66, 105 u. ö. und anderseits 1, 2, 3,
5, 6, 7, 9, 10, 12, 13 usw., also sehr häufig wohl in absichtlicher Über-
treibung).
Wien. Karl Brunner.
Zu Thomas Occleye.
T. F. Tout {Chapters in the administrative history of mediaeval England,
Manch. 1920, I, 29. 65) benutzt Thomas' autobiographische Dichtungen für
die Kenntnis vom intimen Leben eines Kronbeamten; Thomas war der
früheste Privatsiegelschreiber literarischer Berühmtheit. Auch verwertet er
dessen (wie vieles andere von ihm ungedruckte) Abhandlung, die den frühe-
sten, historisch sehr wertvollen Leitfaden zur Technik jenes Privatsiegelamtes
liefert. Es ist dies ein Quartband, zumeist Koceleves Autograph, jetzt
British Museum Ms. Additional 24062, eine Formelsammlung von Privat-
siegel-Urkundenformularen.
Berlin. F. Liebermann.
Zu Chaücers Stellimg in Hofämtem.
T. F. Tout {Chapters in the administrative history of mediaeval Eng-
land: the Wardrobe, the Chamber a?id the Small seals. Manch. 1920. II, 335)
schildert in einer für die englische Verfassungsgeschichte epochemachenden
tiefgründigen Forschung und lichtvollen Darstellung, v>-ie das Königtum, dem
die Barone im 13., 14. Jahrh. den Einfluß auf Staatsschatz und Kanzlei ent-
zogen, sich eigene Haushaltsämter schuf oder, wie die Königskammer, neu
belebte. Oft stieg der königliche Kammerdiener {lalet, yeoynan) zu hohen
Ehren, gehörce nicht selten zu guter Familie, ohne gesellschaftlichen Unter-
schied vom Knappen (esquire): er genoß vor sonstigen Kronbeamten den
Vorzug enger persönlicher Berührung mit der Majestät und diente ihr in
allen möglichen Vertrauensstellungen. Chaucer liefert ein Beispiel, wie auch
dem Mittelstand sich die Laufbahn der Königskammer öffnete.
Berlin. F. Liebermann.
Zu Liedrefrain und Tanz im englischen Mittelalter.
Joh. Steenstrup, De danske folkevisers oddeste Tid og Visernes Her-
komst (Kop. 1919, auch in Histosisk Tidsskrift, 9. Roekke I, 232—297), leitet
das bis Anfang 13. Jhdts. zurückverfolgbare Volkslied der Dänen nicht aus
England her. Daß hier die Ballade zum Tanz gesungen ward, ist unbewiesen.
262 Kleinere Mitteilungen
Sie entbehrt des tanzbegleitendcn Refrains entweder ganz (so in ^k des in
Childs Ballads gesammelten Stoffes, so buntartig und stark neuzeitlich er
ist) oder verdankt ihn dem Einflüsse des Nordens (wie sicher im King Orfeo
aus Shetland) oder bietet einen andersartigen als der Norden. In Dänemark
drückt der Refrain Bewegung aus, wie Tanz, Ritt, Rudern, Sehnsucht, Liebes-
trieb, in England Stillstand, z. B. den Namen einer Blume oder Handelsstadt;
dort ist er mehr gedanklich, hier rein lautmusikalisch, ja bisweilen bloß
Interjektion. Kehrzeilen in Englands Ballade, oft zweiteilig mit Reim, folgen
anderem Stilprinzip als der Refrain des Nordens. Den Tanz begleitet in
England Instrumentalmusik, nicht Refraingesang; der Refrain erwähnt ihn
nie. Nicht dieser also gab den Anstoß zum Refrain des Nordens. Auch
fehlen der älteren Volksdichtung der Dänen die Ich-Yoxm und die Frage an
die Zuhörer, die ihr beide in England und Deutschland häufig eignen. Jene
trägt ein älteres Gepräge. Steenstrup zitiert für sich Child und Ker; der
Schotte Henderson meint, bei Anglodänen entstehe die Ballade Englands;
des Nordens Stoffe aber wandern nach Britannien wohl erst nach 1470, als
eine dänische Königstochter nach Schottland heiratete. Vielmehr Frankreichs
Tanzlied mit Refrain gab den Anstoß zum Volkslied Dänemarks, ohne Ver-
mittlung Britanniens oder Deutschlands. Daß die Form des englischen
Liedes vom Klerikerlatein abhänge, ist unwahrscheinlich, weil der Septenar
im Kirchengesang selten ist. Wenn Knuts Verse über Elys Mönchsgesang
— hundert Jahr nach ihm auftauchend — in choris jmblice cantantur, so
heißt dies vielleicht nur 'im Chor', nicht notwendig 'beim Tanze'. In
der (auch bei Wilh. von Malmesbury und Orderic berichteten) Legende über
Die Tänxer von Kölbigk (s. u. d. P. Edw. Schröder in Zs. f. Kirchengesch. 17,
1897) bildet der Vers Quid stamus, cur non irnus? vielleicht nur eine franko-
romanische Zufügung, französischem Tanzliede verwandt, zu dem norddeut-
schen Berichte von 1021, der keine bloße Fabel ist, sondern an eine nach-
gewiesene Tanzkrankheit anknüpft. Der Tanzführer heißt hier Boro, nicht
'Bube, Schlingel' allgemein, noch auch mit Boeve de Hamtiin in Zusammen-
hang; vielmehr heißt Bovi auch die Strohpuppe, mit der um 1250 in Däne-
mark das Volk beim Kindelbier tanzte, laut der von einem englischen Franzis-
kaner in Cork zum Predigtzweck 1279 gesammelten Exempla, die Paul Meyer
herausgab. — Im Ouillaume de Dole findet Verf. das durch Shakespeare im
Cymbeline dem Boccaccio entnommene Motiv vom Verleumder der keuschen
Fürstin mittels hinterlistiger Erkundung ihres geheimen Muttermals.
Doch nicht nur Englands Literaturgeschichte, sondern die germanisch-roma-
nische allgemein geht die bedeutende Abhandlung des großen dänischen
Forschers an, der die verschiedensten Seiten germanischen Altertums be-
herrscht.
Berlin. F. Liebermann.
Zwischenspiele für Edward II.
Tout (Chapters in ihe administrative hist. of mediaeval England, 1920,
n, 357) fand unter den Ausgaben der Königskamraer des Königs 'gratifica-
tion to the Clerks of one Chamber manor (Rittergut der königlichen Kämmerei)
who played interludes at another such manor to divert Edward and bis
chamberlain'.
Berlin. F. Liebermann.
Kleinere Mitteilungen 26
Shiite mengl.: 'Lastschiff.
Eine Rechnung der Königskammer um 1325 verbucht eine Einnahme
De ctistode shutarum et batellorum rerjis in Tainisia (bei Tout Chapters in
tJ/e administr. hist. of England, II, 3491): vielleicht ein Lehnwort aus dem
Niederländischen.
Berlin. F. Liebermann.
Zu Pons von Capduelli.
Im laufenden Jahrgang der Zs. f. r. Ph., S. 231 erhebt Meyer-Lübke Ein-
spruch gegen die bisher übliche Auffassung einer Strophe des Kr«uzliedes
Gr. 375, 2, das zuletzt von Schultz-Gora in seinem Provenxal. Elementarbuch
herausgegc ben worden ist. Die Stelle kennzeichnet so treffend das Verhältnis
von Rittertum und Kreuzzug, daß ihr eine über den Einzelfall hinausreichende
Bedeutung zukommt. Diese mag es rechtfertigen, wenn hier zu den Aus-
führungen Meyer -Lübkes noch einmal das Wort ergriffen wird. Die frag-
liche Strophe lautet:
Ja mais no-s gab negus bars qe pros sia,
s'ar no socor la crotz e"l monumen;
c'ab gent garnir, ab pretz, ab cortezia
et ab tot cho q'es bei et avinen
podem aver honor e iauzimen
en paradis; gardaz dune que querria
plus coms ni reis, s'ab honraz faiz podia
fogir enfern e-1 putnais fuoc arden,
on maint chaitiu viuran toztems dolen.
Während bisher qe pros sia (v. 1) als Objektsatz und das qe zu Beginn des
dritten Verses al» 'denn' galt, will M.-L. unter entsprechender Änderung der
Interpunktion qc pros sia als Relativsatz und den mit dem genannten qe
eingeleiteten Satz als Objekt zu gab (v. 1) fassen, wobei denn der Bedingungs-
satz (v. 2) als Nebensatz zweiter Ordnung seinem übergeordneten Satz {c'ab
gent garnir etc.) vorangestellt wäre. Dementsprechend deutet M.-L.: 'Kein
Ritter, der etwas auf sich hält, soll damit prahlen, daß, wenn er auch nicht
am Kreuzzug teilnimmt, wir ja mit der Erfüllung unserer gesellschaftlichen
Verpflichtungen schon das tun, was uns zukommt, wir also ein Anrecht auf
das Paradies haben.'
Gegen diese Auffassung ließe sich schon sprachlich allerhand einwenden.
Über die seltsame Diskrepanz der Verbalpersonen in Haupt- und Nebensatz
{no's gab negus bars . . . qe podcm) sucht M.-L. durch die Annahme hinweg-
zukommen, daß hier eine mit qe eingeleitete direkte Rede vorläge oder daß
der Dichter sich im Eifer mit den Rittern identifiziere. Zu solchen Erklä-
rungen wird man aber doch erst gi-eifen, wenn ohne sie die Interpretation
erheblichen Schwierigkeiten begegnet, nicht aber bei einem Gedicht, dessen
Diktion sonst so klar und schlicht dahinfließt wie die des vorliegenden Kreuz-
liedes. Ob femer der Konjunktiv in dem Relativsatz qe pros sia ganz be-
rechtigt ist, mag dahingestellt bleiben; erwartet man doch nach der neuen
Inteipretation eher so etwas wie qi vol essrr pros. Andererseits überrascht
der Indikativ podcm nach no's gab negus bars, und endlich könnte man auch
an der Zweckmäßigkeit des Wortes gabar Anstoß nehmen in dem Zusammen-
hang, in den M.-L. es stellt.
264 Kleinere Mitteilungen
Denn es darf doch wohl kaum als gap ausgelegt werden, wenn ein Ritter
behauptet, er könne auch ohne Kreuzzug, lediglich kraft seiner Rittertugenden
das Paradies erwerben. Nicht eitle Ruhmredigkeit läge hier vor, sondern
eine den kirchlichen Anschauungen der Zeit völlig zuwiderlaufende Äußerung,
wie wir sie im Ernst einem Bitter nicht zutrauen dürfen. Hier, in den
Versen 3 — 6, liegt denn auch der Angelpunkt der Meyer-Lübkeschen Auf-
fassung und, wie wir meinen, seines Irrtums. Denn unmöglich kann der
Dichter einem Ritter eine für seine Zeit so bedenkliche Anschauung impu-
tieren, und ebensowenig wie der Dichter haben, soweit ich sehe, die bis-
herigen Interpreten dieser Stelle einen solchen Fehler begangen. Hier liegt
also ein zweites Mißverständnis Meyer-Lübkes vor. Wohl von niemandem
sind bisher die Verse so gedeutet worden, wie er es glauben machen will.
Als die hergebrachte Auffassung der Stelle gibt M.-L. an, es werde gesagt,
'das Paradies erwirbt zwar jeder Ritter durch höfisches Benehmen, aber
natürlich hat er noch viel mehr Anrecht darauf, wenn er sich durch Waffen-
taten im heiligen Kriege auszeichnet.' Mit Recht zweifelt M.-L., ob durch
eine solche Argumentation die Lässigen sich hätten aufrütteln lassen. Aber
so argumentiert der Dichter gar nicht, und so hat ihn auch keiner seiner
bisherigen Interpreten argumentieren lassen.
Vielmehr gibt die bisherige Fassung in klarem Wortlaut einem klaren
Gedanken Ausdruck. Auch wir wollen mit M.-L. an die vorhergehende
Strophe anknüpfen. Aber das Beispiel Alexanders, der die Welt eroberte
und doch nur ein Leichentuch davontrug, stellen wir in einen etwas anderen
Gedankengang. Der große König galt als Inbegriff ritterlichen Wesens; aber
die Ausübung aller seiner Rittertugenden half ihm nicht zur Seligkeit. Jetzt
jedoch, so meint der Dichter, hat jeder Ritter die Möglichkeit, durch eben
diese Tugenden das Paradies zu erwerben, falls er sie an der Eroberung des
Heiligen Landes betätigt.
So — und nur so — verstanden, bieten die Worte des Dichters dem
Lässigen jenen Anreiz, den M.-L. in ihnen vermißte. Seine Rittertugenden
sollen ihm nicht Ausrede sein, dem Kreuzzug fernzubleiben, sondern An-
sporn, an ihm teilzunehmen. Diese Verschmelzung von Rittertum und Kreuzes-
dienst, diese Nutzbarmachung der Rittertugenden für die heilige Sache, ist
ein Gedanke, der vielen Kreuzliedern gemeinsam ist und dem wohl kein
Trobador beredteren Ausdruck verliehen hat als Pons von Capduelh.*
Berlin. Kurt Lewent.
Afrz. JBourgheSf Obl. BourgJiet,
Im Fablel vom 'Prestre comporte' (Montaiglon-Raynaud, Rec. IV, 1 ff.),
dessen Text Steppuhn, Das Fablel vom Prestre comporte und seine Ver-
sionen, Diss. Königsberg 1913, nach den Hss. A und B hergerichtet hat, be-
gegnet V. 48, 64, 70, 94 usw. eine Dienerin mit Namen Bourghes {Borghes,
Borges), Obl. Bourghet {Borget) ; wo sich Bourghe, Borge findet, wie V. 230,
299, steht es offenbar für Bourghet, Borget. Steppuhn äußert sich nicht zu
diesem Namen, wie ja denn den Personennamen immer noch ziemlich wenig
Aufmerksamkeit geschenkt wird. Mir scheint, daß es eine Koseform von
Ouibourc ist wie Qoio?i von Margoton Tasse von Eustasse. Der Frauenname
Vgl. Ältprov. Kreuzlied S. 62 f. und 81.
Kleinere Mitteilungen 265
Quibourc ist ja aus den Epen zur Geniige bekannt, er kommt aber auch sonst
vor, z. B. M.-R., Bec. 11, 207 (Ouibort), Martinsleben 8682, im 26. Miracle de
Nostre Dame ed. 6. Paris et Robert IV, 177 ff. und in einer Pastourelle
(Bartsch, Rom. u. Fast. II, 22 V. 27), wo eine Schäferin so {Guibor) heißt.
Was an unserer Namensform weiter interessiert, ist die männliche Dimi-
nutivendung -ci. Ich kenne sie nur noch in Maret (Nom. Mares) bei M.-R. II,
8, 18 (dieselbe Person heißt ebenda S. 11, 15, 20, 22 Marion und S. 20 ein-
fach Marie) und in einer Pastourelle (Rom. u. Past. II, 26 V. 7, b. Var.').
Es ist also mit -et ebenso verfahren worden wie mit den an männliche Per-
sonennamen herantretenden Diminutivendungen -on und -ot (z. B. Michel,
Michon; Charles, Charlot), die so häufig ohne Rücksicht auf das Geschlecht
weiblichen Personennamen angefügt wurden, z. B. Marion, Margot (beide zu-
sammen in Margoton), was nicht ausschließt, daß wir nicht auch -ote daneben
haben in Marote (Mariote), während ein * Marianne m. W. nicht vorliegt, doch
vgl. prov. Ouilhalmona, Peirona. Entsprechend Johanet zu Johan, Martinet
zu Martin haben wir mithin Maret zu Marie trotz danebenstehendem Mariete,
und Bourghet zu Ouibourc, falls meine Herleitung das Richtige trifft.
Jena. 0. Schultz-Gora.
Nochmals ital. ghetto,
(Vgl. Wörter und Sachen 1915, S. 205 2.)
Die von mir a. a. 0. fär nicht echt gehaltene alte Belegstelle, die Tom-
maseo-Bellini s. v. ghetto aus Cecco Angiolieri anführt, lautet nach den kri-
tischen Ausgaben von Massera (Bologna 1906, S. 131 f.) und Giuliotti (Siena
1914, S. 116) tatsächlich nicht, wie bei Tomm.-Bellini steht:
Amor mi fa invogliar di si gran ladre
Che var che siano figliuole di ghetto,
sondern beide Herausgeber setzen statt ghetto Qaetto des Textes (und daher
sian statt siano) ein, der ein 'celebre ladro, forse leggendario' gewesen sein
soll. Damit ist eine alte Stütze für ital. ghetto beseitigt. Zur Form ghettare
statt gettare in ital. traghetto vgl. jetzt REW s. v. trajectare, dessen Erklärung
das g aus tragando wohl wegen des weitverbreiteten Simplex ghettare (vgl.
REW 4568 s. y.jectnre: venez. ghctar, 'mit auffälligem g-'' und Salvioni, Kj'it.
Jahresber. VII, I 136, vor allem aber conghiettura) Bedenken erregt. Zur
Bedeutung vgl. das synonyme prov. gitare 'couler, fondre le metal', über das
Berthele in Rev. d. langues rom. 46, 282 ff. gehandelt hat. Zu ital. giudecea
vgl. Salvioni, Bidl. d. soc. dant. ital. NS. VII 258, dessen Deutung {^=judaica,
altprov. juxaiga) immerhin die Endung ebenso unerklärt läßt wie seine Aus-
führungen über genecco = gynaiceion, spätlat. geniduTu das -ecco (Einfluß des
Gen. Plur. ywaiy.iov, Salvioni, App. di latino medievale, S. 17 ist wohl wenig
wahrscheinlich). Über prov. guet, das REW anführt, schreibt mir Herr Prof.
Appel, es könne nur neuprovenzalisch sein und sei aus Mistral entnommen:
^ Auf diese Stelle hat G. Cohn in den Tobler- Abhandlungen aus einem
anderen Grunde hingewiesen.
2 Zu verbessern S. 201 Anm. 1 Z. 9 v. u.: Naxaret, Z. 3 v. u. Saineanu
st. Saineann, S. 204 Z. 16 v. 0.: einzufügen 'Würdigung' nach 'solche',' Anm. 1,
2. Kolonne Z. 6 v. 0.: 1. maxaro st. maxara, Z. 11 v. 0. Oudin st. Ondin,
S. 205 Z. 6 V. 0.: St. Pamaso, Ital.: Parnaso Ital.; Z. 18 v. 0.: bestechende
st. bestehende.
266 Kleinere Mitteilungen
'Altprov. (juet existiert, soweit ich sehe, nicht. Mistral führt als "romanisch"
gucit guait, aber das ist ein Zusammenwerfen mit dem Subst. zu gaitar
"wachen".' Das alte Wort in Frankreich ist *judaria (Juirerie, jutariö).
Außerdem wäre 'prov. guet' im REW durch nizza. guet (vgl. Mistral) zu ersetzen.
Bonn. Leo Spitzer.
Zu *ms de char».
In Zs. f. fr. Spr. Lit. 42 (1914) p. 18 erhob Meyer-Lübke Zweifel bezüg-
lich des Ausdrucks fils de char = unehelich und schreibt gleich danach:
'6. Paris schließt daraus, daß Karl in carro natus bezeichnet wird, daß das
ein Deckwort für "uneheliche Kinder" gewesen sei. Ich frage also nochmals:
Gibt die spätlatein. oder die altfranz. oder meinetwegen auch die alte deutsche
Literatur irgendeinen Anhaltspunkt für eine solche Auffassung? Wo nicht,
80 möge man sie nicht als etwas Sicheres, sondern als das bezeichnen, was
sie ist, als Ausfluß einer etymologischen Spielerei des Mittelalters.' Diesen
Zweifel hatte er schon in seinem Aufsatz 'Romanisch Bast-' in Wörter und
Sacken I p. 37 (1909) geäußert. Übrigens hat schon Rajna auf die Wahr-
scheinlichkeit einer mittelalterlich-gelehrten Spielerei hingewiesen [nämlich in
carro natus und Cäro-lus]. Indem ich mich dieser Auffassung anschließe,
möchte ich auf zwei Kleinigkeiten aufmerksam machen.
1. S. Singer hat Zs. f. d. Alt. 35 (1891) p. 182 f. über das in einem mhd.
Gedicht des Heinrich von Veldeke vorkommende Schiff folgendes bemerkt:
'Anderseits erinnert dieses Schiff, das zugleich ein Wagen ist, allerdings an
die deutsche Vorzeit. In den letzteren Vorstellungskreis gehören auch das
Bett, das zugleich ein Wagen ist, das "lit merveille"(Parz. 566, 16; Crestien 9070),
anderseits der Wagen, der als Bett benutzt wird, wie jener, auf dem Karl
Martell oder Karl der Große oder die Nachkommen der auf dem Feldzuge
befindlichen Ritter (Gui de Bourgogne p. 122) gezeugt werden. . . . Vielmehr
wird man durch die Selbstverständlichkeit, mit der in diesem Fall die Sache
vor sich geht, an die alte Wagenburg erinnert, die als Wagen und Woh-
nung zugleich dient.' — Übrigens bedeutet mlat. carrus 'Troßwagen' (s. auch
Litrbl. f. g. r. Ph. 1908, Spalte 231).
2. Ist es möglich, daß der Ausdruck in carro natus mitbeeinflußt bzw.
miterzeugt wurde durch das griechische vöd-osi Dieses Wort bedeutet näm-
lich 'unehelich'.
Schalkhausen bei Ansbach. Walter Benary.
Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Albert Leitzmann, Wilhelm von Humboldt. Charakteristik und
Lebensbild. Mit drei Bildnissen. Halle a. d. S., Niemeyer,
1919. 102 S. 3,50 M.
Unter Deutschlands Gelehrten ist Wilhelm von Humboldt bei der Nach-
welt kein schlechtes Los gefallen. Eine würdige Ausgabe hat seine Werke
und Briefe vereint, und fehlt ihm das ragende Denkmal einer Biographie,
die der Gesamtheit seines Lebens, WoUens und VoUbringens gerecht wird,
so hat die Aufgabe, das Bild seiner Persönlichkeit in großen Umrissen für
alle zu zeichnen, die fähig sind, einen Plauch seines Wesens zu spüren, mehr
als einmal gerade die Berufensten gelockt. Zwischen den einzelnen Ver-
suchen liegt jedesmal ein Menschenalter, einmal einige Jahre weniger, das
zweitemal etwas mehr: voran schreitet ein Altmeister deutscher Lit^ratur-
geschichtschreibung, Rudolf H a y m, mit einem Buche, das er 'Lebens-
bild und Charakteristik' nannte (1856), dann befreite 1881 Alfred Dove
in der Zusammenfassung seiner Beiträge für die Allgemeine deutsche Bio-
graphie eine der schönsten Gaben seiner feinen Feder aus der Abgeschlossen-
heit des großen Sammelwerkes und machte sie der Allgemeinheit zugänglich
(Die Forsters und die Eumioldts) ; jetzt sehließt sich Albert Leitz-
mann, schon als Herausgeber um Humboldt hoch verdient, solchen Vor-
gangern würdig an. Er darf sich rühmen, einen guten Teil des eigenen
Daseins in innigster Gemeinschaft mit dem Genius seines Helden verbracht
zu haben, aus ihr erwuchs ihm das persönliche Bedürfnis, sein Bild vor sich
und anderen erstehen zu lassen; als freie Arbeit entwarf er in glücklichen
Ferientagen seine Skizze aus der Erinnerung au das, was ihm frohes Mühen
in den Schaffenstagen gewesen war — geschrieben ohne gedruckte Hilfs-
mittel, will sie in aller Sachlichkeit doch wirken als Bekenntnis zu einem
Lebensinhalt und verzichtet daher auf alles gelehrte Beiwerk.
Unsere Sache ist es, solche Gabe zu empfangen in dem Geiste, in dem
sie gegeben wird. Die Frage kann nur' sein, ob die Gestalt Humboldts uns
auf diesen Blättern lebendig wird, ob wir den Rhythmus seines Lebens und
Denkens in ihnen spüren. Und dazu haben wir nur ja zu sagen. Nicht
ohne Absicht hat wohl Leitzmann im Titel Hayms Reihenfolge 'Lebensbild
und Charakteristik' vertauscht. Der Freund Schillers und Goethes, der
geistige Vater des humani.stischen Gymnasiums und der Universität Berlin,
der Schloßherr von Tegel ist eine geschichtliche Persönlichkeit, die als solche
das Recht in Anspruch nehmen darf, bei jedem, der einigermaßen teil-
genommen hat am geistigen Leben seines Volkes, eine gewisse Vorstellung
ihres Wesens von vornherein zu erwecken. Gerade darum wird derjenige,
der zu einer Schrift über Humboldt greift, es dankbar begrüßen, wenn er
zunächst seine Vorstellung nachprüfen, berichtigen und vertiefen kann an
einem Gesamtbild der geistigen Art des hohen Mannes; nach solcher Vor-
bereitung ist er erst recht imstande, den irdischen Lebensweg des Genius
zu verfolgen.
Die Eigenschaft, die Leitzmanns Charakterbild als die herrschende im
Wesen seines Helden in den Vordergrund stellt, ist diejenige, die uns
Söhnen einer wirren, ihrer Ziele nicht bewußten Zeit, die neidenswerteste
dünkt: jene Sicherstelligkeit, die Goethe auch an Schiller rühmte, die früh
erworbene, stets bewahrte Ausgeglichenheit eines mit sich selbst einigen
Sinnes, die, auf einer glücklichen Verschmelzung von Verstandes- und Ge-
fühlskräften beruhend, ihm in seinem Innenleben die feste Burg schuf, deren
Frieden diinn.kein Schickisal trüben konnte. Der erst in diesem Jahrhun-
Archiv f. n. Sprachen. 140. j^g
268 Beurteilungen und kurze Anzeigen
dert erschlossene Briefwechsel mit der Gattin gibt Leitzmann die Möglich-
keit, eindringlich zu zeigen, wie die gegebene Anlage durch das Glück dieser
Verbindung erhalten und entwickelt wurde: hatten über des Knaben und
Jünglings Lehrjahren nicht die günstigsten Sterne gewaltet, erklärt sich
aus ihnen jener Zug von Kälte, den mancher später an dem Manne emp-
fand, Karoline brachte ihm die Lebensluft, in der er zu dem wurde, wozu
er bestimmt war, und so wird denn das Charakterbild Wilhelms zu gleicher
Zeit zur lebendigen Veranschaulichung einer Seelengemeinschaft zweier
hohen Naturen, wie sie von so idealer, geistig gesegneter Art zu den
höchsten Gütern dieses Erdenlebens gehört.
Wie die Charakteristik kann auch das Lebensbild nur eine Skizze sein,
aber der Meister seines Stoffes versteht, auswählend und zusammenfassend,
auf einer mäßigen Anzahl Seiten Schicksale und Taten, Geplantes, Entwor-
fenes und Vollbrachtes lebendig an uns vorüberziehen zu lassen. Wir lernen
verstehen, wie dieser reiche Geist sein Genügen daran hat, über ihn be-
wegende Fragen sich selbst klar zu werden, und dann sich neuen zuwendet,
ohne sich darum zu sorgen, vor anderen die Fülle des Erkannten auszu-
breiten. Der Staatsdienst, dem er um der glücklichen Muße seiner Thü-
ringer Tage, um der Lust seiner weiten Bildungsreisen willen so leichten
Herzens den Rücken gewandt hat, hält dann doch den wie für ihn ge-
schaffenen römischen Gesandtschaftsposten für ihn bereit, und durch die
Zeit der Not und Erhebung schreitet er, der Erfolge froh und bittere Ent-
täuschung tragend, den Tagen des Alters entgegen, da ihm und uns die
letzten Früchte seiner Forschungen reifen. So entwirren sich uns die
Fäden eines reichen Lebens, wir erhalten Einblick in die Werkstatt des un-
ermüdlich tätigen Denkers, Forschers und Dichters: schmerzlich berührt
noch heute das Verhängnis, daß der Preußische Staat in den Jahren seines
Ausbaues einen seiner erleuchtetsten Männer scheiden ließ — darf ein
Wunsch ausgesprochen werden, so wäre es der, daß Leitzmann bei einer
Neuauflage auch zu diesem Punkt (S. 73 ff.) keinen anderen sprechen lasse
als Humboldt und sich selbst: das Zitat eines Dritten, mag es noch so
treffend die tiefsten Gründe für Humboldts Scheitern formulieren, wirkt als
ein Fremdkörper in der einheitlichen Darstellung.
Berlin-Lichtenberg. Albert Ludwig.
Gertrud Bäumer, Goethes Freundinnen. Briefe zu ihrer Charakte-
ristik, ausgewählt und eingeleitet von G. B. 2. Aufl. Leipzig
und Berlin, Teubner, 1919. V + 464 S. und 12 Bildnisse.
Schon beim flüchtigen Durchblättern des Buches fällt einem zweierlei
gegenüber der 1. Auflage angenehm auf: einmal ist das Schriftbild gefälliger
und klarer geworden, und zweitens sind die Bildreproduktionen jetzt bei
weitem einheitlicher im Ton aufeinander abgestimmt. Sein Anwachsen
(gegen IV -(- 318 S. der 1. Aufl.) verdankt das Buch den neuaufgenommenen
Kapiteln 'Frau Aja' und 'Friederike Brion', sowie der Neubearbeitung der
Abschnitte 'Die schöne Seele' und 'Christiane'. Mit der Aufnahme der Frau
Rat (deren Bild an Stelle des der Sus. v. Klettenberg getreten ist), dieser
ältesten und treuesten Freundin Goethes, ist wohl manchem Leser ein lang-
gehegter Wunsch erfüllt. Die unter ihren Briefen getroffene Auswahl reiht
sich den übrigen würdig an. Auch das Sesenheimer Idyll mögen wir nicht
missen in einer Darstellung der Frauen, die um Goethe waren. Daß in den
Briefen der Susanna von Klettenberg der erste, für die Verfasserin doch recht
charakteristische Abschnitt des Briefes an Wenzel Neisser durch eine zu-
sammenfassende Anmerkung ersetzt worden ist, kann ich nicht als Vorteil
empfinden, ebensowenig das Fehlen ihres Bildes (es sollte wohl die Zwölf-
zahl gewahrt bleiben) ; zu begrüßen sind die neu hinzugefügten erklärenden
I
Beurteilungen und kurze Anzeigen 269
Anmerkungen, vor allem aber die Aufnahme des bezeichnenden Briefes an
Moser. Ganz verändert hat sich die Darstellung der Christiane Vulpius, auf
Grund der neuen Ausgabe ihres Briefwechsels mit Goethe von Graef. Außer
der völlig umgearbeiteten und vertieften Einleitung sind noch manche Briefe,
namentlich Christianes, eingeschoben, die ihr Bild um diesen und jenen
charakteristischen Zug bereichern. Offenbar hat die Verfasserin nach dem
Erscheinen des obengenannten Briefwechsels ihre der breiteren Lesermenge
gegenüber abweisende Haltung betr. der Darstellung Christianes, wie sie sich
in der Einleitung der 1. Auflage zu erkennen gab, geändert und statt dessen
sich nun bemüht, in uns mitfühlendes Verständnis für diese Natur und die
Rolle, die sie neben Goethe zu spielen berufen war, zu wecken. Man lese
nur den Brief, in dem sie ihrer Freude über den 'Gruß der lieben Mutter'
rührenden Ausdruck gibt, oder die naiv-drollige Darstellung ihres Reise-
abenteuers in Neuhof, wo sie 'mit 2 Pistolen durch ein 50 Mann ins Haus'
ging, ohne daß einer 'piepste'.
Fraglos wird sich das Buch in der neuen Fassung neue Freunde erwerben.
Ein störender Druckfehler ist stehengeblieben: S. 83, in der Anmerkung:
1862 statt 1762; auf S. 254 unten steht noch der Hinweis auf S. 213 (der 1.)
.«tatt S. 325 (der 2. Auflage).
Hannover. H. Beyer.
Paul Lehmann, Wert und Echtheit einer Beda abgesprochenen
Schrift (Sitz.-Ber. Bayer. Ak. d. Wiss., Philos. Kl. 1919, I).
München 1919. 21 S.
Giles hat in seiner Gesamtausgabe Bedas wie manche kleinen Dichtungen
so auch den Liber Quaestionum über Bibelstellen und dogmatische Fragen
nicht abgedruckt, und Migne ihn unter Spuria eingereiht. Zuerst Oudin
sprach die Schrift Beda ab. Wie Lehmann .scharfsinnig und mit staunens-
werter Belesenheit in karolingischer Theologie erweist, mindestens teilweise
mit Unrecht! Nämlich Smaragd, Claudius von Turin, Hraban, Haimo haben
sie benutzt und teilweise als Beda zitiert. Beda selbst freilich führt das
Schriftchen im Katalog seiner Werke nicht auf. — Zu profundum maris
in der Leidensgeschichte des Apostels Paulus (2. Kor. 11, 25) lautet Bedas
Erklärung: so hieß eine tiefe Grube für Sträflinge zu Kyzikos, laut [münd-
licher?] Exegese Erzbischof Theodors. Wie in der Eistoria ecclesiastica oft,
erscheint also dieser Metropolit Englands aus Tarsos auch hier als Ver-
mittler römisch-kirchlicher Bildung. — Paläographie und Kunstgeschichte
tnögen den spärlichen Zeugnissen ums Jahr 700 einreihen die Bemerkungen,
daß in Bibelbüchern nomen Dei in leuchtendem Gold und Überschriften minio
(rot) eingetragen vorkommen, und daß in der Wandmalerei der 'Äthiope'
[Neger, Teufel] schwarz, dagegen candidi corporis sive capilli Saxo er-
scheine. [Der Angelsachse, einschließlich Nicht-Sachsen, heißt Sachse auch
bei anderen Anglen, so Alcuin (meine Ges. d. Agsa. II, 283 n. 1) und
Stephan. Ripon, V. Wilfr. 19; ferner nennt ihn so Papst Vitalian bei Beda
III, 29. — Die Hellfarbigkeit von Haut und Haar seines Stammes hebt
Beda auch sonst hervor.] — Die Geißelung des Apostels nach jenem Briefe
erklärt Beda aus pictura libri, quem doctissimus vir Cudvin Orientalium
Anglorum antistes, veniens a Roma, secv7n in Britanniam detulit, in quo
videlicet liiro omnes [s. Pauli] pa^siones sive lahores per loca opportuna
tränt depicta. Bedas Anteil an illustrierten Codices und manche englische
Handschrift, die auf Vorbilder Roms zurückgeht, ist bekannt. Während
diese Passiones s. Pauli verschollen sind, besitzt Antwerpen die Kopie zehn-
ten Jahrhunderts von einer anderen Bilderhandschrift Cudwines, einem
Sedulius. — Cuthwin erscheint in der [bereits ins neunte Jahrhundert hin-
aufreichenden] Liste der Bischöfe Ostangliens [ed. Sweet Oldest Engl, texls
18*
270 Beurteilungen und kurze Anzeigen
168] ; er war nach dem Verfasser, um ein Menschenalter früher als man bis-
her annahm, nach 716 und vor 731 Bischof. [Es lebten damals zwei andere
Geistliche desselben Namens : ein Bischof von Leicester und der Adressat des
Briefes über Bedas Tod.]
Berlin. F. Liebermann.
H. Thiemke, Die me. Thomas Beket-Legende des Gloucesterlegen-
dars. Kritisch herausgegeben mit Einleitung. (Palaestra 131.)
Berlin, Mayer & Müller, 1919.
Schon ten Brink^ lobt die Thomas Beket-Legende, die 'durch historischen
Ton und durch den Umfang der Darstellung aus dem Kreise der übrigen
Legenden heraustritt, den sie übrigens in würdiger Weise beschließt'. Seinem
Urteil schließt sieh Schofield^ an: 'Its (des Gloucesterlegendars) prevailing
mediocrity is occasionally relieved, however, by a spirited piece like the life
of Thomas ä Becket, which is füll of feeling and impressions.' So ist denn
eine Einzelausgabe nach allen IIss. durchaus gerechtfertigt-
Die Einleitung bespricht in herkömmlicher Weise zuerst Überlieferung,
dann ausführlicher die Frage nach der Quelle, fügt einzelnes über die Eigen-
art des Verfassers bei, geht auf die Frage des Verhältnisses das Chronisten
'Robert von Gloucester zum Legendär ein und behandelt endlich kurz Metrik
und Sprache des Denkmals.
Die Gruppierung der Hss., wie sie für die Textkritik nötig ist, innerhalb
der zwei durch die verschiedene Fassung der Geburtsgeschichte des Heiligen
gegebenen Hauptgruppen gelingt Th. durch Nachweis recht deutlicher
Fehler, nur zwei Hss. kann er nicht genau einordnen. Freilich stimmt sein
Stammbaum mit dem von Balz* für die Brendanlegende desselben Legendars
aufgestellten nicht ganz überein. Th. bemüht sich, dies durch eine Reihe
mehr allgemeiner Gründe zu erklären (S. VII — IX), wie fehlenden Gliedern,
der Möglichkeit der unabhängigen Entstehung desselben Fehlers bei zwei
Schreibern, des Diktierens in den 'Hss.-Fabriken' in den Klöstern und des
Mangels an positiven Fehlern. Er hätte auch das Korrigieren von Fehlern
durch intelligentere Schreiber und die Benutzung von zwei Vorlagen er-
wähnen können. Besonders so deutliche Fehler, wie einige derjenigen sind,
auf welchen sein Stammbaum beruht, sind auch von mittelalterlichen Schrei-
bern leicht zu entdecken. Im übrigen sind die Verschiedenheiten zwischen
Th. und B. sehr gering, ja, bestehen eigentlich nur darin, daß Hss. M
(= Ashm. 43, Bodl. aus d. Anf. d. 14. Jahrh.) und R {= Trinity Coli. Cam-
bridge! R 3, 25; Alter: Wende des 14. und 15. Jahrh.), also zwei zeitlich
ziemlich auseiuanderliegende, die kaum direkt auf dasselbe Original zu-
rückgehen, bei Balz nahe verwandt erscheinen, bei Th. entfernter, wenn
auch in derselben Hauptgruppe. Daß Th.s zwei Hauptgruppen bei B. nicht
erscheinen, hat nichts zur Sache, da ja auch in ihrem Stammbaum die Hss.
mit der Geburtsgeschichte nach Fassung c eine ■ — zwar mit einigen Hss.
der Gruppe b näher als mit anderen derselben Gruppe & verwandte — Son-
dergruppe bilden, was damit zu erklären wäre, daß- ihr gemeinsames Ori-
ginal die Geburtsgeschichte a anderswoher bezogen hat, als sämtliche andere
Hss. des Legendars.
Die ausführliche Quellenuntersuchung erweist äußerst einleuchtend auf
Grund übersichtlicher Zusammenstellung von gleichen und verschiedenen
1 Geschichte der englischen Literatur I, 342.
2 Engl. Lit. from the Norman Conquest to Chaucer (Lond. 1906) S. 394.
* Martha Balz, Die me. Brendanlegende des Gloucesterlegendars. Ber-
liner Diss. 1909.
Beurteilungen und kurze Anzeigen 271
Motiven in der engl. I^egande und den in Betracht kommenden Quellen, daß
der sogenannte Quadrilogus, eine lat. Kompilation aus vier vitae des Hei-
ligen, die Vorlage der me. L-egende war.
Bezüglich der Verfasserfrage meint Th. vorsichtig (S. LX), daß sich die
Frage, ob die Legende auch vom Chronisten Robert verfaßt sei, mit Sicher-
heit weder bejahen noch verneinen lasse. Er hat damit wohl sicher recht,
wenn er auch den Hauptgrund, warum sich bei allen derartigen Unter-
suchungen an me. Denkmälern beinahe stets ebensoviel Gründe für wie
gegen gemeinsame Verfasserschaft finden lassen, nicht erwähnt: die Vor-
untersuchungen, wieweit mittelmäßige me. Dichter überhaupt originell und
nicht rein handwerksmäßig schreiben, fehlen und entbehren, da wir nur von
so wenigen Dichterpersönlichkeiten sämtliche Werke, soweit sie überliefert
sind, kennen, wohl auch jeder sicheren Grundlage. Wir wissen daher nie,
was persönliche Eigentümlichkeit, was handwerksmäßige ist und was wie-
derum Eigentümlichkeit eines Standes, eines Klosters usw. war. Das
gleiche gilt für die erst recht ergebnislosen metrischen Untersuchungen, in
denen Th. übrigens hauptsächlich an Balz und ihren überscharfsinnigen
Schlüssen Kritik übt.
Sprachlich bietet die Legende nichts Interessantes.
Der Text folgt der üblichen Art me. 'kritischer' Texte: eine, womöglich
die älteste Hs. bietet die Grundlage, und sie wird nach den aus dem Stamm-
baum abzuleitenden Grundsätzen verbessert.
Wien. Karl Brunner.
Maria Born, Die englischen Ereignisse der Jahre 1685 — 1690 im
Lichte der gleichzeitigen Flugschriftenliteratur Deutschlands.
Dissertation. Bonn, Georgi, 1919. 194 S.
Die Flugschrift der Neuzeit bringt- dem Historiker nur selten eine be-
stimmte neue Tatsache; wohl aber erhellt sie die damalige öffentliche Mei-
nung oder die Richtung, in der Politik, Gesellschaft und Intelligenz der
leitenden Mächte sie zu beeinflussen strebten. Was Fräulein Born hier
fleißig sammelt, genau verzeichnet, nach guter Schulung kritisiert und a.uf
merkwürdigen Inhalt hin umsichtig auszieht, zeigt, welchen Wert England,
Niederlande und Frankreich auf die Meinung der Deutschen legten, wie aber
auch Deutschland begriff, welchen entscheidenden Einhalt Oraniens Triumph
dem Jesuitismus und auf Europas Festland der Übermacht Frankreichs ge-
bot. Den Streit zwischen Absolutie und Volkssouveränität erörtert der
Deutsche aus naturrechtlichen Kategorien, ohne besondere Kenntnis von
britischer Verfassungsgeschichte, meist als loyaler LTntertan mit Tadel gegen
Unbotmäßigkeit und Neuerungssucht des Engländers; ein Parteigänger
Oraniens erklärt dagegen Jakob II. Todes schuldig. Die inneren Verhält-
nisse der Insel treten so sehr zurück, daß die Bill of rights unerwähnt
bleibt; nur eine Schrift gibt verständig die gegenwärtige Steuerlast in Eng-
land nicht der L^mwälzung von 1688, sondern dem sie verursachenden vor-
herigen 'Regimente schuld. Ein kluger Staatsmann rät [vielleicht aus Kennt-
nis der Tudor-Politik], wer die Engländer unterdrücken wolle, mfisse ihnen
den Schatten der Freiheit lassen.
Etwa neunzig Blätter und Hefte verwertet die Verfasserin, wohl die
Hälfte oder ein Drittel, wie sie schätzt, vom einst Vorhandenen: es sind das
Staatsurkunden, politische Aufrufe, amtliche Denkschriften, parteiliche
Tagesberichte, wirkliche oder vorgebliche Briefe, zeitgenössische Betrach-
tungen, ein für Geschichte des Staatsrechts interessanter Prozeß zwischen
König und Volk, mit Selbstverteidigung der personifizierten raison d'etat,
Predigten, Spottlieder mit Wortwitz, erfundene Dialoge bis fast zu drama-
272 Beurteilungen und kurze Anzeigen
tischer Höhe, ein Ora.kel Apolls auf dem Parnaß, ein Höllenfest und Toten-
g-espräche: Karl II. und Monmouth warnen Jakob aus dem Grabe. Um die
Objektivität des Zuschauers zu erheucheln, verkleidet sich ein politischer
Satiriker gegen die Franzosen als Lappe. — Das meiste ist aus den
Sprachen jener drei Westmächte oder dem Latein nur abgedruckt oder ins
Deutsche übersetzt oder doc-h stofflich dorther geschöpft. Als Druckort wird
genannt London, Amsterdam, Hamburg, Köln oder ein erfundener Stadt-
namen; zumeist fehlt er; öfters wird als Verleger Marteau [Hammer]
fingiert. Holland, wo die Protestanten Ludwig XIV. angreifen durften,
rühmte sich der freien Presse, die sich gelegentlich sogar gegen den Oranier
vorwagte, während in nachbarlichen Monarchien die öffentliche Stimme ver-
sklavt sei. — Die weitaus größere Zahl der Stücke sind an- oder
Pseudonym. Der Parteistandpunkt erhellt bei der Derbheit des Ausdrucks
freilich leicht. Fräulein Born entdeckt als Verfasser einiger Stücke Leti,
Karls IL Historiographen, den Ratspensionar Fagel und Burnet, des Ora-
niers Freunde. Letzterer Bischof benutzt für seine Geschichte einige dieser
Schriften. Mehrere Stücke vermag die Vf. einer Feder zuzuschreiben oder von
einander abhängig zu erklären. Als Quellen erweist sie das papstfeindlich
interpolierte Book of common prayer, ferner Tho. Smith De repuMica Angl.
(1583) ; die dahinter gedruckten Relationen sind von Pufendorf benutzt, der,
besonders für die Nationalcharakteristik der Engländer, vielen dieser Flug-
schriften vorlag. Man wähnt, sie würden, durch üppiges Leben verweich-
licht, den Holländern in den Kolonien nicht widerstehen können! Eben-so
wertlos sind die Gerüchte, die den Haß gegen die Jesuiten beweisen und
schüren wollen: Karl IL sei von ihnen und Jakob umgebracht, und des
letzteren Sohn nur untergeschoben, ja habe zum pater den Pater Petre.
Als Monmouths Mutter wird irrig eine Kölnerin Ursiner ausgegeben. —
Anderswo erscheint manche Idee, die nicht Wirklichkeit wurde, z. B. daß
der Oranier die Macht ohne den Maria allein vorbehaltenen Königstitel
empfangen solle. — Die verständige Verfasserin überschätzt demgemäß auch
keineswegs die Bedeutung dieser ihrer Funde. Dennoch bleibt viel daran
bemerkenswert für den Historiker der internationalen Politik und Kultur.
Hier einige Proben.
Frankreich steht überall im Vordergrunde. Man tadelt, daß Karl IL
ihm Dünkirchen verkaufte. Es suche die Krone der Stuarts mit dem Parla-
mente und Holland zu verfeinden und zu schwächen, um mit ihrer Hilfe
letzteres niederzuwerfen und dominium, maris zu erlangen. Jakobs Fran-
zosenfreundschaft entfremde ihm das Volk Englands und vernichte den letz-
ten Schutz gegen Frankreichs Tyrannei über Europa. England möge viel-
mehr, wünscht Chr. Weise schon 1698, das Zünglein an der Wage zwischen
den streitenden Großmächten bilden. Die mehrfach vorkommende Gleich-
gewichtsidee entstammt wohl Pufendorf. — Zum Schutze des Handels gegen
Seeräuber möchte einer die Küste Nordafrikas von Frankreich und England
gemeinsam besetzt sehen. Ein anderer durchschaut, des Dreißigjährigen
Krieges eingedenk, das Kunststück machtgieriger Fürsten, die Völker
thyrso relifjionis zu fanatisieren. In einem 'Streite der Nationen' erscheint
schon 1690 der Deutsche als der objektive Europäer. Sogar der Holländer
wünscht jedem Lande Konfessionseinheit; nur der Deutsche spricht für
religiöse Duldung; obwohl antifranzösischer Protestant, tadelt dieser Ge-
rechtigkeitsfanatiker die Thronfolge Oraniens als Rechtsbruch und betet für |
den inneren Frieden — — Großbritanniens. [Wir kennen seines Geistes
Enkel 1918.] — M. Born hat mit dieser Erstlingsarbeit sich um die Ge-
schichte der politischen Ideen wohlverdient gemacht; in künftigen Werken,
die die Wissenschaft von ihr erhofft, erbitten wir zugunsten eiliger Benutzer
eine durchsichtigere Anordnung.
Berlin. F. Liebermann.
I
Beurteilungen und kurze Anzeigen 273
Anna Jacobson, Charles Kingsleys Beziehungen zu Deutschland.
(Anglistische Forschungen, hg. von Hoops, Heft 52.) Heidel-
berg 1917.
Diese dankenswerte und fleißige Studie ist wohl durch den Krieg an-
geregt worden, als ein Nachweis willkommen sein mußte, daß selbst ein
schon in seinem Gehaben bewußt die besten Überlieferungen Alt-Engländer-
tums zur Schau tragender Dichter, ein Geistlicher, der die englische Staats-
kirche so ungemein hoch einschätzte, wie Charles Kingsley, deutsches Den-
ken, deutsche Dichtung, ja selbst Deutschlands Weltstellung so ganz anders
einschätzte als die Engländer der Gegenwart. Er stand hierin freilich
nicht allein, sein Freundeskreis teilte dieselben Ansichten, und ihnen allen
hat Coleridge und Carlyle als Brücke gedient.
In — wohl erschöpfender — Kleinarbeit weist die Verf. Kingsleys per-
sönliches Verhältnis zu Deutschen und Deutschland nach, unter den ersteren
sind vor allem der preußische Gesandte Bunsen und der Oxforder Professor
für Sprachwissenschaft Max Müller bedeutungsvoll; dann spricht sie von
Kingsleys Beziehungen zur deutschen Sprache, die er recht gut beherrschte,
dann von denen zur deutschen Literatur, Philosophie, Theologie, endlich den
weniger wichtigen zu deutscher Sprach- und Geschichtswissenschaft, Natur-
wissenschaft, Malerei und Musik. Das Schlußkapitel handelt von Kingsleys
Stellungnahme zur deutschen Nation seiner Zeit, besonders während des
Krieges von 1870/71, während dessen er in einer Reihe von Briefen voll-
ständig auf deutscher Seite steht und die deutschen Ansprüche auf Elsaß
ohne jede Einschränkung billigt, bevor man vielleicht in Deutschland an
;eine Annexion zu denken wagte. Zahlreich sind die von der Verf. angeführ-
'ten Stellen aus Kingsleys Werken, welche Beeinflussung durch deutsche Lite-
ratur zeigen oder auf diese direkt anspielen. Sie muß aber doch zusammen-
fassend bemerken (S. 100) : 'Als Vermittler deutschen Geistes spielt Kingsley
nur eine untergeordnete Rolle, im wesentlichen ist er ein Träger und Verbreiter
von deutschen Gedanken, die bereits mit englischen Augen gesehen sind.'
Wenn sie fortfährt: 'für seine persönliche und dichterische Entwicklung
aber sind die Beziehungen zu Deutschland von weittragender Bedeutung",
so geht dies aus ihrer Studie nicht mit überzeugender Deutlichkeit hervor.
Sicher ist, daß Kingsley seine sozialpolitischen und religiös-ethischen Ge-
dianken, derentwillen ihm ja vor allem der Nachruhm sicher ist, nicht
direkt aus Deutschland geholt hat. Für sie ist einerseits Carlyle, anderseits
S. T. Coleridge, der ihm durch F. D. Maurice nähergebracht wurde, maß-
gebend. Von diesen beiden geht der Gedanke des werktätigen Christentums
und die Hochschätzung der anglikanischen Kirche aus ('Das Christentum ist
nicht eine Theorie oder eine gelehrte Spekulation, sondern Leben'; vgl.
B r an d 1, Coleridge S. 380, 401 f. und 404 f.), von ersterem so ziemlich alle
sozialpolitischen Ideen der Christlichsozialen, so die Notwendigkeit innerer
Umwandlung und nicht politischer Maßnahmen zur Linderung der sozialen
Mißstände, wie denn überhaupt die Abkehr von der utilitarischen Weltan-
schauung. Wieweit er hierbei von Deutschland, besonders von Goethe an-
geregt wurde, vgl. G. v. Schulze-Gävernitz, Carlyle 2 S. 192 f.
Coleridge und Carlyle waren für das damalige England die Vermittler
deutscher Gedanken, sie führten die Reaktion gegen das achtzehnte Jahr-
hundert und holten ihr Rüstzeug aus Deutschland ( J. St. M i 1 1, Antobio-
(jraphy Ch. V). Freilich, Kingsley hat, durch sie angeregt, auch ihre
Quellen im Original gelesen, was der Verf. zu beweisen sicher gelungen ist,
so daß sie sich S. 3 mit 'Recht gegen W. Fischers Behauptung (Literatur-
blatt f. germ. u. rom. Phil. Nov./Dez. 1916, S. 362) wendet, 'daß Kingsley die
deutschen Idealisten und überhaiipt die deutsche Literatvir nur indirekt,
d. h. über Carlyle kennengelernt hat'; eine zusammenhängende Darstellung
des unmittelbaren Einflusses der Deutschen auf Kingsleys Werden und auf
274 Beurteilungen und kurze Anzeigen
seine dichterische Eigenart ist sie uns aber schuldig geblieben. Ihre Zu-
sammenstellungen bilden aber hierfür eine äußerst schätzenswerte Vorarbeit.
Wien. Karl Brunner.
Theodore Roosevelt, History as literature, and otlier essays. New
York, Scribner, 1913. 310 S. 1,50 $.
Nach zwei Seiten hin ist es interessant, diese kurz vor dem Kriege ver-
faßten Reden und Aufsätze des kürzlich verstorbenen Expräsidenten jetzt
nachzulesen: in politischer Hinsicht und im Vergleich zur Geschichts-
methode des Carlyle.
Politisch im höchst«n Grade ist die Rede, die Roosevelt 1910 in Oxford
hielt: Biological analogies in history. Er betont da zunächst die Gemein-
samkeit der Angelsachsen dies- und jenseits des Atlantik in Blut und Bil-
dung. Er erinnert an den Niedergang der Holländer und der Italiener, die
da glaubten, they could hire athers to do their fighting . . . they refused in
'times of peace to mako ready fleets (S. 69,) . . ., sie hatten aufgehört, to
bring forth fightcrs (S. 71) — wie anders die Japaner! Er vergleicht das
englische Weltreich mit dem altrömischen und sagt dann den Americans and
'you people of the British Isles eine Lehre, die den anti-imperialists as little
fcusagen werde as it would suit a certain type of forcihlc-feehle imperialists
(S. 81), nämlich: Bowevcr the hattle may go, the soldier worthy of the
name unll unth utniost vigour do his alloftcd task (S. 83) . . . for so shall our
seed inherit the earth (S. 84,). Kriegsvorbereitung, allgemeine Wehrpflicht,
großer Flottenba.u werden da bereits eingeschärft und ein ganz weitgehender
Imperialismus gepredigt, und zwar mit alttestamentlichen Gottesworten.
Aber am Schluß vergißt Roosevelt nicht, diesem Programm noch ein modern-
ethisches Mäntelchen umzuhängen. Als justification für die bevorstehende
Eroberung soll immer deren lenefit für die beherrschte Rasse dienen, wie
bei Indien, Ägypten und den Philippinen (S. 90), und justice solle gelten
für jedermann to earn front, life the reward which shotiJd always accompany
thrift, soiriety, self-control, respect for the rights of others, and hard and
^intelligent toork to a given cnd (S. 91). Also der Eroberte muß sich noch
bedanken, daß er die vom Eroberer vorgesteckte Arbeit tun und dann ein
Küchenleben führen darf. Der Schluß ist Aufforderung an die Engländer
zu eifrigem Mittun bei solch 'frommer' Kraftleistung. Der Cromwellische
Geist der Gewalttätigkeit unter puritanischer Verbrämung weht in diesen
Sätzen, und hätten wir sie früher fleißiger studiert und expliziert, so hätten
viele unserer Landsleute die Versprechungen Wilsons richtiger eingeschätzt.
Im Gegensatz zu dieser Oxforder Rede stellt uns Deutschen die Berliner
Rede vom Mai 1910 nur eine allgemein menschliche Zusammenarbeit mit
Amerika auf geistigem Gebiet in Aussicht; sie bringt ein Kompliment für
den hellen Verstand des Großen Friedrich vor, das offenbar für das Ohr des
zuhörenden Kaisers berechnet war, erwähnt die Fruchtbarkeit der deutschen
Mütter, die bekanntlich unseren Feinden besondere Angst einflößte, und
kehrt immer wieder den nationalen Gegensatz zwischen Deutschland und
den Vereinigten Staaten heraus. — Bedeutend wärmer hatte Roosevelt
einige Wochen vorher in Paris die republikanische Gemeinsamkeit gefeiert,
Gesundheit des Körpers und Vermehrung der Geburten gerühmt und es für
die Freiheit, ja die Pflicht jedes Volkes erklärt, to judge for itself in mat-
ters of vital importance (S. 171), wobei die elsässische Frage zwar nicht
genannt, aber deutlich gemeint ist. Gäbe es einen Preis für Kriegsstifter,
Roosevelt hätte ihn redlich verdiente
Von den kleineren Aufsätzen wendet sich der über The thraldom. of
: namcs gegen die einseitige Verherrlichung von freedom und order und emp-
fiehlt gegenüber den Trusts einen gewissen cöUectivism. Eine Kritik von
Beurteilungen und kurze Anzeigen 275
H. St. Chamberlains 'Grundlagen des neunzehnten Jalirliunderts' bekämpft
dessen germanische Eassenidee. Andere Artikel sind rein literarisch und
zeigen die Schwäche des Verfassers in nichtpolitischen Dingen. Nur der
Eingangsessay, betitelt Eistory as literature, weckt noch unsere Aufmerk-
samkeit wegen seiner Stellungnahme zu Carlyle.
Der schottische Geschichtspädagoge wird darin, was Ziel und Stil der
Vergangenheitsdarstellung betrifft, von Roosevelt unbedingt anerkannt. Der
Historiker soll das Gewesene zu neuem Leben erwecken und zu moralischer
Wirkung bringen; er soll lesbar schreiben und als Persönlichkeit anziehen;
die Wahrheit darf er nicht verlassen, aber das Gegenwartsbedürfnis hat
ihm Auslese und Farbe zu bedingen. Man kann sagen, daß beide Männer
die Ausbeutung der Geschichte zu aktuellen Zwecken unter ethischer Form
betreiben, und dabei kommt die Wahrhaftigkeit bei beiden zu kurz. Aber
in einem Punkte ist Eoosevelt mit Carlyle unzufrieden : in der Geschichte
Friedrichs II. habe letzterer 'pretended to discern morality where- no vestige
of it existed (S. 20). Die Moral, die Carlyle da fand, sei nur die des Alten
Testaments gewesen, nicht die des Neuen. Unwillkürlich fragt man, ob
etwa Roosevelts eigene Ansprüche auf ags. Weltherrschaft unter Hinweis
auf althebräische Landverheißungen zur Bergpredigt passen? Was Roose-
velt hier gegen seinen Lehrer und Meister sagt, gilt wenigstens ebenso von
ihm selber. Viel mehr noch als der hochkonservative Weise von Chelsea
hat er seine imperialistischen Tendenzen durch geschichtliche Argumente
zu beflügeln getrachtet. Er nennt dies Überwindung der dry-as-dusts. Ich
will lieber ein wissenschaftlicher Pedant heißen, als durch einseitigen
Wissensschein die Leute zu einer widerrechtlichen Ausnutzung politischer
Gelegenheiten verleiten, die doch auf die Dauer niemals Bestand haben kann.
Berlin. A. B r a n d 1.
Neue Tauchnitzbände. Vol. 4527: C. N. and A. M. Williamson,
The Wedding Day. — Vol. 4528: Arnold Bennett, The Truth
about an Author. — Vol. 4530: H. B. Marriott Watson, The
Excelsior. Leipzig, Bernhard Tauchnitz, 1919. Je 4 M.
Die Tauchnitzsammlung hat während des Krieges in einer Anzahl von
Bänden ältere Werke, z. T. wissenschaftlichen Charakters, gebracht und
dadurch in sehr dankenswerter Weise manche Lücke in ihren Reihen er-
gänzt; daß sie nunmehr darangeht, ihr altes Amt, die Kenntnis neuerer
Erscheinungen, vor allem der erzählenden Literatur, dem Festlande zu ver-
mitteln, werden alle begrüßen, die wissen, was sie in früheren, besseren
Zeiten in dieser Beziehung geleistet hat. Im alten vertrauten Gewajide
liegen ein paar Romane und zwei in einem Bande vereinigte Essayreihen
vor, die Romane zwar auf etwas kriegsmäßigem Papier, alles aber in klarem,
schönem Druck und zu einem verhältnismäßig immer noch bescheidenen
Preise.
Welche Gesichtspunkte die Verlagsbuchhandlung freilich bestimmt haben,
gerade diese beiden Romane nach so langer Pause zuerst zu bringen, ist
nicht erkennbar, Rücksicht auf besonderen dichterischen Wert ist es wohl
nicht gewesen: was geboten wird, ist Durchschnittsware, wohl noch aus der
Zeit vor dem Kriege stammend, denn kein leises Wörtlein deutet auf die
Erschütterungen hin, welche die Vorgänge der letzten Jahre über die ge-
samte europäische Menschheit gebracht haben. Aber die Aufnahme in die
Tauchnitzsammlung bürgt für einen gewissen Erfolg dieser Romane in
England, für den Literarhistoriker wird es nicht ohne Reiz sein, mit
einigen Worten der Frage nachzugehen, mit welchen Mitteln dieser Erfolg
erreicht wurde, was also auf ein englisches Durchschnittspublikum zur Zeit
ihres Erscheinens wirkte.
276 Beurteilungen und knrz<p Anzeigen
Da ist zunächst zu sagen, daß es sich bei be-iden Romanen um Kriminal-
geschichten handelt, beide setzen mit einem gelJveimnisvoUen Vorgang ein,
dessen Aufklärung das Ziel der Handlung ist, beid e verzichten dabei auf die
beliebte Mithilfe durch den modernen Ersatz für die» Göttermaschinerie, den
Detektiv. ...
Die Führung der Handlung ist charakteristisch verr /schieden: die Wil-
li a m s o n s begnügen sich mit ihrem Anfangsgeheimnis, sie beuten es aus
und führen es in behaglicher Breite nach allen Seiten vor, Watson aber
sucht den Erfolg darin, daß er den Leser durch einen wahreLii Irrgarten von
immer neuen rätselhaften Ereignissen jagt — hier herrscht 'is-Eilzugstempo,
dort die behagliche Gangart der seligen Postkutsche. Das sagt schon, daß
Watson eine moderne Form des Unterhaltungsromans vertritt: i, 'modern ist
der Stoff, ein großangelegter Versicherungsschwindel, bei dem es ' sich um
Millionenwerte handelt, modern das erregende Moment der Handlung ^ T^i,
Erzähler willigt darin ein, die Persönlichkeit eines ihm zufällig ähi"^"^"®°'
sonst wildfremden Menschen anzunehmen — modern die Art, wie dei^ Leser
von einer aufregenden Lage zur andern gepeitscht wird. Im GegensatJ'J' dazu
sind bei den Williamsons die ältesten Motive aus den Tagen der s€pr]ig^'^
Mrs. Radcliffe noch lebendig: da ist das romantisch gelegene Schloß au^"- Q'^""
weltfernen Hebrideninsel Skye, von den schauerlichen Höhlen, über dt^ "^^^
es erbaut ist, führen geheime Gänge zu seinen Gemächern, da gibt^^'.^^
unheimliche Familiensagen, unheilverkündende Geräusche und was soi^'^^^*
noch zum Schauerapparat gehört, und ganz wie in alten Zeiten finc ^'■®''
zu guter Letzt alles seine natürliche und zureichende Aufklärung. "
Da weder Watson noch die beiden Williamsons über den mittleren Durc^j^'
schnitt des Schriftstellers hervorragen, so beherrschen sie nicht den Stot.^^''
sondern werden von ihm beherrscht. Geben wir Watson seinen ganz ur®^'
genügend begründeten Personentausch als Voraussetzung zu, so müßte ef^""
wenigstens suchen, die Handlung einigermaßen überzeugend zu gestaltenj"*
aber in der Freude an den einzelnen spannenden Vorgängen macht er es sich ^^
gar zu leicht, sie zur Kette zusammenzuschmieden, und um zum Ende ge-'®°"
langen zu können, muß er sogar eine neue Person vom Himmel herabfallen"^-
lassen, über deren Anteil an der ganzen Sache der Leser vollständig im'^^
unklaren bleibt. Die Williamsons sind ehrbare Familienschriftsteller, die^"
mit den Motiven des Sensationsromans nur ein bißchen Löwe spielen kön- ^
nen; den Vorwurf leichtfertiger Begründung wird man ihnen nicht machen, '^
aber die traute Überlieferung einer braven Leuten zusagenden Roman- ^
handlung wirft sie aus der begonnenen Bahn: was als spannendes Drama
anhob, versandet zur Marlittiade. Es war ja alles nicht so schlimm gemeint:
der bedenkliche Bräutigam der jungen Lordstochter erweist sich zuletzt doch
als wackerer Mitmensch und möglicher Schwiegersohn, und die beiden .'
Hauptpersonen, der dämonische Rächer eines dunklen Frevels und seine '1*'
Gegnerin, die Taube mit der Schlangenklugheit, werden schließlich, wie es'^^
sich gehört, zum glücklichen Paar. ^^
Alles in allem: die beiden Proben englischen Durchschnitts, von denen [^
die eine im Eisenbahnabteil, die andere am Kaminfeuer soweit ganz unter-
haltsam zu lesen ist, scheinen mir zu zeigen, daß recht grob angewandte
moderne, bedenklich abgestandene alte Mittel zu beträchtlichem Erfolg in
England führen können; diesem Durchschnitt ist der unsere mindestens
gewachsen. Mögen folgende Bände der Sammlung uns Proben aus etwas ,
höheren Lagen des Romanparnasses bescheren ! ".
Bennet ts Buch führt fort aus dem Romanlande in die Welt derer, die (r
Romane schreiben. Die erste Hälfte will the truth ahout an author erzählen: F'"'
es handelt sich um den wörtlichen Wiederabdruck einer schon in den neun-\
ziger Jahren zuerst in der Academy, dann als Buch ohne Verfassernamen /"'
erschienenen Aufsatzreihe. Aus dem Charakter der ersten Veröffentlichung / ?_
ergibt sich, daß es sich nicht um eine eig'entliche Selbstbiographie handelt:!
\i
Beurteilungen und kurze Anzeigen 277
ein Schriftsteller plaudert Zunftgelieimnisse aus, er tut es mit sprühendem
Witz und nie versagender guter Laune; solange er es als Anonymus tat,
erhob er also nicht den Anspruch, den Anteil der Leser für die geistige
Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zu gewinnen, sondern wollte mehr
oder weniger seine Erfahrungen als ziemlich allgemeingültig hinstellen. Da
diese nun dem etwas romantischen Bilde, das sich das große Publikum vom
Dichter macht, gutenteils geradezu widersprechen, so war der Erfolg sehr
geteilt: die wenigen Wissenden verspeisten als köstlichen Leckerbissen, was
dem 'Volk' eben Kaviar war.
Seit der Schleier der Anonymität gefallen ist, hat sich der Charakter des
Buches geändert, obwohl keine Zeile anders lautet. Dadurch, daß der Leser
nun all diese Dinge auf den wohlbekannten Schriftst-eller Bennett bezieht,
schiebt er das Buch in den Bereich der Selbstbiographie, und für eine solche
fehlen viele Dinge, die deren Reiz ausmachen: ihr Gegenstand ist nun ein-
mal nicht bloß der Schriftsteller, der Maler, der Musiker, sondern der ganze
Mensch; ihr Weg führt vom Persönlich-Individuellen zum Typischen, bei
Bennett steht es umgekehrt. Und gerade deshalb regt sich der Zweifel, ob
diese 'truth about an author' denn wirklich die Wahrheit ist.
Nicht als ob Veranlassung wäre, gegenüber der ausdrücklichen Versiche-
rung des Verfassers bei irgendwelchen Einzelheiten einen Vorbehalt zu
machen; die Sache liegt aber so, daß der Journalist die Vorhand vor dem
Eomanschriftsteller hat, und es ist wohl möglich, daß er, um nur nicht zu
idealisieren, sich zu ausschließlich auf den Standpunkt des Pentameters in
jenem Schillerschen Distichon stellt, der von der milchenden Kuh redet.
Denn das ist das A und O von Bennetts Aufsätzen: das Schriftstellerhand-
werk ist ein Handwerk wie ein anderes. Ist eine gewisse natürliche Anlage
gegeben, so hat man nur dafür zu sorgen, daß man das Werkzeug, die
Sprache, zu handhaben lernt, und alles andere findet sich. Nichts von
irgendeiner inneren Notwendigkeit, einem Drange zu sagen, was man leidet:
dieser Jünger Apolls betont immer von neuem, wie er ganz außerhalb jeder
literarischen Luft seine Kinder- und Jünglingsjahre verlebt habe, wie er
durch ganz zufällige äußere Ereignisse zuerst Journalist, dann Erzähler
geworden sei; wenn er von seiner literarischen Tätigkeit spricht, schwelgt
er förmlich in den Ausdrücken des Handwerks — kann man sich etwa
Heyse oder Storm denken, wie sie ihre Erzählungen schier grundsätzlich
nach der Wortzahl, ihre eigene Meisterschaft nach der Anzahl der in der
Stunde gelieferten Worte berechnen?
Daraus ergibt sich für diese Bennettschen Erinnerungen, daß sie von den
Geheimnissen des dichterischen Schaffens nichts verraten; der Tagesschrift-
steller, der hier redet, läßt uns selbst da, wo er künstlerische Fragen streift
(S. 58 f. das künstlerische Temperament, 77 f. die Inspiration), vor ver-
schlossenen Türen stehen. Es kann doch nicht damit abgetan sein, daß man
diese Dinge als vorhanden anerkennt, ihr Auftreten als etwas Selbstver-
ständliches hinnimmt: die Frage ist gerade, wie sie bei einer bestimmten
Einzelpersönlichkeit aus überkommener Anlage und erworbenen Fähigkeiten
erwachsen, wie sie sich entwickeln und betätigen. Aber das wäre für den
'smarten' Tagesschriftsteller ja wohl sentimentalizing, und so hat denn der
Dichter Bennett zu schweigen, wenn wir nicht etwa dem A^erfasser glauben
sollen, daß ein solcher gar nicht vorhanden ist.
Natürlich soll es fernliegen, um dessentwillen, was wir nicht finden,, das
Gebotene zu schmähen. Der Reiz dieser Plaudereien ist in ihrer kecken
Offenheit unwiderstehlich, ganz abgesehen von den anziehenden Einblicken
in das englische Leben, die sie gewähren: was für anschauliche Bilder gibt
es da aus der Redaktion einer Damenzeitschrift, aus dem Allerheiligsten
eines großen Verlegers, aus den Beziehungen zwischen Schriftsteller und
Literaturtrusts, aus der Arbeit der Bücher- und Theaterrezensenten! Die
I Autoren mögen sich freilich bekreuzigen, wenn sie hören, daß diieser
278 Beurteilungen und kurze Anzeigen
britische Rhadamantus ausrechnet, daß er zur Zeit der Abfassung seiner
Skizzen täglich, die Sonntage eingeschlossen, mindestens ein Buch rezen-
siert^e und daß dabei die halbe Million Worte, die er jährlich lieferte, noch
enthielt-en 'one or two books, one or two plays, and numerous trifles not
connected with literary criticism'. Die Frage, ob er denn alle Bücher lese,
die er zu besprechen vorgebe, verneint er auch sehr kühl: wie er trotzdem
meint, allen billigen Anforderungen gerecht zu werden, ist mit aller Sicher-
heit des guten Gewissens auf Seite 104 ff. auseinandergesetzt.
In merkwürdigem Gegensatz zur ersten Hälfte des Bandes steht die
zweit« Literary Taste: how to form it. Dort eine letzten Endes rein prak-
tische Auffassung der Literatur als eines Berufszweiges, hier eine sehr ideale
als eines hohen Kulturbesitzes; dort spricht von Tagesware einer, der sie
selber liefert und wenigstens vorgibt, nichts anderes liefern zu wollen, hier
ein Laienprediger, der den Weg weisen will zu Gütern, die mit dem täg-
lichen Markt nichts zu tun haben. Wir Deutschen haben ein Buch, dessen
Zweck wenigstens verwandt ist: Schönbachs Über Lesen und Bildung,
aber die Ziele des deutschen Gelehrten sind weiter gesteckt, er geht davon
aus, wie man überhaupt lesen soll, vergißt also auch die Bedürfnisse des
Tages an Zeitungen und Zeitschriften nicht, er setzt ernsthaftes Bildungs-
bedürfnis voraus und zieht infolgedessen in seine Betrachtung auch die
großen Meister des Auslandes: er schreibt sein Buch als wissenschaftlicher
Systematiker. Der englische Schriftsteller aber setzt ein eigentliches Bil-
dungsbedürfnis nicht voraus, sondern will es erst wecken; er spricht zu
solchen, denen Geschmack an und Verständnis für Literatur zunächst auf
derselben Stufe stehen wie Kenntnis der neuesten Tänze oder irgendeiner
andern gesellschaftlichen Vollkommenheit. Seine Systematik ist also eine
ganz andere als die Schönbachs: der Deutsche denkt an Bildung, der Eng-
länder an Geschmack.
Wie charakteristisch ist da Bennetts große Ehrfrucht vor dem Begriff
des estäblished classic! Auf eine nähere Begriffsbestimmung läßt er sich
nicht ^ein, abgesehen von der sehr allgemeinen Feststellung, daß das Kenn-
zeichen wahrer Literatur die innere Anteilnahme (emotion) ist, die hinter
ihr steht. Der Leser hat sich nun irgendeinen Klassiker zu wählen und
mit ihm zu ringen, bis er jene emotion empfindet und versteht; er hat sich
gegenwärtig zu halten, daLß er als Leser einer solchen Persönlichkeit in
bester Gesellschaft ist, und hat also den Grund für etwelche Enttäuschung,
die ihn ül:>erkommen will, in sich selbst zu suchen und zu überwinden. Das
ist natürlich sehr schön gesagt, aber ob diese einfache Vorschrift zum Ziele
führt, dürfte in sehr vielen Fällen doch zweifelhaft sein : die Großen des
Geistes haben auch ihrer Zeit ihren Zoll zu zahlen gehabt, und nicht jede
Seite, die sie geschrieben haben, kann unmittelbar zu den Nachlebenden
sprechen. Für Bennett ist literary taste anscheinend etwas, was über jede
Zeit erhaben ist ; in Wirklichkeit ist der Begriff aber sehr starken Schwan-
kungen unterworfen, und wer eine so umfassende Liste von 'Klassikern'
aus mehr als vier Jahrhunderten aufstellt, wie Bennett es tut, müßte doch
wohl dieser Frage nähertreten.
1 Auf Einzelheiten näher einzugehen, scheint sich mir im Rahmen dieser
Besprechung zu erübrigen, so reich diese Aufsätze an gescheiten und an-
regenden Bemerkungen auch sind. Nur noch einiges über Bennetts Listen,
die für den Literarhistoriker besonders wertvoll sind, weil sie zeigen,
welchen Umfang ein Mann wie Bennett dem Begriff classical literature gibt,
was er im besonderen für gegenwartskräftig genug hält, um ungelehrte
Leser des zwanzigsten Jahrhunderts zu fesseln. Auf jeden Fall geben seine
Aufzählungen (bei denen übrigens lebende Schriftsteller grundsätzlich nicht
genannt werden) einen starken Eindruck von der ununterbrochenen Ent-
wicklung des englischen Schrifttums; mag er schon etwas weitherzig sein
und seinen Lesern reichlich viel zutraueto (im einzelnen kritische Einwände
Beurteilungen und kurze Anzeigen 279
zu erheben, kann natürlich kaum des Volksfremden Sache sein), so muß der
Deutsche doch mit einem Gefühl des Neides sagen, daß für sein Volk ent-
sprechende Listen bis in das späte achtzehnte Jahrhundert hinein bedeutend
magerer ausfallen würden. Jedenfalls nennt Bennett manche Namen, die
bei uns den meisten Anglisten von Fach eben nur Namen sein werden, so
unter den Poets von Period I Sir John Suckling und Andrew
M a r V e 1 1 , unter denen von Period III, die bis zur Schwelle der Gegenwart
reicht, George Darley, T. L. Beddoes, J. C. Mangan und man-
chen andern. Vielleicht noch lehrreicher sind die Namen, die er wegläßt, so
in Period I u. a. Sir Philip Sidney, Sir Walter Raleigh,
T h. Heywood, in II den Verfasser der J un i u s briefe, in III Hell am,
Grote, Buckle, John Wilson und — Oscar Wilde, unter den
Dichtern FeliciaHemans und Sir Edwin Arnold, auch M a c a u -
1 a y ('his ill - informed and unjust denunciations live because his
genuine emotion made them into poetry, while his Lays of Ancient Rome
are dead because they are not the expression of a genuine emotion'). Oder
man mustere die Einzelwerke, die er auswählt: wenn er z. B. von Roman-
schriftstellern des neunzehnten Jahrhunderts die Werke von Dickens und
der Charlotte Bronte, die Principal 7iovels von P e a c o c k empfiehlt,
("SO beschränkt er sich bei Thackeray auf Vanity Fair und Esmond (neben
Barry Lyndon und den Roundaiout Papers, bei Scott auf fünf Romane
■(darunter Rcdgauntlet, aber nicht The Bride of Lammermoor oder Eenil-
worth), bei Kingsley auf Westward ho! Eine wehmütige Erinnerung,
wohl auch für England, ist der Kostenanschlag seiner Gesamtklassiker-
bibliothek: sie umfaßt Werke von 226 Verfassern in 337 Bänden und wäre
einst gebunden für f 26 14 s 7 d zu haben gewesen — also 650 M. hätten
reichlich genügt. Junge deutsche Anglisten werden also vorläufig darauf
verzichten müssen, nach seinen Ratschlägen ihre Bücherei zusammenzu-
stellen — vielleicht braucht es aber kein frommer Wunsch zu sein, daß
unsere Bibliotheken ihre Bestände darauf ansehen, ob sie das alles bieten,
was dem Engländer als Mark und Kern seiner klassischen Literatur
erscheint.
Berlin-Lichtenberg. Albert Ludwig.
Emil Winkler, Marie de France. Sitzungsberichte der Wiener
Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, B 188, Ab-
handlung 3. Wien 1918. 130 S.
W. bringt uns eine Arbeit über Marie de France, was an und für sich
sehr löblich wäre, da wir von dieser geheimnisvollen Dichterin des Mittel-
alter» so gut wie nichts wissen. Ihre Werke liegen in guten Ausgaben vor,
aber über ihr Leben und eigentlich auch über ihre Zeit wissen wir nichts
Sicheres. W. sucht zunächst die Punkte, die dafür angeführt werden, daß
M. in England lebte, zu widerlegen. Es geht dabei nicht ohne Gezwungen-
heit ab. S. 19 übersetzt er das
m'entremis de eest livre faire
E de l'Engleis en Bomanx traire (Fabeln, Epil. V 11 f.)
durch: 'ich habe unternommen, dieses Buch zu schreiben, und es, das im
Englischen vorhanden ist, damit auch dem Französischen zu vermitteln'!!
Er findet also für traire eine ganz absonderliche 'Nuance'. Schwierigkeit be-
reitet ihm auch das 'Purgatoire de Saint-Patrice', ein irischer Stoff, der bald
auch in England sehr große Verbreitung fand. Es liegt nun nahe, daß über
einen in England beliebten Stoff auch zunächst in England geschrieben wird.
W. sagt aber S. 49 : 'Konnte . . . der lateinische Traktat nicht bald nach seiner
Entstehung auch dann zu Maries Kenntnis gelangen, wenn sie in Frankreich
280 Beurteilungen und kurze Anzeigen
dichtete?' Natürlich konnte er das, immerhin ist das Gegenteil wahrschein-
licher. W. findet sogar im 'Purgatoire' einen Hinweis, daß Marie in Frank-
reich gelebt habe. Die Schlußverse lauten:
Jo, Marie, ai mis en memoire
Le livre de V Espurgatoire
En Romanx qu'il seit entendables
A laie gent e cuvenables.
,Beim Ausdruck laie gent wird jedermann eher an die Laienwelt Frankreichs
als an die dünne Schicht Franzosen oder, wenn man lieber will, Normannen
denken, die den Hof eines Heinrich II. oder seiner Nachfolger ausmachten.'
Mit dieser Begründung könnte man die Existenzberechtigung sämtlicher in
England nicht für Geistliche bestimmten französisch gedichteten Werke an-
zweifeln. Also, W. greift teils geschickt, teils absolut voreingenommen die
Beweisstücke für den Aufenthalt Maries in England an. Trotz der parteiischen
Beweisführung kann man ihm recht geben, daß diese Frage bei einem non
liquet endet; manches spricht für England, ein durchschlagender Beweis ist
bisher noch nicht erbracht.
Dagegen gibt W. zu, daß M. vielleicht mit dem englischen Hof irgend-
welche Beziehungen hatte. Daß sie adlig war, beweist wohl sicher der Titel
Dame, den ihr Denis Pyramus gibt. W. führt weiter aus, sie dichtet die
Lais nicht en l'onur, sondern pur amur eines Grafen Wilhelm, sie schreibt
sie pur sa preiere. Also ist sie an Rang gleichstehend. Hume ne fem.me de
grant pris in Guigemar bezieht sich kaum nur auf das Literarische, sondern
geht auf ihre adlige Abkunft. Hier zeigt sich wieder der Fehler bei W.,
daß er aus den Worten zuviel herauspressen will. Immerhin ist das — schon
früher bekannte — Resultat richtig, daß M. wohl adliger Abkunft ist und
für ihre Zeit eine gute Bildung besaß. Es folgt dann eine Schilderung ihrer
Stellung und Bedeutung für die Literaturgeschichte. S. 74 ff. gibt W. eine
zusammenfassende Schilderung ihres Lebens nach seiner Untersuchung. Er
erklärt sie für verheiratet, macht dazu S. 74 die Anmerkung: 'Ich weiß nicht,
wie Suchier dazu kommt, von ihrer Unverraähltheit zu sprechen. Nichts recht-
fertigt eine solche Vermutung.' Nichts rechtfertigt die Vennutung W.s! Da
nie Mann oder Kinder erwähnt werden, folgert Suchier die 'Un vermähltheit'.
Die Vermutung liegt durchaus auf selten W.s, der die Beweislast tragen
müßte, was er nicht tut. Dieses konstruierte Lebensbild M.s führt uns zum
springenden Punkte der Abhandlung: Marie de France ist niemand anders
als Marie de Champagne, die Tochter Ludwigs VII. von Frankreich, die
Gönnerin Chretiens und mancher anderer Dichter. Nun findet W. auch den
Vers des Fabelprologs klar: Marie ai num, si sui de France. 'Si sui de
France muß eben ein Teil ihres Namens sein, wie "de Troyes" ein Teil jenes
Chrestiens' S. 77. Also heißt sie Marie de France, was auch alle anderen an-
nehmen. W. fährt fort: 'Aber auch wenn man — wie angeblich Marie —
im Ausland lebt, nennt man sich doch nicht nach seinem Heimatlande, son-
dern eher nach seinem Heimatsort.' Hier schneidet W. ein Problem der
Namenforschung an, das komplizierter ist, als er ahnt. Man nennt sich nach
dem Heimatsort; da sind zwei Möglichkeiten gegeben: 1. Heimatsort mit de,
Typus: Chrestien de Troyes. 2. adjektivisch: Guillaume Lillois, Jehau Char-
train cp. Schultz -Gora, Zeitschrift 37, 236. Aber W. irrt, wenn er meint,
daß man sich nicht nach seinem Heimatlande nennt: Guillaume de Normandie,
der Dichter des 'Besant de Dieu', der sich adjektivisch auch Guillaume le Nor-
mant nennt; die Troubadour Guiraut d'Espa.nha und Peire d'Auvergue; der
Dichter des Silenceromans (cp. meine 'Nature' S. 66 ff.), Heldric de Cornuaille;
die vielen lateinischen Schriftsteller: Johann von Cornwales, Johannes von
Wales, GuillermuB von Apulien, Peter von Dänemark usf. Natürlich ist hier
auch die adjektivische Form vorhanden : Amaut Catala, Peire Espanhol, Guil-
Beurteilungen und kurze Anzeigen v 281
laume Breton, Guillaume Flamant, Henricus Italiens, Johannes Hispanus,
Josephus Scotus, Petrus Lorabardus, Petrus Picardus usf. Also man nannte
sich ebenso gut nach seinem Heimatlande wie nach seinerti Heimatsorte, nach
dem Lande wohl seltener. Schwieriger ist zu ersehen, warum der eine sich
nach dem Ort, der andere nach dem Lande nennt. Sehen wir uns einige
Fälle an: Guillaume de Normandie hat seinen 'Besant de Dieu' außerhalb
Frankreichs geschrieben, cp. Gr. Gr. 693. Vielleicht stammte er aus einem
Orte der Normandie, den man im Ausland (England) nicht kannte. Guiraut
d'Espanha: 'Diese Form [der dansa] ist besonders von G. d'E. gepflegt
worden, der sie wahrscheinlich aus Spanien einführte', Suchier, Literatur-
geschichte S. 72, Also ein Spanier, der in der Provence dichtete. Seinen
spanischen Heimatsort kannte man in Frankreich nicht, also : d'Espanha. Genau
dasselbe ist es, wenn in Italien der Maler Lucas van Leyden in den Museen
als Luca d'Ollanda auftritt. Wer weiß in Italien, was Leyden ist! Und min-
destens so summarisch sind die geographischen Kenntnisse im Mittelalter ge-
wesen. Peire d'Auvergne war ein Bürgerssohn aus dem Sprengel Clermont;
sein Heimatstädtchen kannte außerhalb seiner Provinz kein Mensch, daher
nennt er sich nach dem Lande. Ähnlich mag es mit Heldric de Cornuaille
gestanden haben. Also, unsere Beispiele zeigen, daß Menschen sich nach
ihrem Heimatland und nicht nach dem Heimatsort genannt haben, wenn der
Ort entweder so unbedeutend ist, daß dessen Kenntnis schon außerhalb der
nächsten Nachbarschaft aufhört, oder wenn sie fem von ihrer Heimat lebten,
wo man auch größere Städte ihres Heimatlandes nicht kennt. Leyden ist
eine ganz respektable Stadt, trotzdem: Luca d'Ollanda. So möchte ich auch
wie Suchier 1. c. S. 173 Marie de France erklären: Sie stammte aus irgend-
einem Orte von Francien, im Auslande nannte sie sich nach dem Lande, da
man den Ort nicht kannte. Das spricht mir natürlich für England.
Diese Namensfrage interessiert W. aber nicht weiter, er leugnet einfach
die Existenz der Namengebung nach dem Lande, er hat nämlich eine andere
Erklärung. Si sui de France heißt: Ich bin aus dem Hause Frankreich. Da
W. Namen nach dem Lande nicht kennt, hat er sich auch nicht gefragt, ob
Guiraut aus dem spanischen Königshause (welchem?) stammt, ob Guillaume
Herzog der Normandie war usf. Aber abgesehen davon, hat es mit W.s
Übersetzung schwere Bedenken. In den Chroniken und Urkunden nennen
sich die Mitglieder des königlichen Hauses nie de Francia. Es heißt immer
ßlia oder filius oder frater usf. regts nostri. W. selbst versucht auch gar
nicht, Belege für de France aus dieser Zeit herbeizubringen; in späterer Zeit
steht es bekanntlich anders damit. Ohne darüber zu reden, zitiert er selbst
Stellen des Typus filia regis nostri. S. 82 filiani regis Franciae komme
Mariam. S. 86 filiam Ludovici regis Franciae. S. 87 filiam Ludovici regis.
S. 89 M(aria) Trecensis comitissa ejus dilectissima filia. Dazu aus dem
'Heracle', Marie, fille Loci S. 90. Aus 'Eructavit': jantis suer le roi de France
S. 112. Wenn aber keinerlei Belege beizubringen sind, daß de France in
damaliger Zeit aus dem Hause Frankreich bedeuten kann, dann ist die Hypo-
these W.s schon gefallen. Es bleiben außerdem noch genug Unwahrschein-
lichkeiten. W. führt alle Dichter auf, die zu Marie, Gräfin von Troyes, in
Beziehung gestanden haben. Keiner sollte es für nötig gefunden haben zu
erwähnen, daß sie selbst Dichterin war? Wenn W. S. 124 sagt: 'Für die
übrigen (Karrenroman, Lyrik) ist sie die literarisch interessierte Dame, deren
eigene Dichtungen den entsprechenden Kreisen ohnedies bekannt sind/ so
ist das zu billig. Gerade diese Kreise hatten das lebhafteste Interesse, die
Seite des anch'io sono poeta der Gräfin hervorzuheben.
W. schreibt S. 124: 'Nirgends hat sich unserer Identifizierung Marie
de Frances mit Marie aus dem Hause Frankreich, Gräfin von Champagne,
ein Hindernis entgegengestellt.' Aber doch nur infolge der Konstmktionen
W.s. Tatsächlich bleibt als Ähnlichkeit nur: beide heißen Marie, beide waren
282 Beurteilungen und kurze Anzeigen
in der Jugend weltlich und im Alter fromm. Das ist die Geschichte von
den alten Betschwestern, womit übrigens Marie de France nichts Böses nach-
gesagt werden soll, da wir ja nichts über ihr Leben wissen. Auf Marie
de Chainpagne trifft es eher zu, cp. die Stelle S. 111, die W. diskret über-
geht. W. verfcällt in den alten Fehler des Identifizierens um jeden Preis.
Je weniger wir über einen Dichter wissen, um so verlockender ist es, ihn
mit dem oder jenem zu identifizieren. Das Mittelalter weiß nichts davon;
gut, daß ein Romanist kommt, der es endlich feststellt! Es ist das eine
ähnliche Tendenz, wie sie in der Kunstgeschichte vor einiger Zeit wütete,
als jedes Kunstwerk 'getauft' werden mußte, also irgendeinem bekannten
Künstler zugesprochen wurde. Dieser Identifizierungs versuch der beiden
Marien ist einer der haltlosesten, aber auch bedauerlichsten ; denn W. hat viel,
wenn auch verrannten Scharfsinn darangesetzt. Ganz umsonst ist seine Mühe
nicht gewesen, es bleibt eine scharfe, nur leider voreingenommene Kritik der
für England sprechenden Beweisstücke bei Marie de France und ein ausführ-
liches Lebensbild der hochbedeutenden Gräfin Marie von Troyes, wo nur
ihre politische Tätigkeit fast ganz unberücksichtigt bleibt. Manches darüber
hätte W. leicht bei A. Cartellieri, Philipp II., August 1899 ff. gefunden; aber
die Romanisten vernachlässigen nun einmal allzu gern die Arbeiten der Histo-
riker, wovor ich schon Zeitschrift 38, S. 381 warnte. — Marie de France aber
bleibt gleich anziehend und gleich geheimnisvoll vor wie nach Winklers Buche.
Jena. Heinrich Geizer.
Leo Spitzer, Aufsätze zur romanischen Syntax und Stilistik. Halle,
M. Niemeyer, 1918. 392 8.4°.
Was diesen 19 Aufsätzen, die fast alle (bis auf vier) bereits in Fachzeit-
schriften erschienen sind, hier aber nicht nur gesammelt, sondern auch er-
weitert und durch zwei sorgfältige Register leichter benutzbar gemacht vor-
liegen, ihr Gepräge gibt, ist die stupende Belesenheit des Verfassers nicht
nur in den romanischen Sprachen, sondern auch im Deutschen (nebst seinen
Mundarten) und im Slawischen, eine Belesenheit, die die Lektüre freilich
einigermaßen erschwert, insofern sie Spitzer nicht nur zu umfänglichen Fuß-
noten, sondern auch zu Fußnoten zu diesen Fußnoten veranlaßt: so erstreckt
sich z. B. eine auf S. 107 beginnende Fußnote erster Ordnung über vier
Seiten hin und ist von vier Fußnoten zweiter Ordnung begleitet, deren erste
wiederum auf die nächste Seite hinübergeht.
Geben wir zunächst, durch eine kurze Inhaltsangabe, eine Vorstellung
von dem Reichtum des Gebotenen. 1. 'Zur Syntax des italienischen Possessiv-
pronomens': Fälle wie (I) Certo, doveva essere una disperaxione inumana,
la sua (D'Annunzio) oder (II) lo qui? E non e ora un sogno il mio'^
(Silvio Pellico). Die Erklärung sieht Sp. in mechanischer Übertragung des
Typus I auf den T}tdus II, bei welchem statt des il viio eigentlich ein neues
Substantiv stehen sollte (etwa 'mein Zustand'). Eine befriedigendere Erklä-
rung gibt Voßler, 'Logos' VIII 10: e non e ora ^m sogno il mio? zerfällt
psychologisch in 1. 'Ist das Jetzige bzw. Meinige nicht ein Traum?' und
2. 'Ist der Traum auch wirklich von mir?' Man könnte interpretieren: 'Ist
es nicht bloß ein Traum, der meinige Traum?': die Vorstellung, er müsse
nur träumen, ist bei S. Pellico so stark, daß sie ihm zu einer Tatsache wird,
und Spitzers Deutung ('mein Zustand') trifft logizistisch an der psychologischen
Wirklichkeit vorbei.
2. Sa conversation . . . ne sentait point son eure dr village (und ptg. seu
burro) wird von Sp. anders erklärt als von Tobler (V. B. II 86): = 'seine
Konversation verriet nicht den Landpfarrer' oder noch genauer '. .. ihr Land-
pfarrerhaftes'. Auffällig sei nicht das Possessiv, sondern das Konkretum an
Stelle des Abstraktums, was aber verständlich wird durch Fälle wie er hat
Beurteilungen und kurze Anzeigen 283
seinen Doktor gemacht = er hat sein t)oktorat gemacht + ^^ ist Doktor ge-
tcorden. Mir persönlich scheint diese Erklärung befriedigender.
3. dief d'auvre nicht = 'Hauptstück von einem Werk' (wie fripon de
valet), sondern einfach: = 'ein Stück Bearbeitetes', was durch Belege ge-
stützt wird.
4. In pager comptant liegt nicht, wie REW 2181 angegeben, contente
'sofort' vor, sondern computando bzw. computante [wie ich auch in meinem
'invariablen Partizipium' (Rom. Forsch. 1914, S. 414/5) angenommen habe],
also Partizipium 'mit Ausartung des Sinnes'. Im Ajischluß daran bespricht
Sp. andere, schon von Tobler erwähnte 'ausgeartete' Partizipien und führt
sie sehr glücklich auf das besondere Milieu zurück, in dem sie entstanden
sind (so stammt z. B. toilette voyante aus dem neuesten Schneiderargot, caß
chantant aus der Geschäftssprache, die gern personifiziert). Zu velleites chan-
tantes 'Singgelüste' vergleicht sich das in meinen 'Präd. Part.' aus Maupassant
zitierte hunteur donnante = 'Gebelaune'. Übrigens ist die Neigung zum Per-
sonifizieren eine Eigentümlichkeit aller Fachsprachen, z. B. auch der philo-
logischen: das Manuskript A liest ... the manuscript reads ('Präd. Part.'
S. 91).
5. Vous avex beau parier wird verglichen mit ital. avete un bei parlare,
u. a. hinsichtlich des unbestimmten Artikels.
6. Ein langer Aufsatz (22 Seiten) über ital. cosi: es vem^eigert die An-
gabe des Grundes der Frage, es erscheint als Verlegenheitswort, etc.
7. Frz. it. lä, ausgehend von Tobler, V. B. III2 135 ff.: lä = 'wahrhaftig'
[sais-tu ton livret et les quatre regles, niais lä, solide?)ient?); lä bedeutet nach
Sp. nicht 'kurz und gut', 'endgültig' ('Punktuml'), also den Abschluß eines
längeren Räsonnements, sondern 'siehe!', also die Vorbereitung auf das,
was kommt; man könnte es oft als 'Vergegenwärtigungspartikel' bezeichnen,
z. B. D'Annunzio, Gioconda 114: il/a pensa : trovarti lä dopo tanto, nel luogo
stesso dove avenne l'orribile cosa, lä, sola, di fronte a quella donna che ti ha
fatto tanto male; so auch bei Maupassant (von dem D'Annunzio abhängig
ist) und bei den französischen Symbolisten. — Es werden dann weiter be-
handelt: ital. li = 'sofort' und la = 'basta!'; lä als Verlegenheitswort ['nicht
unselten' (lies: 'nicht selten') bei Camöes], portg. cd und isso als Verlegen-
heitswort, und ähnliches eil {= illud) des Mallorquinischen.
8. Aui 50 Seiten werden Besonderheiten im Gebrauch von spanisch que
vorgeführt: unberechtigtes que bei fn fin in einem von Weigert zitierten
Cervantes-Beispiel wird durch Fälle aus dem modernen Spanisch gestützt;
que in dem gleichfalls von Weigert zitierten, aber anders gedeuteten Satz:
^ Usase en este pueblo que se case un diablo oon otro ? — Que no, dijo et
medico ... wird angeknüpft an Tobler, V. B. II 16: que (d.h. die Kon-
junktion que) hätte hier den Sinn: 'unter dem besonderen Verhältnis, daß ...',
'bei dem wichtigen Nebenumstande, daß . . .'; que in este si que se puede decir
cabello de oro wird gedeutet als das von Tobler V. B. I 57 behandelte i^que-
Sätze, anknüpfend an adverbiale Ausdrücke der Versichening, Beschwöning,
Vermutung, Bejahung, Verneinung, an Interjektionen'); dorthin wird auch
span.-port. como que gezogen, während das que nach Zeitadverbien (frz. si
longtemps que je n'arais eu roccasio?i) nicht als Konjunktion, sondern als
Relativ gefaßt, also von heureusement que abgetrennt wird; so liege denn
auch in kat. prou que eher relatives als konjunktionelles qtie vor. Schließ-
lich wird die von Schuchardt behauptete baskische Beeinflussung von
beamesisch {you) que resti abgelehnt, das allgemein psychologisch verständ-
lich sei: que, ursprünglich affektisch, sei dann 'intellektualisiert' oder 'gram-
matikalisiert' worden.
9. Ital. puxienza! in Fällen wie Deledda, Nel deserto S. 152, wo Frau
Lia geäußert hat, sie möchte ans Meer: avrei hisogno anch'io un po' d'aria
di mare. — Paxienxa: dove va, signora Lia''!' "steht in der Mitte zwischen
Archiv f. n. Sprachen. 140. \^
284 Beurteilungen und kurze Anzeigen
'na, wir werden ja sehen!' und 'na, reden wir nicht davon I'"; ähnlich im
Franz. (Rabelais) und Portug. Ferner steht es im Sinne von '. ,. das ginge
noch an, aber ,..': se fosse bella, pazienxa, ma pare una bertuccia; Si on
lui laissait quelque chose, patienee; mais on lui die tont. Es ist also ein
Trostraf, der ursprünglich zur Ausübung einer christlichen Tugend ermahnte,
zu einer bloßen Konjunktion 'verkalkt' worden. Bei dieser Gelegenheit
werden dann andere Ausdrücke gleicher Bedeutung aufgeführt, z. B. pcissi
{passe encore), vada per (va pour), sta bene usw.
10. 'Faeere mit dem Infinitiv zur Umschreibung des Verbum finitum',
z. B. faites moi escouter = 'escoiäex-moi' ist bereits von H. F. Muller, Origine
et histoire de la preposition 'ä' dans ... 'faire faire quelque chose ä quel-
qu'un' (Poitiers 1912) erklärt worden: = 'macht (bewirkt), daß ich gehört
werde' als Anrede an hohe Personen, denen man es nicht zumuten wollte,
persönlich zuzuhören, sondern die man bat, gewissermaßen ihrem Ohr (als
ihrem Diener) den Befehl dazu zu erteilen — also eine Höflichkeitsformel,
wie vous für tu, ausgebildet zur Karolingerzeit. Spitzer hat dem nichts
Wesentliches hinzuzufügen.
11. Die schöne Studie 'Über syntaktische Einordnung des Individuellen
unter die Allgemeinheit' (von den bisher erwähnten Aufsätzen der erste,
der nicht schon vorher erschienen war), behandelt typisierendes 07c, wie es
z. B. in der Schilderung eines proletarischen Umzuges gebraucht wird; V'lä
la chose; on a essaye d'amasser l'argent du loyer: pour g,a, on a trime, veille,
jours et nuits un trimestre entier . . .; ptg. wird angesichts der unbesonnenen
Tat eines Jünglings entschuldigend gesagt: Säo rapaxes! und frz. schließt
der Sprechende sich selbst mit ein, wenn er etwa zu Kindern sagt: lYe rions
pas tant, s'il vous platt! et depechons-nous! (Daudet, eins der Beispiele von
Soltman, SjTitax der Modi S. 38). Im letzteren Fall liegt nun freilich nicht
eine 'Einordnung des Individuellen unter das Allgemeine' vor, sondern eine
(begönnernde) Einordnung des Sprechenden unter den (oder die) Angeredeten,
besser gesagt eine Identifizierung, ähnlich wie ich die sogenannte uneigent-
lich indirekte Rede {'Sie hatte, strafe sie Oott, niemals eine schönere Braut
gesehen^) als eine Identifizierung des Autors mit seinen Geschöpfen zu er-
klären mich bemüht habe (Germ.-Rom. Mon. VI 470 ff.). Und wie diese
Identifizierung auch eine ironische sein kann (z. B. bei Flaubert in Bouvard
et Pecuchet), so auch die hier vorliegende: bei V. Hugo, Ruy Blas V (ed.
Nelson 156 f.) sagt Don Salluste zur Königin: ecoutex, ne faisons pas de
bruit ... Ne nous emportons pas. Vous etes dans ma main. — PluralLs
majestfttis und Autorenplural bezeichnet Sp. als ererbte Spielarten des Plura>i
inclusivus oder sociativus.
12. Wie Sp. schon in einer Fußnote zweiter Ordnung (S. 169 unten) zu
dem vorhergehenden Aufsatz eine 'gemeineuropäische oder vielleicht allgemein -
psychologische Syntax' im Gegensatz zu der bisherigen, mehr lokalhistorisc.'h
verfahrenden befürwortet, wie er die (von ihm doch geteilte!) kulturhistoriscihe
Ableitung von Faites 7noi escouter im vorvorigen Aufsatz dazu benutzt, uiii
der Voßierschen Zumckführung sprachlicher Erscheinungen auf die beson'-
dere Geistesart von Völkern und Epochen in einer Fußnote (S. 142) einen
Fußtritt zu versetzen, so wendet er sich nun in diesem (gleichfalls früher nicht\
erschienenen) Aufsatz sogar gegen Meyer -Lübke, und zwar bezeichnender- \
weise gegen eine der bei diesem Gelehrten nicht zahlreichen kulturhisto- }
rischen Erklärungen. Das Futurum cantarc habeo hat sich in den 'wichtig- S
fiten Literärsprachen' (Frankreich, Spanien, Portugal und Mittelitalien) ver- i
breitet, fehlt dagegen in minder kultivierten Ländern wie dem Rätoromanischen,
Oberitalien, Sardinien, Rumänien etc. So meint denn Meyer-Lübke, es sei
von Stätten größerer Bildung ausgegangen (Toskana, Frankreich); Voraus-
setzung für seine formale Erstarrung sei 'gepflegte Sprache, literarische Aus-
breitung'. Sp. ist das 'Operieren mit derartigen sprachlichen Kulturwirkungen'
Beurteilungen und kurze Anzeigen 285
zu subjektiv; nach ihm ist das cantarmo -Futaram 'nicht interromanisches
Wandergut, sondern eine an verschiedenen Punkten der Westromania aus
einem gemeinsamen vlt. Ansatz entwickelte autochthone Bildung'. Auch hier
will Sp. allgemein -psychologische Gründe an Stelle der kulturhistorischen
setzen : das rein zeitliche amabo sei unvolkstümlich gewesen und durch das
'affektische Surrogat' amare habeo verdrängt worden (wie das rein temporal ge-
wordene/'aimerai im Nfrz. einernte vais aimer weiche), , und so sei der Über-
gang von diesem zu jenem aus dem 'ewigen' Zwiespalt zwischen , Logik
und Affekt zu erklären. Zur Stütze dieser Ansicht verweist er auf die
'Ähnlichkeit der jeweils auftretenden Futursurrogate in den idg. (und auch
nicht-idg.) Sprachen'; daß nur vier Kategorien auftreten (Präsens, Ingressiv,
Desiderativ und Jussiv statt Futur) sei 'in der relativen Einheitlichkeit der
menschlichen Logik begründet'. (Hier gibt es nun plötzlich eine 'relative
Einheitlichkeit der menschlichen Logik' — während nach Spitzers Ausfüh-
rungen in den Neueren Sprachen XXVI 328 'eine von einem jakutischen oder
mongolischen Aristoteles geschriebene Logik ganz anders aussehen würde',
sintemalen es 'soviel Logiken als Sprachen gibt' und 'das Denken sich nach
dem Sprechen modelt' — ein Gedanke, auf den nie gekommen zu sein Toblers
unverzeihliche Sünde ausmacht. Ein besonders scharfer Logiker ist Sp. nun
eben nicht!). — Gegen die Auffassung von cantare habeo als eines Jussiv 3
habe ich seither ('Futurum' S. 51 ff.) Bedenken geäußert: für mich ist cantare
(ire) habeo herzuleiten aus itcr habeo 'ich habe den Weg vor'; ist dem so, so
hätten wir bereits eine fünfte Kategorie. Und ich glaube, je mehr Sprachen
jemand beherrscht, desto mehr 'Kategorien', desto weniger Ähnlichkeit wird
er finden.
13. Der Aufsatz mit dem etwas mehr versprechenden Titel 'Über den
Imperativ im Romanischen' behandelt nur zwei besondere Gebrauchsweisen
dieses Modus: 1. den 'gerundialen Imperativ' und 2. den 'historischen Im-
perativ'. 'Gerundialer' Imperativ scheint mir um kein Haar verständlicher
oder berechtigter als 'Imperativus pro Gerundio', wie sich auszudrücken Sp.
den 'Logikern' vorwirft (N. Spr. XXVI 339) : im Gegenteil : bei 'Imperativ
pro Gerundio' hätte ich mir etwas denken können — 'gerundialer Imperativ'
war mir zunächst unverständlich. Gemeint sind Fälle wie gira e rigira,
siamo sempre allo sfesso pufito: der Imperativ enthält einen 'ironischen, weil
undurchführbaren oder gar nicht als durchführbar gedachten Befehl'. Hierzu
wird, wie immer, vieles angeführt, nicht aber (vgl. jedoch S. 205 unten) etwas
so Naheliegendes wie der 'konzessive' Imperativ: Setx deinen Fuß auf ellen-
hohe Socken — du bleibst doch immer icer du bist (auch romanisch, vgl. meine
'Modi' S. 47). — 'Historischer Imperativ' ist gebildet in Anlehnung an den
nicht gerade geistreichen Schulausdruck 'Historischer Infinitiv', also Verwen-
dung des Imperativs zu lebhafter Erzählung (z. B. bei Maupassant: et puis
je griw-pe sur mon imperiale, j'ouvre mon ombrelle et fouette cocher!). — Bei
diesem 'historischen' und 'gerundialen' Imperativ hat Sp. freilich leichtes Spiel,
durch Herbeiziehung zahlreicher Parallelen (auch aus nicht-romanischen Sprachen)
den 'urtümlichen und allmenschlichen Charakter' dieser Redeweisen im Sinne
seiner allgemein -psychologischen Syntax zu erweisen: eine solche Verwen-
dung des Imperativs liegt ebenso nahe wie etwa die des Präsens zur an-
schaulichen Erzählung von Vergangenem und bedarf im Grunde so wenig
der umfänglichen Belege, wie es besonders erforscht zu werden braucht, daß
auch die Indianer die Gewohnheit des Essens und des Hüttenbauens auf-
weisen.
14. 'Persona pro re' (und res pro persona) ist schon von Kalepky (Z.
frz. Spr. 19131, S. 257 ff.) ausführlich behandelt worden. Sp. bemerkt ihm
gegenüber, derartige abgekürzte Ausdrücke stammten aus den verschiedenen
Ständesprachen (z. B. 7ious paraissons des Journalisten; nous = unsere Zei-
tung), wie auch toilette voyante und des gants paille; diese 'Kompi'ession'
19*
286 Beurteilungen und kurze Anzeigen
und 'Kontraktion' sei nicht Eigengut des Neufranz., sondern komme auch
im Deutschen, Englischen, Italienischen, Rumänischen und vielleicht schon
altfranz. vor; statt des 'die Sprache schulmeisternden pro- Ausdrucks' möchte
er lieber sagen: personelle Anschauung. — Auch das Gegenteil kommt
vor: in Stefan Großmanns Roman 'Die Partei' (Berlin 1919, S. 347) sagt ein
Klavierlehrer: '... vielleicht zahlt die Stunde morgen nicht' (statt 'der
Schüler', der ihm offenbar herzlich gleichgültig ist). Wieder anders gelagert:
in einem Berliner 'Couplet' von J. Freund heißt es: 'Ich hab' geerbt mit
riesigem Talent: Drei alte Tanten hab' ich aufgefressen' (d. h. den von ihnen
hinterlassenen Besitz: die Tanten interessieren den Sprechenden offenbar nur
so weit, als sie Geld besitzen und hinterlassen). Zolas Nana identifiziert sich
beim Rennen mit dem Pferd, das ihren Namen trägt: p. 383: A eornhien suis-
je? — Diable! je ne raux pas eher etc. (vgl. p. 405, 416). Und so hätte man
eine stilistische Sonderang der von Kalepky (und mir) mitgeteilten nebst
den von Spitzer selbst gesammelten, untereinander nicht gleichartigen Fälle
sowie schließlich eine kulturhistorische Einordnung gewünscht. Im übrigen
aber kann man diesen Aufsatz, in dem man durch den Satz überrascht wird :
'sie (die Persona pro re-Konstruktion) ist — wie jede Stilerscheiming — über-
all, wo sie sich findet, aus den speziellen geistigen Strömungen der Zeit zu
erklären', nur zustimmen.
15. Span., kat. y 'und' hat oft eine kräftigere Bedeutung: 'und auch',
'und zwar' (= lt. afque); so auch alt- und neufrz. et und ähnlich 'wohl in
jeder volkstümlichen Literatur'. Zu ital. bell'e fatto stellt sich kat. bo y amanit
'fertig zubereitet'; neben tot -f Gerandium tritt auch tot y -\- Gerundium
('beeinflußt von oder parallel zu bo y'}, das aber auch nach ah tot y + Inf.
statt der gleichen Konstruktion ohne y erklärt werden kann; ab tot y aix6
'trotzdem' läßt sich danach oder nach Fällen wie ßns y a tant, fins tant y
que etc. deuten, und so werden noch mehrere merkwürdige Gebrauchsweisen
dieses y beleuchtet. Schließlich wird die Tatsache, daß sich zu jedem Ab-
schnitt in einem Aufsatz von O.Weise: "Die Konjunktion 'und' im Ge-
brauche der Mundarten" romanische Parallelen finden lassen, als ein schönes
Beispiel des aus gleichen Vorbedingimgen entstehenden Sprachlich-Gleichen,
der syntaktischen 'Konvergenz' (Marbe) in Anspruch genomnien.
16. Die gleiche Tendenz verfolgt der nächste Aufsatz: 'Über ''Rahmen-
Btellung" im Romanischen': romanische Parallelen zu deutschen Fällen wie
dat is tumm Tuch is dat ja (Tuch = Zeug).
17. Auch noctem et diem (statt diem et noctem) findet sich überall; es
wird auf fünffache Weise erklärt. Ein weiteres Beispiel wäre: Renart le
contrefait (Bartsch-Wiese 86, 211) onques ne le soir ne le main ne vi% cellui
... — Beispiele für Hysteron proteron siehe Chevalier au barisei, ed. Schultz-
Gora, V. 308 und 310'.
18. Gewichtiger ist der nächste Aufsatz: 'Die syntaktischen Errungen-
schaften der französischen Symbolisten'. Hier ist kaum etwas anderes zu
beanstanden als die Überschrift (was schon Voßler getan hat): es handelt
sich weder um 'Syntaktika' noch um 'Errungenschaften'; vielmehr wird (auf
59 Seiten) gezeigt, wie die Symbolisten altes, erstarrtes Sprachgut wieder
neu, lebendig, anschaulich zu machen wissen, wie sie den Ausdruck weniger
deutlich, unbestimmter, verschwommener gestalten, wie sie ihn verinnerlichen,
wie sie ihn wohllautend machen, wie sie ihn überraschend gestalten, wie sie
ihn verkürzen und so der Sprache neue Möglichkeiten eröffnen. Es fehlt
mir der Raum, um auf die vielen feinen Beobachtungen dieses schönen Auf-
satzes im einzelnen einzugehen; ich muß mich damit begnügen, ihn ein-
gehendem Studium aufs angelegentlichste zu empfehlen.
19. Weniger einverstanden erklären kann ich mich schließlich mit dem
letzten Aufsatz: 'Ein Ersatzwort für Syntax', als welches 'Beziehungslehre'
oder genauer 'Begriffsbeziehungslehre' vorgeschlagen wird: Begriffe auf
Beurteilungen und kurze Anzeigen 287
einander zu beziehen ist das Gesclitäft des Logikers, nicht des Sprechenden
oder des Sprachforscliers, und 'Beziehungslehre' erscheint mir zu eng. Ich
verstehe unter 'Syntax' viel von dem mit, was man gemeinhin der 'Stilistik'
zurechnet: diese beiden Disziplinen möchte ich in der Weise scheiden, daß
ich nur das als 'Stilistik' gelten lasse, was ausdrücklich den besonderen
Sprachgebrauch eines besonderen Einzelnen behandelt, als 'Syntax' dagegen
alle Untersuchungen, die auf die Frage eingestellt sind, inwieweit die ein-
zelnen Wendungen, die ja zweifellos von einem (oder von wenigen) Einzelnen
aufgebracht worden sind, bereits allgemein, t}T)isch, 'Regel' geworden sind,
inwieweit sie sich ihres ursprünglich stilistischen Wertes entäußert haben,
inwieweit sie, mit anderen Worten, bereits erstarrt oder 'grammatikalisiert'
sind. Sp. hat es ja selber ausgesprochen (N. Spr. XXVI 334), 'daß das
ursprünglich Stilistische zum Syntaktischen wird': daraus folgt nun aber m. E.
mit Notwendigkeit, daß sich eine Syntax ohne 'stilistische' Erörterungen gar
nicht schreiben läßt, und daß eine bloße 'Beziehungslehre' eine gar klägliche
Syntax darstellen müßte. Um ein praktisches Beispiel zu geben: bei tm
billet payant müßte eine bloße 'Beziehungslehre' sich mit der Feststellung
begnügen, daß hier das Partizip zum Substantiv ungewöhnlich bezogen ist
(eine Wissenschaft, für die ich mich bedanken würde!); eine Avirkliche 'Syntax'
dagegen würde ausführen, der Ausdruck entstamme (wie dies Spitzer S. 25
gezeigt hat) der Geschäftssprache, die zur Personifikation geneigt ist ('eine
Karte, welche zahlt', also eigentlich durchaus korrekte Beziehung!), und damit
würde sie bereits 'Stilistik' treiben. So habe ich auch in meiner 'Bedeutung
der Modi' die seelischen Voraussetzungen auszuspüren versucht, auf die sich
z. B. der Gebrauch des Konjunktivs nach quuique gründet (der selbstverständ-
lich für keinen Schriftsteller als Stilistikum in Anspruch genommen werden
könnte!), ohne daß ich glaube, mich damit aus der eigentlichen Domäne der
Syntax entfernt zu haben: diese besonderen seelischen Voraussetzungen sind
eben vergessen, der Ausdruck ist 'grammatikalisiert' und damit der Syntax
anheimgefallen. —
Ich darf nicht annehmen, mit diesen summarischen Ausführungen den
Reichtum des Bandes auch nur entfernt angedeutet zu haben. — Was nun
die Leitgedanken oder Grundüberzeugungen betrifft, die diesen verschiedenen
Aufsätzen ihre Einheitlichkeit geben, so finde ich deren zwei. Einmal die
Überzeugung von der syntaktischen Konvergenz: da überall die gleichen
psychologischen Vorbedingungen herrschten, müsse auch überall sprachlich
Gleiches entstehen. Oder um es kurz (und ein wenig zugespitzt) zu formu-
lieren: Zu welchem Ende studiert Spitzer romanische Sprachen? — Um in
ihnen das gleiche zu finden, was sich in sämtlichen ancleren Sprachen auch
findet. — Der andere Leitgedanke aber ist der, daß alles, was jetzt Syntax
ist, einst Stilistik gewesen sei, daß die Syntaktika erstarrte, grammatikalisierte
Stilistika darstellen, die sich jeweils aus besonderen psychologischen Vor-
aussetzungen, aus dem 'Milieu' (Geschäftssprache!) oder dem 'Moment' einer
besonderen Kulturepoche erklären lassen und von da aus erklärt werden
müssen. — Diese beiden Gedanken scheinen mir nun einigermaßen mitein-
ander im Widerspruch zu stehen; und dieser Widerspruch ist, wenn ich nicht
irre, in einer Zwiespältigkeit im Wesen des Verfassers begründet: Spitzer ist
einerseits ein feinfühliger, sich einfühlender Beobachter des konkreten sprach-
lichen Lebens, anderseits aber noch in abstrakten intellektualistischen und
gleichmacherischen Theorien aus dem achtzehnten Jahrhundert befangen:
einerseits sieht er wohl die Verschiedenartigkeit (z. B. zwischen Romanischem
und Germanischem), anderseits aber will er sie nicht sehen (sondern versteift
sich mit Marbe auf die 'Gleichförmigkeit der Welt'). Nun bedeutet aber, daß
überall die gleichen psychologischen Vorbedingungen eintreten und dem-
gemäß sprachlich Gleiches entstehen kann, noch nicht: daß es auch überall
entstehen muß. Nichts liegt z. B. näher, als das Futurum Imperativisch zu
288 Beurteilungen und kurze Anzeigen
vorwenden {Du tvirst kommen.'), und für eine oberflächliche Betrachtung ist
dies auch 'überall' geschehen. Sieht man aber näher zu, so zeigt sich, daß
es nicht überall in sämtlichen Modifikationen und in gleicher Häufigkeit ge-
schehen ist: im Französischen z. B. ist dieses Heischefuturum weit häufiger
als im Deutschen; das Griechische verwendet 'Du wirst es tun' nur in der
Bedeutung 'Ich werde meinen Willen durchsetzen', nicht aber z. B. als Aus-
druck einer Bitte; im Deutschen wäre es nicht gut möglich, jemand im
Futurum einen Rat zu erteilen (was im Französischen vorkommt) usw. Wenn
man diese Verschiedenheiten nicht einfach als 'Zufälle' ansehen will, so wüßte
ich nicht, wie man sie anders als aus besonderen kulturhistorischen Voraus-
setzungen heraus erklären könnte. Und ich halte es nicht für ausgeschlossen,
daß Sp., der seinem eigenen Zeugnis zufolge (N. Spr. XXVI 334) sich vom
'Nur-Historiker' ('nach Toblerart' fügt er hinzu) 'zum sozusagen stilistischen
Syntaktiker' entwickelt hat, allmählich noch mehr kulturhistorisch denken lerne.
München. Eugen Lerch.
Der Trobador Cadenet, hg. von Carl Appel. Halle, Niemeyer, 1920.
123 S.
Nach dem 'Bernart von Ventadorn' und der 'Provenzalischen Lautlehre'
ist der hochverdiente Gelehrte, dem die provenzalischen Studien schon so
viele Förderung verdanken, wieder an der Arbeit gewesen und hat uns eine
Ausgabe von Cadenet beschert, die eine um so wertvollere Bereicherung der
Einzelausgaben von Trobadors darstellt, als der genannte Dichter keine ge-
wöhnliche Phj^siognomie aufweist, vielmehr eine ganze Reihe gedanklicher
und stilistischer Besonderheiten darbietet, die scharf aufgefaßt sind und uns
mit aller wünschenswerten Deutlichkeit vorgeführt werden. Für die Text-
gestaltung mußten allerdings verschiedene Pariser Handschriften naturgemäß
ausscheiden, und daher hat der Herausgeber denn auch auf eine Varianten-
angabe verzichtet, aber das besagt im ganzen nicht viel; auch hat die Er-
fahrung gelehrt, daß bei schwierigen Stellen die Schreiber oft schon selbst
nicht verstanden haben, und daß die Kenntnis sämtlicher Lesarten nur selten
wirkliche Klarheit bringt. Die Stoffanordnung ist eine andere, als wir es
sonst gewohnt sind, indem die Gedichte in den Rahmen der Biographie ge-
rückt erscheinen; das Bild wird so gewiß lebendiger, nur hätte in den An-
merkungen behufs bequemerer Auffindung auf die Seitenzahlen verwiesen
werden sollen. Die Gedichte sind von einer Prosaübersetzung begleitet.
Über die Zweckmäßigkeit einer solchen kann man verschieden denken. Ich
halte sie nur bei solchen Gedichten für angebracht, deren Inhalt für den
Historiker wichtig ist, und die ihm auf diese Weise bequem zugänglich ge-
macht werden ; sonst aber hat der Herausgeber ja die Anmerkungen zur Ver-
fügung, um dem Fachmann keinen Zweifel darüber zu lassen, wie er im einzelnen
verstanden wissen will, und eine Übersetzung ist dann überflüssig, ja nicht
selten störend, weil sie immer Zugeständnisse an die Lesbarkeit macht und
dadurch wieder Unsicherheit über das genaue Verständnis aufkommen läßt.
Cadenet, aus der eigentlichen Provence stammend und mit seiner Blüte-
zeit dem Ende des 12. und Anfang des 18. Jahrhunderts angehörig, hat uns
23 Gedichte hinterlassen, die sich aus 17 Liebesliedern, einer Doppelcobla,
drei Sirventesen, einer Pastorela und einer Alba zusammensetzen ; außerdem
ist er an einem Partimen beteiligt. Besonders interessant ist die Alba, die
eine Verbindung der Chanson de mal-mariee mit dem Tagelied aufweist, und
anziehend- das vom Herausgeber S. 70 ff. dazu Vorgetragene. Gr. 106, 9 wird
ihm mit Recht abgesprochen und mit Stroiiski dem E. de Barjols zugeteilt.
Auch Gr. 106, 1, das die Hss. Cf, die beiden einzigen, die es überliefern und imter
dem Namen Cadenet bringen (Strohski weist es aus einem besonderen Grunde
dem G. Faidit zu), dürfte ihm kaum angehören, und A. setzt es denn auch bei-
Beurteilungen und kurze Anzeigen 289
Seite; freilieh macht erS. 92 zu V. 31 das Bedenken geltend, daß hier venal wie
noch einmal bei Cadenet in dem seltenen Sinne von 'bereit' erscheint, doch weist
er ja selbst S. 106 die gleiche Bedeutung des Wortes bei B. del Pojet nach.
Daß bei der Biographie, der Herstellung und der Interpretation der Texte
alles wohl erwogen ist, bedarf keiner besonderen Erwähnung; die folgenden
Bemerkungen tragen daher mehrfach auch nur den Charakter von Fragen
und Vorschlägen, Zu dem Anfang der Vida 'Cadenetx si fo de Proensa,
d'un castel qiie a nom Cadenet' sagt A., es sei ihm dafür, daß einfach ein
Städtename als Personenname gebraucht worden wäre, ein anderes proven-
zalisches Beispiel nicht bekannt, und er setzt infolgedessen leise Zweifel in
die Glaubwürdigkeit der Lebensnachricht. In der Tat ist dieser Fall be-
achtenswert. Immerhin sei daran erinnert, daß Herr Ademar in einem Partimen
Raimon de Miraval einfach mit Miiaval anredet (Hs. 0 ed. de Lollis no. 131,
Hs ai ed. Bertoni no. 332), vgl. Andraud, R. de Miraval S. 14 u. 29. Aller-
dings haben wir hier auch den Personennamen danebenstehend, es kommen
aber noch, wenn ich nicht irre, der Trobador Pujol, Pojol sowie der Joglar
Cardaillac in Betracht; der erstere Name scheint mir nichts anderes zu sein,
als eine Ortsbezeichnung, s. heutiges le Poiijol im Arr. Beziers, und der zweite
(Gr. 242, 27 : Cardalhac, per un sirventes und Gr. 119, 7 : Pos sai es rengutx,
Cardaillac) dürfte von dem Orte Cardaillac, Arr. Figeac herrühren. Zu dem
Kastell Dosfraires bei Nizza (S. 6) hatte ich schon in Zs. VII, 204 eine Notiz
beigebracht, und über die 'Königin' Eleonore von Aragon (S. 18) im Ltrbl. XXIV,
116 etwas eingehender gesprochen. — S. 2 V. 10 ff. E s'ieu fos per vos
Jansenx, De qui-s volgues, fos Paris! 0 agues Domas conquis! Pols qui's
volgues, fos manenx! Das domnas der Hs. kann freilich nicht richtig sein,
und die Änderung in Domas — Damascus ist bestechend; aber sie über-
zeugt, wie mir scheint, doch nicht ganz, besonders weil die 4. Zeile sich
schlecht anschließt. Ich möchte vorschlagen, {s]'o agues, domna(s), conquis
zu schreiben: wenn ich das, Dame, errungen hätte, sc. qu'iea fos per vos
jausefix (V. 10), dann . . .'. 'Vers 17 — 8. Warum heißt es in der Übersetzung
'einen Kuß, den ich von Euch, o Herrin, gewänne', statt einfach 'einen Kuß,
den ich Euch, Herrin, geben könnte'? V. 35 — 6. Plus tengra vos per amia,
E-n sera chansos e lais. 'Und es wird deswegen ein Lied und ein Lcich
sein' scheint mir nicht im Stile der Trobadors zu liegen; ich zweifle kaum,
daß fera, die Nebenform von feira, zu schreiben ist, falls sie nicht wirklich
in der Hs. steht. — S. 14 V. 4. Et eu de lo pel rescomt de Burlatx.. Ein
neutraler Akkusativ lo, den BP zu bieten scheinen, verdiente angemerkt zu
werden, wenn er auch S. 28 V. 34 wieder so begegnet (steht er auch im
De?), d. h. ohne Verbindung mit einem Dativ des Pronomens der 3. Person.
S. 14, V. 8. Per respicich qiie revcgna. In Anm. wird auf 3, 37 verwiesen,
aber dort (S. 46, V. 62) steht per respieg de. S. 15 heißt es von G. Faidit
im Hinblick auf Gr. 167, 50, daß er seinen Entschluß, am Kreuzzug teilzu-
nehmen, i. J. 1203 ausführte, s. aber jetzt Lewent in Zs. 40, 230. — S. 23
V. 44 erscheint gardat\ si i ai ben mon voler in der Übersetzung als 'seht
da, ob ich so recht von Herzen will'. Besser ist doch wohl: 'seht zu, ob
ich nicht mein Wollen fest auf Euch gerichtet halte"; für si 'ob nicht' nach
gardatz und reiatx s. meine Prov. Studien I, S. 21 zu 148 und S. 68 zu 35, 9.
— S. 25, V. 3 schreibe dupf statt diipt. V. 17 dürfte agiies eher 'möchte
ich erhalten' als 'sollte ich e.' heißen. — S. 27, V. 12 Komma nach qtte.
V. 21 ist mit dem handschriftlich Überlieferten in der Tat nichts zu machen.
A. schreibt omn' i a, aber begegnet die Form omne sonst bei Trobadors?
V. 37. Streiche den in der Anm. gegebenen Verweis auf 13, 8, da hier per
respieg qiie steht; über per respieg de 'in der Hoffniing auf' s. auch Provenz.
Studien I, S. 76 zu 65, 1. V. 52 brauchte die ziemlich häufige Nebenform
es zu etx im Texte nicht durch ttx, ersetzt zu werden. V. 54 ff. ist eine üble
Stelle. Die Aiiffasaung des Herausgebers ist geistvoll, aber ob sie das Richtige
290 Beurteilungen und kurze Anzeigen
darstellt, erscheint mir doch zweifelhaft. Die Erörterung darüber würde hier
zu weit führen, und ich will nur bemerken, daß s'en venir in V. 57 = 'fort-
gehen' doch bedenklich ist, sowie daß dieser Vers siph an das Voraufgehende
m. E. nicht anschließt. — S. 30, V. 20. Et enaissi })ot la clamor delir. Anm.:
'delir kann trans. und intrans. sein'. In der Übersetzung bat sich A. für
letzteres entschieden, da er sagt: 'so kann die Klage wohl zunichte werden',
aber dann müßte es ciamors heißen. — S. 32, V. 1 ff. Warum ist die Ortho-
graphie von ai bei diesem Gedicht nicht durchgängig beibehalten worden?
V. 3 — 4. Entro qe'l retix, socor de fresc auratge E la condui a port de sal-
vamen. Das in der Anm. Gesagte 'das bei socor zu erwartende Pronomen
steht erst bei dem mit e dazugefügten condui' wird wohl das Richtige treffen,
nur scheint mir bemerkenswert, daß in den sonst bekannten Beispielen, so-
weit ich sehe, das Pronomen immer beim ersten Verb steht. V. 6 tilge
Komma nach respeig. V. 20. Die im Konjunktiv liegende Sinnesschattierung
ist in der Übersetzung nicht zum Ausdruck gekommen. V. 32. E qe s'amors
ab la mia s'asenda. In Hs. steht s'amor, wovon in der Anm. nichts gesagt
ist; asendre kann daher auch transitiv und se ethischer Dativ sein. — S. 34,
V. 24. Die Übersetzung steht im Widerspruch mit der Anmerkung. Das
Folgende ist in der Übersetzung als Frage genommen, nicht aber im Text.
Hier vermißt man wirklich sehr die Lesarten von DU. — S. 3.5, V. 43—4 ist im
Text durch Punkte bezeichnet. Zu dem, was ABU bieten, Qe de lieis dort sui
parlitx Es [El]) qur merccs noi dessenda, heißt es in der Anm.: 'darf man
lesen (A. meint 'interpungieren') : Que de lieis don sui, partitx Es qtie, denn
von ihr, der ich ^angehöre, ist Entscheid, ist es ausgemacht, daß' ? So lautet
denn auch die Übersetzung, aber ohne Fragezeichen. Ich möchte fragen,
ob nicht vielmehr zu verstehen sei: 'denn mit Bezug auf sie, von der ich
geschieden bin, d. h. die mich von sich scheidet, liegt die Sache so, daß'.
Wegen esser que s. S. 39, V. 18. Auch wäre der Konjunktiv nach es que
vielleicht weniger auffällig als nach einem etwaigen partitx es 'es ist aus-
gemacht'. V. 61 — 2. De ma filha la eonüessa puosc dir C/en Älvergne fai
son fin pretx graxir. Daß Cadenet von einer Gräfin ma filha sagt, ist natür-
lich auf den ersten Blick überraschend, und A. bemüht sich in der Anm.
des längeren um eine Deutung. Es gibt aber noch eine andere Trobador-
stelle, die einiges Licht auf die unsrige wirft. P. Vidal sagt von dem Grafen
Heinrich von Malta: E mos ears filhs, lo coms Enrics A destruitx totx
SOS enemics (ed. Bartsch 29, 8—9). Zu der bekannten Selbstüberhebung von
P. Vidal, die gerade auch in diesem Gedicht (Str. 2) sich kundtut, paßt es
nicht schlecht, daß er von dem Grafen den väterlich-intimen Ausdruck des
Papstes gebraucht, tind Cadenet hat ihn vielleicht nur übernommen; aber es
ist auch möglich, daß er in der familiären Umgangssprache zwischen Alteren
und Jüngeren, oder zwischen Freunden üblich war,^ wie dies im Deutschen
geläufig ist, und dann würde sich die Kühnheit der Dichter nur darairf be-
schränken, daß sie ihn gegenüber im Range so viel höher stehenden Per-
sonen zur Anwendung bringen. — S. 37, V. 48. Die 3. Sg. Ind. Präs. acorre
hätte -wohl eine Bemerkung verdient. In seiner 'Provenz. Lautlehre' § 54
sagt A., daß rr mundartlich ein e hinter sich erzengt. — S. 39, V. 17 wird
faich d'anior mit 'liebevolle Tat' übersetzt; es scheint mir vielmehr 'mit der
Liebe zusammenhängendes Tun' zu bezeichnen. V. 20 schreibe serv'l, s. oben
zu S. 35, V. 43 — 4. V. 22. E-ls poigna en desfaire. Ich sehe nicht, daß eine
Hs. eis schreibt; in der Anm. findet sich keine Äußerung dazu. V. 41 — 3.
Que tot so c'om ten meillor Es a conquerre pejor, E so que pauc val, viatx.
In der Anm. ist von pjejor nicht die Rede, sondern nur von viatx, von dem
es heißt, daß es adjektivisch gebraucht scheint. Zu letzterer Annahme kann
^ Bei Tappolet, Roman. Verwandtschaftsnamen, und bei Pauli, 'Enfant'
'gargon', 'fille' dans les langues romanes wird dieser Punkt nicht berührt.
Beurteilungen und kurze Anzeigen 291
man sich schwer entschließen, und ich meine, daß ein 'wird gewonnen' aus
dem Vorhergehenden zu entnehmen ist. — S. 42, V. 1 — 3. Ax. ops d'ima
chanso faire, Sesplus, ai bona vaxo? Pero si die ieu que uq. Pero 'den-
noch' ist in der Übersetzung fortgeblieben; da es aber doch dasteht, so ist
ein Zwischengedanke, etwa 'ich weiß nicht recht' anzunehmen, V. 27 streiche
Komma nach volria. Warum ist V. 29 d'una guixa mit 'in solcher Art' über-
setzt? V. 35 — 7. Ieu no7i cugeraja vezer L'ora quepogucs tan roler Com: deleis
feira un sol bais! wird teils recht frei, teils kaum zutreffend wiedergegeben
mit 'nicht dacht' ich jemals auch nur zu begehren, sie gäbe mir einen ein-
zigen Kuß'. Das Subjekt von pogues ist m. E. die Dame, also: nicht würde
ich glauben, es je zu erleben, daß sie so viel wollen könnte, d. h. mit so
viel einverstanden sein könnte wie ein Kuß ist, den ich ihr geben könnte'.
— S. 53, V. 37. Für ja, das in der Anm. zutreffend mit 'ja doch' erklärt
wird, war ein Hinweis auf den gleichen Gebrauch im Altfranzösischen am
Platze; hier tritt es schon Alexius 91c (jat portai en mon venire) so auf.
V. 45 — 6. Tals cum ierus oraria Es, cid platz, rostr'cnans wird übersetzt
mit 'so wie ich's für Euch bitten würde, ist mir (dem es gefällt) was Ihr
gewinnt'. Ich bekenne, dies nicht recht zu verstehen und fasse die Stelle
anders auf: 'so wie ich Euch (Akk.) nur wünschen könnte, seid Ihr, der
Eure Förderung gefällt', d. h. der es gefällt, sich zu fördern (s. V. 42), Wegen
es = ctx s. oben zu S. 27, V. 52. Orar mit Akkusativ der gewünschten
Person ist gewiß nicht gewöhnlich, aber erscheint doch an einer Stelle bei
F. de Romans, die Levy, S.-W. V, 507 no. 4 anführt, wenn auch mit etwas
anderem Sinn, nämlich 'erflehen', 'erbitten': ex eu vos or entre mos brax.
Ist meine Deutung richtig, dann wäre hinter enans ein Kolon zu setzen und
hinter ge)7t -aconhdans (V. 48) ein Semikolon. — S. 54, V. 9. Dieser Vers
ist in der Übersetzung ganz fortgeblieben, was deshalb etwas störend ist,
weil der Bedingungssatz syntaktisch zum Folgenden gehört und eine An-
merkung darüber fehlt. V. 30 wird ses faillida besser in Kommata gesetzt:
'ohne daß er einen Fehl begangen hat'. V. 50 — 3. Et ieu sui leials amaire,
Mais ioios et amoros Com qu'estiers no'm, vei guerida Ses vos. In V. 53
gehen die Hss. auseinander und die Anm. fragt: 'non ai' oder ^no'm vei'
oder ^no-s ve"? In der Übersetzung hat sich A, für das letzte entschieden,
und daher sollte auch im Text nos re stehen. Die Stelle ist aber auch so
noch bedenkenerregend; zitm wenigsten erwartet man eine Bemerkung dar-
über, daß que in qu'estiers = is qui sein soll. Auch ein mais 'aber' paßt
sehr schlecht in den Zusammenhang, und fast möchte man fragen, ob nicht
7nais hier einmal steigernd beim Adjektiv verwendet sein kann; dann wäre
r'om zu schreiben, dahinter ein Komma zu setzen und das folgende que als
'denn' zu nehmen. — S. 57, V. 34, War es nötig, für ac der Hss, IS atc zu
schreiben? M. W. ist ac für die 1. Sg. auch sonst gesichert.^ V, 39, El
ben c'om li dixia wird übersetzt mit 'was man Gutes zu ihr sprach'; besser
wäre: 'das Freundliche, das man ihr sagte'. Li ist gewiß das Ursprüng-
liche (s. Anm.); ebenso dire ben ad alcu bei A. de Sestaron (Bertoni, Kime
prov. ined. XI, 2), vgl. Prov. Stud. I, S. 78 zu 70, 6 über dire mal ad a.
V. 49 ff. Der Gedankengang in dieser Strophe ist und bleibt auch ohne das
sonderbare de faitx carestia recht dunkel. V. 59. Streiche Komma nach
dolcnta, s. die Übersetzung, die für das Folgende zu frei ist. V. 66. Zu cui
für qui war eine Anmerkung erwünscht; über qtii für cui habe ich Prov.
Stud. I, S. 62 zu 14, 2 gesprochen. — S. 68, V, 21 ff. sagt in dem Partimen
Guionet zu seinem Streitgenossen: Cadcnet, s'ieu vos dixia Que conocjut vos
^ Ich habe augenblicklich allerdings nur zwei Belege aus 'Jaufre' (Bartsch,
Chr. 250, 18, 24) und das ac bei der Hand, das DIK in einem Liede des
B. V. Ventadom bieten, s, Ausg. von Appel 9, 11, Mit Unrecht setzt Grand-
gent, Outline § 184 ac vor aic in das Paradigma.
292 Beurteilungen und kurze Anzeigen
avetx, Eu sai ben qu'eu failliria Atressi cum vos faületx. In der Anm. heißt
es: conoisscr steht objektlos und zugleich in intensiver Bedeutung 'richtig
erkennen', und die Übersetzung lautet: 'C, wenn ich Euch sagte, daß Ihr
das Rechte kanntet, weiß ich wohl, ich würde in gleicher Weise es ver-
fehlen, wie Ihr verfehlt.' Daß eonoisser jene Bedeutung haben kann, ist mir
äußerst zweifelhaft, aber auch mit einer solchen vermag ich dem Ganzen
keinen befriedigenden Sinn abzugewinnen. Alles ist in Ordnung, wenn man
eonoisser die faktitive Bedeutung gibt, die es ja auch sonst hat, mithin über-
setzt: 'das, was Ihr zu erkennen gegeben, d. h. zum Vorschein gebracht habt'.
— S. 75 — 6, V. 34 — 5. Qu ab las meJhors Ten dan vilnnia. Übers.: 'denn
bei den besseren Frauen schafft Niedrigkeit sich Leid'; klarer und sinngemäßer
ist doch: 'bringt häßliches Benehmen (das man ihnen gegenüber beobachtet)
Schaden'. — S. 88, V. 15 o,l prim erbaige. Die Annahme, daß erbatge etwa
das Hinaustreiben des Viehes auf die Weide bezeichne, scheint mir keines-
wegs nötig zu sein; es genügt die Bedeutung 'Wiesengrün'. V. 17 — 21. Wie
A. das Ganze versteht, wenn er alle diese Vei'se in Klammern einschließt,
ist mir wenig ersichtlich. Wäre es nicht richtiger, mit V. 21 allein so zu
verfahren und qiiar in V. 17 qu'ar zu schreiben, wobei denn que 'so daß'
hieße? — S. 98 ist versehentlich nicht bemerkt, daß das Gedicht S'ie-us essai
schon von Jeanroy herausgegeben war; auch fehlt nicht T, sondern d.
Bei der Tenzone Guionet-Cadenet fragt der Herausgeber S. 70, wer dieser
Guionet war. Der Identifizierung desselben mit dem Teilnehmer an drei
anderen Partimens (Gr. 238, 2 — 3 und 191, 1) darf man wohl zustimmen.
In dem letzten Partimen {En Maenard Ros) erscheint nun für Ouionet (V. 9)
auch Giii (V. 22 und 82), und dieses führt A. zu der weiteren Frage, ob in
Guionet nicht der bekannte Gui de Cavaillon zu erblicken sei. Er bejaht
sie auf Grund des Umstandes, daß in Hs. G Gr. 238, 2 und 191, 1 unmittel-
bar auf eine Tenzone folgen, die Esperdut und Ponz (de Monlaur) zu Ver-
fassern hat und die dort dementsprechend überschrieben ist, sowie daß er
die Identität von Esperdut mit Gui de Cavaillon für ausgemacht ansieht. Ich
muß bekennen, daß mir letzteres trotz Rev. d. lang. rom. 54, 72 nicht so
sicher erscheint, ohne daß ich hier den Raum habe, darauf näher einzugehen,
und daß mir daher auch die Gleichung Guionet = Gui de Cavaillon zu kühn
vorkommt. Dagegen wird man es mit A. auf Grund der Hss. DEIK wohl
als feststehend halten dürfen, daß Cabrit = Gui de Cavaillon ist (S. 111),
wenn auch Chabaneau, Biographies S. 135 meint: la chose n'est point süre.
Doch bleibt A. hier noch nicht stehen. Auch für die Beteiligung (beziehent-
lich alleinige Autorschaft) an Gr. 238, 4 (Guigenet), sowie an Gr. 196, 1 und 2
weiß er Gründe ins Feld zu führen. Wer sich entschließt, alle jene Identi-
fikationen anzuerkennen, muß jedenfalls so viel zugeben, daß dann kein
anderer Trobador uns unter so proteusartigen Gestalten seines Namens ent-
gegentritt als Gui de Cavaillon.
Es seien noch ein paar Druckversehen angemerkt: S. 59, Z. 1 1. 'da' für
'daß', S. 88, V. 14 1. an für ans, S. 89, V. 35 1. si 'n für srn, S. 101, Z. 13
streiche qtte, S. 108 Mitte stimmt der Verweis auf V. 16 nicht; auf Qirart
S. 97, Z. 14 und S. 118, Z. 3 (I. Ouilhem) macht mich der Herausgeber selber
aufmerksam.
Jena. 0. Schultz-Gora.
Alexandre Eckhardt (professeur au College Eötvös), Remy Belleau.
Sa vie. Sa 'Bergerie'. Etude historique et critique. Budapest,
Jos. Nemeth, ed. 1917. 239 S. 8o. Kr. 10.
Nach Du Bellay, Ba'if und Ronsard ist jetzt auch Belleau eine eingehende
Arbeit gewidmet worden. Im I. Teil, der die Geschichte seines Lebens und
Beurteilungen und kurze Anzeigen 293
damit verflochten die seiner Studien und Dichtungen darstellt, ist es Eck-
hardt gelungen, biographisch Neues beizubringen, weniger durch Funde als
durch bessere Ausnutzung bereits bekannten Materials. So erzählt B. selbst,
daß ihn von 1550 an Christophle de Choiseul, ein echter Renaissanceprälat,
prunkliebender Genießer und Mäzen, unterstützt hat. Aber die Angabe war
übersehen worden, da sie sich nur in der ersten Ausgabe des von B. kom-
mentierten Second livrc des Amours von Ronsard (1560) findet; denn Ron-
sard ersetzte nachher, wie er häufig verfuhr, den Namen Choiseul durch
einen anderen, so daß der Anlaß zur Bemerkung entfiel. An der Hand der
Ode ä M'jr. le duc de Guise wirft E. mehr Licht auf B.s Teilnahme am Feld-
zug gegen Neapel und macht es wahrscheinlich, daß B. in die Kavallerie des
Marquis d'Elbeuf eingereiht war, der ihm später die Erziehung seines Sohnes
am Guisenhof in Joinville anvertraute. Auch ein paar unedierte Übersetzungs-
versuche B.s aus Parmenides, Ovid und Martial hat E. zusammen mit solchen
von Ronsard, Nicolas Denisot etc. ausgegraben, nach denen man bislang,
durch falsche Angaben von Binet und Colletet irregeleitet, fruchtlos die
Rhetorik von Ramus durchstöberte, statt seine französische Dialektik, in der
sie stehen.
Das Schwergewicht der Studie liegt in der kritischen Durchleuchtung
von B.s Werk, die den II. und III. Teil ausfüllt. Die Quellenuntersuchung
bringt manche Ergänzungen zu dem, was wir seit Vianey, Besser u. a. wissen.
B. ist wie alle Renaissancedichter nie auf Selbständigkeit in modernem Sinn
versessen, in seinem Schaffen durchaus von fremden Vorbildern abhängig,
außer von einheimischen von italienischen, lateinischen (alten und neuen) und
von griechischen, die ihm als gelehrtem, gerade wegen seiner gründlichen
Kenntnis der griechischen Antike hochgeschätztem Humanisten innig vertraut
waren. Von den Franzosen hat auf ihn am stärksten Ronsard abgefärbt,
dessen Einfluß von den frühesten Versuchen B.s bis zu den Pierres precieuses
zu spüren ist. So ist B.s xVuakreon-Übersetzung nicht denkbar ohne die vor-
hergehenden Anakreon-Nachahmungen Ronsards, an die B. sich gelegentlich
sogar 'in den Reimen anlehnt und von denen er manchmal ganze Verse wört-
lich herübernimmt. Wie E. hervorhebt, wird die Anlehnung durchaus nicht
immer bewußt sein. Die Gedichte des bewunderten Meisters haften B. derart
im Ohr und im Gedächtnis, daß er nicht mehr von ihnen loskommen kann.
Die Arbeit am Kommentar zu den Sonetten durchtränkt ihn natürlich noch
tiefer mit Ronsards Geist und Wesen. Sehr einleuchtend zeigt E., wie ihm
unmittelbar aus dem Kommentar selbst Gedichte erwachsen, aus der Um-
schreibung mit anderen Ausdrilcken, die er von Ronsardschen Gedichten ge-
geben hat. Worin sich inmitten der vielen Beeinflussungen, die er erleidet,
B.s Eigenart behauptet, das will E. mit der Formel 'peintre de nature' ver-
anschaulichen, die er über den III. Teil als Titel setzt. Mir scheint das
Schlagwort, obwohl es von Ronsard stammt, nicht das glücklichste. Gewiß
versteht sich B. darauf, die Natur, Landschaften, die Umgebung von Join-
ville, das Treiben der Winzer zu schildern, lebendig, wenn auch mit den un-
vermeidlichen literarischen Reminiszenzen. Aber E. macht selber darauf
aufmerksam, daß B. seine Beobachtungsgabe, sein deskriptives Talent lieber
benutzt, um Architektur, Skulptur, Webereien, Geschmeide und dergleichen
wiederzugeben. E. heißt ihn mit Recht den Parnassier der Plejade : denn B.
gehört mehr als seine Freunde künstlerisch in die Gegend der dekorativen
Parnaßdichtung. Und zwar ist von den beiden Dichtem, die E. zum Ver-
gleich nennt, nicht Heredia der ihm verwandteste, sondern Gautier, mit dem
er verschiedene Züge gemeinsam hat. Wie bei diesem ist auch bei ihm der
Sinn für Monumentalität, für die ruhige Einfachheit gerader Linien nur
schwach entwickelt, um so größer aber die Neigung zum Gebogenen, Ge-
wundenen, zu Kurven, Spiralen und Schnörkeln. Und (was noch wichtiger
ist) auch B. hat ungewöhnlich enge Fühlung mit der bildenden Kunst, den
294 Beurteilungen und kurze Anzeigen
Kultus des von Menschenhand geformten Gebildes, das ihn (jedenfalls ohne
daß er sich bewußt und absichtlich wie Gautier auf solche Wirkungen dres-
sierte) mehr reizt als die Natur.
E.s Studie bedeutet eine willkommene Bereicherung der Plejadenforschung,
gründlich im Literarhistorischen, im Analysieren feinsinnig, voll von Ver-
ständnis und Liebe. Schade, daß der Versbau B.s ganz mit Schweigen über-
gangen wird. Ein paar Seiten darüber wären zur Abrundung wünschenswert
gewesen. Zum Schluß nur noch eine kleine Bemerkung zu S. 212! Daß in
dem Cliant pastoral ein Widerspruch herrsche, scheint mir gar nicht sicher.
Die Verse, die B. Toinet in den Mund legt, um die Schilderung des Bechers
einzuleiten, müssen doch nicht so aufgefaßt werden, als wäre der Gewinner
und Spender des Bechers, 'eil qui me l'a baillee,' und der Drechsler, der ihn
verfertigt hat, der 'gentil Bougar', ein und dieselbe Person. Freilich bleibt
auch dann die Frage offen, warum B. von 1572 an den Namen Bougar am
Ende ausmerzte.
Freiburg i. Br. H. Heiss.
K. Vossler, La Fontaine und sein Fabel werk. Heidelberg, Carl
Winter, 1919. 190 S. M. 6,50, geb. M. 9,10.
Die aus Vorlesungen an der Münchener Volkshochschule hervorgegangene
Schrift ist durch einige Züge auch für den Fachmann nicht uninteressant.
Die vier ersten Abschnitte (Leben und Dichtung in Frankreich unter Lud-
wig XIV. — La Fontaines Bildungsgang — La Fontaine als Satiriker und
Humorist — Fabel- und Tierdichtung vor und nach La Fontaine) nehmen
ziemlich viel Raum ein, und das über die Fabeln selbst Vorgetragene ist
einigermaßen knapp bemessen, besonders da die Betrachtung über die Fabel
vom Raben und vom Fuchs schon anderweitig gedruckt vorlag, doch wird
man etwas durch die Anhänge 2 und 3 entschädigt, in denen die Fabel von der
Kutsche und der Mücke sowie die Wolfsfabeln besonders behandelt werden.
In nicht wenigen Punkten muß man Ausstellungen machen oder den
Ausführungen des Verfassers widersprechen; nur einige seien berührt. Der
Wortreichtum, über den bekanntlich V. verfügt, wirkt nicht immer erfreu-
lich auf den Leser; man sucht zuweilen vergeblich nach der zugrunde liegen-
den Anschauung, erhält keine klare Vorstellung und vermißt erläuternde
Beispiele, so S. 48 — 50, 85, 118—9. Auch an Schlagworten fehlt es nicht
und nicht an Wendungen, die mehr verblüffen, als daß sie wirklich unter-
richten, so wenn La Fontaine S.53 als , verträumter Edelanarchist' bezeichnet
wird, oder es S. 61 — 2 heißt: 'die Einheit von Scherz und Ernst, von Rüh-
rung und Ironie aber heißt man Humor'. Es geht schlechterdings nicht an,
L. als einen trägen Hans den Träumer hinzustellen, 'eingesponnen in eine
Art träumerischen Genusses der sinnlichen Welt' (S. 23). Er besaß die Gabe
des Genies, die Außenwelt objektiv, tief und deutlich in sich aufzunehmen;
außerdem hatte er mehr Phantasie als irgendein Dichter des 17. Jahrhunderts.
Daß er es aber wie jeder echte Künstler nicht an der Anstrengung bewußten
Kunstschaffens hat fehlen lassen, um die vollendete Form zu finden, ist offen-
bar und wäre es auch, wenn wir nicht die Niederschrift der ersten Fassung
einer Fabel hätten, die ein von der endgültigen Gestalt ganz abweichendes
Aussehen zeigt. Die sehr subjektive, in apodiktischer Gestalt auftretende
Art V.'s macht sich mehrfach unangenehm bemerkbar. Taines Buch 'La
Fontaine et ses fables' obeiflächlich zu nennen (S. 145), ist zum mindesten
hart; das bei Taine überschriebene Kapitel 'Les betes' ist z.B. alles andere
als oberflächlich. S. 139 heißt es: 'Was den Menschen zum Dichter macht,
ist nicht der Besitz einer religiösen Gewißheit, sondern die Sehnsucht da-
nach'. Goethe sagt bekanntlich im Götz : 'So fühl' ich denn . . . was den
Dichter macht, ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz.' Wenn
Beurteilungen und kurze Anzeigen 295
S. 111 gesagt wird: 'Dieser Kritiker hatte keine Ohren, sonst mußte er hören,
wie der Dichter durch Metrum, Rhythmus und Eeim seine Moral erläutert
und uns ungeduldig gemacht hat gegen dieses ruhelose, wetterwendische,
komische Völkchen' (sc. der Frösche), so muß man ein großes Fragezeichen
dazusetzen, und ein nicht kleineres zu dem Satz von de Souza, den V. sich
zu eigen macht (S. 110, Anm. 1) : La Fontaine cJierclic l'existenee naturelle
de l'idee dans le rythme menie. Was auf S. 86 oben steht, nähert sich stark
dem Gesuchten und Geistreichelnden, und diesen Zug findet man besonders
in der stilistisch-ästhetisierenden Analyse der ersten Fabel. Da soll uns 'der
Standpunkt des Raben noch höher erscheinen' durch sur un arhre perche.
statt perche sur zm arhre; etre perche soll ein ,stolzes und protziges Thronen'
bezeichnen, was gar nicht der Fall ist, und dann heißt es: 'Diese wenigen
Züge lassen schon die aufgeblasene Gemütsart des Raben erraten.' Weiterhin
wird Folgendes hineingedeutet: 'Durch die Hochtüne bec laisse entsteht ein
Hiatus im Rhythmus, der den Käse zu verschlingen scheint', und noch weiter:
'Indem der Rabe im Satzbau als der Urheber beider Vorgänge erscheint,
entsteht ein komischer Widerspruch zwischen der gedachten Absicht des
Singens und der tatsächlichen Folge des Käse Verlustes.' Wenn denn über-
haupt von einem komischen Widerspruch die Rede sein kann, so würde er
ebenso entstehen, wenn das Subjekt wechselte. Auffallenderweise ist von
denköstlichen il ne se sent pas (dejoie) und mais un peu tard gar nicht die
Rede; letztere Wendung gestattet es übrigens nicht, von einem 'gutmütig
humorvollen Verweilen bei der Moral' (S. 75) zu sprechen.
Noch ein paar Einzelheiten. Tu ne tarderas guere in 'La mort et le
bücheron' wird gewiß richtig mit 'das kann dir kaum Verzögerung bringen'
erklärt (S. 124), aber nicht richtig ist es, daß 'die Erklärer sich über den
Ausdruck auszuschweigen pflegen,' denn schon Gerusez hat ihn zutreffend
gedeutet und nach ihm Reguier I, 108, der noch auf Littre tarder no 6 hätte
verweisen können. In Erstaunen setzt die Behauptung (S. 125), daß devise
'ebenso wie der Wahlspnich, zu dem man sich bekennt, die Losung und das
Los, dem man unterliegt,' bedeutet; abgesehen davon, daß Losung doch
synonym mit Wahlspruch ist, hat derise niemals das Los bedeutet, dem man
unterliegt. Die S. 137 angeführten Verse passen nicht zu dem vorher gesagten
'dem Tauber ergeht es bei Kleist mit jedem Tage besser'. Es brauchte nicht,
wie S. 157 bemerkt wird, mit dem Konjunktiv eile sepiaint quelle suit seule
ä agir zu heißen, sondern ebenso gut qu'elle agisse seule; natürlich beklagt
sie sich nicht über das Handeln, sondern über das 'Alleinsein' dabei, aber,
ob Indikativ oder Konjunktiv, seule hat eben den Akzent. Was soll es be-
deuten, Avenn zu dont j'aurai passe nion envie S. 170 hinzugesetzt wird:
'd.h. fait ixisser man envie"i Besser wäre ein Verweis auf lAtiYQ passer
n» 59 gewesen.
Jena. 0. Schultz -Gora.
Dr. Fritz Neubert, Die literarische Kritik Guy de Maupassants. —
Derselbe, Die kritischen Essays Guy de Maupassants (mit Aus-
schluß der literarischen Kritik). Supplementheft VIII und IX
der Zeitschi'ift für französische Sprache und Literatur. Chem-
nitz und Leipzig, Wilhelm Gronau, 1914 und 1919.
In dem ersten Heft gibt N. eine Übersicht über die literarischen Themen,
die Maupassant behandelt hat, im zweiten über die kritischen Essays Mau-
passants überhaupt, die er in folgende Rul>riken einordnet: Allgemeines,
Von der Schlechtigkeit des Menschengeschlechts, Maupassants Mitleid, Von
der Nichtigkeit und den Leiden des Lebens, Maupassants Lebenskunst, Die
Kunstkritiken. Es handelt sich also fast ausschließlich um den Journa-
296 Beurteilungen und kurze Anzeigen
listen Maupassant. Dieser war bis 1908 völlig unbekannt. Da erschienen
die Artikel von Paul Mahn im 'Literarisclien Echo', S. 77 ff. und 149 ff., die
sich fast unverändert in seinem Buch 'Guy de Maupassant', Berlin 1908,
wiederfinden. Mahn hat auf der Nafcionalbibliothek das Material für Mau-
passants Journalistentätigkeit gesammelt und uns eine hinreichende Über-
sicht und Charakterisierung gegeben. Immerhin wollte Mahn nur orientieren,
es wäre also Platz für eine größere Arbeit über den Journalisten Maupassant
geblieben. So hat N. seine Aufgabe nicht aufgefaßt, auch er gibt nur eine
Auswahl und will uns auf Grund der journalistischen Arbeit ein Bild von
Maupassants Weltanschauung geben. Im einzelnen bringt er nicht viel mehr
als Mahn : auch er kennt den (oder die) Artikel über die französische Poesie
des 16. Jahrhunderts nicht, der 1877 in der 'Nation' erschien. Flaubert
schreibt Corr. IV, 253 f. : Je trouve. tres bicn rotre article sur la poesie fran-
Caise. Cependant j'aurais voulu un peu plus d'eloge de Ronsard. Je vous
dirai en quoi je trouvs que vous ne lui rendex pas wie justice süffisante.
Mais cneore une fois je suis tres content de vous. Über die Beziehungen zur
'Nation' und weitere kritische Pläne Maupassants hätte N. noch manches
Interessante in der Correspondance Maupassants, Boule de Suif, Ed. Conard,
S. XCVII ff. finden können. Überhaupt hätte N., da er doch einmal das
schwer zugängliche Zeitungsmaterial durchgearbeitet hat, uns einen großen
Dienst erweisen können, wenn er uns Tatsächliches gegeben hätte statt
dieser Rekonstruktion von Maupassants Weltanschauung: In welchen Zeit-
schriften und Zeitungen hat Maupassant geschrieben? Wieviel und was unter
den Decknamen Guy de Valmont, Joseph Prunier, Maufrigneuse, Chaudrons
du diable, oder noch unter anderen? Zu welchen Zeitungen oder Zeitschriften
stand er in einem festen Verhältnis als Chroniqueur oder Rezensent? Reist
er 1881 nach Algier etwa im Auftrage einer Zeitung, und welcher? Es
fehlt noch so viel Positives in unserer Kenntnis von Maupassant dem Journa-
listen; aber auf diese Arbeit hat N. verzichtet, um uns die Weltanschauung
des Journalisten Maupassant zu geben. Dabei hat er einen Fehler gemacht:
er hat Maupassant zu ernsthaft genommen, er ist auf ihn hereingefallen.
Pol Neveux, der Freund Maupassants, der ihn sicher nicht unterschätzt hat,
schreibt, Boule de Suif, S. LXV f. : 'il est denue de tout esprit critique . . .
M plus tard, meme faiblesse ä exposer comme ä prouver, dans son essai sur
l'erolution du vornan dans l' introduction de Pierre et Jean, dans ses salons
enfin qu'il ne faut pas relire.'
Es ist rührend anzusehen, wie ernsthaft N. diese Ergüsse eines Durch-
schnittsjournalisten nimmt. N. bespricht den Einfluß von Flaubert und
Schopenhauer; über Flaubert handle ich in diesem Heft (s. o). Bei seinem
Vergleich mit Schopenhauer wirkt es tragikomisch, in den Anmerkungen ge-
treulich die Stellen aus den Werken Schopenhauers angeführt zu sehen, die
Maupassant benutzt haben soll. Dabei hat Maupassant nur eine ganz ober-
flächliche Kenntnis von Schopenhauer gehabt und sicher seine Werke nie
gelesen, Er kennt ihn, wie heute ein Journalist Nietzsche kennt, der vom
'Übermenschen' gehört hat und 'Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche
nicht' zitiert. So halte ich N.s Arbeit für einen Versuch am ungeeigneten
Objekt. Er nimmt ernst, was bloß Ergüsse eines Durchschnittsjournalisten
sind, der gerne und viel schreibt und Geld verdienen will. Nützlich gewesen
wäre eine statistische Arbeit und Festlegung des Raumes, den die Journa-
listik in Maupassants Lebensgeschichte einnimmt, so wie Mahn begonnen
hatte. Aber N. suchte und fand Ewigkeitswerte, wo es sich bloß um Ex-
pektorationen handelt — qu'il ne faut pas relire.
Jena. Heinrich Geizer,
Verzeichnis
der eingelaufenen Druckschriften.
Allgemeines.
Zeitschrift für österreichische Volkskunde. XXIV, 5/6. Febr. 19 [A. Hre-
degh, Religiöse Primitiverscheinungen im oberen Schwarzatal, Bezirk Wr.
— Neustadt, Niederösterreich. — W. Tschinkel, Sagen aus der Sprachinsel
Gottschee. — H. Ankert, Menschenblut als Medizin. — Ein Spottlied auf
Friedrich II. von Preußen. — H. Ankert, Die 'goldene Stunde' im Leipaer
Bezirke. — E. Neweklowsky,' Opankenerzeugung in der Herzegowina. —
Ethnographische Chronik aus Österreich. — Literatur der österreichischen
Volkskunde. — Mitteilungen aus dem Verein und dem Museum für Völker-
kunde].
Wiener Zeitschrift für Volkskunde, XXV 1/3, AprU 1919 [V. Geramb und
V. Zack, Das Steyrer Kripperl. — E. "Weinkopf, Volkstümliche Pflanzen-
benennung im n.-ö. Waldviertel. — L. Führer, Die Bevölkerung Montenegros.
— W. Tschinkel, Schimpf- und Spottnamen im Gottscheer Volksmunde. —
E. Neweklowsky, Die Montenegriner als Jäger und Fischer. — G. Gugen-
bauer. Wandern und Skizzieren. Volkskundliche Literatur. — Mitteilungen
aus dem Verein und dem Museum für Volkskunde].
Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts. VII, 1, 1917
[R. Lehmann, Adolf Matthias. — A. Bender, Basedows Verhältnis zur engl.
Philosophie. — A. Schwarz, Das Schulwesen im österr. Verwaltungsgebiet
Polens. — 0. Giemen, Zur Geschichte der preuß. Prinzenerziehung. — A. Kol-
litsch, Schulpredigten aus der Zeit Josephs IL]. — 2. [K. Knoke, Leben und
Schriften des hessischen Humanisten P. Nigidius (1501 — 83). — L. Neubaur,
Aus Briefen des Pädagogen Peter Kawerau.] — 3. [R. Stölzle, Ein Arzt als
Vorläufer pietistischer Pädagogik. — K. Freye, J. M. Lenzens Knabenjahre.
— 0. Giemen, Pestalozzi, Wolke, Tillich und Riga. — 0. Braun, Schellings
Ideen zur Kulturpädagogik]. — 4. H. Schönebaum, Das Sachsen- AI tenburger
Elementarschulwesen von 1672 — 1787. — H. Schmidt, Ein Erziehungsvertrag
aus dem Jahre 1763].
Fitzhugh, Thomas, The Indoeuropean superstress and the evolution of
verse (üniveraity of Virginia, Bulletin of the school of Latin. No. 9). Ander-
son Brothers, üniversity of Virginia, CharlottesviUe, Va. U. S. A. Price 2V2$.
112 S.
Berghoeffer, Christian Wilhelm, Der Sammelkatalog wissenschaftlicher
Bibliotheken des deutschen Sprachgebiets bei der Freiherrlich Carl von Roth-
schildschen öffentlichen Bibliothek. Frankfurt a. M., Baer & Co., 1919. 61 S.
Hilka, Alfons, Die Wanderung der Erzählung von der Inclusa aus dem
Volksbuch der Sieben weisen Meister. Breslau, Favorke, 1917. 44 S.
Hilka, Alfons, Eine bisher unbekannte lateinische Übersetzung der grie-
chischen Version des Kaiilabuches (Sonderabdruck aus dem 95. Jahresber. der
Schlesischen Ges. f. vaterl. Kultur). Breslau, Aderholz, 1917. 10 S. [Lat.,
Hs. XV. Jh., in Budapest].
Zum Gedächtnis Ernst Windischs (geb. 4. 9. 1844, gest. 30. 10. 1918).
I. Nachruf M. Försters. IL Nachruf E. Hultzschs. Mit dem Bildnis E. Win-
dischs. Leipzig, Brockhaus, 1919. 8 S.
Neuhaus , Johannes, Einführung ins Irische (An Gaedhealg [= engelsego]).
(Sprachen kleiner Völker, hg. von Th. Jaensch u. Joh. NeuhauB.) Halle a. d. S.,
M. Niemeyer, 1918. 64 S.
298 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
Reinhardt, Karl, Erläuterungen zu der Ordnung der Prüfung und zu
der Ordnung der praktischen Ausbildung für das Lehramt an höheren Schulen
in Preußen. 2. erweit. Aufl. Berlin, Weidmann, 1919. 145 S. 4 M.
Neuere Sprachen,
Literaturblatt für germanische und romanische Philologie. XXXIX, 11, 12,
Nov., Dez. 1918 [Behaghel: Holmberg, Zur Geschichte der periphrastischen
Verbindung des Verbum substantivum mit dem Participium praesentis im
Kontinentalgerraanischen. — Götze: Lichenheim, Studien zum Heiligenleben
Hermanns von Fritzlar. — Behaghel: Fortunatus, nach dem Augsburger Druck
herausgeg. von H. Günther. — Behaghel: Günther, Zur Herkunft des Volks-
buches von Fortunatus. — Reuschel: Rosenmüller, Das Volkslied: Es waren
zwei Königskinder. — Streuber: Lichtenstein, Gottscheds Ausgabe vonBayles
Dictionnaire. — Schroeder: Sauer, Grillparzers Gespräche und die Charakte-
ristiken seiner Persönlichkeit durch die Zeitgenossen. — Sulger-Gebing:
Saedler, Hebbels Moloch. Ein Kultur- und Religionsdrama. — Ackermann:
Hübener, Die stilistische Spannung in Miltons 'Paradise Lost'. — Fischer:
Bjurman, Edgar Allan Poe. — Spitzer: Richter, Studien über das neueste
Französisch. — Meyer-Lübke: Nyrop, Histoire etymologique de deux mots
frangais: haricot, parvis. — v. Wartburg: Gauchat et Jeanjaquet, Grammaire
et lexicographie des patois de la Suisse romande. Bibliographie. — Golther:
Klose, Der Roman von Claris und Laris. — Glaser: Becker, Clement Marots
Liebeslyrik. — Streuber: Chinard, Notes sur le voyage de Chateaubriand en
Amerique. — Pizze: Farinelli, La vita e un sogno. — Spitzer: Ettmayer,
Zur Kenntnis des Altladinischen. — Bibliographie. — Personalnachrichten. —
Notiz]. — XL 1/2, Jan., Febr. 1919 [Voßler: Burdach, Deutsche Renaissance.
2. Aufl. — Schuchardt: Spitzer, Fremdwörterhatz und Fremdvölkerhaß. Eine
Streitschrift gegen die Sprachreinigung. — Ehrismann: v. Steinmeyer, Die
kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler. — Wocke: Bremer, Deutsche
Lautkunde. — Wocke: Bremer, Deutsche Lautlehre. — Golther: v. Unwerth,
Christian Weises Dramen Regnerus und Ulvilda. — Siebeck: Wolff, Der
Toleranzgedanke in der deutschen Literatur zur Zeit Mendelssohns. — Sie-
beck: Van Stockum, Spinoza-Jacobi-Lessing. — Sulger-Gebing, Philipp Haf-
ners Werke. Hrsg. von Ernst Baum. — Streuber: Mich eil, Heyse and bis
predecessors in the theory of the Novelle. — Binz: Trautniann, Die alteng-
lischen Rätsel. — Ackermann: Wolff, Der Fall Hamlet. — Behaghel: Stoelke,
Die Inkongruenz zwischen Subjekt und Prädikat im Englischen und den ver-
wandten Sprachen. — Spitzer: Hatzfeld, Über die Objektivierung subjektiver
Begriffe im Mittelfranzösischen. — Hilka: Heldt, Franz. Virelais aus dem
15. Jahrhundert. — Streuber: Dietschy, Die 'Dame d'intrigue' in der fran-
zösischen Originalkomödie des 16. und 17. Jahrhunderts. — Glöde: Cordier,
J. J. Rousseau und der Calvinismus. — Krüger: Quelle, Verzeichnis wissen-
schaftlicher Einrichtungen, Zeitschriften und Bibliographien der ib er o -amerika-
nischen Kulturwelt. — Pfandl: Santiage Ganzalez Mateo, Vida, publ. por
Galo Sanchez. — Hilka: Jacobus des Voragine, Legenda aurea, deutsch von
R. Benz. — Pfandl : Hartig, Die Gründung der Münchener Hofbibliothek durch
Albrecht V. und Job. Jac. Fugger. — Bibliographie. — Personalnachrichten.
— Alfred von Weber-Ebenhof, Erwiderung. — A. Eichler, Schlußwort. —
Notiz]. — 3/4, März, April [Spitzer: Nienkamp, Kultur und Sprache. — Götze:
Matthias, Der deutsche Gedanke bei Jakob Grimm. — Cramer: Patzig, Die
Städte Großgermaniens bei Ptolemäus und die heut entsprechenden Orte. —
Golther: Patzig, Dietrich und sein Sagenkreis. — Ehrismaun: Wilhelm, Denk-
mäler deutscher Prosa des 11. und 12. Jahrhunderts. — Götze: Meyer, Die
Überlieferung der deutschen Brandanlegende. — Helm: Ludwig, Unter-
suchungen zur Chronologie Albrechts von Halberstadt. — Abt: Rank, Aus
dem Böhmerwalde und volkskundliche Beiträge aus Ranks übrigen Werken.
Verzeichnis der eingelautenen Druckschriften 299
— Abt: Günther, Die schlesische Volksliedforschung. — Paterna: Rabe, Sund
ji all' dor? Althamburgische Kasperszenen. — Behaghel: Rubens, Parataxe
und Hypotaxe in dem ältesten Teil der Sachsenchronik. — Koch : Langhans,
Untersuchungen zu Chaucer. — Ackermann: Kerrl, Die metrischen Unter-
schiede von Shakespeares King John und Julius Caesar. — Herzog: Foerster,
Kristian von Troyes. Wörterbuch zu seinen sämtlichen Werken. — Eck-
hardt: Melich, Die altfranzösischen Lehnwörter der ungarischen Sprache. —
Eckhardt: Homan, Der Name des ungarischen Volkes und der Titel des
ungarischen Königs im Latein des Mittelalters. — Spitzer: Herzog, Die Be-
zeichnungen der täglichen Mahlzeiten in den romanischen Sprachen. — Streu-
ber: Zingel, Untersuchung über die Originalität der pädagogischen Gedanken
Rabelais'. — Streuber: Werth, Frangois de Moliere, sein Leben und seine
Werke. — Glöde: Winkelmann, Zur Entwicklung der Staats- und Gesell-
schaftsanschauung Voltaires. Glöde: Marx, Claude Tillier als Romanschrift-
steller. — Appel: Voßler, Der Minnesang des Bernhard von Ventadorn. —
Hennicke: Durand, Lis Alenado dou Garagai recuei de pouesio prouvengalo.
— Pfandl: Spiro, Meisternovellen spanischer Autoren. — Bibliographie. —
Personalnachrichten. — Auskunfts- und Beratungsstelle für Latein. — Amerika.
— Warnatsch, Erwiderung. — Götze, Antwort. — Notiz]. — 5/6, Mai, Juni
[Binz : Leitzmann, Walther und Hiltgunt bei den Angelsachsen. — Behaghel :
Baesecke, Einführung in das Ahd. — Helm: Naumann, Ahd. Grammatik. —
Behaghel: Sütterlin, Die deutsche Sprache der Gegenwart. — Helm: Ganzen-
müller, Das Naturgefühl im Mittelalter. — Helm : Lindemann, Geschichte der
deutschen Literatur, 9. u. 10. Aufl., von M. Ettlinger. — Abt: Meier, Volks-
liedstudien. — Behaghel: Wustmann, Allerhand Sprachdummheiten, 7. Aufl.
— Golther: T. Stimmer, Comedia von zweien jungen Eheleuten, hrsg. von
W. Witkowski. — V. Wurzbach: Horsthemke, Melchior von Diepenbrock als
Übersetzer spanischer Dichtungen. — Hämel: Lejeune, Die deutsch-spanischen
Freundschaftsbestrebungen von Joh. Fastenrath. — Körner: Nathansky, Die
österreichische Seele. — Golther : Ch. Jensons den norske Dictionarium eller
Glosebog i ny utgave ved Torleiv Hannaas. — Binz: Gillespy, Layamons
Brut. — Fischer: Brie, Sidneys Arcadia. — Jordan: Zeller, Die Rechte des
Admirals von Frankreich nach der Hs. Paris. B. N. A. Fr. 10251. — Spitzer
Bachmann, Das englische Sprachgut in den Romanen Jules Vernes. — Glöde
Brix, Die Entwicklungsphasen der Maximen La Rochefoucaulds. — Wiese
Studi SU la lirica siciliana del dueccnto I, II, III. — Wiese: Tallgren, Les
poesies de Rinaldo d'Aquino. — M. L. Wagner: Schurr, Charakteristik der
Mundart von Portomaggiore. — M. L. Wagner: Schurr, Romagnolische Mund-
arten. — V. Wartburg: Salvioni, Dell'elemento germanico nella lingua italiana.
— V.Wartburg: Bertoni, Per l'elemento germanico nella lingua italiana. —
Spitzer: Bulleti de dialectologia catalana. 1915—1916. — Pfandl: Sanchez,
Refranes de Veo-Veo. — Pfandl : Corley, Word play in the Don Quixote. —
Schucnardt: Schuchardt, Die romanischen Lehnwörter im Berberischen. —
Bibliographie. — Literarische Mitteilungen, Personalnachrichten. — Dänische
Gesellschaft der Wissenschaften, Preisaufgabe. — Ibero-amerikanischer Stu-
dienpreis. — Universität Basel. Wackernagelstiftung. — A. v. Weber-Eben-
hof, Berichtigung. — Notiz]. — 7/8, Juli, Aug. [Spitzer: Mauthner, Beiträge
zu einer Kritik der Sprache. — Schumacher: Birt, Die Germanen. — Körner:
Scherer, Geschichte der deutschen Literatur mit einem Anhang von 0. Walzel.
— Behaghel: Welander, Studien zum Bedeutungswandel im Deutschen. —
Helm: Waag, Bedeutungsentwickluug unseres Wortschatzes. 3. Aufl. —
Paterna: Jack, Madame de Stael and the spread of German literature. —
Golther: Eirspennil, Am. 47 fol., udg. ved Finnur Jonsson. — Binz: Morte
Arthure, hg. von E. Björkman. — Ackermann: Albrecht, Neue Untersuchungen
zu Shakespeares Maß für Maß._ — Fischer: Fehr, Studien zu 0. Wildes Ge-
dichten. — Lerch: Spitzer, Über syntaktische Methoden auf romanischem
Archiv f. n. Sprachen. 140. 20
300 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
Gebiet. — Voßler: Spitzer, Aufsätze zur rom. Syntax und Stilistik. — Voßler:
Lerch, Die Bedeutung der Modi im Französischen. — Spitzer: Streng, Himmel
und Wetter in Volksglaube und Sprache in Frankreich. — Spitzer: Schwabe,
Der Konjunktiv im ital. Adverbialsatz. — Wagner: Menendez Pidal, Anto-
logia de prosistas Castellanos. — Bibliographie. Mitteilungen. — Spitzer,
Antikritik. — Schuchardt, Erwiderung]. — 9/10, Sept., Okt. [Spitzer: Schwyzer,
Genealogische und kulturelle Sprachverwandtschaft. — Behaghel: Paul, Deut-
sche Grammatik. — Götze: Blümel, Einführung in das Mhd. — Behaghel:
Götze, Familiennamen im badischen Oberland. — Helm: Wemicke, Die Prosa-
dialoge des Hans Sachs. — Berger: Eoethe, Martin Luthers Bedeutung für
die deutsche Literatur. — Berger: Merker, Reformation und Literatur. —
Helm: Meisinger, Volkslieder aus dem badischen Oberlande. — Abt: Mei-
singer, Oberländer Volksliederbuch. — Golther: Rittershaus, Altnord. Frauen.
— Golther: Finnur Jonsson, Rimnasafn, Sämling af de aeldste islandske. rimer.
— Golther: Beckman u. Kalund, Alfraedt islenzk, islandsk encyklopaedisk
litteratur H. — CoUin: Logeman, A commentary on the Norwegian text of
H. Ibsen's Peer Gynt. — Fischer: Wenzel, Cyril Toumeurs Stellung in der
Geschichte des engl. Dramas. — Minckwitz: Fischer, Die persönlichen Be-
ziehungen Eich. Monckton Milnes' zu Deutschland. — Schläger: Gennrich,
Musikwissenschaft und romanische Philologie. — Hilka: Dexel, Untersuchungen
über die franz. illuminierten Hss. der Jenaer Universitätsbibliothek. — Hilka:
Brandis, Beiträge aus der Universitätsbibliothek zu Jena. — Lerch: Nyrop,
Kongruens i Fransk. — Spitzer: Grieß, Die Tonschilderung in Lotis Romanen.
— Lewent: Appel, Provenzalische Lautlehre. — Wagner: Guarnerio, Le
'Launeddas' Sarde. — Pfandl: Miguel de Cervantes Saavedra, Obras com-
pletas. — Wagner: Coester, The literary history of Spanish America. —
Bibliographie. — Mitteilungen. — Personalnachrichten]. — 11/12, Nov., Dez.
[Wocke: Götze, Wege des Geistes in der Sprache. — Behaghel: Ehrismann,
Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. —
Streuber: Heusler, Deutscher und antiker Vers. — Helm: Keymann, Kudrun
en Biterolf. — Götze: Mohr, Die Dramen des V. Bolz. — Götze: Martin
Luther, Sämtliche deutsche geistliche Lieder, hg. von F. Klippgen. — Schott:
Schneider, Studien zu H. von Kleist. — Schott: v. Klein, Schenkendorfs
Liederspiel 'Die Bernsteinküste'. — Moog: Hof er, F. Hebbel und der deutsche
Gedanke. — Moog: Herke, Hebbels Theorie und Kritik poetischer Muster.
— Ackermann: Meißner, Jung-Shakespeare. — Fischer: Björkman, Lord Byron.
— Hilka: Mitteilungen aus der kgl. Bibliothek. IV. Kurzes Verzeichnis der
romanischen Handschriften. — Meyer-Lübke: Gillieron, Genealogie des mots
qui designeut l'abeille, d'apres l'atlas linguistique de la France. — Sperber:
Ljunggren, Barrikad. — Voßler: Homen, Studier i fransk classicism. —
A. Kolsen: Stimming, Bertran von Born. Kleine Ausgabe. — Voßler: Dante
Alighieri, La divina comedia, hg. von L. Olschki. — v. Wartburg: Butlleti
de dialectologia catalana. Juliol-desembre 1918. — Pfandl: Haebler, Biblio-
grafia iberica del siglo XV. — Schuchardt: Urtel, Zur baskischen Onomato-
poesis. — Bibliographie. — Literarische Mitteilungen, Personalnachrichten. —
Preisaufgabe. — v. Grienberger, Verwahrung. — A. Schulze, Erklärung. —
K. Voßler, Erwiderung. — 0. J. Tallgren, Eeplique. — B. Wiese, Erwiderung].
The American Journal of philologj^ XL, 3, No. 159, Juli, Aug., Sept. 1919
[C. Knapp, Eeferences to literature in Plautua and Terence. — E. B. Lease,
The use and ränge of the future participle. — A. C. Johnson, Problems in
Delphian chronology. — C. Waites, Satura rediviva. — Reviews and book
notices].
Modern language notes. XXXIV, 7, Nov. 1919 [J. D. Bruce, Mordrain,
Corbenic, and the vulgate Grail romances. — L. H. Harris, Lucan's 'Pharsalia'
and Jonsons 'Catiline'. — J. F. Bradley, Robert Baron's tragedy of 'Mirza'.
— L. A. Hibbard, Jacques de Vitry and 'Boeve de Haumtone'. — W. Kurrel-
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 301
meyer, German lexicography, II. — A. S. Cook, The authorship of the 0. E.
'Andreas']. — 8, Dec. 1919 [J. M. Beattv, Ir., The battle of the playera and
poets. — P. F. Baum, The fable of belling the cat. — H. T. Baker, The two
Falstaffs, — J. M. Burnani, An early Spanish book-list. — A. R. Nykl, The
talisman in Balzac's 'La peau de chagrin]. — XXXV, 1, Jan. 1920 [A. 0. Love-
joy, Schiller and the genesia of romanticism. — A. Schinz, Un 'Rousseauiste'
en Amerique. — J. E. Wells, Fielding's 'Champion' — more notes. —
H. W. O'Connor, Addison in Young's 'Conjectures'. — S. M. Beach, The 'Julius
Caesar obelisk' in the 'English Faust book' and elsewhere. — C. B. Ely, The
psychology of Betty Sharp].
Schweizerisches Archiv für Volkskunde. XXII, 3, 1919 [A. Wehrli, Die
Schwitzstübli des Zürcher Oberlandes. — Th. Delachaux, Le tavillon et son
emploi dccoratif dans l'architecture du Pays d'Enhaut. — S. Meier, Volks-
kundliches aus dem Frei- und Kelleramt. — 0. Ringholz, Die Einsiedler-
Wallfahrtsandenken einst und jetzt. — Miszellen. — Bücheranzeigen]. — 4
[H. Mercier, Sobriquets nationaux et internationaux. — E. Tappolet, La aur-
vivance de 'Diana' dans les patois romauds. — P. 0. Ringholz, Die Einsiedler-
Wallfahrtsandenken einst und jetzt (Schluß)].
Die neueren Sprachen, hg. von W. Küchler und Th. Zeiger. XXVII,
5/6 August— September 1919 [W. Küchler, Ernest Renan zwischen Frank-
reich und Deutschland. — Br. Herlet, Die neueren Sprachen in der neuen
Schule. — Th. Zeiger, Einheitsschule und neuere Sprachen. — Vermischtes.
— Anzeiger]. XXVII, 7/8 November— Dezember 1919 [B. Fehr, Drei Pro-
bleme ästhetischer Literaturbetrachtung. — E. Tappolet, Die Verwendung der
Lautschrift im fremdsprachlichen Unterricht. — W. Fischer, Kurze Bemer-
kungen zur 'vereinfachten Lautschrift'. — A. Schmidt, Beiträge zur französi-
schen Syntax (XIII.). — Eng. Lerch, Der Konjunktiv des psychologischen
Subjekts im Französischen. — 0. Weidenmüller, Deutsch und Fremdsprachen
auf der Oberrealschule. — Vermischtes. — Anzeiger]. XXVII, 9/10 Februar
—März 1920 [W. Hübner, John Locke als Sprachphilosoph. — V. Klemperer,
Vom Cid zum Polyeucte. — Vermisch tcB. — Anzeiger].
Modem philology XVII, 8, Dec. 1919 [E. H. Wilkins, The genealogy of
the editions of the Genealogia deorum. — E. M. Albright, Notes on the
Status of literary property, 1500—1545. — E. C. Baldwin, Milton and the
psalms. — J. D. Rea, Jaques in praise of folly. — J. W. Draper, Spenser's
linguistics in The present state of Ireland].
Sprak och stil. IX, 1/2, 1919 [G. Cederschiöld, Den nya bibelsvenskan. —
F. de Brun, Betydelsen av det medeltida ordet forfader. — J. Palmer, Till
nägra regier i Sahlstedts grammatika. — J. E. Hylen, Ett par konkunktions-
uttryck. — 0. Sylwan, Metriska spörsmäl. — 0. Gjeedman, Aktiva och pas-
siva versifikatörer emellan. — N. Lindquist, Förvanskade ord i Per Brahes
Oeconomia]. — 4/5, 1919 [M. Feuk, Bildspräket i Sensitiva amorosa. — F. Johan-
nesson. De med postposition sammansatta pronominella adverberna i modern
svensk litteraturprosa. En Statistik undersökning. — Th. Hjelmquist, Stefa-
nussynen i svensk diktning. — G. Bergstedt, Ett och annat om Tegners vers-
bildning. — R. G. Berg, Nya adjektiv pä — sam. — 0. Linden, Lokal inessiv
med i och pä].
Germanisch-romanische Monatsschrift. VII, 8/9, Sept. 1919 [J. Forchhammer,
Kopenhagen, Systematik der Sprachlaute als Grundlage eines Weltalphabets.
I. — 0. Walzel, Dresden, Die Formkunst von Hardenbergs 'Heinrich von
Ofterdingen'. — Frick, Ulm, Manon Lescaut als Typus. — Selbstanzeigen].
10/12, Okt.-Dez. [0. Walzel, Dresden, Die Formkunst von Hardenbergs 'Hein-
rich von Ofterdingen' II. — 0. H. Brandt, Dresden, Ländliches Leben in der
Dichtung des Hains. — H. F. Müller, Blankenburg, Shaftesbury und Plotinos.
— J. Forchhammer, Kopenhagen, Systematik der Sprachlaute als Grundlage
eines Weltalphabets IL].
20*
302 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
Neophilologus IV, 2, 1919 [S. Eringa, Les premieres manifestations de la
renaissance dans la poesie lyrique neerlandaise (1544 — 1555). — P. Valkhoff,
Sur quelque ouvrages d'Elie Luzac, II. — H. W. J. Kroes, Nhd. Krawall. —
0. Walzel, Die künstlerische Form der deutschen Romantik. — H. Annema,
Touter — tille — toelle. — R. Volbeda, Half preceded or foUowed by the
(in)definite article or other modifiers. — W. van der Gaaf, The pronunciation
of word. — A. G, van Hamel, Tondalus — visioen en Patricius — vagevuur.
— J. van Wageningen, Stopwoorden]. — 3 [C. de Boer, De plaats van het
attributieve adjektief in het moderne Frans. — P. Leendertz Jr., De atrophen
van Rutebeuf. — I. W. Marmelstein, L'edition strasbourgeoise de l'institution
chrestienne. — S. Eringa, Les premieres manifestations de la renaissance dans
la poesie lyrique neerlandaise (1544—1555). — S. A. Krijn, Een gemeen-
Bchappelike bron van Fagrskinna en Agrip. — Th. C. van Stockum, Wilhelm
Busch und der Humor. — W. van der Gaaf, Addenda to the pronunciation
of word. — W. A. van Dongen, Sr., Bevy and Galaxy. — A. E. H. Swaen,
Het 18 e Oudengelsche raadsel. — C. van Heerikhuizen, The plot of A mid-
summemight's dream, — A. G. van Kranendonk, Some notes on the metre
of Shelley's Sensitive plant. — A. E. H. Swaen, Unedited letters, III. —
J. Schrijnen, Gr. a/xa^a en Fr. brouette en zijn maagschap. — M. Boas, De
infinitivus futuri in het Grieksch en in het Nederlandsch]. — 4 [W. Mulder,
Les taffurs. — G. G. Kloeke: H. Sparnaay, Laudine bei Chrestien und bei
Hartmann. — M. J. Rudwin, Des Teufels Schöpferrolle bei Goethe und Hebbel.
— W. A. van Dongen Sr., He put on his hat and He put his hat on. —
C. van Heerikhuizen, How does the under-plot in Love's labour's lost rein-
force the central motive of the main action. — D. C. Hesseling, Observations
sur quelques emplois notables de l'accusatif en grec moderne. — J. J. A. A.
Frantzen, Über den Einfloß der mittellateinischen Literatur auf die franzö-
sische und deutsche Poesie des Mittelalters],
Creizenach, W., Geschichte des neueren Dramas, II. Bd.: Renaissance
und Reformation. 1. Teil. 2. verm. u. verb. Aufl. Halle, Niemeyer, 1918.
XV, 581 S. 20 M. + 200/0. [Der Band behandelt die latein. Renaissance-
dramatik und die Anfänge ihrer gelehrten Nachbildung in der Volkssprache.
Von englischen Erzeugnissen kommen besonders in Betracht: Grimalds Archi-
propheta, die Nachbildung des Panimachius, die Übersetzungen des Seneca,
Gorboduc, Tancred und Jocasta. Die Darstellung ist gegenüber der ersten
Auflage nicht sonderlich vertieft. In der Fragestellung überwiegt das Stoff-
liche und die Form; die Verknüpfung der Dichtungen mit dem nationalen
Leben trat in einem so international angelegten Werke naturgemäß zurück].
Germanisch.
Sievers, Eduard, Metrische Studien, IV: Die altschwedischen Upplands-
lagh nebst Proben formverwandter germanischer Sagdichtung. 2. Teil : Texte.
(Abhandlungen der Phil.-Hist. Klasse der Sachs. Ges. d. Wiss.) Leipzig,
Teubner, 1919. S. 266— 620, 4". M. 14. [Den Upplandslagh sind Proben
ähnlicher Formation beigefügt: auf dem skand. Gebiete aus der Gutasaga,
Eyrbyggjasaga, Gunnlaugssaga, Gylfaginning, Skaldskaparmal ; auf ags. Gebiet
aus den Gesetzen Ines, Alfreds und ^thelreds; aus Antworten auf Klage
um Land, Rectitudines ; ferner zwei Urkunden, Ged. auf Edgar, König
Edward und J^theling Edward, die Charakteristik Wilhelms des Eroberers,
auch einiges aus xElfrics Bibelschriften und den Sprüchen Catos; auf altfries.
Gebiete: Landrecht. Als Beispiel dieser Metrik mögen hier die ersten Strophen
aus der Schilderung des Eroberers in den Annalen 1086 folgen:
1 (= Plummer, S. 217, 24)
^fter üre drihtnes , halendes Cristea
gebyr-tfde an {)risend
wintra and seofon and hundeahtatig wintra
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 303
on dam an on twentigan geare
2 (= S. 217, 26)
Daes de Wilhelm weold Englalond swa him god öde,
gewear{) swide hefebc gear
ond swi^de wölberendlic on dissum lönde
swyIc eöde com <dä> on monnum
3 (-= S. 217, 29)
Dset ful'neah äfre se öder mön
wär|) ön däm wyrrestan yfle
(dset is on dam drife), ond mönige maenn
swulton on dam yfele.]
Skandinavisch.
Ibsen, Henrik, Die Kronprätendenten, historisches Schauspiel in fünf Auf-
zügen, deutsch von M. von Borch, hg. von Fritz Günther. (Velhagen und
Klasinga Sammlung, 168.) Bielefeld, Velhagen, 1918. XXX, 156 S. Geb.
M. 1,20. [Die Einleitung behandelt 1. Ibsens Leben und Werke, 2. das vor-
liegende Drama; auch wird einige Ibsenliteratur verzeichnet. Die Anmer-
kungen behandeln fast ausschließlich historische Dinge.]
Niederländisch.
Lion, C. Th., Kurzgefaßtes Lehrbuch der niederländischen Sprache für
den Selbstunterricht. Leipzig, Reisland, 1919. VIII, 140 S. M. 5.
Deutsch.
Wissenschaftliche Beihefte zur deutschen Alpenforschung, hg. vom Bunde
der Sprachinselfreunde, 3. Heft. Leipzig, Fischer, 1919. 11, 54 S. Einzel-
preis 80 Pf. Reihenpreis 50 bei gleichzeitiger Bestellung von 6 Heften
[A. Baß, Leipzig, Deutsche Sprachinseln in Südtirol und Oberitalien. —
Schriftennachweis. — Nachträge. — A. Baß, Die bisherigen Ergebnisse der
deutschen, französischen, italienischen und englischen Forschungen in den
7 Gemeinden von Vicenza in geolog. und palaeontol. Hinsicht. Schriften-
nachweis. Nachweis der Zeitschriftfolgen, die über die Sprachinseln und
Mundartenforschung Aufsätze brachten. Liste I. Bezieher und sonstige Emp-
fänger unserer Schriften. Liste IL Vaterländisches Vereinswesen.]
Hirt, Hennann, Geschichte der deutschen Sprache. (Handbuch des deut-
schen Unterrichts an höheren Schulen, begr. von A. Matthias.) München,
C. H. Beck, 1919. 301 S. M. 16.
Weise, 0., Unsere Muttersprache, ihr Werden und ihr Wesen. 9. verb.
Aufl. Leipzig, Teubner, 1919. VIII, 292 S. M. 4.
Händel, Oskar, Führer durch die Muttersprache. Dresden, Ehlermann,
1918. 173 S. M. 2,80.
Wahnschaffe, Friedrich, Die syntaktische Bedeutung des mhd. Emjambe-
ments (Palaestra 132). Berlin, Mayer u. Müller, 1919. VIII, 215 S. M. 9.
Läftman, Emil, Verbets modus i indirekt anföring i modern tvska.
Stockholm, Bonniers, 1919. VI, 322 ö. 12 Kronen. [Material: Bartsch, Vom
sterbenden Rokoko; Busse, Lena Küppers; Ebner -Eschenbach, Freihenin
von Gemperlein; Ernst, Das Glück ist immer da; Feldegg, Letzte Stunden;
Hauptmann, Atlantis; Hegeler, Die goldene Kette; Heyse, Im Paradies und
Novellen; Kretzer, Berliner Skizzen; Mann, Der Tod in Venedig; Ompteda,
Margret und Ossana; Perfall, Der schöne Wahn; Rosegger, Lasset uns von
Liebe reden; Schnitzler, Anatole, Kakadu, Worte; Stökl, Frau Juliane; Stratz,
Schwert an meiner Linken; Sudermaun, Frau Sorge; Thoma, Postsekretär;
Tovote, Nicht doch! und Frl. Grisebach; Wildenbruch, Das edle Blut. Aus
diesen Vertretern der modern - deutschen Erzählungsliteratur stellt Verf. zu-
304 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
sammen: die Verwendung des Konjunktivs im indirekten Nebensatz, die des
Indikativs und die anderer Verbalformcn. Ergebnisse S. 279 bis 321.]
Koch, Max, Geschichte der deutschen Literatur, I. Band, von der ältesten
Zeit bis 1748 (Sammlung Göschen). 8. neubearb. u. erw. Aufl. Berlin,
Göschen, 1918. 170 S. Geb. M. 1,25.
Danielowski, Emma, Das Hiltibrantlied. Beitrag zur Überlieferungs-
geschichte auf paläographischer Grundlage. Berlin, Maj'er u. Müller, 1919.
103 S, mit zwei Tafeln.
Scheffel, Viktor von, Ekkehard. Eine Geschichte aus dem 10. Jahrhun-
dert. Hg. von F. Eigl (Freytags Sammlung). Wien, Tempsky, und Leipzig,
Freytag, 1918. XIX, 43.5 S. Geb. M. 3,50.
Das Nibelungenlied, Übersetzung von Simrock mit gegenübergestelltem
Urtext, hg. von W, Frege, mit Einl. u. Anm. und 2 Beilagen in Kunstdruck.
Berlin, Bong (1918). L Teil: LVII, 763 S.; IL Teil: 342 S. geb. [Der mhd.
Text ist in der Fassung B abgedruckt; wo Simrocks Übersetzung dazu nicht
stimmte, ist sie nachgebessert. Die Einleitung unterrichtet sachkundig über
das Bekanntwerden der Dichtung in der Zeit der Romantik, gibt den Inhalt
der alten Nib.-Sage, hauptsächlich nach der Wölsungen Saga, vergleicht damit
die deutsche Sage und wendet sich dann zu der Erzählung in der Thidhrek-
saga als einem Zwischenglied. __In der Frage nach dem Verfasser ist große
Zurückhaltung beobachtet; ein Österreicher dürfte es gewesen sein, und ein
Mann des niederen Adels; alles übrige bleibt zweifelhaft. Der Anhang bietet
zunächst einen Abriß der mhd. Formenlehre und der Nibelungenstrophe, dann
viele sprachliche Bemerkungen, und bei jedem Abenteuer einen knappen Aus-
blick auf geschichtliche oder sagenhafte Grundlage. Die Ausstattung ist sehr
gefällig.]
Singer, S., Wolframs Willehalm. Bern, Francke, 1918. IV, 128 S.
Brosch. M. 10.
Dar kloane Catechismo von z^Beloseland, vorträghet in z'gaprecht von
siben kameün un a viar halghe gasang. In seminärien von Pädebe, 1842.
(Manuldruck: F. Ullmann, Zwickau Sa.) 39 S. Verth Kreuzer 7. [Ende Juni
1915 veranlaßte die ital. Heeresleitung die Räumung der deutschen Sprach-
insel Sette Communi auf dem Hochplateau von Asiago. Darauf ließ die Leip-
ziger Verlags- und Kommissions-Bucbhandlung, Leipzig-Reudnitz, Ranftsche
Gasse 10, den Faksimiledruck des sog. Kloanen Catechismo, als das letzte
Literaturdenkmal der Sprachinsel, für 5 M. — statt wie bisher um 20 M. —
verkaufen. Der Text liest sich wie lebendiges Althochdeutsch.]
Henrich, A., Die lyrischen Dichtungen Jakob Baldes. Straßburg, Trübner,
1915. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der ger-
manischen Völker, hg. von A. Brandl, A. Heusler, F. Schultz. 122. Heft.) 233 S.
[Biographie und Stoffgeschichte, Feststellung des äußeren Lebensganges eines
Dichters und seiner Anlehnungen und Entlehnungen sind die leichteren Auf-
gaben für den Literarhistoriker des 16./17. Jahrhunderts. Daß zumal die
neulateinische Lyrik schematisch und unfrei war, weiß jeder. Wie das dichte-
rische Individuum inmitten der erdrückenden Fülle von Konvention und
Tradition größte Mühe hatte, sich selbst durchzusetzen, etwas von sich durch-
schimmern zu lasseh, so ist es auch für uns heute sehr schwer, ihm auf die
Spur zu kommen. Deshalb kennen wir auch so wenige neulateinische Lyriker ;
aber wenn das mit Recht beklagt wird, so liegt es doch auch in der Natur
der Sache. Selten lockt irgendwo eine künstlerische Individualität. Für das
16. Jahrhundert hat Schröder doch immerhin den bedeutenderen nahezukom-
men gewußt, und was sich für sie und Bälde lohnt, das würde sich für die
Mehrzahl dieser poetisch exerzierenden Schulmeister und Geistlichen nicht
lohnen. Was uns mehr not tut als eine Reihe von Einzelmonographien, ist
deshalb eine Geschichte der Schulen, Strömungen, Muster und Formen, wie
wir sie von Ellinger erhoffen. Freilich, um so dringender ist die Verpflich-
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 305
tung, einem großen Talent endlich das Seine zu geben, und wenn Bälde
seit Herder auch des Entdeckers nicht mehr bedarf, so ist man über die
rein gefühlsmäßige Feststellung, daß hier poetische Werte vorliegen, ihm
gegenüber doch noch nicht ernstlich hinausgekommen. Ich verstehe persön-
lich besonders gut, wie H. durch Erich Schmidts Kolleg dazu geführt
worden ist, dem starken Eindruck, der aus den knappen, aber markant
charakterisierenden Worten unseres Lehrers hervorging, nachzugehen und
einmal zu untersuchen, wie es denn mit dem Lyriker Bälde bestellt ist. Eine
umfassende Kennzeichnung sollte es werden; nicht dem romantischen Ideal
der 'Dechiffrierung der Persönlichkeit' aus den. Werken wird dabei nach-
gejagt, denn deren ungehemmter Entfaltung und Äußerung im Gedicht standen
ja, wie H. selbst einsichtig auseinandersetzt, eine Menge von Schwierigkeiten
im Wege; und die Neigung hinwiederum, von sich selbst im engsten Sinne
zu reden, d. h. von allerlei äußerlichen Eindrücken und von körperlichem
Befinden, ist weder etwas individuell Baldesches — denn es ist vielen Ee-
naisaancelyrikern gemein — , noch vermag es das Bild des Mannes stark zu
beeinflussen. So ist hier das Dichterwerk für die Betrachtung das erste und
nicht nur Mittel zum Zweck, und das sei H. gedankt. Denn dessen hin-
gebende Betrachtung und eingängliche Charakteristik ist wie eine der wich-
tigsten, so der meistversäumten Aufgaben des Literarhistorikers. Die geist-
reiche philosophische Formel, auf die man den Mann und sein Werk viel-
leicht bringen könnte, fehlt hier völlig. Dafür erhalten wir wirklich ein
klares und übersichtliches Bild dessen, was er geleistet hat, lernen ohne
trockene Inhaltsangabe und ermüdende Quellenjagd seine Stoffe, ohne sche-
matisches metrisches Breittreten seine Formen, ohne psychologische Künstelei
seinen Gesichtskreis und sein typisches Reagieren auf Eindrücke, ohne vages
Ästhetisieren den speziellen Kuustwert der zahllosen Muster verpflichteten,
aber doch eigenen Kunst kennen. Insofern die Gedichte Baldes für H. aus-
schließlich Quelle und Gegenstand sind, kann er wohl sagen, daß seine Arbeit
kein neues Material bringt. Aber sie bringt neue Einsichten, auch in das
Einzel Verständnis des sprachlich -stilistisch nicht immer leicht zugänglichen
Dichters, und läßt ohne Koketterie ein reiches Wissen auf dem absichtlich
nur mit Vorsicht betretenen Gebiete der neulateinischen Stoff- und Formen-
geschichte durchschimmern. E. Schmidt, für den es die schlimmste Ver-
urteilung des Literarhistorikers bedeutete, wenn er von ihm sagen mußte:
'Er kann nicht charakterisieren', hätte seine Freude an dem Buche gehabt,
das seinen Namen mit Recht an die Spitze stellen darf. Hermann Schneider.]
Borcherdt, H., Augustus Buchner und seine Bedeutung für die deutsche
Literatur des 17. Jhs. München, Beck, 1919. VII, 175 S. M. 12.
Scherrer, Max, Kampf und Krieg im deutschen Drama von Gottsched
bis Kleist. Zur Form- und Sachgeschichte der dramatischen Dichtung. Zürich,
Rascher & Cie., 1919. IV, 428 S. M. 8. [Mit seiner Fragestellung und der
Art der Beantwortung löst dieses umfangreiche Buch nicht nur das Problem,
welches es sich vorgenommen hat, sondern entwirrt in der minuziösen Be-
handlung der einzelnen poetischen Strömungen und Gestalten auch Knäuel,
die nicht unmittelbar auf seinem Wege lagen. Das Ergebnis könnte man
etwa in die Worte fassen: Der Zeit Gottscheds und der Schweizer fehlt das
kriegerische Erlebnis, und so sucht sie Form und Gestaltung bei fremden
Vorbildern, ohne dem eigenen Fühlen Opfer zu bringen. Im Siebenjälu-igen
Krieg gewinnt das Erleben zuerst Gestalt und erstarkt mächtig in der radi-
kalen is^eugeburt der Geister, die wir 'Sturm und Drang' nennen. Bis zu
den Revolutions- und Napoleonskriegen bleibt es nun wach, um dann von
neuem ursprüngliche Anstöße zu erfahren. Shakespeare geht neben solcher
rauhen Wirklichkeit mächtig einher, wirft das Gewicht seiner Kunst als dich-
terisches Erleben in die Wagschale des jungen Geschlechts und prägt dessen
kriegerisches Erleben in bestimmte Formen, so daß sie den Krieg nur noch
306 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
mit seinen Augen schauen. Noch in der Faustschlacht beharrt Goethe im
allgemeinen auf diesem Ton, trotz machtvoll gesteigerten Ausdrucksmitteln.
Ihm gegenüber stellt sich Schillers Pathos und fordert und vergegenständ-
licht die höchste IdeaUtät von Sprache und Bild. Zu ihnen gesellt sich Kleist,
die Brücke zwischen beiden schlagend: er ist realistisch wie Goethe, aber
auch schwungvoll gehoben wie Schiller. ^ Neben der äußeren Darstellung des
Kampfes indes ist die innerliche Auffassung des Krieges nicht zu vergessen.
Der Sturm und Draug bejaht ihn freudig und sucht sein Werkzeug, die
Armee, zu reformieren. Schiller schwankt; er verherrlicht ('Wallenstein') oder
verwirft ('Wilhelm Teil') oder wägt gegeneinander ab ('Braut von Messina').
Die Kriegsauf fassung der Humanität, die schließlich bei ihm siegt, herrscht
unbedingt bei Goethe. In scharfen Gegensatz dazu setzt sich Kleist. Er
führt eine andere Zeit herauf, die kriegeiische Epoche Napoleons pulsiert in
seinen Stücken als immanenter Gehalt, die Anschauungen der Humanität
werden in Stücke zerschlagen. Wolfgang Stammler.]
Goethes Freundinnen, Briefe zu ihrer Charakteristik. Ausgew. u. eingel.
von Gertrud Bäumer. 2. Aufl. Leipzig, Teubner, 1919. V, 464 S. und
12 Bildnisse. M. 6.
Goethe, Faust, erster Teil. Vollständig hg. u. erl. von H. Steuding
(Freytags Sammlung). 3. Aufl., mit einem Titelbild. Wien, Tempsky, und
Leipzig, Frey tag, 1918. 263 S. Geb. M. 1,40.
V. Grolman, Adolf, Fr. Hölderlins Hyperion. Stilkritische Studien zu
dem Problem der Entwicklung dichterischer Ausdrucksformen. Karlsruhe i. B.,
Müller, 1919. 94 S. M. 5,50.
Grillparzer,F., König Ottokars Glück und Ende, Trauerspiel in fünf Auf-
zügen, hg. von Woldemar Haynel. (Velhagen und Klasings Schulausg., 170.)
Bielefeld, Velhagen, 1918. XII, 137 S. M. 1,20. [Die Einleitung bespricht
den Dichter und die Dichtung in sympathischer Weise und wundert sich
über die österreichische Zensur, die ein Werk von so ausgesprochen natio-
naler Gesinnung von der Aufführung am Burgtheater zunächst ausschloß,
sowie über die österreichische Zuhörerschaft, die, als das Werk endlich auf-
geführt wurde, den Dichter nicht verstand. Im Deutschen Reiche pflegte
man so spezifisch österreichischen Dingen überhaupt nicht viel Interesse ent-
gegenzubringen.]
Uhland, Ernst, Herzog von Schwaben, für den Schulgebrauch hg. von
Richard Eickhoff (Frevtags Sammlung). 4. umgearb. Aufl. Wien, Tempsky,
und Leipzig, Freytag," 1918. 110 S. M. 1.
Leitzmann, A., Wilhelm von Humboldt, Charakteristik und Lebensbild.
Halle a. d. S., Niemeyer, 1919. 102 S., 3 BUdn. M. 3,50.
Ranke, Leopold von, Auswahl aus seinen Werken, hg. von Otto Bauer.
(Velhagen und Klasings Schulausg, 173.) Bielefeld, Velhagen, 1919. XX,
174 S. Geb. M. 1,80. [In der Einleitung ist betont, wie sehr Ranke von
Walter Scott ausging und wie er au dessen Quentin Durward eine Kritik übte,
1 Gerade über Kleist sagt Scherrer viel Fruchtbares (S. 325 ff.) und bringt
neue Gesichtspunkte zur Geltuug. Ich hebe nur die zusammenfassenden Sätze
heraus: 'Historisch erreicht die formale Auseinandersetzung in Schiller ihren
Höhepunkt. Kleist greift sie leidenschaftlich noch einmal auf. Im Zusammen-
hang der ganzen Kunstentwicklung gesehen, zeigen sich seine Werke als
geniale, aber für jeden einzelnen Fall insbesondere gefundene, ganz eigen-
richtige und einmalige Formsyuthesen. Die vorwiegend klassische Penthe-
silea neben der vorwiegend Skakespearischen Hermannsschlacht zeugt dafür
am lautesten. Kaum ein anderes Schaffen schwankt so stark, kaum ein
anderes fordert von jedem neuen Werk so viel zugegebene Prämissen. Darüber
darf kein Zweifel sein: was dem Guiskard an Formalabsichten zugeschrieben
wird, war mit seinem Scheitern gescheitert und ist nie erreicht worden.'
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 307
die einen Anglisten zu einer Studie über diesen bedeutsamen Roman be-
geistern könnte. An Rankes Methode wird hervorgehoben, daß das Znständ-
liche bei ihm noch sehr im Hintergnind blieb, daß er aber bei Beurteilung
der Persönlichkeiten eine weitgehende konfessionelle Versöhnlichkeit zeigte.
Abgednickt werden ein Artikel 'Die großen Mächte' 1833, eine Skizze von
drei Seiten über die innere Selbständigkeit der deutschen Nation, ein ähnlich
kurzer Artikel über Bismarck aus dem Nachlaß, ein Essay über Friedrich
Wilhelm IV., eine Skizze über die deutsche Handelspolitik nach 1815, über
Hardenberg, Stein und Scharnhorst, Friedrich den Großen, Wilhelm I., Luther
und Iguatius Loyola. Über letzteren Beitrag urteilt der Herausgeber: 'Mit
einer bewundernswerten Feinfühligkeit und Seelenkenntnis hat er, der über-
zeugte Protestant, dem Innenleben Loyolas nachgespürt und sein Urteil durch
keine vorgefaßte Parteimeinung getrübt. Rankes Auffassungsweise ist klas-
sisch und dürfte für alle Protestanten, die mit ihren katholischen Volks-
genossen in Frieden leben wollen, vorbildlich sein.']
Scheffel, Viktor von, Der Trompeter von Säkkingen, ein Sang vom
Oberrhein, hg. und erläutert von Ernst Müller (Frevtags Sammlung), Wien,
Tempsky, und Leipzig, Freytag, 1918. XVI, 234 S. Geb. M. 2,40.
Walzel, 0., F. Hebbel und seine Dramen (Aus Natur und Geisteswelt
Nr. 408). Leipzig-Berlin, Teubner, 1919. 139 S. M. 2,15.
Die Quellen zu Gottfried Kellers Legenden. Nebst einem kritischen Text
der 'Sieben Legenden' und einem Anhang hg. von Albert Leitzmann. (Quellen-
schriften zur neueren deutschen Lit, Nr. 8.) Halle a. d. S., Niemeyer, 1919. LVI,
154 S. M. 4,40. [Leitzmann bietet in gewohnter Sorgfalt einen Neudruck
derjenigen Legenden Kosegartens, die als Quelle für Keller in Betracht kom-
men. Dazu kommt als Einleitung eine eingehende, wenn auch etwas trockene
Besprechung von Kosegartens Werk, die über Francks umfängliche Bio-
graphie (1887) in wesentlichen Punkten hinausführt. Schließlich ist ein Neu-
druck der Kellerschen Legenden angefügt, der merkwürdigerweise nach der
ersten, nicht nach der letzten vom Dichter durchgesehenen Ausgabe (der
dritten von 1884), veranstaltet ist, unter Verzeichnung der für Kellers Stil-
gefühl wichtigen Varianten. Der zweite Teil der Einleitung bringt dement-
sprechend eine Art Kommentar zu den 'Sieben Legenden', der sich an manchen
Stellen zu einem Kellerschen Stilrepertorium auswächst und dankenswerte
Sammlungen zu sprachlichen Besonderheiten zusammenträgt. Wie leicht sich
der Philologe aber irren kann, wenn er aus dem gedruckten Material Rück-
schlüsse auf frühere Fassungen ziehen will, haben Ermatingers Berichtigungen
zu S. LH in der deutschen Literaturzeitung 1919, Sp. 699 gezeigt; wieder
ein Fall, der zu methodischer Vorsicht ermahnt. Wiedergabe zeitgenössischer
Rezensionen beendet das für Seminarübungen sehr geeignete Büchlein. Noch
eine Frage: Woher hatte Keller die Namen, welche, er nicht bei Kosegarten
fand oder in seinen Legenden änderte, z.B. Gebizo, Bertrade, Zendelwald,
lole usw.? Wolfgang Stammler.]
B ey el , F., Zum Stil des Grünen Heinrich. Tübingen, Mohr, 1914. VIII, 201 S.
M. 4. [Auf diese sympathische Studie trifft Kellers unmutsvolles Wort über die
phantasielos dürren Literarhistoriker, ihre Auslegungs- und Vergleichungs-
wut nicht zu, die sie am Anfang zitiert. Es wird hier, um bei des Meisters
humoristischem Bilde zu bleiben, nicht ein toter Mops ausgegraben und
anatomiert; auch nicht eine unfertige Vorstufe schulnieisteilich mit einer
reiferen Ül3erarbeitung verglichen. Der Verfasser erkennt zwar mit Recht
ein erhebliches Weiterschreiten Kellers an, eine objektiv höhere Künstler-
Bc'iaft, die aus dem zAveiten Grünen Heinrich spricht, aber es können hier
doch zwei gleichberechtigte Kunstwerke gegeneinander abgeschätzt werden.
Zu dem naheliegenden Vergleich mit dem 'Wilhelm Meister' wäre freilich zu
sagen, daß Keller gegenüber die Aufgabe einfacher liegt insofern, als bei
ihm nicht wie bei Goethe dem stilistischen Reiferwerden ein starkes sach-
308 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
Hohes und kompositorisches Nachlassen entspricht, also die Entwicklung sich
formal und stofflich gleichmäßig nach aufwärts verfolgen läßt. Trotz des
Abstandes von dreißig Jahren hat Keller Goethes Entfremdung von dem
eignen Werke nicht gekannt, wenigstens hat er es nicht als Flickbau unter
Dach gebracht, sondern in die zweite Fassung ebenso wie in die erste seine
ganze Persönlichkeit hineingelegt. Und das eben vertieft die Aufgabe der
stilistischen Untersuchung: nicht nur ein reiferer Stilist, ein reiferer Mensch
tritt mit derselben Hingebung wie einst an das Werk heran. Die anders
gewordene Persönlichkeit in ihrem Spiegelbilde aufzuzeigen, das ist die Auf-
gabe, die B. mit löblichem Verständnis und phrasenloser Diskretion löst.
Wir werden nicht mit psychologischen Erörterungen, mit einem Schwall
philosophischer Termini überschüttet, auch die Prätention, tief in der Seele
des Dichters lesen zu können, was heutzutage viele so gut verstehen, erhebt
er nicht. Wie er auch das andere Extrem des pedantischen Schematisierens
meidet, das Zerfetzen der Sätze und Glieder des Kunstwerks nach gram-
matischen und syntaktischen Kategorien, das manche für das Wesen einer
Stiluntersuchung halten. Dennoch bietet er eine sorgfältige Sammlung. Mit
Recht betont er, daß Bewußtes und Unbewußtes in der Umarbeitung wie in
der stilistischen Leistung jedes Künstlers zu unterscheiden seien. Es bedeutet
kein Auseinanderzerren dieses unlöslichen Doppelprozesses, wenn S. scheidet
zwischen der reichlichen und sorgfältigen Feilarbeit, die mit berechnendem
Kunstverstand zur subtilen Umnuancierung verwandt worden ist, und einer
anderen Art der Umbildung, durch die eine allgemein so zu nennende Ob-
jektivierung des Stoffes sich eingestellt hat, aber unwillkürlich auf Grund
der gewandelten und gealterten Persönlichkeit. Daß gerade der Menschen-
bildner erst hat werden müssen, das zeigt B. in sorgfältiger Untersuchung,
die das allmählich immer plastischere Hervortreten des Individuums und seiner
Erscheinung bei Keller beweist. Wo trocken statistische Anhäufung von
Quellenbelegen am Platze scheint, da verweist B. diese nach Tunlichkeit in
die Anmerkung und hat somit seinem Büchlein eine angenehme Lesbarkeit
verliehen, die vergleichenden Stiluntersuchungen nicht immer zu eignen pflegt.
Hermann Schneider.]
Storm, Theodor, Novellen, hg. von Dr. W. Tesdorpf. (Velhagen & Kla-
sings Schulausg., 174.) Bielefeld, Velhagen, 1919. X, 191 S.,"mit einem
Bildnis. M. 1,50. [Die Einleitung beschränkt sich auf eine kurze Angabe
von Storms Lebensschicksalen und auf den Abdruck zweier Gedichte auf
ihn. Es folgt der Abdruck der Novellen Marthe und ihre Uhr 1847, Im Saal
1848, Abseits 1863, Unter dem Tannenbaum 1864, In St. Jürgen 1867, Viola
tricolor 1873.]
Englisch.
Englische Studien. LIII, 1, 1919 [E. v. Siebold, Synästhesien in der eng-
lischen Dichtung des 19. Jahrhunderts. Ein ästhetisch-psychologischer Ver-
such. — N. Bögholz, Zu den Konjunktionen. — Det kongelige Danske Videns-
kabernes Selskabs Prisopgaver for 1919. — Ankündigung von Arbeiten. —
Kleine Mitteilungen]. — 2 [J. Koch, Chaucer-Proben. — M. Rösler, Veraltete
Wörter in der Grammatica Anglicana von 1594. — E, v. Siebold, Synästhesien
in der englischen Dichtung des 19. Jahrhunderts. Ein ästhetisch -psycho-
logischer Versuch].
Anglia XLII, 4, Nov. 1918 [M. Förster, Kleinere me. Texte. — B. Münz,
Shakespeare als Philosoph. — B. Münz, Zwei Shakespeare-Studien. — R. Mothes,
Das Flugwesen und der ne. Wortschatz. — H. Lange, Chaucers 'Mynauctour
called Lollius' und die Datierung des Hous of Fame. — H. Lange, Über die
Farben König Richards IL von England in ihrer Beziehung zur Chaucer-
dichtung. Eine heraldische Studie, zugleich ein weiterer Beitrag zurLegenden-
prologfrage. — 0. B. Schlutter, Weitere Beiträge zur altengl. Wortforschung.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 309
— M. Förster, Zu den Erfurter Pflanzennamen], — XLIII, 1, April 1919
[H. Gramer, Das persönliche Geschlecht unpersönlicher Substantiva, einschließ-
lich der Tiernamen, bei W. Wordsworth. — F. Holthausen, Der me. Streit
zwischen Drossel und Nachtigall. — F. Holthausen, London Lickpenny. —
V. Langhans, Zu Chaucers Legendenprolog. — 0. Petersen, Beiträge zu Beau-
mont-Fletcher. — E.Westergaard, Verbal forms in Middle-Scotch. — O.B.Schlut-
ter. Weitere Beiträge zur ae. Wortforschung]. — 2, Juli [H. Gramer, Das per-
sönliche Geschlecht unpersönlicher Substantiva (einschließlich der Tiemamen)
bei William Wordsworth. H. — A. E, H. Swaen, The aiis and tunes of
John Gay's Beggar's opera. — M. Förster, Zu den 'Kleineren me. Texten',
Anglia 42, 145 ff. — 0. B. Schlutter, Weitere Beiträge zur altengl. Wort-
forschung]. — 3/4, Nov. [J. Koch, Das Handschriitenverhältnis in Ghaucers
'Legend of good women'. — M. Trautmann, Weiteres zu den ae. Rätseln
und Metrisches. — H. Gramer, Das persönliche Geschlecht unpersönlicher
Substantiva (einschl. der Tiernamen) bei W. Wordsworth. — E. A. Kock,
Interpretations and emendations of Early English texts. V. — F. Holthausen,
Zu me. Eomanzen. — F. Holthausen, George Ashby's Trost in Gefangen-
schaft].
Beiblatt zur Anglia. XXIX, 9, Sept. 1918 [Förster: Schrader, Reallexikon
der indogermanischen Altertumskunde. Erste Lieferung: Aal -Duodezimal-
system. — Eichler: Richter, Geschichte der englischen Romantik. 11. Bd.
Die Blüte der Romantik. L Teil. — Fehr: James Macpherson's Fragments
of ancient poetr)--, 1760, in diplomatischem Neudruck mit den Lesarten und
Umarbeitungen hg. von Otto L. Jiriczek. — Holthausen, Die Geschichte von
Martin Waldeck in W. Scotts 'The antiquary'. — Holthausen, Zu alt- und
mittelenglischen Denkmälern. 1. Zur ae. Exodus. 2. Zum ae. Neunkräuter-
segen. 3. Zu Dame Sirif). — Ellinger: The day of the Saxon; critical problems
of the British empire by Homer Lea. Mit Anmerkungen zum Schulgebrauch
hg. von Dr. A. Paul. — Meilin: Brandeis und Reitterer, Lehrgang der eng-
lischen Sprache für österreichische Realgymnasien. 1. Teil: A First English
primer. VL Teil: A nineteenth Century reader]. — 10, Okt. [Fehr: von der
Heide, Das Naturgefühl in der englischen Dichtung im Zeitalter Miltons. —
Fehr: Pound, Folk-song of Nebraska and the Gentral West. A Syllabus. —
Fehr: Smith, Bailads surviving in the United States. — Eichler: Sieper, Die
altenglische Elegie. — Björkman, Wortgeschichtliche Kleinigkeiten. — Neue
Bücher]. — 11, Nov. [Aronstein: Goetze, Der Londoner Lehrling im lite-
rarischen Kulturbild der Elisabcthanischen Zeit. — Kellner: Mai -Rodegg,
Hamletentdeckungen eines Schauspielers. — Kellner: Weiner, Die Verwen-
dung des Parallelismus als Kunstmittel im engl. Drama vor Shakespeare. —
Fischer: Bußmann, Tennysons Dialektdichtungen, nebst einer Übersicht über
den Gebrauch des Dialekts in der engl. Literatur vor Tennyson. — Born:
Atkinson, Dictionary of English and German militarj' terms and of other
words useful to officers. Part I: German-English ; part II: English-German.
— Björkman, Wortgeschichtliche Kleinigkeiten]. — 12, Dez. [Western: Deutsch-
bein, Sprachpsychologische Studien. — Born: Gaspars's Technical dictionary
English-German and German-English. Gompiled by G. N. Gaspar. — Born:
Eisner und Kriegeskotte, Technisches Wörterbuch für Werkzeugmaschinen
aind Maschinenwerkzeuge in Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch und
Spanisch. — Lange: Langhans, Untersuchungen zu Ghaucer. — Holthausen,
Zum älteren englischen Drama. 1. Welth and Helth. 2. Johan the Evangelyst.
— Mann, Die Geschichte von Martin Waldeck in W. Scotts 'The antiquary'].
— XXX, 1, Jan. 1919 [Holthausen: Kock, Jubilee jaunts and jottings. —
Langhans, Untersuchungen zu Ghaucer. — Caro: Jacobson, Gharles Kingsleya
Beziehungen zu Deutschland. — Garo: Fischer, Die persönlichen Beziehungen
Richard Monckton Milnes', ersten Barons Houghton, zu Deutschland. — Björk-
man, Bedwig in den westsächsischen Genealogien. — Neue Bücher. — Mit-
310 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
teilungen]. — 2, Feb. [Ekwall: Marcus, Die Schreibung ou in frühmittel-eng-
lischen Handschriften. — Ekwall : Halfter, Die Satzverknüpfung in der älteren
Genesis. — Born: Zimmermann, An easy handbook of German for soldiers.
— Born: Zimmermann, Military vocabulary, German -English and English-
German. — Caro: R. W. Emerson, The conduct of life. — Holthausen, Zu den
altenglischen Rätseln. — Neue Bücher]. — 3, März [Western: Jones, An out-
line of English phonetics. — Fischer: Born, Nachträge zu The Oxford English
dictionary; III. Teil. — Fischer: Deters, Die englischen Angriffswaffen zur
Zeit der Einführung der Feuerwaffen, 1300—1350. — Fischer: Wiener, Nao-
georgus im England der Reformationszeit. Hom: Handbuch der Auslands-
presse. 1918. Bearbeitet von der Auslandsstelle des Kriegspresseamts. —
Hom: Dehn, England und die Presse. — ISIutschmann : Krüger, Des Eng-
länders gebräuchlichster Wortschatz. — Fehr, Wordsworths pantheistische
Intuition in verstandesmäßiger Beleuchtung. — Holthausen, Ae. Hwala im
Widsith. — Holthausen, Drei Zitate bei Ouida. — Mitteilungen]. — 4, April
[Aronstein: Landsberg, Ophelia. Die Entstehung der Gestalt und ihre Deu-
tung. — Aronstein : Radebrecht, Shakespeares Abhängigkeit von John Mar-
ston. — Fehr: Jonas, Shakespeare and the stage. — Kellner: Jahrbuch der
Deutschen Shakespeare -Gesellschaft. Hg. von A. Brandl und M. Förster.
Bd. LIII u. Bd. LIV. — Rözsa, Unveröffentlichte deutsche Bearbeitungen
englischer Stücke auf den alten deutschen Bühnen in Ungarn. I. Shakespeare.
— Liebermann, Ein englischer Dichter fühlt Deutschlands Unglück], 5, Mai
[Björkman: Beowulf. Mit ausführlichem Glossar hg. von M. Heyne. 11.
u. 12. Aufl., bearbeitet von Levin L. Schücking. — Aronstein: Schöttner,
Über die mutmaßliche stenographische Entstehung der ersten Quarto von
Shakespeares 'Romeo und Julia'. — Mühe: Hudson, Milton and his poetry.
— Fehr: Cowl, The theorv- of poetry in England. — Fehr: Gretton, The
English middle class. — Mutschmann: Krüger, Unenglisches Englisch. —
Ib. Rözsa, Unveröffentlichte deutsche Bearbeitungen englischer Stücke aiif
den alten deutschen Bühnen in Ungarn (Schluß). — Holthausen, Zum Shake-
speare-Text. I. AU's well that ends well. IL Neue Bücher]. — 6, Juni
[la. Keller: Koppel, Das Primitive in Shakespeares Dramatik und die irre-
führenden Angaben und Einteilungen in den modernen Ausgaben seiner
Werke. — Mühe: Schofield, Chivalry in English literature. Chaucer, Malory,
Spenser und Shakespeare. — Fischer: Frey, Der Einfluß der englischen, fran-
zösischen, italienischen Literatur auf die Dichtungen Matthew Priors. — Fehr:
Steeves, Learned societies and English literary scholarship in Great Britain
and the United States. — Björkman, Zu einigen Namen im Beowulf. —
Mann, Zu Beowulf, hg. von Schücking, bespr. von Björkman. (Druckfehler-
verbesserung zu Beiblatt XXX, 121 f.) — Fehr: Zu Shakespeares Titus An-
dronicus. — IL Neue Bücher]. — 7, Juli [Fehr: Boyd, The contemporary
drama of Ireland. — Fischer: Gordon, The naming of characters in the works
of Charles Dickens. — Ekwall, Die Anglistik in Schweden in den letzten
zwei Jahren. — Holthausen, Zur englischen Aussprache des 18. Jahrh.]. —
8, August [van der Meer: van Haeringen, De Germaanse Inflexieverschiin-
selen ('Umlaut' en 'Breking') phoneties beschouwd. — Ekwall: Gevenich,
Die englische Palatalisierung von k > c im Lichte der englischen Ortsnamen.
Ekwall: Harz, Die Umschreibung mit do in Shakespeares Prosa. — Mühe:
Lorenzen, Peveril of the Peak. Ein Beitrag zur literarischen Würdigung Sir
Walter Scotts. — Fehr: Bax, Rerainiscenses and reflexions of a mid and lata
Victorian. — Fehr: The letters of Algernon Charles Swinbume. With some
personal recoUections by Th. Hake and A. Compton-Rickett. — Ib. Holt-
hausen, Zu 'Eule und Nachtigall'. — IL Mitteilungen: Det kongelige Danske
Videnskabernes Selskabs Prisopgaver for 1919]. — 9, Sept. [Fehr: Quiller-
Couch, Studies in literature. — Fehr: Besant, A., An autobiography. — Fehr:
Coulton, Social life in Britain from the conquest to the reformation. — Fehr:
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 311
Benham, English literature from Widsith to the death of Chaucer. — Mutsch-
inann: Thyret, Einführung in die franz. und engl. Lautlehre. — Aronstein:
Methode Alvincy, Gespräch- und Lesebücher etc.]. — 10, Okt. [Fehr, In
Memoriam Wilhelm Creizenach. — Fehr: Keeling letters and recollections,
ed. by E. T. with an introduction by H. G. Wells. — Förster: Antibaconis-
raus. " Shakcspeare-Bacon ? Zur Aufklärung seines Anteils an der Erneuerung
Österreichs von Dr. Albert Eichler. — Mühe: Sandison, The 'Chanson d'aven-
ture' in M. E. — Mutschmann: Fehr, Studien zu 0. Wildes Gedichten. —
Mutschmann, Zu 0. Wildes Gedichten]. — 11, Nov. [Ekwall, Erik Björkman.
— Björkman, Wortgeschichtliche Kleinigkeiten. 31. Ae. (jied, gidd, gydd
'Gedicht, Spruch'. — Me. Pletten 'schlagen, eilen, trampeln'. — Mutschmann,
Milton und das Licht]. — 12, Dez. [Fehr: la. Hecht, R. Bums. Leben und
Wirken des schottischen Volksdichters. — Mutschmann, Milton und das Licht
(Schluß). — IL Meilin: Velhagen und Klasings Sammlung französischer und
englischer Schulausgaben, Band 148 B: Eliot, The mill on the floss. Mit Ein-,
leitung und Anmerkungen zum Schulgebrauch hg. von 0. Hallbauer. —
Band 149 B: Locke, On civil govemment. Für den Schulgebrauch aus-
gewählt und mit Anmerkungen versehen von G. Humpf.]
English studies. I, 1, Feb. 1919 [E. Kruisinga, The inns of court. —
W. van Maanen, Shelley-translations. — I. W. Preger, The death of Dorian
Gray. — J. Gompers, Reply. — C. J. van der Weij, Identical idioms in Dutch
and English. — A. G. van Kranendonk, Notes on Modem English books]. —
2, April [F. Hopman, Remarks on the study of literature. — E. Kruisinga,
Free adjuucts. — R. W. Zandvoort, Modern studies. — W. A. van Dongen Sr.,
Some remarka on the use of One as a prop-word. — A. G. van Kranendonk,
Notes on Modern English books. — Fr. A. Pompen, Boer's Oergermaansch
handboek. — C, J. van der Wey]. — 3, Juni [W. van Doorn, A crowded
Company. — F. J. Hopman, Remarks on the study of literature IL —
A. C. S'tehouwer, 0. Henn,' F. P. H. Prick van Wely, Seeming parallels. —
W. A. van Dongen Sr., Adverbs formed from monosyllabic words in -y. —
W. A. van Dongen Sr., 'Labour in the quem'. — P. J. H. 0. Schut, Aids to
translation. — A. G. van Kranendonk, Notes on Modem English books. —
4, Aug. [F. J. Hopman, Some aspects of Lord Byron's character and poetrj^
— W. van Maanen, A literarj^ portrait of Swift. — A. G. van Kranendonk,
Notes on Modem English books]. — 5, Okt. [H. Poutsma, Participles. —
F. J. Hopman, Some aspects of Lord Byron's character and poetry II]. —
G, Dez. [H. Poutsma, Participles U. — 'A. G. van Kranendonk, Notes on
Modern English books.
Jespersen, Otto, Growth and structure of the English language. Awarded
the Volney prize of the Institut de France 1906. Thii-d ed. revised. Leipzig,
Teubner, 1919. IV, 255 S. [Es ist erfreulich, das bekannte Buch abermals
neugedruckt und in handliche Form gebracht zu sehen. Bei Kapitel 3, Old
English, würde man gem einige neuere Literatur, z. B. Schücking, berück-
sichtigt sehen. Auf me. Gebiete war die Forschung weniger tätig; da gilt
noch uneingeschränkt, was J. auf S. 222 über das Abbrechen der ags. Sprach-
tradition sagt. Auch daß Chaucer noch keine zweifache Wortgarnitur hat,
ist in Geltung. 'The same is true of Shakespeare': Gilt dies vollständig an-
gesichts der Vulgärreden, wäe sie z. B. Goneril mit ihrem Hausverwalter und
der Narr mit König Lear führt? Sicher hat J. recht, wenn er im 19. Jahrh.
feststellt, daß gewöhnliche und dichterische Rede oft stark auseinandergehen,
indem der Dichter den ungewöhnlichen Ausdruck bevorzugt. So bewährt
sich auf Schritt und Tritt die alte anregende Kraft des Büchleins.)
Gevenich, Olga, Die englische Palatalisierung von k > c im Lichte der
englischen Ortsnamen (Studien z. Engl. Phil. hg. von Morsbach). Halle a. d. S.,
Niemeyer, 1918. XVI, 168 S. M. 6.
Phönix, W., Die Substantiviemng des Adjektivs, Partizips und Zahl-
312 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
Worts im Ags. Diss. Berlin, Mayer u. Müller, 1918. M. 2. 82 S. [Das
Problem. Die untersuchten Denkmäler. Grenzen der ags. Substantivierung.
Substantivgebrauch in Beowulf, Elene, Juliana, Judith, Byrhtnoth und An-
nalen. Die «(/-Stämme. Ergebnisse. Weiterentwicklung der Substantivierung].
Trautmann, M., Die ae. Rätsel des Exeterbuchs hg., erl. u. mit Wörterverz.
versehen (Morsbachs u. Holthausens Ae. u. me. Texte, 8). Heidelberg, Winter,
1915. XX, 203 S. und 6 S. der Hs. auf Tafeln. M. 5,60. [Durch zwei Menschen-
alter hat gelehrter Fleiß und Scharfsinn diese noch nicht hundert Rätsel durch-
forscht; die Liste der von Trautmann benutzten Bücher und Artikel füllt
mehr als zehn Seiten; auch die verwandten lateinischen und altgermanischen
Rätselsammlungen sind zum Vergleich mit herangezogen worden; wenn trotz-
dem noch manche Rätsel ungelöst sind, darf man sie überhaupt als unlösbar
bezeichnen. Andere schienen bereits bewältigt und werden jetzt von Traut-
maun abermals in vorsichtiger, fast grübelnder Nachprüfung als fraglich be-
zeichnet oder geradezu anders gedeutet. Da gab es eine 'trächtige Sau'; sie
sollte fünf Junge im Leibe tragen und dadurch auf sechs Köpfe und zwölf
Augen kommen: so faßte Dietrich 1859 das 37. Rätsel. Im Interesse der
Volksernährung ist es fast schade, daß Trautmann 1894 das Gedichtchen in
der Mitte auseinanderschnitt und die erste Hälfte auf }io7no — midier — equus
bezog — so nämlich forderten es die eingeschobenen Runenzeichen ; die
zweite Hälfte sei 'Schiff. Holthausen und Löwen thal schienen damit ein-
verstanden; aber der Amerikaner Tupper erklärte 1910, 'Schiff sei die Lösung
für das Ganze ; es habe vier Füße, d. h. Ruder, unter dem Bauch und, wenn
es einen Mann, eine Frau und ein Roß trage, zugleich acht Füße auf dem
Rücken; auch die sechs Köpfe wurden phantasievoll mit herausgefunden.
Ein zweiter Amerikaner, Wynk, besah sich die Sache und wünschte das
Rätsel als Ganzes 'auf den Meeresgrund'. Trautmann lehrt jetzt 'des ge-
naueren', daß ein Mann mit einem Vogel in der Hand, sowie eine Frau mit
einem Hund auf dem Arm und einem Kind im Leib, zusammen auf einem
Rosse sitzend vorschweben; aber es sei auch möglich, daß der Mann den
Hund trägt und die Frau den Vogel. Selbst diese Deutung wird erst da-
durch ermöglicht, daß man das V. 7 überlieferte flod für ein Verderbnis aus
fold c-rklärt. Bei diesem Rätsel war die Lösung überdies beigeschrieben;
auch halfen Parallelen mit lateinischen Rätseln des Symphosius (5. Jh.) und
Aldhelm (7. Jh.), sowie mit altgermanischen Rätseln die Spur ausfindig machen I
'Hagelkörner' sollte Rätsel 58 besagen, wie Trautmann 1894 herausfand;
vorher sollten 'Schwalben' oder 'Mücken' gemeint sein; aber noch 1894
wurden es 'Regentropfen', 1905 'Gewitterwolken', und jetzt sind es plötzlich
'Mauerschwalben' geworden. Was werden wohl künftige Forschergenerationen
noch herauslesen? Aus solchen Erfahrungen wird man schließen dürfen, daß
es den Autoren und den Lesern dieser Literaturgattung weniger auf eigent-
liches Erraten der Rätsel ankam, als auf eine Mode des Beschreibens, die mit
der beliebten Figur der kemiiyi;) im Epos eine bemerkenswerte Ähnlichkeit
hat. Der durch Jahre fortgesetzte Eifer des Erratens bei unseren Forschern
soll deshalb nicht unterschätzt werden. Wieviel wird nur ags. Sprachgebrauch
evident, wenn man Trautmanns Anmerkungen durchgeht I Erstaunlich ist es
auch, zu beobachten, wie früh die Angelsachsen auf solche Stilmode ver-
fielen. Weder in Frankreich noch bei uns wären die Kreise, die die Volks-
sprache redeten, im Zeitalter Karls des Großen dafür schon zu haben ge-
wesen. Dies aber ist sicherlich das Alter der ags. Versrätsel, denn die eng
damit zusammenhängende lateinische Rätselproduktion der Angelsachsen, die
man gut datieren kann, reicht über das 8. Jh. nicht herab, ja mit Ausnahme
von Alkuin nicht über das erste Drittel des 8. Jh.s herab; von da an war
es mit allen Kunsträtseln in England für Jahrhunderte aus. Man überlege:
kaum ist um 700 die Missionszeit vorbei, so erwächst bereits solche Über-
stilisierung durch Gelehrte in der Volkssprache. Es ist eine Parallele dazu,
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 313
daß gleichzeitig der größte Gelehrte des Abendlandes an der schottischen
Grenze auftaucht und ein Stück Bibel in die Volkssprache überträgt: Beda.
Eine ungemein rasche Geistesentwicklung wird uns dadurch für die Zeit um
700 bezeugt, wenn nicht etwa mehr geistige Schulung, als man gewöhnlich
annimmt, den Angelsachsen schon vor der Bekehrung eigen war. Nach der
Verwüstung der Angelnreiche 868 ff. ist solche Schriftstellerei nicht mehr
denkbar; ihre natürlichen Pflegestätten, die Klöster, lagen in Trümmern. In
Alfreds Vorrede zur Cura pastoralis sind diese Verhältnisse auch deutlich
bezeugt. Was dort über die weitverbreitete Lateinkenntnis der etwas älteren
Angeln gesagt ist, stimmt zu den vielen Parallelen zwischen ags. und lat.
Rätseln, wie sie Trautmann in dankenswerter Weise aufdeckt. Über Einzel-
heiten der Rätselliteratur mag eich da und dort noch streiten lassen, aber
das Gesamtergebnis ist sicherlich durch Trautmanns kommentierte Ausgabe
festgelegt, die als reife Frucht eines halben Gelehrtenlebens zu schätzen ist.
A. Brandl.]
Wolf, Alfred, Die Bezeichnungen für Schicksal in der ags. Dichtersprache.
Diss. Breslau, Fleischmann, 1919. XII, 127 S. [Untersucht werden die Be-
deutungen der Wörter ivyrd, gesceap, gesceaft, (jewyrht, gecynd, gebyrd, gifeäe,
orlaeg.]
Hackenberg, Enia, Die Stammtafeln der ags. Königreiche. Dissertation.
Berlin, Mayer & Müller, 1918. IX, 117 S. M. 3. [Die erhaltenen Texte der
westsächsischen Stammtafeln werden vollständig mitgeteilt, auf ihre Verwandt-
schaft hin untersucht und so bezeichnet, daß sich ursprünglicher Wortlaut
von bloßer Kopie abhebt. Man wird fortan nicht mehr einen Stammtafeltext
des 15. Jh. als gleichwertig mit einer Urfassung behandeln dürfen. Auf diese
Wertabstufung durch philologische Kritik ist hauptsächlich hingearbeitet. Die
anderen Stammtafeln sind nur bis Florenz von Worcester herab mitgeteilt.
Die Anfänge der Genealogik erscheinen bei den Angeln; die Südleute scheinen
von ihnen abhängig.]
Mason, Lawrence, Genesis A, translated from the Old English. (Albert
S. Cook's Yale Studies, XLVIII.) New York 1915. VII, 61 S. [Die Kenntnis
der ae. Literatur bei der Allgemeinheit, der das Angelsächsische seiner Schwierig-
keit wegen unbekannt ist, will der Übersetzer vermitteln. Er wählt die ältere
Genesis als Denkmal, dem poetische Schönheiten nicht fehlen, und als Beispiel
der einstens so beliebten Bibelparaphrasen. Thorpes Übersetzung in seiner
Ausgabe von 1828 ist im allgemeinen nicht mehr zugänglich, darum schien
eine neue ins heutige Englisch nicht unangebracht. 'Übersetzen, heißt moder-
nisieren', sagt M. in seiner Einleitung. Er wählt daher moderne Prosa, frei
von antikisierenden und biblischen Wendungen, die durch den Stoff nahe-
lägen. Nur den eigenartigen Stil der angelsächsischen Poesie mit seinen zahl-
reichen Appositionen wahrt er und damit den eigenartigsten Reiz der Kunst-
form. Seine Übersetzung liest sich leicht und ist so gewiß zweckentsprechend.
Der zugrunde gelegte Text ist der Greins. Emendationen übernimmt er die
allgemein anerkannten; nur gelegentlich wagt er eigene und geht hierbei
vielleicht des klareren Sinnes halber, der ihm als Übersetzer ja besonders
am Herzen liegen mußte, etwas zu weit, als konservative Textgestaltung für
gewöhnlich gestattet. So möchte er V. 1492 pridda{n) durch dryäe ersetzen,
das Holthausen z. B. als dritte (Heimat) neben Himmel und Hölle ohne
Textänderung erklärt. Ebenso lösen sich die Schwierigkeiten in V. 1852
bis 1858 und V. 2400 mit Holthausen, der hierin Sievers bzw. Grein
folgt, durch Einführung eines Eigennamens ohne wesentliche Textveränderung.
Karl Brunner.]
Rubens, G., Parataxe und Hypotaxe in dem ältesten Teil der Sachsen-
chronik (Parker-Hs. bis zum Jahre 891). (Morsbachs Studien zur englischen
Philologie, LVI.) Halle, Niemeyer, 1915. X, 53 S. [Die Arbeit will unter-
suchen, in welcher Weise das gedankliche Abhängigkeitsverhältnis der Sätze
314 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
in einem primitiven Sprachtypus zum Ausdruck kommt. Auf den ersten
Blick scheint hierzu der älteste Teil der Sachsenchronik sehr geeignet zu sein.
Es ist das älteste zusammenhängige Denkmal in Originalprosa, das uns in
einer germanischen Sprache überliefert ist, somit einerseits frei von Nach-
ahmungen des Satzbaues künstlichen Prosastils, die sich in Übersetzungen stets
einstellen werden, anderseits von dem bereits hochentwickelten poetischen Stil,
wie er uns auch in den ältesten überlieferten poetischen Denkmälern entgegen-
tritt. Der Wert der Sachsenchronik für Fragen der Satzverknüpfung darf aber
doch nicht überschätzt werden. Für eine Untersuchung der Wortstellung und
vieler anderer syntaktischer Fragen ist sie gewiß von einzigartiger Wichtigkeit;
der dürftige Chronikstil, der nur selten über das bloße kurze Berichten von
Tatsachen hinausgeht, begünstigt aber naturgemäß bloßes Nebeneinanderstellen
von Sätzen ohne jede Verbindung oder bloß mit einer durch die beifügende
Konjunktion and, wie der Verf. selbst gelegentlich bemerkt (S. 12, 52).
Das Bild, das sich aus der Untersuchimg bietet, ist daher weit verschieden
von dem aus ähnlichen an poetischen Denkmälern (L. L. Schücking, Die
Grundzüge der Satz Verknüpfung im Beowulf ; W. Kopas, Die Grundzüge der
Satzverkuüpfung in Cynewulfs Schriften). Die Sachsenchronik mag mit ihrer
Vorliebe für asyndetische Parataxe der gesprochenen Sprache näher stehen
als die poetischen Denkmäler, in denen Hypotaxe verhältnismäßig häufig ist.
Die für sie besonders typische Aneinanderreihung von Sätzen auch ganz
verschiedenartigen Inhalts mit and und Konjunktionen zeitlicher Ordnung
(pä, her usw.) ist jedoch sicher auf Rechnung des Chronikstils zu stellen.
Der Beitrag, den sie zur Geschichte des Prosastils bietet, der sich von der
bloßen Aneinanderreihung von Sätzen, wie sie die gesprochene Sprache
unterstützt, durch die vierlerlei Ausdrucksmittel, die sie der geschriebenen
Sprache voraus hat, vorzieht, zur künstlichen Neben- und Unterordnung von
Sätzen durchringt, ist sicher sehr schätzenswert. Karl Brunner.]
Förster, Max, Die Beowulf- Handschrift (Berichte über die Verhand-
lungen der Sachs. Ak. d. Wissensch. zu Leipzig, philol.-hist. Klasse 71, 1919,
IV). Leipzig, Teubner, 1919. 89 S. und 2 Täfeln.
The recluse, a fourteenth centurv version of the Ancren riwle, critically
edited by Joel Pählsson. Diss. Lund, Ohlsson, 1918. XIV, 335 S. [Hs.
Pepys 2498 von Magdalene College Cambridge, um 1400 geschrieben, ist
hier zum erstenmal abgedruckt und eingehend mit Anmerkungen versehen.
Es ist eine freie, nicht sehr sorgsame Kopie der Ancren riwle mit einer
Reihe Auslassungen und Zutaten; der Text ist oft so verändert oder ver-
derbt, daß man das Original schwer wiedererkennt. Die Sprache ist nicht
einheitlich und schwankt zwischen südl. und mtl. Eigentümlichkeiten. Der
Abdruck ist verdienstlich; wer druckt uns bald die älteren Hss., die noch
ausstehen?]
Thiemke, Hermann, Die me. Thomas - Beket-Legende des Gloucester-
legendars (Palästra 101). Berlin, Mayer & Müller, 1919, LXIX, 185 S.
M. 15.
Chaucer-Handbuch für Studierende, ausgewählte Texte mit Einleitungen,
einem Abriß von Chaucers Versbau und Sprache nebst einem Wörterver-
zeichnis, hg. von M. Kaluza. Leipzig, Tauchnitz, 1919. 248 S. [Die eng-
lischen Chaucerausgaben sind zurzeit nicht zu erschwingen, und John Kochs
deutsche Ausgabe umfaßt nur die Canterbury tales; so dnickte Kaluza
Proben seiner verschiedensten Dichtungen mit Einleitungen, damit unser
Chaucerstudium weitergehen kann. Er beginnt mit eiuer Bibliographie, V« S.,
beschreibt das Leben des Dichters auf 2V2 S., gibt die Zeugnisse über seine
Werke und stellt von diesen folgende Zeittafel auf: ABC und andere kleinere
Gedichte vor 1369; Book of duch. 1369; Romau of the rose nach 1370;
Caecilie, Griseldis, Constance und Mönch nach 1373; Mars 1379; Boece, Former
age und Fortune nach 1380; House of Farne Dez. 1381; Pari, of fowles
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 315
Febr. 1382; Troylus 1382—4; Palamon 1385; Legend of good women 1385
—86; Canterbury tales 1387—1400; Astrolabe 1391; 2. Fassung, gen. A, des
Prologs Lgw nach 1394. TJber Chaucers Belesenheit, Handschriften und Aus-
gaben handeln IV2 S. Bei der Auslese der Texte wird besonders berück-
sichtigt HF, Pari, of fowles, von Troylus Buch I, III u. V, von G. W. der
Prol. A, von den Cant. taies der Prolog, Ritter, Wife of Bath und Par-
doner, Mönch und Nonnenpriester. Den Anhang bilden 6 Seiten über Chau-
cers Versbau und 14 über seine Sprache. Beim Wörterverzeichnis fällt jeg-
licher Mangel an Etymologie auf. Offenbar sollte nur für die einfachsten
Bedürfnisse der me. Lektüre gesorgt werden.]
Beschorner, Franz, Verbale Reime bei Chaucer. Diss. Göttingen 1920.
32 S. [1. Tendenz zu verbalem, 2. zu infinitivischem Reime bei Chaucer.
3. Konstruktion 'gan' mit reimendem Infinitiv. 4. Entwicklung dieser Sprach-
formen als Kriterium für Entstehungszeit, wobei sich für die mittlere Periode
die etwas bedenkliche Reihenfolge ergibt: Hous of Fame, Troilus, Parlement
of foules. Das Ganze wird in Morsbachs Sammlung erscheinen.]
Schöffler, Herbert, Beiträge zur me. Medizinliteratur. (Sächsische For-
schungsinstitute in Leipzig. Anglistische Abteilung I.) Halle a. d. S., M. Nie-
meyer, 1919. XV, 308 S. [Literaturverzeichnis S. VII— XV. Lexikograph.
Studien zur me. Medizin. Practica physicalia Magistri Johannis de Bur-
gundia mit Ausgabe des Textes nach Hs. aus der ersten Hälfte des 15. Jh.
und mit Nachweis von Quellen oder wenigstens Parallelstellen der einzelnen
Rezepte. Wortregister].
Arns, Karl, Der religiöse britische Imperialismus Bochum, Oschmann,
1919. 80 S. [Die Gewohnheit der Engländer, den Feind auch mit Religions-
waffen zu bekämpfen, -wird vom XVI. Jh. an herunter verfolgt bis zur
Gegenwart, mit einer Menge von Belegen, die allerdings häufig nur aus
zweiter Hand geschöpft sind, besonders aus Bries wohlbekannter Schrift über
den Imperialismus. Diese Gepflogenheit soll auf den Charakter der angli-
kanischen Kirche als einer Staatseinrichtung zurückgehen. In der Tat wäre
den Nachweisen des Verfassers noch einiges aus dem frühen Reformator
Becon beizufügen, der schon 1512 geboren wurde und bereits von den be-
sonderen Privilegien handelt, die England von Gott erhalten habe und für
die es dem Himmel besonderen Dank schulde. Aber andererseits ist solche
Kampfesweise nicht auf die Leute der Staatskirche beschränkt; die Puritaner
mit Cromwell an der Spitze haben sie noch eifriger gebraucht, und während
des letzten Krieges hat sich auch der katholische father Vaughan in London
nicht gescheut, wiederholt aufzufordern: 'Keep on killing Gennans'. Sollte
daher nicht der politische Zelotismus dem Engländer tiefer sitzen als die
Suprematie des Königs in der anglikanischen Kirche? Dazu würde stimmen,
daß Hobbes bekanntlich gelehrt hat, auf Befehl des Staatsoberhauptes müsse
der Bürger auch bereit sein, Christum zu verleugnen. Auf der Insel sind
von vornherein die Grenzen so stark markiert gewesen, daß sie mehr als
anderswo den Bewohnern frühzeitig ins Denken übergingen. Die Darstellung
des Verfassers ist also in historischer Hinsicht nicht lückenfrei; aber auch
so wirkt die Aufzählung alttestam entlicher Geschosse zu politischen Tages-
zwecken durch viele Seiten hin aufregend genug; die Schrift ist ein Beitrag
zur Geschichte des Religionsmißbrauches.]
Zachrisson, R. E., Engelska stilarter. Stockholm, Carlson, 1919. 175 S.
Kr. 4,.50. [Altertümliche Sprache wird von familiärer und vulgärer in pho-
netischer und grammatischer Art geschieden, worauf noch Textproben folgen.
Die Bibel und Hamlet stehen an der Spitze der altertümlichen Texte; aber
auch ganz moderne Verse pathetischer Art gehören dazu, wie 'A forsaken
garden' von Swinbume und 'Napoleons's downfall' von Hardy. Daß inner-
halb dieser Klasse verschiedene Strömungen zu scheiden wären, wird aller-
dings schon durch die Beigabe des 'Ancient mariner' von Coleridge an-
ArchiY f. n. Sprachen. 140. 21
316 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
gedeutet. Auch bei der Sprache der einfachen Leute dürfte wenigstens zwi-
schen Dialekt und Jargon gesondert werden. Zu sehr enthält sich Verfasser
der historischen Betrachtungsweise. Er hat eigentlich die Probleme nur an-
gedeutet.]
Münz, B., Shakespeare als Philosoph (auch Angl. XLIÜ, 2, 3). Halle,
Niemeyer, 1918. 105 S. M. 4. [Von einem Pliilosophen hätte ich mir syste-
matischere Arbeit erwartet. Kein Aufbau von Shakespeares Denkweise wird
versucht; Verf. erörtert nur einzelne Probleme, wie seine Stellung zu Mate-
rialismus, Pantheismus, Pessimismus und Optimismus, seine Vorstellung von
Zeit und Willensfreiheit, um zu zeigen, daß der Dichter philosophisch zu
konzipieren vermochte. Ohne weiteres ist dabei vorausgesetzt, daß er von
Montaigne und Giordano Bruno angeregt war, während der Hauptphilosoph,
der für ihn und seine Umgebung immer in erster Linie in Betracht kam,
nämlich Cicero, im Schatten bleibt. Da hat John Robertson in seinem Buch
'Montaigne and Shakespeare' 1909 bereits viel umsichtiger eine Reihe von
Parallelen zusammengetragen, wodurch Shakespeare mit älteren Lateinern
zusammenhängt.]
Eichler, A., Anti-Baconiaens, Shakespeare-Bacon? Zur Aufklärung seines
Anteils au der Erneuerung Österreichs. Wien, Neubauer, 1919. 120 S. [Ge-
wissenhaft folgt E. den phantasiereichen Einfällen der Baconianer durch ihre
Textaus- und -unterlegungen, ihre Buchstabenkünste und Bilderdeutungen,
als wollten diese Leutchen wirklich die Wahrheit und nicht bloß Mystik,
Träumerei, Sensation. Vergleicht man in positiver Weise das Denken der
beiden Zeit- und Stadtgenossen, so ergibt sich eine Divergenz, wie selten
in der Geschichte zwischen zwei geistig hervorragenden Nachbarn. Aufklärend
könnte die Ausmalung des Londoner und Stratforder Bekanntenkreises
wirken, der sich zu Shakespeares Autorentätigkeit öffentlich bekannte, mit
Wort und Bild. Auch die Parallelen zwischen den von Shakespeare unter
vollem Namen herausgegebenen und gedruckten Epen und den gleichzeitigen
Dramen könnten beweisen, was noch niemand mit einem triftigen Grunde zu
bestreiten vermochte, daß nämlich beide von demselben Autor herrühren.
Wer durchaus zweifeln will, wohl ihm!]
Harz, Hildegard, Die Umschreibung mit do in Shakespeares Prosa (Angl,
Arb. von Schücking und Deutschbein, 2), Cöthen, Schulze, 1918. VI, 142 S.
M. 4,80. [Unterschieden werden mannigfache Zwecke der Umschreibung:
Ausdruck der reinen und vollkommenen Einfühlung, teils in positiven, teils
in negativen Sätzen; Ausdruck der Einfühlung in negativen Sätzen, Aus-
druck der Einfühlung 'für' den Angeredeten in positiven Sätzen; Ausdruck
der Höflichkeit als Einfühlung; Ausdruck der intellektuellen Einfühlung;
objektiven Denkens; beim Imperativ; in Nebensätzen; das do der Sprach-
unkundigen; Rhythmik; die Umschreibung kann nicht erklärt oder entschul-
digt werden; in der Frage. Ergebnis: 'Ein Beweis mehr für die Feinheit
von Shakespeares Psychologie und die feste Fügung des Dialogs. Daß
mehrere Typen in den Romanzen fehlen, erklärt sich aus ihrer besonderen
Technik. — Außerdem fällt auf, daß die Umschreibung mit do zum Aus-
druck objektiven Denkens häufig in komischen Situationen verwendet und
gern von Personen gebraucht wird, die Sinn für Humor haben: Armado,
Falstaff, Teuchstone und die Clowns'.]
Shakespeare, Julius Caesar, auf Gnind der Schlegelschen Übersetzung
m. Einl. u. Anm. hg. von Christian Gaehde. (Die Meisterwerke der deutschen
Bühne, hg. von Witkowski, 77.) Leipzig, Becker. XV, 82 S. 30 Pf. — Ein
Sommernachtstraum (das 78.). XIV, 87 S. 30 Pf. [Die Einleitung zum
Sommernachtstraum ist gut und legt sowohl die Entstehung des Werkes klar,
als auch die Handlung, die Charaktere, den Stil, die Textüberlieferung, die
Bühnengeschichte und das Nötigste über Schlegels Übersetzung. Aber vor-
züglich ist die zu Julius Caesar, weil sie das Auftauchen des Stoffes über-
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften Sit
haupt im damaligen englischen Drama verfolgt, den wechselnden Auffassungen
von Caesar und Brutus bei Shakespeare nachgeht, die zeitgeschichtlichen Ein-
flüsse untersucht und die Veränderung des Dramatikers an seiner Quelle ein-
sichtig behandelt. Anmerkungen erläutern noch einzelne Stellen. Der Text
ist ^ut konservativ behandelt. Einiges ist in eklektischer Art nachgebessert;
die Veränderungen sind am Schluß zusammengestellt.]
Radebrecht, Friedrich, Shakespeares Abhängigkeit von John Marston
(Angl. Arb. v. Schücking u. Deutschbein, 3). Cöthen, Schulze, 1918, XVI,
122 S. M. 4,40. [Verf. glaubt, Shakespeare in Hamlet, Lear und Othello
abhängig von Marston erweisen zu können, speziell von dessen Drama 'An-
tonio's revenge'. Ist es sicher, daß dies Stück, das 1602 erschien, älter war
als Hamlet?]
Landsberg, Gertrud, Ophelia: die Entstehung ihrer Gestalt und ihre
Deutung (Neue angl. Arbeiten, hg. von Schücking und Deutschbein, 1).
Cöthen, Schulze, 1918. 92 S. M. 3,30. [Aus dem Vergleich mit verwandten
Skakespearischen Heldinnen folgert Verf.: 'Eine solche Vereinigung von
Schwäche, Weltlichkeit, Schönheit, Treulosigkeit, Krankheit und feenhafter
Holdseligkeit hat Shakespeare nie vorher und nie nachher geschaffen . . .
Shakespeare verwandte keine besondere Sorgfalt auf diese Figur, d. h. über-
haupt auf die Liebesepisode im Hamlet, weil das dem Wesen der Rache-
tragödie nicht entsprochen hätte, und wahrscheinlich auch, weil er keine
Lust am Weibe hatte wie Hamlet. Dazu stimmt ihre dramatische Unzuläng-
lichkeit. — Möglich ist, daß die Ophelia-Gestalt bei Shakespeare als Folie
für die Königin Gertrud gedacht sei: die reine, unberührte junge Unschuld
im Gegensatz zur düsteren Sünde; aber dieser Eindruck wird uns durch
Ophelias Schwächlichkeit sofort wieder gestört; im Grunde hat sie ja dem
Prinzen Hamlet so wenig die Treue gehalten, wie Gertrud dem alten König.
— Ophelias Wahnsinn ist und bleibt ein, wenn auch fesselndes, Accedens.
— Ihr eigentlicher Wert liegt nicht auf dramatischem, nicht auf psychologi-
schem, sondern auf rein poetischem Gebiet.' Man kann auch anders denken.]
Förster, Max, Das Elisabethanische Sprichwort nach Thomas Drakes
Treasurie of ancient adagies (1616). Sonderabdruck aus Anglia XLII. Halle,
M. Niemeyer, 1918. 64 S. M. 3,20.
Koberg, Werner, Quellenstudien zu John Crownes 'Darius'. Diss. Kiel.
Hamburg, H. Kampen, 1918. 142 S.
Mutschmann, Heinrich, Der aadere Milton. Bonn, Schroeder, 1920.
Vn, 112 S.
Hecht, Hans, Robert Burns, Leben und Wirken des schottischen Volks-
dichters. Heidelberg, Winter, 1919. 304 S. M. 11.
Fehr, Bernhard, Studien zu Oskar Wildes Gedichten. (Palästra 100.)
Berlin, Mayer & Müller, 1918. XH, 216 S. M. 12.
Zuber, Elisabeth, Kind und Kindheit bei George Eliot. Diss. Basel
1919. 91 S. [Zuerst wird das Kind bei älteren englischen Dichtem beob-
achtet. Anfangs erscheinen noch nicht Kinder, sondern nur junge Menschen ;
sie denken wie Erwachsene und reden sogar in Monologen. Eine zweite
Klasse taucht bei Chaucer und in den Mysterien auf. Der Knabe in Chau-
cers 'Prioress' tale' spricht kindlich. Man darf dabei auch an Isaak in einem
ungefähr gleichzeitigen Bibelstück erinnern. Shakespeare scheint von der
Verfasserin mit in diese Reihe gestellt zu werden; namentlich sein Arthur
im 'König Johann' durfte erwähnt werden. Statt seiner werden genannt
der Schwank 'Dobson's drie bobs' und die Bänkelsängerballade von den
Kindern im Walde. Aber alle diese Gestalten und auch die einschlägigen
bei Defoe und Fielding sind nur 'passive Kinder'; ihr Realismus ist am
ehesten fühlbar, wenn sie als enfant terrible sich gebärden; namentlich sind
sie Träger von Pathos. Eine dritte Stufe der Entwicklung hat sicherlich
mit Wordsworth eingesetzt, der hier nicht ganz zu seinem Rechte kommt.
21*
318 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
Die Romantik trachtete über das passive Kind hinaus, hat aber das Kind
eher überschätzt und für weiser erachtet als die verbildeten Erwachsenen.
Selbst Dickens sei über diese Grenze noch nicht hinause:ekommen; er hat
Kinder zu Hauptpersonen gemacht und mit individuellen Zügen ausgestattet,
diese jedoch ins Maßlose gesteigert. Die Eliot erbt solche Tradition. Mit
Wordsworth verehrt sie das Kind; Worte von ihm hat sie als Motto ihrem
'Silas Marner' vorangesetzt. Mit Dickens erzählt sie von Kindern gern
Schelmenstreiche, Aber sie kam über diese Vorgänger hinaus. Zunächst
sind Knaben und Mädchen bei ihr deutlich gesondert und mit Absicht ein-
ander gegenübergestellt, wie namentlich in 'The mill on the floss'. Femer
haben ihre Kinder ein engeres Verhältnis zu den Tieren, gebrauchen mehr
Gesten, denken unbehilflicher, sind in Rede und Verlangen mehr von Sinn-
lichkeit beherrscht, haben auch eine eigene Aussprache und Sj^ntax und
zeichnen sich namentlich durch 'Gefühlsgedächtnis' aus. Diese Vorzüge dankt
die Eliot weniger den Erzählerinnen, die ihr unmittelbar vorangingen, als
dem eigenen Gefühlsgedächtnis. Sie hat sich selbst so genau beobachtet,
als hätte sie die modernsten Kinderpsychologen studiert. Solches Wissen
hat zur Folge, daß sie weniger auf Erziehung gibt als auf Selbstentwicklung,
daß sie den Kindern nicht die herkömmlichen Liebesmotive zuschreibt, son-
dern Geschwister- und Elternliebe, daß sie überhaupt ihrem Kultureinfluß
gerecht wird. Nur der Mangel bleibt an ihr haften, daß sie zu früh den
Sinn für landschaftliche Dinge den Kindern aufgehen läßt. Gibt es nicht
noch viel kindlichere Figuren in modern englischen Erzählungen? Die Ver-
fasserin hat feinsinnig gearbeitet und von Dibelius viel Methode gelernt;
man liest ihre Darlegungen, wenn sie auch nicht erschöpfend sind, mit An-
regung und Genuß.]
Tauchnitz edition. Collection of British and American authors. Leipzig,
B. Tauchnitz. Je M. 6.50.
Vol. 4526. Bacon, Francis, The essays on counsels civil and moral, from
the final edition, with notes and a glossary by Leon Kellner.
„ 4527. Williamson, C. N., The wedding day.
„ 4528. Bennet, A., The truth about an author.
„ 4529. Bennet, A., The citv of pleasure.
„ 4530. Watson, H. B. M., the excelsior.
„ 4531. Shaw, Bernard, Three plays for puritans. Caesar and Cleopatra.
The devil's disciple. Captain Brassbound's conversion.
Krüger, G., Schwierigkeiten des Englischen. III. Teil: Vermischte Bei-
träge zur Syntax. Dresden, Leipzig, C. A. Koch, 1919. 190 S. M. 11. [Inhalt:
Excuse me laiujhing, Gerundium, Zwischenschiebung, oiily too, I meant to
have gone, demonstratives Subjekt fehlt, I was shoivn the collection, Umstands-
wort, A scoimdrel of a fellow, Wegfall von a nach never, Sonderheiten der Be-
tonung, Spielbetrieb in der Sprache, Eigenheit des nordamerikanischen Englisch.]
Krüger, G., Unenglisches Englisch, eine Sammlung der üblichsten Fehler,
welche Deutsche beim Gebrauch des Englischen machen. 2. stark verm. Aufl.
IX, 246 S. Geh. M. 7,20.
Krüger, G., Wiederholung der englischen Sprachlehre. Beispiele ohne
Regeln. Für Schulen und zur Vorbereitung auf Pinifungen. Dresden und
Leipzig, C. A. Koch, 1919. 21 S. M. 1.
Krüger, G., Des Engländers gebräuchlichster Wortschatz. Kleine Ausg.
des 'Systematic English - German vocabulary'. Für den Schul- und Selbst-
imterri'cht. Mit Angabe der Aussprache. 3. verb. Aufl. Dresden, Koch,
1918. VIII, 72 S. Geb. M. 1,20.
Boerner, 0., und 0. Thiergen, Grammatik der englischen Sprache,
Ausg. A, im Anschluß an das Lehrbuch der engl. Sprache f. d. Schulgebr.
bearb. von 0. Thiergen, neubearb. von B. Schulze. 5. Aufl. Leipzig, Teubner,
1918. Xn, 210 S. Geb. M. 4,20.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 319
Brandeis, A., und Th. Reitterer, Lehrbuch der engl. Sprache für Real-
schulen. Wien, Deuticke, 1918. Teil II: English reader. 156 S., 27 Bilder
und 2 Karten. Geb. Kr. 3,60. — Teil III: Literarv reader. 236 S. und notes
29 S., 5 Bilder, 27 Portraite. Geb. Kr. 5,60. ['English reader' enthält geo-
graphische und geschichtliche Artikel über England, dazu einige Geschichten
und Skizzen, die mehr für kindlichen Geschmack berechnet sind, auch Cowper's
'Gilpin', Burns' 'John Barleycorn' und Brownings' 'Piper of Hamelin'. Da-
gegen bringt 'Literarv reader' Artikel von und über Shakespeare und die
neueren Hauptautoren bis herab zu Shaw mit dessen 'Political character of
thc English', in den Mund Napoleons gelegt, der englische Teil schließt. Von
Amerikanern sind nur Franklin, Irving, Emerson, Longfellow und Mark Twain
vertreten. Die Entwicklung der Schullesebücher zeigt vielleicht am deutlich-
sten, wie sehr der englische Unterricht bereits modernisiert ist.]
Chambers, Two oenturies of English history. Für den Schulgebr. bearb.
von Arnold Schiller. (Velhagen & Klasings Schulausg., 157 B.) Bielefeld,
Velhagen, 1917. VIII, 119 S. Anhang mit Anmerkungen 46 S. M. 1,30.
[Die Firma W. und C. Chambers brachte beim Tode der Königin Victoria
eine Geschichte Englands von 1714 bis zur Gegenwart heraus, also eine Ge-
schichte der Dynastie Hannover, bei der hauptsächlich gezeigt werden sollte,
wie mächtig England unter dieser Dynastie gewachsen war. Dies Geschäfts-
werk empfahl sich dem deutschen Herausgeber dui-ch seine Form: 'Klare,
anschauliche Darstellung'. Ohne Irgendwie den Zweck des Werkes beurteilen
zu lehren, ohne die Auffassung irgendwie zu ergänzen oder gar zu korri-
gieren, sind 44 § daraus abgedruckt und einige Bildchen beigefügt. Zu An-
fang steht 'The insurrection of 1715'; sie wird als eine bare Torheit hin-
gestellt. Den Schluß macht 'The great Boorwar'; er erscheint nicht als viel
mehr. Der Schlußsatz verkündet, daß britische Ordnung überall in der Welt,
wo sie hinkommt, Frieden, Ordnung und Fortschritt bedeutet; wenn der
Herausgeber ihrer Ausdehnung auf unser Land das Wort reden wollte, hat
er zweckmäßig gehandelt.]
The English novel of the 19th Century: I. Specimens of the social novel:
Kingsley, Yeast; Sheehan, My new curate; Corelli, The hired baby; Besant,
All sorts and conditions of men. Für den Schulgebr. erkl. von H. Büning.
(Schöninghs franz. u. engl. Schulbibl. II, 16.) Paderborn, Schöningh. 108 S.
mit 18 S. Anmerkungen und 59 S. Wörterbuch. M. 2,10.
Grimm 's Fairy tales, select. and ed. by P. Kempf (Diesterwegs Neuspr.
Reformausg., 54). Frankfurt a. M., Diesterweg, 1919. 63 S., dazu 32 S. Notes
und 26 S. Wörterbuch. M. 2,60.
Stories for the young, für den Schulgebrauch hg. von M. Bücker-Schirr-
mann (Pariseiles Franz. u. engl. Schulbibl., C45). 95 S., dazu 33 S. An-
merkungen. M. 1,30 [14 Erzählungen aus englischen Kinderbüchern, geordnet
nach aufsteigenden Schwierigkeiten].
Shakespeare, Hamlet, mit Anmerkungen für den Schulgebr. hg. von
R. Ackermann (Velhagen & Klasings Sammlung, 161 B). XIX, 145 S., dazu
Anmerkungen und Namenverzeichnis 32 S. M. 1,60 [Enthält ein kurzes
Leben Shakespeares, bibliographische Angaben und eine Zeichnung von der
Bühne des Globustheaters, wie sie bei gefülltem Hause ausgesehen haben
dürfte.]
Carlyle, Thomas, A faithful friend of Germany (Pariseiles Franz. u. engl.
Schulbibl., 202). Leipzig, Renger, 1919. X, 79 S. Geb. M. 1,30. [Abgedruckt
sind einige Briefe von Carlyle an seine Braut und an Goethe; einige Stellen
von Carlyle über Goethe, Schiller und deutsche Literatur überhaupt; vier
Skizzen aus dem Leben Friedrichs des Großen; der bekannte Brief an die
'Times' von 1870 und schließlich ein Brief von Bismarck von 1875 mit Dank
für einen Geburtstagswunsch. Anmerkungen. Namenverzeichnis].
Emerson, R. W., Representative men, für den Schulgebrauch hg. von
320 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
R. Günther (Pariselles Franz. u. engl. Schulbibl., A 205). VII, 62 S., dazu
26 S. Anmerkungen. M. 1,20.
Mill, John Stuart, On liberty, mit Anmerkungen zum Schulgebr. hg. von
Wieckert (Velhagen & Klasings Schulausg., 158B). Bielefeld, Velhagen,
1918. XXIX, 119 S. mit Anhang von Anmerkungen 35 S. M. 1,30. [Diese
literarische Hauptfrucht des englischen Liberalismus, erschienen eine Genera-
tion nach der Reformbill, wird man schwerlich recht begreifen, ohne einen
Ausblick nicht bloß auf Mills eigenes Leben, das sehr still verlief, sondern
auf die Geschichte der politischen Partei, der er angehörte. Der grobe Frei-
heitsbegriff von 1832 war 1859, nach der Tätigkeit von Carlyle, der Christ-
lichsozialen und auch des ästhetisch sozialen Ruskin nicht mehr festzuhalten ;
er bedurfte der Verfeinerung und Ausgestaltung: diese hat Mill hier ver-
sucht und hiermit dem liberalen Programm die Lebensfrist beträchtlich ver-
längert. Wird der Schüler ohne solche Orientierung das Ziel des Autors
erfassen ? Es ist wohl eine der schwersten Aufgaben auf der höheren Schule,
eine Klasse so weit in englische Gedankengeschichte einzuführen, daß sie
von Mill mehr behält als den Eindruck des 'Rationalisten', wie er in der
Einleitung schlankweg genannt wird.]
Henty, G. A., By conduct and courage, erkl. von Huppertz (Pariseiles
Franz. u. engl. Schulbibl., A 204). VI, 106 S., dazu 21 S. Anmerkungen. M.1,50.
Stories of the great war by various authors (Pariseiles Schulbibl., 200).
VI, 91 S, M. 1,40. [Aus englischen Quellen werden abgedruckt Skizzen
über die ersten Kriegstage, die Einnahme von Lüttich, den englischen Rück-
zug, Paris im September 1914, die Torpedierung der drei englischen Kreuzer,
the race for the coast und die zweite Schlacht von Ypem, alles mit einer
gewissen Objektivität geschildert und gemischt mit Bewunderung für die
Tapferkeit der englischen — nur der englischen — Soldaten. Die Sympathie
der Verfasser ist natürlich bei unseren Feinden. Würden solche Berichte in
England für eine Schule zusammen gedruckt werden?]
Romanisch.
Zeitschrift für romanische Philologie, hg. von A. Hilka, XL, 1. 1919
[H. Breuer, Wendelin Förster zum Gedächtnis. — E. Richter, Grundlinien
der Wortstellungslehre. — W. Meyer-Lübke, Beiträge zur romanischen Laut-
und Formenlehre. 4. Geschichte des betonten mt. — W. Küchler, Über den
sentimentalen Gehalt der Haupthandlung in Crestiens 'Erec' und 'Ivain'. —
Vermischtes: H. Schuchardt, Romano-baskisches 'Schaf, 'Lamm'. — L.Spitzer,
Frz. maemouset, marmot — frz. eehelle 'Landungsplatz' — mm. porumb
'Mais'. — M. L. Wagner, Oberital. fers(a) 'Röteln' — lomb. bonxa 'Fäßchen'.
— H. Schuchardt, Oberengad. sutember 'September'. — L. Spitzer, Zur Motiv-
geschichte. — Besprechungen]. — XL, 2. 1919 [E. Gamillscheg, Französische
Etymologien I. — L. Jordan, Zum altfranzösischen Joufrois. — Vermischtes:
W. Meyer-Lübke, Prov. im aus en — Die iberischen Patronymika auf -ex —
Katal., span., portg. garra 'Klaue' — Altfranz, provenz. istiel. — K. Lewent,
Prov. pois (que) 'obgleich'?. — L. Spitzer, Katalanische Etymologien. —
K. Lewent, Hat Gaucelm Faidit französisch gedichtet?. — W. Meyer-Lübke,
Zu Pons de Capduelh — Zu Peire Vidal. — E. Höpffner, Die Folie Tristan
und die Odyssee — Die Anspielung auf Crestien de Troyes im 'Hunbaut'.
— Besprechungen]. — XL, 3. 1920 [Fr. Beck, Textkritische und grammatisch-
exegetische Bemerkungen zu Dantes Vita Nora. — M. L. Wagner, Ameri-
kanisch-Spanisch und Vulgärlatein. — J. Bruch, Zu Meyer-Lübkes etymo-
logischem Wörterbuch (Lieferung__7. 8). — Vermischtes: H. Schuchardt, Lat.
coturnix, rum. potirniehe. — E. Öhmann, Nochmals frz. noel. — Th. Braune,
German. *gan und it. gana, inganare, fr. enganer, sp. ganon, afrz gente, fr.
ganache u. a. — Franz. jappcr, afr. jangier u. urgerm. kamp. — G. Rohlfs,
Zur Lokalisierung von it. andare. — Sp. judia, kalabr. surdka 'Bohne' —
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 321
Südit. jumenta 'Stute' — Die Entwicklung von lat. cjr im Romanischen —
Frz. vite. — G. G. Nicholson, Un passage controverse des Serments de Strass-
bourg. — G. Bertoni, Due cobbole provenzali inedite. — Oliver M. Johnston,
Inferno XXIV, 119—20. — J. de Perott, Über die das Bild des Geliebten
widerspiegelnde Quelle in den Winternächten von Antonio de Eslava. —
Besprechungen. — E. Gamillscheg, Zu frz. hequine. — 0. Schultz-Gora, Zu
Zs. XL, 134, 138, 170. — H. Geizer, Zu Zs. XL, 166].
Romanische Forschungen, hg. von K. Vollmöller, XXXVIII, 2; aus-
gegeben im Oktober 1919 [C. Decurtins, Rätoromanische Chrestomathie,
XII. Band. — Ph. Fuchs, Das altfranzösische Verbum errer mit seinen
Stammesverwandten und das Aussterben dieses Wortes].
Archivum Romanicum, hg. von G. Bertoni. Vol. III No. 2, Aprile —
Giugno 1919 [M. Casella, II Somni d'en Bemat Metge. — G. Vitaletti, Bene-
dizioni e maledizioni in amore. — U. Daliari, Ricerche sul luogo ove nacque
a Reggio Lodovico Ariosto. — Varietä e Aneddoti: G. Bertoni, Note varie
al romanzo di Durmart lo Galois. — Due etimologie. — 'Erbolato'. — Cro-
naca bibliografica e critica]. — No. 3, Luglio— Settembre 1919 [L. Frati,
Poesie alchimistiche, attribuite a Jean de Meun. — C. Fahre, Documents
d'histoire trouves au XVI^ siecle dans les livres de Pierre Cardinal et de sa
famille (1218—1286). — A. Jeanroy et A. Längfors, Chansons inedites du
manuscrit frangais 846 de la Bibliotheque nationale (fin). -^ Varietä e Aneddoti:
G. Bertoni, Elementi lessicali volgari negli Statuts de l'Eglise de Maguelonne
(1331). — E. Platz, Anc. franc. russinole fem. — Une glose de l'Appendix
Probi. — L. Spitzer, Afrz. ox als Imperativ. — G. Bertoni, Note etimologiche
varie. — P. Aebischer, Etymologies romandes. — G. Bertoni, 'Fioldo' ; ^ma-
neggio' , 'malnssero'. — M. Krepinsky, Quelques etymologies espagnoles. —
T. Sorbelli, Una epistola di Marco Girolamo Vida. — Bibliografiaj.
Pauli, J., 'Enfant', 'gargon', 'fille' dans les langues romanes. Essai de
lexicologie comparee. Lund, Lindstedt, 1919. 422 S. [Ein gutes Buch, von
gründlichen Kenntnissen und trefflicher Methode zeugend. Von Vorarbeiten
waren nur Tappolets Romanische Verwandtschaftsnamen und die Schrift von
Alice Sperber, 'Zur Bildung romanischer Kindernamen' vorhanden. Der
reiche Stoff ist praktisch und übersichtlich angeordnet: 1. Teil, Tradition
latine, die sich in tr. propre und impropre gliedert, 2. Teil, die Creation
romane umfassend und zerfallend in I. Changements de sens mit verschie-
denen Unterabteilungen, II. Creation primitive, III. Mots d'emprunt, IV. Mots
d'origine inconnue. Die Dialekte sind in weitestem Maße herangezogen
worden. Hier und da wäre eine etwas stärkere Berücksichtigung der alten
Sprachperioden erwünscht gewesen, z. B. trifft man schon auf afrz. enfayit
= 'erwachsenes Mädchen' (S. 28), s. Bartsch, Rom. und Past. III, 5 V. 11.
Pucelle begegnet oft genug im 13. Jahrh. im Sinne von 'fille non mariee',
nicht bloß in dem von Littre angeführten Beispiel (S. 87); warum ist nicht
das pulxella aus dem Contrasto des Ciullo d'Alcamo erwähnt (S. 89)? Ein
Suffix -ton (S. 98) kann man nicht gelten lassen, höchstens -eton, das aber
aus et (efe) + on erwachsen ist, so daß ein *ßsseton die Vorstufe für fistoti
sein wird. Garce erscheint nicht erst im 13. Jahrh. (S. 147), sondern schon
bei Chrestien, s. Wörterbuch von Förster-Breuer, wo Löwenritter V. 1713
fehlt. Wo finden sich Belege für einen geringschätzigen Sinn von aprov.
bacalar (S. 171)? Der 'sens pejoratif braucht sich nicht aus der Bedeutung
'jeune gentilhomme' (S. 172) entwickelt zu haben, vielmehr genügt als Aus-
gangspunkt schon das einfache 'junger Mann', 'Bursch', vgl. unser 'Bursche'
in der Umgangssprache. Zu wall, trhie 'fille' 'fillette' < Catherme (S. 173)
konnte unser 'Tnne' in 'dumme Trine' verglichen werden, desgleichen zu
aprov. dolen 'pitoyable', 'miserable' (S. 181) unser 'traurig'. Die S. 189
Anm. 2 und S. 190 Anm. 1 besprochenen Herleitungen von maraud sind
sämtlich unbefriedigend. Marchot, der weder hier noch im ERW. 5264 er-
322 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
wähnt wird, ist m. E. allein auf dem richtigen Wege gewesen, wenn er an
einen Personennamen denkt (Zs. XVIII, 432), nur hätte er nicht Marulf, son-
dern Marald nennen sollen (Förstemann, Personennamens Sp. 1103); im übri-
gen muß marmid schon viel älter sein, als Sainean behauptet, der vom
16. Jahrh. spricht (Godefroy Co. belegt es zuerst aus Villon), denn man
findet schon in einem Fablel (Montaiglon-Kaynaud, Rec. II, 138) die Ab-
leitung maraudise, welches Wort ganz unbeachtet geblieben zu sein scheint.
Für Cosa von einer Frau gesagt (S. 210) sei an Cm-a-Cosa, die Tochter des
Albert Malaspina (12.— 13. Jh.) erinnert, s. Suchier, Dkm. S. 323 V. 21. Bei
neuprov. tetoun (S. 246) ist zu bemerken, daß teto in gleicher Bedeutung
schon in der alten Sprache vorkommt, wenn Levy, Pet. Dict. sie auch nicht
aufführt, s. Suchier, Dkm. S. 322 V. 1, der im Glossar kein Fragezeichen zu
setzen nötig hatte. S. 268 wird mit Recht nicht das Fem. touse als das Ur-
sprüngliche angesehen, sondern das Maskulinum, und wenn es heißt, daß das
Maskulinum im Altfranzösischen fehlt, so besteht daselbst doch tousel und
touset (s. Godefroy), die das Vorhandensein eines *tous voraussetzen. Zu der
Annahme von Meyer-Lübke RGW. 8785, daß touse ein Lehnwort aus dem
Provenzalischen sei, liegt kein zwingender Grund vor, vgl. die Form teuse
in Hs. E der Auberee, s, Ausgabe von Ebeling S. 137. Die Erkläi-ung der
Bedeutung von tendron 'junges Mädchen', wie sie das Dict. gen. gibt, ist
gegenüber Nyrop die bei weitem einleuchtendere (S. 285). Für marotte < Ma-
rotte (S. 316) war statt auf Dict. gen. und Nyrop auf Littre und besonders
auf G. Cohn in den Tobler- Abhandlungen S. 286 f. zu verweisen; letzterer
gibt die literarischen Fundstellen für Marote, denen sich noch weitere aus
der Pariser Steuerrolle von 1292 anschliessen lassen. Bemerkenswert ist
übrigens, wie selten die Form Ma^-iote zu begegnen scheint.]
Französisch.
Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, hg. von D. Behrens,
XLV, 7 u. 8 [Abhandlungen: K. Glaser, Aufklärung und Revolution in Frank-
reich. — K. Küchler, Die Ansichten des jungen Renan über französische
Literatur und Literaturkritik. — P. Högberg, Zwei altfranzösische Sprich-
wörtersammlungen in der Universitätsbibliothek zu Upsala. — W. Meyer-
Lübke, Etymologisches: 1. afrz. chaine, meisme und vei'wandte Formen;
2. afrz. rcunposner. — C. Friesland, Technische Hochschulen und neuere
Sprachen. — Referate und Rezensionen: F. Busigny, C. J. Merk, Anschau-
ungen über die Lehre und das Leben der Kirche im altfranzösischen Helden-
epos. — H. Maver, E. Gamillscheg und L. Spitzer, Die Bezeichnungen der
Klette im Galloromanischen. — Miszelle: ü. Behrens, alboche].
Gesellschaft für Romanische Literatur. Dresden. Sechzehnter Jahrgang,
1917. Der ganzen Reihe Band 41. Der festländische Bueve de Hantone,
Fassung II, nach allen Handschriften mit Einleitung, Anmerkungen und
Glossar zum ersten Male herausgegeben von A. Stimming. Band II: Ein-
leitung, Anmerkungen, Glossar und Namenverzeichnis, Dresden 1918. 514 S.
[Mit diesem stattlichen Bande bringt der nicht ermattende Herausgeber seine
Publikation der zweiten Fassung des festländischen Bueve zum Abschluß,
so daß jetzt nur noch der zweite Band zur dritten Fassung aussteht. Die
reichlichen Anmerkungen, über die ein praktisch angelegter Index orientiert,
bringen nicht wenig Belehrendes. Zu demie und denree (V. 1971), sowie auch
enforchies bei esterlins (V. 12907) vermißt man einen Hinweis auf Beiz,
Münzbezeichnungen S. 23, 30, 78. Warum wird durchgängig eue statt ere
'Wasser' geschrieben? Mander ist in den zu V. 2282 angeführten Stellen als
ein Verb des Wollens empfunden, da ja der Inhalt des r/we-Satzes nicht etwas
Tatsächliches, sondern etwas erst zur Ausführung kommen Sollendes ist,
also erwartet man eine etwas andere Fassung der Anmerkung. Die am
Schlüsse der Anmerkung zu V. 2354 namhaft gemachten Stellen können nicht
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 323
als parallel gelten zu dem grmis mals est du celer. In dem Satze iwi s'en
faloit, ne l'avoit ravise (V. 3622) wird ne l'avoit ravise nicht mit Recht als
abhängiger Satz bezeichnet, es ist vielmehr ein Hauptsatz, s. Tobler, VB.
IV, 38. Zu V. 5258 heißt es, daß rcre sanx, eve ein sprichwörtlicher Aus-
druck sei, aber Parallelstellen wären doch wohl am Platze gewesen; ich habe
mir nur Montaiglon-Raynaud, Rec. IV, 170 angemerkt. Für das Hysteron
Proteron (zu V. 7375) konnte Zipperling, Fablel du vilain mire 28/9 an-
geführt werden, der auch weitere, freilich nicht vollständige Literatur ver-
zeichnet; am Schluß der Anm. muß es doch wohl heißen: 'Buevelllb (noch
nicht erschienen)'. Zu desfre et senestre (V. 8047) war auf Tobler, VB. 112,
161 sowie auf Ebeling zur Auberee 335 zu verweisen. Die Unterdrückung
von i in g' irai un,d g'iroie (V. 12914) ist nicht nur 'nicht ganz selten', son-
dern ziemlich häufig, s. meine Anmerkung zum 'Ritter mit dem Fäßlein'
V, 382. Die Meinung von Suchier, daß Marti» in der Redensart chanter
d'mdre Martin aus matire entstellt sei (V. 14959) hat wenig Wahrscheinlich-
keit für sich, schon weil parier d'autre Bernart in gleichem Sinne daneben-
steht, 8. Rom. de Renart ed. Martin I, 52 V. 1853 und M.-R., Rec. III, 259.
Es ist nicht ersichtlich, wie man sich den Sinn vorzustellen habe, wenn in
V. 16606 trousse als Attribut zu d'or et d'argent gefaßt werden soll (s. S. 48).
— Das Wortmaterial der Anhänge ist nicht in das Glossar einbezogen
worden, deshalb sei hier besonders auf das interessante espiex easerex
(S. 350 V. 82) aufmerksam gemacht. — Im Index wird grant colp in ferir
gr. c. als Acc. graecus hingestellt ; das ist nicht zutreffend, auch wird in der
Anm. der Akkus, nicht so bezeichnet. Es fehlt 'Dativus ethicus', s. Anm.
zu V. 15735.]
Bartsch, K., Chrestomathie de l'ancien francais (VIII^ — XV« siecles)
accompagnee d'une grammaire et d'un glossaire. Douzieme edition entiere-
ment revue et corrigee par Leo Wiese. Leipzig, F.C.W. Vogel, 1920. XII,
548 S. M. 24, geb. M. 28. [Die sehr verdienstliche Neubearbeitung, über
deren frühere Ausgaben ich schon in der Deutschon Literaturzeitung von
1909 Sp. 1448—9 und 1911 Sp. 933—4 berichtet habe, liegt hier in 12. Auf-
lage, leider zu recht hohem Preise vor. Daß keine Anordnung nach litera-
rischen Gattungen vorgenommen ist, bleibt ein gewisser Übelstand, auf den
ich schon früher hingewiesen habe, der sich aber nun wohl nicht mehr ändern
läßt. Es sind einige neuerschienene kritische Texte verwertet worden, sonst
weist diese Auflage nur wenige Veränderungen gegenüber der 10. und 11.
auf. Immerhin würde sich doch eine nochmalige Durchsicht einzelner Texte
empfehlen. Ich greife zur Probe n» 19 (Aliscans) heraus. V. 17 erfährt der
Studierende weder unter quel noch unter la (die Stelle fehlt im 'Tableau')
etwas zum Verständnis von qiiel la feres? Die Schreibung parestes und die
Ansetzung von parestre im Glossar sind zu mißbilligen, schreibt doch W.
selbt 24, 264 richtig getrennt tant par esteit und führt die Stelle unter par
auf, wohin auch die anderen unter parestre stehenden gehören. In V. 47
und 50 ist trotz der Diskrepanz, l'aloses und gi/es mit den Hss. und der
Hallenser Ausgabe beizubehalten. In V. 57 (co?«' home forsenex) wie auch
sonst folgt W. für com' der Försterschen Schreibregel, s. zur Karre 16 und
Iwain, Kl. Ausg.^ zu 24. Es würde hier zu weit führen, zu zeigen, daß diese
Regel auf schwachen Füßen steht, und ich muß mich darauf beschränken, zu
fragen, warum denn nicht bei or, wo Förster doch auch or' verlangt, das
gleiche Verfahren beobachtet ist. V. 99 streiche man das Komma zwischen
las und dolant, denn es handelt sich um asyndetische Paarung (s. Tobler,
VB 112, \Ql)^ die sehr enge ist und keine Trennung verträgt; 17, 62 wird
richtig las caitis geschrieben. V. 215 ist nicht verständlich; die Stelle fehlt
im Glossar unter si(se). Hat man etwa n'aie für s'aie zu schreiben? V. 323
sehen wir Martin richtig groß geschrieben, während es im Glossar klein er-
scheint und sonderlicherweise mit 'Idee', 'sujet' erklärt wird. Die Form vi,
324 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
die V. 543 als 3. sg. Perf. auftritt, fehlt im Tableau. Beim V. 3 wäre zu
erwägen, ob man mit L allein für das arestes der anderen Hss. wirklich
arouies zu schreiben habe, wie es W, tut. Tobler glossiert im Wörter-
buch unter arester diese Stelle mit 'besetzen'. Allerdings heißt es auch
V. 46 c?s paietis est li cans arotes; das haben die meisten Hss. (Ab wieder
arestes), und Tobler sagt für diese Stelle 'mit Gruppen füllen', setzt aber ein
Fragezeichen hinzu. Er führt noch eine Stelle aus Aliscans an: des abatus
est li chans aroutes; es ist V. 5303 der Hallenser Ausgabe, und dort schreiben
die Herausgeber mit den meisten Hss. arestes. Schwierigkeiten bereitet auch
V. 191. Daß este hier 'Standort' heißen könnte, wie im Glossar frageweise
gedeutet wird, scheint mir kaum möglich, da man mindestens ein Possessiv
erwarten würde. Das Natürlichste ist doch, es zu plaine lance zu ziehen,
und vielleicht heißt es 'aufgerichtet' wie im 'Aquin', wo es Godefroy mit
'syn. de hauteur' glossiert, also 'eine aufgerichtete Lanze', d. h. 'eine Lanze
in ihrer ganzen Länge' ; auch die Var. dester (= d'ester) dürfte dafür sprechen,
vgl. soi lerer en ester im Crestien-Wörterbuch. — Ziemlich störend ist es,
daß sowohl im Glossar wie im Eigennamenverzeichnis W. lange nicht überall
da, wo nicht alle Belegstellen geboten sind, ein 'etc.' gesetzt hat. Im Vorbei-
gehen sei noch bemerkt, daß V. 191 eine Silbe zu wenig hat; bei du Meril
S. 214 heißt es: tu es mes homs de moti fie a tenir. — Bedauerlich ist es,
daß das Buch das französische Gewand hat behalten dürfen, und noch be-
dauerlicher, daß ein deutscher Mann einen solchen Satz wie den letzten der
Vorrede gegenwärtig zu schreiben vermag.]
Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie no 53: Eine altfranzö-
sische Fassung der Johanneslegende, hg. von A. Hub er. — Eine gereimte
altfranzösisch-veronesische Fassung der Legende der hl, ^.atharina von Alexan-
drien, hg. von H. Breuer. Halle, Niemeyer, 1919. 287 S. M. 24.
Walberg, E., Data et source de la vie Saint Thomas de Cantorbery par
Benet, moine de Saint-Alban. S.-A. aus Romania, janvier — octobre 1916.
22 S.
Walberg, E., Sur l'authenticite de deux passages de la Vie de Saint
Thomas le Martyr par Guemes de Pont-Sainte-Maxence. S.-A. aus den Neu-
philologischen Mitteilungen, hg. vom Neuphilologischen Verein in Helsing-
fors 1919, no 5, S. 64—76.
Franz, A., Ziir galloromanischen Syntax. Jena und Leipzig, Gronau,
1920. 128 S. Supplementheft X der Zeitschrift für französische Sprache und
Literatur.
Repetitorien zum Studium altfranzösischer Literaturdenkmäler, hg. von
K. V. Ettmayer, no 1: K. v. Ettmayer, Der Rosenroman (erster Teil). Sti-
listische, grammatische und literarhistorische Erläuterungen zum Studium und
zur Privatlektüre des Textes. Heidelberg, C. Winter, 1919. 42 S. M. 1,20.
[Das Büchlein ist nicht zu empfehlen, schon weil die offenbare Eile, mit der
es dem Markte zugeführt werden sollte, eine ganze Reihe schwerer, sonder-
barer und für einen Studierenden besonders gefährlicher Interpretationsfehler
hervorgerufen hat. Bacins soll nicht 'Becken' heißen, sondern eine lothrin-
gische Entsprechung für afrz. baucent darstellen, par eoiive?it soll 'offenkundig'
heißen, ores 'beinahe', en cele 'was diese betrifft', en toutes cors 'vor allen
anderen'. S. 18 ist von Formen wie comans für cotnatit die Rede, und
diesen wird auch ves für vois = 'ich gehe' beigezählt, wiewohl es doch eben
vorher unter die 'alten sigmatischen Formen' gestellt wurde. Ebenda wird
larder als dialektisch für ardoir resp. ardre bezeichnet, und dann heißt es:
'es scheint normannischer Herkunft zu sein und steht sichtlich unter volks-
etymologischem Einfliiß von lard "Speck", etwa in der Bedeutung "rösten";'
es ist einfach eine Ableitung von lard, bedeutet 'durchbohren' und ist keines-
wegs dialektisch, s. zuletzt Archiv 137, 233. Zum V. 1554 lors perent colors
plus de Cent wird S. 35 gesagt: 'Die im Texte gebotene Orthographie colors
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 325
läßt sich zwar syntaktisch rechtfertigen, doch ist die Auffassung von eolor
als Subjekt wohl besser' (!), als ob nicht eolor Femininum und colors die
regelrechte Form des Nom. Plur. wäre. Auch S. 17 traut man seinen Augen
nicht recht, wenn man liest: 'In V. 3398 im baisier de la rose ist der Dichter
wohl aus dem Bilde gefallen und vergißt, daß der amant zwar die Rose,
diese aber nicht ihn küssen kann'. Die Stelle V. 1112—3 (s. S. 17) ist ganz
mißverstanden worden. In trop li fesoii Amors mal traire (Y. 3316) soll
li Dat. ethicus sein (S. 17), usw. Die dem zu V. 1.509 Gesagten gegebene
Fassung (S. 34) ist unverständlich. Vom Texte erhalten wir die Verse
1433 — 1610 samt einer phonetischen Transkription; letztere war viel weniger
am Platze als eine sorgfältige Interpretation (V. 1451, 1544, 1548 z. B. sind
unerläutert geblieben). Ganz eigentümliche Anforderungen an das Vor-
stellungsvermögen des Lesers werden mit folgendem Satze gestellt: 'Ent-
sprechend diesem Gesamtcharakter der Darstellung ist auch der logische Auf-
bau der einzelnen Sätze vor allem von einer wandernden Aufmerksamkeit
getragen, die in ruhigem Gange, Glied an Glied, die einzelnen Bilder, aus
denen der Roman im wesentlichen besteht, analysiert.' Das zur Metrik
(S. 41) Vorgetragene übergeht man am besten mit Stillschweigen Es ver-
steht sich, daß der Ausdruck 'Objektoi'd' nicht fehlt, aber eine Erklärung für
den Studierenden wird nicht als nötig erachtet. Unter den zahlreichen Druck-
fehlem wirkt 'Enklyse' (S. 42) etwas peinlich.]
Französische und englische Schulbibliothek, hg. von Eug. Pariselle und
H. Gade:
Reihe A.: Bd. 203. C. Guv, Extraits de memoires historiques, hg. von
0. Wiese. Mit 13 Plänen. Leipzig, Renger, 1920. VII, 104 S. M. 1,60.
Reihe A.: Bd. 206. H. de Balzac, Eugenie Grandet, hg. von Eug. Pari-
selle. Leipzig, Renger, 1920. IX, 133 S. M. 1,30.
Reihe A. : Bd. 207. Conteurs modernes IV. Ausgewählte Erzählungen
von Normand, France, Coppee, Maupassant, Daudet, Claretie,
hg. von K. Wimmer. Leipzig, Renger,, 1920. 98 S. M. 1,30.
Reihe B.: Bd. 33. Eug. Lab i che et Ed. Martin, Le voyage de Monsieur
Perrichon, comedie en quatre actes, hg. von E. Leitsmann. Leipzig, Renger,
1920. XII, 80 S. M. 1,10.
Reihe B. : Bd. 34. M. Maeterlinck, L'oiseau bleu, feerie en douze ta-
bleaux, hg. v. Hönn. Leipzig, Renger, 1920. VIII, 114 S. M. 1,30.
Engel, E., Frankreichs Geistesführer. Achtzehn Charakterbilder. Fünfte
neubearbeitete Auflage von des Verfassers 'Psvchologie der französischen
Literatur'. Halle, Diekmann, 1920. 242 S. M.'7,50.
Marx, L., Wie ist die Aussprache des Französischen zu lehren? Mainz,
Prickarts, 1919. 28 S.
de Beaux, Th., Französische Handelskorrespondenz. Zweite vermehrte
Auflage. Sammlung Göschen n» 183. Berlin und Leipzig. Verein wiss.
Verleger, 1919. 135 S. M. 1,60.
Provenzalisch.
Der Trobador Cadenet, hg. von C. Appel. Halle, Niemej^er, 1920. 123 S.
M. 14 [s. S. 288].
Italienisch.
Walser, E., Studien zur Weltanschauung der Renaissance. Basel, Schwabe,
1920. 37 S. [Die Historiker sind seit einiger Zeit damit beschäftigt, die An-
schauungen über Renaissance, wie sie Jakob Burckhardt geprägt hatte, zu
revidieren. Die 'Kultur der Renaissance' Avar ein genialer Wurf mit der
genialen Einseitigkeit und Systematisierung des Künstlers. Die Jünger
Burckhardts haben das System ohne die Kunst des Meisters triviali-
siert. Dagegen wandte sich die Reaktion der Historiker, und in diesen
326 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften
Rahmen gehören die Studien W.8. Er weist nach, wie unendlich kompli-
zierter alles liegt, als man früher annahm ; er zeigt, wie wenig begründet die
gröblich verallgemeinerte Annahme der verminderten Rechtgläubigkeit ist,
wie die kritische Fähigkeit der Humanisten durchaus überschätzt wird, und
wie ihre antikuriale Tendenz zu etwas Neuem, Bahnbrechendem gefärbt wird.
'Es kommt mir vor allem darauf au, zu betonen, daß von einer allgemeinen
Humanistenreligion, zusammengesetzt aus Skepsis und schöngeistigem
Asthetentum, einer allgemeinen Renaissance-Indifferenz und Renaissance-
Skepsis keine Rede sein kann.' Es ist ein Verdienst, daß hier ein Literar-
historiker den Literarhistorikern predigt, daß Einheitlichkeit des Gesehenen
leicht Oberflächlichkeit des Sehenden sein kann. Historisch, kunstgaschicht-
lich und philologisch fundiert, wirken W.s Ausführungen überzeugend, dazu
ein kluger und gepflegter Stil. Wenn er S. 6 ff. die Durchschnittsanschau-
ung über Renaissance ironisirend darstellt, so ist das sein gutes Recht, aber
die Wendung S. 8 von verheirateten Frauen, die 'ihr eheliches Kreuz an den
Nagel hängen', ist ein verunglücktes Bild, auch wenn wir der Ironie noch
80 freien Lauf lassen. H. Geizer.]
Levy, A., Le Palatali piemontesi. Torino, Fratelli Bocca, 1918, 279 S.
Spanisch.
Spanien, Zeitschrift für Auslandkunde, Organ des Verbandes Deutsch-
land-Spanien, hg. vom Ibero-amerikanischen Institut Hamburg. Schriftleitung
B. Schädel. Jahrg. I, Heft 3, 1919 [Fr. Grandmontagne, Spanier und
Deutsche in Südamerika (deutsch von E. Großmann). — A. Reiff, Die An-
fänge der Oper mit Textproben. — W. Mulertt, Der Amadisroman und seine
zweite Heimat. — Gräfenberg, Juan Valera, Romanschriftsteller und Diplo-
mat. — H. J. Obrem, Johannes Fastenrath und seine spanischen Freunde. —
Mitteilungen aus dem Wirtschaftsleben. — Mitteilungen aus dem kulturellen
Leben. — Neuerscheinungen. — Mitteilungen des Verbandes]. Jahrg. II,
Heft 1/2. 1920. Schriftleiter F. Krüger [Geleitwort. — A. Castro, Der Fort-
schritt der Wissenschaft im heutigen Spanien. — M. Artigas, Ein unbekanntes
spanisches Gedicht aus dem Mittelalter (Madrid). — A. Salazar und Reiff,
Das Musikjahr 1918/1919 in Madrid. — Gertrud Richert, Spanische Gemälde
in deutschen Galerien. — Mitteilungen aus dem Wirtschaftsleben. — Mit-
teilungen aus dem kulturellen Leben. — Neuerscheinungen. — Deutsche
Zeitschriftenschau. — Eingetroffene Schriften. — Mitteilungen des Verbandes].
Ruppert, R., Die spanischen Lehn- und Fremdwörter in der französi-
schen Sprache. München, Lindauer, 1920. 320 S. M. 16,50. [Der Verfasser
hat das Unglück gehabt, daß während des Dnickes seines Buches die Arbeit
von W. Fritz Schmidt, 'Die spanischen Elemente im französischen Wortschatz',
Beiheft 54 zur Zeitschrift für romanische Philologie, erschien. Bei einem
vergleiche schneidet R. nicht allzu günstig ab. Die Einteilung und Formu-
lierung bei Schmitz ist sorgsamer und zweckmäßiger. Wenn R. 300 Aus-
drücke mehr aufführt, so liegt das z. T. auch an der Art der Zählung.
Z. B. bringt R. das Wort friser, dessen Entstehung selbst durchaus fraglich
ist, dazu 9 Wörter: frisage, frise, frisette, friseur, friseiise, frisoir, frison,
frisotter, frisure als weitere Lehnwörter, wo es sich doch bloß um von friser
abgeleitete französische Bildungen handelt. Die Etymologie nimmt bei R.
einen größeren Raum ein als bei Schmidt, nicht immer glücklich und nicht
immer mit voller Kenntnis der Literatur: Bei canot S. 113 fehlt der Verweis
auf Wiener, Zeitschrift 33, 523 ff., der einen bloßen Lesefehler annimmt; bei
dague S. 55 keine Berücksichtigung von Schuchardts daca, dakisches Messer;
bei mais S. 146 wäre auf Spitzers Arbeiten zu verweisen gewesen. So ist
das fleißige Buch eigentlich schon bei seinem Erscheinen überholt gewesen;
aber zur Ergänzung des Schmidtschen Buches wird man es gelegentlich nicht
ohne Nutzen heranziehen können. H. Geizer.]
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften 327
Ruppert, R., Spanisches Lesebuch für Anfänger und Fortgeschrittene.
München, Lindauer, 1920. 142 S. M. 4,40. [Der Stoff ist gut ausgewählt
und im ganzen geschickt angeordnet. Der Abschnitt lesos y costumbres wäre
besser ans Ende gesetzt worden, da er inhaltlich der schwerste ist. Auch
sind für diesen die Anmerkungen sicherlich zu knapp bemessen; z. B. bleiben
Wörter wie jamelgos (88, 21), juerga (95, 28) unglossiert. Überhaupt sind
die Anmerkungen wenig gleichmäßig gehalten, indem Leichtes, AA^ie z. B.
ecear ocupado (9, 29) berücksichtigt, Entlegeneres aber nicht erklärt worden
ist. Die Wiedergabe von poner coche mit 'sich einen Wagen anlegen' statt
'einen Wagen anspannen' ist kein Deutsch.]
Rumänisch.
Gamillscheg, E., Oltenische Mundarten. Akad. d. Wissenschaften in
Wien. Philos.-hist. Kl. der Sitzungsberichte. 190. Bd., 3. Abhandlung. Wien,
Holder, 1919. 116 S.
Varia.
Wissenschaftliche Forschungsberichte, hg. von K. Hönn. No. IV: E. Ho-
wald, Griechische Philologie. Gotha, Andreas Perthes, 1920. 72 S.
Folklore Argentino. IL R. Lehmann-Nitsche, El Retajo. Buenos
Aires, 1914. Boletin de la Academia Nacional de Ciencias de Cordoba.
tomo XX, paginas 151 — 234.
Kroll, W., Geschichte der klassischen Philologie. Zweite verbesserte
Auflage. Sammlung Goeschen No. 367. Berlin und Leipzig, Verein, wiss.
Verleger, 1919. 148 S. M. 1,60. [Sehr lebendig und klar geschriebene Dar-
stellung mit wohlüberlegter Auswahl und übersichtlicher Anordnung des
Stoffes, sowie steter Beiücksichtigung der großen geistigen Bewegungen.
Das Buch hat natürlich auch für den Romanisten nicht geringes Interesse.]
Zu Huracan, Arch. 139, p. 217 ff.
Infolge postalischen Versehens hatte ich nicht selbst Gelegenheit, den
Druckbogen zu meinem Aufsatze durchzusehen. Ich habe die Absicht ge-
habt, in der Korrektur noch bezüglich der ältesten deutschen Belege des
Wortes Orkan auf Kluge, Seemcmnssprache S. 598 hinzuweisen. Der dort
gegebene älteste Nachweis ist von 1645 (Mandelslow Reise S. 24: Hercan).
Im übrigen bleibt Huracan im Amadis von 1590 noch immer über 50 Jahre
älter.
Ich habe weiterhin vor, p. 219 Anmerkung, den zusammenfassenden Auf-
satz: 'Der Amadisroman und seine xtveite Heimat', Spanien I, p. 194 — 201,
der inzwischen erschienen ist, zu nennen.
p. 220 lies Moldaüien statt Moldaiiien. W. Mulertt.
Berichtigung zu Arch. 139, S. 270.
Bei der Anzeige von Zund-Burguets Exercices pratiques . . . bemerkte ich,
daß die Bezeichnung 'zweite Auflage' nicht gerechtfertigt wäre. Es liegt
aber in der Tat eine zweite Auflage von einem i. J. 1906 erschienenen Buche
vor. Der Irrtum entstand dadurch, daß der Verlag die undatierte Vorrede
des Verfassers zur ersten Auflage hat stehen lassen, in welcher von den
i. J. 1901 erschienenen 'Praktischen Übungen zur Aussprache des Französi-
schen' die Rede ist, Herr Wengler aber, der Bearbeiter der 2. Auflage, es
nicht für nötig befunden hat, eine den Benutzer orientierende Vorrede seiner-
seits anzuschließen. Sch.-G.
LESEBÜCHER
aus dem Verlage
Georg Westermann, Braunschweig und Hamburg
••
'17'/^'I3C'^|^|^"''0 English Authors. With biographical notices.
-i- Vr XA.O X XjXX On the basis of a selection by Ludwig Herrig, ed.
by M. Förster, Prof. in the iiniversity of Leipzig. Abr. editionof Herrig-
Förster, British classical authors. 5. Auflage, In Leinwand geb. M. 13, —
Tj^/^'DC!nnij^T3 English Poems. With biographical notices.
X V/X\0 X XjXV On the basis of a selection by Ludwig Herrig,
edited by Max Förster, Prof. in the university of Leipzig. Kartoniert M.4,50
'C'/^X^Orill^T^ English Prose. With biographical notices.
X Vr X\l3 X XjX\ On the basis of a selection by Ludwig Herrig,
ed. by M. Förster, Prof. in the university of Leipzig. Gebunden M. 6, —
TJl?r>r>II^ T?/\"DGT^"tr'l> British classical
Ol^ltxlllj-rUltÖlrjil authors. Withbiogra-
phical notices. On the basis of a selection by L. Herrig, ed. bei M. Förster,
Prof. in the university of Leipzig. 96. Aufl. In einen Band geb. M. 20,—
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FÜR DAS STUDIUM DER NEUEREN
SPRACHEN UND LITERATUREN
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HERAUSGEGEBEN VON
ALOIS BRANDL UND OSKAR SCHULTZ -GORA
DEUTSCHES SONDERHEFT
BRAUNSCHWEIG UND BERLIN
DRUCK UNDVERLAG VON G E O R G WE S T E R M A N N
1920
Inhalt
Deutsches Sonderheft
Schluß der Eedaktion: Ende Februar 1920
Abhandlungen
Seite
M. J. Deuschle, Bas Aufleben der Literatur des 17. Jahrhunderts im
Zeitalter der Romantik 1
Wolf gang Stammler, Claudius und Gerstenberg 21
Johann Hankiss, Diderot und Herder 59
Albert Leitzmann, Goethes älteste Gedichtsammlung 75
Albert Ludwig, Schlemihle 95
H. L.Stoltenberg, KebentonstUrken. Eigene Lehre und ihre Stellung
zu S. Behn, 'Der deutsche ßhythmus' 136
Kleinere Mittellungen
Zur Frage der Sesenlieimer Lieder. Von R. Ballof 155
Über die 'Sizilianische Vesper' von J. M. R. Lenz. Von R. Ballof . . 156
Das Aufleben der Literatur des 17. Jahr-
hunderts im Zeitalter der Romantik.
Für die Entwicklung des deutschen Volksbewußtseins sind die
Bestrebungen der Romantiker von eingreifender Bedeutung
sowie von nachhaltigem Einfluß gewesen. Wenn sie den ideellen
Bedürfnissen eines Volkes genügen soll, muß die Kunst seinem
inneren Leben Ausdruck verleihen. Dafür muß sie das, was auf
eigenem Boden gewachsen ist, sorgfältig pflegen und vor Unkraut
bewahren, damit es sich immer reicher entfalten kann.
Die Dichter der Romantik, besonders die jüngeren, empfanden
das, und weil sie selbst nicht imstande waren, schöpferisch die
Forderungen ihrer Zeit zu erfüllen, machten sie es sich zur Auf-
gabe, die verborgenen Schätze vergangener Jahrhunderte wieder
ans Tageslicht zu fördern. Daß das Mittelalter sie dabei beson-
ders anzog, lag in ihrer ganzen Veranlagung, die sie alles am
liebsten in einem weihrauchduftenden Nebel, der die scharfen
Umrisse der Gegenständlichkeit verwischt, sehen ließ. Die Sagen
von König Artus und König Rother, die Geheimnisse des Grals,
die Mystik eines Tauler, vor allem aber das Nibelungenlied ver-
danken ihr Wiederaufleben in weiteren Kreisen dieser Vorliebe
der Romantiker.
Goethe hatte sie zuerst auf das Einheimische wieder aufmerk-
sam gemacht,^ und seine Verehrung für Hans Sachs, die sich am
schönsten in seinem bekannten Gedicht offenbart, veranlaßte sie,
sich eingehender mit diesem Dichter und seiner Zeit zu beschäf-
tigen. So tauchen neben den Schwänken des Hans Sachs die
Erzählungen der alten Volksbücher, die Anekdoten eines Wickram,
Fischarts lebendige Sprache, Frischlins Poesie und Ayrers
Dramen aus dem Meer der Vergessenheit auf. Und merkwürdig:
auch eine Zeit, die ihrem Wesen nach den Romantikern durch die
derbe Realität der Lebensauffassung, die überall aus ihr hervor-
schaut, fremd sein mußte, erweckt im Gegenteil ihr lebhaftes
Interesse, und so sehen wir manchen Dichter des 17. Jahrhunderts
in ursprünglicher oder veränderter Gestalt den literarischen Schau-
platz des romantischen Zeitalters betreten.
Unter diesen erfreut sich Andreas Gryphius einer großen Be-
liebtheit. Besonders sein Trauerspiel 'Cardenio und Gelinde'
lenkte durch seinen gespenstischen und von altem Aberglauben
durchtränkten Inhalt die Aufmerksamkeit der Romantiker auf
sich. Als Achim von Arnim 1804 in Ziebingen^ mit Tieck
i
1 Vgl. Tiecks Vorrede zu seinem 'Deutschen Theater' Bd. I, S. 13.
2 Ziebingen bei Frankfurt a. d. 0. gehörte der gräflich Finkensteinischen
Familie. Arnim und Brentano hatten dort eine Begegnung mit Tieck, bevor
Archiv f. n. Sprachen. Sonderheft. ^
2 Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrh. im Zeitalter der Romantik
zusammentraf, betont er bereits, daß er Gryphius bearbeiten
wolle, und ein Jahr später schreibt er an Brentano: 'Ich bin nicht
müßig gewesen; Flemming, Opitz, Tscherning, Lohenstein, Logau,
Frischlin und die beiden Gryphius liegen mir zu Füßen. Car-
denio und Gelinde habe ich Lust neu herauszugeben, es ist durch-
aus einzig und vortrefflich auf der deutschen Bühne.'^ Für diese
Ausgabe plant er dann einige Änderungen im Aufbau des Stückes.
Die geistige Verwandtschaft der beiden Dichter zeigte sich
recht deutlich in der Antwort Brentanos, wo er seinem Freunde
mitteilt, daß auch er Gryphius besonders schätze. Nicht allein
hatte er bereits vor zwei Jahren Meyer^ veranlaßt, den 'Piast' zu
bearbeiten, sondern von ihm selbst scheinen einige Szenen aus
'Cardenio und Gelinde', die seine Frau veröffentlichte, herzu-
rühren.^ Sophie kündigt in ihrem Vorwort an, daß Arnim das
Ganze bearbeiten werde, und hofft ihn durch diese öffentliche Mit-
teilung zu zwingen, den im vorigen Brief geäußerten Vorsatz aus-
zuführen. Sie sollte es nicht mehr erleben. Noch drei Jahre
nach ihrem Tode mußte Arnim gestehen, daß auch vom Gryphius
noch nichts gedruckt sei.^ Zwar hatte er 1808 in den 'Heidel-
berger Jahrbüchern'^ die Herausgabe einer alten deutschen Bühne,
die mit einer Auswahl aus Andreas Gryphius eröffnet werden
sollte, angekündigt, allein bei dieser Ankündigung war es ge-
blieben. Daß seine Beschäftigung mit Gryphius dennoch nicht
ganz resultatlos verlaufen war, sollte sich zeigen. Sein Drama
'Halle und Jerusalem' (1811) hat 'Gardenie und Gelinde' als
Grundlage. Dabei hat der Dichter es durch Änderungen im Auf-
bau des Stückes, in der Ausführung der Gharaktere sowie durch
das Einflechten eigener Jugenderlebnisse verstanden, dem Werk
eine größere dramatische Wirksamkeit zu sichern, als die ur-
sprüngliche Fassung von Gryphius mit ihren lang ausgesponnenen
erzählenden Teilen sie besitzt.^
er seine Reise nach Italien antrat. Steig: 'Achim von Arnim und die ihm
nahe standen' Bd. I, S. 123.
1 Brief vom 27. Februar 1805. Steig S. 134.
^ Johann Friedrich Meyer, Senator zu Frankfurt a. M., beschäftigte sich
viel mit Künsten und Wissenschaften, übernahm sogar 1803 die Leitung des
Frankfurter Theaters, um ihm eine sittliche Wirksamkeit zu sichern. Un-
gefähr gleichzeitig gab er dramatische Spiele heraus, unter denen sich nach
Brentanos Mitteilung auch der 'Piast' befindet. Brentano hatte ihm zur
Bearbeitung sein eigenes Exemplar geliehen. Im selben Jahre veröffent-
lichte er: 'Popiel, König von Polen. Nach Andreas Gryphius.'
3 Bekanntlich gab Sophie Brentano 1805 die 'Bunte Reihe' heraus, zu
der Brentano und auch Arnim Beiträge geliefert hatten.
* In einem Brief vom 22. Oktober 1809 an Brentano; vgl. Steig S. 261.
ö VI. Intelligenzblatt der 'Heidelberger Jahrbücher' 1808.
^ Einen ausführlichen Vergleich zwischen den beiden Stücken bringt Wal-
ther Bottermann in seiner Dissertation: 'Die Beziehungen des Dramatikers
Achim von Arnim zur altdeutschen Literatur' (Göttingen 1895) S. 20 — 42.
Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrh. im Zeitalter der Romantik 3
Auch Immermann hat sich an die Behandlung dieses Stoffes
gewagt. Von einer Verbesserung, wie bei Arnim, kann man hier
aber nicht reden. Seine Bearbeitung forderte bekanntlich den
herben Spott Platens in seinem 'Romantischen Ödipus' heraus.
Eingehender als Arnim und Immermann hat sich Tieck mit
dem Studium der dramatischen Literatur des 16. und 17. Jahr-
hunderts befaßt. Den Niederschlag seiner Forschungen bildet das
Vorwort zum 'Deutschen Theater', in dem er uns den Zustand der
damaligen Bühnenverhältnisse klar vor Augen führt. Die Samm-
lung enthält außer einigen Fastnachtspielen von Hans Rosenplüt,
Hans Sachs und Jakob Ayrer die bekanntesten Pickelherings-
komödien aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts.
Hier erscheint auch 'Cardenio und Gelinde', das Tieck für das
beste Stück Gryphius' hielt. Die beiden Lustspiele 'Horribili-
cribrif ax' und 'Peter Squentz' hat er mit literarischem Scharfblick
ebenfalls veröffentlicht, obgleich er ihnen, trotz ihres sprudelnden
Witzes, persönlich keinen Geschmack abgemnnen konnte. Von
Opitz wurde 'Daphne' aufgenommen, 'nicht sowohl, weil sie an
sich merkwürdig ist, sondern damit der Leser sehe, wie der Vater
unserer neueren deutschen Poesie diesen leichten allegorischen
Gegenstand, ein Gelegenheitsgedicht, nicht ohne Geschicklichkeit
undAnmuth behandelt'.-^ Den Beschluß der Ausgabe bildet 'Ibra-
him Bassa'. Dies ist Lohensteins Erstlingswerk und hat als solches
noch nicht die gesuchte, schwülstige Sprache seiner späteren
Dramen. Deshalb und weil es das kürzeste der Lohensteinschen
Dramen ist, hat Tieck es in seine Sammlung aufgenommen.
Ein anderer Dramatiker des 17. Jahrhunderts, Christian Weise,
ist für Tieck ebenfalls nicht ohne Bedeutung geblieben. In dem
zweiten Band der 'Bambocciaden' von Bernhardi veröffentlichte er
ein Schauspiel 'Die Verkehrte Welt'. ^ Es ist ein satirisches Possen-
^ Vgl. Tiecks Vorwort zum 2. Band S. 10. Es wurde zur Hochzeit des
Landgrafen Georg von Hessen mit Sophie Eleonore von Sachsen als Oper
aufgeführt. Heinrich Schütz hatte die Komposition dazu gemacht. 1627
erschien es bei David Müller in Breslau.
* August Ferdinand Bernhardi war der Lehrer und Freund des jungen
Tieck und wurde später durch seine Heirat mit dessen Schwester Sophie
sein Schwager. Die 'Bambocciaden' sind Novellen und satirische Dramen,
die er in einer Sammlung unter diesem Titel herausgab. Sie haben mehr
literarhistorischen als dichterischen Wert. Tieck hat auch Beiträge dazu
geliefert. So schrieb er ihm zuerst die launige Vorrede zum ersten Band
und überließ ihm dann die 'Verkehrte Welt' (1799, im zweiten Band). Er
hatte sie zuerst für die Sammlung 'Straußfedern' von Nicolai bestimmt
gehabt, trat sie dann aber, als Nicolai sie ihm zurückschickte, auf Bern-
hardis Wunsch für die 'Bambocciaden' ab. Der Eahmen für das Werk war
nicht glücklich gewählt, weder in der ersten noch in der zweiten Sammlung,
denn der poetische Wert der 'Straußfedern' ist ebenso gering wie der der
'Bambocciaden'.
4 Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrh. im Zeitalter der Romantik
spiel, und der Titel 'ein historisches Schauspiel' soll schon das
Satirische zum Ausdruck bringen. Später wurde es in den Than-
tasus' aufgenommen, wo wir in der Rahmenerzählung folgenden
Quellennachweis finden: 'Im Zittauischen Schultheater, fuhr
Manfred fort, fand ich eine Komödie mit dem Titel: "die ver-
kehrte Welt"; beym Lesen erzeugte sich in mir gegenwärtige, in
welcher ich aber nur einen Einfall von dem alten Rector Weise
geborgt habe.'
Es ist hier die Rede von einem Lustspiel Weises: 'Die Ver-
kehrte Welt', das als drittes Stück in der 'Neuen Jugendlust'
1684^ erschien. Die obigen Worte Tiecks stimmen aber nicht
ganz, denn aus einem näheren Vergleich der beiden gleichnamigen
Schauspiele ergibt sich eine größere Abhängigkeit Tiecks von
Weise, als er selbst eingesteht. Der Hauptinhalt ist allerdings ganz
verschieden. Weise führt uns einen Landrichter, Alamode, vor,
der in verschiedenen Fällen ein Urteil aussprechen soll. Er ver-
urteilt dabei jedesmal gerade diejenige Partei, deren Unschuld
und Recht auf der Hand liegt. Das führt zu verwickelten und
gleichzeitig erheiternden Situationen. Der 'verkehrte' Richter
treibt sein Wesen so lange, bis er von Apoll schließlich seines
Amtes entsetzt wird.
Tiecks Possenspiel ist eine literarische Zeitsatire, in derselben
Art wie seine Märchenkomödie vom Gestiefelten Kater, nur noch
etwas verwirrter. Sehr geschickt weiß er einige lustige Episoden
aus Weises Schauspiel einzuflechten. So verwertet er die Szene,
wie der Hirt sich von den Schafen scheren lassen muß. Auch
einige Personen, wie Apoll und Skaramuz, den Spaßmacher, ent-
lehnt er aus Weises Werk.^
Im 17. Jahrhundert gab es einige sehr beliebte Bilderbogen
von der 'Verkehrten Welt'. Einer derselben hat den Anlaß zu
Weises Lustspiel gegeben.^ In seinem Vorwort, das er 'Innhalt'
nennt, obgleich es durchaus keine Inhaltsangabe ist, sagt er: 'Es
ist etwas über dreißig Jahr / als etliche artige Bilder zu Kauffe
giengen / darin die umgekehrte Welt durch artige und mehren-
theils lächerliche Erfindungen vorgestellet war ... So ist diese
Invention zu einem Lust-Spiele erwehlet / auch der Gelegenheit
nach / an vielen Orten vermehret und verbessert worden.'
^ 'Neue Jugendlust, das ist Drey Schauspiele (Vom verfolgten David. —
Von der Sicilianischen Argenis. — Von der Verkehrten Welt). Frankfurt
und Leipzig 1684.' Das Titelblatt der 'Verkehrten Welt' trägt die Angabe:
'4. Mart. 1683 zu Leipzig bey Christian Weidmannen.'
2 Zur Zeit der Abfassung dieses Aufsatzes war Frank Riederers Disser-
tation: 'Ludwig Tiecks Beziehungen zur deutschen Literatur d. 17. Jahrh.'
(Greifswald 1915) noch nicht erschienen.
^ Vgl. J. Bolte in der 'Zeitschrift des Vereins für Volkskunde' 15. Jahr-
gang, S. 160.
Das Aufleben der Literatur des 1 7. Jahrb. im Zeitalter der Romantik 5
Die schöne Reproduktion dieses Bilderbogens, die Professor
J. H. Schölte in der 'Zeitschrift für Bücherfreunde' (Jahrg. 4,
Heft 1) neuerdings veröffentlicht hat, ermöglicht uns einen ein-
gehenderen Vergleich mit Weises Lustspiel. Wir sehen, daß der
Dichter sich genau an seine Vorlage hält; wo er von derselben
abweicht, geschieht es immer so, daß er den Sinn der A-^orstellung
nicht aus dem Auge verliert.^
Diese dramatische Bearbeitung des Bilderbogens ist ganz ver-
schieden von der 'Verkehrten Welt' Grimmeishausens, einer
satirisch belehrenden Schrift in Prosaform, die ihr Entstehen
ebenfalls einem Bilderbogen verdankt." Grimmeishausen gibt der
Entstehungsgeschichte eine sehr hübsche novellistische Einklei-
dung. In seinem 'Ewigwährenden Calender' (1670) erzählt er
nämlich, wie Simplicissimus in einer Spinnstube von dem Bild
der 'Verkehrten Welt', das er auf der 'alleranmuhtigsten Dirne-
Ivunckel' als 'Wockenbrief entdeckt, so gefesselt wird, daß er
darüber die schöne Spinnerin ganz vergißt. Dieses Bild hat ihn
dann zu obiger Schrift veranlaßt. Das Titelkupfer der 'Ver-
kehrten Welt' und die Reime dazu lehnen sich augenscheinlich
an die Beschreibung des Bilderbogens im 'Calender' an, der Inhalt
der Schrift deckt sich im übrigen aber nicht mit den A^orstellungen
desselben.^
1 Die folgenden Szenen aus Weises Lustspiel stimmen mit den Bildern
des Bilderbogens, von links nach rechts gezählt, überein:
Weises 'Verkehrte Welt. Bilderbogen 'Verkehrte Welt'.
1,5 3
11,16 4
II, 1 und IV, 17. 18. 19 6
11,12.13 7
II, 15 10
11,7.8 19
1,1 24
Folgende Szenen weisen eine große Ähnlichkeit auf:
III, 2 8
11,4 9
11,7.8 17
Bild 1 bezieht sich auf den Titel von Weises Lustspiel.
2 Vgl. Schölte: 'Probleme der Grimmeishausenforschung' I (Groningen
1912), S. 189 f.
3 Im 'Calender' heißt es in der 3. Materie S. 106, daß Simplicissimus, als
er in seinem 'sibenzehenden jährigen Alter noch ein Mußquetirer oder
Tragoner war', ein Kommando bekommen habe, zu dem ihn der Korporal
'auß dem Beth uffwecken muste', ehe er 'den vierdten Theil außgeschlaffen
hatte', weil er sich den Abend zuvor in der Spinnstube so lange über der
Betrachtung des Kunkelbriefs von der 'Verkehrten Welt' aufgehalten hatte.
Nehmen wir nun Grimmeishausens Geburtsjahr als das Jahr 1625 an,
dann ist das Auffinden des Bilderbogens von der 'Verkehrten Welt' ungefähr
für das Jahr 1642 anzusetzen.
Weise sagt in der Vorrede zu seinem Lustspiel (1683): 'Es ist etwas
über dreißig Jahr / als etliche artige Bilder zu Kauflfe giengen, darin die
6 Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrh. im Zeitalter der Romantik
Eine genaue Untersuchung ergibt, daß Weise sein Lustspiel
unabhängig von Grimmeishausen geschrieben hat. Daß er Grim-
melshausens Schrift kannte, ist indessen nicht ausgeschlossen,
denn auch den Simplicissimus hatte er gelesen. Gefallen scheint
er aber nicht daran gefunden zu haben, denn in der Vorrede zu
seinen 'Drei Erznarren' bittet er den Leser, nicht zu denken, es
'sei ein neuer Simplicissimus oder sonst ein lederner Saalbader
meder aufgestanden'. Grimmeishausen faßte dieses Urteil humo-
ristisch auf und erwiderte es mit gutmütigem Spott, indem er im
'Teutschen Michel' die nahe Verwandtschaft zwischen den 'Drei
Erznarren', seiner 'Baaß Catharin' und dem 'Simplicissimus' her-
vorhob.^
Auf Weise geht auch Arnim zurück, wenn er der Erzählung
SchelmufFskys in seinem Wintergarten den Titel 'Die drei Erz-
narren' gibt. Viel mehr als die Überschrift ist dabei jedoch
nicht von dem Original übernommen. Auf die Erzählung selbst
werde ich im Verlauf dieser Besprechung noch zurückkommen.
Als eine Art Gegenstück zu den 'Drei Erznarren' schrieb
Weise einige Jahre später den Roman 'Die drey klügsten Leute in
der gantzen Welt' (1675). Aus diesem ist das sinnige Gedicht
'Die Rose blüht' ins 'Wunderhorn' übergegangen. Reichardt
hatte, nach dem Urteil Brentanos 'recht artig'^ den Text kom-
poniert. Brentano wurde von dem Lied zu einer eigenen Schöp-
fung angeregt, in der aber nur die Motive der blühenden Rose
und frommen Biene aus Weise entlehnt sind. Im 'Tagebuch der
Ahnfrau' veröffentlicht er dann eine Variation auf Weises
Gedicht.*
'Des Knaben Wunderhorn' ist reich an Liedern aus dem
17. Jahrhundert, und man bekommt einen tieferen Einblick in die
Arbeitsweise der beiden Sammler, wenn man sieht, wie sie ihre
Funde auch anderweitig zu verwerten wußten. Die Eigenart
umgekehrte Welt . . . vorgestellet war.' Weise hat den Bilderbogen also
ungefähr um das Jahr 1650 in seiner Kindheit gesehen.
Nun ist es wohl nicht unmöglich, daß beiden Dichtern ein Exemplar
derselben Bilderbogenausgabe vorgelegen hat. Allerdings ist dann anzu-
nehmen, daß eine solche Emission ungefähr zehn Jahre die Aufmerksamkeit
des Publikums zu beanspruchen vermochte. Hätte man aber mit Professor
Witkowsky ('Kleines Meyersches Konv.-Lex.' [7. Aufl., 1909] III, S. 282)
das Jahr 1610 als Geburtsjahr Grimmeishausens anzunehmen, für welche
Behauptung allerdings vorläufig die Argumente noch fehlen, so würde
dieser Termin auf ein ganzes Viertel Jahrhundert ausgedehnt werden müssen.
1 Vgl. Braunes Ausgabe der 'Drei ärgsten Erznarren' (Halle 1878), Vor-
wort S. 4.
2 Steig S. 131.
3 Vgl. hierfür Bode: 'Die Bearbeitung der Vorlagen in des Knaben
Wunderhorn' S. 149.
Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrh. im Zeitalter der Romantik 7
eines jeden kommt in ihrer Vorliebe für bestimmte Dichter deut-
lich zum Ausdruck.
Von Spee, dem Sänger der 'Trutz-Nachtigall', finden wir sechs
Lieder. Vier davon wurden mit kleinen Modernisierungen und
Weglassungen, sonst aber wörtlich abgedruckt, während zwei nur
Bearbeitungen Speescher Lieder genannt werden können: 'Ich
will dem Kindlein schenken' und 'Wacht auf, ihr schönen Vöge-
lein'. Dieses letztere, das Schlußlied in der 'Trutz-Nachtigall',
wurde der Text zu dem Bild im Kinderliedertitel, das wir Ludwig
Grimms kundiger Hand verdanken.^
Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren einige Auf-
sätze über Spee erschienen, die aber mehr die hervorragende
Persönlichkeit als den Dichter zu schätzen wnißten. Der humane
Geistliche, dessen Leben ein einziger Kampf gegen die Greuel der
Hexenprozesse war, denen er selbst als Beichtvater so oft bei-
wohnen mußte, hat mit manchem Werk diesem Unwesen zu
steuern gesucht. Eines davon ist das 'Güldene Tugendbuch', das
Brentano 1829 erneuerte. In dieses Werk hat der Verfasser
einige Lieder eingestreut, die denselben Geist wie die Lieder der
'Trutz-Nachtigair atmen. Es sind durchweg religiöse Gedichte,
gewöhnlich in einer bunten, blumenreichen Sprache, mitunter
schlicht und ergreifend.
Ignaz Heinrich von Wessenberg, ein Altersgenosse Tiecks, ist
der erste gewesen, der die Aufmerksamkeit vom Menschen auf
den Dichter gelenkt hat. Als Geistlicher und hoher Kirchen-
beamter hatte er selbst gegen manche Mißstände in seiner Kirche
gekämpft und unter ihnen gelitten. Darum mußte eine Natur
wie Spee, die der seinigen so ähnlich war, mächtig auf ihn wirken.
Weil er überdies sehr viel poetischen Sinn besaß, konnte er die
Speeschen Lieder in ihrer ganzen Schönheit würdigen. Er be-
arbeitete denn auch mehrere davon und gab sie 1802 heraus.^
Friedrich Schlegel fühlte sich kurz vor seinem Übertritt zur
katholischen Kirche sehr zu Spee hingezogen. In seinem 'Poeti-
schen Taschenbuch' (1806) brachte er eine Auswahl geistlicher
Volkslieder, die bis auf sieben alle von Spee sind. Manche sind
allerdings fast kaum wiederzuerkennen, so sehr hat Schlegel sie
umgearbeitet. In seiner Vorrede entschuldigt er sich mit Recht
deswegen.^
Ähnlich wie Schlegel erging es Brentano. Je mehr er sich
1 Vgl. Bode S. 538.
2 'Friedrich Spees auserlesene Gedichte' (Zürich 1802), 62 S. 8". Das
Bändchen enthält neun Gedichte. In die gesammelten Werke nahm Wessen-
berg zwölf Lieder von Spee auf.
* Diese Vorrede ist abgedruckt im 'Bibliographischen Repertorium' Bd. V
('Die Almanache der Romantik'; hg. v. Dr. R. Pissin; Berlin 1910), S. 81 f.
8 Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrh. im Zeitalter der Romantik
von der Welt ab und seinem Glauben zuwandte, desto mehr ging
ihm die Schönheit der Speeschen Poesie auf. Zur Zeit des 'Wun-
derhorns' schrieb er bereits von ihm: 'Dieser Mann ist ein Dichter,
mehr als mancher Minnesänger, ich will ihn herausgeben, er
soll uns vieles zu den Volksliedern bieten.'^ Jahrelang hat er
diesen Plan mit sich herumgetragen, ehe er verwirklicht wurde.
Erst 1817, ein Jahr vor seinem Eintritt ins Kloster, veröffent-
lichte er die 'Trutz-Nachtigall', vermehrt mit den Liedern aus
dem 'Güldenen Tugendbuch'.
Wie sehr auch August Wilhelm Schlegel die Lieder Spees
schätzte, geht aus einem Brief an Tieck hervor.^ Sogar Arnim
spricht von der 'edlen Trutznachtigall' im 7. der 'Briefe eines
Einsiedlers und einer Mohrin, die Nonne wurde'. ^
Voß, der erbitterte Feind der Romantiker, äußert seine Ab-
neigung gegen ihre Vorliebe für Spee in einer Kritik der Werke
J. G. Jacobis. Er streicht dieselben gegen die 'neuesten Asso-
nanzenhascher, die sprachverderblichen Eilippe Zesen, die Jacob
Böhm'schen Allegorienjäger, die reimlustigen Spee- und AVeh-
sänger' heraus.^ Heute sind die AVerke Jacobis fast vergessen, die
Lieder dieser 'Spee- und Wehsänger' aber erfreuen sich einer
noch immer steigenden Schätzung in der Literatur.
'Die hochgelobte Nachtigall Ergötzt und füllt mit ihrem
Schall Berg, Hügel, Tal und Felder', singt Paul Gerhard in
seinem innigen Sommerlied, das auch im 'Wunderhorn' Aufnahme
gefunden hat. Diese Empfindung der Freude am Gesang der
Nachtigall, verbunden mit dem Gedanken, daß der bescheidene
Vogel mit der herrlichen Stimme am besten dazu geeignet sei,
Gottes Lob in der Natur zu verkündigen, hat kein Dichter so
scbön in Worte zu kldden vermocht wie Grimmeishausen. Durch
die vollendete Sprache und das wundervolle Metrum stellt sich
das Lied aus dem Simplicissimus 'Komm Trost der Nacht, o Nach-
tigall' den besten lyrischen Gedichten der deutschen Literatur
zur Seite.
Tieck übernahm es in seinen 'Zerbino'. Das Metrum gefiel
ihm derartig, daß er ein anderes Lied im selben Metrum in den
1 Vgl. den oben bereits zitierten Brief an Arnim vom 2. April 1805, ab-
gedruckt bei Steig S. 138.
2 Er schreibt am 8. Februar 1804: 'Die Trutz-Nachtigall von Spee haben
wir ebenfalls unterdessen entdeckt, und Deine Schwester besitzt sie jetzt
sogar eigen. Ich weiß nun, wo sich so manche Lieder herschreiben, die
ich in meinen katholischen Gesangbüchern lange geliebt und bewundert
habe. Es sind mir auch die Lebensumstände des Verfassers bekannt.' Vgl.
Holtei, 'Briefe an Ludwig Tieck' Bd. III, S. 289 (25. Brief A.W.Schlegels).
3 'Zeitschrift für Einsiedler' vom 16. Juli 1808, neugedruckt in Pfaffs
Ausgabe der 'Trösteinsamkeit' S. 296.
* Pfaff, Einleitung zur 'Trösteinsamkeit' S. 72.
Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrh. im Zeitalter der Romantik 9
'Sternbald' hineindichtete. Auch in Eichendorffs 'Ahnung und
Gegenwart' sowie in Brentanos Märchen vom Schulmeister Klopf-
stock finden wir es wieder. Überhaupt lehnt sich Brentano in
dieser Erzählung stark an Grimmeishausen an. Die Figur des
Klausners, bei dem Trilltrall lebt, ist in allen Teilen die des Ein-
siedlers, der den verirrten Simplicius bei sich aufnimmt. Auch
sein Tod erfolgt unter denselben Umständen: beide legen sich in
ihr offenes Grab, um darin den Tod zu erwarten.
Zu dem Schönsten, was das 'Wunderhorn' auf dem Gebiet der
religiösen Lyrik aus dem 17. Jahrhundert enthält, gehört einer der
drei darin aufgenommenen Cöllner Kirchengesänge (1625): 'Von
Jesse kommt ein Wurzel zart'. Dem Gedicht liegt das alte
Marienlied 'Es ist ein Ros entsprungen'^ zugrunde, das gerade
im 17. Jahrhundert viele Bearbeiter gefunden hat. Der be-
kannteste ist Michael Prätorius. In seiner Fassung, in Verbin-
dung mit seinem Tonsatz (1609), finden wir das Lied in den
heutigen Liedersammlungen.
Durch die falsche Auffassung eines Bibeltextes (Jesaia 11,1)
mußte sich die 'Rose' in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
öfters die Änderung in ein 'Reis' gefallen lassen. Aber bereits in
der Bearbeitung Procops findet sich eine Änderung, und zwar die
Fassung 'Meyblum'. Eine Maiblume muß der Dichter wohl
poetischer als eine Rose gefunden haben, und vielleicht hat er
sich darum von der alten Vorstellung getrennt. Dieses schöne
Lied Procops steht nicht im 'Wunderhorn', aber viele andere seiner
Gedichte fanden dort Aufnahme. Begreiflicherweise, denn über
allen liegt ein Hauch echter Poesie. '''\'
Es ist auffallend, daß in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges
verhältnismäßig wenig Kriegslieder entstanden sind. Zur Er-
klärung dieser eigentümlichen Erscheinung muß man da mancher-
lei in Betracht ziehen. Der Druck der politischen Verhältnisse
lastete schwer auf Deutschland, und die Erschöpfung der Kriegs-
not raubte allem geistigen Leben die Frische. Die jeden Auf-
sch\vung hemmenden Zeiten verursachten, daß die rauhe Realistik
im Leben wie in der Dichtkunst vorherrschend bleiben mußte.
Darum fehlt der Literatur jener Tage die Idealität. Nur die
geistliche Dichtung, vorwiegend die protestantische, blühte. Zu-
dem machte die Zusammensetzung des Heeres, das nur aus ge-
mieteten Landsknechten bestand, eine Kriegslyrik, wie siez. B. aus
der Zeit der Befreiungskriege auf uns gekommen ist, unmöglich.
Allerdings lag auch zur Zeit der Romantiker ein politischer
Druck auf dem Lande. Es war aber ein äußerer, der ein reges
1 Der älteste Druck findet sich in einem Kölner Gesangbuch (1599).
Vgl. den Aufsatz von Friedrich Spitta in der 'Monatsschrift für Gottesdienst
und kirchliche Kunst' (5. Jahrg., 1900) S. 10 flf.
10 Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrh. im Zeitalter der Romantik
geistiges Leben nicht ausschloß. Außerdem ist die Romantik
der Höhepunkt eines Zeitalters, in dem man gewohnt war, dem
Ideellen auf jedem Gebiet stets den ersten Platz einzuräumen.
Wenn die Romantiker sich sonst auch in ihren Werken gewöhn-
lich nicht mit den politischen Verhältnissen beschäftigt haben,
so zeigt uns die Sammlung 'Kriegslieder' -von Arnim (1806), daß
sie dem Treiben ihrer Zeit dennoch nicht fremd gegenüberstanden.
Der Umstand, daß er in diese Sammlung einige der wenigen
Kriegslieder des 17. Jahrhunderts aufnahm, beweist wohl, daß er
eine gewisse Verwandtschaft mit den Verhältnissen seiner Zeit
herausfühlte.
Eines dieser Lieder ist das alte, kernige 'Ein feste Burg ist
unser Gott' in der Umarbeitung des Moscherosch. Dieser hatte
Luthers Gedicht in seinem Gesicht 'Soldatenleben' so umgear-
beitet, daß es von einem geistlichen Lied zu einem Soldatenlied
geworden war. In dieser Fassung verwendet Arnim es in seiner
Erzählung 'Der Krieg' im Wintergarten, sowie als Schlußlied in
der 'Vertreibung der Spanier aus Wesel'. -"^ In den 'Kriegsliedern'
läßt er Luther wieder mehr zu Wort kommen, was die Schönheit
des Ganzen entschieden erhöht. Die Fassung im 'Wunderhorn'
ist von allen Umarbeitungen dem ursprünglichen Text am ähn-
lichsten; das Gedicht hat hier eben auch nicht den Zweck zu er-
füllen, der schon durch den Namen der obenerwähnten Sammlung
ausgedrückt wird.
Für die Art der verschiedenen Umarbeitungen möchte ich eine
Strophe aus dem Lied als besonders bezeichnend für die verschie-
denen Fassungen zitieren.
Luther: Moscherosch:
Vnd wenn die weit vol Teuffei wehr / Vnd sah der Feind noch eins so sawr,
vnnd wolt vns gar vorschlingen / Als wollt er vns verschlingen,
So fürchten wir vnns nicht zu sehr / Vnd käme schon biß auff die Mawr,
es sol vns doch gelingen / Soll ihm doch nicht gelingen,
Der Fürst dieser weit / Gott der mit vns ist,
wie sawr er sich stellt / Entdeckt seine List,
thut er vnns doch nicht / Und in eim Augenblick
das macht er ist gericht / Stoßt ihn hinab zurück,
ein wörtlin kan yhn feilen. Daß er mit Schand muß weichen.
Arnim, 'Kriegslieder': Arnim, 'Wunderhorn':
Und wenn die Welt voll Teufel war Und wenn die Welt voll Teufel war
Und wollten uns verschlingen Und wollten uns verschlingen
Das fürchten Preußen nimmermehr, go fürchten wir uns nimmermehr,
Es soll uns doch gelingen; Es soll uns doch gelingen;
Der Feind von dieser Welt, Der Feind von dieser Welt,
1 Vgl. Bode S. 650. Aber nur die vier letzten Zeilen stimmen mit Mosche-
rosch überein. Die vorhergehenden sind zum Teil wörtlich nach Luther
übernommen, zum Teil nach Luther bearbeitet.
Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrh. im Zeitalter der Romantik 11
Wie wild er sich stellt, Wie wild er sich stellt,
Thut er uns doch nichts, Tut er uns doch nichts,
Er scheuet ja das Licht, Er scheuet ja das Licht,
Ein Schuß, der kann ihn fällen. Ein Wort, das kann ihn fällen.
Ein zweites Gedicht aus demselben Gesicht Philanders 'Die
löbliche Gesellschaft zwischen Ehein und der Mosel' wurde eben-
falls dem 'Wunderhorn' einverleibt und von Arnim mit in seine
Erzählung herübergenommen. Das Gedicht ist recht charakte-
ristisch für das 17. Jahrhundert. Es enthält nämlich einige
Ausdrücke der berühmten Gaunersprache jener Zeit, von der uns
ganze Lexika erhaltengeblieben sind. So bringt Moscherosch
eine ausführliche Liste in seinem Gesicht 'Soldatenleben', auf die
Wagenseil zurückgeht in seinem 'Buch von der Meister Singer
Holdseligen Kunst Anfang / Fortübung / Nutzbarkeiten / und
Lehr-Sätzen' (1697), wo er in der Vorrede von der 'vermuth-
lichen HerkunfFt der Ziegeiner' spricht und das Lexikon Phi-
landers durch hebräische Zeichen zu erläutern sucht.
Die Sammler des 'Wunderhorns', besonders Arnim, fanden
außerordentlichen Spaß an diesem Rotwelsch. In dem erwähnten
Gedicht setzte er selbst für einige deutsche Wörter den entspre-
chenden Ausdruck der Gaunersprache ein.^ Auch in dem Oster-
lied aus Wagenseils 'Belehrung der Jüdisch-Teutschen Red- und
Schreibart', das im 'Wunderhorn' unter den Kinderliedern einen
Platz erhalten hat, finden sich einige hebräische Wörter. Die
ersten beiden Strophen verwendet Arnim als Lied jüdischer
Kinder in seinem Drama 'Halle und Jerusalem'.^
Durch Moscherosch wurde Arnim auch Weckherlins 'Aufruf
in schwerer Zeit' bekannt, der nach Brentano 'so allgemeine Be-
dürfnisse der Zeit berührt',^ daß ihn Arnim, wenn auch stark ge-
kürzt, den anderen Kriegsliedern dieser Sammlung voranstellte.
Im 'Wunderhorn' finden wir von Weckherlin außer dem soeben
genannten Gedicht noch den Nachruf auf Gustav Adolf, ebenfalls
in stark verkürzter Form."*
In ähnlicher Weise umgearbeitet wie 'Ein feste Burg', er-
neuert Arnim schließlich noch Zincgrefs ernstgestimmten Lands-
knechtgesang in den Kriegsliedern.
1 Ein kleiner Fehler ist bei Arnims Herübernahme des Gedichtes mit
untergelaufen. Für Pfennig hat Moscherosch in der vorletzten Strophe 'Doul
meß' (r= eig. Pfennig-Geld). Im 'Wunderhorn' und in Arnims Erzählung
finden wir dafür unrichtigerweise 'Drulmeß'.
2 Vgl. hierfür Bode S. 162.
' Vgl. den Brief an Arnim vom 1. Januar 1806. Abgedruckt bei Steig
S. 157.
* Auch Hang, der frühere Mitschüler Schillers, kannte Weckherlin. In
A. Schreibers 'Heidelberger Taschenbuch' (1812) veröffentlicht er ein
Gedicht 'Der getäuschte Amor', das nach Weckherlin (1618) entstanden ist.
(Vgl. 'Bibl. Rep.' V, S. 149.)
12 Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrh. im Zeitalter der Romantik
In dem schönen alten Heidelberg, von dem so manche An-
regung für die altdeutschen Studien der Romantiker ausgegangen
ist, schrieb Brentano 1806 sein 'Lied von eines Studenten Ankunft
in Heidelberg'. Hierin feiert er den bedeutendsten Kunstlyriker
des 17. Jahrhunderts, Martin Opitz. Dieser hatte an der Heidel-
berger Universität studiert und seine Liebe für die herrliche Stadt
in mehreren Gedichten der Mitwelt verkündigt.^ Das machte ihn
natürlich dem Romantikerkreis sehr sympathisch. Fünf seiner
Lieder erschienen mit kleinen Änderungen im 'Wunderhorn'.
Außerdem veröffentlichte Straube, der Herausgeber der 'Wün-
schelrute', das Fieberliedlein 'Nechst als zugleiche lagen' nach
der von Zinkgref besorgten Ausgabe Opitzscher Gedichte (Straß-
burg 1624). 2
Tieck würdigt ihn sehr, ja er glaubt, daß 'mit Opitz, Weck-
herlin und Flemming eine wahre neue Epoche der deutschen
Dichtkunst' anfange.^ Ähnlich äußert sich A. W. Schlegel in
seinen Berliner Vorlesungen. Im 'Deutschen Museum' (1812) fin-
den wir eine Lebensbeschreibung des Dichters, und in den 'Musen'
(1814) wird sein Verhältnis zur deutschen Sprache behandelt.
Durch das 'Wunderhorn' in die Dichtung und durch Jakob
Grimm in die Wissenschaft eingeführt, lebt Matthias Abele in der
Romantik wieder auf5* Das 'Wunderhorn' bringt drei Gedichte
von ihm, von denen das 'Hochzeitlied auf Leopold' für Arnim
'das höchste Lyrische der ganzen Sammlung' ist, und 'Vivat Un-
ordnung' sowie die beiden Teile der 'Gerichtshändel' werden von
Grimm wiederholt in den 'Rechtsaltertümern' als Quelle ver-
wertet.^
Wenn die Romantiker die vergessene Literatur und dadurch
das Leben des 17. Jahrhunderts vor dem geistigen Auge ihrer
Zeitgenossen wieder erstehen lassen wollten, was war da natür-
licher, als daß sie sich mit großem Interesse einem Dichter wie
Grimmeishausen zuwandten, der das Leben und Treiben seiner
Zeit durch meisterhafte Schilderungen zu bleibenden Gemälden
gestaltet hat, und daß sie sich Mühe gaben, diese Kunstwerke aus
dem Staub, der sich im Laufe der Jahre über ihnen angesammelt
hatte, wieder hervorzusuchen. Wenn ihre Bestrebungen auch
nicht immer mit Erfolg gekrönt wurden, so ist von ihnen doch
manche wertvolle Anregung in dieser Hinsicht ausgegangen.
^ In seiner Ausgabe von Brentanos Gedicht nennt Karl Bartsch das
Sonett 'Vom Wolffsbrunnen bey Heydelberg' und die Oden 'Galathea' und
'Ist irgend zu erfragen Ein Schäflfer unib den Rein'.
2 'Wünschelrute' Nr. 6 (19. Jan. 1818). 'Bibl. Rep.' I {'Zeitschriften der
Romantik', hg. von Walzel und Houben; Berlin 1904), S. 329.
3 Vorwort zum 'Deutschen Theater' Bd. II, S. 9.
4 Vgl. Halm: 'Matthias Abele' S. 90.
Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrh. im Zeitalter der Romantik 13
Von den älteren Romantikern war es besonders Tieck, der sich
zu Grimmeishausen hingezogen fühlte. Neben Goethes Einfluß
verdankt er Wackenroder die erste Anregung zu seiner Beschäfti-
gung mit der altdeutschen Literatur. Zuerst getraute er sich nicht
sü recht heran, er warnte sogar seinen Freund davor: 'er möge
sich seinen Geschmack nicht mit der altdeutschen Poesie ver-
derben'. Als sie sich aber zusammen an der Schönheit der alten
Kunstschätze Nürnbergs berauscht hatten, da mochte in Tieck
wohl das Gefühl wachgerufen worden sein, daß auch in der
Literatur wundervolle Sprachdenkmäler zu finden sein würden.
Wackenroder hat es verstanden, diesen Funken zu hellem Feuer zu
entfachen. In der darauffolgenden Zeit macht sich Tiecks Vor-
liebe für die Volksbücher, für Hans Sachs und den 'Simplicissi-
mus' bemerkbar. Für sein Interesse an diesem Roman legen das
Erscheinen der Jupiterepisode und die würdigenden Worte in
seinem 'Tagebuch' (1798) beredtes Zeugnis ab. Damals trug er
sich mit der Absicht, den 'Simplicissimus' neu herauszugeben, und
die Aufnahme des Einsiedlergesangs in den 'Zerbino' ist als Vor-
läufer dieser Herausgabe anzusehen.-^ Leider ist sie nie zustande
gekommen.
Trotzdem war wohl Tieck die Veranlassung zu einer anderen
Bearbeitung dieses Romans. In Dresden lernte er 1828 den viel
jüngeren Eduard von Bülow kennen, mit dem ihn bald gemein-
same literarische Interessen verbanden. Manche Ausgabe älterer
und zeitgenössischer Dichter wurde von ihnen zusammen veran-
staltet. Gewöhnlich besorgte von Bülow die Arbeit, und der
ältere Freund schrieb das Vorwort dazu. So erschienen 1831
F. L. Schröders dramatische Werke, und so auch das bekannte
Novellenbuch von Bülows (1834). Hierin hat er unter manchen
Erzählungen des 17. und 18. Jahrhunderts Grimmeishausens
'Bärenhäuter' und 'Stoltzen Melcher' veröffentlicht. Diese beiden
Erzählungen sind wortgetreu, nur mit Weglassung einiger Derb-
heiten und sprachlich modernisiert wiedergegeben. Von Bülow
dedizierte das Buch dem König von Preußen, Friedrich Wil-
helm IV., der sich sehr für ihn interessierte.^
In derselben Weise gaben sie 1846 den dritten Teil von No-
valis' Schriften heraus. 1802 hatte Tieck bereits mit Friedrich
Schlegel die ersten beiden Teile besorgt. Umgekehrt war das
Verfahren der Herausgabe wohl nur einmal. Das Fragment
'Sommernacht', das Tieck noch als Schüler unter Shakespeare-
schem Einfluß geschrieben hatte, wurde mit einem Vorwort von
von Bülow im 'Rheinischen Taschenbuch' (1851) abgedruckt.^
1 Von Bülow, Vorwort zu seinem 'Simplicissimus' S. 12.
2 Vgl. den Brief A. von Humboldts an Tieck. Holtei II, S. 30. 31.
» Eine Sonderausgabe besorgte J. D. Walter 1853. (Goedeke VI, S. 34).
14 Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrh. im Zeitalter der Romantik
In dem A^orwort zur Novellenausgabe äußert sich Tieck merk-
würdig ungünstig über den 'Simplicissimus'. Dies fällt um so
mehr auf, als er ihn bis dahin immer außerordentlich geschätzt
hatte. Es ist möglich, daß der ältere, gereifte Mann dem Buch
anders gegenüberstand als der junge, abenteuerliebende Dichter.
Und doch glaube ich, daß er wohl mit den Anstoß zu der Bearbei-
tung gegeben hat, die von Bülow unternahm. Die bisher er-
schienenen Neubearbeitungen des 'Simplicissimus' hatten von Bü-
low so unbefriedigt gelassen, daß er sich selbst daranmachte, die
ersten fünf Bücher neu herauszugeben.^ Wohl mag auch die
Bearbeitung der beiden Novellen Grimmeishausens ihn zu neuen
Taten angeregt haben. Vergleichen wir seine Ausgabe (1836) mit
den vorhergehenden, so müssen wir sein Verdienst entschieden an-
erkennen, wenn er auch später von Forschern wie Keller weit
übertroffen wurde.^
Eine dieser genannten Bearbeitungen ist die Ausgabe von
Haken, dem Verfasser der 'Grauen Mappe', die er 1810 in der
'Bibliothek der Abentheurer' veröffentlicht. Er bringt die ver-
kürzte und geänderte Erzählung aus dem 17. Jahrhundert mit der
Technik und Sprache seiner eigenen Zeit, so daß der Geist Grim-
melshausens, der uns trotz aller Änderungen aus der Arbeit
von Bülows entgegenweht, hier verlorengegangen ist. Durch seine
Vorrede gibt Haken deutlich zu erkennen, daß er nicht fähig war,
das Werk im Rahmen der Zeit, in der es entstanden war, zu be-
trachten. Das ist ihm jedoch nicht übelzunehmen, stand doch
noch vierzig Jahre später ein Mann wie Virchow dem Buch sogar
äußerst feindselig gegenüber. Haken schätzte den 'Simplicissi-
mus' dagegen sehr und meinte, er verdiene es, in einem erschöpfen-
deren Auszug, als C. J. Wagenseil ihn gegeben habe, wieder ans
Licht gebracht zu werden.^
Dieser Auszug Wagenseils war 1785 in Leipzig erschienen,
nachdem er bereits 1778 einen Auszug in dem vierten Band der
Reichard tschen Romanbibliothek veröffentlicht hatte. Der Be-
arbeiter geht von dem 1. Band der 3. Gesamtausgabe von Grim-
melshausens Schriften (1713) aus. Vermutlich ist dies ein Band,
der auf merkwürdige Weise in die Stadtbibliothek in Leipzig ge-
kommen war.
Auf dem Titelblatt dieses Bandes findet sich die folgende
Widmung:
1 Vorwort S. 14.
^ Die Besprechung seiner Ausgabe finden wir in dem bekannten Aufsatz
von Hermann Kurz im 'Spiegel' (1837) Nr. 5 u. 6, wo uns der wahre Name
Grimmeishausens entdeckt wird.
3 Vorwort zu seiner Ausgabe S. 3 f. Auch die Renovation 1790 genügte
ihm nicht.
Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrh. im Zeitalter der Komantik 15
Der sämtlichen Deutschen Gesellschafft
gehorsamst
Friderica Carolina Neuberin
Leipzig geb. Weisenbornin
Am I.Jan. Deutsche Comoediantin.
1734.
Das Buch ist also Eigentum der Caroline Neuber gewesen,
und wie sie dazu kam, es der 'Deutschen Gesellschaft' zu schen-
ken, erklärt sich aus ihrer Freundschaft für Gottsched. Dieser
war 1726 Senior der 'Poetischen Gesellschaft' geworden, die er
kurz darauf zur 'Deutschen Gesellschaft' umbildete. Als solcher
verwaltete er die auf seinem Zimmer befindliche Bibliothek der
Gesellschaft.^ Es ist sehr gut denkbar, daß Caroline, die seit 1727
mit ihm befreundet war, das Buch ihm, beziehungsweise der
'Deutschen Gesellschaft' überließ, zu einer Zeit, wo die zutage
getretenen Kunstgegensätze der beiden sie noch nicht zu erbit-
terten Feinden gemacht hatten. Später kam das Exemplar dann
mit anderen Literaturwerken des 16. und 17. Jahrhunderts der
'Deutschen Gesellschaft' in die Stadtbibliothek Leipzig. Hier
fand Wagenseil es vermutlich vor. Wenn er nun in der Vorrede
zu seiner Ausgabe erzählt, daß auch Lessing die Absicht gehegt
habe, den 'Simplicissimus' neu herauszugeben, so liegt die Ver-
mutung nahe, daß dieser den Roman auch aus demselben Band
kennengelernt hat.
Den jüngeren Eomantikern war der Roman sehr ans Herz ge-
wachsen. Sie lasen ihn nicht nur zu Studienzwecken, sondern
auch zur Unterhaltung. Das abwechslungsreiche Leben des Hel-
den berührte manche verwandte Saite ihres eigenen Gemüts. Be-
sonders Brentano und Eichendorff fühlten sich sehr zu dem Buch
hingezogen. Brentano kannte die Abenteuer des jungen Simpli-
cissimus schon von Jugend auf, und Eichendorff nahm das Buch
sogar als Erholungslektüre mit auf Reisen.^ Ihr Interesse für
Grimmeishausen blieb aber nicht auf sein Hauptwerk beschränkt.
Anfang des Jahres 1808 schreibt Brentano an Arnim auf der
Rückseite eines Bildes, das für seine Bearbeitung des 'Bären-
häuters' bestimmt war: 'Ich werde dir aus dem Simplicissimus
Stellen und besonders die Geschichte des ersten Bärnhäuters nebst
seiner Abbildung senden.'^ Er hat den 'Bärenhäuter', als Zeit-
1 Vgl. Waniek: 'Gottsched u. d. deutsche Literatur seiner Zeit' S. 83, 84.
2 Vgl. Rausse: 'EichendorfFs Beziehungen zu der volkstümlichen deut-
schen Romanliteratur des 17. Jahrhunderts' ('Eichendorff-Kalender' 1913) ;
und Rausse: 'Grimmeishausen und die Romantik' ('Germania' 1900, Wissen-
schaftl. Beilage 25).
3 Steig S. 246.
16 Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrh. im Zeitalter der Romantik
Satire umgearbeitet, in der 'Einsiedlerzeitung' erscheinen lassen
und versprach sich so viel davon, daß er am 8. April an seinen
Freund schreibt: 'Ich glaube, der Bärnhäuter wird jedermann
Spaß machen ... Er würde, einzeln gedruckt, beinahe ein Volks-
büchlein werden können.' Ludwig Grimm sticht dasselbe Kupfer
dazu, das auch Grimmeishausen benutzt hat: ein Bild aus Jost
Ammans 'Charta Lusoria'.^
Über die Bärenhäutersage und ihren Einfluß auch auf die Ro-
mantiker hat Gaismaier^ ausführlich berichtet. Die treueste
Wiedergabe der Grimmelshausenschen Erzählung ist die bereits
erwähnte von Eduard von Bülow, der, wie wir sahen, auch den
'Stoltzen Melcher' erneuert hat.
Von den kleineren Schriften Grimmeishausens hat die Erzäh-
lung vom Galgenmännlein bei den Romantikern besonderen Er-
folg gehabt. Allerdings ist es nicht Grimmeishausen allein, durch
den die Sage vom 'Allräungen' bewahrt geblieben ist, aber jeden-
falls geht Brentano auf diesen Dichter in der 'Gründung Prags'
zurück, wo er in seinen Anmerkungen zum Drama ein ganzes
Stück aus dem 'Galgenmännlein' zitiert.^ Auch Arnim wird die
Erzählung Grimmeishausens für seinen Cornelius Nepos in der
'Isabella von Ägypten' benutzt haben,^ wie er ja auch den 'Bären-
häuter' für diese Novelle verwertete. Ungefähr gleichzeitig mit
Arnim und Brentano erscheint Eouques Erzählung, die ver-
schiedene Nachahmungen herbeiführte, sogar eine dramatische
Bearbeitung, 'Vizlipuzli', von Rosenau.^
Arnim hat in der schon mehrfach genannten Erzählung 'Der
Krieg' einen zweiten größeren Roman Grimmeishausens als Quelle
verwendet. Er verschmilzt hier nämlich sehr geschickt Mosche-
roschs Gesicht 'Soldatenleben' mit einigen Kapiteln aus dem An-
fang des 'Springinsfeld', wo der Held uns von seiner Begegnung
mit der Zigeunerin Courasche erzählt und ihren ganzen Aufzug
beschreibt.
Auf dieselbe Stelle in Grimmeishausens Roman geht Eichen-
dorff in 'Dichter und ihre Gesellen' zurück.*'
^ Der Abdruck dieses Bildes befindet sich in der 'Trösteinsamkeit' und
bei Schölte: 'Zeitschrift für Bücherfreunde' (4. Jahrg.) Heft I, S. 9.
2 Gaismaier: 'Die Bärenhäutersage'. Programm des Gymnasiums Ried
1903/04.
* Rausse: 'Germania' S. 193.
* Bode S. 61 ist anderer Meinung; er glaubt, ein Bericht über den
Alraun und die Abbildung eines solchen Männchens in 'Saturnalia: Das ist,
Eine Compagnie Weihnachts-Fratzen Oder Centner-Lügen' habe Arnim
inspiriert.
5 Vgl. A. Ludwig in 'Euphorien' Bd. 17, S. 615—624.
« Rausse sagt im 'EichendorfF-Kalender' (1913), daß Eichendorflf dabei
Arnims Erzählung und nicht Grimmeishausens Roman selbst vorgelegen
Das Auf leben der Literatur des 17. Jahrb. im Zeitalter der Romantik 17
Vielleicht bewußt, vielleicht unbewußt lehnt sich Jean Paul
im Leben Fibels an Grimmeishausen an. Er kleidet die Ent-
stehungsgeschichte dieses Werkes ganz ähnlich ein, wie Grimmels-
hausen das Auffinden seines 'Ewigwährenden Calenders'. Beide
Dichter stellen angeblich ihr Werk aus losen Erzählungen zu-
sammen, die als Einwickelpapier, Nähmuster u. ä. verwendet
worden waren. Jean Paul läßt die Jugend im Dorf Heiligengut
danach suchen, Grimmeishausen entdeckt sie bei einer Butter-
händlerin.-^
Grimmeishausen bezieht sich in seinen Werken des öfteren
auf andere seiner Schriften. So spricht er im 'Springinsfeld' über
die 'Courasche' und den 'Simplicissimus', im 'Simplicissimus' liest
der westfälische Pfarrer seinen 'Joseph', im 'Galgenmännlein'
■uard der 'Teutsche Michel' erwähnt usw.
Dasselbe tut Jean Paul. Im 'Hesperus' ist Viktor ein eifriger
Leser der 'Unsichtbaren Loge'. Doch hat Jean Paul hier wohl
nicht Grimmeishausen nachahmen wollen, sondern er übernimmt
diesen Zug von Sterne, der sich in der 'Empfindsamen Reise' auf
den 'Tristram' bezieht.^
Auch für Jakob Grimm ist Grimmeishausen kein Fremder.
Er zitiert ihn wiederholt in seinem Wörterbuch. Und mit Recht,
denn es gibt wohl keinen Dichter, der für die volkstümliche
Sprache des 17. Jahrhunderts typischer wäre. Jedenfalls hat
Grimm eingehende Studien über ihn gemacht, denn sein Urteil
über einige wichtige Fragen mit Bezug auf diesen Dichter ist
ebenso scharf wie richtig. Für Adalbert Keller war es immer
maßgebend.^
Die bekannte Erzählung aus Arnims 'Wintergarten' mit dem
habe. Er folgert dies aus dem Gebrauch des Namens 'Libuschka', der sich
bei Grimmeishausen nicht, bei Arnim wohl finde. Sollte da nicht ein Irrtum
vorliegen? Bei Arnim heißt die junge Zigeunerin 'Libussa' (vgl. auch Hausse
in der 'Germania' [1910], Wissenschaftl. Beil. 2.5), die Figur der Courasche
hat keinen Namen. Bei Grimmeishausen finden wir den Namen 'Lebuschka'
oder 'Libuschka' wiederholt, sowohl in der 'Courasche' wie im 'Springinsfeld'.
Dort heißt die Courasche selbst so, die junge Zigeunerin wird nicht mit
Namen genannt. Daß Eichendorff also den Namen 'Libuschka' und nicht
'Libussa' verwendet, scheint mir eher ein Beweis dafür, daß er den Original-
roman wohl gekannt hat, um so mehr, da bei ihm die Figur der Courasche
den Namen führt.
1 Werner: 'Jean Paul und Grimmeishausen'. 'Studien zur vgl. Literatur-
geschichte' Bd. 5, Heft 4, S. 392 flF.
^ J. Czerny: 'Sterne, Hippel u. Jean Paul'. 'Forsch, z. neueren Literatur-
geschichte' Bd. 27, S. 70. Übrigens kommt dies auch bei Tieck vor. In seinem
'Gestiefelten Kater' nennt das Publikum im Vor.spiel in der Ausgabe im
Phantasus auch die anderen Märchenkomödien des Dichters.
3 Vgl. den Aufsatz Kellers über Grimmeishausen im 'Serapeum' (17. Jahr-
gang, 1856).
Arcliiv f. n. Sprachen. Sonderlieft. 9
18 Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrb. im Zeitalter der Romantik
Titel 'Die drei Erznarren' ist eine verkürzte, sonst aber genaue
Wiedergabe des 'Schelmuffsky' von Christian Reuter. Dieses
Werk war ein Lieblingsbuch der Romantiker.^ Brentanos Bruder
Christian hatte es entdeckt, und Brentano las es bei seinem Besuch
in Berlin dem Freund vor, der sich daran ergötzte und bald den
Plan einer Neuausgabe faßte. Am 18. Februar 1808 bittet er
Brentano um eine kritische Anzeige von 'Schelmuffskys Reise um
die Welt' mit interessanten Bruchstücken. Hübsch ist der Nach-
satz: 'Du kannst zulügen, daß die Balken brechen.' Auf etwas
mehr Lüge kam es ihm offenbar bei dem Lügenroman nicht an.
Ein Jahr später kann er dem treuen Mitarbeiter dann die fertige
Erzählung im 'Wintergarten' übersenden.^
In seinem 'Bärenhäuter' hat sich Brentano einen köstlichen
Scherz mit den Hauptfiguren aus Reuters Roman gemacht. Er
vermehrt nämlich die in Bärenhäuters Zimmer gemalten Berühmt-
heiten um das Bild Schelmuifskys und des Bruder Grafen,^ wo
sie nun in holder Eintracht mit dem würdevollen Gottsched, der
ebenfalls hinzugekommen ist, die Wände zieren.
Daß diese Schwärmerei für den Schelmuffsky zwischen Arnim
und Brentano einen ganzen Briefwechsel im Schelmuffskyton ent-
stehen ließ, ist bekannt. Auch daß neben dem 'Herrn Bruder
Grafen' häufig die Bezeichnung 'Herzbruder' aus dem 'Simpli-
cissimus' auftauchte, sehr oft als Unterschrift. Sogar Gryphius
mußte zu dieser Spielerei herhalten. So schreibt Brentano an
Arnim mit Bezug auf einen gemeinsamen Bekannten: 'dieser
liebenswürdige, kriegerische Horribilis',* doch offenbar eine An-
spielung auf den 'Horribilicribrifax'.
Auch der sprachgewandte Balthasar Schupp erwacht in der Zeit
der Romantik wieder zu neuem Leben. Im 'Heidelberger Taschen-
buch' von Schreiber werden 1809 vier seiner Märchen veröffent-
licht. Der Herausgeber macht eine bemerkenswerte Fußnote, die
ein inniges Verständnis für die Dichter des 17. Jahrhunderts ver-
rät: 'Der protestantische Abraham a Sancta Clara, nur noch
witziger, geistvoller und gehaltener als jener, aber vielleicht eben
darum weniger bekannt.'^ Das eindrucksvolle Lied Nicolais
'Wachet auf, ruft uns die Stimme' war den Herausgebern des
'Wunderhorns' auch durch Schupp bekannt geworden. Er hatte
1 Rausse berichtet in der 'Germania' (1910) ausführlich darüber. Vgl.
auch die Vorrede zu der Ausgabe des 'Schelmuffsky' von Schullerus, Neu-
drucke Nr. 57.58.
2 Vgl. seinen Brief bei Steig auf S. 281.
3 Vgl. O. Bleich: 'Entstehung und Quellen der Märchen Brentanos
(1897) S. 50.
* Brief vom 5. Juli 1813. Steig S. 316.
» 'Bibl. Rep.' V, S. 122.
i
)
Das Aufleben der Literatur des 17. Jahrh. im Zeitalter der Romantik 19
die beiden ersten Strophen in seine Schriften (Frankfurt 1648)
aufgenommen, die Arnim und Brentano vorlagen.
Die Werke unbekannter Dichter aus dem 17. Jahrhundert
wurden von den Romantikern zwar weniger beachtet, aber doch
nicht ganz übersehen. So nehmen Arnim und Brentano manches
Fliegende Blatt in ihre Volksliedersammlung auf, und Brentano
veröffentlicht in den Beiträgen zum 'Gesellschafter'^ fünf Pa-
rabeln aus dem 17. Jahrhundert, von denen der Verfasser nicht
genannt wird.
Unter dem Titel 'Veriphantors betrogener Frontalbo' erschien
im 17. Jahrhundert ein Roman, dessen Dichter uns über seinen
wahren Namen im unklaren läßt.^ In der 'Einsiedlerzeitung'
wurde ein sog. 'Organisches Fragment' daraus abgedruckt. Die
Herausgeber der Zeitschrift hatten diesen Ausdruck von Heinrich
von Kleist übernommen und verstanden darunter ein Stück, das
für sich ein Ganzes ausmacht, zugleich aber 'auf eine weitere
Verbindung hindeutet, wie alles in der Welt'.^ Wir finden in der
Einsiedlerzeitung mehrere solcher 'Organischen Fragmente'.
An der Herausgabe des Fragments 'Frontalbo und die beiden
Orbellen' ist außer den Unterzeichneten — Jakob Grimm und
Arnim — auch Brentano beteiligt; er gab sogar die Anregung
dazu, wie aus seinem Brief an Arnim vom 8. April 1808 hervor-
geht: 'Die Platte (eines Kupferabdrucks) selbst geht morgen ab
. . . zugleich mit einer wunderschönen Scene aus Orbella und
Frontalbo, einem meiner kleinen Romane des 17. Jahrhunderts,
die ich für dich von Grimms abschreiben ließ. Die Verse, die die
Orbella singt, sind sehr schlecht. Ich wünsche, daß Du ebenso
viel andre schöne dieser Art und Zeit statt ihrer hinsetzt; sie
liegen sehr in Deinem Talent, so wie etwa die in der Folge von
Liebesklagen' ('Wunderhorn').^ Arnim erfüllte den Wunsch des
Freundes, und mit seinen Versen erschien die Erzählung am
7. Mai.
Wir können den Romantikern für ihre Bestrebungen, das
Alte und Unbekannte in der einheimischen Kunst ihren Zeit-
genossen wieder zugänglich zu machen, nicht dankbar genug
sein. Mit kundigem Blick und sicherer Hand haben sie dabei
aus dem Wust fremdländisch gefärbter Produkte, deren die Lite-
^ Herausgegeben von F. W. Gubitz. 1817 erschienen vier Parabeln, 1818
noch eine.
2 'Veriphantors betrogener Frontalbo' befindet sich in der Kgl. Bibliothek
Berlin unter Yu 5631. Vermutlich ist Veriphantor Pseudonym für Jo. Gor-
gias; vgl. Goedeke III, S. 241.
' Vgl. die Bemerkung Arnims in der 'Einsiedlerzeitung" vom 26. April.
Pfaffs Neudruck der 'Trösteinsamkeit' S. 71.
* Vgl. den Abdruck des Briefes bei Steig S. 251.
20 Das Auflfbcii der LiicM-aiiir dos 17. Jalirli. im Zoitaller dor Romantik
ratur des 17. Jahrhunderts so viele zählt, die echt deutschen
Kunstwerke herausgegriffen. Schlicht und anspruchslos, humor-
und gemütvoll, mit einer gesunden, ehrlichen Derbheit und doch
auf einen religiösen Grundton gestimmt, entsprechen diese Dich-
tungen wie wenige den inneren Tiefen des deutschen Wesens.
Darum waren sie auch wie wenige dazu geeignet, von den Ro-
mantikern, deren Wollen und Schaffen im letzten Grunde überall
darauf hinausging, das Gefühl fürs Deutschtum im Volk zu er-
wecken und lebendig zu erhalten, im Dienste ihres hohen Ideals
bearbeitet zu werden.
Amsterdam. M. J. Deu sohle.
I
Claudius und Gerstenberg.
Als Matthias Claudius^ in den Jahren 1759 — 61 in Jena
dem Studium der Theologe oblag, trat er der 'Teutscheu
Gesellschaft' bei, die nach dem Vorbilde der von Gottsched ge-
stifteten und eine Zeitlang geleiteten 'Teutschen Gesellschaft' in
Leipzig die Dicht- und Redekunst pflegte; man kam, meist Sonn-
abends, zusammen, verlas moralische Abhandlungen oder trug
seine Poesien vor und unterwarf sie dem Urteil der Gesellschaft.
Auch Claudius' Landsmann Heinrich Wilhelm von
Gerstenberg^ gehörte ihr während seiner Jenaer Studien-
zeit an; 1759 erschienen seine 'Tändeleyen', anmutige ana-
kreontische Gedichte und Liedlein, die zum Teil schon in der
Gesellschaft unter allgemeinem Beifall vorgelesen waren^; sie
übertrafen allerdings an Frische der Empfindung, Anschaulich-
keit der Schilderung, Lebhaftigkeit der Sprache und Wohllaut
der Verse weit alle Reimereien, die in den fünf Jahre vorher her-
ausgegebenen 'Schriften der Gesellschaft' sich ans Licht gewagt
hatten. Voll scheuer Ehrfurcht blickte der einfache Holsteiner
Pfarrerssohn zu dem gefeierten und weltgewandten Dichter auf
und bewunderte neidlos die Poesien des Älteren. Doch ein engeres
Verhältnis wollte sich zwischen beiden persönlich noch nicht recht
anknüpfen; erst als Gerstenberg die Universität verlassen hatte,
entspann sich durch Vermittlung eines gemeinsamen Studien-
freundes, das Magisters Jakob Friedrich Schmidt^, ein
Briefwechsel, der schließlich zu enger und langdauernder Freund-
schaft zwischen den beiden an Charakter recht verschiedenen
Personen führte.
Für Schmidt, der sich in sehr ungewisser Lage befand und in
großer pekuniärer Verlegenheit war, hatte Gerstenberg 1760 eine
Sammlung veranstaltet und ihm eine Hauslehrerstelle ('Hof-
meister' sagte man damals) bei dem Konferenzrat v. Thienen auf
Wittmoldt bei Plön verschafft, die jener von Neujahr 1761 — 62
bekleidete. Von dort aus schrieb Schmidt am 19. April 1761
1 Geboren am 15. August 1740 zu Reinfeld in Holstein, gestorben am
21. Januar 1815 in Hamburg. Biographien von Wilhelm Herbst
(3. Auflage, Gotha 1876) und Wolfgang Stammler (Halle a. S. 1915).
2 Geboren am 3. Januar 1737 zu Tondern in Schleswig, gestorben am
1. November 1823 in Altona. Eine Biographie haben wir von Dr. A. M.
Wagner zu erwarten.
* 'Kritische und zuverlässige Nachrichten von den neuesten Schriften
für die Liebhaber der Philosophie und schönen Wissenschaften' II. Bd.,
St. 1 (Jena u. Leipzig 1762), S. 189.
* Geboren am 2. April 1730 zu Bla.sienzell bei Gotha, gestorben am
2. März 1796. Vgl. 'Allgemeine deutsche Biographie' XXXVI, S. 777—781.
22 Claudius und Gerstenberg
unter anderem an Gerstenberg: 'Ebenso aber wünschte ich auch,
daß Sie eine kleine Correspondenz mit dem jüngsten Claudius
haben möchten. Ich erinnere mich, daß er immer, so lange Sie
von Jena weg sind, recht schmachtend nach einem Briefe von
Ihnen ausgesehen hat. Er wollte mir bei meiner Abreise einen
Brief an Sie mitgeben, befürchtete aber, Sie möchten ihm nicht
antworten. Kann ich ihm dann etwa, wenn ich etwa an ihn
schreibe, das Gegentheil versichern?'^ Gerstenberg antwortete
Schmidt aufmunternd, und nun begann eine Korrespondenz, die
leider nur lückenhaft uns erhalten ist. Vor allem besitzen wir
nur Claudius' Briefe, da Gerstenbergs Antworten mit in dem
Autodafe untergegangen sind, das Claudius in den neunziger
Jahren über seine gesamte Korrespondenz ergehen ließ. Aber
auch die Schreiben von Claudius sind nicht vollständig erhalten.
Direktor Dr. Carl Christian Redlich in Hamburg scheint sie einst
alle besessen zu haben und hat eine Anzahl in einem Festpro-
gramm mitgeteilt; aber nach seinem Tode sind sie in alle Winde
zerstreut worden. Was von den verschiedensten Seiten zusammen-
zubekommen mir geglückt ist, lege ich im folgenden in getreuem
Abdruck (unbedeutende Schreibfehler sind stillschweigend ver-
bessert) vor. Um eine Übersicht über den ganzen Bestand zu
erhalten, habe ich auch die von Eedlich bereits publizierten
Briefe, deren ungenaue Wiedergabe ich in vielen Fällen nach
dem Original verbessern konnte, beigefügt.
Für die gütigst überlassenen Handschriften habe ich zu
danken den Herren Rudolf Brockhaus Erben zu Leipzig (Nr. 8),
Stadtschulrat a. D. Dr. Fritz Jonas (Nr. 20), Gotthold Lessing
(Nr. 2, 3, 5, 6, 9, 10, 15, 18, 21—51) und Professor Dr. Richard
M. Meyer t (Nr. 7) in Berlin.
Im folgenden gebrauchte Abkürzungen: H = Handschrift,
E = Erstdruck, T = Teildruck.
1.«
VortrefiTlicher Gerstenberg!
Der H. Magister Schmidt hat mir geschrieben, daß Sie noch bisweilen an
mich dächten. Ich habe mich recht sehr darüber gefreut. Ich kann nur
hoffen, daß es Ihnen lieb sein wird, wenn ich Ihnen sage, daß ich vielen,
recht vielen Antheil an dem Anfang Ihres Glücks nehme. Werden Sie immer
glücklicher, liebster Gerstenberg, so glücklich als ich es Ihnen wünsche und
Ihr Herz es verdient. 0, ich danke Ihnen tausendmal, daß Sie den H.
Magister Schmidt so glücklich haben machen wollen, als er gewiß werden
wird. Wenn ich Sie sonst nicht lieben müßte, so würde ich Sie bloß dieser
edlen That wegen unendlich lieben und hochachten.
1 Vgl. Eedlich, llngedruckte Jugendbriefe des Wandsbecker Bothen.
Programm' (Hamburg 1881), S. 3. (Im folgenden zitiert: Redlich.)
2 H: ? E: Redlich S. 3 f.
(
Claudius und Gerstenberg 23
Wollen Sie uns nicht bald wieder mit einigen süßen Tändeleien be-
schenken? Nein, liebster Freund, ob es gleich große Wollust ist, solche
Tändeleien zu lesen, so haben doch die tragischen Empfindungen einen
mächtigen Vorzug; schenken Sie uns also lieber ein Trauerspiel oder sonst
tragische Stücke, dabei man so recht weinen muß. Wie unaussprechlich
süß ist die Thräne, die man beim Grabe oder überhaupt beim Unglück
seines Freundes weint, und wer wird die Thränen besser herauslocken
können als Sie? 0, bester Gerstenberg, wenn Sie so recht betrübte und
traurige Gemälde und Empfindungen liegen haben, gönnen Sie mir das
Vergnügen solche zu lesen, ich will Sie auch ewig lieben.
Leben Sie wohl, liebster, bester Freund, ich bin mit der größesten Hoch-
achtung und Zärtlichkeit ganz
Jena, den 18. October 1761. der Ihrige
M. Claudius.
2.1
Mein bester Freund!
Sind Sie noch krank, sehen Sie noch so blaß aus, als Sie aussahen, da Sie
von Segelerg giengen?'* 0, das solte mir recht leid thun. Seyn Sie von
nun an nicht mehr krank, ich wollt' es nicht gerne haben, weil ich Sie
nicht habe sprechen können; so muß ich an Sie schreiben, aber was? daß
ich Sie unaussprechlich lieb habe, und daß ich Sie gerne mal sehen und
sprechen wolte. Schmidt ist, wie Sie wißen, mein naher Nachbar, er, Gund-
lach, und ich halten gute Nachbarschaft', uns fehlt nichts als Sie —
Ich habe auch Tandeleyen gemacht*, Tandeleyen, denn ich wüste nicht,
wie ich sie anders nennen solte. Hier sind sie, seyn Sie so gut, und sagen
mir, was Ihnen gefällt, und was Ihnen nicht gefällt, ein wenig weitläuftig,
wenn Sie Zeit und Lust haben. Ich wünsche Ihnen alles, was glücklich
macht, und bin ich mit der grösten Hochachtung
Reinfeldt d 18 8br Ihr
1762, Claudius.
3.»
Mein liebster Freund!
ich verfolge Sie mit meinen Briefen bis in Copenhagen, Sie sollen zwar
Dank für Ihre Antwort haben, aber nicht den feurigen Dank, den ich für
Sie fertig hatte, ich wolte von Ihnen nicht gelobt, ich wolte getadelt seyn
• — doch Sie wolten nach Copenhagen, und zu guter Letzt in Schleswig lieber
loben als tadeln; Nun gut, damals hatten Sie Lust zu loben, wenn Sie auch
einmal die Lust zu tadeln ergreift; so denken Sie auch an mich. —
1 H: 2 Seiten 4o. E: Kedlich S. 4.
* Gerstenberg verließ Segeberg als Adjutant v. Gählers in dem kurzen,
durch Peters III. Ermordung abgebrochenen Feldzuge gegen die Russen.
(Anm. Redlichs.)
3 Schmidt war Ostern 1762 bis Michaelis 1763 Hauslehrer bei Hanssen in
Wessenberg, östlich von Reinfeld an der lübischen Grenze. Der Plöner Jo-
hann Gabriel Gundlach, auch ein Jenenser Studiengenosse, ward 1764 Pre-
diger zu Petersdorf auf Fehmarn. (Anm. Redlichs.)
* 'Tandeleyen und Erzählungen' (Jena 1763), ungeschickte Nachahmung
von Gersten bergs Gedichten, von der zeitgenössischen Kritik herb getadelt.
5 H.: 3 Seiten 4«. E: Redlich S. 5.
24 Claudius und Gerstenberg
Der Magister Schmidt hat die Küße, die ich ihm Ihretwegen geben solte,
richtig empfangen, und ich habe wieder ein Halbdutzend an Sie zu besorgen :
Sie erhalten sie aber nicht mit Überbringer dieses, Sie sollen sie zu gute
haben, wenn ich Sie einmal sehe und spreche; aber — wenn sehe ich Sie
einmal? — wenn die Russen wiederkomen? 0 nein, so soll mir lieber genug
seyn, daß ich Sie gesehen habe, — also wenn ich einmal in die Gegend
komme, wo Sie sind — na — ich hoffe alle Tage daß irgend ein Mensch
aus der Gegend meine Dienste nöthig haben möchte, in der That, mein
liebster Freund, ich hoflfe auf eine Gelegenheit, denn nach Glückstadt gehen,
und anfangen zu plaidiren — das kann mir der Hunger nur süß machen,
wenn Sie mal was für mich wißen; machen Sie sich um mich verdient,
ich will Sie auch gerne lieber haben wollen. Der Magister Schmidt, Gund-
lach und ich wünschen Ihnen recht viel Glück zum neuen Jahre. Die eloge
des H. Huberts von Schmidt^ haben wir schon gesehen, und uns darob
gefreut. Leben Sie wohl ich bin
Reinfeldt d. 28 decembr Ihr
1762 Claudius.
N. S. Der Herr Hofprediger^ wird es doch nicht übel nehmen, dass ich
'zu erfragen bey et cef geschrieben habe^, ich wüste Sie sonst nicht aufzu-
finden.
4.4
Liebster Freund!
Ich danke Ihnen recht sehr für Ihre freundschaftlichen Gesinnungen,
und ich will Ihnen noch öfters danken. — Ihrem Rathe in Ansehung des
Herrn Generalauditeurs von Caroc bin ich gefolgt, ich habe an ihn ge-
schrieben; weil ich aber nicht weiß, wo er sich aufhält, so schicke ich Ihnen
den Brief an ihn; Sie werden so gut sein und die Adresse darauf machen.
An den Herrn Orthling^ werde ich den nächsten Posttag schreiben. Der Herr
Magister Schmidt hat mir so viel Gutes von ihm gesagt, daß ich mir viel
Glück zu der Bekanntschaft mit ihm wünschen würde, wenn er auch nicht
Generalauditeur wäre. Gundlach und Schmidt empfehlen sich Ihnen. Ich bin
Reinfeldt, d. 7. März 1763. Ihr
Claudius.
5.«
Mein liebster Freund I
Ich habe Ihren Brief über den H Magister Schmidt richtig erhalten.
Schmidt hat durch Ihren Brief mich wieder freundlich gemacht, denn weil
1 Michael Huber, damals Mitarbeiter an d'Arnauds 'Journal 6tranger' zu
Paris, später Lektor der französischen Sprache in Leipzig, hatte Schmidts
'Poetische Gemähide und Empfindungen aus der heiligen Schrift' ins Fran-
zösische übersetzt. Die Übersetzung ist 1766 in Hubers 'Choix de po6sies
allemandes' wiederabgedruckt. (Anm. Redlichs.)
2 Johann Andreas Gramer. ^ Nämlich auf die Adresse.
4 H: ? E: Redlich S. 5 f.
6 Generalauditeur Oertling war G«rstenbergs Freund und Mitarbeiter
an der Zeitschrift 'Der Hypochondrist', dessen letztes Stück von ihm her-
rührt (vgl. Gerstenbergs Brief an Weiße: 'Archiv für Literaturgeschichte'
IX, S. 477 ff.).
6 H: 3 Seiten 4«. E: Redlich S. 6 f.
Claudius und Gerstenberg 25
er imer mit seinen Gedanken so weit über Feld gegangen ist, und ein so
mürrisches Gesicht hat; so hatte ich mich zu rächen solche finstre und ver-
drießliche Mienen angenomen, als die Ceres nimmermehr mag gemacht haben,
als sie erfuhr, daß ihre Proserpina durch die Küße des Pluto entheiliget
wurde, mürrisch ist Schmidt im allerhöchsten grad, und wen es wahr
ist, was Gesner^ sagt, daß Liebende gerne einsame Schatten suchen, so liebt
der Jüngling gewiß, mann kann eine halbe Stunde vor ihm peroriren, und
er hört nichts davon, wenn mann ihn endlich anstösst, erwacht er, und sagt
zwey Worte und denn schläft er wieder ein, wenn der vertrauliche Umgang
mit dem Apoll ihn so fühlloß gegen andre Dinge machte, so möchte er end-
lich immer fühlloß seyn, aber das ist nicht, ich muthmaße gar daß er sich
mit ihm entzweit habe, und ein ganz anders Protect habe groß zu werden.
Kardinal will Schmidt werden, lieber Gerstenberg, wodurch? Durch die
Jungfrau Maria, die kostet ihm gegenwärtig viele Nächte, aus der ganzen
Landschaft höhlt er Bücher von ihr zusammen, dicke und dünne, große und
kleine Bücher von Maria. Er sagt zwar selber, weil er immer so ein
Jungfernknecht gewesen, wolle er von ihr schreiben, aber glauben Sie es
nicht, er will Kardinal werden. Nun wir erwarten sein Schicksal, und seine
Geschichte der Maria, wozu nur wenge data in der Schrift sind.''
Da Schmidt den Apoll so erzürnet hat; so hat er die hiesige Gegenden
ganz und gar verlaßen, er sprach bey mir vor, als er vorbey ging, aber ich
hatte iust die Tabelle von den verschiedenen Gattungen der Tortur vor
mich, O wie floh der Gott als er sie gewahr ward! von Carroc habe ich noch
keine Antwort*, könten Sie indeß eine Secretair Stelle erfahren; so
nehme ich sie lieber, hier war nämlich iemand, der meinen Eltern das
auditeurseyn halb zuwieder gemacht, oder so eine Stelle die in die Policey
und nützlichen Wissenschaften einschlägt, denn die hab' ich hauptsächlich
studirt, inzwischen das erste das beste, ich wollte gar zu gerne vom Hause.
Eine Neuigkeit muß ich Ihnen* doch noch mittheilen, wo Sie sie noch
nicht wißen. ich bin in den Zuverläßigen Nachrichten, die zu
Jena herauskommen von B vermuthlich Blasch* häßlich heruntergemacht
wegen der Tändeleyen, und Sie bis in den Himel erhoben, alle Tändeleyen
sind nicht von der rechten Art, einige erträglich als der steigende Busen,
die Erzählungen sind schlecht, der Arme Mann und der Jüngling be-
dürfen sehr der Feile sonst gehts noch wohl an. es ärgert mich die Kritick
nicht, aber daß Herr Blasch so stolz spricht, das ist doch viel, indeßen
will ich Schmach erdulden und stille seyn. Wollen Sie wohl so gut seyn
und sehen, ob Sie den H Pontoppidan nicht ausfragen können, er ist ein
Vetter von dem Bischof, ich weiß aber nicht wo er ist, bey seinem Vetter
1 Der Idyllendichter Salomon Geßner.
2 Schmidts Schrift erschien unter dem Titel 'Leben und Sitten der heil.
Jungfrau Maria' (Gotha 1765).
* Von Justizrat v. Caroc, dem Oertling schon im Januar auf Gersten-
bergs Veranlassung Claudius zu einer Auditeurstelle empfohlen hatte, war
an diesen so günstig geschrieben worden, daß Oertling nicht zweifelte,
'Herr Claudius werde bei nächster Erledigung einer Auditeurstelle seines
Wunsches gewährt werden'. (Anm. Redlichs.)
* Johann Christian Blasch (1718 — 92) war Rektor der Stadtschule und
Professor der Theologie zu Jena. Die Rezension steht im 2. Bd., Stück 1,
S. 189—196.
26 Claudius und Gerstenberg
oder in einem andern Hause in Copenhagen'! werden Sie aber nicht böse,
daß ich Ihnen die comission auftrage, wenn Sie ihn nicht ausfragen
können; so zerreißen Sie nur den Brief; sonst sähe ichs gerne, daß er bald
zu Stelle käme. Leben Sie wohl, ich küße Sie Tausendmal und bin ewig
Beinfeldt. d 11 aprill der Ihrige
1763 M Claudius.
6.1
Mein liebster Freund!
Ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung wegen den Verdrießlichkeiten,
die ich Ihnen durch den verwünschten Brief an Pontoppidan verursacht
habe, ich bin unschuldig, ich batt den H candidaten Pontoppidan darin um
die 2 Luisd'or, die er mir noch schuldig ist, und zwar ganz freundschaftlich,
leßen Sie den Brief selber, so werden Sie sehen, daß der Verfaßer des
Menoza^, wie wir hier zu Lande steif und fest glauben, ohne Ursache
aufgebracht worden, es verdrießt mich um des iungen Pontoppidan willen,
der ein rechter ehrlicher Däne ist, daß der Brief seinem Vetter dem Pro-
canzler in die Hände gefallen, da er sich gegen Ihren Bedienten so bezeigte;
was wird er gegen seinen Vetter nicht für manoeuvres machen? Doch ich
kann nicht dafür und Sie auch nicht — wie gesagt also, leßen Sie den
Brief, und verbrennen ihn, und vergeben Sie es mir, daß ich Ihnen den-
selben zugeschickt habe —
Was die auditeursielle betrieft, mein Liebster, so überlaße ich es Ihnen
gänzlich, was Sie für gut befinden, das will ich auch, an das Csimercollegium
habe ich gar nicht gedacht, als ich Ihnen schrieb daß ich auch die cameralia
studirt hätte, so hoch versteig ich mich nicht in meinen proiecten, sondern
ich dachte wenn etwa ein Herr, der ein Liebhaber von dergleichen Sachen
wäre, einen Secretairen nöthig hätte, oder — ich wüste selbst nicht was
ich dachte, kurz Sie solten es nur wißen, daß ich auch das cameral studirt
habe. Schreiben Sie mir bald wieder, ich freue mich immer so, wenn ich
einen Brief von Ihnen kriege, wenn mir ein andrer eben daßelbe schreibt,
so ists mir nur halb so angenehm, wie geht das zu? — ich liebe Sie herz-
lich und bin
Reinfeld d 12 i»/ai Ihr
1763 Claudius.
[Adresse:] ä Monsieur Monsieur de Gerstenierg Lieutenant de Cavallerie
ä Copenhagen abzugeben bey dem Herrn M orville am
Strande. F ranco.
7.»
Mein liebster Freund,
Sie müßen es mir ia nicht übel nehmen, daß ich nun so lange, lange
nicht an Sie geschrieben habe (denn in der That es komt mir für, als wenn
Jahrhunderte zwischen meinen letzten Brief und dießem lägen) mein dickes
i
1 H : 2 Seiten 4 «. Auf der vierten Seite die Adresse. E : Redlich S. 7.
2 Der dänische Prokanzler Erik Pontoppidan ließ anonym im Jahre 1742
den Roman 'Menoza' erscheinen, der bald unter dem Titel 'Menoza, ein
asiatischer Prinz, welcher die Welt umher durchzogen, Christen zu suchen,
aber der Gesuchten wenig gefunden' ins Deutsche übersetzt wurde (1754 in
dritter Auflage).
3 H: 3 Seiten 4«. E: Redlich S. 7—9.
Claudius und Gerstenberg 27
hypochondrisches Blut ist schuld daran, nun bin ich nicht viel mehr von dem
Punkt entfernt, wo ich Schmidts angefangene Wochenschrift^ mit vieler
Naivitet fortsetzen könte. Nachdem ich Ihnen dieß gesagt; so kann es
Sie nicht befremden wenn ich Ihnen ein kleines Wiegenlied abschreibe deis
ich meiner Schwester^ 'bei ihrer kleinen Tochter zu singen', gemacht habe.
Das Lied heißt so:
Großmutter Müller, Großvater und Großmutter Claudius, Vater und
Mutter Müller, Tanten Müllern um die Wiege.
alle
Nun liebes Mädchen schlummre ein,
0 schlaf in süßer Ruh!
wir wollen alle stille seyn,
wir sehn dir alle zu.
Großmutter Müller allein
Du liebe kleine Enkelin,
ich wein' mit Freuden hier
mein Herz auf deine Wiege hin =:;==:
ich fühls, ich leb' in ihr.
Tutti
Nun liebes Mädchen et cet.
Großvater und Großmutter Claudius
Kind :=, einen Blick — denn schlafe du,
denn wiegen wir dich ein,
und küßen dir die Augen zu,
du wirst wohl schläfrig seyn.
Tutti
Nun liebes Mädchen et cet.
Vater und Mutter
Sie ist doch Fleisch von unserm Fleisch =
0, wecket sie nicht auf,
du Wiege mache kein Geräusch,
und wecke sie nicht auf!
Tutti
Nun liebes Mädchen et cet —
Die Tanten
0 seht, wie ruhig schläft sie nun!
wie wallt die kleine Brust!
in unserm Arme solt du ruhn.
ira Arm, du = unsre Lust.
1 Der schon oben erwähnte 'Hypochondrist', erschien vom 2. Januar bis
19. Juni 1762 zu Schleswig in 25 Nummern.
2 Claudius' Schwester Dorothea Christina (geboren 1744) war seit dem
5. November 1762 mit dem Pastor Christian August Gustav Müller zu
Gleschendorf, Amt Ahrensböck, verheiratet und starb bereits am 26. Mai
1766.
28 Claudius und Gerstenberg
Tutti
Nun liebes Mädchen schlummre ein
0 schlaf in süßer Ruh et cet —
Das sind in einem ganzen Jahr fast alle reime, die ich gemacht habe,
und vieleicht habe ichs klug gemacht, daß ichs dabey habe bewenden laßen,
hätte ich noch sonst was machen sollen, so hätte es vom Grab und von Todten-
gräbern, von Bahren und Beinhäußern, von Einöden darin hie und da Alpen
von Menschenschädeln trauren, sein müßen, denn das ist itzo mein Feld —
Nun, ich will mich mal losreißen, einmal mit Gewalt menschlicher ge-
sinnet sein, ich küße Sie, Mein lieber Gerstenberg lOmal lOOmal =: = wie
ist es so lieblich zu küßen ! Schmidt ist meinem Kuße nun schon ent-
zogen, und wo er nicht wieder auf einer Abentheuer durchs Ländlein Hol-
stein komt, werde ich ihn schwerlich jemals wieder küßen^. —
Stirbt in Copcnhagen nicht ein Secretair, oder braucht nicht ein Junger
Herr einen Hofmeister mit ihm auf die universitet zu gehen? wißen Sie
was mir neulich eingefallen ist, ich möchte wohl nach das Land Norwegen,
wenn ich da nur was zu thun hätte, bey den Bergwerken, oder sonst. Der
Himmel weiß, wo ich noch hinkomme, indeßen habe ichs zu Hauße gut, bis
etwas vorfält. Her Gundlach lest sich Ihnen empfhelen, Sie werden doch
wohl seine Antwort auf Ihren Brief richtig erhalten haben. Leben Sie wohl,
und vergelten Sie nicht gleiches mit gleichem, Nein, ich hoflfe bald auf einen
Brief von Ihnen, ich bin
Reinfeldt d 2 Oct. 1763. Ihr Claudius.
Es sind ia auch Krieglieder von einem dänischen Grenadier, dem lungern
Bruder des preußischen, herausgekomen^.
8.3
Meine Bekandtschaft mit Bach* hat Grade und bisher noch dieselben die
Ovid in seinem Büchlein, der Liebe andichtet. Da Ihnen alles was Bachen
angehet, wichtig ist, warum sollte ich denn nicht lang und gut erzählen, daß
ich ihn vorigen Sonntag Nachmittag eine Musick in der neuen Michaelis
Kirche habe aufführen sehen und hören. Die erste Helfte der Musick war
von ihm selbst, sie war aber zu schwach besetzt in der großen Kirche
Dienste zu thun, und daher konnte mann nur aus dem Maulzucken einiger
Menschen, die vorne an stunden, und aus abgebrochenen verlohren Lauten
erfahren daß gesungen ward. Das merkwürdigste dieses Tages also ist
daß ich Bachen in der Kirche sah und ihn bis an sein Hauß verfolgte, das
H. Dumpfä mir nur in abstracto zu sagen wüste.
1 Schmidt war wenige Tage vorher nach Thüringen zurückgegangen, wo
er 1765 Prediger in seinem Geburtsflecken Zelle, 1773 Prediger in Gotha
wurde. (Anm. Redlichs.)
2 'Kriegslieder eines königl. dänischen Grenadiers bey Eröffnung des
Feldzuges' (1762), von Gerstenberg selbst gedichtet.
3 H : 3 Seiten 4 ". Auf der vierten Seite die Adresse. E : Redlich S. 9 f.
* Karl Philipp Emanuel Bach, Sohn Johann Sebastians, war am 3. No-
vember 1767 als Telemanns Nachfolger zum Kantor und Musikdirektor am
Johauneum in Hamburg erwählt worden.
5 Johann Wilhelm Dumpf, der erste Redakteur der 'Hamburgischen Neuen
Zeitung' und der 'Adreß-Comtoir-Nachrichten', als dessen Mitarbeiter Clau-
dius nach Hamburg gezogen war.
Claudius und Gerstenberg 29
Heute, Diensttags Morgens gieng ich nun in das Hauß, darin er Sontags
ging und traf ihn im neglige, darin er sprach aber nicht spielte:
-\- verzeihen Sie, daß Sie mich so im neglige treffen.
X mann findet virtuosen ordinoir darin.
+ bey leibe nicht, das sind nicht virtuosen, das sind liederliche Leute.
X
X ich komme aus Copenhagen und habe einen Gruß für Sie von H Past.
Resemtz, wenn Sie sich seiner noch erinnern.
+ 0 ja — wie steht es um die Musick in Copenhagen"!
X sehr mäßig, Schoherf- und Ihr Bruder^ sind die Lieblings Autors,
Sie gefallen nicht sonderlich.
4- darin muß ich mich finden. Schobert ist hier auch beckannt, er ist
ein Mann der Kopfs hat, aber hinter seiner und meines Bruders itzigen
Composition ist nichts.
X sie fällt gleichwohl gut ins Ohr.
-\- sie fällt hinein und füllt es, last aber das Herz leer, das ist mein
Urtheil von der neuen Musick, der neuen comischen Musick, die auch in
Italien, wie mir Galuppi^ gesagt hat, Mode ist, so daß mann gar kein
adagio, lauter räuspernde Allegro, allenfalls ein andantino zu hören kricht.
Der König von Preußen hasst diese Musick aufs äußerste, sonst findet sie
fast allenthalben Beyfall, und ich habe mich in meinen Sonatinen nur ein
wenig zu den Geschmack herunter gelaßen.
X sie verhält sich vieleicht zur eigentl. Musick, wie sich das Witzige
zum pathetischen
-f- der Vergleich ist nicht übel, die Musick hat höhere Absichten, sie
soll nicht das Ohr füllen, sondern das Herz in Bewegung setzen.
Hier sah ich ihm steif ins Gesicht.
X Sie haben einige piecen gesetzt, darin Xaqny.irjQe ausgedrückt sind*,
haben Sie die Arbeit nicht fortgesetzt?
-\- nein, die Stücke hab' ich gelegentlich gemacht, und vergeßen
X es ist doch gleichwohl ein neuer Weg —
-\- aber nur ein kleiner, mann kanns näher haben, wenn mann Worte
dazu nimmt.
u so ferner, denn ich kan nicht alles auf diesen Bogen bringen, ich
muß Sie noch bitten, daß Sie mir bald was zu übersetzen verschaffen,
denn ich hab itzo nichts zu thun, und muß täglich brodt haben.
ich habe mir eine Stube auf 4 Wochen gemietet, das traurigste dabey ist,
daß ich täglich mit Lebensgefahr zu einem Nachtstuhl im Keller hinabsinken
muß. Die adreße des Haußes, wo der Nachtstuhl im Keller steht ist: an
der Mühlenbrücke bey H Schmidt gerade gegen den
Adler über.
1 Berühmter Klavierspieler in Diensten des Prinzen Conti zu Paris (ge-
storben 1768).
2 Johann Christian Bach, der sogenannte "Mailändische' oder 'Englische'
Bach.
3 Baldessaro Galuppi, italienischer Komponist (1703 — 1785).
« 'Piecen, darin Charaktere ausgedrückt sind', interessierten Gerstenberg
vornehmlich. Er hat dem Bückeburger Bach einmal vorgeschlagen, die
Geschichte der Kleopatra ohne Worte musikalisch darzustellen. (Anmerkung
Redlichs.)
30 Claudius und Gerstenberg
Die Schönheiten Hamburgs sehe ich, koste sie aber nicht, sondern gehe
vorüber als ein Mönch und brumme memento loculi.
Danken Sie der Fr. RittMeister für ihre Musick, und Erbsen sans com-
paraison. wen Sie den Brief gelesen haben können Sie ihn wohl casiren [!].
Ihr
Hamburg, Diensttags [5. Juli]. 1768. aufrechter Claudius.
[Adresse:] ä Monsieur Monsieur de Oerstenberg, Capitaine de Cavallerie
ä Copenhagen franco
9.*
So lange ich auch mit der 2ten relation Anstand genommen, so enthält
sie doch nichts neueres weder von Bach noch Lessing, den erstem habe ich
nicht wieder treffen können, er ist niemahls, denk' ich, zu Hause, den
letzten hab' ich noch gar nicht gesehn, ich weiß selbst nicht warum, aber
das Gespräch war mein Treu kein Gedichte, sondern eine Geschichte, ich
sollte bald schreiben, was ich durch was zu Übersetzen von Proft"
pp verstehe, ich verstehe dadurch, ob Sie nicht die Gutheit haben wollten,
wenn Proft etwas zu übersetzen hat, mir solches zu verschaffen, oder, wenn
er nichts weiß, ihm etwas vorzuschlagen und mir schleunigst (denn sonst
kom ich ganz positiv Schuldenhalber nach Netcgate^) davon Nachricht zu
geben, oder noch beßer den Übersetzerlohn praenumerando mitzusenden,
ich habe noch ein Anliegen, es sollen im Dänischen gewiße Feldapothecker
Stellen seyn. ein Apotheker, der gute Zeügniße unter andern von Hensler
in Segeierg, wenns verlangt wird, beybringen kann, ein Bruder von dem
Hermann, den Sie noch in Jena geckannt haben und der gegenwärtig in
Hamburg ist, hat mich um diese Stelle befragt, ich weiß nichts davon,
wißen Sie nicht wie es damit zusammenhängt, und ob wohl an eine solche
Stelle zu kommen sey? ich habs mit meinen vergeblichen Laufen nach
Bachs Hause verdient, daß Sie mir etwas Antwort ertheilen.
Ich emphele mich der Fr. Rittmeist. und Ihrem Andenken, bis ichs so
bald ich Bach pp gesprochen habe, von neuem thun werde.
Hamburg 18. Jul. 1768. Ihr Claudius.
Postscriptum.
ich bin hier vergnügt genug, und ersuche ganz ergebenst den kleinen
weißen Zettel H Schoenborn* und den blauen dem H Lieutenant Rüdinger^
zuzustellen.
schließlich soll auch noch nomine d H Dumpf ersuchen, nächstens des
H Duschs Heldengedicht® zu recensiren, weil so wohl Verfaßer, als Lesern es
gerne sehen.
1 H: 2 Seiten 4o. E: Redlich S. 11.
' Proft war Buchhändler in Kopenhagen, Verleger von Gerstenbergs
'Gedieht eines Skalden'.
3 Schuldgefängnis in London, hier scherzweise auf Hamburg übertragen.
* Dichter, zum Klopstockischen Kreise in Kopenhagen gehörend (1737
bis 1817). Vgl. über ihn Wein hold in der 'Zeitschrift für Schleswlg-
Holstein-Lauenburgische Geschichte' I, S. 129 flF.
* Andreas Christoph Rüdinger, Neffe Leischings, geboren 1746 in Leipzig,
gestorben als Kgl. dänischer Legationsrat 1797 in Lauenburg.
* Mit 'Duschs Heldengedicht' ist 'Aedon und Themire, ein episches Ge-
dicht in 12 Büchern' gemeint, das 1767 in Joh. Jak. Duschs Sämtl. Poet.
Claudius und Gerstenberg 31
10.1
Allerhand schöne Raritäten^ von Leßing und Bachen — da werden Sie
sehen, daß ich bey den erstem gewesen bin, daß er Ihren Brief mit Tiede-
mann geckricht, und nächstens eine Antwort nebst seinen aniigwarischen
Briefen an Sie schicken wird, daß ich ihm gesagt habe, Sie läsen seine
Briefe und hörten seine Urtheile gern [NB en passant und ohne Ccremonie
und Complimentirsiil) daß ihm der Bart dabey glacht hat, als ich das sagte,
daß er in den folgenden antiq. Briefen, davon Sie in der neuen Zeitung die
ersten werden gelesen haben, H Klotzen das garaus machen, und ihm be-
weisen will, daß er sein Buch von Wort zu Wort und größentheils ohne
Verstand ausgeschrieben, und abscheuliche impertinence habe. — Wieder
auf eine andre Manier — da werden Sie sehen H Bachen, der Ihre Fantasie
ein sehr schönes Stück nennt, aber wegen KirchenMusicken, damit er sich
itzt beschäftigt, noch nicht Zeit hat, sie zu componiren, der seine Instru-
mente noch nicht ausgepackt hat, und daher meinen Vorschlag ihm eine
seiner Sonaten vorzuspielen nicht annehmen könnte, sondern mich zu einen
ordentlichen Besuch auf künftige Woche eingeladen hat, regardez ben,
regardez ben, wie ich ihm also an Auspackung nicht hinderlich seyn wollte,
und ohne weitere discourse bis auf Wiedersehn, abzog, abermahl auf eine
andre Manier, da werden Sie sehen mich aus dem Schneiderhause an der
Mühlenbrücke aus- und in ein Hauß in der Neustadt einziehen, daher denn,
weil dieß hauß so schwer zu beschreiben ist, Ihre adresse künftig seyn
wird, abzugeb. auf dem Kais, adreß C ont oir. Schließlich er-
suche ich mich der Fr Rittmeist. zu empfhelen, und, weil Sie doch sehr viel
lesen, mir wenn Sie Sachen fürs adrejSblatt besonders gemeinnützige Nach-
richten finden, wißen zu laßen, wo sie stehen. Der Etats'Raht^ ist hier heüt
um 1 Uhr angeckommen, ich hab ihn aber noch nicht gesprochen, leben
Sie wohl. C.
Ich bitte gehorsahmst um Excuse.
[Adresse:] d Monsieur Monsieur de Gerstenierg Capitaine de cavallerie
ä C openha g en
11.«
[Hamburg, August 1768.]
Mein lieber Herr Rittmeister!
Für Sie ist unterwegens:^
Journal encyclop. von Anfang 1768 — April c. o. inclusive.
The Monthly Review for Febr., March 1768 nebst Appendix zu dem 7. vol.
Werken (3. Teil) erschienen war. Gerstenbergs Anzeige erschien in der 'Ham-
burgischen Neuen Zeitung' St. 179 — 182, 10. bis 15. November 1768; siehe
'Deutsche Literatur-Denkmale des 18. und 19. Jahrhunderts' Nr. 128,
S. 127—137.
1 H: 1 Seite 4". Auf der Rückseite die Adresse. E: Redlich S. 11 f.
2 Claudius kopiert voll Humor die Manier der Guckkastenmänner auf
den Jahrmärkten.
3 Der Etatsrat ist wahrscheinlich Johann Christian Leisching, der Bru-
der des Legationsrats Polykarp August Leisching, der das Hamburger
Adreßkontor gestiftet hatte und Eigentümer der 'Neuen Zeitung' war. Er
wird in den 'Gemeinnützigen Hamburgischen Anzeigen' Stück 88 unter den
am 28. Juli angekommenen Fremden aufgeführt. (Anmerkung Redlichs.)
« H: ? E: Redlich S. 12 f.
^ Die betreffenden Rezensionen Gerstenbergs über die gesandten Bücher
32 Claudius und Gerstenberg
The critical Review for March 1768.
The Gentleman' s Mag. für dito 1768.
Poetische Werke von Dusch 3. Theil, — will gern bald recensirt
sein.
Das gelehrte Deutschland 3. und letzter Theil — gelegentlich.
Der Monitor 1. Theil — dito.
Neuberger von den Einkünften der Klöster dito.
Beiträge zur Clozigen Bibliothek, werden per poste lente mitgeschickt.
Beaumonts Geschichte von Schlegel fortgesetzet 2. Band — gelegentlich.
Gray 5. Theils erster Band dito.
Ihrer Kais. M. Instruction für etc. etc. —
Biblioth^ques des sciences et des ieaux Arts poiir les Mois Avril, May, Juin,
Juillet, Aoüt, Sept. 1767.
Curtius 1. und 2. Theil.
Keine Anmerkungen über die Mangelhaftigkeit dieser Transmissorum ;
nehmen Sie mit der Vertröstung, daß es in Zukunft ordentlicher kommen
soll, fürlieb, denn wo die Stücke sind, die hier nicht befindlich und es doch
sein sollten, kann ohne eine Preisaufgabe gar nicht ausgemacht werden. —
Die Bücher, die von nun ab und an — das Adr.-Comptoir werden
eingeschickt werden, sollen ohne Verzug entweder in natura oder titelweise
an Sie gelangen, mit Bitte die Herren Autores baldigst durch eine Recension
zu erquicken oder zu strafen. Ihr
etc. etc.
12.1
[Hamburg, Anfang Oktober 1768.]
Sie sind gewiß ungehalten und glauben, daß Sie auch wirklich Ursache
haben es zu sein — indeß versichere ich, daß heute der erste Posttag nach
dem Morgen ist, darin ich Bachen habe spielen hören, und daran ist haupt-
sächlich Lessing schuld. Ich allein konnte Bachen nicht zum Spielen brin-
gen, daher ich Lessingen bat, mich einmal mitzunehmen, und dies Mitnehmen
ist vorigen Mittwochen morgens um 1/2I2 allererst erfolgt. — Das kleine
berühmte Silbermannsche Ciavier hat einen hellen, durchdringenden, süßen
Ton, keine außerordentliche Stärke im Baß, keinen außerordentlich sanften,
schmeichelnden Diskant und geht nur bis I. Auf diesem Klavier spielte
stehen in der 'Neuen Zeitung' 1768: St. 176 — 178 über die Instruktion der
Kaiserin Katharina für die zur Verfertigung des Entwurfs zu einem neuen
Gesetzbuch verordnete Kommission, St. 179 — 182 über Dusch, St. 175 über
Frau le Prince de Beaumonts Auszug aus der alten Geschichte, St. 186 über
Wagners Übersetzung des Q. Curtius Rufus und St. 187 über Hambergers
Gelehrtes Deutschland und den Monitor. Mit Ausnahme der Rezension
über Dusch fehlen alle übrigen in Fischers Ausgabe von Gerstenbergs Re-
zensionen in der 'Neuen Zeitung" (Deutsche Literatur-Denkmale Nr. 128),
Berlin 1904. — Die 'bloß zum Zeitvertreib' mitgesandten Bücher sind: C. H.
Wilkes '^Moralische Beiträge zu der Klotzigen Bibliothek der schönen Wissen-
schaften', St. 1 und 2, Hamburg [vielmehr Leipzig], gedruckt auf Kosten
des Verfassers, eine der zahlreichen Streitschriften, die der 'Antikritikus'
veranlaßt hatte; vgl. Allgemeine deutsche Bibliothek 2, S. 103 flf.
1 H: ? E: Redlich S. 13—15. (Bei Fischer a. a. O. S. LXII die Stelle
über 'Ugolino' und die 'Antiquarischen Briefe' fälschlich als aus einem
'ungedruckten' Briefe [wo ist die H?] zitiert. Ebenso von Fischer im
Euphorion X, S. 74 die Stelle von: 'Ihre Recensions, sagt' bis 'ausstreiche*
als 'ungedruckt' zitiert und in das Jahr 1769 versetzt.)
I
Claudius und Gerstenberg 33
Bach zwei Adagio und ein Allegro, die er ausdrücklich für dies Klavier
gesetzt hat, das erste Mal wie sie auf dem Blatte vor ihm stunden, und das
zweite Mal verändert. Die Stücke waren gar nicht schwer, indessen
spielte er das Allegro so geschwind und so rein dabei, daß man
leicht sähe, wie er mit schwereren Stücken umgehen werde. Sein Adagio-
spielen kann ich nicht besser beschreiben, als wenn ich Sie an einen
Redner zu denken ganz gehorsamst ersuche, der seine Reden nicht aus-
wendig gelernt hat, sondern von dem Inhalt seiner Rede ganz voll ist, gar
nicht eilt etwas herauszubringen, sondern ganz ruhig eine Welle nach der
andern aus der Fülle seiner Seele herausströmen läßt, ohne an der Art
der Herausströmung zu künsteln, wohl aber zu denken, so wie ich an
diesem Gleichniß nicht gekünstelt, aber auch nicht gedacht habe. Ich bat
ihn um die letzte Fantasie in den Probestücken etc.^, und ich kann Ihnen
versichern, daß wir sie nicht sehr unrecht gespielt haben, wie er sich denn
auch, als ich etwas spielte, vernehmen ließ, wie man hören könne, ich spiele
mit Leib und Seele, quod obiter moneo. Er spielte noch eine von seinen
leichten Sonaten — die Allegro fahren wie schnelle Donnerwetter unter
seinen Fingern heraus, wir müssen sie nach diesem etwas geschwinder
spielen. — Ich habe ihm von Klopstocks Bardenliedern etwas gesprochen,
er scheint es aber entweder nicht zu begreifen oder ist kalt gegen alles,
was nicht gut bezahlt wird, welches er denn in Ansehung der Cramerischen
Psalmen selbst sagte, auch etwas von einem Briefe eines Anonymi über
diese Materie und von einer Antwort darauf, wie Sie wissen, hinzuthat.
Er sagte von Pergolesi-, daß viel Ausdruck und guter Wille in seinen
wider die Composition anstoßenden Sachen sei, daß aber ebensoviel ohne
diese Fehler darin sein könnte. Er will diesen Winter ein Concert halten,
wenn er 100 Subscribenten ä Mann 10 rth. kriegen kann, wird sie aber
vermuthlich nicht kriegen. Solfeggi sind eigentlich kurze musikalische
Sätze, die die Sangmeister in Italien ihre Schüler singen lassen, um ihre
Kehle geläufig zu machen; daher sind Bachs Solfeggi kurze musikalische
Stücke, junge Spieler fertig zu machen. Die Orgel spielt Bach gar nicht
und muß hier in Hamburg verschiedene Urtheile über sich ergehen lassen,
welches ihm denn sehr ungewohnt vorkommt. So viel von dem einen Vir-
tuosen, nun etwas von dem andern^. Ich habe ihm die Stelle aus
Ihrem Briefe vorerzählt, darin Sie äußern, daß er laut seiner antiquarischen
Briefe ein rechter unerbittlicher Geier und Crocodill sei, der seinen Feind
etc. Er lachte gewaltig: ja — so hätte Gerstenberg es gleich machen
sollen, als er* die Schleswigschen Briefe so unartig mißhandelte. Sie
fühlen das Compliment, das hier gemacht ward, ohne daß man eins machen
wollte. Ich könnte Ihnen noch viele dergleichen Anekdötchen erzählen,
auch unter anderm, wie man sich über die Kunst aus 5 Versen des Dante
ein Trauerspiel zu machen wundert etc. Der Ugolino ist ganz fertigt. Die
1 'C. Ph. E. Bachs Versuch über die wahre Art Klavier zu spielen, mit
Exemplen und 18 Probestücken in 6 Sonaten.' Erster Teil. Berlin 1759.
2 Giovanni Baptista Pergolese, italienischer Komponist (1704 — 1737),
besonders berühmt durch seine Komposition des 'Stabat Mater'.
3 Lessing.
4 Klotz; vgl. seine 'Deutsche Bibliothek' I, 4, S. 96 ff.
6 Im Druck, wie die 'Antiquarischen Briefe', den also Claudius über-
wachte.
Archiy f. n. Sprachen. Sonderheft. 3
34 Claudius und Gerstenberg
antiquarischen Briefe auch und schon abgegeben, um Ihnen überschickt zu
worden, weil man sie gerne recensirt haben will^; sie werden nächstens
nebst andern Sachen von hier an Sie abgehen. Catharina der Zweiten
Reglement fürs Gesetzbuch möchte auch ehestens recensirt werden, und
noch einige andere Stücke, darauf ich mich nicht gleich besinnen kann.
Ihre Recensions, sagt eine Parthey Leser, sind schön, eine andere sagt:
'ia, es ist wahr', weil die erstere es gesagt hatte, und die dritte, die nicht
so klug als die ersten und so dumm als die letzten sind, sagen, wir ver-
stehen sie nicht und lesen lieber die Recensions anderer Leute, ich weiß
nicht ob es möglich ist alle 3 Klaßen Leser auf einmahl zu befriedigen,
indeß sähe der H. LegationsRath es wohl, daß es möglich wäre, mir ists
gleichviel, weil ich nicht zur zweiten Claße gehöre noch die zwei Rth. am
Ende des Jahres einstreiche. —
Neulich bin ich in Ottensen gewesen und habe das Grab der Klopstock
besehen. Der Gedanke ans begraben einer geliebten Frau ist mir seit
langer Zeit süßer gewesen, als der an die erste Nacht. Bei einem so ko-
mischen Gefühl hatte das Grab gute Sache, og jede maerkede snart en lille
smule af den Folelse, den Enkemand havde denne Gan^, ein Sommerlüft-
chen vom Sturme des Barden.
Schönborn ist wohl todt, er sollte mir nothwendig antworten und hat
es nicht gethan. — Wollen Sie ihm wohl gelegentlich sagen, nicht daß er
schreiben soll, denn das hab' ich nun schon vergessen, sondern daß er mir
meine Noten schicke, wenn ich ihn nicht verklagen soll.
Glück zum jungen Dichter^, und der Fr. Rittmeister meine Empfehlung.
Ut supra.
Daß dieser Brief nicht franco ist, hat seinen guten Grund*, ist aber ohne
Folgen für die künftigen.
13.*
Mein lieber H. Rittmeister!
Ich hätte Ihnen vielleicht schon ehender geantwortet, wenn ich nicht
8 — 10 Tage in Reinfeldt gewesen wäre.
Palschau^, sagt Bach, spielt meine Sachen schlecht, sein Fingerwerk ist
unverbesserlich, er spielt viel schwerere Sachen als meine sind, aber — ich
habe ihn, wenn er bei mir war, immer gebeten von meines Vaters Sachen
zu spielen, wo es bloß aufs Treffen ankömmt. Dem Herrn v. Gerstenberg
vermelden Sie meinen Respekt, ich habe bisher noch nicht Zeit und Muße
genug gehabt, seine Poesie zu eomponiren, es soll aber nächstens gewiß
geschehn.
Ich glaube, ich habe das letzte schon einmal geschrieben, aber Bach hat es
auch zweimal gesagt.
^Lessing läßt viel grüßen, ich komme eben von ihm. Ihr Brief hat nun
1 Die Anzeige des ersten Teils der 'Antiquarischen Briefe' im 6. Stück
der 'Hamburgischen Neuen Zeitung', unterzeichnet A, rührt nicht von Ger-
stenberg her, dagegen die des zweiten Teils, 'Neue Zeitung' 1769, St. 183
bis 186: Fischer a. a. 0. S. 289 ff.
2 Gerstenbergs neugeborener Sohn Thomas.
* Claudius' Geldmangel.
* H: 23/4 Seiten 4". [Angeboten 1911 in Henricis Autographen-Katalog
X, S. 40, Nr. 440.] E: Redlich S. 15 f.
5 Palschau war ein berühmter Klaviervirtuose in St. Petersburg.
Claudius und Gerstenberg 35
schon drei Wochen auf seinem Pulpet gelegen und beantwortet werden
sollen, und er soll nun beantwortet werden, ehe Sie sich's versehen, sagt er.
Ich will's aber nicht gesagt haben, denn zerstreuter ist in dieser Gegend
kein Mensch als er. Sie haben Wittenbergs Recension, die schwerer
zu ertragen ist als eine von Duns, gewiß schon gelesen^. Näch-
stens will Lessing eine davon in die neue Zeitung einrücken lassen. Er will
auch nach Copenhagen kommen, im Februar etc. etc. Wir sind unschuldig,
wenn Sie die antiquarischen Briefe noch nicht haben, hier sind sie seit drei
Wochen auf die Post gegeben. Die alten griechischen Autoren weiß Lessing
Ihnen nicht zu verschaffen, er will aber seine Bibliothek verkaufen und
Ihnen den Catalogum zuschicken, wo Sie sich dann auslesen können. Die
fehlenden Nummern der Zeitung etc. kommen mit den nächsten Büchern,
den Sonnabend denke ich.
Ihre Anmerkungen in den Zeitungen ?2 wie viele hier in Hamburg sollten
sie wohl verstehen? Doch will ich nicht widerrathen sie fortzusetzen, denn
was auch vom Herablassen für den größten Theil der Leser geschwatzt werden
mag, wenn der kleinste Theil sowohl in als außer Hamburg, dem der größte
Theil sowohl in als außer Hamburg ein besseres Urtheil als sich selbst zu-
traut, die Recensions etc. rühmt, so bemüht sich gewiß ein großer Theil von
dem größten Theil den Geschmack daran zu bringen, nur zu! — Justuni et
tenacem propositi virum etc.
Der Rector Ehlers^ ist hier neulich durchgegangen, er läßt sie grüßen;
er sprach mir von Projecten, die Klopstock vorhätte*, was ist das? Ich habe
ihn nach Harburg begleitet, und in Harburg durch Lachen eine unruhige
Nacht gemacht. In Oldenburg fehlt auch ein Conrector; wenn Sie die Stelle
zu vergeben hätten, wollte ich Ihnen ein gut Wort darum geben, denn mich
dünkt nun, daß ich von Mutterleibe an zum Conrector bestimmt sei.
Schönborn hat mir geschrieben, beim Styx, er hat mir geschrieben, ich
will ihm vielleicht auch wohl einmal wieder schreiben.
Mademoiselle Giezelli, damit ich Ihnen Ihre vielen musikalischen Neuig-
keiten einigermaßen gut thue, singt schlecht, von Herzen schlecht, obgleich
sie hier allgemeinen Beifall findet; ich schreibe dies nicht Bachen nach,
den ich es auch einmal habe sagen hören, sondern ich dachte es gleich,
nachdem sie meinen Ohramboß und Ohrhammer das erste Mal mit ihrer
fetten Stimme in Bewegung gesetzt hatte, aber Schetki ist ein Virtuose^.
Der Frau Rittmeisterin und beiden künftigen Musicis meine Empfehlung.
Ich wünsche mich eben nicht nach Copenhagen, aber Sie hierher, wenn ich
^ Wittenbergs Rezension des TJgolino' erschien in Nr. 176 (2. Nov.) des
'Hamburgischen Correspondenten' von 1768. Die versprochene Lessingsche
Anzeige ist nie geschrieben; die 'Neue Zeitung' hat daher überhaupt keine
Anzeige des 'Ugolino' gebracht. (Anm. Redlichs.)
^ Gerstenbergs Anmerkungen stehen in der 'Neuen Zeitung' 1768, St. 145.
150. 156. 167; 1769, St. 13. 14. 25. 26. 27. Vgl. Fischer a. a. 0. S. 100 ff.,
104 ff., 124 ff., 149 ff., 156 ff.
3 Martin Ehlers, bis Michaelis 1768 Rektor in Segeberg, war in gleicher
Stellung nach Oldenburg berufen worden.
* Mit Klopstocks Projekten ist natürlich der in der Widmung von
Herrmanns Schlacht angedeutete Plan einer vom Kaiser Josef zu gründenden
Akademie deutscher Dichter und Gelehrten gemeint. (Anm. Redlichs.)
5 Signora Gizzielli (Gizielli, Giezielli) wirkte als Theater- und Konzert-
sängerin, F. G. C. Schetky als Violoncellovirtuose in Hamburg.
3*
36 Claudius und Gerstenberg
in Hamburg bleiben sollte. Hier hab' ich keinen Menschen, zu dem ich gehe,
zu Lessingen komme ich alle 4 Wochen einmal, und was dergleichen mehr ist.
Hamburg, den 4. November 1768. Claudius.
14.1
[Hamburg, Januar 1769.]
Mein lieber Herr Rittmeister!
Sie wollen nie wieder empfindlich thun, wenn ich nicht länger mit Ant-
wort zögere? nun so will ich denn schreiben, aber antworten, wie Sie
es haben wollen, das heißt Ihnen eine Copie der Cantate Clarissa^ nebst
Bachs Meditationes darüber zuschreiben, das kann ich nicht. Geben Sie
mir 10 Comniissions, nur keine an Bach. Man läuft und läuft und trifft
ihn nie zu Hause, wenigstens heißt es so. Letzthin traf ich ihn bei H. Lessing
und brachte mein Gewerbe an, da sollte ich nun noch 14 Tage warten, so
wäre seine Passionsmusik fertig etc. etc. Nun so componirt denn Eure
Passionsmusik, Herr Kapellmeister; alles Vieh auf dem Felde und alle
S^ögel unter dem Himmel und ich wollen Euch nicht stören, bis die 14 Tage
um sind.
Für die Nachrichten, die Sie mir von Schönborn' gegeben haben, danke
ich Ihnen, vermuthlich hat diese neue Information ihn zu stolz gemacht,
einem niedrigen Zeitungsschreiber zu antworten, sonst hätte er auf ein
ihm mit der fahrenden Post zugeschicktes Briefchen wohl antworten können,
weil ich gerne wissen möchte, ob es angekommen sei.
Unsere Zeitung hat diesen Neujahr über 30 St. gewonnen, unser Adreß-
blatt von item*.
Wissen Sie nicht, wer die Lieder von dem Barden Ringulf
gemacht hat?^ Lessing sagte letzt, aus vielem wolle er Sie für den Ver-
fasser halten, aus vielem aber auch nicht. Grüßen Sie H. Klopstock von
meinentwegen, H. Lieutenant Rüdinger hat mir gesagt, daß er nun recht
gesund sei, er mag's im Sommer oder Herbst gewesen sein, ist er's aber
in diesem traurigen Wasserwinter, so mag er nur selbst seine Demission
als Großmeister nehmen; die hiesige Zunft, die seit Heiligendreikönig die
Todtenfarbe gesetzt hat, leidet keinen gesunden Großmeister über sich. Wir
sind hier aux abois, wüthig und rasend geht jeder vor sich, flieht den An-
blick der Wasserstellen und zerschlägt tief im Lande mit den Ruinen seiner
Schrittschuhe die Baumknospen und hervorkommenden Frühlingsblumen.
Lebt die Heseckern noch — das feinste unter den Mädchen, von Amors
Finger aus dem schönsten Rosenknöspchen Edens gebildet — und noch un-
entweihet vom brünstigen Ehemann? 0, mein lieber Rittmeister, Major,
1 H: ? E: Redlich S. 17.
2 'Clarissa Harlowe im Sarge', eine Kantate von Gerstenberg, ist un-
gedruckt geblieben.
3 Schönborn war 1768 in das Haus des älteren Bernstorff als Hofmeister
eines Vetters desselben eingetreten.
* Daß Gerstenbergs Rezensionen das Publikum auf den gelehrten Artikel
der 'Neuen Zeitung' aufmerksam gemacht und den Debit vermehrt hätten,
schreibt auch P. A. Leisching am 14. März 1769 und bietet für die Zukunft
als Honorar 10 Tal er monatlich für 7 bis 8 Rezensionen per Monat. (Anm.
Redlichs.)
5 Karl Friedrich Kretschmann (1738—1809).
Claudius und Gerstenberg 37
Oberst, General, — ich wollte dann — dann den traurigen Wasserwinter
vergessen. Sorgt doch, ihr Leute, daß kein Mehlthau der zarten Blume
schade und ihre Blätter in Unschuld abfallen in many a silent melancholy
slioioer.
15.1
Mein lieber H Rittmeister,
Sie können mir itzo einen Gefallen thun — so hängts zusammen.
Ein jüngerer Bruder d H Hermans unsers academischen Bekannten itzo
advocafens in Kiel, der in Ploen auf der Schule allerhand Jugend Sünden
beging übrigens aber sehr munter und fähig war, wurde von seinen Vor-
mündern unter die Dänen gegeben. Seine Capitulations-Jahre waren um,
und man versagte ihm seinen Abschied — er schrieb von Lübeck, wo er auf
Werbung lag, an seinen Chef, man sollte ihm seinen Abschied schicken
oder er würde descrtiren — und als der Abschied nicht erfolgte that er wa,s
er versprochen hatte, gieng zu den Preußen wo er beym General Major
V. Lossau zwar cngagirt aber weil er ihn sehr gut brauchen konnte nicht
als Soldat sondern als Schreiber gebraucht worden. Dieser junge Soldat
und Schreiber will itzo gerne in sein Vaterland zurück fürchtet sich aber
seiner Desertionswegen. Sein Bruder der advocat hat deswegen beym
General Kriegs Komißariat 30 rth für seinen Abschied geboten, aber von
diesem CoUegio, das vermuhtlich durch den Bericht des Regiments-C/iefs,
der in den Gedanken steht, der Junge Hermann sey im Dänischen, sich hat
\erleiten laßen, die Resolution erhalten. Her man solle beym Regiment sich
Histircn, so wolle man um seinen Abschied höheren Orts ansuchen. Der
Advocat hat das zweite Supplicatum gemacht, und das schicke ich Ihnen
hiebey angeschloßen mit Bitte es durchzulesen und zum Vortheil deßelben bei
Ihro Excellence v. Gähler, wenn Sie es übergeben, sich zu verwenden.
Leben Sie wohl
Hamburg d 10t März 1769. Clauditis.
16.2
Mein lieber Herr Rittmeister!
Ich danke Ihnen für die Nachricht wegen Herrmann — und will Ihnen
dafür einen Punkt in Ihrem letzten Brief an den Legationsrath ohne Com-
flimenten beantworten, weil der Legationsrath ihn nicht gerne selbst be-
antworten mag, nämlich den wegen der Zeitungen, gelehrten und politi-
schen. —
Zuerst also: die neue kaiserlich privilegirte Hamburgische Zeitung wird
Ihnen nach wie vor unentgeltlich geliefert werden. Die Hallischen ge-
lehrten etc. Zeitungen könnten Ihnen freilich wohl nützlich sein, und wir
gönnten sie Ihnen auch herzlich gerne, allein die Exemplare, die wir davon
haben, sind hier schon engagirt, und darin kann wenigstens für dieses
Quartal kein Aenderung gemacht werden, und das Comptoir vermag es
nicht, Ihnen ein Exemplar frei zu halten; von der dänischen Post bringen
wir fast nichts heraus, man bezahlt uns immer mit Gegenrechnungen;
1 H: 2 Seiten 4«. E: Redlich S. 18.
2 H: ? E: Redlich S. 18. — Herbst (3. Aufl., S. 78, Anm.) führt einen
Brief an Gerstenberg vom 19. März 1769 an, in welchem Claudius von
Klopstock dem 'Barditenmann' spricht.
38 Claudius und Gerstenberg
überall ist die erste Anlage beim Comptoir so groß und breit gemacht, daß
ein patriotischer Revisor, dergleichen Ew. Hochwohlgeb. gehorsamer Diener
ist, allenthalben einziehen muß, wenn die Sache bestehen soll. Wenn es
Ihnen also nicht möglich ist, diese mancherlei Zeitungen in Copenhagen in
Gesellschaft mitzuhalten, so müssen wir des Vortheils entbehren, den Sie
daraus in Ihren Eecensionen ziehen würden. Gegeben an unserm Pult,
kurz nach 12 Uhr Mittags d. 19. April.
L. S. Revisor der Hamburgischen Adreßcomptoirsrechnungen.
Wenn Sie meiner launigten — exhortatorischen — ora-
torischen — lächerlichen Briefe müde sind, so sagen Sie ein
Wort — ich kann Sie auch nicht schreiben.
17.1
Mein lieber H. Rittmeister, ich wage trotz Ihres langen Stillschweigens
noch einen Brief, und zwar in Angelegenheiten des H. Herrmanns. Sein
Bruder hat sich nämlich auf Ihre Enunciation beim Regiment eingefunden,
und es geht nun ein Supplicatum an das Commissariats-CoUegium ab, dariu
gebeten wird, ihm versprochenermaßen den Abschied für die 30 rth gnädigst
auszuwirken. Das also 11. Herrmanus wegen, und von meinetwegen noch
das hinzu, daß wir in Hamburg Sie lieb haben.
d. letzten Juni 1769. Claudius.
18.2
[Hamburg, Februar 1770.]
Also eins nach dem andern, wies in Ihrem Brief vorkömmt.
Prof. Schlegel wiße also, daß ich seinen Auftrag besorgt habe und daß
er die Rechnung pp mit der ersten Post erhalten wird, daß ich übrigens
nicht geantwortet, weil ich glaubte, ihm sey an meiner Antwort nichts
gelegen, wenn seine Comißion nur ausgerichtet wäre, wegen der gewißen
Foderung mag er selbst an H Leisch. schreiben. Bachs Musickal. Vielerley*
enthält gutes und mittelmäßiges durch einander. Sie sollen es gelegentlich
haben, es kommen Stücke für allerley Instrumente darin vor, von lauter
berühmten Meistern, die Bach mir auch nach der Reihe hergenannt hat,
aber ich habe sie wieder vergeßen.
Bach will die Clarißa componiren und vor sich drucken laßen, hier ist
der Text zum nochmaligen Durchsehen. Sie thun aber nicht übel, wenn
Sie bey jeder Versabtheilung den Affect und musikalischen Ausdruck, den Sie
verlangen, notiren.
Zum Hypochondristen* habe ich nichts, und bin dabenebst sehr faul
(piger). ich habe H Bode gesagt, was ich ihm sagen sollte, er erwartet aber
mit verlangen, und vermuthet in allem Ernst Manuscript zu den Briefen^
1 H: ? E: Redlieh S. 19.
2 H: 2 Seiten 4«. E: Redlich S. 19 f.
3 Erschien mit dem 5. Januar 1770 in wöchentlichen Lieferungen.
* Gerstenberg arbeitete damals den 'Hypochondristen' völlig um; in der
neuen Gestalt erschien er: Bremen und Schleswig 1771 in drei Teilen.
5 Gerstenbergs 'Briefe über Merkwürdigkeiten der Literatur' (Neudruck
von A. V. Weilen in den 'Deutschen Literaturdenkmälern des 18. und
19. Jahrhunderts Nr. 29. 30) ; der Fortsetzung erstes Stück erschien : Ham-
burg und Bremen 1770. Vgl. v. Weilen, Einleitung S. CXXV flf., S. 293 ff.
Claudius und Gerstenberg 39
und das hat er schon lange gethan, schicken Sie also bald etwas, damit Sie
ihn nicht betrügen.
Bachs kleine Ciavierstücke item 12 Format^ kommen gelegen tl. auch
mit —
H Sturtz's Gewißen soll geschont werden.
Das Alexanderfest^ ist noch nicht angekommen. Die beiden ersten Theile
von Yorick^ und was sonst neues herauskommen wird will Bode gelegent-
lich (N B gelegentlich, das ist, wenn einmal etwas Bücherwerk oder so
geschickt wird) [schicken.]
Gundlach will ichs schreiben. Lessing ist noch hier, nur noch 3 Wochen.
Bach versprach mir allerley nelpettoStückgen für die Fr. Kittmeisterin
und für Sie, aber, er hat sie mir noch nicht gegeben, sollte ers wider Ver-
muhten thun (denn ob ihm d H v. Gerstenherg wohl nicht gleichgültig ist,
so ist sein Naturell ein Stein, der nur durch außerordentl. Gewalt oder
Zufall in Bewegung gerahten kann), so werde ich sie den Augenblick ein-
packen und hinüber gehen heißen, die Fr. Rittmeisterin an einen ihrer
gehorsamsten — Sagen Sie doch was ich für ein Wort brauchen soll, Diener
sagt zu wenig und Anbeter zu viel, und Freund gar nichts — also an den
J.drejSco?ifoirnachrichtenschreiber in Hamburg zu erinnern, wie auch deu
H Rittmeister, der hiebey den Artikel von Broion'^ zu empfangen hat.
ich habe Bach Elopstocks Lied W i r und S i e gegeben, er wills in die
Unterhaltungen componiren'^.
Magister Schmidt lässt sich ein Kind nach dem andern gebähren. nach
einem Brief von einem ganzen Bogen, den er mir vor eingen Monahten
geschickt hat, zu rechnen, ist er noch zufrieden mit sich und seiner Frau,
ich soll Sie auch grüßen, übrigens regnet es hier alle Tage und wir
haben vom Burgermeister bis auf mich Husten und Rheumatismus
Claudius.
Ich francire diesen Brief nicht, nicht weil ich ihn nicht franciren will,
sondern weil ich ihn nicht franciren kann, ich will einen quartanten Liebes-
lieder ediren wen ich in zwey Tagen 1 ß gehabt habe, und wen ich dem
ohngeachtet nicht vergnügt bin —
grüßen Sie Klopstock.
1 'Zwölf zwei- und dreistimmige Stücke für die Flöte oder das Violin und
das Ciavier'. Hamburg 1770.
2 Händeis Komposition, die Gerstenberg wohl durch Claudius bestellt
hatte.
* Die 2. Auflage von Bodes Übersetzung der 'Sentimental journey' von
Lawrence Sterne, deren beide erste Bände im Sommer 1769 herausgekommen
waren.
* 'Browns Betrachtungen über die Poesie und Musik nach ihrem Ur-
sprünge, ihrer Vereinigung, Gewalt, Wachstum und Trennung, und Ver-
derbnis. Aus dem Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und zween An-
hängen begleitet, von J. J. Eschenburg' besprach Gerstenberg in Stück 117
und 123 der 'Neuen Zeitung' vom Jahre 1769. Vgl. Fischer S. 238 ff.
5 Klopstocks Ode 'Wir und Sie' erschien im 'Göttinger Musen-Almanach
auf das Jahr 1770' S. 17 aus den Wiener 'Schriften zum Vergnügen und
Unterricht' abgedruckt. Eine Komposition der Ode von Bach steht aber
nicht in den 'Unterhaltungen'.
40 Claudius und Gerstenberg
19.1
[Hamburg, Anfang März 1770.]
Hab ich's in meinem letzten Wisch gesagt oder noch nicht, daß Bach es
gerne sieht, wenn Sie ihm gelegentlich Kleinigkeiten für sein Musikalisches
Vielerley schicken wollen? Die kleine Cantate aus dem Schackspear wird
auch componirt werden, wann aber, das weiß ich nicht, und das weiß Bach
selbst nicht.
Was Sie von dem eignen Schnitt der Versode etc. sagen^, scheint Bach
wahr zu finden; ob er's auch wahr fände, wenn's ein anderer gesagt hätte,
das weiß ich nicht, und das weiß Bach selber nicht.
Die zwei Worte von dem Musikalischen Vielerley in der neuen Zeitung
habe i c h gesagt. Bach ist nicht sonderlich damit zufrieden gewesen, um
ihn zu trösten, habe ich ihm vorgelesen, was Sie dawider haben. Das
Musikalische Vielerley folget in Extenso hiebei.
H. Herder ist hier seit 8 Tagen, und reist heute von hier nach Kiel. Er
kommt aus Frankreich und Holland, und wird, wie man sagt, wieder auf
Reisen gehn. Sie können denken, wie ich gehorcht habe, wenn er von
Hamann erzählte, auch habe ich gehorcht, wenn er sonst etwas sprach. Er
ist sehr lebhaft; ich bringe überhaupt seit Monaten meine Zeit mit
Horchen zu, zum Sprechen habe ich nicht viele Lust, der leidige Amor hat
sein Werk in mir, zum Sprechen habe ich nicht viele Lust, und eben aus
diesem Grunde kann ich Ihnen auf Ihre freundliche Anfrage auf der letzten
Seite Ihres Briefs nichts antworten. Man sieht alle Dinge anders als vor-
her, wie Sie wissen — und er hat sein Werk in mir, und darum habe ich
nicht viele Lust zum Sprechen und darum leben Sie wohl.
Schicken Sie mir doch mit der ersten Post Klopstock seinen
deutschen Text zu Stdbat mater^. Ich bitte Sie darum.
20.*
[Hamburg, Frühjahr 1770.]
ich denke 1 oder 2 Bogen Wiegenlieder drucken zu lassen lucri caussa —
mag ich nun wohl ein Wiegenlied von Ihnen, das ich habe und das sich
anfängt 'Schlaf, aber schlafe nicht zu lange' pp mit hineinsetzen, es kommt
in eine nicht ganz schlechte Gesellschaft, ein Wort den ersten Festtag.
Schicken Sie doch bald Hendels Musick sie soll hier aufgeführt werden.
Bald mehr. Claudius.
[Adresse:] ä Monsieur Monsieur de Gerstenberg Capitaine ä Copen-
h ag ue p. C.
{
1 H: ? E: Redlich S. 20 f. T: Haym, Herder I, S. 361 [der letzte Ab-
satz des Briefes],
2 über 'den eignen Schnitt der Versode' hatte sich Gerstenberg geäußert
in dem Aufsatz: 'Schlechte Einrichtung des Italienischen Singgedichts.
Warum ahmen Deutsche sie nach?', erschienen in der Fortsetzung der 'Schles-
wigschen Literaturbriefe' (1770) S. 116 ff. (v. Weilens Neudruck S. 332 ff.);
dann in seinen 'Vermischten Schriften' III, S. 352 ff.
3 Die Übersetzung des Kirchengesanges 'Stabat mater' nahm Klopstock
selbst nicht in seine Werke auf; sie wurde zuerst gedruckt in Schmids
'Anthologie der Deutschen' II (1771), S. 293, dann in der Schubartschen und
in der Darmstädter Sammlung.
* H : 1 Seite quer 8 ". Rückseite mit Adresse.
Claudius und Gerstenberg 41
21.1
[Hamburg, September 1770.]
Hier sind zvvey Sonaten von Bach; es habe sie niemand, sagte er, als er
sie mir gab. Das AUegretto zur ersten habe ich nicht ausgeschrieben, weil
Sie es schon haben.
Auch sind hier zwey Arien zur Approbation oder zur Schmähung pp.
H. Schiörmg^, der Ihnen diese Kleinigkeiten mitbringt, ist vor 12
Wochen von Copenhagen nach Hamburg gekommen, Bachen zu hören, und
sich von ihm weisen zu laßen; Bach hat ihm auch nach vielem Flehen
wöchentlich zwey Stunden gegeben. Wenn Sie also ein Ohrenzeuge von
Bachs Spielart, besonders im adagio, werden wollen, so laßen Sie sich von
ihm vorspielen, aber urtheilen Sie nicht gleich vom ersten mal, er ist sehr
blöde, bohlt aber beym zweiten, dritten mal nach was er beim ersten ver-
sieht. Sie werden überdem finden, daß er einer von den guten Dänen ist,
und geneigt seyn, ihm zu helfen und fördern in allen Leibesnöhten ; ich
wünschte daß der Himmel ihn zu Sünchsen's adjunctus bestimmt hätte, bis
meine Capelle eingerichtet wird.
Von Altona weiß ich nichts, als was mir aus Copenhagen geschrieben
worden, ich habe das Project gepflanzt, Apollo wird ja begießen, ich danke
Ihnen für Ihre Briefe, mein lieber Rittmeister, leben Sie wohl, und nun —
— hier wird mein Antlitz heller
und himmlisch lächelnd wend' ich um
an die Frau Rittmeisterin.
Sie haben mich durch Ihren Brief in Verlegenheit gesetzt, denn Menschen
ist es nicht gegeben, Bachen zum componiren zu bewegen; er ist faul, und
verdient eben so wenig als ich einen Brief von Ihnen, ich habe ihm schon
vor einem halben Jahr Cramers Nachahmungen der Psalmen pp gegeben,
er wollte Melodien dazu machen, gestern schickt er sie mir wieder und hat
keine dazu gemacht*, ich hoffe indeß, daß ich nächstens einige gute Sing-
sachen werde schicken können, und bis dahin empfhele ich die Jagd von
Hillern*, und besonders ein alla Pollaca im ersten Act. Herr Schiöring hat
sie, so wie Hiller sie fürs Ciavier herausgegeben hat, 'und wenn Sie die
Partitur haben wollten, so würde es mir vieleicht nicht unmöglich seyn,
sie habhaft zu werden. Der AdreßcomtoirnachrichtenSchreiber in Hamburg
ergreift mit Freuden eine jede Gelegenheit, bey welcher er zeigen kann, wie
sehr er Sie achte, und der Gott des Klanges und des Gesanges breite seinen
Fittig über Sie und über den Rittmeister.
Claudius.
22.5
Mein lieber Rittmstr.
ist nicht ein gewisser Schiöring, ein Saitenspieier bey Ihnen gewesen?
hat er Ihnen nicht von meinetwegen Brief und Noten gebracht? er hat
1 H: 2 Seiten 4». E: Redlich S. 21 f.
2 Niels Schiörning, Herausgeber eines dänischen allgemeinen Gesang-
buches, war Kammermusikus in Kopenhagen.
* Bachs Komposition der Cramerschen Psalmen erschien erst: Hamburg
1774.
* Komische Oper in drei Akten mit Text von C. F. Weiße (Leipzig 1770),
Musik von Adam Hiller.
5 H : 1 Seite 4 ". Auf der vierten Seite die Adresse. E : Redlich S. 22.
42 Claudius und Gerstenberg
mir nicht einmal geschrieben und ich habe ihm nichts zu leid gethan, ich
bin böse auf ihn.
Klopstock hab ich gesprochen, er wird den Winter in Hamburg zu-
bringen, der holdseelige Großmeister, der. ich wohne itzo hinter Petri
Kirche in der Probstey bey H F ahlius und freue mich aufs
Eis wie Jonas auf den Kürbisschatten.
Einige Zeither habe ich nichts gethan als Arien von Guglielmi, Piccinl,
Potenza, Swanenherg pp gehört und gespielt, weicher und wollüstiger kann
wohl keine Musick seyn, die Arien sind fürtreflich in ihrer Art aber man
verwöhnt sich, und die andern Componisten die nicht so heißen wollen
nicht darauf schmecken.
Auf Neujahr legt Bode eine Zeitung in WanslecJc an^ und ich werde sie
schreiben helfen, ich wollte gerne daß der gelehrte Artickel zwar nicht
grade beßer wäre als in vielen andern Zeitungen, aber etwas eignes muß
er haben, und nicht so wie die andern seyn, geben Sie mir Ihre Gedanken
über die Einrichtung doch auch mit zum besten, ich sammle itzo Stimmen
deswegen.
Hamburg d 28 Octbr 1770. Claudius.
[Adresse:] ä Monsieur Monsieur de Gerstenberg Capitaine de Cavallerie
ä C openhague Franco.
23.2
— a horse! a other horse! bind up my Wounds — have mercy Jesu —
Denn mein itziges Pferd kann uns nicht beide tragen, und sie muß
mit mir —
ich habe mir die unnöhtige Mühe gemacht, ein unbedeutendes Bauer-
mädchen lieb zu gewinnen, und ich habe es mit ehrlichem Blut und Hirn
beschloßen, sie zur Männin zu machen, wenn mir irgendwo auf dem
Lande eine kleine Amtverwalter pp Stelle werden könnte, im Dänischen
oder Deutschen, gleich gut. ich weiß nicht, mein lieber Rittmeister, ob
Sie itzo etwas dazu beytragen können, oder mein ehemaliger Graf^ hoch-
gebohren. ich hätte Oncle Lorck* gebeten mit dem Grafen zu sprechen,
aber er thut Ihnen eher etwas als Lorck, den er ist gar ein großer Freund
und Beschützer der Gelehrten Leut. Ehlers seine Stelle in Oldenburg ist
offen", ich weiß fast keine einzige Regel mehr aus der Grammatick, und bin
in dem Betracht gar nicht geschickt zum Rector, habe auch eben nicht große
Lust in Oldenburg zu seyn, aber wen Sie's meinen, wollte ichs doch werden,
oder was Sie sonst meinen. Sie antworten mir bald, eine vorläufige Mei-
nung, ob ich gleich so unverschämt lange nicht geantwortet habe, es haben
ja schon die alten Dichter gesagt, daß die animac coelestes nicht Rache
üben. Gott grüße Sie und die Frau Rittmeisterin.
Ihr Claudius.
bey Bode am Holzdam in Hamburg, d 3 Sept 1771.
I
1 'Der Wandsbecker Bothe', 1771 — 1775 erschienen.
2 H: 1 Seite 40. E: Redlich S. 23.
' Graf Holstein, bei dem Claudius Ostern 1764 — 65 in Kopenhagen Sekre-
tär gewesen war.
* Der Bruder von Claudius' Mutter, Josias Lorck (1723—85), Pastor zu
Kopenhagen und berühmter Bibelsammler.
5 Ehlers übernahm 1771 die Leitung des Altonaer Gymnasiums.
Claudius und Gerstenberg 43
24.1
[Wandsbek, Herbst 1771.]
Aber, das sage ich vorher, beschneiden kann ich den Brief nicht, und
kein Couvert darum machen, meine Scheere ist seit 3 Tagen fort, und ich
kann sie nicht wiederfinden.
'Warum haben Sie in aller Welt das Secretariat beym Lotto nicht an-
genommen ? '
Darum, weil es mir nicht angeboten worden. In Copenhagen Hamburg
und Altoua habens die Leute gewusst, daß ich eine sehr gute Stelle beym
Lotto in Copenhagen haben sollte, nur ich I^eut in Wandsheck weiß kein
Wort davon. Am Ende nähme ich eine Stelle in Copenhagen an, aber lieber
eine auf dem Lande, und denken und sinnen Sie herum, mein lieber Oerstcn-
herg, haben muß ich bald etwas oder ich thue mir ein Leid, wie der Nacht-
wächter bey Hendel und Rolle. An meinen Oncle Lorck habe ich lange schon
geschrieben, ich denke er muß H Stemann nicht gerne zu Leibe wollen, sonst
hätt ers ja wohl gethan, ich kann den Brey nicht gar ins Maul schieben,
er mag auch wohl nichts thun können, den er ist ein guter 07icle und hasyt
mich nicht, aber ich muß bald etwas haben, oder ich thue mir ein Leid, und
das wäre doch Schade um mich. Gott gebe Ihnen und der Frau Rittmeisterin
viel Freude. Ihr
Claudius.
[Adresse:] d Monsieur Monsieur de Gerstenberg Capitaine ä Copen-
h ag ue Franco.
25.2
[Wandsbek, Winter 1772.]
Mein lieber Rittmeister,
denn Sie mögen werden oder geworden seyn was Sie wollen, so werden
Sie doch für mich nicht mehr und nicht weniger, als Sie als Rittmeister
gewesen sind, ich wolte Ihnen schon mit Herrn Schiöring schreiben, aber
mein Bauermädchen gebahr grade, 2 Monaht zu früh, einen kleinen lieben
Bauerjungen^ der nur so lange lebte, daß er einmal recht herzlich zum Mond
aufweinen konnte, und das hinderte mich daran.
Das erste was ich Ihnen zu sagen habe ist, daß, ob ich gleich in Jahres-
frist nicht geschrieben habe, es doch so anzusehen sey, als ob ich immer
ordentlich alle 14 Tage geschrieben hätte. Es ist auch mißlich an einen
gelehrten zu schreiben, ich habe da eben 2 Theile von Briefen, die an Klotz
geschrieben sind*, und ich werde kalt und warm dabey. So viel Schande ist
dabey für die Briefsteller, die zum Theil beckannte berühmte Gelehrte sind,
und hier fast alle als elende Schmeichler auftreten. Ein gewißer Preußi-
scher Lieutenant von Hagen hat sie herausgegeben, der gar kein Gefühl
von der Heiligkeit des Freaind- Vertrauens haben oder in großer Hungers-
Noht seyn muß.
Das zweite also ist, daß Sie diesen und alle meine Briefe verbrennen,
wer weiß welchen Lieutenant Ihr Briefpult in die Hände fallen könnte.
1 H: 1 Seite 4". Auf der vierten Seite die Adresse.
2 H: 1 Seite 4».
3 Der Erstgeborene starb am 30. September 1772.
* 'Briefe deutscher Gelehrten an den Herrn Geheimen Rath Klotzen.
Halle 1772 — 73', von Claudius in dem obgedachten Sinn angezeigt im
'Wandsbecker Bothen' (1772) Nr. 180 und 181 (10. und 11. November).
44 Claudius und Gerstenberg
Das dritte ist mein ungefärbter Wunsch, daß es Ihnen und der Frau
Rittmeisterin wohl gehe, und den iungen Dichtern, die, wie ich höre, einer
nach den andern um sie aufschießen.
ich schickte Ihnen gerne die Charfreitags Musick mit, aber ich habe sie
noch nicht. Damit Sie aber sehen, was Sie zu gewarten haben, lege ich Ihnen
ein Stück aus unserm Wandsbecker Bohten bey.
ich lebe sehr vergnügt und glücklich, und wenn ich jährl ein hundert
Thaler mehr hätte, würde ich mich nach nichts umsehen. So ist freilich
ungusta res domi, aber das schärft das Ingenium. Noch eins mein lieber
Rittmeister. Bode klagt manchmal, daß Sie ihm nichts zu den Litteratur-
Briefen schicken. Er sagt, er habe deswegen, durch den Handel mit dem
Buchhändler in Sleswig und sonst, ansehnl. Ausgaben gehabt, und die wärea
rein verlohren, wenn Sie nicht fortsetzten. Bode kann nicht viel verliehren,
und ich bitte Sie, denken Sie darauf, wie er auf eine oder die andre Art
geholfen wird. Emphelen Sie mich der Frau Rittmeisterin bestens, auch
Preislern*- et cet. Ihr Claudius.
26.2
Wandsheck d 8 Aprill [1774]. morgends 1/26 Uhr.
ich thue Ihnen melden, daß mein Bauermädchen vor circa 8 Wochen ein
klein Kind weiblichen Geschlechts gebohren hat^, das nun vor mir in der
Wiege liegt, und Brust haben will, 's muß aber warten, denn mein Bauer-
mädchen schläft noch, und mag sie nicht wecken.
weiter thu ich melden, daß ich recht wohl auf bin, und gerne vernehmen
möchte, Sie und die Frau Rittmeisterin wärens auch.
drittens, und welches die Hauptsache und der eigentliche Inhalt des
Briefs ist, thu ich melden, daß der alte Pastor Würger in Ottensen ge-
storben ist, und daß der iunge H Pastor Würger die Stelle gerne wieder
haben sollte, der Resident in Altana, der Consistorialraht Ahlemann et cet.
et cet. wollen sie ihm auch gerne in Händen spielen, ich habe aber gedacht,
daß eins zu viel beßer sey als eins zu wenig, und schreibe Ihnen, ob Sie
vieleicht dabey helfen und fördern könnten, und lege eine gehorsahmste
Vorstellung deswegen bey, die Sie etwa meinem Oncle Lorck, wenn der
sollte helfen und fördern können und jedem andern der das kann, vorlesen
sollen.
Würger hat würcklich viel Recht zu der Stelle seines Vaters, denn er
war, wie Sie wißen, Rector in Tönningen, und bat um die Stelle, die er
itzo hat, und die er schon vorher hätte haben können und nicht wollte,
wenn ihm dabey die Expectanz auf den Ottensen-Dienst gegeben würde.
Man gab ihm die Stelle und ließ sich auf die Expectanz nicht ein, und er
1
1 Zeichner und Kupferstecher in Kopenhagen.
2 H: 1 Seite 4«. — Ein Brief vom 2. Februar 1773 (2V2 Seiten 4«) im
Verzeichnis von Meyer Cohns Autographen-Sammluug (Berlin 1905) I, S. 95,
Nr. 1003; ein Brief vom 11. März 1774 im Katalog von Liepmannssohns
XXII. Autographen-Versteigerung (1898), Nr. 370.
' Die älteste Tochter Karoline, geboren am 7. Februar 1774, später ver-
heiratet mit dem Hamburger Buchhändler Friedrich Perthes. Vgl. Gl. Th.
Perthes, 'Friedrich Perthes' Leben nach dessen schriftlichen und münd-
lichen Mitteilungen'. Drei Teile. 6. Auflage. Gotha 1872.
Claudius und Gerstenborg 45
war so blöde und bescheiden und nahm sie an, da er sich dadurch nicht
verbeßerte, und recht sauer hat.
leben Sie wohl mein lieber Gerstenierg, wir grüßen Sie und die Fr. Ritt-
meisterin herzlich, und wünschen sie oft her. Claudius.
[Am linken Rande:]
Schicken Sie mir doch gelegentlich Beyträge zum Bothen, und seyn
Sie doch nicht härter als ein Stein. Ihnen muß doch oft was einfallen.
27.1
[Wandsbek, November 1774.]
Mein lieber Herr Rittmeister,
Sie haben vieleicht, wenn Sie Zeitungen lesen, gemerkt, daß ich eine
Sammlung von meinen Schuurpfeiffereyeu^ zu Ostern herausgeben will, ich
habe in der Ankündigung' wenigstens 1 schönes Kupfer versprochen; da
bitte ich Sie nun, ob Sie nicht mit dem alten Freund Preisler sprechen
wollten, ich muß haben: ein Kupfer in klein Octav darauf der Todt mit
einer Sense steht*, und weiter ein Paar Kleinigkeiten, wenn eine Seite
halb leedig bleibt, kann Preissler mir die zu Ostern machen, und will er
sie machen, und was will er dafür haben? Denn, versteht sich,
ich will sie bezahlen.
Wegen der Pachtung eines Kammerguts ist es ja so gar stille, Sie
vergeßen es doch nicht wieder? Mein Bruder, dem ich davon gesagt habe,
fragt mich und fragt mich, und ich weiß nicht was ich ihm antworten soll.
Bach grüsst Sie vielmahl. Er schickt itzo 12 sehr schwere Sonaten zum
Druck nach England. Er hat auch 6 Kammer Symphonien gemacht, die
für eine seiner besten Arbeiten gelten können.
Wenn Sie mir bald antworten will ich Ihnen auch einen recht langen
Brief voll allerhand Neuigkeiten und Anecdoten schreiben, ich frankire
diesen Brief nicht, weil mein Bote ihn so sicherer bestellt, frankiren Sie
auch nicht.
Wir emphelen uns der Frau Rittmeisterin auf das allerbeste.
Claudius etc.
28.»
Wandsieck, d 8ten Julius. 1775.
Willkommen also in Lübeck.* ich dachte Sie kämen gar nicht, weil Sie
seit Monaht Märtz kommen wollten, und kein Mensch wußte warum Sie
nicht kamen. Nun Sie denn aber endlich doch da sind, willkommen noch
einmahl, und es ist uns lieb daß Frau Thetis nun keine Gewalt mehr über
Sie hat
1 H: 1 Seite 4o.
2 'Asmus omnia sua secum portans oder Sämtliche Werke des Wandsbecker
Boten'. Von 1775 — 1812 erschienen acht Teile in sieben Bänden (Teil I/II
im ersten Band).
* In verschiedenen Hamburger Zeitungen sowie im 'Wandsbecker Bothen'
Nr. 179 abgedruckt, datiert vom 8. November 1774; auch dem ersten Bande
des 'Asmus' vorgesetzt.
* Vgl. das Titelbild des ersten Bandes von 'Asmus'.
5 H: 3 Seiten 8«.
8 Gerstenberg war dänischer Resident und Konsul in Lübeck geworden.
46 Claudius und Gerstenberg
In 14 Tagen denken ich und mein Bauermädchen persöhnlich dem Herrn
Residenten und der Frau Residentin die Aufwartung zu machen und ein
24 Stunden gut von ihnen zu haben et cet. —
H Stade sagt mir von 25 Ex. des H 8. T. Asmus die H Zinn in
Copenhagen haben wolle; er sagt zugleich: Sie meinten, ich wüsste schon
deswegen Bescheid, ich weiß aber keinen Bescheid und habe von Ihnen in
3 Monahten keinen Brief gesehen. Die Frage ist also: will H Zinn noch
25 Ex. haben, oder ist dies Gerede etwa von den Exemplaren zu ver-
stehen, die ich schon vor circa 8 Wochen an den jungen Preisler geschickt
habe?
ich habe auch gehört, Herr Agent Meinig in Copenhagen habe Suhscri-
henten colligirt und wundre sich, daß ich ihm keine Exemplare schicke, da
er mir doch deswegen einen Brief geschrieben hätte, ich habe keinen Brief
von H Agent Meinig erhalten u. s. w. wißen [Sie] da etwas davon? ich
könnte ihm sonst noch mit Ex. dienen.
Sie wißen doch, daß ein gewißer Herr Fleurke aus Danzig mir mein
Buch nachgedruckt hat?i- der Esel hätte es lieber nicht thun sollen.
Wenn Sie mir etwas Nachricht auf ohexplicirtes geben können; so bitte
ich, daß Sie es den ersten Tag thun.
Wir empfhelen uns dem Herrn und der Frau im Hause auf das aller-
beste. Claudius.
ich bin zwar noch in WandshecJc, aber meine adreße ist doch
.zu H. Herrmanns Apo- ä
thecke auf dem Speers- E amhur g
orth.
29.2
Wandsleck d 21 Aug. 1775.
Der Amtsverwalter oder Hebungsbediente in Reinfeldt, der Kammerraht
Friederichs, ist gestern gestorben, und meine Mutter will mich gerne dort
bey sich als Amtsverwalter haben, ich habe also darauf angelegt: können
Sie, durch Gramer, Tränte oder sonst jemand, etwas fördern, so laßen
Sie's nicht pp.
ich und mein Bauermädchen, das von meinem Freund v. Gerstenberg und
seiner Frau und ihrer Freundschaft, ungeachtet der vorläufigen Rodo-
montade ihres Mannes, ganz überrascht worden ist, denken sehr viel, und
sind sehr unzufrieden, daß kein Wagen von Lübeck in Wandsleck ankommt.
WoUens uns desto öfter in Reinfeldt ausbitten. Wir grüßen die Frau
Residentin und den Herrn Residenten nicht wenig, Herr Voß'' grüsst auch
und er möchte Ihren Nahmen im Musenallmanach haben, wärs auch nur mit
2 Zeilen aber binnen 14 Tagen. Claudius.
1 Der Titel dieses sonst schwer vom Original unterscheidbaren Nach-
drucks hat als Verlagsbezeichnung : Hamburg und Wandsbeck
17 7 5, während es bei der echten Ausgabe heißt : Hamburg, gedruckt
bey Bode 177 5.
2 H: 1 Seite 8 <>.
» Johann Heinrich Voß war nach Wandsbek übergesiedelt und gab seit
Ende des Jahres 1775 seinen Musen-Almanach als Konkurrenzunternehmen zu
dem Göttinger Musen-Almanach dort heraus. Vgl. H. Grantzow, 'Geschichte
des Göttinger und des Vossischen Musen-Almanachs'. ('Berliner Beiträge
zur Germanischen und Romanischen Philologie' XXXV. Germanische Ab-
teilung Nr. 22.) Berlin 1909.
Claudius und Gerstenberg 47
30.1
Wandsheck, d 13 Nhr. 1775.
thue dem Herr Kesident und der Frau Residentin zu wißen, daß mein
Bauermädchen mir diesen Morgen um 10 Uhr ein Fräulein gebohren hat",
und daß sie sich samt dem Fräulein, gott sey tausendmahl Dank, recht wohl
befindet. Juchhey I
Folget hiebey die Liste, der Musiquen welche diesen Winter, in H Mr
Ebelings Concert in Hamburg aufgeführt werden:
Romulo ed Ersilia, von Hasse.
Der Meßias von Händel.
Te deum von dito.
Armida von Salieri.
Orphee et Euridice von Gluck.
Die Israeliten von P. E. Bach.
Miserere von Hasse.
Requiem von Gemelli pp.
Wenn Sie eins von diesen Stücken zu hören geneigt seyn sollten, so sagen
Sie welches oder wie viele, so will ich Ihnen 8 Tage vorher schreiben den
Tag der Aufführung, das Requiem von Gomelli wird im ersten Concert am
künftigen Sonntag gemacht. Es ist ganz vortreflich.
Voß ist nur bis Kiel geckommen und hat Briefe vom Ädreßcomtoir er-
halten, daß er nicht schnell genug des Musenalmanachs halben nach Ham-
burg zurückkommen könne. Er ist also den kürzesten Weg gangen. So
bald der erste Schnee den abscheulichen Steindamm etwas ebner wird ge-
macht haben wird H Voß seine Aufwartung in Lübeck machen. Die Briefe
an ihn bitte ich an mich p posto zurück zu schicken. H Voß und wir alle
emphelen uns Ihnen und der Frau Rittmeisterin aufs Beste.
Claudius.
31.3
Wandsheck, d 29 Nvhr. 1775.
Wenn Sie diesen Brief erhalten und gelesen haben wird es nicht lange
dauern, so wird ein Mann kommen und Ihnen einen Brief und ein klein
Päckel bringen, darin ein Glaß Englischer Mustard ist. ich wollte das
Päckel eben auf die Post tragen, da kam der Mann, der den Englischen
Mustard macht und ein Engländer und mein guter Freund ist, selbst und
will mit einer quantität Mustard und Schuschvvarz auf gut Glück nach
Lübeck reisen. Für sich sollen Sie ihm keinen Mustard abkaufen, denn
bey mir stehen noch 3 Gläßer die ich für Sie geckauft habe und die Eaton
Ihnen mitbringen soll; aber wenn Sie Beckannte und Freunde haben die
Mustard mögen, So weisen Sie Master Edward an sie. Sein Senf ist gut,
und er ist es wehrt daß er viel absetze, ich kann Ihnen von Master
Edward erzählen wenn ich nach Lübeck oder Sie nach Wandsheck kommen.
Gott befohlen. In großer Eile wie man zu sagen pflegt. — Cl.
1 H: 2 Seiten 8».
" Die zweite Tochter Christiane, gestorben bereits am 2. Juli 1796. Auf
den Tod dieser seiner Lieblingstochter dichtete Claudius das zarte, tief-
empfundene Lied: 'Es stand ein Sternlein am Himmel', das Achim v. Arnim
und Clemens Brentano in 'Des Knaben Wunderhorn' aufnahmen.
3 H: 1 Seit« 80.
48 Claudius und Gerstenberg
32.1
Reinfeldt d 9 Fehr. 76.
Hochwohlgebohrner
Gnädiger Herr
ich habe eine Kutsche geckauft — und in der Kutsche fahre ich itzo
durchs Land, und ich bin zur Stunde in Reinfeldt, Meister Voss, der Bänkel-
sänger, ist auch mit in der Kutsche geckommen.
Es könnte seyn, daß wir samt u. sonders am Montag nach Lübeck
kämen, blauen Montag zu machen, als nämlich ich, mein Bauermädchen, der
Bänkelsänger und unser Kind.
Sollten Briefe an uns bey Ihnen ankörnen so legen Sie wohl das Porto
bis weiter aus. Wünschen guten Empfang.
Claudius.
[Am linken Rande:] Her Pastor Nodt^ grüßt, er kömmt auch, wenn
Sies nicht allen abschreiben.
33.3
[Wandsbek, Anfang 1778.]
Era Erai Ero Eri Etai (ich supponire daß Sie schon etwas Otuhitisch
verstehen, und also nur immerzu.) Aiiu Ateatea Ainee Enua-Taiti Emoe,
Etio Eo (ist wahrhaftig rein otahitisch vide Historischer Bericht pp von
den p Reisen um die Welt 4ter Band.; nur in Ansehung des letzten Wort
Eo muß ich hinzufügen, daß es hier nicht in seiner eigentlichen Bedeutung:
'schwitzen' sondern der metaphorischen *e ß e n' stehe, weil die Leute
in Otahite allezeit beym Eßen schwitzen sollen. Eo steht hier also für
gnaa.*
1 H: 1 Seite 8».
2 Pastor in Reinfeld.
* H: 1 Seite 8". Auf der Rückseite die Adresse.
* Cook und Joliann Reinhold Forster (dessen Reisebericht oben gemeint
ist) hatten von der erst 1606 entdeckten interessanten Insel Otaheiti (Ta-
hiti) genauere Kunde heimgebracht, und man war allgemein von Begeiste-
rung für dieses Paradies erfüllt; der Traum, in den Naturzustand zurück-
kehren zu können, schien nun erfüllt. Besonders in dem Freundeskreise
um Claudius und Gerstenberg schien man lange ernstlich darauf zu denken,
dorthin auszuwandern und eine Kolonie zu gründen, 'die falsche Europäische
Welt zu verlassen und den glücklichen Gefilden eines zweyten Paradieses
entgegen zu eilen'. So schrieb der Lübecker Liederdichter Overbeck am
11. November 1777 an Sprickmann in Münster, um auch ihn für die Idee
zu werben. Zu Teilnehmern an der phantastischen Exkursion waren
ausersehen Voß, Claudius, Hahn, Miller, Fritz v. Stolberg, Schönborn,
Gerstenberg, Mumsen, Esmarch, Brückner, Klopstock, Sprickmann, Krebs,
Buchholtz, Schücking und Groeninger (die letzten fünf in Münster).
Forster sollte bei der englischen Regierung vermitteln und als Leiter
der Expedition dienen. In einem zweiten Briefe vom 30. Januar 1778
berichtete Overbeck weiter, daß Claudius und Voß entschlossen seien, mit-
zumachen; 'mit ersteren stehe ich sogar in einer Art von Otahitischeni
Briefwechsel . . . Nächstens erwarten wir Claudius, da soll noch mehr
verhandelt werden; denn er kömmt expreß darum her.' (Nach den Ori-
ginalen im Besitz von Amtsgerichtsrat B. Sprinckmann-Kerkering zu Waren-
dorf, für deren Mitteilung ich auch hier zu danken habe.) Doch scheint
sich das Projekt, wie natürlich, im Sande verlaufen zu haben, denn in den
Claudius und Gerstenberg 49
ich bin schon lange willens gewesen eine Fahrt nach Reinfeldt und
Lüheck zu machen; der zweite Theil des Sethos^ hat mich aber bisher
zurückgehalten. Der wird nun aber in 14 Tagen fertig, und denn bin ich
für nichts Bürge, mein Lieber.
Unsern Herzlichen Gruß an die Frau Rittmeisterin, und der liebe Gott
erhalte Ihnen Ihre Kinder alle frisch und frölich. M. C.
[Am oberen Rande:] Sooree Sao-lodo Monecopai Overieck.^
[Adresse:] Herrn v. Gerstenherg noch in Lübeck.
34.3
Wandsbeck d 18 July 1778.
Ihre Noten, mein lieber Herr Resident, sind schon lange 'parat gewesen,
es hat aber an einer Gelegenheit nach Lübeck gefehlt. Heute gehen hier
3 Schweizer nach Lübeck durch, und die Noten kommen mit als näml.
6 Concerte von Schröter, gestochen, und 3 Sonaten und 6 Sonatinen von
Eichner, geschrieben. Was die Concerte kosten steht dünkt mich dar-
auf geschrieben, und von dem andern kostet der Bogen 4 ß. ich wünsche
daß Ihnen alles gefallen möge.
Frau Rebecca grüsst Sie und Frau Residentin gar freundlich und bedankt
sich noch vielmahl für die gute Aufnahme in Lübeck.
Wir sind gottlob alle gesund, und erwarten, ob und wann Sie Ernst zu
folgenden Briefen, weder Overbecks noch Claudius', ist mehr davon die
Rede. (Vgl.' W. Herbst, 'J. H. Voß' 1, S. 199 ff., 306 ff.) Auch sonst nahmen
deutsche Schriftsteller und Dichter lebhaften Anteil an der Insel. Wieland
schwärmte dem guten Vater Gleim bereits am 4. Mai 1772 vor von 'den
guten Einwohnern der Insel Taiti, von denen uns der Ritter Bongainville
ein so anziehendes Gemälde macht' (Ausgewählte Briefe III, S. 120), und
noch 1794, als er mit Matthisson über seine Jugendliebschaften sich unter-
hielt, i^annte er ein Mädchen 'eine Otaheitin, in Biberach' (Stuttg. lit. Ver.
261, S. 329). Zachariä dichtete eine kleine Erzählung in Jamben: 'Tayti
oder die glückliche Insel' (Braunschweig 1777) ; der frechspottende 'Alma-
nach der Bellettristen und Bellettristinnen auf das Jahr 1782' von Schulz
und Erbstein trug 'otaheitische' Verleger- und Erscheinungsortsnamen;
1782 erschien eine anonyme Satire '0-Wahaus des 0-Tahiten Reise durch
Athen. Aus dem 0-Tahitischen übersetzt'; 1792 begrüßte Gleim Ota-
heiti als die Heimat der Göttin Freiheit; in der Zeitschrift 'Irene' 1801,
S. 433 steht eine 'Otaheitische Scene' von G. A. v. Halem, und noch am
5. April 1808 schrieb der nüchterne Heinrich Voß aus Heidelberg an Char-
lotte V. Schiller: 'Die otaheitische Unschuld, die in den Jahren 80 so ge-
priesen ward, liebe ich so wenig, wie die in den Geßner'schen Hirten-
idyllen, denn wer möchte die Unschuld durch solche Beschränktheit er-
kaufen.' (Urlichs, Charlotte von Schiller und ihre Freunde III, S. 240.)
Über die Fortwirkung dieser Schwärmerei bis ins 19. Jahrhundert zu
Alexander v. Humboldt, Jean Paul ('Titan'), Mörike ('Land Orplid'), Tieck
und Gutzkow ('Wally') vgl. die Zusammenstellung von Harry Maync in der
Internationalen Monatsschrift 1912, Nr. 8, Sp. 992/94. Einen Roman 'Tahiti'
voll sentimentaler Schilderungen verfaßte 1857 Gerstäcker, und noch J. V.
Widmann plante eine Idylle, die Georg Forster unter den Otaheiti -Mädchen
in glückseliger Ruhe darstellen sollte (J. Fränkel: Biogr. Jahrb. XVII, S. 261).
1 Der zweite Teil der 'Geschichte des ägyptischen Königs Sethos' (aus
dem Französischen des Abb6 Terrasson übersetzt) erschien: Breslau 1778.
2 Zusatz von Overbeck. s H : 2 Seiten 8 •>.
Archiv f. n. Sprachen. Sonderheft. 4
50 Claudius und Gerstenberg
Ihror Reise nach Hamburg thun werden. Klopstock ist itzo nach. Kiel, Eck-
hoff, Leutmarcln und komt in etwa 3 Wochen wieder. Denn kommt doch,
ich grüße H Overbeck und Ihre [Ihren?] andern FioZwspieler.
Matthias Claudius.
85.2
Wandsbeck d 19 Octbr. 1778.
Großen Dank noch für Ihre gute Manier Gäste bey sich zu handhaben.
Zu Wessenherg sind Sie bekanntlich nicht gewesen, wir auch nicht, aber
n ur weil wir hörten daß Sie nicht geckommen wären.
Die verabredete Untersuchung ist mit allem Fleiß vorgenommen worden
und es hat sich daraus ergeben, daß der Thurm quaestionis auf der Kirche
von Sansnehen stehe, welches ich gehorsahmst einzuberichten nicht ermangle,
und zu verfechten auf mich nehme.
Vorigen Sontag habe ich das Heilig pp von Bach in der St. Cathrinen
Kirche gehört. Es ist ganz vortreflich. Künftigen Sonntag wird es
in der St. Michaelis Kirche aufgeführt und die Chöre der Engel und der
Völker werden an verschiedene Oerter placirt werden, ich schreibe Ihnen
dieses, wenn Sie etwa herkommen wollten, gereuen wird es Sie nicht.
ich und Frau Rebecca grüßen Sie und die Frau Residentin, und die
Kinder samt und sonders. Wir sind gottlob gesund.
Matthias Claudius.
36.3
Wandsbeck d 9t Novbr 1780.
Hier die recepten wieder zurück; das Pulver hohl der Henker, es hat
uns Brechen gemacht, daß uns Hören und Sehn vergangen ist, aber darum
nicht weniger Dank für gehabte Mühe und den guten Willen.
Der Älmanach ist nicht mehr bey Vircheaux* zu haben; er kann aber ver-
schrieben werden wenn Sias verlangen, auch über die Sept Epoches de la
nature bittet er um Erläuterung w o Sie es angezeigt gefunden haben. Er
kennt bloß ein Supplement zu der allgemeinen Naturgeschichte, Sur les
Epoches de la Naturen, das aber vermuhtlich nicht das ist, was Sie meinen.
Heute geht die Partitur des Alexander festes an Sie ab. ich konnte sie
nirgend auftreiben als bey H M^estphal, der sie Ihnen zur Durchsicht nebst
noch einigen andern Musicalien für H Doctor Buchholz überschickt auf die Be-
dingung, daß Sie, wenn sie gefodert werden sollte, sie flugs wieder anhero
übermachen, weil er nur die Eine Copie vom Alexanderfest näml. hat. Frau
Rebecca grüsst freundlich, so freundlich sie mit der geschwollenen Backe
kann, sie hat diese Tage wieder im Zahn, Kinbacken und Ohr viel viel
ausgehalten.
Die vorgeschlagene Reise nach Lübeck oehagt uns nicht übel, und wir
sinnen darauf, wie die Sache vor sich gehen soll.
Nun viel Grüße und leben Sie wohl. M. C.
1 Eckhof, Gut des Grafen Holck, und Loitmark, Gut der Familie Stol-
berg; vgl. über einen Besuch Klopstocks dort im Jahre 1777 Muncker,
'F. G. Klopstock' S. 475.
2 H: 2 Seiten 8«. 3 H: 2 Seiten 8". * Buchhändler in Hamburg.
ß Von dem französischen Naturforscher Buffon, von Goethe geschätzt
('Goethe- Jahrbuch' VI, S. 30 f.).
Claudius und Gerstenberg 51
was sagen Sie zu den neuen Häslerschen Sonatent ich finde sie treflich.
Voß ist zum Rector in Hannover erwählt, und ist hingegangen die Um-
stände zu beäugen. 1
37.«
Wandsleck d 21sten Xhr. 1780.
Vielen Dank für die gute Bewirthung. Wenn wir Sie in Verlegenheit
gesetzt haben; so sind wir unschuldig, denn Sie hatten uns selbst vor mehr
als 4 Wochen nachdrücklich eingeladen, und Sie sind allein schuldig, denn
Sie hätten uns entweder in Wirthshauß gehen heißen, oder in der ersten
besten Stube auf die Erde betten und dabey überzeugt seyn sollen daß es
uns dabey recht gemühtlich seyn würde. Dies nicht so wohl fürs ver-
gangene als fürs Zukünftige.
Was das Geld anlangt, so können Sie glauben, daß ich nicht ohne Ur-
sache Ihnen davon gesprochen habe. Wenn Sie es anderswo indeß kriegen
können so nehmen Sie's, weil ich lieber auf alles in der Welt zu wenig als
zu viel rechne, übrigens kann ich Ihnen sagen, daß ich, viel wahr-
scheinlich, in 3 — 6 Wochen die 300 rth. schicken werde, und damit
leben Sie wohl. Frau Rebecca grüsst herzlich.
Matthias Claudius.
38.3
Wandsleck d 16 Jan. 1781.
Hierbey die 300 rth. Weil ich noch nicht genau weiß wie die Olligation
lauten soll; so geben Sie ad interim nur einen Schein, daß Sie vom H Baron
n. E. V. Kottwitz 300 rth. zu 4 pO. von Ostern an zu rechnen erhalten
hätten,*
Dieser Brief ist zwar den 16 vt supra angefangen aber den allererst
vollendet worden.
Schreiben Sie doch, wen Sie den Empfang melden, was an einer Sage
wahr ist, die man in Eamlurg hat, daß näml. in Travermünde ein
Schif angeckomen sey das die Pest an Bord habe.
Noch bitte ich, daß Sie mir, so bald es seyn kann mit der däni-
schen Post 6 Bouteillen von den besten Sorten Rheinwein vom Lübecki-
schen Keller») schicken, und dabey den Wein benahmsen und den
Preiß schreiben, ich pflegte sonst dergleichen Geschäfte durch den
sei. Strack^ betreiben zu laßen, und würde Sie, am wenigsten bey dieser
Gelegenheit, damit beladen, wenn ich nicht glaubte, ich kriegte durch Sie
aufrichtigen Wein, und wenn mir nicht daran gelegen wäre aufrichtigen
zu haben. Es soll eine Sechswöchnerin davon trinken die ich herzlich
lieb habe 6, und andere gute Leute.
*) unter andern 2 Bouteillen Steinwein.
1 Er nahm die Stelle nicht an; vgl. jetzt den aufschlußreichen Aufsatz
von Franz Bertram, 'Karl Philipp Moritz' und Johann Heinrich Voß' Be-
werbung um das Rektorat der Stadtschule zu Hannover (1780)': 'Han-
noversche Geschichtsblätter' (1913) S. 177—192.
2 H: 2 Seiten 8». 3 H: 2 Seiten 8».
< Vgl. zu der Geldangelegenlieit unten Brief 50. » Strock? Struck?
6 Seine Schwägerin, von der er am 8. Dezember 1780 an Gleim berichtete.
(Vgl. W.Stammler: 'Zeitschrift des Harzvereins für Geschichte' 47, S. 123.)
52 Claudius und Gerstenberg
Unsern Gruß an die Fr. Residentin und lieben Kinderlein. Leben Sie
wohl Matthias Claudius
H Jacobi hab ich geschrieben, daß Sie ihm über seine Lieblingssonaten,
die ich Ihnen letzthin mitgebracht habe, selbst schreiben würden. Machen
Sie mich also nicht zum Lügner, und schreiben Sie bald an ihn. Frau
Rebecca meint, Sie sollten hübsch gleich schreiben, wenn Ihre Frau ent-
bunden seyn wird, nach Wandsieck näml. und würde das also ein anderer
Brief seyn als den Sie nach Düsseldorff schreiben sollen.
NB. Die holländischen ducaten sollen zwar itzo 7 ^ 8 ß thun. Sie
können indeß, wenn Sie das lieber wollen, den Schein auf 120 holländische
ducaten stellen.
Wandsbeck d 19 Fehr. 1781.
Viel Glück zum blauäugigen Sohn^, wir haben es uns recht lieb seyn
laßen. Gott sey Lob und Dank, daß es so kurz und gut gangen ist; er
laße es auch hier bey uns zu seiner Zeit kurz und gut gehen !^ Sagen Sie
der Frau Wöchnerin von uns viel freundliches, und pflegen sie bald wieder
aus dem Bette.
ich bin sehr neugierig über den Salto mortale des gutmühtigen Traiite.'^
Ihre 3 Bücher soll Overieck Ihnen wieder mitbringen, ich habe sie
alle 3 gerne gelesen.
Wenn Büffons roman^ in Lübeck zu haben ist, und nicht über 2 — 4 ß
kostet; so seyn Sie so gut, ihn für mich zu kaufen, nur die Karte muß
dabey seyn, als daran mir gar viel gelegen ist. ich nenns roman, weil
neben viel Wahrheit so gar lieblich geträumt ist.
Noch habe ich 2 Bitten,
Eine, daß Sie doch bald an Jacobi schreiben wenns noch nicht ge-
schehen ist.
die zweite, daß Sie mir 2 — 3 Bund i e^ 20 — 30 Stück W^aische Bütte
gütigst ankaufen und überschicken laßen.
Frau Rebecca grüsst herzlich, und ich desgleichen, und habe die Ehre pp
M. C. —
40.7
[Wandsbek, Februar — März 1781.]
Hier der Kasten, lieber Gerstenherg, danke für den guten Willen, und
bitte nicht damit zu säumen. Wen ich an den Brief der Sie gefreut hat
einigen Antheil hätte, so war es gern geschehen, wir erwarten das weitere
mit Ungedult.
ich habe allen Respect für Ihren Büffon; auf seinem Wege hat vieleicht
1 H: 2 Seiten S«.
2 Gerstenbergs siebentes Kind, Ende Januar geboren.
3 Am 16. Mai 1781 erblickte Claudius' fünfte Tochter Trinette das
Licht der Welt.
* Karl Friedrich Tränt, Verwaltungsbeamter in Kopenhagen, Gersten-
bergs Freund.
^ Die 'Epoches de la nature". ^ i e =z id est, das ist.
7 H: l Seite 8».
Claudius und Gerstenberg 53
Niemand sein Werk gethan. Wen ich einmahl nach Lübeck kome wollen
wir des alten Dichters Gesundheit trinken. Viel Gruß, ich habe Eile.
Ihr M. C.
41.1
Wandsleck d 9 Aprill 1781.
Hiebey Ihre Bücher wieder zurück, die Epochcs von Büffon habe ich an
Cramern nach Kiel geschickt. Hiebey mit der verlangte Calendritr de Poche.
er kostet 28 ß und dafür laßen Sie mich W^raische trockne Bütte haben,
wenn deren ankommen.
Wegen Segeberg wars Schade, wünsche bald anderweitige gute Nach-
richten zu hören. Mit der Oiligation bleibts bis weiter wie es ist.
Frau Rebecca befindet sich Gottlob wohl, und medio May dürfte sich
ein Knäblein sehen laßen2. Gott helfe!
ich hoffe, daß Sie an Jacobi geschrieben haben. Beyfolgendes Lied vom
Gr. Nesselrodts hat er mir für Sie geschickt, es sind ein Paar Schreibe-
fehler darin, übrigens ist es sehr artig, wie Sie mit mehren finden werden.
H Kunze hat ja nicht Wort gehalten. Ist er hin nach Kielt
vieleicht gehe ich mit Kottiüitz nach Aschberg und in dem Fall könnten
wir vieleicht über Lübeck zurückgehen und Sie begrüßen.
Wir grüßen herzlich an Sie und Frau Sophie und sämtliche Kinder, und
ich hoffe, daß Darby die Mehlspeisen schon nach Gibraltar eingebracht hat.*
Ihr M. C.
42.5
Wandsbeck d 4 May 1781.
ich hofte auf gute Gelegenheit, aber es will keine kommen; also hier die
Bücher, als Zimmermann^ und der Kalender, die ich Ihnen noch restire.
Unsre Kinder haben alle das Fieber gehabt oder noch. Frau Rebecca
wird sehr kümmerlich. Gott helfe uns bald.
Kotttüitz ist vor 14 Tagen nach Berlin pp abgegangen, und aus unsrer
Reise nach Aschberg ist nichts geworden.
Die Mad. Voss hat wieder einen Sohn. Leben Sie wohl und grüßen
Frau und Kinder vielmahls. M. C.
43.7
Watidsbeck d 12 Jul 1781.
Guten Tag. 8i vales bene est ego valeo, und ersuche Sie morgen mit
der dänischen Post mir wohlgepackt 2 Boteillen von dem alten berühmten
Lübecker Steinwein schreibe Stein wein zu überschicken. Hiebey 2 rth.
zu dem Behuf, ich ersuche ferner nicht ungedultig zu werden, daß ich so
oft incommodire, will mich auch gerne wieder incommodiren laßen.
1 H: 2 Seiten 8". 2 Vgl. Anmerkung 3 zu Brief 39.
3 Ist damit der bayrische Dramatiker Freiherr von Nesselrode gemeint?
< Die Bedeutung dieses Satzes ist mir unklar. Handelt es sich etwa um
eine Sendung für Freund Schönborn in Algier?
4 H: 1 Seite 8 <>.
6 Irgendeine Schrift des Hannoverschen Leibarztes und Popularphilo-
sophen Johann Georg Zimmermann.
7 H: 2 Seiten 8«».
54 Claudius und Gerstenberg
Das Fieber ist endlich aus unserm Hause abgegangen, und wir hoffen
daß es Gesundheit werde nachgelaßen haben, die gebe Ihnen und uns der
liebe Gott.
übrigens wüsste ich für diesmahl nichts zu berichten als einen freund-
lichen Gruß von Frau Kebecca und den Kinderlein an Sie, Frau Kesidentin
und die Kinderlein.
Wir haben ein Familienstück von Herder, nur Silhouetten, aber gar
treflich gemacht i. Ihr
Matthias Claudius.
44.2
Wandsbeck d 19 Xhr 81.
Ich ziehe freilich Lübeck vor; außer den in Ihren Briefe gedachten Vor-
theilen, ist der Knabe doch näher zur Hand wen ihm Krankheit oder sonst
Trübsal zustößt, und denn ist das Reisegeld auch doch höher nach Bordeaux
als nach Lübeck. Also bitte ich in Ihren Bemühungen bestens fortzufahren.
Es soll bald der Vetter sich in Lübeck 'presentiren, oder gar alle Beide,
damit Herr Koch^ die Wahl habe.
Ich hätte Ihnen die Ostseeacfien lieber gegönnt als Muntern, indeß
dahit Deus his quoque finem.
Wir sind gesund, und wollen morgen nach Hamburg, die Weynacht-
geschenke zu hohlen. Viel Glück und Gutes zu Weynachten und Neujahr,
und viele Grüße von Frau Rebecca. Die Sonaten von Eaidn sind sehr schön,
auch einige von Reichardt, sonderl. die erste, addies.
Ihr M. C.
45.4
Wandsbeck d 26 Xbr. 81.
ich schrieb Ihnen neulich, daß die jungen Müllers den ersten Tag über
kommen sollten, sich dem Herrn Koch zu presentiren. ich dachte damahls
nicht daran, daß die beiden Knaben Ausgang Januars zu Hause reisen.
Wenn es also d H Koch einerley wäre, so könnten sie itzo die Reise spahren.
Sollte es aber vor H Koch die Mine von Quackckeley im geringsten nur
haben können, so ist nicht die Rede weiter davon, und die Knaben korben
den ersten Tag, damit er sehe ob einer von ihnen ihm gefalle.
Viel Glück und Gutes zum Neuen Jahre.
Kempenfeldt hat eine Schlacht gehalten, wenn Guichen ihm nicht zu
sehr an Schiffen ist überlegen gewesen, so hat er gewiß gewonnen, das
ergibt sich aus dem Nahmen. 5 Viel Grüße von Frau Rebecca an Sie und
die Frau Residentin und lieben Kinderlein.
Ihr M. C.
1 Vgl. die Silhouette bei Kühn, 'Die Frauen um Goethe' I, S. 144.
2 H : 1 Seite 8 ".
3 Koch verbessert aus: Schmidt. — Es handelt sich um eine Hauslehrer-
stelle, die einer von Claudius' Neffen Müller (siehe oben Anmerkung 2 zu
Brief 7) in Lübeck einnehmen sollte. '
* H: 1 Seite 8».
5 Richard Kempenfeit (1718 — 1782), engl. Admiral, nahm im Amerika-
nischen Freiheitskriege am 12. Dezember 1781 einen Schiffstransport, den
der französische Admiral de Guichen mit seiner Flotte schützen sollte, in-
folge kühnen AngrifFe« weg.
Claudius und Gerstenberg 55
46.1
Wandsheck d 6 Märtz 82.
Viel freundlichen Gruß zuvor. 8i vales bene est ego valeo und bitte Sie
für einliegenden Ducaten 2 Boteillen Stein wein, die Boteille zum rth.,
mit der nächsten dänischen Post, die am Freytag von Lübeck geht,
gütigst zu übermachen und für das Geld was nach emhallage pp noch an
dem Ducaten überschießt ein Gericht Dorsch beypacken zu laßen.
Unser Schiffer Daniel Berg ist mein Mann nicht, nachdem er Ihnen
solche große Eile vorgemacht hat die Canaille noch über 3 Wochen in
Lübeck gelegen, und der Kasten ist erst im Februar nach Königsberg
geckommen. Wollen den Namen doch merken: Daniel Bergl
sonst habe noch zu vermelden, daß ich vor einigen Monahten, da unser
bisheriges Hauß zusammenfallen wollte, uns einen eignen Heerd gekauft
habe, den wir auch seit 14 Tagen schon würklich cultiviren und sehr probat
finden. Gott erhalte uns gesund darin und gebe, daß wir darin bleiben
können und nicht durch eine etwannige cessione bonorum oder dergleichen
uns von ihm trennen müßen, denn wir können itzo eine Kuh halten, das
uns eine trefl. Hülfe ist.
ich habe einen großen Platz hinter dem Hause, darauf ich mir von
allen meinen Freunden Einen Baum schenken laße; wenn Sie darauf
cntriren wollen steht er Ihnen auch offen. Uebrigens sind wir gesund und
haben neulich unser jüngstens [!] Mädchen entwöhnt oder vielmehr sind
noch daran. Wir grüßen herzlich an Sie die Frau Residentin und lieben
Kinderlein, und erwarten gute Nachrichten von Tränte pp
Matthias Claudius.
47.*
Wandsbeck d 9 Sept. 82.
Die assignation ist richtig angeckomen, und ich danke dafür. Freilich
hätte ich sie gerne zu Johannis gehabt, indeß komt sie itzo auch nicht
ungelegen.
Es thut uns leid, daß Ihre Frau so kränklich ist; aber sollte grade dafür
nicht eine Reise nach Hamburg nützlich seyn? Auf allen Fall wünschen
wir gute Beßerung und, wen Gott will, einen kleinen Jungen stat des ver-
lohrnen.
Wir sind bis auf die kleinste Trinette, die sehr schwer Zähne macht,
samt und sonders wohl auf, und danken Gotte dafür. Ueberbringer dieses
wird Ihnen das übrige mündlich sagen, was ich etwa noch schreiben
könnte.
Leben Sie wohl, wir grüßen Sie und Ihre Frau vielmahl. Gott sey mit
Ihnen Matthias Claudius.
Machen Sie doch daß der Freund quaestionis nach Hamburg kommt.
48.'
W. d 25 Nov. 82.
Beyfolgendes Buch soll ich Ihnen von wegen des O R. Jacobi übermachen*.
1 H: 3 Seiten 8«. 2 H: 2 Seiten 8". 3 H: 3 Seiten 8".
* Der erste Band der 'Vermischten Schriften' (Breslau 1781) von F. H.
Jacobi, dessen Druck Claudius in Hamburg überwacht hatte.
56 Claudius und Gerstenberg
Bey der Gelegenheit fragen wir nun nachbarlich an, was Sie und die
Ihrigen machen? und hoffen daß wir gute Antwort erhalten werden.
Wir unsers Orts sind, die kleinste Zahnpatientin ausgenomen, Gottlob
eine Zeitlang her ziemlich wohl auf gewesen. Seit einigen Tagen kränkelt
Frau Rebecca, die-wieder schwanger ist; ich hoffe indeß, daß es nicht Noht
haben soll, und wünsche es von Herzen.
daß Voß seinen ältesten Sohn verlohren hat, wißen Sie vermuthlich
schon; so wißen Sie denn auch dazu, daß einige Leute daran arbeiten ihn
an des verstorbenen C. R. Struensees, Directors der Domschule, [Stelle]
nach Halberstadt zu bringen.
Neues wüste ich sonst nichts zu melden; ich habe wieder angekündigt,
und lege auf allen Fall 2 Anzeigen bey, wenn Ihnen etwa jemand aufstieße,
der gern damit bestellt seyn wollte.
Wir grüßen Sie und die Frau Residentin vielmahls.
Leben Sie wohl
M. Claudius.
Haben Sie Schulzens Volkslieder ? ^^ Das heiß ich noch Lieder.
Ein Gruß an Wiclcedes u. Henriette pp
49.2
W. d 28 Febr. 1783.
ich höre von Overbeck, daß Sie diese Tage nach Gopenhagen gehen. Glück
zu und komen Sie wieder mit allem was Sie sich wünschen und Ihnen gut ist.
ich habe imer gehoft diese Zeit nach Lübeck zu komen, aber es hat sich
auch immer Hinderniß gefunden. /
Hier schickt Jacobi Ihnen ein Paar Blätter, die Sie auch im Febr. des
Museums finden werden'.
Wir sind gottlob gesund und grüßen Sie und Fr. Residentin und Kinder.
Voss wohnt itzo auf dem Rahthause in Eutin und ist überhaupt zu-
frieden*.
Wen Sie Overbeck sehen, so sagen Sie ihm doch, daß ich ihm antworten
und ihn besuchen würde gelegentlich.
Gott befohlen, und noch einmal glückliche Reise.
Ihr M C.
ich habe gehört, daß H Esmarch bey Stemann sich der Collecte für den
Asmus in Copenhagen angenomen hat*. Wen Sie ihn sehen sollten, so
sagen Sie ihm doch, daß er bis Ostern Zeit hat mit der Einsendung,
Chodowiecki kann mir die Kupfer nicht eher liefern. —
Man soll in Copenhagen nicht ungeneigt seyn, Herdern an Struensees
Stelle edentualiter zum generalsuperintendenten zu machen. Stören Sie
das nicht, und grüßen Sie Preislers.
1 Der Komponist Abraham Schulz. Seine erste Sammlung 'Lieder im
Volkston' erschien: Berlin 1782.
2 H: 3 Seiten 8".
2 'Erinnerungen gegen die in den Januar des Museums eingerückten
Gedanken [des Freiherrn von Fürstenberg] über eine merkwürdige Schrift':
'Deutsches Museum' (1783) Bd. I, St. 2, S. 97—105.
* Er war dorthin als Rektor des Gymnasiums berufen worden.
s Es handelt sich um Subskribenten für den 4. Teil seines 'Asmus' (er-
schienen 1783).
Claudius und Gerstenljerg 57
[Wandsbek, Herbst 1783.]
Glück zu denn! Das heiß ich eine Negociation die sich gewaschen hat.
ihr Ausgang ist mir noch imer unbegreiflich, und ich hätte meinen Hals
dabey zusetzen können.*
Daß aber Ihre Frau alles dies im Bette und in Krankheit erleben muß,
thut uns sehr leid. Nun Sie von der einen Seite so ganz heraus sind, helfe
Ihnen der liebe Gott auch bald von dieser andern heraus. Indeß stehen hier
die Sachen mit uns so, und Sie Werdens auch gefunden haben und weiter
finden, daß man, wenn noch so viele Seiten glücklich heraus komen, doch
immer mit einer darin bleibt. Wie gesagt, Gott gebe der Frau Rittmeisterin
bald ihre Gesundheit wieder, das wünschen ich und Frau Rebecca von
Herzen.
Ueber das Gedeyen Ihrer weitern Projecte bin ich nun ganz ruhig, und
ich verzweifle nach dieser ersten Probe gar nicht daran, daß Sie Vice
König von Norrwegen werden können; ich gönnte Ihnen aber lieber die
Amtsmanns-Stelle in Ploen pp.
Das Geld von Kottwitz schicken Sie nur an mich hieher nach Wand^-
leck mit der Dänischen Post, in holländischen ducaten, wie Sies erhalten
haben. Zinsen, glaub ich, wird Kottvntz nicht nehmen, und sollte ers
wollen, so hat es damit imer noch gute Wege. Er wird mir Ihre Ver-
schreibung nächstens schicken, und ich schicke sie denn alsobald an Sie',
und bitte mir für meine Curtage'^ ein Gericht Dorsch aus, auch nur auf die
Dänische Post zu geben.
Unser Erbprinz* ist entwöhnt, weil Frau Rebecca anfing mager zu
werden und zu husten. Itzo befinden beide sich gottlob wieder wohl.
addies lieber Gerstenierg, wir grüßen Sie alle groß und klein, bald
Beßerung mit der Kranken, und noch einmahl Glück zu.
Ihr M C.
Wandsheck d 24 Junitls. 85.
Wir haben von H Mattheson ^ erfahren daß Ihre Frau todt ist. obs uns
nun gleich nicht unvermuhtet noch unerwartet kommt; so hats uns doch
erschreckt, und wir bezeugen unser Beyleid und beklagen Sie in mehr als
einer Hinsicht.
Es ist keine Paßions- sondern eine Weynachts Cantlene [!] was ich
1 H: 3 Seiten 8».
2 Gerstenberg hatte seine Residentenstelle in Lübeck für 20 000 Taler
verkauft und ließ sich dann für vier Jahre als Privatmann in Eutin nieder,
um allerdings nach zwei Jahren wieder in den Staatsdienst zu treten.
3 Zu diesen Geldangelegenheiten vgl. oben Brief 38.
* Courtage z= Maklergebühr.
* Der heißersehnte Sohn war am 8. Mai 1783 geboren worden.
6 H: 2 Seiten 8".
7 Der Dichter Friedrich von Matthisson, damals Erzieher im gräflich
Sieversschen Hause zu Altona, hatte im Frühjahr 1785 mit seinen Zöglingen
eine 'literarische Pilgerfahrt' durch Schleswig-Holstein unternommen, auf
der er in Eutin Voß und Gerstenberg kennengelernt hatte. Mit Claudius
verband ihn eine innige Sympathie; vgl. seine Schriften VI, S. 319.
58 Claudiua und Gerstenberg
gemacht' und was Reichard componirt hat. Wen der Ciavier Auszug heraus
ist, will ich ein Exemplar nach Eutin für Sie und Voss spediren.
Wir sind Gottlob gesund, und haben vor einigen Wochen unsre 4 jüng-
sten Kinder inoculiren laßen.
Vieleicht habe ich den Somer noch Gelegenheit Eutin zu sehen, und wenns
glücken soll in Gesellschaft von Jacobi und Hamann.
Leben Sie wohl mit ihren Kindern, meine Frau und ich grüßen Sie viel-
mahl. Matthias Claudius
Hannover. Wolfgang Stammler.
1 'Weynacht-Cantilene von Matthias Claudius. In Musik gesetzt von J. Fr.
Reichardt 1784. Copenhagen gedruckt bei Joh. Hud. Thiele.' 8 S. Gr.-S".
Dann aufgenommen in 'Asmus' V, S. 210 — 218.
Diderot und Herder.
Man hat Diderot den Vertreter des deutschen Geistes in Frank-
reich genannt; vielmehr war er aber ein Vertreter des fran-
zösischen Bürgerstandes und ein Jünger der englischen Philosophen
des 18. Jahrhunderts und vor allem er selbst, 'Diderot, ein einzig
Individuum', zusammengesetzt aus Originalität und aus Vielseitig-
keit, welche Eigenschaften ihm eine wahrhaftige Zauberkraft ver-
heben und die geeignet sind, den allgemeinen Einfluß zu erklären,
den er auf die Klassiker des deutschen 18. Jahrhunderts ausübte.
So lieferten Diderots 'Bijoux indiscrets' und seine theatralischen
Reformgedanken die wirksamsten Waffen zu Lessings Angriff
gegen die pseudoklassische Tragödie und bereiteten 'Minna von
Barnhelm' vor, während der 'Taubstummenbrief' in dem Haupt-
gedanken und in vielen Einzelheiten dem Verfasser des 'Laokoon'
wichtige Anregungen gab.i
Diderots Erzählungen ('Les deux amis de Bourbonne', 'Entre-
tiens d'un pere avec ses enfants'), die er im Verein mit Geßner
herausgegeben hatte (Zürich, 1773), wirkten mächtig auf die Dich-
ter der Sturm-und-Drang-Periode; auch Goethe konnte in 'Götz'
und 'Werther' ihrem Einfluß nicht entgehen. 2 Er gab eine meister-
hafte Übersetzung des 'Neveu de Rameau', so daß die deutsche
Ausgabe (1805) der französischen zuvorkam; ^ die freie Übertragung
des 'Essai sur la peinture' bot ihm die Gelegenheit, seine eigene
Theorie über das Verhältnis von Natur und Kunst auszulegen.*
Dauzel schreibt die Abweichungen der Goetheschen 'Iphigenie' von
der gleichnamigen Tragödie des Euripides einer Beeinflussung von
Seiten des französischen Kritikers zu, 5 und Eggert glaubt in 'Wil-
helm Meisters Lehrjahren' Anklänge an Diderots 'Paradoxe sur le
comedien' zu finden.«
Schüler benutzte in den 'Räubern' manche Züge der 'Deux
amis de Bourbonne', welche zu den ersten Produkten der Räuber-
> Vgl. E. Schmidt: Diderot und Lessing, 'Die Gegenwart' Bd. XXI
(1882), S. 133—36 und 153—55. — C. Humbert: Lessings Stellung zur
französischen Literatur, 'Archiv für Literaturgeschichte' Bd. II (1872), S. 443
bis 469.
2 V. Rössel: Hist. des relations entre la France et l'Allemagne, Paris,
1897. S. 435.
' R. Schlösser: 'Rameaus Neffe', 'Forschungen zur neueren Literatur-
geschichte' XV. Berlin, 1900. S. 258.
* G. Döring: Goethe und Diderot über die Malerei. 'Preuß. Jahrbücher'
Bd. LXI (1888), S. 393—404.
^ W. Danzel: Goethes Iphigenia und Diderot. 'Blätter für liter. Unter-
haltung', 23. Jan. 1848.
^ C. A. Eggert: Goethe und Diderot: Über Schauspieler und die Kunst
des Schauspielers. 'Euphorion' Bd. IV, S. 301 — 17.
60 Diderot und Herder
romautik gehört. Diderots 'Hausvater', bearbeitet von Gemmingen
(1779), diente der 'Kabale und Liebe' als Vorbild.^ Der Stoff
des Xenion 'Die Flüsse' ist den 'Bijoux indiscrets' entnommen
('Les fleuves indiscrets').^ Auch er übersetzte eine Erzählung Di-
derots ('Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache', 1785), und
Schanzenbach ist der Meinung, Schiller habe von Diderot erzählen
gelernt (vgl. der 'Verbrecher aus Infamie' und der 'Geisterseher').^
Nun soll es die Aufgabe dieser Arbeit sein, die Beziehungen
zwischen Diderot und Herder festzustellen. In mancher Hinsicht
sind sie verwandte Naturen :, ihre Beredsamkeit und Universalität,
ihr Entdeckungseifer sind verwandte Züge; beide schweben zwischen
Philosophie und Poesie, zwischen Natur und Sitte, zwischen Skepsis
und Enthusiasmus. Diese Verwandtschaft konnte Herders Seele
sympathisch stimmen für die interessanten Eindrücke, die er von
Diderots Werken empfing; aber auch die Vorsehung erleichterte
es ihm, sich eine möglichst vollkommene Kenntnis von Diderots
schriftstellerischer Tätigkeit zu verschaffen, ja, sogar gönnte sie ihm
einen unmittelbaren Einblick in die geheimste literarische Werk-
stätte des großen Enzyklopädisten.
In den Königsberger Studienjahren beschäftigte sich Herder
mehr mit Rousseau, aber schon seine ersten Schriften weisen Stellen
auf, welche seine genaue Kenntnis von Diderots Werken bezeugen.
Einer seiner frühesten Aufsätze ('Haben wir noch das Publikum
und das Vaterland der Alten?' SWS. I, S. 22) enthält ein Urteil
über die 'Pensees philosophiques' (ersch. 1746). In den Literatur-
fragmenten (1767) erwähnt er die dramatischen Reformen Diderots *
und den 'Taubstummen brief (ersch. 1751);^ im 'Torso' nennt er
den Verfasser der 'Reflexions sur Terence' (1762) den 'Terenz un-
seres Jahrhunderts'. 6
Im letzten Jahre, welches Herder zum Teil noch in Riga ver-
bringt (1769), entsteht das 'IV. Kritische Wäldchen', das trotz des
ausgesprochenen polemischen Inhalts in den allgemeinen und posi-
tiven Betrachtungen schon ganz deutlich Diderots Einfluß verrät
(s. unten). Auch kommt Herder hier öfters auf Diderot zu sprechen,
der bald als Reformator des Theaters,'^ bald als Verfasser des
'Blindenbriefes' 8 ('Lettre sur les aveugles', 1749) und der Enzy-
' C. Flaischlen: Otto Heinrich v. Gemmingen ... Stuttgart, 1890.
~ Zum letzten Xenion dieses Titels.
3 0. Schanzenbach: Französische Einflüsse bei Schiller, Progr. Stuttgart,
1884—85. — C. Sachs: Schillers Beziehungen zur französischen und eng-
lischen Literatur. 'Herrigs Archiv', XVI. Jahrg., Bd. XXX (1861), S 83—110.
— Über D.s Einfluß auf die deutsche Literatur vgl. noch L. Crousle: Les-
sing et le goüt frauQais en Allemagne. Paris, 1863. — E. E. Schirlitz: 'Her-
rigs Archiv' Bd. LXXIH (1885), S. 235 ff.
♦ SWS. IV, S. 201. 5 SWS. i^ s. 210. e SWS. I, S. 315. ^ g^S. IV,
S. 18. « SWS. IV, S. 49.
Diderot und Herder 61
tlopädie/ bald wieder als Ästhetiker (Artikel 'Beau' in der Enzy-
klopädie; Sonderabdruck 1751) ^ erwähnt wird.
Im Mai 1769 verläßt Herder Riga; er kommt Anfang Juli in
Nantes an, wo er sich ganz dem Studium der französischen
Sprache, Kultur und Literatur widmet. Er vervollständigt das
TV. Wäldchen und vertieft sich in das Studium der Enzyklopädie,
welche ihm als ein Stützpunkt dieser labilen, oberflächlichen
französischen Welt erscheint. Er hält nicht nur die Franzosen
im allgemeinen für ein sich ausgelebtes, hinsterbendes Volk,^
sondern behauptet, auch Diderot habe sich ausgelebt, und seine
übrigens so lehrreiche und interessante Experimente seien mit der
größten Vorsicht zu gebrauchen.^
Auch der kurze Pariser Aufenthalt ändert nichts an seinem
Urteil; doch bedeuten diese IsTovembertage eine ereignisvolle Zeit
in der Ausbildung seiner Anschauungen. Er kommt mit D'Alem-
bert, Thomas, Duclos, D'Arnaud, Barthelemy, De G-uignes, Dau-
benton und Garnier zusammen, besucht die Kunstsammlungen
(vielleicht in Gesellschaft seines Landsmanns Witte) und den
Garten von Versailles, geht oft ins 'Theätre frauQais', wo er
Moles vortreffliches Spiel in Diderots 'Pere de famille' bewun-
dert.^ Am T\achtigsten aber war für Herder der Besuch, den er
bei Diderot abgestattet hatte.
Wenn mr die verschiedenen Briefwechsel Diderots, besonders
den mit Mademoiselle Voland,^ zu Rate ziehen, so finden wir
ihn zu dieser Zeit und im vorangegangenen Sommer vielfach be-
schäftigt. Sein Freund Grimm hat ihm die Redaktion seiner
'Correspondance' aufgetragen; für diese muß er selbst eine Kritik
über den 'Salon' von 1769 schreiben. Zu derselben Zeit entwirft
er eines seiner inhaltreichsten philosophischen Werke, den 'Reve
de D'Alembert', welcher ihn zum Vorläufer Darwins und La-
marcks stempelt. Der Sommer 1769 bringt ihm endlich seinen
größten Bühnenerfolg, die Reprise des 'Pere de famille', ein.
Herders Besuch bei ihm fällt also in eine Periode, welche
Diderots Tätigkeit in ihrer ganzen Universalität entfaltet. Er-
stens ist es wahrscheinlich, daß Herder die berühmte 'Corre-
spondance de Grimm' bei Diderot zu lesen bekommt, oder
wenigstens sein Interesse darauf gerichtet wird — ein Umstand,
welcher uns das Verständnis der 'Plastik' sehr erleichtert. Zwei-
tens liegt die Vermutung nahe. Diderot habe ihm den 'S a 1 o n
de 17 6 9' gezeigt, bzw. er habe kunsttheoretische Fragen mit
ihm besprochen. Drittens: der 'Reve deD'Alembert' hat
1 SWS. IV, S. 145 ff. 2 SWS. IV, S. 148 f.
3 Vgl. R. Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken, Bd. I,
S 339 f
* SWS. VIII, 441. s SWS. VIII, S. 93. « Assßzat-Tourneux, Bd. XVIII.
62 Diderot und Herder
das Gespräch auf philosophische Fragen lenken können. Vier-
tens bot vielleicht die Aufführung des 'Pere de famille', welcher
Herder beigewohnt, zu einem Gespräche über die Theorie des
Dramas Gelegenheit. — Die Pariser Tage bilden auch sonst eine
wichtige Periode in Herders Leben. Hier entwickelt sich der
Plan der 'Plastik'; seine philosophische Weltanschauung ge-
winnt an Festigkeit und Prägnanz; seine dramatische Theorie
bleibt immer unter dem Eindruck, den er in Paris gewonnen
hatte.
In den stillen Jahren der Bückeburger Zeit macht Herder die
neu erworbenen oder wenigstens neu formulierten Ansichten in
einer Reihe von Schriften geltend. Neben der ersten Fassung
der 'Plastik' (1770), in welcher er sich direkt an Diderot an-
schließt, entwirft er seine Abhandlung über den 'Ursprung der
Sprache' (1772), welche viele Ansichten des Verfassers der 'Lettre
sur les sourds et muets', des 'Reve de d'Alembert' und anderer
Werke zunutze macht, obwohl er sonst ^ dem 'Taubstummen-
brief' jeden sprachphilosophischen Wert abspricht. Er führt eine
kurze Polemik mit Diderot über die im 'Blindenbrief aufgewor-
fene Frage, ob der Blinde barmherzig sein könne oder nicht ;^ an
anderer Stelle nennt er Diderot einen vortrefflichen Ästhetiker
und setzt ihn dem Aristoteles gleich;^ endlich erwähnt er wie-
derum Diderots dramatische Reformpläne, die er, namentlich in
bezug auf den 'stummen Augenblick der Bühne', mit Begeiste-
rung aufnimmt.^
Mit der Übersiedlung nach Weimar kommt Herder nicht nur
in das wichtigste literarische Zentrum des damaligen Deutsch-
lands, sondern zugleich in das Zentrum des deutschen Diderot-
Kultus. Nirgends, selbst Paris nicht ausgenommen, waren Di-
derots ungedruckte Schriften besser bekannt und gewürdigt als
in Weimar, wo Goethe 'Rameaus Neffen' übersetzte und als
eifriger Leser der Grimmschen 'Correspondance' Diderots schrift-
stellerische Laufbahn Schritt für Schritt verfolgte.
Die 'Correspondance' dürfte Herder schon früher gelesen
haben, da er Winckelmann gegen die Franzosen verteidigt (Di-
derot über Winckelmann nur im 'Salon de 1765', erschienen in
der 'Correspondance').^ — 1778 schreibt Herder, Diderot sei ein
Nachfolger, wenn nicht ein Nachahmer Shaftesburys.^ Zwei
Jahre später gibt er jedoch zu, daß Diderot doch 'seine (eigene)
Bahn ging'."^ 1779 versucht er Diderots Apologie des Seneca^
zu widerlegen.^ Später wird Herder sein Urteil zurücknehmen
1 SWS. V, S. 50. 2 SWS. V, S. 15. ^ SWS. V, S. 280 f. * SWS. V,
S. 394. 5 SWS. VIII, S. 441. e SWS. VIII, S. 461. ^ SWS. XXIII,
S. 154. 8 'Essai sur la vie de Sßnöque . . .' (1778). » SWS. V,
S. 394.
Diderot und Herder 63
und Diderots Apologie als Grundlage zu einer dramatischen Be-
handlung des Gegenstandes empfehlen.-^
Im Jahre 1780 beginnt die Mitteilung Diderotscher Anekdota,
die Herder vorzugsweise dem Prinzen August von Gotha ver-
dankt, mit der Zusendung des 'Jacques le Fataliste' (französisch
erst 1796 erschienen!), und auch Jacobi überläßt ihm eine Ab-
schrift des 'Paradoxe sur le comedien' (erschienen 1830!).^ Goethe
und Schiller wollen Herders Übersetzertalent und sein Interesse
für Diderot nicht unbenutzt lassen; so fordert Schiller ihn auf,
die 'Religieuse' (erschienen 1796!) für die 'Hören' zu übersetzen.
Herder lehnte es jedoch ab, obwohl er sich schon seit längerer
Zeit und noch in den nächsten Jahren mit dem Plan einer Samm-
lung selbstübersetzter Diderotscher Schriften trug.^
Außer diesen neuen, ungedruckten Werken erwähnt Herder
die 'Principes de l'acoustique' ^ und 'Richardsons Ehrengedächt-
nis' ('Eloge de Richardson', 1762); das letztere gibt ihm Ge-
legenheit, Diderots hoher Auffassung vom Wesen des Romans
und zugleich dem pathetischen Stil, dessen er sich hier bedient,
volle Anerkennung zu zollen.^
Allein die Zeit der Nachahmung ist für Herder vorüber; die
einst jugendlich bewegten Anschauungsformen sind erstarrt. Di-
derots Einfluß auf ihn machte sich besonders vor 1778 geltend,
und zwar in Werken, deren Ursprung in die Rigaer oder in die
Pariser Zeit zurückreicht, so vor allem im 'Vierten Wäld-
chen' und noch mehr in der 'Plastik'.
Das 'Vierte Kritische Wäldchen' erhielt in Nantes
(1769) seine definitive Fassung. Es enthält den Kern der 'Pla-
stik', und so kommt schon hier der Einfluß Diderotscher Ge-
danken zum Vorschein. Doch sei die Besprechung dieses Ein-
flusses für später aufbewahrt, um nur diejenigen Teile des 'Vier-
ten Wäldchens' zu untersuchen, die in die 'Plastik' nicht auf-
genommen wurden.
Das 'Vierte Wäldchen' ist eine Widerlegung der Riedeischen
Ästhetik, aus deren Trümmern Herder ein neues Gebäude der
Ästhetik zu errichten sucht. Im ersten Teil handelt es sich vor
allem um allgemeine ästhetische Begriffe, und Herder wirft
seinem Gegner vor, bei der Arbeit die besten Ästhetiker nicht
zu Rate gezogen zu haben. Diderots Artikel 'Beau' in der Enzy-
klopädie sei das Beste, was man neuestens über das Schöne ge-
schrieben.^ Diderot hält die Schönheit für ein Verhältnis ('un
rapport'), das unser Verstand entdeckt, das aber auch in den
1 'Seneka, Philosoph und Minister, 2 Briefe'. SWS. XVIII, S. 391
bis 401. Vgl. Haym II, 503.
2 Haym II, 630. ^ Haym II, 630. « SWS. XXII, S. 66. « SWS. XXII,
S. 151 u. 161 f. 6 SWS. IV, S. 148 f.
64 Diderot und Herder
Dingen selbst Realität besitzt. Das Charakteristische in seinem
Standpunkte ist nun, daß er die Schönheit objektiv (in den
Dingen existierend) und zugleich subjektiv (von uns be-
griffen, gefühlt, beurteilt) auffaßt, — an ein absolutes
Schöne glaubt und doch die R e 1 a t i v i t ä t des Schönheitsurteils
anerkennt. Die Spuren dieses ästhetischen 'Monismus' finden
wir schon im 'IV. Wäldchen', obwohl diese Auffassung bei Her-
der erst in der 'Kalligone' in voller Entwicklung erscheinen
wird.^
"Wie Diderot von der Widerlegung der Hutchesonschen Ästhe-
tik auf seine eigne Auffassung übergeht, so ist auch bei Herder
die Widerlegung des Riedeischen 'sensus communis', welcher —
wie Herder in einer Fassung des Werkes bemerkt — zuerst in
der ' Crusisch - Dar jesisch- Hutchesonschen Philosophie' eine
Rolle spielt,^ der Ausgangspunkt. Im Gegensatz zu Riedel
schildert Herder die langsame Ausbildung der Begriffe, beson-
ders solcher Abstrakta, wie des Begriffs der Schönheit:
'. . . laßet uns in unsere Kindheit '. . . le premier pas de penser, c'est
zurückgehen: die ersten Begriffe von
den Körpern, . , . wie haben wir sie examiner ses perceptions, de les unir,
erlangt? durch viele einzelne Gefühle,
durch das lange Gegeneinander- de les comparer . . .'
halten derselben, durch Verglei-
chung.'
'. . . et quelles que soient les expres-
'. . . wie denn die ... feinsten sions sublimes dont on se serve
Abstrakta? . . . pour designer les notions abstraites
wie denn Schönheit ... unmittel- de l'ordre ..., du beau, elles ont
bar empfinden?' passe par nos sens pour arriver ä
notre entendement.'
(SWS. IV, S. 8 f.) (Assezat X, S. 24 f.)
Der psychologische Teil steht auch sonst unter dem Einflüsse
Diderots:
'. . . blos so wird das Gefühl ge- 's'assurer que les objets ne
sichert, daß Wahrheit außer uns f ont pas partie de lui-merae
gebe ...' (SWS. IV, S. 29.) ('Lettre sur les aveugles', Assezat I,
S. 321.)
Beide sprechen von der Verschiedenheit der Geschmacks-
urteile, die aber doch in den Begriff des allgemein Schönen zu-
sammenlaufen (vgl. SWS. IV, S. 41 und Assezat X, S. 41); beide
unterscheiden höhere und niedere Sinne, und beide illustrieren
diesen Unterschied damit, daß die Vorstellungen des Geschmacks
und des Geruchs ihre Benennungen von den anderen Sinnes-
1 Vgl. K. Siegel: Herder als Philosoph (Stuttgart u. Berlin, 1907),
S. 193 ff.
2 In der Fassung von Nantes^ SWS. IV, S. 5.
Diderot und Herder 65
gebieten borgen müssen (vgl. SWS. IV, S. 49 — 53 und 53 — 54
mit Assezat X, S. 26 f.).
Diejenigen Teile des 'Vierten Wäldchens', welche es mit der
'Plastik' gemein hat (II. Teil, SWS. IV, S. 49—90), dringen auf
Grenzscheidung zwischen den einzelnen Künsten. Die Grenz-
scheidung geschieht auf Grund von Experimenten mit Blind-
geborenen; die Gesetze der einzelnen Künste werden aus der Be-
schaffenheit der entsprechenden Sinnesorgane abgeleitet. So
werden namentlich Skulptur und Malerei getrennt, da sich
diese nach dem Gesicht, jene aber nach dem Tastgefühl richten
muß.
Diese Gesichtspunkte werden auch in der 'P 1 a s t i k' bei-
behalten. Von den drei Fassungen dieses Werkes^ werde ich die
erste (1769) nur dort anführen, wo sie etwas Spezifisches und
Selbständiges enthält; von den beiden anderen werde ich die-
jenige wählen, welche ihrem Vorbilde in der AusdrucSsweise
näher steht.
Das I.Kapitel ist der 'Lettre sur les aveugles' (1749)
entlehnt. Bei Diderot handelt es sich hauptsächlich darum, die
interessante Lage des Blindgeborenen zu schildern und dessen
Meinungen über eine unbekannte Welt abzulauschen. Für die
Zeitgenossen war aber die Hauptfrage, ob geheilte Blindgeborene
ihre Augen sofort in demselben Sinne gebrauchen können wie
wir, d. h. ob sie die Körper, welche sie durchs Tastgefühl bereits
kannten, mit den x\ugen sofort wiedererkennen oder nicht. Di-
derot hält zwar diese Frage für weniger wichtig, doch behandelt
er sie ausführlich genug, um dem Verfasser der 'Pla.stik' die
Zusammenstellung des Materials zu ersparen.
Die Berichte über die geheilten Blindgeborenen (derBlinde
von Puis (e) aux, 'über welchen Diderot Bemerkungen machte',
Saunderson und der Blinde von Cheselden) sind in
diesem Zusammenhange nur ein Auszug aus dem 'Blindenbriefe',^
obwohl der Bericht über den Blinden von Cheselden wörtlich aus
Smiths Optik übernommen ist.^
Nach diesen Beispielen geht Herder auf die Frage über, ob
ohne Tastgefühl Körper begriffen werden können:
1 Die erste: 1769, Paris- Versailles ; ersch. 'Lebensbild', dann SWS. VIII,
S. 88 ff. Die zweite: 1770, Bückeburg, fragm. SWS. VIII, S. 116 ff. Die
dritte: 1778 (Ausgabe). Systematisch, aber in bezug auf praktischen Wert
und literarisches Interesse der Fassung von 1770 nahestehend. SWS. VIII,
S. 1 ff.
2 Für den Blinden von Puiseaux: SWS. VIII, S. 3 u. 116 vgl. Assßzat I,
S. 280—85. — Saunderson: SWS. VIII, S. 3 f. vgl. Ass6zat I, S. 295—302.
— Cheselden: SWS. VIII, S. 4 f. vgl. Assözat I, S. 318 f.
ä Kürschners Nationalliteratur Bd. 76, II. Abt.: Herders Werke III, 2.
Herausgegeben von Hans Lambel, S. 277.
Archiv f. n. Sprachen. Sonderheft. 5
66 Diderot und Herder
' . . . warum soll uns Wunder seyn, ' . . . il y a toute apparence que
daß Blinde, denen ihr Gesicht ge- nous ne jugeons des distances que
geben wurde, nichts als ein Bilder- par l'cxperience; et consequem-
. haus, eine gefärbte Fläche' (. . . sa- nient, que celui qui se sert de sea
hen) . . . 'Sodann sehen wir erst . . . yeux pour le premiere fois, ne voit
durch Gewohnheit . . .' que des surfaces . . .'
(SWS. VIII, S. 6 f.) (Assezat I, S. 327.)
Aber die Blindheit hat ihre Vorteile (SWS. VIII, S. 8 u. 21
vgl. mit Assezat I, S. 281), und:
'Es hat blinde Wachsbildner '... on voit qu'un peuple d'a-
gegeben. die die sehenden über- v engl es pourrait avoir des sta-
trafen.' (SWS. VIII, S. 8, 121.) tuaires . . .' (Assezat I, S. 306.)
Bei dem Nicht-Blindgeborenen sind Gesicht und Gefühl eng
miteinander verbunden; sie helfen einander, aber oft verhindert
der eine Sinn die Entwicklung des anderen:
'... indem er Gesicht und Gefühl '... l'usage d'un des sens peut
unaufhörlich verbindet, eins durchs etre perfectionne et accelere par les
andre untersucht, erweitert, hebt, observations de l'autre . . . ces ser-
stärket, ... so verschlingen und gat- vices sont reciproques.'
ten sich Gefühl und Gesicht ..." (Assezat I, S. 320.)
'Weil nun aber unser Gesicht und
Gefühl als Schwestern zusammen er- ' . . . les secours que nos sens se pre-
zogen wurden, und von Jugend auf tent mutuellement,
eine der Andern die Arbeit tragen
half oder sie ganz allein übernahm:
so geschähe es auch hier, und Seh we- les erapechent de se perfec-
ster verfehlte die Schwester.' tionner.'
(SWS. VIII, S. 8 f.) (Assezat I, S. 285.)
Nun muß der wichtigste Schritt getan werden : die kühne Ver-
bindung der Sinne mit den entsprechenden Künsten. In der
'Lettre sur les aveugles' tut Diderot diesen Schritt allerdings
nicht; doch lesen wir im 'Salon de 1765': 'La sculpture est faite,
et pöur les aveugles, et pour ceux qui voient. La peinture ne
s'adresse qu'aux yeux' (Assezat X, 420); und hierin hat er viel-
leicht mehr recht als Herder, der die Skulptur gleichsam aus-
schließlich für die Blinden und die Tastenden aufbewahren möchte.
Der tastende Finger schreibt der Bildsäule Leben und Be-
wegung zu — er 'beseelt' sie. Diesen für Herder so ungemein
wichtigen Gedanken finden wir bei Diderot, aber auch bei Winckel-
mann; außerdem mag 'Le Reve de D'Alembert' zur Verstär-
kung dieses — übrigens echt Herderschen — Gedankens beigetragen
haben, — die Stelle nämlich, wo Diderot 'homme' und 'statue'
unterscheidet.^
'Eine Statue muß leben . . . Wir 'Madame, combien nos sens nous
müssen sie vor uns stehen sehen, suggerent de choses; et que nous
Assezat II, S. 105 ff.
Diderot und Herder 67
und fühlen, daß sie zu uns spricht . ..' aurons de peine, sans nos yeux,
a supposer qu'un bloc de marbre
ne pense ni sent!'
('Plastik' 17691 — SWS. VIII, ('Lettre sur les Aveugles',
S. 88.) Assezat I, S. 328.)
Da Herder den Blindgeborenen als den geeignetsten Repräsen-
tanten des reinen Tastens und den vollkommensten Kunstrichter
für die Bildhauerei hinstellt, so muß er sich gegen Diderots An-
sicht verwahren, nach welcher der Blinde nur Zweckmäßigkeit,
aber keine Schönheit kenne: 'Ein Blinder hat also würklich ein
Schönes ... — wider Diderot ... Sein Schönes ist nicht blos
Nutzbarkeit: sondern würkliche unmittelbare Bequemlichkeit des
schönen Tastens' (SWS. VIII, S. 94; Tlastik' 17(59). Der Unter-
schied zwischen den beiden Standpunkten ist aber mehr ein schein-
barer; für Diderot wie für Herder ist ja die Schönheit nur der
Ausdruck der funktionellen Zweckmäßigkeit, und Herder sagt
selbst: 'Ich fragte eine Blindgebohrne : "welcher Tisch, welches
Gefäß ihr lieber sei? das eckige oder runde?" Sie antwortete:
das Runde, denn dies sei sanft und wohl zu faßen, und am run-
den Tisch stoße man sich nicht ...' usw. (SWS. VIII, S. 70. Vgl.
Assezat I, S. 281).
AVir haben das I. Kapitel der 'Plastik' mit der 'Lettre sur les
aveugles' verglichen. Das Wesentliche im Gedankengange der
beiden Werke stimmt überein; der Hauptgedanke der 'Plastik'
(Verbindung: Gesicht — Malerei, Gefühl — Skulptur) ist aber in einem
anderen Werke Diderots ('Salon de 1765') angedeutet. Damit will
nicht gesagt werden, daß Herder diesen Gedanken aus dem 'Salon'
geschöpft habe; vielmehr handelt es sich hier um eine gemeinsame
Vorlage ('Lettre sur les aveugles').
Diesem Abschnitt der 'Plastik' gehören noch einige Entlehnun-
gen aus Diderot an, welche nur in den früheren Fassungen vor-
kommen und geeignet sind, zu bezeugen, wie genau sich Herder
an Diderot hält:
1) 'Versuch, wie ein blinder Philo- '... la raorale et la metaphysique
soph sich eine Welt denken würde.' des aveugles.'
'Nous y aurions trouve . . . des prin-
'Idealismus! ... Ein Fühlender ist cipesd'une metaphysique tres-abstraite
Idealist durch den Sinn.' et fort voisine de celle des idea-
listes .. .'
'... ganz besondere Einbildungs- 'Mais si l'imagination de l'a-
kraft der Blinden ...' veugle-ne n'est autre chose que la
faculte de se rappeler et combiner
des sensations de points palpables,
'... daß sie weit reellere, nettere, ... s'en ensuit que l'aveugle-ne aper-
abstraktere Begriffe von Schön- goit les choses d'une maniere beau-
heit ... haben.' coup plus abstraite que nous . . .'
'Eine solche blinde Liebe 1' 'La beaute de la peau ... sont des
, qualitös dont il fait grand cas . . .'
5*
68
Diderot und Herder
Ein "Widerspruch:
'Ein Blinder ist ein furchtsames
Geschöpf . . .'
(SWS. VIII, S. 96—99 u. 114.)
2) 'Noch empfand der zum Säug'-
linf^e gewordne Embryo Alles in
sich . . . Bei jeder sinnlichen Emp-
findung wird er, wie aus einem tie-
fen Traume geweckt, und durch einen
empfindbaren Stoß lebhafter an eine
Idee erinnert, die seine gegenwärtige
Lage in der Welt veraulaßet ... Hier
sind z. E. zwo gleiche Empfindun-
gen: gleich? dieselben? so wird das
erste Urteil gebildet, daß das Wieder-
holle dieselbe En^ffindung sei.'
(SWS. VIII, S. 120.)
3) 'Wir kennen unsere Seele so
wenig, wie unser Gesicht, weil
wirs nicht studiren; wir studiren an-
dere Physiognomien, nur um sie zu
erkennen, wenn sie uns begeg-
nen . . .'
(SWS. VIII, S. 96.)
4) 'Die Welt eines Fühlenden ist
blos eine Welt der unmittelbaren
Gegenwart; er hat kein Auge, mit-
hin . . . keine Farben, keine Einbil-
dungskraft . . .'
(SWS. VIII. S. 96. 'Plastik' 1769.)
'Les menaces ne l'intimident point . . .'
(Assezat I, 287, 290, 293, 304, 320,
329 f.)
'... l'enfant ni l'aveugle - ne
n' ... aper(;oivent point ... on n'est
affecte, dans les premiers instants de
la Vision, que d'une multitude de
sensations confuses qui ne se de-
brouilient qu'avec le temps . . . ; que
les sensations n'ayant rien qui res-
semblent essentiellement aux objets,
c'est ä l'experience ä nous instruire
sur des analogies qui semblent etre
de pure Institution . . .'
(Assezat I, S. 320.)
'II en est pour nous de ses
nuances comme de notre propre
vi sage. De tous les hommes ...
celui que nous nous rappellerions le
moins, c'est nous meme Nous n'e-
tudions les visages que pour re-
couuaitre les personnes ...'
(Assezat I, S. 284 f.)
' . . . L'aveugle-ne, ne pouvant co-
lorer, ni parconscquent figurer comme
nous l'entendons, n'a memoire que
des sensations prises par le toucher . . .'
(Assezat I, S. 291.)
Im II. Abschnitte der 'Plastik' kann nun Herder die Grenze
zwischen Malerei und Skulptur ziehen. Er findet die Kennzeichen
der Skulptur der Malerei gegenüber in den folgenden Zügen:
1) Nacktheit der Gestalten oder nasse Gewänder; 2) kein
Kolorit, kein Augapfel; 3) keine kleinliche Ausarbeitung
der Haare; 4) keine Häßlichkeit, keine Verzerrung. Da sie
nämlich die Aufgabe hat, schöne Körper für den tastenden Finger
zu bilden, so muß sie alles vermeiden, was die schönen Formen oder
Linien stören oder verhüllen könnte (Haare, Verzerrung, Augapfel,
Kleidung) oder was der Natur des Tastens fremd ist (Färbung).
Anderseits ist der schöne Körper der Ausdruck einer schönen
Seele. Die Bildsäule soll leben; sie soll individueller sein als ein
Abstraktum, aber idealisierter als ein Individuum.
Diese Gesetze der Plastik finden wir Punkt für Punkt in Di-
derots Vorrede zu den Bildhauern des 'Salon de 1765', welcher
in der erwähnten 'Correspondance de Grimm' erschienen ist —
'erschienen' für einige Auserwählte, wie den Prinzen von Gotha
und die Kaiserin von Rußland. Außer diesen vornehmen Lesern
Diderot und Herder 69
haben nur Diderots und Grimms Freunde und Bekannte Ab-
schriften von einzelnen Aufsätzen der 'Correspondance' erhalten. —
Der 'Salon von 1765' ist eine der trefflichsten Leistungen des
Kunstkritikers Diderot; auch ist dieser 'Salon' der einzige, der für
das Publikum abgedruckt wird (1795) — vielleicht eben darum,
weil man ihm theoretischen AVert zuschreibt. Der Abschnitt über
'Sculpture' ist der einzige Versuch Diderots, eine Theorie der Bild-
hauerkunst zu geben. Es ist höchst interessant, daß der Anfang
dieses Aufsatzes sich mit Winckelmann befaßt, i dessen 'fa-
natische' Begeisterung für das klassische Altertum Diderot etwas
befremdet; er wundert sich, daß ^Yinckelmann von der 'Schönheit'
des Torso spricht — obwohl er selbst in seinem 'Essai sur la pein-
tui-e' behauptet, es sei leicht, aus einem Finger des Körpers den
ganzen Körper zu rekonstruieren. 2 Jedenfalls schwebt aber ÄVinckel-
manns Geist über diese interessanten Zeilen, welche schon alle
Resultate der Herderschen Theorie in sich schließen; verschieden ist
nur der Gesichtspunkt in der Begründung der Regeln, da bei Her-
der das Gewicht auf der Betonung des 'bUnden Tastgefühls' liegt,
während Diderot auf diesen Umstand nur ganz flüchtig hinweist.
Doch lassen wir Diderot das Wort reden:
'... les statuaires tiennent plus ä l'antique que les peintres ...
La sculpture est faite et pour les aveugles et pour ceux qui
voient ...' (Hauptgedanke der 'Plastik'.) 'La severe, grave et
chaste sculpture choisit . . .' (Hohe Auffassung der Skulptur.)
'Elle exagere ...; peut-etre l'exageration lui convient-elle mieux
qu'ä la peinture ...' (Das Kolossalische. Vgl. SWS. VHI, 72 ff.)
'Faunen und Satyren sind an 'Le marbre ne rit pas. Elie s'enivre
sich nicht häßliche MiiSg-eburten, ... pourtant avec les faunes et syl-
und also bildsam . . .' vains . . .'
(SWS. Vm, S. 149. 'PL' 1770.)
'La sculpture suppose un enthousiasme plus opiniätre et plus
profond, plus de ce feu couvert et secret qui bout au dedans ...'
(Vgl. SWS. VHI, S. 13.) 'Si la sculptm-e ne souffre pas une
idee commune, eile ne souffre pas davantage une execution
mediocre .. .'
'De quelques questions que je me
1) suis faites sur la sculpture, la 1^, c'est:
'Selbst im Reizbaren zur Verfüh- Pourquoi la chaste sculpture . . . mon-
nmg ist das Nackte nicht dasselbe. tre plus souvent et plus franchement
Eine Statue ...: Nachbild eines schö- la nudite des sexes? c'est que ses
nen Geschöpf Gottes und um sie ist moeurs, plus sauvages et plus iuno-
Unschuld ...' centes, sont meilleures que celles
(SWS. VUI, S. 24, f.) de la peinture . . .'
1 Winckelmanns 'Hist. de l'Art ancien', übersetzt von Sellius; vgl. As-
sezat X, 420.
2 'Essai sur la peinture', Assezat 461 ff.
70
Diderot und Herder
(Deui entspricht:
3)
keine Ausarbeitung der Haare;
SWS. VIII, S. :
1) Nasse Gewänder.
'Die Bildnerei kann nicht beklei-
den, denn ...
das Gewand . . .
nimmt uns . . . das Gute, Vollkom-
mene des Körpers, was Zweck der
Kunst Avar . . .'
'Und nun in der Kunst ist ein Ge-
wand von Stein, Erz, Holz im höch-
sten Grade drücken dl'
'Es ist ein Fels voll Erhöhung
und Vertiefung ...; du wirst das
Unding fühlen.'
(SWS. VIII, S. 18 u. 133.)
2) Kolorit.
'... da ist kein Einfacher Ge-
sichtspunkt, kein von daaiis Ord-
nen des Lichts ... so kann diese [die
Farbe] nichts als das freie Spiel des
Lichts verhindern.'
('Plastik' 1770. SWS. VIII, Ui.)
'Wenn Bildhauerei Körper durch
Formen nachahmt; Farbe ist nicht
Form, ihr also fremde.'
(SWS. Vm, S. 143. 'PL' 1770.)
Keine Gruppe (vgl. Kap. V).
'Bewegung in der Ruhe.'
2) 'Ein aufgemahlter Augapfel
ist entweder kein Augapfel oder er
ist ... ein farbichter Auswuchs, der
Schauder macht ...'
'La 2e, c'est: Pourquoi la sculp-
ture a dcpouille les femmes. de ce
voile de la pudeur . . . ?' 'la beaute
de ce coutour, le charme de ce ser-
pentement serait rompu . . .'
'La Be; Pourquoi les Anciens n'ont
Jamals drape leurs figures qu'avec
des linges mouillees?' 'C'est que,
quelque peine que Ton se donne pour
caracteriser en marbre une etoffe, on
n'y reussit jamais . . . ; qu'un etoffe . . .
grossiere derobe le nu que la sculp-
ture est ... jalouse ... de prononcer;
et que ... la veiite des plis ... con-
servera je ne sais quoi de lourd,
qui, se joignant ä la nature de la
pierre, fera prendre au tout un faux
air de rocher.'
('La 4e': Idealisierung.)
'La 5^, c'est: Quel serait l'effet
du coloris de la peinture sur une
Statue?'
'Manvais, je pense. 1" II n'y aurait
autour de la Statue qu'un seul point
oü ce coloris serait vrai . . .'
'2" il n'y'a rien de si deplaisant ä
l'oeil que le contraste du vrai mis ä
cote du faux ...'
'La chose, c'est la statue, seule,
isolee, solide, prete ä se mou-
voir ...'
'Creusez l'orbite des yeux ä une
Statue et remplissez - la d'un oeil
d'email ou d'une pierre coloree, et
vous verrez si vous en suppor-
terez l'effet . . .'
(Assezat X, 417—23.)
(SWS. VIII, 143. 'PL' 1770.)
In den übrigen drei Abschnitten, die teilweise nur in der Fas-
sung von 1778 vorhanden sind, finden wir hie und da noch Spu-
ren Diderotscher Gedanken. — So im IV. Abschnitt, wo Herder
erklärt, jede (äußere) Form habe eine tiefe (innere) Bedeutung:
der Würfel ist das Symbol., der Solidität und der Ruhe, die Kugel
das der Bewegung usw. Ahnliches lesen wir auch in der 'Lettre
sur les sourds et muets' (Additions; Assezat I, 405 f.): '... fau
dra-t-il conserver dans un piedestal quelque idee de legerete? on
1
Diderot und Herder 71
abandonner le cube pour le cylindre ..., de l'inconstance ?
... on cherchera une figure que la statue ne touche qu'en un
point. C'est ainsi que la Fortune sera placee sur un gl übe, et
le Destin sur un cube.'
Wie die einfachsten geometrischen Körper, so muß auch die
Bildsäule eine Seele, einen Charakter, kurz: 'Bewegung in der
Ruhe' ausdrücken: 'La vie est dans une figure en repos ...
Ils disent d'une figure en repos, qu'elle a du mouvement, c'est-
ä-dire qu'elle est prete h se mouvoir.' (Diderot: 'Pensees de-
tachees'. Assezat XII, 81.)
Im V. Kapitel behandelt Herder allgemeine ästhetische und
kunsttheoretische Begriffe, wie: 1) das Erhabene und das Schreck-
hche, 2) das Kolossalische, 3) die Allegorie, 4) die Gruppierung.
Die Bildung von kolossalischen Gestalten will Herder nur der
Skulptur gewähren; dieser Gedanke ist schon bei Diderot vorhan-
den, i aber auch bei Shaftesbury.2 — Die Mischung von Allegorie
und Wirklichkeit vernichtet die Wirkung selbst des erhabensten
Kunstprodukts. (Vgl. SWS. VIII, S. 105. 'Fl.' 1769 mit 'Essai
sm- la peinture', 1765. Assezat X, S. 500.) — Die komplizierte
Gruppe ist in der Skulptur nicht an ihrem Flatze; das Wesen
dieser Kunst fordert ja eine einzige, isolierte Gestalt oder wenig-
stens eine Gruppe von Gestalten, die in eine Einheit verschmelzen
(Laokoon!). 'La sculpture n'offrant jamais qu'une figure isolee,
ou qu'un groupe de deux ou trois ...'3 'Laocoon, ... trois fi-
gures isolees, liees par les seules convolutions d'un serpent . . .' ^ —
In der 'Plastik' erreichte Diderots Einfluß auf Herder seinen Höhe-
punkt. In den folgenden wird es versucht, die übrigen Berührungs-
punkte der Anschauungen beider auf dem Gebiete der Kunsttheorie,
der Theorie des Dramas und der Sprachphilosophie anzudeuten.
In bezug auf die Kunst sind beide Idealisten, und so halten
sie den Forträtisten, der die gegebenen Gesichtszüge pünktlich
nachahmt, für keinen echten Künstler:
'... 80 ideisirt er ..., ist ... '... la difference du portrai-
kein gemeiner Künstler; vom Per- tiste et de vous ... consiste essen-
traitmahler, der ein Ideenloses ob- tiellement en ce que le portraitiste
wohl genaues Conterfait macht ..., rend fidelement Nature comme eile
verschieden.' est .. .'
('Kalligone', SWS. XXII, S. 298.) ('Salon de 1767', Assezat X, 9—12.)
Für diese Idealisierung liefert die antike Kunst ein hohes Bei-
spiel; doch darf das Studium der antiken Kunst die direkte Be-
obachtung und die unmittelbare Nachbildung der Natur nicht ver-
drängen. Die Kunst der Griechen und Römer ist die Frucht
1 'Salon de 1767', Assezat XI, S. 38.
2 J. C. Hatch: Der Einfluß Shaftesburys auf Herder, 'Studien für ver-
gleichende Literaturgeschiclite' Bd. I (1901), S. 118 f.
3 Assezat XIU, Ö6 u. XI, 42. * 'Salon de 1767', Assezat XI, 42.
72 Diderot und Herder
eines langen und schwierigen Emporstrebens und der höchste Gipfel
einer natürlichen Entwicklung — das günstige Klima aber nur
eine der vielen Kräfte, die sie hervorgebracht haben (vgl. 'Alt. Krit.
Wäldchen' in SWS. IV, 203—13 mit 'Salon de 1767' in Asse-
zat X, 12 f. und 'Essai sur la peinture', welcher bei Hartknoch
in Riga erschienen ist!).i —
Die im 'Torso' gegebene ausführliche Kritik der Diderotschen
Reform des Dramas entspricht dem Standpunkte der heutigen Kri-
tik im allgemeinen wie auch in vielen Einzelfragen. Man 'weiß,
wie sehr er (Diderot) für den Augenschein des gemeinen Lebens,
für Theatergemälde, für die fast gar zu feine Pantomime, ... für
Charaktere, Lebensarten, Stände eingenommen sey ...' Aber wenn
Herder hier besonders Diderots Forderung, man stelle Berufsarten,
Stände ('condition') statt Charaktere dar, bekämpf t,2 so vergißt er
das später, als er statt Schuldramen solche Stücke verlangt,
welche die 'Fehler und Heldentaten der Jugend' behandeln.^ —
Übrigens erkennt Herder Diderots Verdienste im Kampfe gegen
die pseudoklassische Tragödie an. Die Tragödie — sagt er —
sei nicht für eine Monarchie wie Frankreich, nicht für die alle
Leidenschaften auflösende französische Sprache. (Vgl. bei Diderot:
Tragödie: eine republikanische, Komödie: eine monarchistische
Kunstgattung.)* Beide schwärmen für den 'stummen Augenblick
der Bühne', für das 'edle Komische'.^ 'Welche Schule der Sitten
ist in der Welt besser als Theater!' ß ruft Herder aus, um 'Di-
derots Stimme zu verstärken'.'^
Wie vom Drama, so verlangt Herder auch von der Oper
Rührung des menschlichen Gemüts. Darum tadelt er die 'Zahl-
meisterei', in welche die Theorie der Musik unter den Händen
Grimms, D'Alemberts, Rameaus und Diderots entartet; im Gegen-
satze zu den 'Principes de l'acoustique' des letzteren legt er
mehr Gewicht auf die Melodie als auf die Harmonisierung. § Der
Unterschied zwischen Herders und Diderots Standpunkt ist, daß
Diderot sich mehr für die Technik der Musik interessiert, Herder
aber mehr für den ästhetischen Genuß, den sie uns bietet. Doch
kommen sie darin überein, daß die französische Oper weder 'mensch-
1 Zwei Hauptrichtungen ihrer Kunsttheorie haben Diderot und Herder
mit Lessing- gemein: 1) das Streben auf Grenzscheidung zwischen den
Künsten; 2) die Hervorhebung des wichtigen Umstandes, daß der Künstler
nur ein einziges Moment des immer veränderlichen Lebens besitzt, das er
verewigen soll ('Erstes Wäldchen' in SWS. III vgl. mit 'Essai sur la pein-
ture' in Assezat X, S. 499).
2 SWS. II, 315 ff., II, 207—27 und A. Köschmieder: 'Herders theoreti-
sche Stellung zum Drama', 'Bresl. Beitr.', N. F., Heft 35, Stuttgart 1913, S. 41.
3 Köschmieder: S. C9. * Köschmieder: S. 125. 5 gws. II, 221 ff. und
Köschmieder: S. 41-43. e SWS. IV, 475 f. ' SWS. IV, 483. « 'Viertes
Wäldchen' in SWS. IV, 90 f. und 'Kalligone' in SWS. XXII, 66, 70 f.
Diderot und Herder 73
lieh' noch 'einfach' sei ; ^ darum ergreifen sie für die italienische
Oper Partei 2 und erwarten von dem musikalischen Ausdruck der
wahren Empfindung eine mächtige moralische Wirkung. 3
In der I. Sammlung der 'Fragmente' versucht Herder die
Frage nach dem Ursprung der Sprache zu beantworten, und zwar
im Anschluß an Diderots 'Taubstummenbrief'. So unterscheidet
er eine natürliche und eine grammatische Wortfolge. Die natür-
liche (= logische) Wortfolge nennt zuerst den Gegenstand, dann
das, was man davon aussagt; sie hat keine Inversionen, und so
kann sie mit Recht eine 'philosophische' Wortfolge genannt werden.
(Vgl. SWS. I, 190—91 mit Assezat I, 3öl u. 360.) Herder hebt
die Wichtigkeit der Betonung hervor und führt ein Beispiel an:
'Ein Beispiel: Fleuch die Schiangel 'serpentem fuge ...'
ruft mir jemand zu, der mein fliehen
zu seinem Hauptaugenmerk hat, wenn 'L'homme peureux ne songe qu'au
ich nicht fliehen wollte. — Die serpent; mais celui qui craint moins
Schlange fleuch I ruft ein anderer, le serpent qua ma perte, ne songe
der nichts geschwinder will, als mir qu'ä ma fuite; Tun s'effraie, et l'autre
die Schlange zeigen; fliehen werd m'avertit.'
ich von selbst, so bald ich von ihr
höre ...' (SWS. I, 191 f.) (Assezat I, 364.)
Auch die Einteilung der Sprachgeschichte in drei Perioden er-
innert an Diderots drei Entwicklungsstufen der menschlichen Sprache
(I. Naturtöne und Gebärden; IL vernünftige Sprache; III. har-
monische Ausdrucksweise; vgl. SWS. I, 192 f. und Assezat I, 372).
— Schließlich teilt Herder Diderots Ansicht über die französische
Sprache, indem er sagt: '. .. für das poetische Genie ist diese
Sprache der Vernunft ein Fluch', und doch hat sie 'noch immer
viele Inversionen' (vgl. SWS. I, 194 f. mit Assezat I, 361, 370 — 72).
In seiner 'Abhandlung über den Ursprung der Sprache'
(1771) geht Herder weit über Diderot hinaus, doch stützt er sich
hie und da auf 'D'Alemberts Traum' oder auf den 'Taub-
stummenbrief. An jenen erinnert die Theorie der 'Naturtöne':
'Selbst die feinsten Saiten des Thie- 'Un animal etant un instrument
rischen Gefühls . . . Die geschlagne sensible parfaitement sembiable ä un
Saite thut ihre Natuqiflicht: sie autre, doue de U meme confor-
klingtl Sie nift einer gleichfüh- mation, monte des memes cor-
lenden Eciio .. .' des . . .'
'In allen Sprachen tönen noch Reste ' Aussi trouvez-vous les interjections
dieser Naturtöne ...' ... les memes dans toutes les lan-
(SWS. V, S. 5 f.) gues . . .' (Assezat II, 115—17.)
Die 'Abhandlung über den Ursprung der Sprache' enthält be-
reits eine scharfe Kritik des 'Taubstummenbriefes'; doch gibt es
manche Berührungspunkte zwischen den beiden Werken, so: 1) Be-
1 'Reisejournal', SWS. IV, 483 ff.
2 'Reisejournai', SWS. IV, 483, vgl. mit 'Entretiens sur le Fils naturel',
Assezat VII, 162 ff. 3 'Adrastea', SWS. XXIU, 343 ff.
74 Diderot und Herder
tonung des simultanen Auftretens mehrerer Ideen (Beispiel!); 2) Be-
nennung der Dinge nach ihren auffallendsten Eigenschaften; 3) Ein-
führung der rhythmischen Ordnung in die Sprache durch die Gebärden.
1) 'Bei sinnlichen Geschöpfen, die
durch verschiedne Sinne auf Einmal (Vgl. Assezat I, 370, 367.)
empfinden, ist diese Versammlung
von Ideen unvermeidlich . . .' 'Eine 'Monsieur, considerez l'homme
große wichtige Uhr, mit allen ihren comme un horloge ambulant ...'
scharfen Rädern . . . (^gleicht dem)
Menschen mit seinen Triebfedern . . .'
(SWS. V, 368.) (Assezat I, 368.)
2) 'Der Baum wird Rauscher, der
Wind Säusler, die Quelle Riesler
heißen ...'* (* Anm. nur in der spä-
teren Fassung.) 'Diderot ist ... kaum (Vgl. Assezat I, 350, 382.)
auf diese Hauptmaterie gekommen,
da er sich mit Inversionen . . . auf-
hält' (SWS. V, 60.)
3) 'Aber wie hat die Sprache ganz
ohne Grammatik bestehen können?
Da gab die große Einstimmung der
Geberden gleichsam den Takt, und
die Sphäre, wohin es gehörte . . . Grundgedanke bei Diderot.
Diese Weissagungskunst, aus einzel-
nen Zeichen Zusammenhang zu er-
rathen — wie weit können sie noch
nur Einzelne Stummen und Tauben
treiben!' (SWS. V, 86.) (Assezat I, bes. S. 35i.)
Natürlich kann aber bei Herder von einer sklavischen Nach-
ahmung nicht die Rede sein. Wenn Diderot ihm neue Gesichts-
punkte gibt, so hat Herder immer das Verdienst, diese Gesichts-
punkte seiner Anschauungsweise anzupassen; auch geht er in der
Mehrzahl der Fälle über seinen Gewährsmann hinaus und schuldet
ihm nichts mehr als einige Steine, mit denen er auf Grund selb-
ständiger Ideen sein Lehrgebäude schöpferisch errichtet, i
Debreczen. Johann Hankiss.
' In der Philosophie sind beide Vertreter des Leibnizschen Dynamismus ;
beide stehen im Rufe von 'Darwinisten'; vgl. K. Siegel: Herder als Philo-
soph, Stuttgart u. Berlin 1907. — L. Weis: Herder und die moderne Natur-
philosophie, 'Philos. Monatshefte', Bd. XIV (1878). — Fr. von Bärenbach:
Herder als Vorgänger Darwins, Berlin 1877.
Als Pädagogen betonen beide die Anschaulichkeit des Unterrichts und
den innigen Zusammenhang der Schule mit dem Leben; sie möchten die la-
teinische und die griechische Sprache wie moderne Sprachen behandelt wissen.
Nicht die Ausbildung des Verstandes, sondern die des Gemüts und der mo-
ralischen Anlagen des Menschen soll der Zweck der Erziehung sein. —
Doch können diese Übereinstimmungen höchstens als ein Beweis für die
geistige Verwandtschaft der beiden betrachtet werden, da Diderots pädago-
gische Schriften erst später erschienen sind (s. Assezat III u. IV).
Goethes älteste Gedichtsammlung.
Die im folgenden erörterten Betrachtungen, Probleme, Zweifel,
Ergebnisse traten mir zuerst im Sommer 1910 nahe, als ich
für Lietzmanns Sammlung kleiner Texte für theologische und
philologische Vorlesungen und Übungen einen Abdruck der
ersten, zunächst für Charlotte von Stein in der ersten weimari-
schen Zeit zusammengestellten handschriftlichen Gedichtsamm-
lung Goethes (in der Weimarischen Ausgabe mit H ^ bezeichnet)
auf Grund der 1908. in den Schriften der Goethegesellschaft er-
schienenen Faksimile-Wiedergabe vorbereitete und herausgab
(Bonn 1910). Daß in diesem Gedichthefte nicht alles von Goethes
Hand herrührt, lehrt auch schon eine oberflächliche Betrachtung,
besonders der Interpunktionszeichen, und auch dem Herausgeber
Wähle war das natürlich nicht entgangen, der bereits hervorhob
(S. 23): 'Auch die sehr mangelhafte Interpunktion ... ist von
einer fremden Hand gebessert und bereichert', und mit Recht
schon erwog, ob vielleicht Herder oder etwa Wieland hier als
mphr oder weniger pedantischer Korrektor anzunehmen sei. Ein-
gehendes genaues Studium nicht nur der Zeichen, sondern auch
der Texte im einzelnen und kleinsten lehrte mich, daß diese frem-
den Eingriffe an vielen Stellen noch tiefer reichen, als man zu-
nächst annehmen konnte, und daß Wähle in der Beurteilung
Goetheschen Eigentums an diesen Korrekturen vielfach nicht
skeptisch genug gewesen ist Ich bekam schließlich den schmerz-
lichen Eindruck, daß der Dichter sein ursprünglich als Gabe der
Liebe an die Freundin gedachtes und so auch von ihr empfange-
nes lyrisches Heft später recht unbarmherzig und grausam hat
zurichten lassen, ein Eindruck im kleinen, wie ihn die italieni-
schen Briefe im großen erwecken, bei denen Erich Schmidt tref-
fend von einer 'Objektivierung des Vergangenen' sprach, 'die
beim ersten Anblick etwas Erschreckendes hat und ohne welche
doch', wie er entschuldigend hinzusetzt, 'ein Leben und Wirken
wie das Goethesche undurchführbar wäre' ('Tagebücher und
Briefe Goethes aus Italien' S. XXIII). Das Ideal, das mir da-
mals bei meinem Abdruck vorschwebte, war kein anderes, als den
Versuch zu wagen, alle diese fremden Bestandteile der Hand-
schrift auszumerzen und die ursprüngliche Gestalt der Texte
wiederherzustellen, wie sie aus Goethes Feder geflossen waren,
ein Ideal freilich, das wie jedes Ideal im einzelnen unerreichbar
bleiben muß, so sehr auch der Annäherungsversuch gelungen und
der Wunsch erfüllt erscheinen mag. Wenn ich jetzt dazu komme,
das damals gegebene Versprechen einer genaueren Darlegung die-
76 Goethes älteste Gedichtsammlung
ser Probleme und Zweifel einzulösen, so sei es mir bei der Natur
der zu behandelnden Fragen, die in das Kleine und Kleinste der
philologischen Betrachtung hinabsteigen müssen, gestattet, den
Weg einer streng systematischen Methode zu vermeiden und, an
die einzelnen Gedichte, soweit ich sie zu behandeln vorhabe, an-
knüpfend, mich freier zu bewegen. Wem eine Untersuchung wie
die vorliegende wertlos oder überflüssig erscheint, dem halte ich
mit Bernays in seiner geistvollen Abhandlung 'Zur Lehre von
den Zitaten und Noten' ('Schriften zur Kritik und Literatur-
geschichte' 4, 345) Lessings Worte entgegen (Wie die Alten den
Tod gebildet: 'Sämtliche Schriften' 11, 3): 'Die Wichtigkeit ist
ein relativer Begriff, und was in einem Betracht sehr unwichtig
ist, kann in einem andern sehr wichtig werden. Als Beschaffen-
heit unsrer Erkenntnis ist dazu eine Wahrheit so wichtig als die
andere, und wer in dem allergeringsten Dinge für Wahrheit und
Unwahrheit gleichgültig ist, wird mich nimmermehr überreden,
daß er die Wahrheit bloß der Wahrheit wegen liebet.'
1. 'Mahomets Gesang.' Schon dies erste Gedicht gibt ein
deutliches Bild von den beiden in unserm Gedichthefte beleg-
baren Interpunktionsgruppen, der ursprünglichen, von Goethe
stammenden und der jüngeren, apokryphen, von fremder Hand
eingesetzten. Der junge Goethe war sehr sorglos in der Zeichen-
setzung, wovon man sich in Morris' 'Jungem Goethe' ein erschöp-
fendes Bild machen kann, und auch der mittlere und ältere, der
in der Regel ja diktierte, würde sich bei einem Schulmeister von
heute manche schlechte Zensur holen. Wir sind heute durch den
Schulunterricht in dieser Hinsicht logisch-intellektuell gebildet
oder vielleicht auch verbildet und gestatten metrisch-rhythmi-
schen oder Gefühlswerten keinen Einfluß auf die Interpunktion,
scheren daher auch poetisch-musikalischen und wissenschaftlich
abhandelnden, lehrenden und erzählenden Stil, auch Tempounter-
schiede, Staccato und Legato roh vernachlässigend, unbekümmert
über einen Kamm. Goethes Grundsätze auf diesem Gebiete ver-
dienten eine eingehende Untersuchung: dürftige Bemerkungen gibt
Lehmann ('Goethes Sprache und ihr Geist' S. 376), dem aller-
dings 1852 noch so gut wie gar kein handschriftliches Material
vorlag, brauchbare Burdach (Werke 6, 358; 'Goethes eigenhän-
dige Reinschrift des Westöstlichen Divan' S. 20), Minor (Werke
38, 189) und Schröder ('Göttinger Nachrichten' 1905 S.62). Im
Mannesalter setzt er in die Diktate seiner Schreiber mehr oder
weniger regelmäßig gegen unsre Gewohnheit Kommata ein, die
kurze phonetische Pausen am Ende von Sprechtakten markieren
sollen, und meidet umgekehrt Kommata, an die wir vom logischen
Standpunkte aus gewöhnt sind, an Stellen, wo offensichtlich weder
Goethes älteste Gedichtsammlung 77
damals noch heute eine Sprechpause vorhanden ist, wie z. B. vor
und nach dem Vokativ, vor dem Relativpronomen, vor und nach
der Apposition. Ausrufungs- und Fragezeichen, die er ihres
pathetisch-deklamatorischen Wertes wegen den farbloseren, mehr
logisch trennenden Zeichen gegenüber bevorzugt, sind nicht streng
geschieden, was sich aus der Beobachtung der lebendigen Sprache
ohne weiteres erklärt; Gänsefüßchen zur Hervorhebung direkter
Rede werden selten und ganz unregelmäßig gebraucht, wie noch
der sich an die Ausgabe C eng anschließende Usus der weimari-
schen Ausgabe zeigt. In der auch in diesem Betracht sorgloseren
Jugendzeit ist natürlich noch weniger System und Grundsatz zu
finden, und zumal bei Versen kommen höchstens, und auch das
unvollkommen, psychologisch-deklamatorische Absichten verein-
zelt zur Geltung. Vers- und Strophenschlüsse involvieren an
sich schon Pausen im Vortrag, da modernes, pseudo-realistisches
Verdecken und Verschmieren der metrischen Kola und der Vers-
grenzen glücklicherweise noch unbekannt war, bedürfen also
keiner Interpunktion. Die sprechenden Beweise für alle diese
Bemerkungen sind in Fülle den späteren Gedichten unsrer Hand-
schrift unschwer zu entnehmen, bis zu denen der zeichensetzende
Eifer der fremden Hand nicht vorgedrungen ist. Des Dichters
absolute Unbekümmertheit um dies äußere Gewand seiner Schöp-
fungen zeigt recht deutlich ein eine Liedersendung begleitender
Brief an den Herausgeber der 'Iris', in dem es heißt ('Der junge
Goethe' 4, 150): 'Interpunktieren Sie doch die Liedchen, wies dem
Leser am vorteilhaftesten ist.' Und Heinse, der die Korrekturen
der 'Iris' besorgte, entfährt denn auch in einem Briefe an Georg
Jacobi über Goethes 'Erwin und Elmire' der Stoßseufzer ('Sämt-
liche Werke' 9, 238): 'Jetzt hab' ich zween Bogen Korrektur vor
mir liegen, in Göthens Operette Komma, Kolon, Semikolon und
Punktum zu machen, Ausrufungszeichen in Fragezeichen zu ver-
wandeln, zz in tz und desgleichen.'
Ich sagte, schon das erste Gedicht gebe ein deutliches Bild
von den beiden Interpunktionsgruppen, der Goetheschen und der
fremden. Neben schlanken, zarten, graziösen Zeichen, die zu dem
Charakter der Schriftzüge selbst vortrefflich passen (Ausrufungs-
zeichen 3. 35. 36. 49. 52. 53. 56, Kommata 14. 51. 55. 58. 65),
stehen eckige, dicke, ungeschickte (Kommata 10. 23. 24. 36. 38.
40. 44. 46. 61. 62, Kola 25. 29. 32, Semikolon 42, Apostroph 44,
Ausruf ungszeichen 41 eingeklemmt. 48): nur jene sind aller
Augenscheinlichkeit nach echt, diese apokryph. Daß der Augen-
schein hier nicht trügt, kann zudem noch streng erwiesen werden.
Wähle hat (S. 10) gezeigt, daß der kleine Quartband mit Ab-
schriften Goethescher Gedichte aus dem Nachlaß der Frau von
Stein, von dem zuerst Düntzer ('Archiv für Literaturgeschichte'
78 Goethes älteste Gedichtsammlung
6, 96) Bericht gegeben hat, me schon die Anordnung zeigt, als
Kopie unsrer Handschrift anzusehen ist: er gibt also, von Ver-
sehen der Schreiberin abgesehen, unser Heft so wieder, wie es
sich vor dem Eingriff der fremden Hände darstellte. Ich habe
seinerzeit den ganzen Band bei Gelegenheit eines Aufenthalts in
Kochberg durchverglichen und dabei der Interpunktion der Kopie
besondere Aufmerksamkeit gewidmet: die Resultate dieser Ver-
gleichung kann ich in diesem Zusammenhange verwerten. In
unserra Gedicht nun hat die Kopie der Frau von Stein nur die""
oben als echt erkannten Interpunktionszeichen, während alle die-
jenigen fehlen, die sich dem Augenschein als apokryph ergeben
haben. Auch der Gedankenstrich 53, bei dem man zweifelhaft
sein konnte, wird durch die Kopie als echt erwiesen.
Die Kopie der Frau von Stein lehrt femer,. da auch sie die Les-
arten 'weitverbreiten' 39, 'über' 60 (vgl. Wähle S. 23) und 'SeegeF
67 hat, daß die an diesen drei Worten vorgenommenen Korrek-
turen jüngeren Datums sind. Sind sie überhaupt vom Dichter
selber vorgenommen? Zwar das 'vorüber' zeigt das für Goethes
Hand in allen Lebensaltern charakteristische, weit nach oben
ausladende v. Aber bei den beiden andern Korrekturen habe ich
ernste Zweifel: 'Seegel' schreibt Goethe auch in der 'Seefahrt' 15.
17. 32; warum sollte er es hier geändert haben? Die Einsetzung
von 'weitverbreiteten' für 'weitverbreiten' (der erste Druck im
Musenalmanach hat 'weitverbreit'ten') zerstört den Rhythmus, der
daktylische Versfüße prinzipiell ausschließt, ist also eine pedan-
tische, nur für das isolierte Wort gedachte Änderung, die einen
Vulgarismus oder eine altertümliche Freiheit ohne Rücksicht auf
die Deklamation beseitigt: ich glaube, man kann das dem Dichter
schwerlich zutrauen; auch die Züge der Buchstaben sind un-
goethesch. In der Göschenschen Ausgabe der 'Schriften' ist denn
auch 'ausgespannten' eingesetzt worden, d. h. die Altertümlich-
keit zwar beseitigt, aber der Rhythmus des Verses nicht zerstört.
— Zu beachten ist noch die Lesart 'Turne' 61, zumal sie im Les-
artenapparat der Weimarischen Ausgabe (2, 306) übersehen wor-
den ist. Der Musenalmanach hat 'Türme', was Lesefehler, aber
ebensogut auch eigenmächtige Besserung Boies sein kann. 'Turn'
ist die dem jungen und älteren Goethe geläufige Form, nicht nur
im 'Gottfried' und 'Götz von Berlichingen', wo die Quelle beein-
flussen konnte ('Der junge Goethe' 2. 214. 221. 225. 242. 243.
246. 255. 3, 186. 235. 241. 248. 251. 252. 262. 268. 274. 279. 280),
sondern auch sonst (ebenda 2, 301. 4, 8. 100. 5, 263. 291. 317),
selbst noch vereinzelt in italienischer Zeit (Tagebücher 1, 310;
Briefe 8, 230) und im 'Divan' (Werke 6, 269: vgl. ferner 8, 349.
356. 11, 402. 12, 364. 366. 13, 2, 176. 196. 271. 328. 332. 337.
18, 2, 110. 111. 151. 17, 343. 51, 29); ebenso 'Türner' ('Der junge
Goethes älteste Gedichtsammlung 79
Goethe' 2, 154. 227. 3, 17. 74. 184. 253; Werke 14. 227. 15,
2, 150).
Xoch weitere fremde Bestandteile sind in der Handschrift zn
erkennen, für die uns freilich leider die Kopie der Frau von Stein
keine Dienste als Kronzeugin leisten kann. Es ist längst bekannt,
daß Goethe bis ins höchste Alter (noch die durch das Faksimile
in den Schriften der Goethegesellschaft teilweise weiteren Krei-
sen bekannt gewordene Reinschrift des 'Divan' und zahlreiche
späte Niederschriften in lateinischen Buchstaben geben Belege)
die Eigenheit oder sagen wir ruhig Unart nicht loswurde, die
Umlautsbezeichnungen der Vokale, besonders der Majuskelvokale
nach Belieben hie und da wegzulassen, also mit andern Worten
o, 0. u statt ä, ö, ü zu schreiben (vgl. darüber und über die kri-
tische Behandlung solcher Fälle beim Abdruck von Handschriften
Schröders Ausführungen in den 'Göttinger Nachrichten' 1905
S.80). Unser lyrisches Heft bietet eine Fülle von Beispielen, die
in meinem Abdruck gebührenderweise in den Lesartenapparat
verwiesen worden sind. Das erste Gedicht zeigt hierin Verschie-
denheiten: neben der gewöhnlichen Umlautsbezeichnung durch
einen einzigen, mehr oder weniger deutlich runden oder eckigen
Kringel, die vom Dichter selbst herrührt, finden sich einmal (28)
zwei deutlich nebeneinanderstehende dicke Punkte, ein anderes
Mal (34, vgl. dasselbe Wort 'Gebürgen' 51) zwei deutlich neben-
einanderstehende zarte Strichelchen (ob 36 dieselbe Hand am
Werke war, möchte ich nicht mit absoluter Sicherheit behaupten).
Beide Bezeichnungsweisen weichen von dem vorher erwähnten
Usus Goethes ab, und gerade in solchen Kleinigkeiten, die ge-
dankenlos und völlig mechanisiert hingeschrieben zu werden pfle-
gen, hat jedes Individuum einen bestimmten Typus der Form
parat, nicht aber zwei, noch weniger gar drei. Diese Umlaute
sind also an den beiden zitierten Stellen sicher von der Hand
eines fremden Lesers, den das Fehlen der Umlautsbezeichnung m
'Bache' und 'Gebürgen' störte, eingesetzt worden. Kann man
wissen, von wem das geschehen sein mag? Herder, dessen Bei-
hilfe für die Interpunktion Wähle (S. 23) für möglich hält, ist
hier sicher ausgeschlossen, da er wie Goethe den einzigen Krin-
gel für die Bezeichnung der Umlaute verwertet, wie schon die
Faksimiles in Könneckes Bilderatlas zeigen. Dagegen melden
sich für die beiden sauberen Strichelchen, in Reih' und Glied
nebeneinandergesetzt, zwei Anwärter: Wieland und Frau von
Stein. In dem Faksimile aus Wielands 'Clelia und Sinibald' (bei
Könnecke S. 245) finden sich diese schlanken, pedantisch ge-
strichenen Strichelchen regelmäig über a, u und v (über o be-
vorzugt Wieland den einzigen Kringel, hatte also, wie es scheint,
für die verschiedenen Vokale verschiedene Typen parat); die
80 Goethes ältest« Gedichtsammlung
Kopie der Frau von Stein, die mit gleich spitzer Feder geschrie-
ben ist wie unsre Striche in Vers 34, zeigt durchweg diese zier-
liche Art der Umlautsbezeichnung. Spiegeln sich nicht in dieser
winzigen Kleinigkeit die Temperamente der vier Personen? Neben
Goethes und Herders Leidenschaftlichkeit steht Wielands etwas
pedantische Sorgfalt und Charlotte von Steins kühle Ruhe. Der
letzteren möchte ich persönlich die Verantwortung für die Zei-
chen, deren Fehlen ihr beim wörtlichen Abschreiben auch noch
intensiver als einem einfachen Leser auffallen mußte, noch lieber
zuschieben als Wieland, von dem wir nicht wissen, ob er über-
haupt jemals unser Ij^risches Heft in Händen gehabt hat; aber
wissen wir alles, was wir wissen möchten?
Damit aber auch nicht das kleinste Strichelchen unbeachtet
und unglossiert bleibe, werfen wir schließlich noch einen kurzen
Blick auf Vers 31: vor dem Worte 'silberprangend' findet sich
dort in der Höhe der Zeile der Ansatz eines Buchstabens, der
nach dem Duktus der Goetheschen Hand wohl nicht gut etwas
andres hat werden sollen und können als ein großes S. Das
Wort 'silberprangend' sollte also im ersten Moment mit großem S
geschrieben werden, wie wenn es einen Vers eröffnete, obwohl
es mitten im Verse steht. Man könnte hierin zunächst nichts wei-
ter als einen Beleg für eine orthographische Gewohnheit der da-
maligen Zeit erblicken, adjektivische Komposita, deren erster
Bestandteil ein Substantivum ist, groß zu schreiben: mir ist eine
andre Auffassung in diesem Falle wahrscheinlicher. Diese
Tatsache erlaubt uns, wie ich glaube, einen Schluß auf die Vor-
lage, aus der Goethe das Gedicht abgeschrieben hat. Wie hat
man sich überhaupt diese Vorlagen zu denken? Wähle läßt ihn
(S. 22) 'aus älteren Handschriften, aus Musenalmanachen, Mo-
natsschriften und sonstigen Werken, wo sie zuerst gedruckt wor-
den waren' die Gedichte abschreiben. Ich habe mich immer ge-
wundert, daß hier einer andern Möglichkeit, einer Niederschrift
aus dem Gedächtnis gar nicht gedacht wird, die mir mindestens
ebenso plausibel scheint, zumal eine solche bei der für die 'Iris'
bestimmte Gedichtsendung vom L Dezember 1774 ausdrücklich
bezeugt ist ('Der junge Goethe' 4, 150). Haben wir doch weiter
eine Äußerung Wielands gegen Böttiger aus dem November 1794,
worin er sich über sein schlechtes Versgedächtnis beklagt, sowohl
für eigene wie für fremde Dichtungen, und fortfährt (Böttiger,
'Literarische Zustände und Zeitgenossen' 1, 144): 'Ganz anders
sei es mit Goethe: dieser wisse fa^t alle seine Werke auf den
Nagel herzusagen; denn, setzte er hinzu, es sind Emanationen
seines Ichs, das er unbeschränkt lieb hat.' In dieser extremen
Form ist das natürlich übertrieben, auch muß man Wieland, der
besonders in Böttigers Gesellschaft gar zu gern lästerte, die bos-
I
Goethes älteste Gedichtsammlung 81
hafte Begründung zugute halten, aber der Kern der Behauptung
bleibt jedenfalls bestehen, daß Goethe viele seiner Dichtungen
frei reproduzieren konnte und nicht auf die Hilfe des Papiers
angewiesen war, sei dies nun beschrieben oder bedruckt gewesen.
Unser Gedicht jedenfalls wurde aus einer sichtbaren Quelle, nicht
aus dem Gedächtnis reproduziert: das beweist der verräterische
Ansatz des großen S. 'Mahomets Gesang' hat, was man natür-
lich längst beachtet hat (vgl. schon Wähle S. 16; ganz kürzlich
hat Seuffert in einem zu Steinmeyers 70. Geburtstag veranstal-
teten Privatdruck das ästhetische Problem dieses Form wandeis
feinsinnig behandelt), in unserm Heft eine Umarbeitung er-
fahren, bei der die ursprüngliche Dialogform verschwand und
auch in der Abteilung der Verse eine Reihe Änderungen ein-
traten (vgl. meinen Lesartenapparat). Das Wort 'Silberpran-
gend' nun bildete in der älteren Fassung einen Vers für sich und
begann daher mit großem S: eine Handschrift oder den Druck im
Musenalmanach hatte Goethe vor Augen, als er die umgearbeitete
Form des Hymnus in unser Heft eintrug, und aus einer rein
mechanischen Übernahme diesem großen S erklärt sich der momen-
tane Lapsus der Feder, der nicht über den ersten Anfang des
Buchstabens hinausgeführt wurde. So kann auch einmal ein
scheinbar bedeutungsloser Strich, philologisch ausgedeutet, wert-
voll werden und den AVeg zu einem Probleme weisen.
2. 'Wanderers Sturmlied.' Dies Gedicht zeigt ein ganz
ähnliches Bild wie das vorige: eine fremde Hand hat, wenn auch
nicht sehr ausgiebig, die Zeichensetzung bereichert durch Zei-
chen, deren äußere Form wieder in derselben Weise sich von
den echten, ursprünglichen Zeichen Goethes deutlich abhebt.
Auch hier sind die Xachhilfen der Interpunktion mehr gelegent-
lich, Konsequenz ist nirgends erstrebt. Als Bestätigung und
Kontrolle der Okularinspektion der Handschrift dient uns wäeder
die Kopie der Frau von Stein. Als apokrj^phe Kommata erwei-
sen sich so L 4. 23. 28. 45. 47. 48, mit einer einzigen Ausnahme,
die einem Relativsatz zugute kommt, sämtlich der logischen Ab-
trennung des Vokativs gewidmet. Apokryphe Fragezeichen
stehen 40 (dies sehr sonderbar gestaltete Zeichen sieht seiner sehr
eckigen Form nach am ehesten wie ein Fragezeichen aus, das
jemand aus einem ursprünglich vorhandenen Ausrufungszeichen
in ungeschickter Weise umgewandelt hat; die Feder erinnert,
zart und spitz, an die Umlautstrichelchen in 'Mahomets Gesang';
die Kopie der Frau von Stein hat hier allerdings keine Inter-
punktion). 44. 51, apokryphe Apostrophe 50. 106. Demgegen-
über haben als echte Interpunktionszeichen zu gelten die Kom-
mata 16. 25. 30. 39. 41. 43. 55. 72. 76. 81. 85. 90. 102. 108, die
Ausrufungszeichen 28. 29. 59. 61. 75. 76. 110. 111. 116, das
Archiv f. n. Sprachen. Sonderheft. g
82 Goethes älteste Gedichtsammlung
Fragezeichen 110, der Apostroph 108. Auch der Korrektor der
vernachlässigten Umlaute ist mit seinen zwei sorgsamen Strichel-
chen wieder ein paarmal zu erkennen (10. 49. 66. 89). — Bei"
Vers 15 'Über Deukalions Flutschlamm' findet sich am Rande
des Blattes ein Strich, dessen Wähle (S. 23) gedenkt, ohne eine
Erklärung zu versuchen. Ich glaube für diesen Strich mit voller
Sicherheit Frau von Stein verantwortlich machen zu können. Der
Name Deukalion, der obenein mit einem eher klein als groß zu
beurteilenden d geschrieben ist, in dem außerdem der M-Bogen
mit dem oberen Teil des h zusammengeflossen ist, war ihr ent-
weder ganz unbekannt oder doch nicht deutlich lesbar: sie setzte
daher, zumal auch auf dem Wege vom u zum k die Feder aus-
gesetzt hatte und ein kleiner leerer Zwischenraum entstanden
war, 'den Kaiions' in ihre Kopie, wie schon Düntzer ('Archiv' 6,
100) mitgeteilt hat, und scheute sich im beneidenswerten Bewußt-
sein ihrer, wie sie glaubte, richtigen Entzifferung nicht, durch
Einsetzung eines kühnen Bogens aus dem kleinen k ein großes
zu machen. Von ihrer Hand stammt dann natürlich auch der
Strich am Rande, der den Fehler des Schreibers wie im Extem-
porale eines Schülers markieren sollte.
An sechs Stellen finden sich Korrekturen im Texte, von
denen aber sicher nur zwei auf Goethe selbst zurückgehen, und
zwar stellen sie Änderungen dar, die unmittelbar nach der Nie-
derschrift vorgenommen worden sind, denn beide sind schon in
die Kopie der Frau von Stein m,it übergegangen. 43 ist 'um-
wärmend' für 'erwärmend' (im Lesartenapparat der weimarischen
Ausgabe 2, 310 ist fälschlich 'wärmend', die Lesart des ersten
Drucks in den 'Nordischen Miszellen' von 1810, auch als ur-
sprüngliche Lesart von H ^ angegeben) eingetreten; 68 hat der
Dichter das 'Grün', das er zunächst in Übereinstimmung mit
älteren Handschriften, (der an Jacobi und der an Sophie La-
roche gesandten: vgl. Werke 2, 310 und Steig im 'Jahr-
buch des freien deutschen Hochstifts' 1910 S. 337) geschrie-
ben hatte, wohl mit Rücksicht auf das im nächsten Verse un-
mittelbar folgende 'grünen' in 'Kraft' verändert. Anders steht
es mit den vier weiteren Korrekturen in unserm Gedicht, da sie
wiederum fremder Hand zuzuschreiben sind. 26 ist 'ziehen' in
'ziehn' geändert, wodurch der Rhythmus ohne Frage gebessert
ist, und das ist die Lesart geblieben seit der Ausgabe B, in der
Goethe das Gedicht, nachdem es 1810 unrechtmäßig veröffentlicht
war, zuerst aufnahm. Die ältere Lesart, wie sie uns die an
Sophie Laroche gesandte Handschrift und der Druck in den
'Nordischen Miszellen' übereinstimmend bewahrt haben, war
'ziehen sich die Musen': sie genügte durch den zugefügten Artikel
den rhythmischen Anforderungen, die dort die Verwandlung der
Goethes älteste Gedichtsammlung 83
zweisilbigen Verbalform in die einsilbige wünschenswert er-
scheinen ließen, und man muß die Möglichkeit offenhalten, daß
in unsrer Handschrift, die, wie wir noch sehen werden, höchst-
wahrscheinlich auf einer geschriebenen Vorlage beruht, der A'^ers
genavi so lautete und der Artikel nur durch ein A-^ersehen aus-
gefallen ist. 46 ist 'all' durch ein an der oberen Zeile beigesetztes
e in 'alle' geändert: das ist grammatische Pedanterie, wie sie
dem jungen Goethe völlig unmöglich war, mit dessen Sprach-
gebrauch dies unflektierte 'all', auf einen vorangegangenen Plu-
ral bezogen, durchaus übereinstimmt (ich verweise nur in un-
serm Heft auf 'Künstlers Morgenlied' 2 und 'AVanderer' 129);
auch beide vorhin genannten Handschriften haben 'all'. 49 er-
weist sich das e in 'umkränzende' dadurch als nachträglichen
fremden Zusatz, daß es nicht mit dem vorhergehenden d in einem
Federduktus geschrieben ist, sondern isoliert daneben steht (vgl.
die Endsilbe -de 30. 31. 35. 37. 91): obwohl alle sonstigen Hand-
schriften und Drucke 'umkränzende' haben, kann doch nur 'um-
kränzend' das richtige sein, denn die AVorte 'umkränzend Selig-
keit rings ums Leben' sind Apposition zu dem vorausgehenden
A^okativ 'Musen und Charitinnen' und feiern diese himmlischen
AVesen als diejenigen, die die Seligkeit wie einen Kranz rings um
das Leben herumlegen und dadurch alles im Dasein verherrlichen.
Endlich hat eine fremde Hand 58, wieder gegen den Rhythmus
des Averses. 'Phöb Apoll' in 'Phöbus Apoll' geändert, ohne 63 die-
selbe Schlimmbesserung einzuführen: gegen die übereinstim-
mende Lesart aller Handschriften ist diese pedantische Änderung
(und zwar merkwürdigerweise nur 58, während 63 'Phöb" ge-
setzt wurde) aus unserm Heft in B eingedrungen. AVer mag
diese Pedanterie auf dem Gewissen haben? Sicher wohl nicht
Frau von Stein, die Deukalion nicht kannte und der die antiken
Namen wie der gesamten Bildung der damaligen Zeit überhaupt
in erster Linie durch französische A^ermittlung bekannt waren.
Ich möchte sie am liebsten AVieland zutrauen, der beständig mit
den antiken Dichtern in den Ursprachen lebte und dessen sorg-
same Art am ehesten an einer solchen genialen AA^illkürlichkeit
Anstoß nehmen konnte.
Eine Lesart verdient noch unsre besondere Aufmerksamkeit,
weil sie wieder wie die 'Turne' in 'Mahomets Gesang' im Lesarten-
apparat der weimarischen Ausgabe (2, 310) übersehen worden
ist und weil sie uns eine überraschende und sehr sonderbare
Kühnheit der an der Antike herangebildeten und so rasch er-
starkten Odensprache des jungen Goethe (vgl. auch Hildebrand,
'Beiträge zum deutschen Unterricht' S. 92) allein aufbewahrt;
denn wenn man den Abdrücken ganz trauen darf, was ich gerade
in diesem Einzelfalle bei seiner Ungewöhnlichkeit nicht ohne
84 Goethes älteste Gedichtsammlung
Bedenken tun kann, findet sie sich sonst in keiner Handschrift
wieder (auch nicht 'Der junge Goethe' 2, 124). Der dritte Ab-
satz beginnt deutlich (18): 'Dem du nicht verLässest, Genius,
wirst die wollnen Flügel unterspreiten, wenn er auf dem Felsen
schläft.' In der im Anfang der Absätze mehrfach wiederkehren-
den Refrainzeile ist also der sonst überall stehende, in dem Rela-
tivsatz allein berechtigte Akkusativ des Pronomens von dem
Yerbum des Hauptsatzes, das eine dativische Beziehung verlangt,
in den Dativ gedrängt worden, da es zugleich Demonstrativum
und Relativum zu vertreten hat, eine grammatische Erscheinung,
die aus den klassischen Sprachen in den mannigfachsten Formen
bekannt ist und dort den Namen der Attraktion führt. Jakob
Grimm hat ihr eine seiner weitblickenden und feinsinnigen aka-
demischen Abhandlungen gewidmet ('Kleinere Schriften' 3, 312),
m der er sagt (S. 314): 'Attraktion, Bächen, ja Wassertropfen
ähnlich, die, m^o sie sich nähern, ineinander rinnen, gewährt die
ungehemmte Rede cler Griechen am meisten, wenigere schon die
lateinische . . . Deutsche Zunge, der von jeher, so weit ihre ge-
schriebenen Denkmäler reichen, Zwang angetan wurde, sei es
durch Steiflieit der Übersetzungen, sei es durch Verwahrlosung
oder beschränkte Regel der Grammatiker, kann oft nur Spuren
dessen, was dennoch nicht ganz in ihr unterging, zeigen. Gott-
sched und Adelung würden sich davor gekreuzigt haben, sie und
alle übrigen Sprachlehrer wissen gar nichts davon.' Daß Goethe
bei seiner 'Relativitätsliebe' ein Virtuose auf dem Gebiete der
Attraktion gewesen ist. wußten wir längst aus Lehmanns fleißi-
gen, leider in der Auffassung unsäglich pedantischen und oft
stark schulmeisterlichen Forschungen (S. 126): aber keiner der
dort besprochenen Fälle kommt dem unsrigen an Kühnheit auch
nur entfernt gleich, und auch aus sonstiger nhd. Literatur bringt
Grimms reiche Sammlung kein einziges entsprechendes Beispiel.
'Des Dichters eigene Hand erst macht auch das Ungewöhnlichste
glaubhaft' muß man hier mit Suphan (bei AVahle S. 5) sagen.
Welcher Vorlage hat Goethe das Gedicht entnommen, als er
es in unser Heft aufnahm? Ein Druck lag damals noch nicht
vor; mindestens drei Handschriften hatte er vor Jahren davon
aus der Hand gegeben, eine an Jacobi, im Original erhalten, eine
an Sophie Laroche, in der Kopie von Arnims Diener Frohreich
erhalten, eine vielleicht an Boie. die dem mehrfach glättenden und
damit das Verständnis erleichternden Abdruck in den 'Nordi-
schen Miszellen' zugrunde gelegt wurde, zu deren Redaktion Voß
Beziehuns^en hatte. Alle drei stimmen im wesentlichen wörtlich
überein (daß in der letzten einzelne Verse an zwei Stellen fehlen,
wird Versehen bei der Herstellung der Druckvorlage sein, was
mindestens für das Fehlen von 18 — 22 bei der durch die Refrain-
Goethes älteste Gedichtsammlung 85
zeile und ihre Wiederholungen leicht möglichen Abirrung des
Auges äußerst wahrscheinlich und auch für 67 — 70 möglich ist,
wo das Vorhandensein einer nicht mitgeteilten Stelle durch
Striche angedeutet wird) und stehen in mehrfacher Beziehung
unserm Text einstimmig gegenüber; abgesehen von einigen Diffe-
renzen in der Versabteilung wird der Eingangsvers 'Wen (den)
du nicht verlassest, Genius' hier nach 9. 17. 27 (sonderbarerweise
nicht auch nach 22) refrainartig wiederholt, so daß drei Absätze
entstehen, Strophen verschiedener Länge, die durch diese Refrain-
zeile je eingeleitet und abgeschlossen werden. In unserm Texte
ist diese Wiederholung am Schluß der Abschnitte aufgegeben,
und die gleichlautende Zeile leitet nun nur noch die vier ersten
Strophen der Ode ein. Meines Erachtens dürfen wir darin eine
Bearbeitung sehen, die der Dichter für unsre Niederschrift vor-
nahm, um eine gewisse Hypertrophie des begeisterten Stammeins,
die in der ursprünglichen Fassung vorhanden war, auf ein künst-
lerisches Maß zurückzuführen. Ich gebe dieser Auffassung vor
der andern Möglichkeit, es liege hier eine ältere Form des Ge-
dichts vor und die Wiederholungen seien vielmehr jüngerer Zu-
satz, den Vorzug. Eine Niederschrift nach dem Gedächtnis
scheint mir bei einem Gedicht von dieser Länge, das zudem ohne
leicht faßlichen und festhaltbaren Gedankenzusammenhang nur
auf den reißenden Wellen leidenschaftlichen Gefühlsüber-
schwangs dahinflutet, das sich als eine Augenblicksimprovisation
nicht nur gibt, sondern wirklich eine solche ist, so daß ihm der
Dichter selbst später die Bezeichnung Halbunsinn nicht ganz ohne
Berechtigung aufheften konnte (Werke 28, 119), absolut aus-
geschlossen. Die Niederschrift wird auf Grund einer Handschrift
erfolgt sein, die Goethe vorlag: so erklärt sich auch der sofort
berichtigte Schreibfehler in Vers 5 am ungezwungensten durch
ein versehentliches Abirren auf die folgende Zeile.
3. 'Künstlers Morgenlied.' Dies Gedicht gibt uns ein
Bild eines Textes mit echter Goethescher Interpunktion, die von
keiner fremden Hand beeinflußt und verbessert worden ist. Die
Zeichensetzung ist von der zurückhaltendsten Sparsamkeit: der
Punkt steht nur am Strophenschluß und fehlt auch da in einer
ganzen Reihe von Stellen, wo wir ihn heute unbedingt setzen
würden, aus der an sich richtigen Empfindung des Dichters her-
aus, daß der schon durch die bildliche Anordnung der Strophen
genügend gekennzeichnete Strophenschluß ganz von selbst Vor-
tragspausen involviert, eine Interpunktion also hier eigentlich
am wenigsten vonnöten ist; außer diesen Punkten finden sich in
den 80 Versen nur zehn Zeichen: die Apostrophe 14. 17. 55. 59.
die Kommata 26. 43 und die Ausrufungszeichen 37. 45. 51. 52,
sämtlich bestätigt durch die Kopie der Frau von Stein. Der
86 Goethes älteste Gedichtsammlung
Wortlaut des Textes zeigt kleine Abweichungen von dem ersten
Druck im Anhang zu Mercier- Wagners 'Versuch über die Schau-
spielkunst', die als Besserungen, wohl nicht als ältere Lesarten
aufzufassen sind (so besonders 28 'Götterhand' für 'Gottheit
Hand' und 29 'ab auf den Totenrogus' für 'rab auf den Leichen-
rogus'). Die versehentliche Vorausnahme der 16. Strophe, die
dem Dichter erst zum Bewußtsein kam, als er sie schon vollstän-
dig niedergeschrieben hatte, und dann durch Tilgungsstriche wie-
der gutgemacht werden mußte, deutet auf ein Abirren des Auges,
also auf eine sichtbare, vermutlich handschriftliche Vorlage.
Wenn 38 'Feinde Wut' in Teindewut' verbessert ist, so liegt da
wohl eine momentane Korrektur vor, die durch das ähnliche Kom-
positum 'Tränenwut' 44 in der folgenden Strophe veranlaßt
worden zu sein scheint (der erste Druck hat beide Male getrennte
Komposita). Auf die Bleistiftkorrektur im ersten Verse (Wähle
S. 24), der dann in der Göschenschen Ausgabe der 'Schriften' ge-
folgt worden ist, komme ich später bei Gelegenheit der Bleistift-
korrekturen im 'Bundeslied' zurück.
4. 'An Schwager Kronos.' Auch hier finden wir durch
das ganze Gedicht hin nur originale Interpunktion: die Aus-
rufungszeichen 2. 12. 27, die Kommata 6. 7. 28. 33. 34. 35. 39,
den Apostroph 8, den Gedankenstrich 23, das Kolon 39. Charak-
teristisch für Goethes Interpunktionsweise ist besonders das
Fragezeichen nach Vers 9, das wir nach unsrer streng logischen
Einstellung erst nach 11 setzen würden, da ja der gesamte, die
drei Verse umfassende Satz als Frage gemeint ist, ebenso wie wir
z. B. auch das Ausrufungszeichen nach 12 lieber erst nach 13 an-
bringen würden: bis in die Handschriften des Alters hinein pflegt
Goethe längere, durch ein Ausrufs- oder Fragepathos getragene
Perioden nicht als Einheit zu behandeln, sondern die starke,
pathetische Interpunktion schon nach der ersten rhythmischen
Sprechpause anzubringen und den Rest der Periode mit einem
einfachen Punkt abzufinden (man sehe beispielsweise 'Egmont'
AVerke 8, 291, 15, sowie die Lesarten der Berliner Handschrift
des Dramas zu 281, 8. 284, 8. 295, 2 und 'Tankred' 571. 573,
ferner 'Mahomet' 52, 'Iphigeuie' 1896, 'Tasso' 979; weitere Bei-
spiele geben die Tafeln 13 und 24 der aus der Reinschrift des
'Divan' für die Goethe - Gesellschaft faksimilierten Blätter,
ferner der Lesartenapparat des 'Divan' in der weimarischen Aus-
gabe, wo Burdach diesen Dingen besondere Aufmerksamkeit ge-
schenkt hat). Das einzige Apokryphe in der Interpunktion uns-
res Gedichts sind die beiden zarten Strichelchen des uns schon be-
kannten Umlautskorrektors, der 34 'schaumenden' und 36 'Holle'
verbessert, aber dicht daneben 'nachtliches' und auch 17 'über'
stehen gelassen hat, das im Verein mit der kühn des grammati-.
Goethes älteste Gedichtsammlung 87
sehen Sehemas spottenden Konstruktion dieses Verses Frau von
Stein zu dem Lesefehler 'Aber' verführt hat (vgl. 'Archiv' 6,
101). Die verwischte Bleistiftkorrektur, die in den drei Schluß-
versen die spätere Lesart der Göschenschen Ausgabe der 'Schrif-
ten' vorbereitet (Wähle S. 25), wird später beim 'Bundeslied' be-
sprochen werden.
5. 'Prometheus.' In dieser Ode ist der apokryphe Korrektor
wieder lebhafter tätig gewesen als in den beiden vorigen Ge-
dichten. Nach dem Augenschein, den die Kopie der Frau von Stein
bestätigt, sind echt Goethesch nur die Ausrufungszeichen 2. 5. 58,
die Kommata 7. 9. 36. 47. 52. 55, die Fragezeichen 32. 38. 42 und
der Apostroph 33; apokryph sind demgegenüber das Semikolon
18, die Kommata 19. 22. 23. 48, die Fragezeichen 30. 51 und das
Ausrufungszeichen 34. Der Korrektor der vergessenen Umlauts-
bezeichnungen ist Vers 14. 15. 18 in Tätigkeit getreten. Auch die
Verbesserung in Vers 45 ist von fremder Hand, denn 'Schicksaal'
ist die dem jungen Goethe geläufige Schreibweise (vgl. z. B. Briefe
3, 100); dagegen liegt 35 momentaner Schreibfehler und unmittel-
bare Korrektur vor. Fremde Besserungen finden sich dann noch
an drei Stellen: 24 ist 'kehrt' in 'kehrte', ebenso 48 'sollt' in 'sollte'
verändert, um den Präterital formen in schematischer Weise die
übliche schriftsprachliche Endung zu sichern, während 23 'wüßt'
unbehelligt stehengeblieben ist (der Schriftduktus setzt beidemal
hinter t aus, und das e steht unvermittelt daneben, vgl. dagegen
die Endung -te 31); ferner ist 47 ein 'du' eingeschoben. Alle drei
Änderungen sind apokryph, denn sie fehlen sowohl der Kopie der
Frau von Stein als der aus Mercks Nachlaß erhaltenen Hand-
schrift des Gedichts, und auch der spätere erste Druck in Jacobis
Spinozabuch, der sicher auf eine weitere, verlorene Handschrift
zurückgeht, kennt sie noch nicht.
6. 'Ganymed.' Wir haben das gleiche, uns nun schon ge-
läufige Bild. Echte Interpunktionszeichen sind: die bei dem lei-
denschaftlich-dithyrambischen Charakter der Ode besonders zahl-
reichen Ausrufungszeichen 3. 8. 10. 17. 20. 22. 26. 28. 29. 32, die
Kommata 12. 24 und das Fragezeichen 21; apokryph dagegen:
die Kommata 7. 13. 16. 31 und der Apostroph 9. Die Abweichun-
gen, die unser Text gegenüber dem Wortlaut einer erhaltenen
Einzelhandschrift darbietet, welche ihrerseits einer Kopie Luisens
von Göchhausen zugrunde liegt (vgl. Werke 2, 313), insbesondre
6 'Wärme' für 'Wonne', 27 'eurem' (momentan aus 'meinem' ver-
bessert) für 'deinem', das schon auf den Vokativ der Schlußzeile
vorausdeutet, und 32 'allliebender' für 'all freundlicher', sind als
Besserungen gegenüber einer älteren Fassung anzusehen, über
deren objektive Bewertung man freilich, mindestens bei 27, zwei-
erlei Meinung sein kann: so hat das Verhältnis der Texte meines
88 Goethes älteste Gedichtsammlung
Erachtens richtig schon Wolff ('Goethes Gedichte in ihrer ge-
schichtlichen Entwicklung' S. 570) aufgefaßt.
7. 'Menschengefühl.' Apokryph sind hier die den Vokativ
einschließenden Kommata 5 sowie die Korrekturen 1 und 5, die
Goethes charakteristische Orthographie von 'grose' und 'liesen',
die ihm durch die Eigenheit seines Dialekts nahegelegt wurde, in
dem es kein stimmhaftes s gibt, dieser spirantische Laut vielmehr
überall ohne Stimmton gesprochen mrd wie in ganz Ober- und
Mitteldeutschland, in die landläufigen Formen mit ss über-
führen. Über das Kreuz am Rande vgl. Wähle S. 23.
8. 'Eislebenslied.' Apokryph sind hier, wie die Kopie der
Frau von Stein erweist, die Kommata 3. 5. 6 und die Ausrufungs-
zeichen 5. 7 (nicht dagegen 4). Zu beachten ist noch eine fremde
Besserung im Schlußverse, die wieder im Lesartenapparat der
Weimarischen Ausgabe (1, 383) nicht erwähnt ist: statt des zwei-
ten 'brichts' hieß es ursprünglich 'bricht', wie die geklemmte
Stellung des eingeschobenen s und der unterbrochene Federduktus
(vgl. "krachts' 6 und die beiden andern 'brichts') deutlich zeigt.
Damit ist zugleich bewiesen, daß der erste Druck im Merkur vom
Februar 1776 nicht Goethes Vorlage gewesen sein kann, weil auch
er 'brichts' hat: die Verse dürften aus dem Gedächtnis nieder-
geschrieben sein. Das s hat ein fremder Leser im Streben nach
pedantischem Parallelismus eingesetzt, und Goethe ist leider in
der Göschenschen Ausgabe der 'Schriften' diesem Korrektor blind-
lings gefolgt.
9. 'Königlich Gebet.' Eine fremde Hand hat hier die Kom-
mata nach der Interjektion 1 und 3 und vor und nach dem Voka-
tiv 5 eingesetzt sowie das Ausrufungszeichen 3 eingeklemmt, um
schematische Gleichförmigkeit mit 1 zu erreichen. Über das Kreuz
am Rande vgl. Wähle S. 23.
10. 'Seefahrt.' In diesem Gedichte ist die Interpunktion rein
und unverfälscht geblieben, nur der Umlautskorrektor hat sich an
zwei Stellen mit seinen zwei zarten Strichelchen geltend gemacht:
er hat sich der umlautlosen 'Vogel' 29 erbarmt, wogegen das
ebenso heilungsbedürftige 'mannlich' 41 unberührt geblieben ist,
und hat im Eingangsverse 'Nacht' in 'Nacht' gebessert. Eine
andre, dicker fließende Feder nahm dann an der harten Elision
ihrerseits Anstoß und setzte schematisch 'Nächte' ein, wodurch
nicht nur der Parallelismus des sprachlichen Ausdrucks, sondern
auch der Rhythmus des Verses durch Einführung eines unpassen-
den Daktylus in den sicher und fest abgemessenen trochäischen
Schritt dieses prachtvollen Gedichts zerstört worden ist. Und
warum dieser verwundende Eingriff in das blühende, eigenartige
Leben eines Kunstwerks? Wiederum aus Pedanterie, weil wohl
'Taglang', nicht aber 'Nachtlang' in dem hier erforderlichen, übri-
Goethes älteste Gedichtsammlung 89
gens durcliaus nicHt mißzuverstehenden Sinne einer längeren
Reihe von Tagen (Nächten) in der gewöhnlichen Umgangssprache
gebräuchlich ist. Hier läßt sich nun der sichere Beweis führen,
\'on wem die zarten Umlautsstrichelchen herrühren, für die oben
bei 'Mahomets Gesang' noch Wieland und Frau von Stein als An-
wärter vorgestellt worden waren. Sie entstammen der Feder der
Frau von Stein, denn bereits ihre Kopie hat die Lesart 'Nacht'
(ohne e, nicht 'Nächte'), so daß sie an der metrischen Schlimm-
besserung unschuldig ist. Aber auch diese letztere muß schon sehr
früh in unser Heft hineingekommen sein, denn bereits die dem
ersten Druck im 'Deutschen Museum' vom September 1777 zu-
grunde liegende Abschrift hat mit einer weiteren erzpedantischen
Änderung 'Tagelang Nächtelang' (ebenso die aus Mercks Nachlaß
erhaltene Handschrift, die nichts andres als eine wertlose Ab-
schrift aus dem Museum ist und deshalb im Lesartenapparat der
Weimarischen Ausgabe 2, 311 ruhig hätte unberücksichtigt blei-
ben dürfen), während die an Lavater gesandte Handschrift mit
der ursprünglichen Lesart unsres Textes übereinstimmt (vgl. auch
Werke 1, 365). Die Feder, die das präteritale e eingeführt hat,
scheint mir nach Duktus und Farbe der Einträge dieselbe, die
auch die textlichen Änderungen in 'Mahomets Gesang', 'Wanderers
Sturmlied', 'Prometheus' und 'Eislebenslied' auf dem Gewissen hat.
A^ielleicht, wie mir an einer Stelle oben wahrscheinlich vorkam,
ist es Wieland, dessen Beziehungen zu Goethe gerade in den aller-
ersten Weimarischen Jahren am engsten und jedenfalls enger
waren als Mitte der achtziger Jahre, weshalb ich auch nicht mit
Wähle (S. 23) annehmen möchte, daß diese fremde Durchsicht des
Heftes in die Zeit fällt, wo der Dichter mit dem genaueren Plane
seiner in die Göschensche Ausgabe der 'Schriften' aufzunehmen-
den Gedichtsammlung sich beschäftigt hat, so nahe eine solche Ver-
mutung an und für sich liegen würde. Die ungeschlachten Inter-
punktionszeichen, die wir feststellen konnten, gehören weder der
Frau von Stein noch Wieland an; auch Herder, wie ich glaube,
haben wir keine zwingende Veranlassung als ihren Urheber an-
zusehen: vielleicht war hierbei überhaupt keine geistige Notabili-
tät, sondern ein Berufsmann der Feder am Werke, ein Schreiber
oder gelernter Kanzlist, der eine Druckvorlage vorzubereiten hatte.
11. 'Der Wanderer.' Auch hier ist die originale Inter-
punktion vollständig intakt erhalten: die deklamierend-patheti-
schen Zeichen sind in großer Zahl vorhanden, die logisch satz-
trennenden nur in geringer. Vers 150 ist 'Cuma' durch Einsetzung
von zwei zarten Strichelchen in 'Cumä' gebessert und zwar durch
Frau von Stein, deren Kopie bereits 'Cumä' h^t ('Archiv' 6, 103):
sie zeigt sich, hier besser in der antiken Nomenklatur orientiert als
oben bei Deukalion und kannte den Stadtnamen wohl von der
90 Goethes älteste Gedichtsammlung
Cumäischen Sibylle. Diese Korrektur hat aber in den vom Dichter
selbst veranstalteten Ausgaben seiner Gedichte keine Aufnahme
gefunden: alle sind vielmehr bei dem auch in allen älteren Hand-
schriften und im ersten Druck im Musenalmanach überlieferten
'Cuma', der italienischen Namensform für die Ruinen der antiken
Stadt, die Goethe allein geläufig gew^esen zu sein scheint und die
er auch Werke 40, 292 anwendet, geblieben. Der nach 124 in
unserm Text fehlende, in den Handschriften und im ersten Druck
sich findende Vers 'Du meines Lebens Hoffnung!' ist schwerlich
absichtlich gestrichen, sondern wohl nur bei der Abschrift aus
der Vorlage irrtümlicherweise übersehen worden: eine Aufzeich-
nung aus dem Gedächtnis scheint mir bei diesem Gedicht der
liänge wie dem poetischen Formcharakter nach nicht gut denkbar;
daß die Vorlage aber der Druck im Musenalmanach gewesen sein
müsse, wie WolfF (S. 499) behauptet, ist nicht zu erweisen, ob-
wohl Goethe schon im Mai 1773, wie er selbst sagt ('Der junge
Goethe' 3, 44), keine Abschrift mehr besaß.
12. — 25. Diese Gruppe von größtenteils kleineren Gedichten
darf ich zusammenfassen, da sie für unsre Betrachtung der Inter-
punktion und der Textgeschichte im einzelnen nur sehr wenige
Anhaltspunkte gewähren. Fremde, apokryphe Satzzeichen finden
sich nur in fünf Gedichten: in 12 ('Ein Gleichnis'), 13 ('Legende')
und 15 ('Freuden des jungen Werthers') sind zur Hervorhebung
der Reden, besonders des lebhaften Dialogs im ersten der genann-
ten Gedichte, ziemlich grobe Anführungszeichen eingesetzt wor-
den, in 12, 21 noch dazu sicherlich gegen den Sinn des Dichters,
der das Wort 'Mißgeburt' trotz des Ausrufungszeichens schwer-
lich als erregten Ausfall des Knaben gegen den grausamen Fuchs
gemeint hat, trotzdem diese Auffassung seit B in den offiziellen
Goethetext, offenbar aus unserm Hefte eingedrungen ist (der
erste Druck im 'Wandsbecker Boten' hat das Ausrufungszeichen
nicht); ferner erscheint der Umlautskorrektor und verbessert in
24, 21 'tummlich' in 'tümmlich', schwerlich richtig, da auch die
ältere Einzelhandschrift 'tummlig' hat, und in 25, 6 die uralaut-
losen 'Handlein'. Momentane Besserungen des Dichters selbst
liegen zweifellos vor: 19, 1 'ihr' statt 'ihrs', das wohl von dem
folgenden 'ichs' beeinflußt wurde, und 23, 2 'Man' statt 'Hch', was
in die Kopie der Frau von Stein bereits übergegangen ist. Da-
gegen erweisen sich die zweifellos von Goethe selbst eingeführten
Änderungen in 25 ('Anekdote unsrer Tage'): 17 'dem' statt 'mei-
nem', 27 'Und nur die allerschönste' statt 'Hätt' ich nur jetzo
meine' und 28 'Kann dich für uns' statt 'Wollt' sie für dich' als
spätere, die an die Stelle der Lesarten der ersten Drucke in Mer-
ci er- Wagners 'Versuch über die Schauspielkunst' und im Musen-
almanach zuerst die der Göschenschen Ausgabe der 'Schriften' ein-
Goethes älteste Gedichtsammlung 91
setzen, schon dadurcli, daß die Kopie der Frau von Stein sie alle
drei noch nicht hat. In demselben Gedicht beweist der auf Ab-
irrung des Auges beruhende Schreibfehler nach 7, daß die Nieder-
schrift nicht nach dem Gedächtnis, eine Möglichkeit, die sonst für
alle Gedichte dieser Gruppe zugegeben werden muß, sondern nach
einer Vorlage erfolgt ist. Die einzige Korrektur von fremder
Hand liegt 12, 9 klar zutage, wo das richtige 'dem' gegen den Sinn
des Dichters in 'den' geändert ist, denn der Dativ hängt von 'ver-
prahlt und verschwätzt' im folgenden Verse ab, nicht von 'ergötzt',
das hier adverbial im Sinne von 'auf ergötzliche Weise' steht. So-
weit in diesen Gedichten Lesarten begegnen, die von den vorauf-
liegenden ersten Drucken abweichen ' (vgl. im einzelnen meinen
Variantenapparat), haben wir es samt und sonders mit Besserun-
gen Goethes zu tun, eine Auffassung, die ich auch für den in 17
('Kenner und Künstler') nach 3 fehlenden Vers 'Der Mund noch
aufgeschwollen!' für die wahrscheinlichste halten möchte.
26. 'Bundeslied.' Dieses Gedicht, ursprünglich zur Hoch-
zeitsfeier des Pfarrers Ewald in Offenbach verfaßt, über den aus
späterer Zeit uns Varnhagen in seinen 'Denkwürdigkeiten des
eigenen Lebens' (5, 54) eingehend berichtet und der auch in Hum-
boldts Briefen an eine Freundin (1, 46. 54. 267. 301. 2, 300. 308.
396) vorkommt, ein echter Gelegenheitsgesang mit persönlichsten
Anspielungen auf lokale wie menschliche Verhältnisse, ist hier
im Gegensatz zu dem ersten Druck im Merkur vom Februar 1776
einer Umarbeitung unterzogen worden, die die Tendenz verfolgt,
unter Beseitigung jener allzu persönlichen Elemente (man beachte
besonders den Wegfall der auf Goethes nahen Abgang nach Italien
deutenden Schlußstrophe) die ephemere Gelegenheitsschöpfung in
die höhere Sphäre des gesellschaftlichen Festgesanges zu erheben
(vgl. darüber Wolff S. 660). Fremde Interpunktion macht sich
nur in den beiden Kommata 3 und 27 bemerklich: im übrigen ist
die originale Zeichensetzung erhalten und unversehrt geblieben.
An drei Stellen finden sich momentane Korrekturen: 7 hatte
■Goethe erst mit seh zu dem Worte 'schnellen' angesetzt, der Les-
art des Merkur, ersetzte das aber sofort durch 'reinen', ein deut-
licher Beweis, daß die Merkurfassung ihm vor Augen lag, das
Gedicht also nicht aus dem Gedächtnis niedergeschrieben ist, was
sich mit der umarbeitenden Tendenz sowieso nicht gut vertragen
hätte; 19 ist 'der' in 'die' verwandelt, da der Goethes sonstigem
Sprachgebrauch besser entsprechende Genetiv bei 'genießen' im
folgenden Verse eine gleiche, nur mit Schwierigkeiten zu ermög-
lichende, weil tiefer greifende Änderung nötig gemacht haben
würde (die Kopie der Frau von Stein bietet trotzdem 'der freien',
ohne an dem Wechsel der Konstruktion, der dadurch entsteht,
Anstoß zu nehmen, zu dem rückläufigen Mißverständnis der
92 Goethes älteste Gedichtsaniinlung
Goethesclien Korrektur wohl auch durch das 'freie' verführt, das
fast wie 'freiii' aussieht: vgl. 'Archiv' G, 106); 29 war versehent-
lich 'geenget' aus 31 statt 'gedränget' eingedrungen. Eine vierte
Korrektur, die Ersetzung der älteren Lesart 'Ringsum mit freiem
Blick' 26 durch 'Mit freiem Lebensblick', ist dagegen erst einer
späteren Zeit zuzuschreiben, da sie in der Kopie der Frau von
Stein sich noch nicht findet.
Ferner weist das 'Bundeslied' an drei Stellen (vgl. die faksimi-
lierte Wiedergabe bei Wähle S. 24. 25) stärkere bessernde Ein-
griffe auf, die teilweise die Lesarten der Göschenschen Ausgabe
der 'Schriften' vorausnehmen und mit Bleistift eingezeichnet sind.
Diese Bleistifteinträge werden von Wähle (S. 23) mit einer zwei-
felsfreien Sicherheit dem Dichter selbst zugeschrieben, in der ich
ihm nicht folgen kann: nach meiner Ansicht haben wir hier wie-
der eine fremde, leider unbekannte Hand am Werke zu sehen. Es
muß allerdings zugegeben werden, daß mit einer gewissen Diffe-
renz der Schriftzüge eines und desselben Schreibers unbedingt zu
rechnen ist, für die die Verschiedenheit des beim Schreiben ver-
wendeten konsistenten Materials verantwortlich ist: Gänsefeder-
züge und Bleistiftzüge derselben Hand sind nicht ohne weiteres
genau und vollkommen identisch. Trotzdem aber kann ich den
Glauben nicht aufbringen, daß die Hand, die diese drei Einträge
und die ganz konformen in der Eingangszeile von 'Künstlers Mor-
genlied' und in den Schlußzeilen vom 'Schwager Kronos' (vgl.
oben S. 86) gemacht hat, Goethes Hand sein soll. Der Eindruck
des Schriftduktus und die Buchstabenformen weichen zu sehr von
den Formen und dem gewohnheitsmäßigen Duktus des Dichters
ab: der Korrektor vermeidet, was ein prinzipieller Unterschied
von, wie ich glaube, allergrößter Bedeutung ist, alle w-Bogen fast
ausnahmslos ('euch', 'aufgebaut', 'treuen' 'erneuert', 'unser'; nur
'auf hat einen solchen) ; in der Verbindung uf ('aufgebaut', 'auf')
setzt das / immer mit einer deutlichen offenen Schlinge an das u
an, während Goethe den Ansatz mit einem einfachen deutlichen
Strich ohne Schlinge nimmt (vgl. die vielen 'auf in unserm Ge-
dichtheft: Wanderers Sturmlied 20. 68. 112; Künstlers Morgen-
lied 19. 29. 33. 39. 47. 72; Schwager Kronos 11. 12. 22; Ganymed
22. 28. 30; Seefahrt 26. 36. 44; Wanderer 21. 31. 72. 168; Gleich-
nis 24; Legende 12; Freuden Werthers 7; Ein Reicher 6; Christel
6. 10, 12; Anekdote 14; Bundeslied 11. 13; Jägers Nachtlied 15:
Zu einem gemalten Band 4.5; ferner: 'Lauf Mahomets Gesang 26;
'gehäuft' Künstlers Morgenlied 30; 'lüften' Schwager Kronos 41;
'Häuflein' Freuden Werthers 8; 'Ruf Anekdote 25; 'luftig' Zu
einem gemalten Band 4); die Form des r ('treuen', 'erneuert')
weicht völlig von der Goetheschen ab: 'was' hat nicht den für
Goethes Hand zeitlebens so charakteristischen, weit nach oben
Goethes älteste Gedichtsammlung 93
nusindonden Bogen des w. Ferner ist dieser Korrektor von einer
•geradezu fatalen Undeutlichkeit, so daß manche Lesarten nur von
dem späteren Text der 'Schriften' aus suggestiv beurteilt einen
Sinn geben und man ernstlich zweifeln darf, ob wir recht daran
tun, uns in den unlösbaren Bann dieser Suggestion zu begeben:
an der einzigen Stelle, wo dies maßgebende Korrektiv mangelt,
bei dem als 'gut' gelesenen Worte in Vers 8, tritt schon bei Wähle
ein nur zu sehr berechtigtes Fragezeichen auf, da der Rhythmus
des Verses durch die Einsetzung eines so stark betonten, wichtigen
Wortes in die Senkung eine Goethe schwer oder gar nicht zu-
zutrauende Holprigkeit bekommt; aber z. B. 'alles' ist mindestens
ebenso zweifelhaft als jenes fragliche 'gut', das ebensogut 'mit' wie
'Gott' heißen könnte. Wer diese Änderungen vorgenommen hat, weiß
ich nicht: daß sie nicht vom Dichter herrühren, scheint mir sicher.
27. 'Jägers Nachtlied.' 28. 'Zu einem gemalten
Band.' Beide Gedichte geben zu Bemerkungen fast keinen An-
laß. 27, 7 liegt wohl ein momentaner Schreibfehler vor: dem Dich-
ter kam aus Versehen 'dein' statt des richtigen 'mein' in die Feder,
aber der Ansatz zu diesem Worte 'de' wurde sogleich wieder ge-
strichen. Die Fassung des Schlußgedichts, das im Sesenheimer
Liederbuch in einer mehrfach abweichenden und außerdem um
eine Strophe längeren Form erhalten ist, entspricht der seinerzeit
für die 'Iris' aus dem Gedächtnis aufgezeichneten (vgl. 'Der junge
Goethe' 4, 150) bis auf eine Stelle in Vers 7, wo charakteristischer-
weise statt des 'eilet', das der Abdruck der 'Iris' bietet, das ur-
sprüngliche 'tritt sie' aus der dunklen Tiefe des Gedächtnisses
wiederaufgetaucht ist, das drei Jahre früher verloren war und
durch eine Variante ersetzt wurde.
Ich fasse die Ergebnisse meiner Untersuchung noch einmal
kurz zusammen. In dem für Frau von Stein zusammengestellten
Gedichtheft sind außer der Hand des Dichters vier verschiedene
fremde Hände festzustellen. Frau von Stein, die erste Leserin der
Sammlung, hat bei Gelegenheit einer Kopie, die sie wohl bald
nach Empfang der Urschrift für sich selbst anfertigte, die fehlen-
den Umlautszeichen in einer größeren Zahl von Fällen nach-
getragen (Nr. 1. 2. 4. 5. 10. 11. 24. 25). Kurz darauf hat eine
zweite Hand, vielleicht Wieland, eine kleine Anzahl von Text-
änderungen vorgenommen (Nr. 1. 2. 5. 8. 10). Später hat eine
dritte Hand, vielleicht ein Schreiber oder Kanzlist, die Inter-
punktion einiger Gedichte revidiert und bereichert (Nr. 1. 2. 5 — 9.
12. 13. 15. 26). Von einer vierten, unbekannten Hand rühren ver-
einzelte, in den Wortlaut der Texte tiefer eingreifende Bleistift-
korrekturen her, die fast durchweg vom Dichter für die Göschen-
sche Ausgabe der 'Schriften' adoptiert wurden (Nr. 3. 4. 26).
94 Goethes älteste Gedichtsammlung
Endlich hat dann auch Goethe selbst an wenigen Stellen spätere
Besserungen angebracht (Nr. 1. 25. 26). *
Die chronologische Frage, wann die Sammlung entstanden ist,
läßt sich durch das Gedicht 'Seefahrt' (Nr. 10) einwandfrei und
vollständig lösen. Den Terminus a quo gibt das Datum der Ent-
stehung dieses Gedichts, 11. September 1776, mit dem es in un-
serm Hefte unterschrieben ist. Als Terminus ad quem muß der
Juli 1777 gelten, da nach meiner obigen Darlegung (S.88) die
Doppelkorrektur 'Nächtelang' statt des ursprünglichen 'Nacht-
lang', an der Frau von Stein und Wieland beteiligt sind, schon in
den ersten Druck im 'Deutschen Museum' vom September dieses
Jahres, also in die diesem zugrunde liegende handschriftliche Vor-
lage übergegangen ist: Anfang August war Boie damit beschäf-
tigt, das Manuskript für das Septemberheft in Ordnung zu bringen
(vgl. 'Briefe von und an Bürger' 2, 105). Wenn Wähle (S. 10)
unser Gedichtheft als eine Art Fortsetzung einer Sendung von
'allerhand Schreibereien meiner ersten Jahre' ansehen möchte, die
Goethe am 1. Juni 1777 seiner Freundin übermittelte (vgl. Briefe
3, 158), so ist das nicht zwingend, denn das Heft kann ebensogut
vor dieser Sendung zusammengestellt und Frau von Stein ge-
widmet worden sein. Jedenfalls aber zwischen September 1776
und Juli 1777 fällt sowohl die Sammlung selbst als auch die
Durchsichten der ersten Besitzerin und Wielands, während für die
übrigen fremden Einzeichnungen kein genauerer Terminus ad
quem zu ermitteln ist als Goethes Abreise nach Italien.
Zur Beurteilung der Vorlagen, die der Dichter benutzt hat,
stelle ich zum Schluß noch zusammen, an welchen Stellen die bis
dahin bekannten Gedichte zuerst gedruckt worden sind:
Musenalmanach: Nr. 1. 11. 17. 18. 25:
Mercier-Wagners 'Versuch über die Schauspielkunst': Nr. 3.
17. 25;
Merkur: Nr. 8. 21. 24. 26. 27;
Museum: Nr. 10;
Wandsbecker Bote: Nr. 12. 16. 18;
Iris: Nr. 22. 28.
Alle übrigen Nummern (2. 4—7. 9. 13—15. 19. 20. 23) waren
ungedruckt. Wenn nun auch natürlich Musenalmanach und Mer-
kur in Weimar für Goethe leicht zu erreichen waren, wenn er sich
darum umtat, so bleibt doch beachtenswert, daß, wie mir vom
Goethe-Nationalmuseum auf meine Anfrage freundlichst mit-
geteilt wird, sich in seiner nachgelassenen Bibliothek kein ein-
ziges der angeführten Bücher vorfindet.
Jena. Albert Leitzm ann.
Schlemihle.
Eine Studie zum Fortleben des Chamissoschen Märchens
in Deutschland und England.
Cbamissos Märchen. — Möglichkeiten der Weiterbildung: das Schatten-
motiv, Schlemihls Persönlichkeit, die Gestalt des Pechvogels. — Motiv-
nachbildungen: das verkaufte Spiegelbild (E. T. A. Hoffmann) und sein
Kreis, das verkaufte Herz (Hauff) und sein Kreis. — Wiederaufnahme der
Schlemihlgestalt: im Drama, in der erzählenden Dichtung. — Neue Motiv-
nachbildungen: der verkaufte Magen, der verkaufte Schlaf, der verkaufte
Namen, das verkaufte Genie u. a. — Englische Schlemihle: der verkaufte
Appetit (Besant), die verkaufte Jugend (Wells), der verstoßene Schatten
(Wilde). — Eine dänische Parallele: Andersen. — Schlemihl als Pechvogel:
in rein komischer Auffassung (F. Th. Wangenheim, D. Kaiisch), als tragi-
komische Gestalt: der jüdische Typus (Kompert) ; in tragischer Auffassung:
als Symbol der Vaterlandslosigkeit (D. Mendl, J. G. Meyer), als Symbol
der Dekadenz (Schaukai).
Chamissos Feter Schlemihl gehört zu den nicht allzu zahlreichen
Werken unserer Dichtung, die ihren Weg in die Weltliteratur
gefunden haben, nicht nur in dem Sinne, daß er weit über die
Grenzen der deutschen Sprache gedrungen ist, sondern auch in
dem anderen Sinne, daß er lebendig geblieben ist durch allen
Wechsel des Geschmacks hindurch und damit eben zum festen
Besitz in erster Linie unseres Volkes, aber nicht bloß unseres
Volkes geworden ist. Dies Kindermärchen, das so gar nicht ehr-
geizig, schier als gelegentlicher Versuch seines Verfassers auf-
tritt, ist frisch geblieben wie am ersten Tage, es hat eine dichte-
rische Gestalt geschaffen, die groß und klein vertraut ist, unter
seiner Mitwirkung ist der Name Schlemihl zur Bezeichnung eines
Typus geworden, der zwar schon vor seinem Helden da war, nun
aber mit Vorliebe den Namen trägt, der durch Chamisso volks-
tümlich geworden ist.
Die Forschung hat diese Nachwirkung der Dichtung bisher
nur gestreift — wo sie länger beim Veter Schlemihl verweilte,
hat eine andere Frage sie stets von neuem beschäftigt: die Be-
deutung des Schattensymbols. Und gewiß ist diese Frage an-
ziehend genug; zwar hat Chamisso 1829 selbst erklärt, sein Schle-
mihl sei durchaus nicht Erzeugnis genauer Berechnung, er wolle
überhaupt selten etwas mit der Poesie: 'Ich hatte auf einer Reise
Hut, Mantelsack, Handschuhe, Schnupftuch und mein ganzes be-
wegliches Gut verloren; Fouque frug, ob ich nicht auch meinen
Schatten verloren habe, und wir malten uns das Unglück aus.'^
Aber damit ist natürlich nur der zufällige Anstoß zur dichteri-
1 "WcrTcc V 31.5 (ich zitiere nach der überall wohl am bequemsten zu-
gänglichen Ausgabe Sydows in der Goldenen Klassiker- Bibliothek).
96 Schlemihle
sehen Sehöpfung bezeichnet; das so gegebene Motiv gewährte die
unvergleichliche Möglichkeit, sehr persönliche Stimmungen, die
Frucht eines ganz eigenen Lebenslaufs und besonderer Anlage
zu gestalten, diese waren bestimmend für den Gesamtcharakter
des Märchens, und ihnen nachzuspüren behält seinen Wert für
die Kenntnis Chamissos und die eindringlichere Auffassung sei-
nes Werkes; mit der künstlerischen Freude daran hat freilich
eine besondere Bedeutung des Schattens nichts zu tun. Stellen
wir es nur fest: was dem Chamissoschen Schlemihl seinen unver-
geßlichen Zug verleiht, ist die Tatsache, daß Peter eben seinen
Schatten, seinen richtigen, natürlichen, schönen schwarzen Schat-
ten verkauft, und bezeichnend ist, daß, wie auf der einen Seite
man zwar für den Schattenverlust die eine oder andere Parallele
aus dieser und jener Sage nachgewiesen hat, aber doch weder das
durch Körners Gedicht wohlbekannte Abenteuer des Studenten
von Salamanca noch die Geschichte vom Schatten des schottischen
Grafen, die Lyser-^ erzählt, als Quellen Chamissos angesprochen
werden können, auf der anderen Seite für einen guten Teil von
Peters Nachfahren eben der Schattenhandel charakteristisch ge-
worden ist. Das heißt denn doch, daß nicht so sehr irgendeine
tiefere Bedeutung die Phantasie der jüngeren Geschlechter an-
regte, als ein eigentümliches dichterisches Motiv und die Person
seines Trägers. Von dieser Seite möchte ich nun Chamissos Werk
betrachten: hat man es bisher nur in Beziehung gesetzt zu seinem
Schöpfer und darüber hinaus es betrachtet als Erzeugnis einer
bestimmten Zeit der deutschen Literaturgeschichte, so möchte ich
nach Maßgabe meiner Kenntnis zeigen, wie es auf gleichzeitige
und jüngere Schriftsteller eingewirkt hat, und damit eine Vor-
stellung von seinem Nachleben in unserer Literatur geben.
Bisher sind diese Dinge nur gestreift worden. Am meisten
Beachtung hat noch, wie natürlich, die Tatsache gefunden, daJ3
E. T. A. Hoff mann ein Seitenstück zum Feter Schlemihl ge-
schrieben hat; von zwei Fortsetzungen, die man ihm gegeben hat,
sagt Oskar Walzel am Schlüsse der Einleitung zu seiner Cha-
misso-Ausgabe (in Kürschners Deutscher Nationalliteratur) ein
paar knappe Worte; vor allem hat in der zweiten Ausgabe von
Goedekes Grundriß Bd. 6 E. F. Koßmann in seinem Cha-
misso-Artikel aufgezählt, was ihm an Nachbildungen u. ä. be-
kannt war. Er nennt ohne weitere Charakterisierung Hoff-
m a n n s Novelle Bas verlorene Smegelhild, Andersens Mär-
chen Der Schaffen, ein anderes Märchen von Fr. Brunold, ein
Zaubersuiel Der Vuzlividi von F. Rosen au. eine Posse Teter
Schlemihl von D. K a 1 i s c h , Fortsetzungen des Stoffes von F r.
1 Abendländische 1001 Nacht. Meißen 1838—39. Bdch. 1/2.
Schlemihle 97
Förster und L. Becli stein, eine (mir leider unbekannt ge-
bliebene) holländische Behandlung von C. E. van Koetsveld
Zonder schaduw und ein Buch von Friedrich Riedel Teter
Schlemiel und sein Sohn, ein Zeit- und Charakterbild aus den
Ländern Bimbam und Bivbav, Frankfurt und Leipzig 1839.
Ich kann die Liste, wie sich zeigen wird, nicht unbeträchtlich
vermehren, jedoch wird zunächst in ihr der letzterwähnte Titel
zu streichen sein. Zunächst kann Riedels sonderbares Erzeug-
nis nicht als Werk der Dichtkunst gelten, und überdies steht es
mit unserem Schlemihl nur im alleräußerlichsten Zusammenhang.
Es gibt sich als die wahre Biographie seines Helden, der bei Cha-
misso als Selbstbiograph 'aus der interessantesten Periode seines
Lebens alle Tatsachen klüglich verschleiern mußte, die auf seine
Gestalt und Beschaffenheit entfernt einen Schatten werfen'; ein
Grund zu dieser Anknüpfung ist aber sachlich nirgends zu sehen,
sie ergab sich anscheinend nur aus einem zufälligen Namens-
anklang. Es handelt sich nämlich um eine gegen eine ganz be-
stimmte Persönlichkeit gerichtete Schmähschrift: die üblen Spe-
kulationen eines jüdischen Emporkömmlings mit ihren Folgen
für Bamberg ('Bimbam') und weiterhin ganz Bayern ('Bivbav')
werden in Form einer Lebensbeschreibung geschildert. Wer ge-
meint ist, lohnt sich bei dem Tiefstand des ganzen sträflich un-
geschickten und langweiligen Geschreibsels nicht festzustellen;
der Name des Angegriffenen wird damit erklärt, daß er ihn sich
bei seinem Übertritt zum Christentum aus denjenigen seiner Paten
Schlemmbold und Gabriel zusammensetzte. Zum Schluß ist
Schlemiels Rolle in Bivbav ausgespielt; er läßt ein falsches Be-
gräbnis veranstalten in der Absicht, in Wien ein neues Leben an-
zufangen — das deutet auf einen geplanten zweiten Teil hin, in
dem wohl auch der Sohn, der zwar im Titel, nicht aber im Text
genannt ist, eine Rolle spielen sollte. Daß dieser zweite Teil nicht
erschienen ist, kann man nach dem Charakter des ersten weder
ein Wunder noch einen Schaden nennen.
Gegenüber einem solchen Eindringling in die Familie der
Schlemihle empfiehlt es sich, zunächst zu bestimmen, was für Züge
ihre echten Mitglieder tragen müssen. Der bloße Name wie bei
Riedel tut es nicht: er muß entweder wirklich anzeigen, daß es
sich um denselben Helden handelt wie bei Chamisso, so daß also
die Erlebnisse des neuen Schlemihl zu denen des alten in irgend-
welcher Beziehung stehen, oder aber er ist nicht als Personen-,
sondern als Gattungsname aufzufassen. Dabei besteht die Ähn-
lichkeit entweder im Erlebnisse des Helden oder im Charakter.
'Im ersten Fall heißt der Held gar nicht Schlemihl, aber er ist
Träger des bezeichnenden Motivs: wie dpr Urschlemihl seinen
Schatten, so verkauft der Vetter irgendein Besitztum, das seiner
Archiv f. n. Sprachen. Sonderheft. 7
98 Schlemihle
eigentlichen Natur nach unverkäuflich ist, weil es nach aller Er-
fahrung zum Menschen untrennbar gehört. Im zweiten Fall han-
delt es sich um Leute, die ihr Schilderer selbst gern als Schlemihle
bezeichnet, weil sie mit ihrem erlauchten Namensgeber die Eigen-
schaften teilen, an welche man bei seinem Namen denkt.
Um diese näher zu bezeichnen, können wir von einer brief-
lichen Äußerung Chamissos^ an seinen Bruder ausgehen. Da
heißt es, daß Schlemihl in der gewöhnlichen Sprache der Juden
die Benennung von ungeschickten und unglücklichen Leuten sei,
denen nichts in der Welt gelinge. Ein Schlemihl breche sich den
Finger in der Westentasche ab, er falle auf den Rücken und breche
sich das Nasenbein, er komme immer zur Unzeit. Selbstverständ-
lich hat . Chamisso diesen Namen für seinen Helden mit gutem
Grund gewählt, aber trotzdem scheint mir für den Blick des un-
befangenen Lesers das Pechvogeltum nicht seine hervorstechendste
Eigenschaft zu sein: Peter Schlemihl verkauft seinen Schatten
für die Aussicht auf unbegrenzten Reichtum ; wenn es ihm schlecht
bekommt, so ist das aber nicht nur sein Pech, sondern in der mo-
ralischen Welt des Märchens wird ihm doch auch seine Schuld
heimgezahlt — sie sühnt er mit seinem ganzen späteren Leben.
Also die dichterische Gestalt deckt sich durchaus nicht ganz mit
Chamissos Erläuterung des Begriffs, in dem von Schuld keine
Rede ist; im übrigen wollte der Dichter mit jenen Worten auch
nur sagen, was sich Juden in ihrer Ausdrucksweise unter einem
Schlemihl vorstellen, er wollte den Namen, nicht das Wesen sei-
nes Helden erklären. Wo nun aber späterhin dichterische Ge-
stalten auftauchen, die wir ihrem Wesen nach als Schlemihle be-
zeichnen, da sind sie Pechvögel derart, wie sie der Brief be-
schreibt, Vertreter eines persönlich schuldlosen Schlemihltums.
Sehr hübsch deutlich macht diesen Begriff des Schlemihltums
die berühmte Stelle in Heines Jehuda Ben Halevy. Die Schick-
salsschläge, die einen Dichter da treffen, erscheinen als typisch
für das allgemeine Schlemihltum der Jünger Apolls — der Gott
selbst, dem sich unter den Händen der weiße Leib der Nymphe
in einen Lorbeerbaum verwandelte, war ja der erste Schlemihl,
und seitdem ist der Dichterkranz — er besteht aus Lorbeer-
zweigen! — das Zeichen, daß seine Träger von ihrem Schutzherrn
noch eine andere Gabe mitbekommen haben als der Lieder süßen
Mund. Indessen Apollo als Schlemihl bleibt ein sonderbarer Ge-
danke, nicht seinetwegen wäre Heine bei der Deutung des Begriffs
anzuführen. Doch er plaudert weiter: er will wegen der Bedeu-
tung des Wortes beim 'Dekan der Schlemihle'. bei Chnmisso selbst,
angefragt haben, dieser habe ihn an seinen Freund Hitzig als be-'
Vom 17. März 1821 (a. a. 0. V 313).
Schlemihle 99
sonders Sachverständigen gewiesen, und von ihm habe er denn
auch nach langem Drängen eine Erklärung erhalten. Diese deckt
sich nun aber nicht, wie Chamissos letzter Herausgeber Sydow^
meint, im wesentlichen mit dem, was die schon erwähnte Brief-
stelle weiterhin berichtet. Nach ihr soll der Talmud von einem
Manne des Namens Schlemihl berichten, daß er Umgang mit der
Frau eines Rabbi hatte, sich dabei ertappen ließ und getötet
wairde; die Erläuterung zu der Stelle soll dann das Unglück dieses
Schlemihl ins Licht stellen, der so teuer das, was jedem anderen
hingeht, bezahlen muß. Gewiß ist es nun zunächst dasselbe, wenn
bei Heine ein Simri von der Hand des Pinhas den Tod erleidet,
weil er sich mit einer Kanaaniterin erlustigt, aber die Hauptsache
kommt erst. Heine fährt fort:
Aber mündlich überliefert Sondern daß der Blinderzürnte
Hat im Volke sich die Sage, Statt des Sünders unversehens
Daß es nicht der Simri war, Einen ganz Unschuld'gen traf,
Den des Pinhas Speer getroffen, Den Schlemihl ben Zuri Schadday.
Dieser nun, Schlemihl I.,
Ist der Ahnherr des Geschlechtes
Derer von Schlemihl. Wir stammen
Von Schlemihl ben Zuri Schadday.
Und damit haben wir denn die Auffassung, die den Schlemihl-
typus bestimmt, soweit er nicht durch das Schattenmotiv mit dem
Urbild zusammenhängt: ein Schlemihl ist einer, der zu seinem
Pech ganz unabhängig von eigenem Verschulden kommt, sein
Pech gehört zu ihm kraft Schicksalsbestimmung — wenn ein
Simri erschlagen wird, so hat er doch wenigstens vorher seinen
Spaß gehabt, ein Schlemihl kommt erst gar nicht so weit: er lei-
det als gänzlich Unbeteiligter, weil es eben so sein soll. Wer nun
die richtigere Talmudgelehrsamkeit hat, Heine oder Chamisso,
kann uns in diesem Zusammenhang selbstverständlich sehr gleich-
gültig sein — den besonderen Schlemihltypus dieser Art hat jeden-
falls Heine umrissen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, ihn
erfunden zu haben. Er betont selbst, daß Chamisso dem "Worte
Schlemihl in Deutschland Bürgerrecht verschafft habe, zu er-
gänzen ist natürlich, daß wir den Begriff nicht aus dem Orient
zu beziehen brauchten. Chamissos Märchen ist Ende 1813 fertig
geworden und erst spät im Jahre 1814 erschienen — am 1. Ok-
tober hatte der Verfasser selbst noch kein Druckexemplar ^ — ,
im selben Jahre 1814, und zwar schon im Juni, also sicherlich
ohne alle Kenntnis des Schlemihl, dichtete Uhland seinen Un-
stern, dessen Held durchaus ein Schlemihl, nur ohne den Namen,
1 A. a. 0. I, XCVI.
2 A. a. 0. V 311 f. (Brief vom 1. X. 1814).
100 Schlemihle
ist. Dies eine Beispiel genügt schon, um klarzumachen, daß
spätere Gestalten dieser Art ganz ebenso aus persönlichen Stim-
mungen und Erlebnissen hervorgegangen sein können wie Unstern
oder Peter Schlemihl — sie reihen sich an den Letzten aber in-
sofern an, als der Name, der durch Chamisso jedermann vertraut
geworden ist, sie nun zu einer Familie zusammenfaßt.
Demnach hätten wir also theoretisch bei der Schlemihlfamilie
zu scheiden zwischen Wiederaufnahme des Chamissoschen Schle-
mihl, Wiederholungen des Motivs und schicksalsverwandten Ge-
stalten — freilich dürfen wir nicht erwarten, jedes einzelne Werk
einer dieser drei Gruppen säuberlich zuteilen zu können: es liegt
in der Natur der Sache, daß zwar nach den wesentlichen Zügen
eine bestimmte Zugehörigkeit feststeht, daß Nebenzüge aber in
eine andere Gruppe hinüberspielen können.
Das zeigt sich gleich in der ersten an Veter Schlemihl an-
knüpfenden Erzählung: E. T. A. Hoffmanns Abenteuer der
Silvesternacht vereinigen Bestandteile aller drei Gruppen in sich,
so aber, daß die eigentliche Erzählung als Wiederholung des
Motivs zu gelten hat. Der Träger der Rahmenerzählung weist
ausgesprochene Pechvogelzüge auf: tückischer Zufall bringt ihn
in gesellschaftlich peinliche Lagen, er ist ungeschickt und täp-
pisch, die Geliebte, die er nach langer Zeit Aviedersieht, deren An-
blick ihn in allen Verzückungen idealer Leidenschaft erglühen
läßt, speist ihn mit kalt förmlicher Redensart ab, sie ist überdies,
wie ihm überraschend zum Bewußtsein kommt, mit einem lächer-
lichen, fratzenhaften Philister verheiratet: wie Schlemihl sieht er
sich fremd in einer Welt, die ihn nicht versteht, in die er nicht
hineinpaßt. Im kühlen Keller sucht er Trost, und mit gar selt-
samen Gesellen gerät er da zusammen: da ist Schlemihl höchst-
selbst in seiner berühmten verschnürten Kurtka mit zierlichen
Pantoffeln über den Siebenmeilenstiefeln, die Botanisierkapsel
mit allerhand seltenen Pflanzen zur Hand; da ist der geheimnis-
volle 'Graf Suwarow', der vor jedem Spiegel erzittert, und bald
fühlen die drei,* daß sie zusammengehören wie die Teile eines Klee-
blattes. Der innere Geist, mit leuchteriden Augen aus der Larve
des irdischen Maskenspiels herausschauend, läßt sie sich als Ver-
wandte erkennen, und so fällt ihr Gespräch 'in jenen Humor, der
nur aus dem tief bis auf den Tod verletzten Gemüte kommt'. Aber
ein plötzlicher Mißton, eine Anspielung auf etwas allen drei un-
wiederbringlich Verlorenes, sprengt die Eintracht. Man scheidet
verstimmt; die Pantoffeln fortwerfend, schreitet Peter Schlemihl
mit gewaltigem Schritt über die Türme des Berliner Gendarmen-
marktes; die beiden anderen aber führt der Zufall wieder zu-
sammen in demselben Gasthof zinimer, und hier erfährt der Er-
zähler von seinem seltsamen Schlafgenossen, dem sogenannten
Schlemihle 101
Graf Suwarow, dem wirklichen Erasmiis Spiklier, die Geschichte
vom verlorenen Spiegelhildc.
Die Anregung dureli Chamissos Märchen läge auf der Hand,
auch wenn sie nicht durch Hitzigs Brief an Fouque vom Januar
1827^ ausdrücklich bezeugt würde. Hitzig hat Peter Schlemihl
Hoffmann vorgelesen: 'Außer sich vor Vergnügen und Spannung
hing er an meinen Lippen, bis ich vollendet hatte; nicht erwarten
konnte er, die persönliche Bekanntschaft des Dichters zu machen,
und sonst jeder Nachahmung so abhold, widerstand er doch der
Versuchung nicht, die Idee des verlorenen Schattens in seiner Er-
zählung . . . ziemlich unglücklich zu variieren.'
So urteilt Hitzig, und sicherlich hat er insoweit recht, als
Hoffmanns Geschichte nicht gerade zu den hervorragendsten sei-
ner Dichtungen gehört. Wenn er schon ein Seitenstück geben
wollte, so ist der Gedanke!, den Schatten durch das Spiegelbild
zu ersetzen, nicht so übel — auch dieser Verlust eines anscheinend
doch wesenlosen Zubehörs zur menschlichen Erscheinung schließt
den leichtsinnigen Verkäufer aus dem Kreise der Normalmenschen
aus, vernichtet sein bürgerliches Dasein und macht ihn zum Ein-
samen. Die Sinnenfälligkeit, die dieser Mangel mit der Schatten-
losigkeit teilt, hat es neben dem großen Namen Hoffmanns auch
dahin gebracht, daß sich an Erasmus Spikher eine eigene kleine
Nachfolge geschlossen hat : in Offenbachs Oper Hoffmanns
Erzählungen wird sein Geschick verwertet, imd noch in gar nicht
langer Vergangenheit hat Hanns Heinz Ewers in seinem für
Paul Wegener verfaßten Kinodrama Der Student von Frag das
Motiv erneuert. In der Durchführung bleibt Hoffmann freilich
hinter Chamisso zurück: bei diesem naht der Versucher selbst
dem Helden, und was er will, ist klar. Das Leid, das die Schatten-
losigkeit über Schlemihl bringt, soll ihn mürbe machen; um den
Schatten zurückzuerhalten, soll er seine Seele hingeben. Das ist
freilich auch bei Hoffmann das Ziel; aber sein dämonischer Doktor
Dapertutto, ein Zwischending zwischen Gottseibeiuns und Quack-
salber, besitzt nicht die eindrucksvolle Einfachheit von Chamissos
'Grauen', und die Kurtisane Giulietta, die als Zwischenfigur zwi-
schen Versucher und Opfer steht, ist in ihrem Wesen erst recht
nicht durchsichtig: die Art, wie sie Erasmus sein Spiegelbild ab-
schmeichelt, wirkt gekünstelt neben Chamissos dem Märchen
ebenbürtiger Weise. Und schließlich bleibt bei Hoffmann ein un-
gelöster Rest: Erasmus zwischen der Geliebten und seiner Haus-
frau erinnert an das später so gern von ihm abgewandelte Thema
von dem künstlerisch empfindenden Jüngling, der zwischen einem
Leben im Bereich seiner Ideale und dem Behagen alltäglichen
i A. a. 0. III 158.
102 Schlemihle
Philisteriums zu wählen hat. Aber Giulietta und Dapertutto sind
Geschöpfe des Bösen, und was soll es da, daß Spikhers Frau
einerseits als sein guter Genius, anderseits als für das Leid ihres
Mannes verständnislose, dem platten Alltag verfallene Philisterin
erscheint? So hinterläßt die Erzählung keinen reinen Eindruck,
sehr im Gegensatz zu dem glücklichen Gedanken Chamissos, der
seinen Helden läutert und ihn dann für das unwiederbringlich
Verlorene durch ein entsagungsvolles, aber mit dem Glück der
wissenschaftlichen Forschung erfülltes Leben entschädigt.
Wenn sich in Hoffmanns Erzählung sämtliche drei Schlemihl-
typen vereint finden, so sind sie aber nicht alle unter Chamissos
Einfluß entstanden. Der Träger der Rahmenerzählung, unter dem
wir uns Hoffmann selbst vorzustellen haben, ist zwar ein Schle-
mihl, aber ein vorchamissoscher. Er trägt die Pechvogelzüge, die
Hoffmann gern seinen höheren, poetischen Naturen gibt, im be-
sonderen teilt er sie mit dem Studenten Anseimus, dem Helden
des Goldenen Topfes: dies Märchen ist aber schon 1813 abge-
schlossen worden, also ehe Hoffmann Peter Schlemihl kennen-
lernte. Die Geschichte vom verlorenen Sjnegelhilde entstand in
der zweiten Hälfte des Jahres 1814, als Peter Schlemihl eine
neueste Neuigkeit war; diesem Vorbilde verdankt die Hoffmann-
sche Geschichte ihr Märchenmotiv, und mit ihm war selbstver-
ständlich der Sonderlingscharakter des Mannes ohne Spiegelbild
bestimmt. Neben dem Motiv machte aber auch sein Träger, der
schattenlose Schlemihl, tiefen Eindruck auf den Kammergerichts-
rat: das wäre doch einmal ein Kauz gewesen, mit dem es sich ver-
lohnt hätte, im stillen Keller beim Punsch zu hocken, den mußte
er drum noch einmal herv^orholen aus der Thebais und beim Um-
trunk zeigen, den er so gern geteilt hätte! So sind also zwei von
den drei Gesellen bestimmt durch Chamissos Vorbild, und zwar
durch Motiv und Gestalt, der dritte ist aber ein Schlemihl aus
eigenen Gnaden.
Im Anschluß daran mag ein Wort über die Frage gesagt sein,
ob etwa in Hoffmanns weiterem Schaffen noch Anregungen vom
Schlemihl her nachweisbar sind. Hitzig erzählt,^ daß während
eines heftigen Krankheitsanfalles Hoffmann der Gedanke auf-
ging, in einem Märchen zwei Gestalten einander gegenüberzustel-
len, einen häßlichen, dummen Kerl, dem jedes fremde Verdienst
als eigenes angerechnet wird, und einen ausgesprochenen Pech-
vogel. Das ist der' Keim zu Klein Zaches, und wenn darin auch
jene Gegenüberstellung nicht durchgeführt ist, der Student Bal-
thasar wird doch durch allerhand peinliches Mißgeschick zur
Verzweiflung gebracht. Aber er gehört zum Anselmtypus; will
Hoffmanns Werke (Ausgabe Ellinger) IV 10.
Schlemihle 103
man ihn einen Schlemihl nennen, so darf er deshalb doch nicht
als abhängig von Chamissos Peter aufgefaßt werden. Dagegen
erscheint mir ein solcher Zusammenhang bei Klein Zaches selbst
gar nicht ausgeschlossen, insofern er nämlich eine Gegensatzfigur
zu Schlemihl ist: dieser gelangt trotz persönlicher Gaben, trotz
ungezählten Reichtums zu keinem Erfolg, weil ihm etwas eigent-
lich Gleichgültiges fehlt; Klein Zaches aber, dem wertlosen, un-
scheinbaren Knirps, läuft jeder Erfolg förmlich nach, weil er
etwas an und für sich ebenso Gleichgültiges besitzt, seine einzige
Schönheit, sein reiches Haar, verbirgt eine Strähne, die ihm als
Talisman eine gütige Fee geschenkt hat. Man kann auch sagen,
Peter Schlemihl fehlt sein Schatten, der doch sein rechtmäßiges
Eigentum einst war, Zaches erhält einen unrechtmäßigen, ihm
nicht gebührenden Schatten in all den Leistungen der anderen,
die sich an seine Person heften. Ein Zusammenhang zwischen
Veter Schlemihl und Klein Zaches in der Art, wie er zwischen
jenem und den Abenteuern der Silvesternacht besteht, ist dabei
natürlich nicht vorhanden; es kann sich nur darum handeln, daß
der Eindruck, den Chamissos Märchen auf Hoffmann machte, die
Bahn bestimmt hat, in der sich seine freischaffende Märchen-
phantasie bewegte.
Was nun das Verkaufsmotiv anlangt, so ist die Erzählungs-
literatur der Restaurationszeit nicht sehr ergiebig an Nach-
bildungen. Es ist natürlich sehr wohl möglich, daß derartiges
noch in dieser oder jener Erzählung eines lange vergessenen Ver-
fassers verborgen liegen mag; für die hervorragenderen Erzähler
war vielleicht der frische Eindruck solcher Vorgänger wie Cha-
misso und Hoffmann zu stark, als daß sie Neigung gehabt hätten,
einen unabweisbaren Vergleich herauszufordern. Im Gesamt-
gebiet der deutschen Erzählungskunst ist natürlich der Einfluß
ihres großen Meisters Hoffmann ganz anders spürbar als der-
jenige Chamissos, der nur gelegentlich ihr Gebiet betrat — so
steht denn auch der brave Kandidat Kilian, der ausgesprochene
Pechvogel, den Hoffmanns schwächerer Nachahmer und Verehrer
C. AVeisflog in der zweiten Historie seiner Novelle Bas große
Los ^ schildert, im Schatten des Studenten Anseimus — als Schle-
mihl wird er jedenfalls nirgends bezeichnet, so nahe es eigentlich
für uns wenigstens läge. Es ist auch Hoifmanns Einfluß, der in
seines Freundes C. W. Contessa Märchen Das Schivert und
die Schlangen^ das Spiegelmotiv eine eigenartige Fortbildung er-
fahren läßt: da fällt in einem Zaubersaal der Blick des Knappen
Bolko auf sein Spiegelbild; plötzlich wird es lebendig, löst sich
1 Phantasiestücke und Historien (Dresden 1824—29), Bdch. III, 1824
(bequem zugänglich bei Reclam Nr. 312).
2 Aus dem Jahre 1816 {Schriften Bd. 5, Leipzig 1826).
104 Schlemihle
heraus und folgt dem Urbild auf Schritt und Tritt, jede seiner
Bewegungen nachäffend. Dann aber vertauschen sich die Rollen:
das Spiegelbild knechtet das Urbild, zwingt es in die Rolle der
Kopie — ein ganz fruchtbarer Gedanke, den wir noch einmal auf-
tauchen sehen, -^ mit dem aber Contessa nicht viel anzufangen
weiß. Es bleibt bei ihm bei einer komischen Episode; schließlich
stellt sich sogar heraus, daß das Spiegelbild Rübezahl ist, der
Beschützer des Helden, der den naseweisen Knecht hat strafen
wollen — trotz Rübezahls Sagenruhm wirkt das hier wie eine
kahle rationalistische Erklärung.
Chamissos Peter verkauft seinen Schatten, und im allgemeinen
muß gerade der Handel als charakteristisch für das Motiv gelten;
immerhin konnte das Los, das den Schattenlosen trifft, auch dazu
anregen, eine andere Begründung zu suchen. Von dem Öster-
reicher S. W. Schießler stammt eine Legende in poetischer
Form Ber Mann ohne Schatten,^ in der die Schattenlosigkeit als
Strafe verhängt wird. Der Apostel Paulus lagert sich auf dem
Wege nach Ephesus, um dem Sonnenbrande zu entgehen, unter
einem Palmbaum; mit harten Worten scheucht aber der Besitzer
den vermeintlichen Landstreicher fort. Paulus geht, und mild
genug ist seine Rede, aber ein anderer ist sein Rächer. Die Nach-
barn sehen mit Entsetzen, daß der Besitzer des Gartens seinen
Schatten verloren hat; als vom Himmel Gezeichneter wird er ge-
mieden, nur nachts wagt er sich heraus: so gehen ihm Hab und
Gut zugrunde, schließlich meidet er die Heimat, irrt unstet um-
her, bis er an des Meeres Strand, inbrünstig des Apostels Ver-
zeihung erflehend, vom Tode erlöst wird.
Es ist wohl nicht wahrscheinlich, daß Schießler einer wirk-
lichen Legende folgt — sie wäre am Ende den eifrigen Spürern
nach Vorbildern des Schlemihlmotivs nicht entgangen; die Acta
Sanctorum wissen jedenfalls nichts von einem solchen Erlebnis
Pauli. Da liegt es bei dem großen Erfolg des Märchens doch wohl
nahe, anzunehmen, daß Schießler an dies dachte: das Vorbild für
die Einleitung lieferten natürlich Jesus und der Schuster von
Jerusalem, das Los Schlemihls, mit dem die hervorgehobenen
Züge ja Ähnlichkeiten bieten, legte den Gedanken nahe, den
Schatten zur Strafe zu entziehen — so darf denn dieser Mann ohne
Schatten seinen bescheidenen Platz unter den Schlemihlen be-
anspruchen.
Daß die mittelmäßige Legende eines unbekannten Verfassers
bisher unbeachtet blieb, wird niemand verwunderlich finden;
merkwürdig genug ist aber, daß die Parallele, die ein sehr be-
1 Bei Andersen; man vergleiche übrigens auch Kurt Münzers
Novelle Der Spiegel (Velhagen d Klasings Almanach 1918).
2 Gedichte, Bd. III, Prag 1827.
Schlemihle 105
kanntes Märchen eines heute noch viel gelesenen Dichters bietet,
der Aufmerksamkeit anscheinend entging. Ich meine Wilhelm
Hauffs Das steinerne Herz (in der Sammlung Das Wirtshaus
im Spessart). Oder ist es nicht ein ausgesprochener Schlemihl-
handeL den der Schwarzwälder Kohlenbrenner Peter Munk mit
dem Waldgeiste, dem langen Holländer Michel, eingeht? Aus
Unverstand und Leichtsinn hat er sein eigenes Glück nicht be-
wahren können; als er vor Bankrott und Schuldgefängnis steht,
bietet ihm der Geist die Fülle des Reichtums, wenn er sich sein
Herz, das dumme zuckende Ding, das ein vernunftgemäßes, be-
hagliches Leben nur störe, aus der Brust nehmen und ein Steinherz
dafür einsetzen lasse. So haben es ja eine ganze Reihe hervor-
ragender Persönlichkeiten des Schwarzwaldes gemacht, Peter
darf ihre sorglich in Gläsern verwahrten und etikettierten Herzen
bewundern — unwillkürlich taucht dabei die Erinnerung auf an
jene heitere Episode Ariosts, da Astolfo auf dem Monde eine ähn-
liche Flaschensammlung mustert und dabei auch mit aller Anteil-
nahme eigenen ehemaligen Besitz wiederfindet: Schlemihle in-
dessen sind Ariosts Helden nicht, sie haben ihren Verstand nicht
verkauft, sondern bloß verloren. Wie des Schwarzwälders Handel
weitergeht, ist bekannt genug: gleich Schlemihl kommt er da-
hinter, daß er mit dem Herzen doch mehr dahingegeben hat, als
er dachte. Was nützt ihm aller Reichtum, wenn er sich seiner
nicht mehr freuen kann! Aber vergeblich sucht er den Kauf
rückgängig zu machen; aus eigener Kraft zu entsagen vermag er
nicht, und das ist nur logisch, denn solch ein Entschluß müßte
aus dem Herzen kommen, das er doch nicht mehr hat. So muß
denn, als er immer weiter in Schuld und Frevel versinkt, ein
freundlicher Waldgeist rettend eingreifen und alles zum Guten
wenden.
Die Motivverwandtschaft mit Chamissos Märchen erscheint
mir unverkennbar, und darüber hinaus darf ein unmittelbarer
Zusammenhang als wahrscheinlich gelten. Eine eigentliche
Quelle hat, soweit ich sehe, noch niemand für das Steinerne Herz
nachgewiesen; darstellen wollte Hauff die Bekehrung des geizi-
gen, gefühllosen Reichen. Daß jemand um des Reichtums willen
dem Teufel seiner Seelen Seligkeit verkauft, ist ein schier alltäg-
liches Motiv; aber von solchem Handel durfte bei Hauff nach der
ganzen Anlage, nach dem beabsichtigten Ausgang nicht die Rede
sein. Peter Munks Sünde ist die Herzlosigkeit; da mochte das
vorhandene berühmte Märchen vom Schattenlosen den Gedanken
nahelegen, Peter Munk nach dem Muster seines Namensvetters
sein Herz verhandeln zu lassen. Man "udrd schließlich auch dar-
auf hinweisen dürfen, daß Hauff 1826 in Hamburg Hitzigs Be-
kanntschaft machte, daß er dann in Berlin eifrig mit ihm ver-
106 Schlemihle
kehrte, ihm die Bekanntschaft hervorragender Berliner dankte.
Selbst wenn Chamisso, der damals in Berlin war, nicht unter ihnen
gewesen sein sollte, an den Dichter des Schlemihl hätte Hauff
doch durch seinen nahen Freund Hitzig erinnert werden müssen,
und kurz danach entstand das Märchen (Hauff starb 1827).
Die Erzählung bewegt sich in viel anspruchsloseren Bahnen
als Peter Schlemihl; sie kann sich an menschlicher Bedeutung
nicht mit ihm messen, ist aber als treffliches Beispiel volksmäßi-
ger Erzählungskunst heute noch lebendig. Um das Motiv hat sie
das Verdienst, daß sie zuerst sich einen Weg offenhielt, den Kno-
ten glücklich zu lösen, und das ist nicht ohne Bedeutung, da nicht
jeder Schlemihl als Einsiedler sein Leben beschließen konnte und
ein tragischer Ausgang bei einem Fehl, der mehr auf Leichtsinn
als auf Schlechtigkeit beruht, für ein Volksmärchen doch allzu
hart erscheinen mochte. Auf diesen glücklichen Ausgang, ferner
auch darauf, daß die Folgen des Herzensverkaufs sich in leben-
diger Handlung ganz anders anschaulich machen ließen als der
Verlust von Spiegelbild und Schatten, ist es denn zurückzuführen,
daß Das steinerne Hers eine zweite Untergruppe unter den Schle-
mihldichtungen gebildet hat: es wurde der Ausgangspunkt einer
ganzen Reihe von Bühnenwerken.
Schwarzwaldlandschaft und -Meldung, der ländliche Stand
der Personen, dazu auch die schlichte Handlung legten es nahe,
hier den Stoff zu einem Volksstück mit G-esang oder geradezu
einer Oper zu suchen, und in der Tat handelt es sich fast durch-
weg um derartiges, nicht weniger als acht Titel zählt Groedeke^
auf, und darunter sind vier Opern. In unserem Zusammenhang
dürfte der Hinweis auf diese Gruppe genügen, mehr als bloße
Nennung darf aber ein Stück der österreichischen Volksbühne be-
anspruchen, das in Ferdinand Eaimunds Überlieferung steht —
mit Hauff teilt es das Motiv, ohne daß man freilich behaupten
kann, es müsse es aus seiner Erzählung geschöpft haben. Am
24. April 1841 wurde im Theater an der Wien zum erstenmal auf-
geführt Das Marmorhers, romantisch-komisches Volksmärchen
mit G-esang in drei Aufzügen; der Verfasser ist der fruchtbare,
weiterhin allerdings nicht sehr erfolgreiche Raimundnachfahre
Carl Haffner^ (1804 — 76). Wie bei seinem großen Vorbild
ist hier eine menschliche Handlung mit Vorgängen in der Geister-
welt verknüpft: die Hexe Akarone muß dem Dämon Ahriman
jährlich neun Herzen opfern, ein Jüngling, an sich ein Ausbund
von Edelmut, verkauft ihr das seine um vermeintlich getäuschter
Liebe willen. Die Folgen entsprechen denen bei Hauff: im zwei-
1 Bd. 9, S. 208 ff.
2 Gedruckt in österreichisches Volkstheater, Leipzig 1845 f. (3 Bde.),
Schlemihle 107
ten Akt wendet sich alles ab von dem hartherzigen, gefühllosen
Weltmann, treu bleibt ihm nur der alte Jakob Taubenherz, dessen
Sohn er einst gerettet hat. Als der erfährt, was den Wandel im
Wesen des Heiden verursacht hat, zögert er nicht, sich selbst zu
opfern — mit seinem Herzen will er das seines einstigen Wohl-
täters einlösen. Der Hexe aber fehlt noch ein Herz an der nöti-
gen Zahl, sie will also das ihr verfallene nur gegen zwei neue her-
ausgeben — also muß sich auch Jakobs Frau zum Opfer ver-
stehen. Aus Liebe zu ihrem Manne ist sie bereit, die verhängnis-
volle Stunde ist da, und — die Hexe ist betrogen, denn die Herzen
liebender Eheleute sind eins! So hat sie denn nicht die ausbedun-
gene Zahl — damit ist aber ihre Macht aus, der ganze Handel
rückgängig; Akarone versinkt, und alles ist in schönster Ord-
nung.
Trotz des unerlaubt leichtfertig zusammengezimmerten dra-
matischen Gerüstes, trotz der äußerlichen Nachahmung Rai-
munds, der mit des Meisters Glauben an seine Gestalten auch sein
echter Humor und seine Poesie fehlen, war das Marmorherz ein
großer Bühnenerfolg, den Haffner nicht wieder erreicht hat. Er
war wohl vor allem der Gestalt des alten Taubenherz zu danken,
dessen einfältige Treue nur allzu deutlich auf Wirkung auf Lach-
muskeln und Tränendrüsen berechnet ist, aber auch der Wandel
des Helden von schwärmerischem Jugendedelmut zu kältester Ge-
fühlslosigkeit ließ sich theatralisch wirksam ausbeuten — der
Herzensverkauf ist dafür ein glückliches Symbol. Das zeigte sich
noch viel später, als Hans von Wolzogen Elauberts
Feerie Le chäteau des coeurs für die deutsche Bühne bearbeitete
{Bas Schloß der Herzen)} Während in Flauberts Bilderfolge sich
nichts findet, was unser Thema näher angeht, läßt Wolzogen den
Gnomenkönig als das böse Prinzip der Handlung danach trachten,
sich lebendige, menschliche Herzen durch Überredung oder Ge-
walt anzueignen. Ein wenig deutsche Märchenluft ist in die
fremdartige Umgebung hineingetragen, die Wirkung von Kind-
heitserinnerungen, und zu ihnen kann schon Hauffs Märchen
beigetragen haben.
Nicht nur durch diesen Herzenshandel gehört Haffiler in
eine Darstellung unseres Motivs; er hat wohl gehofft, den ersten
großen Erfolg durch ein ähnliches Thema erneuem zu können,
und wählte sich den Verkauften Schlaf.^ Da haben wir einen
reichen Wucherer und Menschenschinder, der aber keinen Schlaf
findet, während sein treuer und braver Diener Liebmann auf dem
Ruhekissen seines ungestörten Gewissens selbst auf Steinen
1 In Hendels Bibliothek der OesamtUteratur Nr. 1325 — 26.
2 Bei Reclam Nr. 255 [1870].
108 Schlemihle
schläft, soviel er Lust hat. Natürlich kauft der Wucherer den
Schlaf Liebmanns — das Zaubermittel erhält er von seiner hexen-
haften alten Amme, dem etwas kümmerlichen bösen Prinzip des
Stückes — , aber der Handel bringt ihm keinen Gewinn. Der
Dämon der Nacht straft ihn, weil er die Gesetze der Natur ge-
brochen hat, damit, daß sein Schlaf, den er nun zwar hat, durch
die furchtbarsten Träume, die Bilder seiner Untaten, ihm zur
Folterqual wird. Da geht er in sich, sucht gutzumachen, was er
gesündigt hat, und seine echte, durch Taten bekräftigte Reue
bringt ihm die Verzeihung der überirdischen Mächte: sie lassen
zu, daß der Handel rückgängig gemacht wird, Liebmann erhält
seinen Schlaf wieder, und der Wucherer wird nun, da er sie ver-
dient, auch nächtliche Ruhe finden.
Das Stück hat eine Besonderheit: sie besteht in der Motivie-
rung des Verkaufs. Liebmann (an sich ein ziemlich kümmer-
licher Nachfahre von Raimunds Valentin) gibt seinen Schlaf nicht
aus Leichtsinn noch aus persönlicher Not fort, sondern aus den
uneigennützigsten Beweggründen, mit dem Geld stiftet er frei-
gebig und edelsinnig Segen, wo er nur kann. Sein Tun soll und
muß darum als verdienstlich gelten, Schuld trifft ihn nicht, und
da der Himmel ihn mit einem Temperament gesegnet hat, das
ihn die Plage der Schlaflosigkeit mit einer gewissen Gutlaunig-
keit ertragen läßt, so haben wir in ihm das seltene Exemplar
eines glücklichen Schlemihl, wenn anders die Bezeichnung hier
überhaupt angewendet werden darf. Denn der Verkaufte Schlaf
liefert ein gutes Beispiel dafür, wie vorsichtig man bei der Be-
hauptung literarischer Zusammenhänge sein muß; so verlockend
hier die Beziehung auf Peter Schlemihl sein mag, so schwer es an-
zunehmen sein mag, daß Haffner das Märchen nicht gekannt
habe, seine unmittelbare Anregung kam nicht aus ihm — nie-
mand würde es ahnen, wenn er es selbst auf dem Titelblatte nicht
angäbe, daß seine Quelle ein Gedicht — M. G. Saphirs war, die
'Deklamation' Der verkaufte Schlaf.^ Das ist eine Art Moral-
predigt nicht eigentlich erzählenden Charakters, aber wir haben
den reichen Sünder, der einem Armen den Schlaf abkauft (wie
das möglich ist, kümmert Saphir nicht) ; wir haben den Gott des
Schlafes, der über die List des Sterblichen zürnt, die bösen
Träume, durch die er sie durchkreuzt; der Schluß gewährt die
tröstliche Aussicht, daß Gebet und Tränen alles wieder gutmachen
können, und verkündet die Moral, daß Himmelsgüter nicht zu
1 Zu finden in Saphirs Fliegendem AVhum für Ernst, Scherz, Humor
(2 Bde.), Leipzig 1846. — ■ Haffners Dramatisierung scheint bedeutend jünger
zu sein ; sie fehlt in der Sammlung seiner Stücke und wird auch von Wurz-
bach, dessen Artikel über Haffner im österreichischen Schriftstellerlexikon
bis 1862 reicht, nicht erwähnt.
Schlemihle 109
kaufen sind. Daß Saphir seinerseits von Teter Schlemihl aus-
gegangen ist, scheint nach dem ganzen Charakter des Gedichtes
nicht wahrscheinlich; es wirkt eher wie ein Seitenstück zu La
Fontaines Le Financier et le Savetier, aus dem bei uns Johann,
der muntere Seifensieder wurde.
Gegenüber der stattlichen Anzahl von Dramatisierungen, die
von Hauffs Märchen zu nennen waren, erscheint Peter Schlemihl
nur spärlich bedacht von der Gunst der Theatermänner. Zwar
wurde schon im Februar 1819 auf dem Josephstädter Theater in
Wien ein 'komisches Zauberspiel in drei Aufzügen' von Fer-
dinand Rosenau aufgeführt, das Der Puzlivizli oder der
Mann ohne Schatten heißt, und wenn der Verfasser es 'frei nach
de la Motte Fouque' bearbeitet haben will, so wird er ja wohl
Chamisso meinen. Gedruckt ist es aber wohl nie worden; auch
Hitzig wußte nur, daß unter den Personen der graue Mann und ein
Albert schlechthin erscheinen, und vermutete unter dem letzten
Schlemihl; über den Inhalt konnte er nichts berichten. Von
Bäuerles 1818 aufgeführtem Stück Der Schatten von Fausts
Weihe^ muß es ganz dahingestellt bleiben, ob es mit dem Schle-
mihlmotiv etwas zu tun hat.
Erst ein Menschenalter später hören wir abermals von einem
Schlemihldrama: diesmal ist es eine Posse mit Gesang in einem
Aufzug; 'teilweise nach einem älteren Sujet' bemerkt der Ver-
fasser David Kaiisch; dies 'ältere Sujet' ist vielleicht
irgendeine Pariser oder Wiener Posse, hatte aber mit Chamissos
Märchen nichts zu tun; die paar Worte, die über Kaiisch ens Stück
zu sagen sind, gehören in späteren Zusammenhang.
Zu diesen sehr bescheidenen Erzeugnissen der dramatischen
Muse hat sich in jüngstvergangener Zeit eine viel anspruchsvollere
Erneuerung gesellt. Hermann Wette, der Westfale, der
Dichter des Krauskopf, ist mit einem Peter SchlemihP hervor-
getreten, den er ein 'modernes Teufelsmärchen in fünf Akten'
nennt. Modern ist sehr wörtlich gemeint; die Handlung liegt zur
Zeit des Erscheinens, das heißt also in der Zeit des gewaltigen
Aufschwungs der deutschen Wirtschaft, der Ort ist der westfäli-
sche Industriebezirk, im besonderen die Gegend von Bottrop.
Peter Schlemihl, ausgestattet mit echten und rechten Pechvogel-
zügen, ein gescheiterter Theologe, will unter die Journalisten
gehen, er soll die Leitung einer großkapitalistischen Gedanken
dienenden Zeitung übernehmen — aber erfüllt von den Idealen
der sozialen Pastoren und der Bodenreformer schlägt er das ver-
lockende Angebot aus und steht nun vor dem Elend. Da naht
Vgl. G o e d e k e, Grundriß (erste Auflage) III, 2, 826.
Leipzig 1910.
110 Schlemihle
ihm der Versucher, der 'Graue', hier Monsieur Malin genannt;
der Schattenhandel wird abgeschlossen, und zwar so, daß Peter
noch ein Jahr seinen Schatten behalten soll und ihn nachher im
Austausch gegen den Glückssäckel jederzeit wiederbekommen
kann. Bis hierher, d. h. bis zum Schluß des 1. Aktes, schließt
sich die Handlung trotz aller Modernisierung eng an Chamisso;
nun aber geht "Wette eigene "Wege. Peter, den die Aussicht ge-
lockt hat, durch den Reichtum seine Grundsätze verwirklichen
zu können, erweist sich ihnen auch treu; da führt der Verlust
seines Schattens die Katastrophe herbei, auf die Malin gerechnet
hatte, der enttäuschte Idealist will jetzt Malins Schüler werden:
er folgt ihm zunächst in die große Welt. Aber er besinnt sich
wieder, er trotzt auch der letzten Lockung Malins, der ihn durch
die Liebe zu fangen hofft; der Bruch erfolgt. "Wohl wird jetzt
der schattenlose Peter von der Landbevölkerung gehetzt; die Not
hilft ihm zur Erkenntnis, 'daß der Mensch nichts von seinem
"Wesen, auch nicht den kleinsten Teil seines Schattens verlieren
darf, will er vor Gott und sich selbst bestehen'; er überwindet
Malin endgültig, erhält seinen Schatten wieder, und nun soll sein
Leben dem Kampf gegen den Mammon gelten, das Gut, das er
früher erworben, soll deutsches Bauernland werden; er selbst
geht als Fabrikarbeiter unter das Volk. Im 5. Akte finden wir
ilm wieder als den Fahnenträger der christlich-sozialen Arbeiter;
als solcher verhindert er einen großen Schlag, den die großkapita-
listischen Arbeitgeber im Bunde mit ihren polnischen und kroati-
schen Arbeitern gegen die Deutschen planen — er selbst freilich
wird heimtückisch erstochen. An seiner Bahre aber bekennt sich
sein alter Gegner — er tritt seit dem 2. Akte als Graf "Westphalen-
Malin auf — überwunden: er will und muß vom Teufel los, als
deutscher Adliger wird er Führer sein des Volkes der Arbeit;
Schlemihls letzten "Willen wird er vollstrecken und 'dann soll am
deutschen "Wesen noch einmal die "Welt genesen'.
Verklungene Zeiten! Der jüngste der Schlemihle ist durch
die weiteste Kluft von uns getrennt: es ist gar anders gekommen
als sein Dichter träumte. Aber der Traum ist so herzgewinnend,
daß wir die literarischen vSchwächen der Dichtung schon mit in
den Kauf nehmen. Sie liegen ja so klar zutage: so bequeme
Verträge darf der Böse doch nicht schließen! Seit wann bleibt
dem Märchenhelden der Gewinn aus einem Zauberhandel, wenn
dessen Voraussetzungen nicht mehr gelten? Peter Schlemihls
Reichtum müßte doch zerrinnen, nachdem er Fortunats Säckel
zurückgegeben hat! Und wer ist eigentlich Monsieur Malin?
Ist er der leibhaftige Satan, dann kann er doch nicht hinterher
ohne weiteres als adliger Führer des deutschen A^olkes gelten: ist
er aber ein Mensch, wie kann er schlechthin dämonische Zauber-
Schlemihle 111
künsie üben? Ist der Vertrag, den er dann mit seinem Herrn
und Meister geschlossen hat, auch so bequem wie sein eigener mit
Schlemihl? Derartiges ließe sich noch genug anführen, und trotz
alledem wollen wir, statt zu kritteln, heute lieber dem Verfasser
den hohen Sinn neiden, mit dem er einst seinen Stoff erfaßte;
Chamisso selbst hätte ja wohl behaglich Beifall genickt zu dem
Gedanken, seinen Schlemihl zu einem Typus deutschen Wesens,
zu einer Verkörperung der ringenden deutschen Volksseele zu
machen. In ganz anderem Sinne liegt uns heute der Gedanke
wieder nahe: ganz anders freilich müßten wir nach dem gi'oßen
Zusammenbruch die Farben mischen, als einst Hermann Wette
in den Tagen der Hoffnung.
Die Dramatisierungen von Chamissos Märchen — ob die an-
gekündigte Oper von Richard Strauß Die Frau ohne Schatten
dazugehört, bleibt abzuwarten — ließen den Helden seine Schick-
sale in besonderer Beleuchtung vor unsern Augen erleben; wenn
die erzählende Dichtung Peter noch einmal aus der Einsiedelei
hervorholen wollte, konnte sie nicht wohl abermals erzählen, was
schon bei Chamisso zu lesen war, sie mußte irgendwie suchen, über
ihn hinauszukommen. Eine gewisse äußere Veranlassung dazu
gab der Tod Chamissos (1838); unmittelbar durch ihn ist — min-
destens nach des Verfassers Behauptung — veranlaßt Peter Schle-
mihls Heimhehr, die umfängliche Erzählung des alten Lützowers
und späteren 'kgl. preußischen Hofdemagogen' Friedrich
Förster.-' Das Vorwort berichtet, wie einst Chamisso in einem
Gespräch über Goethes Faust (dessen zweiter Teil damals noch
nicht vorlag) geäußert habe, der Teufel dürfe jedenfalls nie und
in keinem Falle recht behalten; Förster habe zugestimmt, zu glei-
cher Zeit aber Chamisso angeregt, nun auch dafür zu sorgen, daß
der Graue beim Schattenhandel zu guter Letzt doch der Betrogene
sei. Andere hätten sich seiner Bitte angeschlossen, den redlichen
Schlemihl nicht auf zeitlebens in die ägyptische Einsamkeit zu
verbannen, und Chamisso habe auch nicht geradezu abgelehnt, sei
aber weiteren Ansinnen ausgewichen und habe die Fortsetzung
auf unbestimmte Zeit vertagt. Nach seinem Tode finde sich nun
Förster durch ein leichtsinnig gegebenes Versprechen gebunden,
und so veröffentliche er denn den zweiten Teil des Veter
Schlemihl.
Daß ähnliche Bitten an Chamisso herangetreten sind, ist schon
denkbar: der Ausgang seines Märchens machte an sich eine Fort-
setzung möglich: die ernsthafte Absicht hat er aber kaum gehabt,
und leider war Förster nicht der Mann, der der Aufgabe gewach-
sen war. Er verwischte die tiefernste Grundlage der Dichtung;
Leipzig 1843.
112 Schlemihle
um seines Zweckes willen ließ er unberücksichtigt, daß das Mär-
chen nicht bloße Erfindung, sondern aus dem innersten Erleben
gewachsen war. Chamissos Schlemihl folgt seinem Wesen, wenn
er sich in die Öde der Wüste birgt, er hat unter Menschen nichts
mehr zu suchen; bei Förster ist das Einsiedeltum nur Sühne für
schließlich läßlichen Fehl seiner Jugend, und es kommt der Tag,
da Peter meint, genug gesühnt zu haben. Von seiner Tränen-
seligkeit hat ihn das Wüstenleben geheilt, er hat gelernt, den
Humor der Dinge einzusehen: das heißt dann freilich, er ist gar
nicht mehr Schlemihl. Wie sollte der auf den Gedanken kommen,
daß die Schattenlosigkeit am Ende auch ihre Vorteile hat — das
ist aber gerade des Försterschen Schlemihl neugewonnene Ein-
sicht! Auf der Fahrt in die Welt benutzt er sie denn auch recht
erfolgreich: dem Schattenlosen gelingt manch geschickter Streich,
er gewinnt sogar die Liebe der schönen Adele, der Tochter
Rustans, des einstigen Leibmamelucken Napoleons. Freilich sei-
nen Schatten möchte er doch wiederhaben, aber allein ist er trotz
manchem Hin und Her dem Grauen nicht gewachsen. Da hilft
die Liebe: die schöne Adele opfert um des Geliebten willen ihr
Spiegelbild, und beim letzten Kampf mit dem Grauen, zu Berlin
am Grabe Chamissos, bringt das Spiegelbild die Entscheidung:
der Graue versinkt, und Schlemihl hat seinen Schatten wieder.
Nach einer mühsamen Episode schließt die zuletzt bedenklich
versandende Erzählung mit der fröhlichen Hochzeit des so lange
Unbehausten.
Auch abgesehen von den betonten grundsätzlichen Einwän-
den gegen Försters Versuch, läßt sich nicht allzuviel Gutes von
ihm rühmen; wohl findet sich manche anziehende Einzelheit, wie
das Auftreten des Fürsten Pückler-Muskau und die Episode des
Jean-Paul-Festes in Kuhschnappel, im ganzen ist aber die Er-
findung mühselig und gezwungen, die Darstellung breit und lang-
weilig; das Beste an dem Buch sind zweifellos die zwölf Zeich-
nungen, die Hosemann beigesteuert hat.
Und doch ist das Buch Försters wohl nicht ohne Einfluß ge-
blieben auf einen zweiten Versuch, mit Chamissos Kalbe zu
pflügen. Noch heute ist die Märchensammlung des Thüringers
Ludwig Bechstein in vielen Händen, wird sein Name als
Sagenforscher und -kenner rühmlich genannt, um so vergessener
ist freilich seine dichterische Betätigung. Er kannte Försters
Versuch sehr wohl, erwähnt er ihn doch in seiner 'kosmologisch-
literarischen Novelle Die Manushripte Peter Schlemihls} Frei-
lich urteilt er über seinen Vorgänger nicht sehr günstig und be-
ruft sich dabei auf die zeitgenössische Kritik; man muß ihm
1 Berlin 1851 (2 Teil^) ; vgl. I, 143.
Schlemihle 113
jedenfalls lassen, daß er seinen besonderen Weg einschlug, der
ihm erlaubte, den gefährlichen unmittelbaren Wettbewerb mit
Chamisso zu vermeiden. Am Schlüsse des Märchens erzählt näm-
lich Schlemihl, wie er, die Wunderkraft seiner Stiefel ausnutzend,
alle Erscheinungen des irdischen Lebens gründlich kennengelernt,
die erkannten Tatsachen in mehreren Werken dargelegt, seine
Folgerungen und Ansichten in einer Reihe von Abhandlungen
auseinandergesetzt habe; er werde Sorge tragen, daß dieser sein
Nachlaß nach seinem Tode an die Berliner Universität gelange.
Hier knüpft Bechstein an: Schlemihl hat Nachricht über seine
wissenschaftliche Hinterlassenschaft in die Heimat gesendet, und
durch eine wunderbare Schickung gerät die Aufforderung, diese
Manuskripte zu bergen, an einen armen Schlucker von sächsischen
Magister. So berichtet denn die Novelle von Mendels Fahrt ins
Pharaonenland: es gelingt ihm, die Höhle zu finden, den Schatz
zu heben; Schlemihls Asche kann er würdig bestatten. Und nun
kommt die Tragik: die Brust geschwellt von der Hoffnung, als
Herausgeber auf der Titelseite grundlegender Werke zu prangen,
bringt Mendel Schlemihls Erbschaft durch mancherlei Fährnisse
und Versuchungen glücklich nach Hause: ach, es ist eben Schle-
mihls Erbschaft. Die Berliner Universität dankt schönstens für
die ihr zugedachte Gabe, und erst recht bitter ist die Enttäu-
schung, als auch die Buchhändler gar nicht erkennen wollen, was
ihre Ehrenschuld wäre. So ist denn das Ende aller Hoffnungen
ein trübseliges Korrektordasein, ein steter Kampf mit der Not des
Lebens — als letzte Ironie wirkt es, daß die Schilderung seiner
Fahrt und späteren Mühsale, die er dem angeblichen Herausgeber,
seinem Freunde Bechstein, gegeben hat, ihn nach seinem Tode als
Verfasser das erreichen läßt, was er als Schlemihls Treuhänder
vergeblich erstrebte: den Platz im Meßkatalog.
Nun stellt sich Bechsteins Novelle aber nicht nur als eine An-
knüpfung an Chamissos Märchen heraus, sie ist mehr als das:
Bechsteins Held ist ein Peter Schlemihl redivivus. Die Gestalt
als solche ist aufgenommen: ein Pechvogelgeschick ist gestaltet
ohne Einschlag des Wunderbaren und ohne die Schuld des Schat-
tenverkaufs. Mendel ist eine brave Haut, aber dem Leben nicht
gewachsen, gelehrt und fleißig, doch ohne eigenen Gedanken, der
geborene Famulus, der sich nur im Schatten eines Meisters wohl-
fühlt. So gar bescheiden ist das Glück, das er sucht, und doch
gleitet es ihm aus den Händen: er hat da schon seine trübe Erfah-
rung gemacht, ehe er die Fahrt nach Ägj^pten antritt. Wie will
er nun diesen Schatz hüten, wie weist er die Versuchung, die
Manuskripte einem verdrehten Engländer zu verkaufen, weit von
sich, und der Kaufpreis hätte dem Bescheidenen doch für sein Leben
eine behagliche Zukunft gesichert! Und äabei schlägt er denn
Archiv f. n. Sprachen. Sonderheft. g
114 Schlemihle
das G'lück, das er jetzt wirklich in der Hand hat. ans — freilich,
er mnß es ja wohl tun, denn Mr. Highgoods Grold hätte diesen
Schlemihl doch nimmer glücklich gemacht: nie hätte ihn der G-e-
danke losgelassen, daß er. der Mann der "Wissenschaft, ein Mam-
monsdiener geworden sei, daß er mitgeholfen habe, in englischen
Truhen die Früchte eines langen Forscherlebens zu vergraben —
ihm schlägt eben zum Unheil aus. was er auch besitzt.
Aber Bechsteins Buch ist keine schmale Novelle, das Schiff-
lein segelt mit recht schwerer Fracht. Schon Mendels Schilde-
rung seiner Orientfahrt verfällt allzusehr in die Weise einer
Eeisebeschreibung. die Kenntnisse verbreiten will, und der
lästigste Ballast sind auch für ihn die unheilvollen Manuskripte.
Wir müssen eine Vorstellung von ihnen erhalten, begreifen, daß
der Buchhandel ihnen gegenüber spröde ist; aber anderseits auch
Mendels Urteil über sie verstehen, und er darf dabei nicht als
Schwachkopf erscheinen. Der Ausweg ist, daß Schlemihl ein
System der gesamten Geschichts- und Naturwissenschaft, ein
'kosmologisches Universum' verfaßt hat, eine Anhäufung eines
gewaltigen Stoffes an Tatsachen, Zahlen usw., die trotz oder viel-
fach gerade wegen ihrer absonderlichen Art wohl geeignet ist,
ein Gemüt wie das Mendels mit staunender Bewunderung zu
füllen. Wenn nun aber Mendel vor unseren Augen mehr als eine
Gelegenheit benützt, diese und jene Abteilung zu mustern, und
dabei eine Übersicht des Inhalts in der Art eines antiken Argu-
mentums gibt, dann verstehen mr freilich sowohl Mendel als
auch die hartherzigen Verleger, nur wird dies Ergebnis mit dem
Preis einer gehörigen Langenweile bezahlt: Bechsteins Kunst ist
an der Aufgabe, dies Problem dichterisch zu lösen, gescheitert.
Immerhin: wenn Bechstein Schlemihl in seiner Höhleneinsamkeit
eine ungeheure, letzten Endes doch zwecklose Gelehrsamkeit auf-
häufen läßt, wenn sein eigener Held sein Leben an diesem Stoff-
wuste vertut im Gegensatz zu einem praktischen Franzosen, der
gutverkäufliche Dinge aus Ägypten holt, zu einem verschrobenen
Engländer, dem die Jagd nach Altertümern nur Sport und Zeit-
vertreib ist, dann spüren wir doch, daß er in der Schlemihlfigur
ein Symbol deutschen Volkstums gesehen hat, ein nicht nur für
die Wende der vierziger und fünfziger Jahre zeitgemäßes Sym-
bol — leider reichte die dichterische Kraft bei weitem nicht aus,
um es zu künstlerischer Bedeutsamkeit zu erheben.
Bechstein erwähnt nicht nur Försters Versuch, sondern an
derselben Stelle (I, 143) auch andere 'Fortsetzungen' oder 'Ergän-
zungen'; freilich nennt er nur Hoffmanns Verlorenes Spiegel-
hild und fährt dann fort: 'andere folgten, und der Gottseibeiuns
errichtete ein Leihhaus : er machte guten Markt mit Namen, Haa-
ren und was sonst der Mensch sein eigen nannte und allenfalls
Schlemihle 115
nicht täglich bedurfte'. Leider hat es bei dieser sehr allgemeinen
Andeutung sein Bewenden, und heute ist es bei dem Eintags-
charakter dieser Literatur jedenfalls schwer anzugeben, worauf
Bechstein anspielt. An sich ist seine Aussage ja nicht unwahr-
scheinlich; anderseits redet er nicht als Forscher, sondern als
ISTovellist und könnte sich sehr wohl dagegen verwahren, daß seine
Worte buchstäblich genommen werden. Goedeke nennt jeden-
falls nur eine Dichtung, die als eine Art "Wiederaufnahme des
Verkauf smotivs gelten kann, ein Märchen von F. Brunei d,
unter welchem Schriftstellernamen sich der märkische Lehrer
Aug. Fried r. Mayer birgt. Es heißt Waldgeist und steht in
den See- und Waldmährchen}
Von einem braven Jägerburschen erzählt es, der aber eine
Schlafratte ist, und dem deshalb die Wilddiebe über den Kopf
wachsen. Da verkauft er dem Teufel für eine auf weite Entfer-
nung sicher treffende Büchse, was über zehn Stunden Schlaf ist,
und damit fängt sein Unglück an. Jetzt ein angesehener Jäger,
will er gleich obenhinaus; er verliebt sich in die Tochter seines
gräflichen Herrn und setzt nun -den Handel fort: um zwei Stun-
den Schlafes erwirbt er sich ein Schloß, für zwei weitere das
nötige Geld, und nun erreicht er sein Ziel. Aber jetzt wacht er
zuviel, und in den schlaflosen Stunden quält den Emporkömm-
ling das Mißtrauen; für nochmals zwei Stunden Schlaf erhält er
ein Glas, mit dem er die Herzen der Menschen durchschaut, und
nun wird die Sache natürlich noch schlimmer. Sein Weib verläßt
ihn; um endlich einmal ordentlich schlafen zu können, opfert er
abermals zwei Stunden. Dann geht er in die Welt; des Lebens
satt und übersatt kehrt er zurück und will jetzt nur den Tod, aber
der Teufel weigert ihm den. Da verzichtet er auf sein Menschen-
dasein; den letzten Schlaf gibt er hin, um den Körper loszuwer-
den: als Menschenschatten huscht er durch den Wald.
Einiges wenigstens kann ich diesem bisher allein verzeichne-
ten Beispiel hinzufügen: das Verkaufsmotiv findet sich bei dem
baltischen Freiherrn Alexander von Ungern-Stern-
b e r g, einem der frühesten Vertreter des jungdeutschen Romans,
dessen Novellentitel Die Zerrissenen es ja zum bezeichnenden
Schlagwort für die Zeit" brachte. In seinem Buche der drei
Schivestern^ steht die Novelle Der rote Ziverg; eine Episode die-
ser, die Erzählung des dicken Herrn, besteht gleich aus zwei
Schlemihlgeschichten, die man 'Der verkaufte Magen' und 'Der
verkaufte Schlaf nennen mag. Der dicke Herr erzählt von son-
derbaren Bekanntschaften, die er gemacht hat: da hat er zu-
1 Berlin 1845, S. 152 ff.
» 2 Bände, Leipzig 1847; vgl. I, 219 ff.
116 Schlemihle
nächst 1837 im Bade einen hageren Mann kennengelernt, ein
AVunder von unermüdlicher Eßlust, gefeit gegen die Folgen selbst
des üppigsten Mahles. Ein Zufall macht den Erzähler zum Zeu-
gen eines Gespräches, in dem seltsame Dinge ans Tageslicht kom-
men: der Hagere kann nach Herzenslust schlemmen, weil das
Verdauen ein anderer zu besorgen hat; ein armer Teufel, der sich
einst auf den Jahrmärkten mühsam genug als Eisenfresser (im
wörtlichen Sinne) durchgeschlagen hat, ist durch hohen Lohn von
dem Hageren bewogen worden, ihm seinen Magen zur Verfügung
zu stellen; durch magnetische Operationen ist die Übertragung
vollzogen worden, aber bald genug ist dem armen Kerl der Han-
del leid geworden. Denn sein Herr kann sich nun an Werken der
Kochkunst letzen, die schwerer zu verdauen sind als Kieselsteine;
er aber kann nicht viel mehr als Stein und Bein klagen und eine
Lohnerhöhung durchsetzen, muß er doch jeden Augenblick fürch-
ten, daß sein Trotz dadurch bestraft wird, daß der Fresser auf
seine Kosten einfach Gift nimmt. Über den Ausgang der Sache
weiß der Erzähler selbst nichts, da der Hagere mit seinem ge-
plagten Gefolgsmann plötzlich abreist.
Ebenso leicht macht Sternberg sich die Lösung bei seiner
zweiten Schlemihlgeschichte. In ihr hat ein ungeheuer reicher
Frankfurter, ein Emporkömmling aus den niedersten Schichten,
alles, was sein Herz begehrt; nur schlafen kann er nicht. Und
doch war einst ein fester, traumloser Schlaf sein einziger Besitz,
bis den selig auf der Landstraße Schlummernden ein finster-
blickender, unheimlicher Geselle aufgeweckt hat, um ihm für
hundert Taler eine Stunde Schlaf abzukaufen. Leichtsinnig hat
er das Geld verschwendet und dann gegen immer größere Summen
immer mehr Schlaf verhandelt, schließlich die letzte Stunde für
seinen jetzigen Reichtum. Seitdem kann er kein Auge mehr zu-
tun; aber als der dicke Herr mit seiner Erzählung soweit ist, be-
merkt er, daß seine ganze Zuhörerschaft ihrerseits sanft ent-
schlummert ist — und damit ist die Episode zu Ende.
Nach Bechstein hätte der Gottseibeiuns auch guten Markt mit
Namen gemacht, was schließlich bei unserm Geschäft ein sonder-
barer Handelsgegenstand ist. Spielt er vielleicht an auf die Er-
zählung Der Mann ohne Namen von dem im Vormärz viel ge-
lesenen Karl Spindler,^ einem reichbegabten, freilich viel zu
fruchtbaren Erzähler? Hier ist der Ausgangspunkt ein Hasard-
spiel zwischen zwei Nebenbuhlern, italienischen Adligen: der
eine verspielt sein Hab und Gut, seinen Anspruch auf die Ge-
liebte, zuletzt das Anrecht auf seinen Namen. Die Folgen ent-
1 In der Sammlung 'Sommermalven' (2 Bde.), Stuttgart 1833; vgl. II,
291 flf.
Schlemible 117
sprechen dem Typus dieser Art von Schlemihlgeschichten: ohne
Namen ist der Unglückliche ausgestoßen aus Familie und Gesell-
schaft; selbst Räuber weisen ihn aus ihrer Mitte, der Priester, bei
dem er sich taufen lassen will, weigert seine Hilfe, er ist ja schon
getauft, und seinen Namen soll er nur wiederzuerlangen suchen.
So muß er wehrlos zusehen, wie sein Gegner ihm Ruf und Ehre
schändet, in Jammer und Elend geht er zugrunde. Das tiber-
natürliche Element fehlt der Erzählung gänzlich, und eben des-
halb wird man nicht unbedingt behaupten wollen, daß sie aus
Chamissos Saat aufgegangen ist; Spindler erzählt übrigens 'frei
nach dem Französischen' — leider kann ich seine Vorlage nicht
nachweisen.
Man erkennt leicht an den vier Erzählungen eine Abschwä-
chung des Motivs. Die Zeiten der Märchendichtung der Roman-
tiker waren vorüber, der Geschmack des Publikums hatte sich
abgewandt vom Übernatürlichen und seinen Beziehungen zur
Sinnenwelt; diese Schriftsteller aber wollten dem Publikum die-
nen. Gewiß stand Brunold den literarischen Richtungen des
Tages fern; er wollte ein Märchen geben, aber er fand nicht
den Märchenstil: die Poesie suchte er in gehobener Sprache, in
einem etwas sentimentalen Ton, aber damit macht er uns höch-
stens mißtrauisch gegen die Glaubwürdigkeit seiner Entwicklung
des Problems — wir sehen gar nicht ein, warum der Jäger nach
dem ersten Verkauf immer weiter auf die abschüssige Bahn ge-
drängt werden muß, warum er sich nicht besser sichert. Spindler
oder seine Vorlage verzichtet auf alles Märchenhafte; was übrig-
bleibt, ist eine etwas hintertreppenmäßig anmutende Schauer-
geschichte; Sternberg endlich, an sich ein Verehrer des achtzehn-
ten Jahrhunderts, schlägt einen Ton an, bei dem man etwas an die
ironische Art erinnert wird, in der man im Zeitalter der Aufklä-
rung Märchen erzählte. Eine Stilprobe ist die philosophische Er-
kenntnis, mit der sich sein ehemaliger Steineschlucker tröstet:
'Haben wir nicht immer verdauen müssen, wenn unser Adel und
unsere Vornehmen an ihren glänzenden Tafeln schmausten? Sie
haben sich immerdar mit uns in einen so kräftigen magnetischen
Rapport zu setzen gewußt, daß wir die Last und sie den Genuß
haben.' Dabei ist dann auch ganz bezeichnend, daß in der ersten
Geschichte Sternberg den Teufelspakt durch den modernen
Magnetismus ersetzt, in der zweiten aber die Person des Käufers
im unklaren läßt; gewiß, er gibt ihr einen dämonischen Zug, be-
gnügt sich dabei aber mit so allgemeinen Andeutungen, daß von
Märchenstimmung kaum die Rede sein kann.
Auch die späteren Jahrzehnte, die auf dem Gebiete des Kunst-
märchens an sich manche trefflichen Leistungen aufzuweisen
haben, sind in Deutschland dem Motiv des Schattenhandels und
118 Schlemihle
seinen Umformungen nicht günstiger gewesen; Chamissos klassi-
sche Behandlung ist sicherlich ein Hemmnis, weil bei der scharf
ausgeprägten Besonderheit dieses Handels jede Umformung zum
A^ergleich herausfordert. Mancher Titel könnte zwar irreführen;
doch Paul Heyses Troubadournovelle Der verkaufte Gesang
streift unser Thema nur, denn es handelt sich um einen in den
Umständen begründeten, an sich ganz sachgemäßen Vertrag, bei
dem der eine Dichtertruder auch gar nicht seine Sanges f äh i g-
keit, sondern nur die öffentliche Ausübung seiner Kunst dran-
gibt, und Das verkaufte Lächeln von S.Trebitsch^ ist unserm
Zusammenhang ganz fremd. Zu nennen wüßte ich nur ein Mär-
chen von HeleneStökl, Weh dem, der nicht lügt,^ das dem Ge-
danken wenigstens nahesteht, und eine Novelle von A. von Per-
fall, Das verkaufte Genie.^ Dort ist der Held ein Wahrheits-
fanatiker, der der Lüge flucht; ein Kobold nimmt ihn beim Worte
und entzieht ihm die Gabe, irgend etwas zu sagen, was nicht im
strengsten Sinne wahr ist; der arme Assessor gerät sofort in die
scheußlichsten Verlegenheiten, stößt jedermann vor den Kopf und
ist heilfroh, als er aus seinem Silvestertraum erwacht, denn nichts
anderes ist es gewesen. Aber die hübsche Geschichte steht un-
serem Motiv nur nahe; sieht man von der Traumeinkleidung ab,
so fehlt der eigentliche Verkauf. Auch Perfall gibt einen 'Som-
mernachtstraum'; aber bei ihm haben wir doch einen wirklichen
Handel: ein Maler verkauft an einen mit seiner bloßen Geldmacht
unzufriedenen schwerreichen Amerikaner um eine Million sein
Genie, bei beiderseitiger Einwilligung soll der Kauf nach zehn
Jahren rückgängig gemacht werden können. Da nun der Maler
mit seinem Gelde nichts Gescheites anfangen kann, der Millionär
nur den Fluch des Genies zu spüren bekommt, so sind beide nach
zehn Jahren die unglücklichsten Menschen — zum Glück haben
sie beide nur geträumt. Haschischträume, die der Wille des guten
Genius der Geschichte bestimmt hat, des väterlichen Freundes des
Amerikaners, eines in alle Weisheit des indischen Orients ein-
gedrungenen Gelehrten.
Der Mangel dieser letzten Erfindungen liegt in der schwäch-
lichen Art, in der sie das Übernatürliche in das alltägliche Leben
einführen. Chamisso hatte den echten Romantikermut zum mo-
dernen Märchen: sein Grauer ist da und fordert für sich trotz der
neuzeitlichen Umgebung Glauben; er kauft den Schatten, weil er
als letzten Gewinn eine unsterbliche Seele zu erbeuten hofft — die
neueren Dichter wollen aber vom leibhaftigen Gottseibeiuns und
seiner Seelenjagd nicht recht etwas wissen. Nun gibt es so viel
1 Wien 1905. 2 Jq Schorers Familienblatt 1883, 829 flf.
ä Kürschners Bücherschatz Nr. 650 (o. J.).
Schlemihle 119
Dinge zwischen Himmel und Erde, daß auch ohne die Mächte der
Hölle alle Schauer des Übernatürlichen im Rahmen unserer Zeit
beschworen werden können; für unser Thema, das "einmal an
einen Kauf gebunden ist, wird ein dämonischer Mensch an Stelle
des Teufels als Käufer einzutreten haben; ein Ansatz dazu ist ja
auch Perfalls gelehrter Amerikaner. Aber der Stil der phantasti-
schen Erzählung hat sich in Deutschland nur langsam erneuert;
im allgemeinen blieb man im alten Märchenlande; hier zwar ist
es verlassen, dafür ist aber der Traum vorgeschützt, der zu nichts
verpflichtet, in dessen Bezirk erlaubt ist, was gefällt. Perfall tat
wenigstens einige Mystik hinzu, griff ins Gebiet der Hypnose
hinüber; aber zu mehr als durchschnittlicher Unterhaltungsware
reichte seine Kunst nicht aus.
Das Verhältnis dieser letzten Behandlungen des Motivs zu
Chamissos Märchen ist wohl anders zu beurteilen als das der
früheren. Brunold und Sternberg übertrugen sicherlich
unter der unmittelbaren Anregung Chamissos den Schlemihl-
handel auf einen anderen Gegenstand; bei Stökl und Per-
fall ist die Bekanntschaft mit dem Schlemihlmärchen zwar ohne
weiteres vorauszusetzen, deshalb brauchen sie aber durchaus nicht
unmittelbar von ihm angeregt zu sein. Sie sind wohl eher von
der alten Weisheit und stets neuen Beobachtung ausgegangen,
daß die Menschenkinder gewöhnlich höchst unzufrieden mit dem
sind, was ihnen ihre gegenwärtige Lage bietet; so unzufriedene
Seelen durch den- Traum von ihren Schmerzen zu heilen, ist viel-
bewährtes Dichterrezept. Nun ist der Schlemihlhandel eins von
den zahlreichen Märchenmotiven geworden, mit denen die Phan-
tasie als mit ererbtem Besitz schaltet; wenn hier im Traum
unbesonnene Wünsche Wirklichkeit werden sollten, so lag es
nahe, dem Wahrheitsfreund die Fähigkeit zu lügen, dem Künst-
ler das Talent zu nehmen — das geeignete Schlemihlmotiv wurde
einfach übertragen, ohne daß der Schriftsteller deshalb zu Cha-
missos Märchen ein Seitenstück zu geben beabsichtigte. Das hin-
dert natürlich nicht, daß die fertige Erzählung für uns zu der
Gruppe tritt, deren charakteristischer Vertreter nun einmal Cha-
missos Schlemihl ist.
Dasselbe gilt wohl auch von einem neueren Drama, das ich
indessen nur aus einer Besprechung kenne,^ der am 9. Dezember
1916 in Dresden aufgeführten Legende Das Lied der Königin
von Paul Hermann Hartwig. Merkwürdig, wie da der alte
Haffner wieder auflebt — gelesen hat Hartwig Das Marmorhers
sicher nicht, aber so zahlreich sind die Möglichkeiten märchen-
hafter Symbolisierung nun einmal nicht, daß nicht die einfacheren
^ Literarisches Echo 20, 554.
120 öchlemihle
Formen immer wieder neu gefunden werden. Auch hier ein
Herzenshandel: Prinzessin Magelone hat den überflüssigen Muskel
für höchste Frauenschönheit verkauft. Und nun spielt sie Tu-
randot und Circe in einer Person; der Löser ihrer Rätsel wendet
sich zwar von der Herzlosen, aber die Sehnsucht nach ihr läßt
ihn nicht los, und so will er selbst sein Herz dem Zauberer ver-
kaufen. Die Rettung bringt eine alte Melodie, die einst Mage-
lonens Mutter sang, unter ihrem Einfluß weiß sie opfermutig ihr
Herz zurückzugewinnen. Soweit sich urteilen läßt, gibt das
Drama eine deutliche Probe von dem, was oben angedeutet ist:
wie nämlich ein moderner Schriftsteller mit Märchengut schaltet.
Alles in allem sind die deutschen Abwandlungen des Schatten-
handels ziemlich schwächlich ausgefallen; die Erklärung dafür
hatten wir wenigstens zum Teil darin gefunden, daß ein eigent-
licher moderner Stil für die phantastische Erzählung bei uns
nicht vorhanden war; der große deutsche Meister E. T. A. Hoff-
mann war ja in Ungnade gefallen, und wenn immer wieder hier
und dort ein einzelner seine Spur betreten hatte, eine eigentliche
Überlieferung gab es nicht. Eine mittelbare Bestätigung dieser
Begründung kann der Umstand liefern, daß diese Art der Schle-
mihlerzählungen wirkungsvolle A^ertreter in einem Lande fand,
das jenen Stil hatte, in England. Dort war er seit Poe vor-
handen, und der Amerikaner, ein Menschenalter jünger als Hoff-
mann, hatte auch gewußt, das Wunderbare seiner Erzählungen
in eine neue Form zu kleiden, die Märchenmotive wurden ersetzt
durch Vorstellungen, die ihre Wurzel in der neuen Wissenschaft
von den Abgründen der menschlichen Seele, den Wundem des
Willens hatten — Vorstellungen übrigens, die auch Hoffmann
nicht fremd waren, nur sich bei ihm noch unter dem Bilde un-
mittelbaren Eingreifens übernatürlicher Mächte gaben. Auf Poes
Pfaden konnte dann einem Schriftsteller, der gewiß zu den
hervorragenden Erzählern seiner Zeit, aber durchaus nicht zu
den Greistern ersten Ranges gehörte, eine treffliche typische Schle-
mihlgeschichte gelingen — ich meine Walter Besant und
seinen Case of Mr. Lucraft}
Es ist eine Icherzählung wie Veter SchlemihJ; als alter Mann
erzählt Mr. Lucraft sein einziges romantisches Erlebnis, jüngeren
zur Warnung, sich selbst zur behaglichen Erinnerung an über-
standene Not. Als entlassener Schauspieler ist er einst in London
herumgeirrt, keinen Penny in der Tasche, eine Beute des quälend-
sten Hungers, den der Duft der Speisehäuser, die leckeren Aus-
lagen der Lebensmitfcelhändler noch unablässig neu aufreizten.
^ Nicht bei Tauclinitz; die Originalausgabe London, Chatto and Windus
o. J. Doch stemmt die Erzählung wohl aus den achtziger Jahren: 1884
erschien eine (verkürzte) deutsche Übersetzung in Schorers Familienblatt.
Schlemihle 121
Ein stattlicher älterer Herr hat ihn angesprochen; auf sein Ge-
ständnis, daß er hungrig sei, hat er ihn ausgefragt nach der
Größe und Art seines augenblicklichen Hungers und seines ge-
wöhnlichen Appetits; schließlich ist er ihm auf seine Einladung
in sein Haus gefolgt. Und das Mahl, das ihm da vorgesetzt wurde
— noch im Alter kann er nicht vergessen, wie er einhieb unter
den Augen und der grotesken Bewunderung seines Wirtes!
Dann ist ihm ein Vertrag vorgelegt worden, nach dem er seinen
Appetit für eine einmalige Summe von, 50 Pfund und ein monat-
liches Gehalt von 30 verkaufen sollte. Er hat gezögert, dann
aber unter dem hypnotisierenden Einfluß des stärkeren Willens
seines Gastgebers unterschrieben, sogar mit dem 'ganz besonderen
Saft', und damit hat eine Zeit unsäglicher Leiden begonnen.
Denn der alte Herr, ein Fresser und Säufer von unbarmherziger
Gier, kannte keine Schonung und sprang mit dem gekauften
Appetit derart um, daß die Folgen bei dem armen Lucraft nur
allzubald sichtbar wnirden. Seine Tage sind hingegangen zwi-
schen Anfällen wüstesten Rausches und der entsprechenden kör-
perlichen Rückwirkung; in den Augen der Welt ist er ein
Trunkenbold schlimmster Art gewesen^ und so hat er sich und
sein Elend verkrochen in einer abgelegenen Wohnung, um wenig-
stens nicht jeden Augenblick der Schande ausgesetzt zu sein, in
der Öffentlichkeit sich in der Gosse wälzen zu müssen. Auch ohne
das hat er sich ja als Ausgestoßener fühlen müssen; jene un-
zähligen menschlichen Beziehungen, die auf der Gemeinsamkeit
der sinnlichen Bedürfnisse beruhen, waren für ihn, der Speisen
wie Getränke nur durch das Gesicht unterschied, nicht mehr vor-
handen, und da ist ihm zu spät die Erkenntnis Schlemihls auf-
gegangen, daß niemand einen Teil seines Selbst, und sei es schein-
bar der entbehrlichste, verhandeln darf, will er als Mensch unter
Menschen leben. Ein paar Monate hat er sich so hingeschleppt,
zuletzt täglich den widerlichsten Tod vor Augen, den Tod, den
vor ihm schon vier andere Opfer seines Peinigers gefunden hatten,
da ist ihm unerwartet noch Rettung geworden. Der Käufer seines
Appetits ist am Schlagfluß gestorben — so hat es wenigstens ge-
heißen; Lucraft freilich ist anderer Meinung: nach Andeutungen,
die der unheimliche Famulus des alten Vielfraßes, der Neger
Bouledeneige, ihm gemacht hat, darf er annehmen, daß er einen
Pakt mit dem Teufel gemacht hatte und dieser rechtzeitig ab-
gelaufen ist.
Die Erzählung ist in ihrer Art ein kleines Kabinettstück;
gewiß fehlt ihr die schlichte, ergreifende Art des deutschen Mär-
chens; zum Typus ^äe unser Schlemihl hätte der brave Lucraft,
der eben ein Durchschnittsphilister ist, nie werden können, aber
darauf hat es Besant auch nicht abgesehen. Er erzählt eine seit-
122 Schlemihle
same Geschichte und gibt ihr als guter Erzähler den Stempel der
Wahrheitstreue, wenn auch groteske Züge in der Schilderung des
teuflischen Negers und seines Herrn, der im bürgerlichen Leben
den Ruf eines frommen Menschenfreundes genießt, nicht gespart
sind; aber von jenem innerlichen Erleben, der Offenbarung eige-
nen Wesens, die Chamissos Märchen hat, ist hier nichts zu spü-
ren, und als Symbol bleibt erst recht der Schattenverkauf einzig
— an einem Appetitsymbol herumzurätseln fällt wohl keinem
ein. Natürlich erinnern wir uns bei dem Motiv an jene Geschichte
Sternbergs — aber ein gewaltiger Abstand trennt dessen
mageren Bericht von der voll entwickelten Erzählungskunst des
Engländers. Dort einfach die nackten Tatsachen, hier sehen wir,
wie ein armer Teufel in Versuchung kommt, folgen ihm Schritt
für Schritt auf der abschüssigen Bahn, erleben Schande und Reue
mit ihm und wissen doch schließlich durch die Einkleidung seiner
Erzählung, daß es gar zu schlimm nicht werden kann. Das ein-
zige, was nicht ganz in den Ton hineinpaßt, ist der Teufelspakt
und Bouledeneige als verkappter Mephistopheles — freilich ist
schwer zu sagen, wie Besant den Knoten sonst hätte lösen wollen:
ein einfacher Schlagfluß wäre zu gut für den alten Heuchler, ein
tragisches Ende hätte zum verkauften Appetit nicht recht gepaßt
— also mußte schon der Gottseibeiuns bemüht werden.
Es bliebe noch zu erwägen, ob Besant von Chamissos Märchen
angeregt woirde; die Frage ist zu bejahen, und wir brauchen uns
dafür nicht auf die vorhandenen englischen Übersetzungen zu
berufen, auch nicht auf jene englische Karikatur zur Krönung
Wilhelms IV., von der Hitzig^ berichtet und die mindestens
beweist, daß im Jahre 1831 eine Anspielung auf Schlemihl und
seine Schattenlosigkeit in England sehr wohl verstanden wurde.
In diesen Zusammenhang gehört noch die Erzählung Shadowless
Men, die Dickens einst in seine Household Words^ aufnahm,
auch ein Ableger des Schlemihl, insofern ihr Verfasser von Cha-
missos scherzhafter Deutung des Schattensymbols in der Vorrede
zur französischen Übersetzung^ ausgeht: ein Schatten kann nur
von einem Körper, einem 'Soliden', geworfen werden, wer also
schattenlos ist, mangelt der Solidität, und so handelt die englische
Erzählung denn von Leuten, die dem äußeren Erfolg nachjagen
und ihn auch erreichen (mindestens zeitweise), die aber vergessen
und andere vergessen machen, daß nur Tüchtigkeit, 'Solidität',
Bürgschaft dauernden Wohlstandes ist. All diese Dinge bezeugen
die Bekanntschaft der Engländer mit Chamissos Märchen; aber
1 Chamissos Werke (Ausgabe Sydow) III 155.
2 Bequem zugänglich in Novels and tales reprinted from Eousehold
Words Bd. VIII, S. 62—78. Leipzig, Tauchnitz, 1858.
3 Von 1838, vgl. Werke ed. Sydow III 150 f.
Schlemihle 123
wüßten wir von ihnen niclits, so würde uns Besant selbst sagen,
woher er das Motiv hat und damit auch die vertiefte Auffassung
von dem, was die Yerschachening eines scheinbar noch so entbehr-
lichen Besitzes für den Menschen bedeutet. Er weist selbst auf
sein Vorbild hin, allerdings nicht im Case of Mr. Lucraft, aber in
einer späteren Erzählung The douhts of Bives} Darin handelt es
sich um das Motiv des Personentausches, und das Wunder wird
bewirkt durch ein orientalisches Geheimmittel. Besant führt be-
kannte Fälle an, bei denen das Mittel seine Wirkung getan habe-,
und fährt fort: 'Ja, sogar Teile des Menschen sind verkauft oder
ausgetauscht worden. Derart sind die Fälle Peter Schlemihls, der
seinen Schatten verkaufte, und Luke Lucrafts, der seinen Appetit
verkaufte . . .' (es folgen noch einige Beispiele, die mit unserem
Motiv nichts zu tun haben). Das ist eine Nebeneinanderstellung,
die uns wohl das Eecht gibt, Besants Erzählung als beabsichtigtes
Seitenstück zu unserem Märchen anzusehen.
Ganz anziehend ist nun, daß Besant in diesen Zusammen-
hang die Geschichte von der verlorenen Persönlichkeit bringt
(z. B. vom sizilischen König Robert, der in einen Bettler ver-
wandelt wurde); es ist ein Motiv, das bis in die neueste Zeit zu
dichterischer Gestaltung gelockt hat. Und wirklich, der aus-
gestoßene König und seinesgleichen tragen etwas von Schlemihl
an sich; sie haben nur nicht einen Teil ihrer sinnlichen Erschei-
nung verloren, sondern das Ganze, indessen fehlt doch der cha-
rakteristische Handel, das Abtreten unverwertbaren Besitzes für
äußere Vorteile, wirklich zu unserem Motiv gehören sie also nicht.
Aber eine neuere Behandlung nähert sich doch unserem Thema so,
daß .sie hier einen Platz verdient; es ist eine Geschichte von H. G.
Wells, der bekanntlich einer der glücklichsten Vertreter der
phantastischen Erzählung im heutigen England ist; sie findet sich
in der Sammlung The Plattner story^ und heißt The story of the
late Mr. Elvisham.
Einzelheiten erinnern an Besant: auch hier ein junger Mensch,
ein Student, in beschränkter Lage, von bester Gesundheit und in
voller Lebenskraft, wovon sich der Versucher, ein gebrechlicher
Greis, aufs sorgfältigste überzeugt; auch hier spielt der hypnoti-
sierende Blick eine Rolle; die Verlockung besteht darin, daß der
Alte, ein berühmter Gelehrter von großem Reichtum, den Jüng-
ling zu seinem Erben einsetzen will, nur müsse er sich verpflich-
ten, seinen Namen zu tragen. Und dann kommt die entscheidende
Stunde bei einem Essen, zu dem der alte Elvisham seinen kräf-
tigen Erben eingeladen hat. Er bringt ihn dahin, seine Zukunft
mit seines Wirtes Vergangenheit zu vergleichen, und als das Wort
1 Sammlung Verbena Carnellia Stephanotis, Leipzig, Tauchnitz, 1892;
vgl. S. 59. 2 Leipzig, Tauchnitz, 1900.
124 Schlemihle
fällt, daß des großen Gelehrten Vergangenheit wohl des Jüng-
lings Zukunft wert sei, fragt er ihn, ob er denn tauschen wolle.
'Sie nehmen vielleicht meinen Namen, meine Stellung, aber wür-
den Sie denn auch bereitwillig meine Jahre nehmen?' Und der
Student antwortet 'ritterlich', ohne sich viel dabei zu denken: 'Ja,
mit dem, was Sie geleistet haben.' Da wird er beim Wort ge-
nommen, ein geheimnisvolles Pulver bringt das Werk zustande:
am anderen Morgen erwacht er als Elvisham, ein Greis mit allen
Altersgebrechen, und ist noch dazu betrogen, denn Elvisham hat
ihm außer seinem kränklichen Körper nur gelassen, was er ge-
leistet hat, aber den Intellekt, der ihn dazu instand setzte, hat er
behalten, und außerdem ist er jetzt in seiner neuen Verkörpe-
rung sein eigener Erbe und wird nicht lange zu warten haben.
Mit teuflischer Schlauheit hat er seinem Opfer alle Mittel ge-
nommen, den Tausch rückgängig zu machen, man hält ihn für
wahnsinnig, und so findet er keinen anderen Ausweg als die Selbst-
befreiung durch von seinem Verderber mit tückischer Berechnung
bereitgestelltes Gift. Die Erzählung hat Ichform, gibt sich als
die letzten Aufzeichnungen des Unglücklichen; wir sollen darin
aber durchaus nicht die fixe Idee eines Wahnsinnigen erblicken
— lakonisch setzt Wells hinzu, daß in der Tat Elvishams ge-
samtes Vermögen einem jungen Manne namens Eden verschrieben
war, dieser aber vierundzwanzig Stunden vor dem Selbstmord
Elvishams einem Straßenunfall zum Opfer fiel.
Natürlich gilt, wenn die phantastische Erzählung ein solches
Thema behandelt, Lessings Lehre von den Geistererscheinungen
auf der Bühne: es ist Sache des Dichters, uns in die Stimmung
zu versetzen, in der wir bereit sind, ihm zu folgen. Chamisso
überwand diese Schwierigkeit, indem er von Anfang an, von dem
Augenblick, wo der Graue die seltsamsten Dinge aus der Tasche
zieht, ohne daß jemand anders als Schlemihl sich darüber wun-
dert, seine Leser daran gewöhnt, inmitten des Alltäglichen dem
Wunder zu begegnen; Besant und Wells aber meiden durchaus
die Märchenluft, und da kommt freilich ein Augenblick, wo wir
stutzen: bei Besant, wenn unter der Maske des Negers der Teufel
hervorlugt, bei Wells, wenn das geheimnisvolle Pulver zu wirken
beginnt — gewiß, ihre hochentwickelte Erzählungskunst läßt uns
nicht los, aber etwas überlistet fühlen war uns doch: in dieser
Form empfinden wir das Wunder als etwas Fremdes in der Um-
gebung, in der es uns entgegentritt.
Darum scheint zur Atollen Wirkung der Schlemihlhandel doch
das Märehen zu brauchen, und als solches finden wir ihn bei
Oscar Wilde in The fishennan and his soul} Das Problem
lu Ä housc of pomcyranatcs.
Schlemihle 125
scheint Wilde an und für sich gereizt zu haben: auch sein Eoman
The picture of Dorian Gray berulit ja auf einem ähnlichen Ge-
danken: wenn Dorian auf die natürliche Eigenschaft des Men-
schen zu altern verzichtet, wenn nicht mehr in seiner äußeren
Erscheinung, sondern an seinem Bilde sich die Spuren der vor-
überrollenden Jahre zeigen, so gibt auch er einen Teil seines
Selbst auf. Doch was hier nur ein Anklang ist, kommt im Mär-
chen zur vollen Entwicklung.
Ein Fischer wirbt um die Liebe einer Mxe — erfolglos, denn
erst wenn er seine menschliche Seele fortschickt, will sie ihn er-
hören. Und weil seine Seele ihm ja doch nichts nützt, weil er sie
nicht sehen, nicht fühlen kann, die Nixe aber über alles liebt, so
forscht er überall, wie er denn seiner Seele ledig werden kann.
Endlich findet er Rat bei einer Hexe: mit einem Messer, das sie
ihm gibt, soll er rund um seine Füße herum seinen Schatten ab-
schneiden und ihn gehen heißen, denn der Schatten ist nicht der
Schatten des Leibes, sondern der Leib der Seele. Der Fischer
tut es; aber die Seele, die nun vor ihm steht, ein Bild seiner selbst,
will sein Herz mithaben, denn die Welt ist grausam — aber wie
kann er ihr geben, was der Geliebten gehört! Da scheidet die
Seele, doch einmal in jedem Jahr will sie den Fischer rufen, am
selben Ort wollen sie sich treffen, vielleicht werde sie der Fischer
brauchen. So trennen sie sich: der Fischer eilt ins Meer zur Ge-
liebten, der Schatten oder die Seele geht in die Welt. Zweimal
ruft dann die Seele den Fischer zum Stelldichein: seltsame Er-
lebnisse berichtet sie von ihren Fahrten, und mit deren Beute, dem
Spiegel der Weisheit, dem Ring des Reichtums, lockt sie ihn, ihr
zu folgen. Aber mehr als Weisheit und Reichtum ist Liebe; erst
der dritten Versuchung erliegt der Fischer: eine \\a^inderbare Tän-
zerin will er sehen, denn die Nixe hat keine Füße. So tritt die
Seele wieder in seinen Leib, er warft seinen Schatten wieder, und
auf ihr Geheiß wandert er Tag für Tag weiter, und jeder Tag ist
bezeichnet mit einer kaltblütigen Untat, die er auf Antrieb seiner
Seele begeht — er hat sie ja ohne Herz in die böse Welt hinaus-
gesandt, was Wunder, daß sie deren Weise angenommen hat. Ihn
packt der Ekel; er will sich von ihr trennen, wie er es früher
getan hat, aber er muß hören, daß das nur einmal möglich war,
jetzt müsse er seine Seele behalten. Da preßt er die Lippen zu-
sammen, bindet sich die Hände, um allen Einflüsterungen seiner
bösen Seele zu trotzen, und kehrt zurück an den Seestrand. Aber
die Nixe hört nicht mehr auf seinen Ruf, mag er ihn auch ein
Jahr täglich wiederholen, und stündlich lockt ihn die Seele, die
Liebe zu opfern. In bitteren Nöten vergehen ihm die Tage: die
Seele beugt sich, wie sie ihm zuflüstert, seinem Willen, nun möge
er ihr aber auch sein. Herz öffnen, daß sie eins mit ihm werde wie
126 Schlemihle
in früheren Tagen. Drückt ihn denn nicht auch Schuld gegen sie?
Hat er sie nicht hinausgestoßen in die Welt? Und was muß sie
da gelitten haben, ehe sie hart und eigennützig wurde! Er will
ihren Wunsch erfüllen, ihr sein Herz öffnen, doch wie ein Wall
umgibt es die Liebe, und sie findet keinen Eingang. Da über-
wältigt ihn das Mitleid; er will ihr helfen — aber ein Trauer-
schrei ertönt vom Meere, die Wellen tragen die Leiche der Ge-
liebten zu ihm, er läßt die Flut auch über sich hingehen, um mit
ihr zu sterben, denn jetzt weiß er, daß Liebe nicht nur stärker ist
als Weisheit und Reichtum, sondern auch als die Schönheit der
Menschentöchter. Als ihm aber das Herz bricht durch die Fülle
seiner Liebe, findet die Seele den Eingang in sein Innerstes: im
Tode ist er mit der Geliebten vereint als derjenige, der er einst
war in den Tagen der Vergangenheit.
Vergeblich wäre es wohl hier, im einzelnen nach einer beson-
deren 'tieferen Bedeutung' zu suchen oder gar allegorisch aus-
legen zu wollen. Wilde hat mit allem Glanz seines Stils, mit
einer Fülle von phantastischen Erfindungen ein Märchenschicksal
symbolisch gestaltet — ist es ein Schlemihlschicksal? Der Fischer
erkauft mit seiner Seele die Liebe seiner Seejungfrau, aber er ver-
kauft sie nicht an irgend jemand, der ihm ein anderes Gut dafür
gäbe. Wohl spielt der Teufel eine gewisse Rolle: der Lohn der
Hexe für das Geheimnis ist, daß der Fischer mit ihr tanzt, und
daraus wird dann eine Art Walpurgisnachtszene ; aber dem Teufel
zu huldigen weigert sich der Jüngling, und so kann von einem
Satansliandel nicht die Rede sein. Auf der anderen Seite ver-
zichtet der Fischer aber doch auf seine Seele, um etwas zu ge-
winnen, was ihm mehr gilt, und die Art, wie er sich selbst und
anderen den Verlust als unwesentlich hinstellt, ist ganz in der
Art der Schlemihle. Wie ihnen ergeht es ihm dann auch: weil er
seine Seele hingegeben hat, ruht seine Liebe nur auf Sinn und
Herz; es ist nicht die Liebe des ganzen Menschen. Drum unter-
liegt er einer stärkeren Sinnenlockung, und nun trifft ihn das volle
Schlemihlschicksal. Auch da er der Seele in die Welt folgt, ist
er nicht ein ganzer Mensch, die Seele ist ja nicht wirklich eins
mit ihm; so fühlt er sich in der Welt fremd, sein Handeln verletzt
alle Gesetze menschlicher Gemeinschaft, zum Seevolk kann er
auch nicht zurück, und so ist er hier wie dort ein Ausgestoßener
— erst der Tod kann die Versöhnung bringen.
Ob Wilde eine Anregung durch Chamisso erhielt, wage ich
nicht zu entscheiden; uns Deutschen wird ja sicherlich der los-
gelöste Schatten die Erinnerung an unseren Schlemihl wecken,
aber wir dürfen nicht vergessen, daß eine alte Märchenvorstellung
die Seele mit dem Schatten gleichsetzt,^ und folglich Wilde von
1 Vgl. V. d. Leyen, Das Märchen (Leipzig 1911) S. 55.
Schlemihle 127
dieser aiiso:e^angen sein kann. Wie dem min sei, auf jeden Fall
ist klar, daß Wilde dadurch, daß er das bürgerlich alltägliche
Leben und die Gegenwart, in der sonst unsere Geschichten spie-
len, mit der romantischen Märchenwelt vertauschte, sich jene
Fortbildung des Motivs ermöglichte, die in der Rückkehr des
Schattens oder der Seele liegt. Bei Chamisso und seinen unmittel-
baren Gefolgsleuten ist und bleibt der Schatten, oder was sonst
an seine Stelle tritt, etwas Lebloses, eine Sache, die man ver-
kaufen kann; in Wildes Märchenwelt kann das dahingegebene
Gut ein selbständig handelndes Individuum sein, braucht daher
nicht verkauft, sondern kann fortgeschickt werden.
Es ist merkwürdig, daß dieser Zug vorweggenommen war von
dem nordischen Märchendichter Andersen, der sich lange vor
Wilde des Stoffes bemächtigt hatte, er in unraittelbarem Zu-
sammenhang mit Chamisso, den er persönlich kannte und auf
dessen Veter Schlemihl er noch dazu in seinem Märchen Der
Schatten ausdrücklich als auf einen Vorgänger seines Helden an-
spielt. Auch in anderer Beziehung wirkt seine Erzählung als
Mittelglied zwischen Chamisso und Wilde: einerseits bleibt er in
der Gegenwart, läßt alltägliche Leute in alltäglicher Umgebung
auftreten, anderseits läßt er aber doch diesen Alltag als märchen-
haft erscheinen, und zwar nicht nur durch die Kette von wunder-
baren Vorfällen, die sich in ihm abspielen — das wäre bei Cha-
misso ja nicht anders — sondern an und für sich: es geschieht
hier wie oft bei Andersen durch Hineinbeziehung der Großen
dieser Erde, die sich nun in der modernen Umgebung so gemüt-
lich absolutistisch und ungeniert benehmen, wie man sich es eben
nur im Märchen gestatten kann.
Andersen erzählt von einem Gelehrten, der seinen Schatten
auf Kundschaft schickt nach einem geheimnisvollen Hause, das
seine Wißbegier erregt hat; er soll gehen, aber das AViederkommen
nicht vergessen. Doch der Schatten kehrt nicht zurück, und so ist
der Gelehrte schattenlos. Aber das ist nicht so schlimm, wie es
aussieht; dem neuen Schlemihl wächst der Schatten nach, und so
vergißt er denn schier sein Erlebnis. Aber nach Jahren kehrt der
Schatten zurück: ein feiner Herr in Schwarz, nur ein bißchen
mager; er berichtet, jenes Haus sei das Haus der Poesie gewesen,
und bis ins Vorgemach sei er gekommen. Da sei er denn über sich
ins klare gekommen: sein ehemaliger Herr wäre nicht Mensch
geblieben, wenn er sich dorthin gewagt hätte; er aber sei Mensch
geworden und habe seine Laufbahn gemacht. Sehr ehrenwert ist
sie in der bösen AVeit, über die er klagt, kaum gewesen, aber was
tut's: jetzt ist er ein gemachter Mann. Und er bringt es noch
weiter: als er nach einigen Jahren wiederkommt, ist er dick und
fett geworden; sein ehemaliger Herr aber grämt sich, weil nie-
128 Schlemihle
mand seine Bücher über das Wahre, Gute und Schöne liest. So
kehrt sich denn das Verhältnis der beiden um: der Schatten er-
weist sich als der Stärkere, schließlich mietet er sich seinen Herrn
als Reisebegleiter und gibt ihn gar (denn er selbst ist schattenlos)
als seinen Schatten aus. Damit imponiert er einer Königstochter
derart, daß sie sich in ihn verliebt und ihn heiraten will; er aber
stellt jetzt die letzte Zumutung: sein Herr soll sich als sein Schat-
ten bekennen und jährlich einmal ihm zu Füßen liegen. Da em-
pört sich freilich dessen Menschenwürde, aber zu spät; der Schat-
ten behauptet, sein Schatten sei verrückt geworden, er läßt ihn
ieinsperren, und als Hochzeit ist, da hat man den Gelehrten schon
wegen Majestätsbeleidigung hingerichtet.
Die Übereinstimmung zwischen Andersen und Wilde geht
recht weit: hier wie dort wird der Schatten fortgeschickt, erlebt
besondere Abenteuer in einer bösen und eigennützigen Welt, kehrt
zurück zum alten Herrn und erweist sich als der Stärkere; hier
wie dort ist das Ziel des einst Verstoßenen eine Aufhebung der
Trennung, eine Wiedervereinigung; hier scheiden sich dann die
Wege: bei Wilde eine Art Versöhnung im Tode, bei Andersen
der Triumph des Schattens. Die dichterische Gestaltung ist bei
Wilde weit überlegen: abgesehen davon, daß Andersen die Gleich-
setzung von Schatten und Seele nicht vornimmt, hat er nichts
von dem Erfindungsreichtum und dem phantastischen Glanz des
englischen Märchens; noch bedenklicher ist, daß auch in sich sein
Bau kaum recht haltbar erscheint. Er kann nicht mit seinem
schlichten Märchensinn bestehen: das Haus der Poesie, in dessen
Vorhof der Schatten gelangt, das der Gelehrte nur von ferne sieht,
weist allzu deutlich auf irgendeinen allegorischen Sinn hin. Daß
jemand, der selbst versäumt hat, sich den Weg ins Haus der
Poesie zu bahnen, nachher vergeblich Bücher über das Wahre,
Gute und Schöne schreibt, ist verständlich; aber was es bedeuten
soll, daß er seinen Schatten entsendet, dieser nur zum Vorhof ge-
langt und dann sein Leben auf eigene Hand führt, ist doch sehr
undurchsichtig. Darf man überhaupt so mit Märchenmotiven
umspringen, wie es hier geschieht? Der Gelehrte ist zunächst
nach Entsendung des Schattens schattenlos; dann wächst ihm
aber der Schatten wieder! Das ist wahrhaftig nicht Märchenart
und weist wieder auf allegorische Bedeutung hin. Man möchte
daran denken, daß der Gelehrte einst nach hohen Zielen strebte;
aber er hat sich nicht mit seiner ganzen Persönlichkeit eingesetzt;
zufrieden mit einer Annäherung an das Ideal, hat er sich begnügt
mit dem, was im Vorhof der Poesie zu finden war und jedem zu-
sagte. Er ist dann andere Wege gegangen; aber als er von neuem
den Idealen seiner Jugend, dem Wahren, Guten und Schönen,
nachtrachtet, findet er, daß er sein Bild festgelegt hat, er kommt
Schlemihle 129
nicht auf gegen die einmal bestehende Vorstellung, er unterliegt
seinem falschen Ich. Dann wäre also der Schatten etwas wie der
Ruf des Menschen; aber man kann nicht sagen, daß die Deutung
zwingend ist; wenn der Gedanke, den Schatten zum Herrn des
Körpers zu machen, seinen Reiz hat, so braucht er doch eine an-
dere Durchführung als diese zwischen Märchen und Allegorie
ziemlich unerquicklich schwankende, in der das phantastische Ge-
schehen in keiner Weise typisch wirkt.
Die holländische Fassung des Themas, von der Goedeke be-
richtet, ist mir leider unbekannt geblieben, und auch aus Frank-
reich kann ich nichts von Schlemihlgeschichten berichten, ab-
gesehen von der nicht näher nachgewiesenen Vorlage von Spind-
lers Erzählung. Als verwandt berührt allerdings das Motiv von
Balzacs La peau de chagrin, das seinerseits ja wieder zu Wildes
Picture of Dorian Gray Beziehungen hat, aber es ist doch nur
eine Verwandtschaft. Zur eigentlichen Schlemihlfamilie gehört
Raphael de Valentine nicht. Es fehlt der eigentliche Handel:
das geheimnisvolle Stück Leder, das jeden Wunsch erfüllt,
sich aber auch mit jedem Wunsche verkleinert, ist eine freie
Gabe. Indem er sie annimmt, findet er sich freilich auch damit
ab, daß seine Lebensdauer an die Größe des Talismans geknüpft
ist, jeder erfüllte Wunsch kürzt ihm die Frist seiner Tage. Aber
er gibt doch nichts hin, was im eigentlichen Sinne zu ihm als
Sinnen wesen gehört: seine Gesundheit als solche behält er ja, sie
wird erst in dem Maße gefährdet, wie der Talisman stärker ab-
nimmt; die Lebensdauer ist aber nur ein relativer Begriff: Achill
ist kein Schlemihl, wenn er das kurze, ruhmerfüllte Leben dem
langen, tatenlosen vorzieht.
Damit hätte ich aufgezählt, was mir von Nachbildungen des
Schlemihlhandels bekannt geworden ist; es bleibt ein Wort zu
sagen über die literarische Gestaltung des Typus, dem Chamisso
durch seinen Märchenhelden den Namen gegeben hat, also über
den geborenen Pechvogel, das Opfer nicht einer Schuld, sondern
eines Fatums. Im Zusammenhang dieser Abhandlung ist da wohl
Beschränkung am Platze: die Sachlage ist doch die, daß in einer
Monographie des Pechvogels den Schlemihlen ein Kapitel ein-
zuräumen wäre, daß aber nicht jener als die ältere, häufig mit
Peter Schlemihl in gar keinem Zusammenhang stehende Gestalt
anhangsweise beim Schlemihltypus behandelt werden kann. Vom
Unstern, dem Studenten Anseimus und einem oder dem anderen
ihrer Art ist die Rede gewesen, weil sie Zeitgenossen Schlemihls
sind; daß die weitere Entwicklung wohl verdiente, einmal dar-
gestellt zu werden, kann für sich allein schon die eindrucksvollste,
weil am tiefsten aufgefaßte, am mächtigsten ausgeführte Aus-
prägung des Motivs beweisen: Fr. Th. Vischers Auch einer.
Archiv f. n. Sprachen. Sonderheft. 9
130 Schlemihle
Aus demselben Grunde bleiben auch ausländische Pechvögel bei-
seite, denn der Name Schlemihl als Bezeichnung für diesen Typus
ist doch wohl nur im Deutschen üblich. An sich wäre ja jener
gute Kerl in der ersten Erzählung von Richepins Les morts
bizarres eine prachtvolle Illustration zu Chamissos eigener Deu-
tung des Namens Schlemihl: jede beste Absicht wird ihm falsch
ausgelegt, jede Wohltat schlägt demjenigen, dem sie helfen soll,
zum Verderben aus, unschuldig kommt er ins Zuchthaus und
stirbt schließlich sogar durch Henkershand; zu böser Letzt steht
auf dem Grabstein, den ihm der einzige, der seines Wesens Güte
erkannt hat, setzen läßt, unter seinem Namen statt 'homme de
bien' 'homme de rien'! Wir Deutsche könnten für Helden und
Geschichte kaum einen besseren Namen finden als 'Ein neuer
Schlemihl' — Eichepin überschreibt sie so, wie sein Pechvogel
heißt Constant Giiignard: sicherlich eine .treffliche Taufe, aber
aus unserm Kreise rückt damit die Erzählung.
So begnüge ich mich denn einige Werke zu nennen, deren
Schöpfer durch die Bezeichnung ihres Helden als Schlemihl seine
Einreihung unter die Nachkommenschaft der Chamissoschen Ge-
stalt wenigstens nahelegen. Voran steht, wenigstens zeitlich, eine
Geschichte von Er. T h. W a n g e n h e i m. Der Schlemihl^ -ge-
nannt, aus dem Jahre 1838. Ein Jüngling, der gar nicht weiß,
wie dumm er ist, erzählt von mancherlei unvermutetem Pech, das
ihn betroffen hat und das ihm den Namen Schlemihl — er hat
ihn freilich selbst als Pseudonym für herzbrechend schlechte Ge-
dichte benutzt — eingetragen hat; er wandert schließlich aus und
wird ins Land der Schlemihle verschlagen, dessen König ihn als
Missionar des Schlemihlianismus wieder nach Europa schickt.
Hierher gehört auch die schon erwähnte Posse Peter Schlemihl
von David Kalisch,^ die am 17. Mai 1850 erstmalig auf-
geführt wurde, ein anspruchsloses Stückchen, das freilich Wan-
genheims armseliges Erzeugnis an Laune und Witz weit über-
ragt. Der Schauplatz sind Pankows damals noch ländliche Flu-
ren. Peter Schlemihl, ein Witwer in schon vorgerückten Jahren,
ist der Bräutigam einer reichen Bauerstochter, die ihn natürlich
nicht mag, weniger seines Äußeren wegen, als weil er eben ein
'graulicher Schlemihl' ist, weil ihr 'sein Charakter, sein Tempera-
ment, seine fortwährende Angst vors Schicksal' zuwider sind.
Der Vater tröstet: 'er hat viel Unglück gehabt, das Schicksal hat
ihn verfolgt, und da ist er denn jetzt — was der Jöbildete sagt —
Eataliste geworden' — mit welchem Recht, darüber gibt Schlemihl
selbst in einem Couplet ergiebige Auskunft, und die Handlung
1 In Eistorische Novellen (Hamburg) S. 95 — 136; was an dieser wie den
anderen Geschichten 'historisch' sein soll, ist das Geheimnis des Verfassers.
2 Berlin 1850 (Manuskriptdruck).
Schlemihle 131
bestätigt es reichlich; der Schluß ist natürlich, daß Schlemihl um
eine erhoffte Erbschaft und damit zugleich um die Braut kommt.
Wir haben also bei Wangenheim und Kaiisch Schlemihl als
bloß lächerliche Figur; die Widerwärtigkeiten, die den Pechvogel
treffen, sind entweder an sich rein komisch (beim Sektgelage
fliegt Waugenheims Schlemihl der Pfropfen an die Nase u. ä.)
oder erscheinen in komischer Beleuchtung; im übrigen sind auch
die Pechvögel ziemlich unangenehme Menschen, ihr Unglück er-
weckt also kein Mitgefühl, wirkt teilweise als verdient. Aber
wir erinnern uns, wie Chamisso in seiner Erklärung der Bezeich-
nung Schlemihl aus der Sprache der Juden die Frage, ob der Be-
treffende sein Geschick etwa verdiene, ganz beiseite läßt, wie
nach seiner gesamten Ausdrucksweise sogar anzunehmen ist, daß
es sich um unverdientes, schicksalgegebenes Unglück handelt.
Faßt man die Sache aber so, dann verdient der Schlemihl Mit-
gefühl, ist alles andere als Possenfigur — bei der Herkunft der
Bezeichnung ist es kein Wunder, daß wir diese Auffassung auch
zunächst bei den Juden vertreten finden, zuerst, soweit ich sehe,
bei Leopold Kompert, der eine seiner Erzählungen Schle-
miel^ nennt. Er beginnt mit einer Begriffsbestimmung, die sich
inhaltlich genau mit derjenigen Chamissos deckt; er zeichnet
dann das Bild eines braven Menschen, dem nur eine unglückselige
Empfindlichkeit gegen äußere Eindrücke Spannkraft und Selbst-
vertrauen raubt; gewiß, er ist ein Pechvogel, aber was ihn an
Ungemach trifft, würde von einem anderen leicht genug verwun-
den oder abgeschüttelt werden, er aber läßt sich einschüchtern,
wehrt sich gar nicht oder zu spät und gerät so schließlich unter die
Räder des Geschicks. Er bleibt ein liebenswürdiger Mensch, wir
bedauern ihn und zucken dabei die Achseln, weil es doch
schließlich an und für sich so geringfügiges Mißgeschick ist, das
ihn aus dem Gleise hebt, aber wir verstehen, wie die er-
drückende Summe ihn am Leben verzweifeln läßt, ihn in den
Tod treibt. Eine leise Komik haftet dabei an seinen Erlebnissen
wie an seiner Person - — aus der Possengestalt ist der Held einer
menschlich ergreifenden Tragikomödie geworden.
Komperts Anschel ist sicherlich ein Typus und dürfte bei
Schriftstellern, die das jüdische Volkstum schildern, mehr als
einen Nachfolger gefunden haben ;^ anderseits hat aber Kompert
seine Gestalt so fein herausgearbeitet, daß man sich wohl die
Vorgänge der Handlung anders denken kann, aber kaum ersicht-
lich ist, wie der Schlemihl selbst über dies Musterbild hinaus ent-
1 In Atis dem Ghetto (1848) .
2 Ein freundlicher Zufall hat mir das Israelitische Familienilatt Eam-
hurg zugeführt. Darin findet sich (19. Jahrg. Nr. 6; 8. 2. 1917) eine
Skizze Der Schlemihl von H. Links.
132 Schlemihle
wickelt werden sollte. Wohl aber war das möglich, wenn man
die Gestalt mit dem Chamissoschen Märchenhelden in Beziehung
setzte. Denn wenn Wangenheim die Bezeichnung wohl kaum
gewählt hätte, wenn sie nicht durch Chamisso allgemein bekannt
geworden wäre, so ist das bei dem Juden Kompert, der spezifisch
jüdisches Leben schildern will, nicht der Fall: seine Erzählung
könnte genau ebenso geschrieben worden sein, wenn es niemals
ein Märchen vom schattenlosen Peter gegeben hätte.
Anders steht es aber mit einer Geschichte, die sich in dem
großen Sammelwerk von Sagen, Erinnerungen usw. der böhmi-
schen Juden, den Sippurim,^ findet; sie heißt Ein jüdischer Peter
Schlemihl, und David M e n d 1 ist der Verfasser. Freilich : wem
sie der Zufall ohne den Titel zutrüge, würde kaum auf den Ge-
danken kommen, daß sie irgend etwas mit unserem Chamisso zu
tun haben könne. Von Jekewel handelt sie, einem hochbegabten
Talmudschüler, den aber Eitelkeit und Hochmut auf falsche
Wege bringen, der sich durch die abendländische Philosophie dem
überlieferten Glauben seiner Väter entfremden läßt. Es kommt
zu einer Katastrophe; er wird als nicht mehr rechtgläubig gemie-
den und sinkt zum niedersten Verkehr, zu den Ausgestoßenen des
Ghetto, herab. Aber die milde Menschenweisheit eines neuen Rabbi
rettet ihn; er geht in sich, sühnt, was er gefehlt hat, und wird als
verirrtes, nun aber um so teureres Schaf wieder aufgenommen.
Literarische Vorzüge hat die breiterzählte Geschichte nicht, aber
sie ist ein echter Sproß von Chamissos Märchen, wie die Vorrede
in aller Ausführlichkeit dartut. Da erzählt der A^erfasser, wie er
zum hundertundersten Male Chamissos Märchen gelesen habe; im
Traum sei ihm darauf Peter Schlemihls Gestalt erschienen, aber
vor seinen sehenden Augen habe sie sich allmählich in die Jeke-
wels verwandelt, der schließlich als jüdischer Peter Schlemihl vor
ihm gestanden habe. Wie die Gedankenverbindung zustande kam,
ist leicht zu sehen: nicht aus dem dichterischen Eindruck des Mär-
chens und seines Helden, sondern aus einer Deutung des Schatten-
verlustes. Mendl sah darin zweifellos Chamissos Vaterlandsver-
lust symbolisiert; der Umstand, daß sein Jekewel ebenfalls in
die Gefahr kommt, seinen natürlichen Boden in Religion und
Volkszugehörigkeit zu verlieren, genügte ihm, um ihn zum 'jüdi-
schen Schlemihl' zu machen, obwohl sonst nach Charakter und
Schicksalen gar keine Beziehungen bestehen.
Diese Deutung von Chamissos Märchensymbol lag nahe genug
und ist oft gegeben — es ist also nicht verwunderlich, daß sie
auch einer zweiten Erzählung zugrunde liegt, dem Roman von
Johann Georg Meyer Der neue Schlemihl.- Er beginnt ge-
1 Herausgegeben von Jak. W. Paseheles; 5. Sammlung (Prag 1864)
S. 210—80. 2 Berlin 1905.
Schlemihle 13
waltig romantisch, wenn man will auch hintertreppenmäßig: Zi-
geuner stehlen aus Rache ein Grafenkind im zartesten Säuglings-
alter, den Sproß einer alten französischen Adelsfarailie, die ihren
Sitz nicht weit von der deutsch-französischen Grenze hat; un-
mittelbar darauf stirbt durch die Unvorsichtigkeit der Hebamme
das gleichaltrige Söhnchen eines altdeutschen und alldeutschen
Oberlehrers in einem elsässischen Städtchen. Da ein Zufall die
Hebamme und die Zigeunerin, die den Grafensohn trägt, gerade
rechtzeitig zusammenführt, kann der junge Franzose an die Stelle
des toten Kindes treten, ohne daß irgend jemand etwas merkt und
— das übrige kann man sich denken. Der Fremdling wächst em-
por in den Anschauungen seines vermeintlichen Vaters, bis die
Entdeckung der wahren Verhältnisse erfolgt. Sie zerreißt sein
Leben: als Deutscher kann er sich gerade von seinem betont völki-
schen Standpunkt nicht mehr betrachten; in den Anschauungs-
kreis des väterlichen Hauses findet er sich auch nicht hinein,
Freundschaft und Liebe zerbrechen ihm: er hat nicht hier, nicht
dort Vaterland und Volk. Endlich findet er den AVeg, der ihm
das Leben erträglich macht: es ist der Verzicht auf persönliches
Glück, die Arbeit an der völkerverbindenden Wissenschaft.
Die peinliche Stellung zwischen zwei Völkern ist ein dichte-
rischer Vorwurf, zu dessen Behandlung Ereignisse der jüngsten
Vergangenheit mehrfach angeregt haben — man denke nur an
Schickeies Hans im Schnakenloch — es ist nicht ohne Reiz,
daß der Roman das Problem in seiner Weise vorausgenommen und
es dabei unter den Schutz Peter Schlemihls gestellt hat. Die
Schicksale des Helden sind dabei auch viel mehr, als es bei
Mendl der Fall war, nach dem Vorbilde gestaltet worden, freilich
hat der Verfasser mit der unerlaubt unwahrscheinlichen Kon-
struktion der Voraussetzungen die Ähnlichkeit etwas teuer er-
kauft. Schickele hat damit, daß er den Elsässer als solchen hin
und her gezogen sein läßt zwischen dem Staate der Väter und dem
Lande der Stammesgenossen, ein ganz anders ergreifendes,
menschlich bedeutsameres Motiv gefunden und hat ja auch, wozu
freilich die besonderen Umstände reichlich beigetragen haben,
einen ansehnlichen Erfolg gefunden, während Meyers Roman
ziemlich unbeachtet blieb — mehr als Durchschnittsware ist er
freilich nicht.
Wir hatten gesehen, daß Schlemihl als Pechvogel bei Kompert
zu einer Art endgültiger Prägung als jüdischer Typus gediehen
war; eine Weiterentwicklung war auf diesem Boden nicht wahr-
scheinlich — wohl aber ist die Möglichkeit dazu gegeben, wenn
man den Typus aus dieser einengenden Umgebung herausnimmt,
wobei dann auch seine komischen Züge fallen können. So ist
Richard Schaukai verfahren in drei Geschichten, die er
134 Schlemihle
unter dem gemeinsamen Titel Schlemihle'^ vereinigt hat — die
zweite, Elisa Hußfeldt, läßt sich freilich nicht gerade leicht unter
den Gesichtspunkt bringen, den der Sammeltitel fordert. Der
Schlemihl soll doch wohl Elisas Gatte sein: ein Mann, der reich
und elegant ist, der auch einen eigentümlichen Reiz auf seine Um-
gebung ausübt und der doch am Leben scheitert. Es fehlt ihm
irgend etwas, was den Mann macht: er wird mehr geheiratet als er
heiratet, er lädt in der Ehe die erste Schuld auf sich, aber nicht
durch Leidenschaft, sondern durch etwas, was er sofort als un-
besonnene Geschmacklosigkeit empfindet; er könnte dann den
Ehebruch seiner Frau sehr wohl verhüten, wenn er nur nicht den
rechten Augenblick verpaßte; er treibt ins Duell mehr hinein,
als daß er es herbeiführt, und nicht viel anders ist es mit der Schei-
dung. Dabei gehören die beiden Gatten doch eigentlich zusam-
men, aber wieder gestalten sich dieDinge so, daß die Frau die ent-
scheidenden Schritte tut. Da überkommt ihn das Gefühl eines
verfehlten, zwecklosen Lebens — mit der Pistole setzt er den
Schlußpunkt darunter. Weit deutlicher ist die Beziehung zum
Typus in der ersten und dritten Geschichte: jene, Mathias Siehen-
list und das Schloß der hundert Liebhaber, erzählt von einem
Buckligen, einem unehelichen Proletarierkind, den sein Äußeres
und seine Herkunft von den Freuden des Lebens ausschließen,
die er doch in Wien verlockend genug vor Augen sieht. Ein selt-
sames Freundschaftsbündnis schließt ihn an einen heruntergekom-
menen Kavalier; dessen Erzählungen, dessen Erbschaft — sie
besteht aus Liebesbriefen und den Bildnissen schöner Frauen
zaubern ihm eine erotische Traumwelt herauf, deren Königin die
Mutter jenes Grafen, einst eine große Sünderin, ist. Für seine
Phantasie ist keine Zeit vorhanden; er sieht sie vor seinem gei-
stigen Auge in all den Reizen verführerischer Frauenschönheit,
und wirklich erblickt er auch einmal im Prater von ferne sein
Ideal. Aber nur von fern, und Aug' in Auge muß er sie sehen;
so lauert ör Tag für Tag auf ihren Wagen, bis die große Stunde
komme. Endlich soll sein Hoffen belohnt werden, er stellt sich
der Equipage in den Weg — was er sieht, ist 'ein welkes, faltiges,
müdes Gesicht, erloschene Augen, greisenhaft dünne Haare um
die eingesunkenen Schläfen': seitdem lebt Mathias im Irrenhause
und bildet sich ein, es sei das Schloß der Gräfin, 'das Schloß der
hundert Liebhaber'. Die dritte Erzählung endlich. Von Tod su
Tod, läßt die Seele eines österreichischen Granden wiedergeboren
werden im Sohn eines Wiener Kleinbürgers; natürlich versteht
der arme Junge sich selbst nicht; er fühlt sich fremd in seiner
Umgebung und hat doch nicht die Kraft, sich ihr zu entziehen;
eines Tages ist er tot, ohne gelebt zu haben.
^ München und Leipzig, 1908.
Schlemihle 135
An Chamissos Schlemihl schließt Schaukai seine drei armen
Teufel an durch die Gesamtbezeichnung, die er ihnen gibt; aber
mit seiner Person haben sie nichts zu tun und kaum mehr mit
der Deutung, die einst der Romantiker dem Namen gab: sie sind
nicht Pechvögel, weder im Sinne von Uhlands Unstern, Hoff-
manns Anseimus noch in dem des jüdischen Typus. Man vp^ird
schon anerkennen müssen, daß Schaukai aus der besonderen
Stimmung des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts, die ja
krankhafte Erscheinungen mit besonderem Anteil umgab und in
Österreich sicher nicht am schwächsten war, dem alten Namen
einen besonderen, modernen Typus untergeschoben hat. Den
früheren Pechvögeln mißglückte einzelnes wieder und wieder;
aber wenn sie sich an den Ecken und Kanten des alltäglichen
Lebens wund stießen, so geschah es, weil sie dem Alltag und ihrer
Umgebung von Rechts wegen überlegen, eigentlich Bürger einer
besseren Welt waren. Die Schaukalschen Schlemihle sind das
gerade Gegenteil: nicht einzelne Widerwärtigkeiten bedrängen
sie, sondern ihr ganzes Dasein ist von vornherein verfehlt; sie sind
nicht sittlich besser als ihre Umgebung, sondern physisch gering-
wertiger, sie sind dem Alltag nicht gewachsen, und so gehen seine
Räder über sie fort. Wir bedauern sie nicht deshalb, weil es
schade um sie wäre, weil sie ein besseres Geschick verdient hät-
ten, sondern weil sie schließlich nichts dafür können, daß sie Ge-
zeichnete sind.
Nicht sehr erfreulich sind diese Gestalten, Geschöpfe eines
etwas dekadenten Symbolismus, aber etwas von deutscher Zeit-
stimmung ist in ihnen eingefangen; schlimm genug, daß in ihnen
so viel Krankhaftes, Lebensmüdes steckt, das den Tagen ganz
fremd war, da Chamisso von eigenem schweren Erleben sich
durch sein so viel tapferes Entsagen enthaltendes Märchen be-
freite. Für Hitzigs Kinder war es geschrieben; weit über die
Kinderstube ist seine Wirkung hinausgewachsen. Wir sahen, vne
in den Raum eines Jahrhunderts sich zahlreiche Abwandlungen
zusammendrängten, wie Gestalt und Schicksal des Helden zur
symbolischen Nachbildung lockten, besonders unter dem Gesichts-
punkt des Verhältnisses, in dem der einzelne zu Volk und Vater-
land steht, gelegentlich wuchs sich sogar Peter zum Sinnbild des
deutschen Volkes aus: nicht viele Kunstmärchen werden sich
solch anhaltender Wirkung rühmen können! Peter aber mag sich
in seiner ägyptischen Einsiedelei trösten: trotz des Handels mit
dem Grauen, seinen Schatten hat er doch geworfen.
Berlin-Lichtenberg. Albert Ludwig.
Nebentonstärken.
Eigene Lehre und ihre Stellung zu S. Behn, 'Der deutsche
Rhythmus'.
In meiner 'Bindung der deutschen Rede' ^ habe ich auf Grund von
Wörtern wie Lichtstrahlen, rotbraune, anrufen und im engsten
Anschluß an die uns geläufigsten Gedichtformen mit einsilbigen
Umsenken und ein- oder zweisilbigen Insenken, ich spreche da von
Hauptsenken, die Silben ihrer Tonstärke nach in drei verschie-
dene, überall in der Sprache nachzuweisende Arten eingeteilt — in
starkbetonte ('), schwachbetonte (-) und unbetonte (-) —
sowie die daraus bildbaren Füße und Zeilen aufgezeigt und benannt.
Bei der näheren Beschäftigung mit Gedichten von mehr als ein-
silbigen Umsenken und mehr als zweisilbigen Insenken, d. h. mit
Nebensenken, hat es sich mh nun zum mindesten als sehr vor-
teilhaft, wenn nicht als notwendig erwiesen, diesen drei Haupt-
tonstärken noch zwei andere — Nebentonstärken — hinzu-
zufügen.
Wenn wir auch in den meisten Fällen ohne sie auskommen
dürften, so bleiben sie doch einer eingehenden Behandlung wert
genug, und es gilt, erst einmal ein besonderes Genam (eine Ter-
minologie) für sie zu schaffen, die MögUchkeit einer Besprechung
und wissenschaftlichen Bearbeitung überhaupt.
Das will ich hier versuchen, und ich glaube das — im engsten
Anschluß an die in meinem Buche für die Haupttonstärken und
deren Füße schon gegebenen und da auch nachzusuchenden Namen
— so einfach und zusammenhangend, wie es bei der so mannig-
faltigen Verbindbarkeit der Stärkestufen überhaupt nur möglich ist,
leisten zu können.
Li solchen Nebensenken können nämlich zwei oder mehr eigent-
lich unbetonte oder eigentlich schwachbetonte Silben zusainmen-
treffen. Dann ordnet sich meist — nicht zu schnelles Sprechen
vorausgesetzt — die eine dieser an sich gleichbetonten Silben der
anderen über, ohne jedoch die nächsthöhere Haupttonstärke zu er-
reichen, d. h. aus der schwachbetonten Silbe wird eine fast stark-
betonte, aus der unbetonten eine fast schwachbetonte.
Dem entsprechend wollen wir auch aus den drei — einfachen —
Zeichen für die Hauptstärken zwei neue — aus ümen zusammen-
gesetzte — für die Nebenstärken bilden, und zwar für die fast
starkbetonte: ±, für die fast schwachbetonte: r.
Verlag von K. Curtius, Berlin 1916.
Nebentonstärken 137
A. Die zweisilbigen Umsenken.
Neben den ebenen zweisilbigen Senken, der tiefen [--: (wär)mere
(Luft)] und der flachen [--: (glück)licb und (froh)], wie sie fast
nur zwischen stärker betonten Silben vorkommen, habe ich in mei-
nem Buche (S. 18) noch zwei unebene Senken genannt, die Fall-
senke [--: (fort)gehen] und die Steigsenke [--: (Mon)denschein].
Zu diesen letzten — den dann mittleren Fall- und Steig-
senken — kommen nun noch vier andere hinzu: die zwei tiefen
(•r-, -r) und die zwei flachen [j.-, __?.).
Von ihnen — den un mittleren Fall- und Steigsenken —
kommt je der erste wohl nur am Anfang, der letzte nur am Ende
einer Zeile vor; zwischen zwei Heben fällt der Unterschied in der
Tonstärke ihrer Silben so gut wie fort, werden sie eben.
Setzen wir nun noch entsprechend hinter die Fallsenken und
vor die Steigsenken die Heben, so erhalten wir vier neue Fußarten.
Neben den gewöhnlichen, mittleren Fallspringer (--': unter-
sucht; 'unechter Schwebspringer' S. 15) tritt nun noch der flache
{-!--'•. vor mein Haus) und der tiefe (--': vergesellt), neben den
— nun mittleren — Steigtanzer ('--: Heidentum; 'unechter
Schwebtanzer' S. 15) der flache ('--^: andachtlos) und der tiefe
('-r: walteten).
Diese vier neuen Fußarten wollen wir nun auch durch Bei-
spiele belegen.
Was ich in meinem Buche bei Behandlung der einfachen
Springer (S. 29 f.) und Tanzer (S. 24) wie der Gleichschwebspringer
und -tanzer (S. 34 ff.) ausgeführt habe, findet dadurch seine Er-
gänzung.
a. Die Vorsenken.
1. Der tiefe Fallspringer ist in Zusammengesetzen äußerst
selten. Mit ihm beginnen Wörter wie: vergesellschaften, vergewissem,
vergewaltigen, (sich) verbestellen. Gewiß 'heben wir' hier 'die erste
der beiden Senksilben etwas stärker hervor'. Darum sind solche
Silbschaften aber doch noch nicht ohne weiteres 'unechte Schweb-
springer' oder, was dasselbe ist und wie ich jetzt sage, mittlere
Fallspringer — so meinte ich (S. 30) — , sondern durchaus noch
tiefe Fallspringer. Ein gleiches gilt, wenn auch nicht so un-
eingeschränkt, von den Zusammengestellen 'mit dem bestimmten
Artikel oder den unbetonten er, sie, es wie: die Gefahr, sie behält,
er bedenkt'.
2. Flache Fallspringer sind etwa: ging ihm nach, fand ihn
ruhn, seit ihr kamt, o mein Glück, durch dies Tor, nun ist Nacht.
Hatte ich in meinem Buch (S. 36) gesagt: 'Außer Zusammen-
hang', d. h. ohne Hebe vor sich, denn dann wird ja ohne Frage
die Senke eben, 'müssen' 'diese Füße als Einsenker', d. h. mit
138 Nebentonstärken
starkbetonter erster Silbe 'aufgefaßt werden', so gilt das nur für
den — da allerdings vorliegenden Fall — der Beschränkung auf
drei Tonstufen. Li der Regel tritt vielmehr die erste Silbe nur
wenig über die zweite hervor, ist also bloß fast starkbetont, so daß
wir es dann eben wirklich mit einem flachen Fallspringer zu tun
haben.
b. Die Nachsenken.
1. Was vom Tiefspringer (- - ') galt, daß am Zeilanfang die
erste Silbe fast schwach betont wird, ist auch entsprechend vom
Tieftanzer ('--) zu sagen. Hat dieser keine Hebe hinter sich,
so wird unwillkürlich die letzte Silbe etwas verstärkt — was ja be-
kanntlich Klopstock und manchen lambendichter dazu geführt hat,
sie als Länge, d. h. als starkbetonte Silbe zu verwenden. So weit
brauchen wir nun nicht zu gehen. Aber die Verstä kung ist da:
wir haben es mit einer fast schwachbetonten Silbe zu tun.
Formen wie ältere, weiteste, seltene, Wanderer, bettelten müssen
also jetzt zunächst als tiefe Steigtanzer angesehen werden —
wie man sie außerdem verwenden kann, ist eine Sache für sich.
So können — unter Umständen — auch noch Zusammgestelle
ausgesprochen und deshalb auch aufgefaßt werden, wie: hielten es,
weinte er.
2. Noch bestimmter und unzweifelhafter kommen dann die
flachen Steigtanzer vor. Dahin gehören besonders Zusamm-
gesetze wie Rotdornblatt, Fruchtbarkeit, Grundherrschaft, unruh-
voll, sehnsuchtfrei, oder Zusammgestelle: einsam sein, hinsehn
wu-d, angehn darf.
Daß bei sehr schnellem Sprechen diese schrägen Umsenken sich
den ebenen annähern, ist gewiß, ebenso, daß bei besonders hervor-
hebendem Sprechen sie auch mit der angrenzenden Hebe zu Einsenkern
bzw. zu mittleren Schwebspringern oder -tanzern werden können.
Doch das sind Erscheinungen anpassender Verwendung,
auf die ich hier nicht näher eingehen will.
B. Die dreisilbigen Senken.
Von den acht aus Haupttonstärken möglichen Formen drei-
silbiger Senken (S. 18) habe ich (S. 125 f.) drei besonders erwähnt:
die mittlere Tief wogsenke [---: (sor)genvolle], die mittlere
Tieftanzsenke [---: (ein)fahreudes (Schiff)], den halben Ein-
senker [ : (fuhr) über ihn (hin)], und hätte ich noch einen
vierten nennen sollen: die mittlere Tief springsenke: [---:
(leuch)tete so (schön)].
Die anderen vier: ■, ---, -^^, kommen in Wirklich-
keit kaum ohne eine Nebentonstärke auf irgendeiner Silbe vor.
Nebentonstärken 139
Von dreisilbigen Senken mit Nebentonstärken gibt es fünf
tiefe Arten: die tiefe Tiefspringsenke (---), Tiefwogsenke
{---), Tief tanzsenke {---), die tiefe Fallspringsenke (- - -)
und die tiefe Steigtanzsenke (---).
Dazu kommen dann noch neun mittlere Arten, die ich erhalte,
wenn ich in den neun im Deutschen aus den drei Haupttonstärken
bildbaren dreisilbigen Schwebfüßen (S. 15) an Stelle der stark-
betonten Silbe eine bloß fast starkbetonte setze, z. B. für ' - - :
^ - -. Diese Schwebsenken behalten im einzelnen die Namen ihrer
Urformen, nur durch das Beiwort Senke näher bestimmt.
Die weitere Bestimmung mittlich kann meist fortfallen, weil über-
haupt bloß zwei entsprechende tiefe Formen vorkommen, die eb.en
genannte tiefe Fallspringsenke und Steigtanzsenke.
So entstehen:
^ _ - Falltanzsenke
-i - _ Steigtanzsenke (mitthch)
^__ Flachtanzsenke
_ j: w Fallwogsenke
.^ _i _ Steigwogsenke
__i_ Flach wogsenke
_ - -i Fallspringsenke (mittlich)
^ _ ^ Steigspringsenke
i Flachspringsenke
Hierbei gibt die Bezeichnung Fall-, Steig- und Flach- an, ob
die beiden nicht fast starkbetonten Silben für sich im ganzen in
ihrer Tonstärke fallen, steigen oder gleich flach sind.
Diese Art der Benennung hat sich mir als einfacher und un-
mittelbar verständücher erwiesen als die früher (S. 15) von mir
angewandte — aber deshalb nicht etwa falsche — zählende Art
(1., 2. und 3. Schwebtanzer usf.).
a. Die Insenken.
Von diesen dreisilbigen Senken mit Nebentonstärken kommen
als Insenken meist nur die vier wogenden Arten in Betracht.
1. Die tiefe Tiefwogsenke finden wir vor allem in Zusamm-
gestellen eines tiefen Steigtanzers ('--) mit einem Steiger (^ '),
so in: leuchtendes Gesicht, warteten genug. Andere Formen sind:
merkten die Gefahr, hielten es bereit. Daß solche eigentlich bloß
fast schwachbetonten Silben in 'iambischen' Zeilen oft als Heben
gelten, daß das eigentlich wider das zugrunde gelegte Maß ist, aber
doch in den sonst zu gleichen Tonfall ein wenig Abwechslung
bringt, weiß man.
140 Nebentonstärken
Fallwogsenken haben Zusammge setze wie: unruhvolle, Häß-
lichkeiten, Vollmondnächte; unfruchtbare, vorzustellen oder Zusamm-
gestelle: Einzug halten, ausruhn wollen.
Steigwogsenken stehen z. B, in: übermütig sein, (von) Kin-
dern ganz umringt, Sonnenschein auf Schnee.
Flachwogsenken in: sehnsuchtvoll bergauf, einsam und allein.
b. Die Vorsenken.
Als Vorsenken kommen dann außer diesen eben behandelten
wogenden Arten noch die tanzenden in Betracht.
Die tiefe Tieftanzsenke kann ich dabei übergehen.
Dann bleiben die drei (mittleren) Schwebtanzsenken zu
besprechen.
Falltanzsenken finden wir in: bist du bereit, kam nicht her-
vor, hielt ihn gepackt;
Steigtanzsenken in: traten nicht auf; liefen treppauf; Sonnen-
schein hin, Sonnenschein her; krochen zu Kreuz; und endlich
Flachtanzsenken in: und nun aös Meer, fall mir nicht auf,
lock ihn doch fort, sah sich nicht um.-
Die tiefe Fallspringsenke ---(') wird im Deutschen kaum
vorkommen, wenn man nicht etwa noch: er versieht sich (nicht
andere) als eine solche auffassen will.
c. Die Nachsenken.
Auch die Nachsenken lassen Wogsenken zu; ich will sie aber
auch hier nicht noch einmal besprechen, sondern nur die Spring-
senken behandeln.
Die tiefe Tiefspringsenke ist selten. Besonders in Mittel-
formen kommt sie vor: leuchtendere, blühendere, aber auch sonst:
fertigere, eiligere, oder in Zusammgestellen : blendete es.
Hier sei denn auch km'z die tiefe Steigtanzsenke erwähnt,
z. B. in: wehmütiger, sehnsüchtige, rotbärtige, absendete, herleitete,
die uns jetzt nur mit noch einer Hebe hinter sich wirklich als
^langer Schwebf aller' (S. 25) gelten kann.
Eine mittlere Fallspringsenke haben z. B.: Rücksicht ver-
dient, unklug genug, angriffsbereit, einsetzen kann, hinhalten darf.
Ansehen hat, mohnblumenrot, Schneeglöckchenblatt,
eine Steigspringsenke: binsenumkränzt, Blindekuh spielt,
unter ihm stand, Avollten nicht mehr
und eine Flachspringsenke: sah ihn noch nicht, anschauhch
sein, Vorstellbarkeit,
"Wenn ich (S. 35 f.) Formen der letzten Art genau wie solche,
die wir oben als Flachtanzsenken kennengelernt haben, mit den
Nebentonstärken 141
Heben vor bzw. hinter den dreisilbigen Senken als lange flache
Einsenker gekennzeichnet habe, so läßt sich das nur verteidigen,
wenn man sich zugleich des Unterschiedes bewußt bleibt, der trotz
allem in nicht angewandter Sprache zwischen 'Wahrnehmbarkeit'
und 'trat vor ihn hin' besteht.
C. Die Doppelfüße.
Die bisher besprochenen Senkarten mit Nebentonstärken kom-
men nun noch besonders in den Doppelfüßen vor, die ich zum
Schluß noch kurz zusammenstellen möchte; vor allem auch des-
wegen, weil sie Gelegenheit bieten, die — bisher ausgelassenen —
Wogsenken am Anfang und Ende von Zeilen zu behandeln.
Ich habe in meinem Buche (S. 16; 26, 32) zunächst die vier
— einfachen, mittleren — Doppelfüße genannt: den fallen-
den und steigenden Doppelfaller ( '-_-: Winterstürme; -^^^:
hintergehen) sowie den fallenden und steigenden Doppel-
steiger (^'--: versunken sein; -_>.': bestanden fort).
Setzt man in diese Formen an Stelle der schwachbetonten
Silben fast schwachbetonte, so erhält man die vier tiefen Doppel-
füße:
1. ' - - -: wässerige,
2. T- 'v.: vergewissern; der Gesunde; er zerlegte,
3. ^ ' - r : besonnene, verbreiteten, es regnete, der Bessere
— nur noch mit einer Hebe hinter sich, darf man diese Wörter
als 'lange Woger' (S. 27) im strengsten Sinne auffassen —
und 4. V. -r ^ ' : er vergesellt.
Setzt man dagegen das eine Mal für die erste unbetonte
Silbe, zweitens für die zweite unbetonte Silbe und drittens für
beide unbetonte Silben eine schwachbetonte Silbe, so erhalten
wir die 3-4 = 12 flachen oder besser schwebenden Doppel-
füße, und zwar — je nachdem ob die Silben an den beiden Stellen
der ursprünglich unbetonten Silben für sich betrachtet im ganzen
fallen oder steigen oder gleich hoch sind (s. o. S. 4) — den fall-
schwebenden, steigschwebenden oder gleichschwebenden
Falldoppelfaller, Steigdopp elfaller, Falldoppelsteiger oder Steig-
doppel steigen
Dabei ist zu beachten, daß außerdem in zehn Fällen die ur-
sprünglich schwachbetonte Silbe in eine fast starkbetonte um-
wandelt, weil wir in der Regel zwei schwachbetonte Silben hinter-
einander — ohne Überordnung der einen — nur aussprechen, wenn
sie von zwei stärker betonten Silben umschlossen sind — was in
den zehn Fällen aber eben nicht der Fall ist.
Nur in zwei Formen: dem steigschwebenden Steigdoppel-
142 Nebentonstärken
faller (--'-: hielten Andacht) und dem fallschwebenden Fall-
doppelsteiger (-'--: im Sonnenschein) ist eine solche Hebung
der Tonstärke nicht nötig.
Diese beiden Formen konnte ich deshalb schon in meinem
Buche erwähnen, was ich denn auch (S. 16; 27, 32) — allerdings
unter anderen, jetzt nicht genügend erscheinenden Namen — getan
habe.
Bilden wir jetzt noch im einzelnen die Formen dieser Schweb-
doppelfüße und setzen ein paar Beispiele hinzu.
a) Neben dem einfachen Falldoppelfaller ('-_-: Riesen-
mächte) stehen die drei schwebenden:
1. der fallschwebende {'-j.^: Sehnsucht haben),
2. der steigschwebende {'-.j.-: Beisevorfall),
3. der gleichschwebende ('__i-: Weltkriegunglück);
b) neben dem einfachen Steigdoppelfaller (_-'-: voller
Witze) stehen die drei schwebenden:
1. der fallschwebende (_;:_'-: ganz durchschossön),
2. der — uns schon bekannte — steigschwebende (--'-:
meine^Handschuh),
3. der gleichschwebende (-^-'-: welch ein Wahnsinn);
c) neben dem einfachen Falldoppelsteiger (^'^-: Besuch
gehabt) stehen die drei schwebenden:
1. der — uns auch schon bekannte — fallschwebende
(-'--: ans Vaterland),
2. der steigschwebende (-'--^: Vergißmeinnicht),
3. der gleichschwebende (-'_-i: umwarb ihn sehr);
und endlich d) neben dem einfachen Steigdoppelsteiger
(^ _ ^ ' : bestellte ab)
1. der fallschwebende {-^^'•. was ihr gefiel),
2. der steigschwebende (-^-': behalt mich lieb),
3. der gleichschwebende {-j.-': und sah ihn an).
Vielen wird eine so genaue Bestimmung und sogar Benennung
von Tonstärkeformen überflüssig erscheinen, und doch wird mir,
glaube ich, der eine oder andere dankbar sein, bei der Behandlung
von Einzelfragen auf dies — nur im Überblick über das Ganze
zu gewinnende, innerlich zusammenhangende und außerdem deutsche
— - Genam zurückgreifen zu können.
Auf die mehr natürliche oder bestimmten Vorformen mehr
oder minder stark angepaßte Verwendung solcher Füße ein-
zugehen, muß ich späteren Untersuchungen überlassen.
NebentonBtärken 143
IL
Den äußeren Anstoß zu der eben dargelegten Weiterführung
meiner 1916 veröffentlichten Lehre von der Dreiteilung der Beton-
stärken hatte mir Anfang 1917 die damals nur sehr flüchtige
Kenntnisnahme des 1912 (bei K. J. Trübner, Straßburg) erschienenen
Buches von S. Behn: 'Der deutsche Rhythmus und sein eigenes
Gesetz. Eine experimentelle Untersuchung. Aus dem psychologischen
Institut der Universität Bonn' gegeben.
Nachdem ich nun meine eigenen, dann ganz unabhängig aus
meinen früheren Begriffen und Benennungen weiter entwickelten,
neuen Auffassungen im vorigen klargelegt habe, möchte ich — nach
jetzt endlich erfolgter genauerer Durcharbeitung des Behnschen
Buches — meine Stellung zu ihm des näheren auseinandersetzen.
Ich stimme mit Behn überein in der Ablehnung des fremden
griechisch-römischen Einflusses (V) und in der Forderung einer
eigenwüchsigen Begründung der Verslehre, die mit mehr als zwei
Betonunterschieden rechnen soll (10).
Ich erkenne den von ihm erweiterten lOopstockschen Grundsatz
(66): 'Die Betonungsstufe und Dauer aller deutschen Silben
im Satze hängt von ihrem Sinn wert ab' (VIII) als Regel an.
Insofern, als in allen kurzen und in allen langen Wellen einer Zeile
'Silben einer bestimmten Betonungsstufe immer länger als alle
weniger betonten, kürzer als alle betonteren' (93) dauern, gibt es
in der Tat 'für deutsches Maß' 'keinen Streit um akzentuierende
und quantitierende Metrik' (67) mehr.
Überaus wichtig ist auch die allgemeine Bemerkung (113): 'In
Wellen' derselben Zeile (95) 'und Zeilen' derselben Strophe (97)
'besteht also die allgemeine Tendenz, Unterschiede der Dauern aus-
zugleichen.'
In dem ersten Teil dieses Gesetzes: 'In der Zeile wird die lange
Welle der kurzen gegenüber an Dauer verkürzt' (95) und doch auch
umgekehrt, liegt denn auch der Grund für die (Bindung, 123 f.)
von mir angezeigte Stimmungsänderung bei Änderung der Länge
der Senken in derselben Zeile.
Auch in der ablehnenden Stellung zu Saran (127 — 14S) wie
vor allem in der annehmenden zu Älinor (148 — 160) fühle ich
mich mit Behn einig.
Wenn ich nun — nach einer nochmaligen Betonung meiner
grundsätzlichen Übereinstimmung mit den Ausführungen Behns
und einem Hinweis auf die Verdienstlichkeit dieser Arbeit — auf
die Einzelheiten der von ihm gemachten Betonungsunterschiede und
damit auf meine Abweichungen von seinen Anschauungen zu
sprechen komme, so möchte ich da von einer Bemerkung aus-
gehen, die er selber (152) über Saran gemacht hat: 'Sarans Unter-
144 Nebentonstärken
Übersicht über die wichtigsten zwei- und dreisilbigen Füß(
I. Füße
Zwei-
teilung
Drei- |undFünf-| teil ung
A.
Zwei-
silber
Tieffüße Flachfüße
Fallcr
Tieffaller
Hände
Flachfaller
Andacht
Steiger
Tiefsteiger
Gefahr
Flachsteiger
umsonst
B.
Drei-
silber
Schrägfüße
Tanzer
Ebentanzer
Tief tanz er
bettelte
(viel)
Flachtanzer
wirf ihn doch
(fort)
Schrägtanzer
Falltanzer
ansehen
Steigtanzer
tief
wander-
tet
mittlich
flach
' _ j.
einsam
sein
Übersicht
Woger
Ebenwoger
Tiefwoger
besehen
Flachwoger
mein Vor-
mund
Seh rag woger
Fallwoger
ihr Herren
Steigwoger
bemerkbar
Springer
Ebenspringer
Tief-
springer
(leuch)teteu
auf
Flach-
springer
(hielt) ihn
umfaßt
Schrägspringer
Fallspringer
tief
ver-
gesellt
mittlich
unter-
wühlt
flach
stieß ihn
fort
Steigspringer
behielt recht
Nebeatonstärken 345
und Senken bei Zwei-, Drei- und Fünfteilung der Betonungen.
II. Senken
Drei- | u n d F ü n f - 1 t e i 1 u n g
Schrägsenkel
tief
verge(nießen)
Fallsenke
I mittlich I
über{rascht)
flach
um ein(Haar)
Steigsenke
tief I I mittlich |
{hef)teten (Wan)derlu9t
flach
(an)dachtvoll
E b e n f u ß s e n k e n
Schrägfußsenkeii
Tanzsenken
Tieftanzsenke
außer Ge(fahr)
Flach tanzsenke
nahm ihn dann
(mit)
Falltanzsenke
gab ihnen (Glück)
Steigtanzsenke
tief mittlich
(hin'lsclileu- waren
(lertet um(9tellt)
Wogsenken
Tiefwogsenke
tief mittlich
(war-)
teten
(treu)
(nah)men
sein
Ge-
(schenk)
Flachwogsenke
(Voll)mond-
antlitz
Fallwogsenke
(Häß)lichkeiten
Steigwogsenke
(Wun)dersehnsucht
Springsenken
Tiefspringsenke
1 tief mittlich
(blü-)
hen-
dere
(schleu-)
derte
ihn
Flach -
springsenke
(weh)mutfrei
sein
Fallspvingsenke
(an)denkenlos
Steigspringsenke
(im)mer noch nicht
Ebensenken
1 r
Tiefsenke
(en)dete (laut)
Flachsenke
(hob) ihn vom
(Roß)
ebene
Fallsteig-
senke
(gold)feuer-
um(loht)
ArcLiv f. n. Sprachen. Sonderheft.
lU
146 Neben tonstilrken
Scheidungen . . . sind minutiöser' als die von Minor und ihm, 'für
den Künstler darum zu schwerfällig, . . . Und so fallen sie in der
Kunstlehre fort.'
Mir scheint, dieser Satz gilt auch noch für die von ihm ge-
machten Unterscheidungen gegenüber meinen. Aus den 'zahllosen
Abstufungen der Tonstärke', die, wie er ganz richtig mit Minor
schreibt, 'unmerklich ineinander übergehen', hebt er (1 — 8) — ent-
sprechend den sehr fein auseinandergehaltenen sieben Sinnwert-
stufen — zunächst auch sieben Betonstufen heraus — die aller-
dings dann sofort (8)i auf fünf beschränkt werden: auf die drei
auch schon von Minor (152) erkannten Hauptbetonungsstufen:
hochbetont, mitbetont, unbetont und die zwei Paare von Neben-
betonungsstufen: unterhochbetont und übermitbetont einerseits,
untermitbetont und überunbetont anderseits — , für die aber keine
einheitlichen Namen mehr gegeben werden. Ich habe diese Stufen:
starkbetont, schwachbetont, unbetont sowie — zusammenfassend —
fast starkbetont und fast schwachbetont genannt.
Dabei sind (102) 'hochwertig' 'die Wurzeln der Begriffswörter',
'mittelwertig' 'die Wurzeln der Beziehungswörter sowie die nicht
flektierenden Vorsilben und Nachsilben' und 'tiefwertig' 'die flek-
tierenden Vorsilben und Endungen', womit ich im allgemeinen ein-
verstanden bin.
Was die Zeichen (9, 105) betrifft, so scheinen mir seine
(_i, A, ^., t, w) umständlicher und weniger übersichtlich als meine
(', j., _, T, w): den Unterschied von Haupt- und Nebentonstärken
veranschaulichen diese dadurch, daß nur die für die letzten zusammen-
gesetzt sind, die für die ersten dagegen einfach, und die Zusammen-
setzung der Nebentonzeichen erfolgt aus den beiden sie umgebenden
Haupttonzeichen — was beides bei Behn nicht der Fall ist.
Aber auch mit diesen fünf Unterschieden wird der Dichter
— bisher nur an zwei gewöhnt — in der Regel nicht viel an-
zufangen wissen. Zunächst scheinen mir — wie das im ersten Teil
dieser Arbeit auch ausgeführt ist — höchstens drei Unterschiede
für den Künstler brauchbar zu sein und nur in ganz besonderen
Fällen — für zweisilbige Umsenken und dreisilbige Lisenken —
auch fünf.
Forschenden Gelehrten, Seelkundern und Kunstwissenschaftern
bleibt es zwar unbenommen, noch feinere Unterschiede zu machen
— wie etwa Behns 'sieben Positionsordnungen' zur Bestimmung
der Überunbetontheit (68 ff.) — , um damit (jedichte lauf lieh auf-
zulösen; der schaffende Künstler kann da n-icht folgen. Sich aber
gerade auf dessen Standpunkt zu stellen, seine Bedürfnisse und
* Bei der auch von anderen bemerkten 'Unmöglicbkeit', 'mit mehr als
fünf verschiedenen Intensitäten Icänger vergleichend zu arbeiten' (9, s. auch 104).
NebentonstärkcD 147
Fähigkeiten zu berücksichtigen, wie ich es hier tun möchte, dazu
berechtigt bei der Besprechung von Behns Arbeit der besondere
Wert, den er selber immer wieder (V, 17, 149, 152, 154) auf die
Anregungen legt, die aus seinen Untersuchungen für die Kunst
und den Künstler hervorgehen sollen.
Auf Grund seiner (26 — 98) mitgeteilten Versuche hat nun Behn
(106 — 109) gemäß seiner Fünfteilung 'alle möglichen', sinkenden
und steigenden, kurzen und langen (d. h. zwei- und dreisilbigen)
'Wellen' (d. h. Füße und Senken) 'kombinatorisch' zusammengestellt
und durch je ein Beispiel belegt.
Die dafür gewählten Bezeichnungen (auch 21 ff.) sind alle reich-
lich lang und auch nur zum Teil ganz einwandfrei, wie 'kurze,
sinkende', 'kurze, steigende', 'lange, nur sinkende' und 'lange, nur
steigende Wellen' erster, zweiter, dritter und — für die ersten
beiden Arten — auch vierter Ordnung, unklar bleibt mir die Be-
zeichnung 'lange, mehr sinkende', 'mehr steigende Welle': Heide-
land z. B. soll eine 'lange, mehr sinkende Welle' sein, 'weil (?)
die letzte Silbe, das Tal, betonter ist als die vor ihr, ohne doch
so hoch wie der Berg sich zu erheben' (22). Außerdem müßte es
— wenigstens nach mathematischem Sprachgebrauch — für 'lange,
sinkende' und 'lange, steigende' 'flache Wellen' vielmehr ebene
Wellen heißen.
Endlich scheint mir auch die Anzahl der Benennungen noch nicht
hinreichend zu sein.
Wenn man nun, vne ich, die bewußte künstlerische Verwertung
dieser 80 Formen nicht für möglich hält, sondern mit weniger —
deshalb aber immer noch mit mehr als bisher — auskommen zu
müssen glaubt, wenn man in der Regel statt fünf Unterschieden
nur drei wählt, dann fragt es sich, wie denn nun die von Behn
— lehi'lich ganz richtig aufgefaßten — beiden Nebentonstärken
auf die Haupttonstärken zu verteilen, welchen von meinen 'Füßen
oder Senken mit nur drei Tonstärken' seine 'Wellen mit irgend-
einer Nebentonstärke' zuzuordnen sind.
Sehen wir uns einmal die Beispiele — zunächst für die Wellen
erster Ordnung, d. h. die eigentlichen Füße, mit starkbetonter
Silbe — auf ilu-e Zusammfaßbarkeit hin an.
Die vier verschiede]ien Beispiele für die 'kurzen, sinkenden
Wellen erster Ordnung', für die Fall er, wie ich sage: 'Landhaus,
Landung, landend, Lande', lassen sich ohne Schwierigkeit in zwei
Gruppen teilen: in solche mit entschieden schwachbetonter Silbe an
zweiter Stelle: Landhaus und Landung, die ich kurz Flachfaller
nenne, und in solche mit nicht mehr schwachbetonter: landend,
Lande, die ich kurz Tief faller nenne.
Von den vier 'kurzen, steigenden Wellen erster Ordnung', den
Steigern, wie ich sage: betont, bestritt. Verstand, [in der Winter-]
10*
148 Nebentonstärkeir
nacht strahlt, wird wohl kaum einer den durch die — noch dazu in
der folgenden Silbe stehende — größere Anzahl von Geräuschlauten
hervorgerafenen Unterschied in der Betonung von betont und bestritt
■für groß genug erachten, daß der Künstler damit arbeiten könnte.
Die beiden Beispiele fasse ich deshalb als Tiefs teiger zusammen.
Wenn man einmal mit Behn (99) bestimmte Vorsilben wie er,
ver, zer, ent in der Tat stärker ausspricht, als ich es tue, sie dem-
nach zu den schwachbetonten Silben rechnet, so lassen sich auch
hier wieder die beiden noch übrigen Füße zu einer Gruppe, den
Flachsteigern, vereinen.
Auch die vier Beispiele für die 'langen, sinkenden, flachen
[besser ebenen] Wellen erster Ordnung', für die Eben tanzer:
Vollmondschein, heimatlos, leuchtendste Str[eiter], leuchtete zerfallen
ohne weiteres in zwei Klassen, deren einzelne Glieder wieder für
den Künstler kaum unterschieden zu verwerten sind, in die Fl ach -
tan zer: Vollmondschein, heimatlos, und die Tieftanzer: leuch-
tendste Str[eiter], leuchtete. Die gerade in diesen Fällen von mir
oben (3 f.) beachtete, durch die Stellung am Ende hervor-
gerufene Hebung der letzten Silbe über die vorletzte hinaus, die
Unebenung oder Schrägung dieser sonst vor einer Hebe ebenen
Füße, wird von Behn nicht berücksichtigt.
'[Mil-]de behü^ten"], [läjchelnd bestrei-[ten], ihm ein Pferd,
[Voll-]mondschein leuch-[tet]', die vier Beispiele für die 'langen,
steigenden, flachen AVellen erster Ordnung', kurz für die Eben-
springer, zeigen gleichfalls zwei Arten: die beiden Tiefspringer
und die beiden Flachspringer.
Die Hebung der ersten Silbe solcher Formen, wenn sie am
Anfang von Zeilen stehen, habe ich oben (2) eingehend be-
sprochen, auch sie wird von Behn nicht erwähnt — es ist das ja
allerdings auch keine durch den Sinnwert hervorgerufene Tonstärken-
änderung. Ich halte sie aber trotzdem für wichtig, ja entschieden
für wichtiger noch als die durch Stellung vor mehreren Geräusch-
lauten, also auch nicht durch Sinnwertänderung hervorgerufene und
von Behn so über Gebühr beachtete.
Von den sechs 'langen, nur sinkenden Wellen erster Ordnung',
den Falltanzern: Heimsuchung, heimsuchend tr[effen], Land-
hause, elendest, Heilande, leuchtendste scheinen mir die vier mitt-
leren als für den Künstler zu wenig unterschieden in eine Klasse
zu gehören: es sind (mittlere) Falltanzer.
Was das Wort Heimsuchung betrifft, so wird es — vor einer
starkbetonten Silbe stehend — ohne weiteres zu den schon be-
sprochenen Flachtanzern, zu Vollmondschein und heimatlos, zu
rechnen sein, am Ende einer Zeile sogar auch — ebenso wie diese -
zu den flachen Steigtanze rn, mit leicht stärkerer Betonung
der letzten Silbe (oben 3).
Nebentonstärkcn 149
Und 'leuchtendste' kann hier nicht andere gewertet werden als
oben als Tieftanzer und am Ende einer Zeile unter Umständen
als tiefer Steigtanzer (oben 3).
Als Beispiele für die 'langen, nur steigenden Wellen erster
Ordnung', die Steigspringer, werden [rei-]nigend AVas-(ser],
[rei-]ne Entzük-[kung], [die-]ser hat Mut, [rä-]chend zerreis-[se],
[die-|ses sei dei-[ne Tat] und du hast Mut gegeben.
Spricht man auch hier wieder, wie schon oben, mit Behn die
Vorsilben eut und zer etwas stärker, d. h. schwachbetont aus, so
wird man die vier mittleren Formen zu einer Klasse, den mitt-
leren Steigspringern, rechnen dürfen.
Die erste Form würde ich dagegen als nicht wesentlich von
[mil-]de behü-[ten] und [lä-]chelnd bestrei-[ten] auffassen und so
mit diesen — vorausgesetzt, daß eine Hebe voraufgeht — einfach
als Tief Springer bezeichnen, ebenso wie 'du hast Mut' neben
'ihm ein Pferd' und '[VoU-Jmondschem leuch-[tet]', wenn eine Hebe
voraufgeht, als Flachspringer.
Die tiefen und die flachen Steigspringer sind ebenso wie die
tiefen und die flachen Falltanzer neben den mittleren etwas sehr
Seltenes — stehen sie am Anfang bzw. am Ende einer Zeile, so
wh-d nämlich meist immer der etwas stärkere Ton gerade auf die
an sich weniger stark betonte erste bzw. letzte Silbe gelegt, stehen
sie zwischen zwei Heben, so fällt der Unterschied in der Tonstärke
der beiden Silben so wenig ins Gewicht, daß — wenigstens der
ausübende Künstler — ihn vernachlässigen darf.
Die vier mittleren Formen von den sechs 'langen, mehr sinken-
den Wellen erster Ordnung', den Steig tanzern: Heimatland,
Edelmut [zeigte], Heideland, wundersam[e], freudelos, [die] Wälle
bestr[eichen] wird kaum einer als verschieden benutzen können, sie
sind alle vier mittlere Steigtanzer.
Heimatland hat dann in der Tat — am Ende stehend — die
von Behn ihm gegebene Form -ia^A oder '-^, es ist ein flacher
Steigtanzer, aber nicht anders, als es auch Yollmondschein und
heimatlos am Ende sein würden, und würde ebenso wie sie in der
Mitte als Flachtanzer zu werten sein.
Es gibt dann auch noch tiefe Steigtanzer (^-- oder '-r).
Nur würde ich gerade in dem von Behn gewählten Beispiel: [die]
Wälle bestr[eichen] aus dem schon angeführten Grunde keinen
solchen sehen, wohl aber etwa in dem am Ende stehenden älteren
— das, ohne daß noch irgendein Geräuschlaut folgt, doch von
Klopstock deshalb sogar als Einsenker mit seiner letzten Silbe als
Hebe verwertet wird.
Was endlich die Beispiele für die 'langen, mehr steigenden
Wellen erster Ordnung', für die Fallspringer: [breite-]ten be-
hü-[tend], deren Heim, offenbart, deren Strei-[te], offenbar- [te], ward
150 Nebentüustärkeu
umstellt betrifft, so wird man auch hier die vier mittleren als kaum
unterscheidbar in eins zusammenfassen können. Es sind mittlere
Fallspringer.
Wenn Behn das erste Beispiel 'breiteten behütend' in der dritten,
vierten und fünften Silbe als tiefen Fallspringer (' - ^ oder ~- ')
aufgefaßt haben v^ill, so kann ich ihm darin ausnahmsweise einmal
zustimmen — aber nicht der Stellung vor besonderen Geräusch-
lauten wegen ist für mich -ten hier fast schwachbetont, sondern nur
weil diese Silbe — bei Behn zufällig — zwischen zwei unbetonten
Silben steht, und sie würde auch so betont bleiben, wenn das Bei-
spiel etwa 'breiteten erhebend' hieße oder 'breitete behütend' — für
Behn aber, seinen Ausführungen gemäß, nicht. 'Ward umstellt'
endlich ist wieder richtig — wenigstens sofern es am Anfang steht —
als flacher Fall Springer {Ai:^ oder ^_') hingestellt; steht
aber eine starkbetonte Silbe davor: 'das Gehölz ward umstellt', so
gleicht sich der Betonunterschied aus und wir haben es wieder wie
in 'ihm ein Pferd', '[Voll-]mondscheinleuch-[tetJ' und 'du hast Mut'
mit einem Flachspringer zu tun.
Wer vermöchte die noch zu unterscheiden oder gar in ihnen
verschiedene Mittel künstlerischen Ausdrucks zu erblicken?
Nachdem ich so die 40 Behnschen Wellen erster Ordnung zu
16 bzw. unter Einschluß der oben (12) genannten vier sehr seltenen
zu höchstens 20 — einzeln benannten — Füßen zusammengezogen
habe, kann ich untersuchen, wie die für die einzelnen Silben ver-
wendeten Nebentonzeichen in Haupttonzeichen verwandelt worden
sind. Ich finde dabei, daß für ein- und zweisilbige Insenken sowie
für einsilbige Umsenken, d. h. für Hauptsenken, das Behnsche
Zeichen für fast starkbetont A in das Zeichen für schwachbetont
(:5. oder _), das für fast schwachbetont - in das für unbetont - ver-
ändert werden muß — will man die entsprechenden Wörter richtig
mit drei Tonzeichen wiedergeben — ; auf die abweichende Betonung
von ent, ver und zer habe ich ja schon aufmerksam gemacht.
Diese Regel gilt nun aber auch noch für die Wellen zweiter,
dritter und vierter Ordnung, in denen die starkbetonte Silbe fehlt,
die also gar keine regelrechten Füße mehr sind, sondern schon
Senken genannt werden müssen — ausnahmslos allerdings nur, so-
fern es sich noch um Hauptsenken handelt. In Nebensenken kommt
die Möglichkeit hinzu, daß einzelne Silben durch die besondere
Stellung zu anderen in ihrer Tonstärke gehoben werden und so
Zeichen für Nebentonstärken, \Vie bei Behn, erhalten, allerdings oft
bei fast schwach betonten Silben, wie schon oben angedeutet, aus
einem ganz anderen Grunde als bei ihm.
Von den sechs weiteren Beispielen Behns für die kurzen, sinken-
den Wellen: [Winter-] landschaft, [hinüber- |fahrend, [Märchen-]lande;
deren Str[eit], deren [Heimat]; [breite-]ten be-[hütend] würde ich
iS't'bentoiistilrkou 151
zunächst mit ihm das erste als Flachfallsenke (A:l oder _^_)
bezeichnen, die vier mittleren aber nicht unterscheiden, vielmehr als
mittlere Fallsenken (--) zusammenfassen.
Die tatsächliche Fastschwachbetontheit des -ten im letzten Bei-
spiel kann ich aber nur auf die Stellung zwischen zwei unbetonten
Silben zurückführen, nicht auf das noch folgende b in be-, weshalb
ich denn auch von den sechs weiteren Beispielen für die kurzen,
steigenden Wellen höherer Ordnung : geof-[fenbart], [überzeu-]gend
of-[fenbart], [mir an-]vertraut; [sa-]ge wes[-sen Stern], [leuch-]tend
um-[strömte] ; [brei-]te bestr[ickend] im letzten das be trotz der
darauf noch folgenden Geräuschlaute nicht für fast schwachbetont
halten kann, die Senke vielmehr als eine einfache lange Tief-
senke bezeichnen muß.
Eine wirkliche tiefe Steigsenke läge für mich etwa vor in
[brei-]tete [erstaunt]. Auch hier kann ich wieder zwischen dem
ersten, zweiten, vierten und fünften Beispiel nicht genügend Unter-
schiede entdecken, sie enthalten vielmehr alle in annähernd gleicher
Weise die mittlere Steigsenke.
Daß ich persönlich als Beispiel für eine flache Steigsenke
lieber nicht '[mir an-]vertraut' gewählt hätte, wird man schon wissen;
etwa '[Hand] aufs Herz' wäre mir passender erschienen.
Wenn er dagegen in den sechs Beispielen für die langen, sinken-
den, flachen Wellen höherer Ordnung: [Winter-]landschaft im
[Norden], [sie] haben's bestr[itten], [todes-] mutige; deren Ge-[treue],
diese Ge-[fahr]; [der peini-]gendste Ge-[danke] das erste als Flach-
tanzsenke (A:l:l oder j- ) bezeichnet, so bin ich ganz seiner
Meinung, muß aber auch hier wieder die Verwertbarkeit der Unter-
schiede der vier mittleren Formen bestreiten. Ich fasse sie als
mittlere Tieftanzsenke zusammen.
Im letzten Beispiel würde auch ich eine tiefe Tieftanzsenke
finden, aber auch hier nur wieder — anders als Behn — wegen
der besonderen Stellung hinter einer unbetonten Silbe.
Die sechs Beispiele für die langen, steigenden, flachen Wellen
höherer Ordnung lauten dann: [Lie-]be geof-[fenbart], [wenn ich
mich am si-]chersten füh-[le]. ihm die Of-[fenbarung]; [lei-]tete
de-[ren], [strei-]chelten de-[ren Gewände]; [kein rei-]nigenders
G[ewitterj.
Das erste, zweite, vierte und fünfte Beispiel sind als mittlere
Tiefspringsenke zu vereinen, das dritte kann man, mit einer Hebe
davor, ganz wohl als Flachspringsenke (^jlA oder ^) be-
zeichnen. Das letzte ist auch für mich eine tiefe Tief springsenke,
aber nur auf Grund der noch folgenden unbetonten Silbe.
Von den vier Beispielen der langen, nur sinkenden Wellen: die
das bestr[eiten], die sich be-[hüten], [du] solltest be-[hüten]; diesen
be-[hüte] sind die beiden ersten Falltanzsenken, die beiden fol-
152 Neben tonstäikeii
genden aber — zusammen mit den oben schon genannten vier
langen, sinkenden, flachen "Wellen [sie] haben's bestr|itten], [todes-]
mutige, deren Ge-| treue], diese Ge-ffahr] — Tieftanzsenken.
Lange, nur steigende Wellen höherer Ordnung sind auch bloß
vier da: [bese-]ligen wird, [zur Erleich-]terung wird, wozu ha-[ben
sie das getan]; [rei-]nigend mei-[ne Seele]. Das erste und letzte
Beispiel ist für mich eine mittlere Tiefspringsenke gleich
den vier obengenannten langen, steigenden, flachen Wellen höherer
Ordnung, das zweite ist klar eine Steigspringsenke, das dritte
dagegen scheint mir von Behii selber schlecht gewählt — Vo' kann
doch kaum als bloß fast schwachbetont l bezeichnet werden. Besser
stände da etwa im Sinne Behns '[bereite-]ten zu Hau-[se vor]', und
dann würde auch das als Steigspringsenke zu fassen sein.
Auch die vier langen, mehr sinkenden Wellen höherer Ord-
nung: [sie] Werdens ver-[gessen], werde nicht [zornig], [ich] würde
bestr[eiten] ; diese best[echliche] lassen sich zweiteüen. Die beiden
ersten sind — unter Annahme der Schwachbetontheit des ver —
mitttlere Steigtanzsenken, die beiden anderen wiederum Tief-
tanzsenken.
Tiefe Steigtanzsenken entständen für mich erst in Formen
wie: anmutige (oben 5).
Von den vier langen, mehr steigenden Wellen endlich: [lie-]bend
geof-[fenbart], diese Of-[fenbarung], denen warst [du im Wege];
[glän-]zendste U-[berredungskunst] sind die erste und die letzte
mittlere Tiefspringsenken, die zweite und die dritte (mittlere)
Fallspringsenken.
Wirklich tiefe Fallspringsenken sindsehr selten, in [leuchte-]te
geof-[fenbart] würde ich eine erblicken.
So wären denn auch die 40 Wellen höherer Ordnung zusammen-
gezogen, und zwar zu 18 — einzeln besonders benannten — Senken.
Im Unterschiede zu Behn habe ich bei allen meinen bisherigen
Untersuchungen immer auch die Woger und die Wogsenken mit-
berücksichtigt und muß das auch weiterhin für sehr tunlich halten
— schon in Rücksicht auf die vielen Wort woger.
WiU man alles rein lehrlich Überflüssige vermeiden, dann dürfte
man auch nicht einmal mit Behn steigende und sinkende Wellen
unterscheiden, sondern müßte sich rein auf die Darstellung der
Senken beschränken. Diese müßten dann allerdings noch auf
jeden Fall durch die von Behn ganz vernachlässigten Wogsenken
(oben 1 5 ff.) ergänzt werden - — denn dann kann man sich unmög-
lich bloß auf 'Wellen' im Sinne von Behn besckränken, d. h. auf
solche Zusammenstellungen von Betonungsstufen, in denen 'die erste
oder die letzte Silbe betonter ist als die übrigen' (21), d. h. auf
Welltäler.
Schon an mehreren Stellen (oben 11 f.) habe ich auf den
Nebentonstärken 153
Unterschied in der Bestimmung der Fastschwachbetout-
heit einer Silbe bei Behn und bei mir hingewiesen. Ich muß
darauf noch einmal genauer eingehen.
An zwei Stellen (68—71 und 101 f.) kommt Behn auf die Ton-
stäi-kesteigerung durch den 'quantitativen Einfluß der Konsonanten-
häufung' 'im Gebiete der tiefwertigen Silben' (68) zu sprechen.
Auf Grund einer Scheidung von kurztönenden (g, b) und lang-
tönenden (m, s, f) Geräuschlauten werden je nach der Ai't und
Anzahl der auf die tiefwertige Silbe folgenden Geräuchlaute sieben
Positionsordnungen aufgestellt.
1. behalte, 2. behaltet, 3. behalten, 4. behaltets, 5. behalten sie,
6. bestreiten, 7. werden streiten.
Dabei werden — abgesehen von dem Fall, daß das Wort mit
dem unbetonten e endet — auch die Geräüschlaute des folgenden
Wortes mitgerechnet _ (69).
Und nun soll die Überunbetontheit einer Silbe — nicht etwa
davon abhängen, daß auf die unbetonte Silbe zwei oder mehr Ge-
räuschlaute folgen, was allenfalls noch zu gebrauchen wäre — ,
sondern davon, daß die betreffende Silbe 'mindestens um drei Ord-
nungen über der Silbe niedrigster Ordnmig' derselben Zeile steht!!
Daraus folgt dann, daß zwar in 'aus alten Zeiten' (115) das
-ten von alten zweiter Tonstärke ist, dasselbe -ten in 'aus alten
Welten' aber nur erster, daß es sich aber sofort ^\4eder in eine
Silbe zweiter Tonstärke verändert, wenn das n der letzten Silbe
fehlt, wie etwa in 'die alten Wälle'; daß zwar das be in 'diese
bestechliche' (108) überunbetont ist, nicht aber, wie (113) ausdrück-
lich angegeben wird, das -ten in 'breiteten Gewand', 'was vielmehr
wider Sinnwert und Position wäre'!
Damit kann kein Dichter etwas anfangen!
Ja, diese Unterschiede sind so schwer festzustellen, daß sogar
Behn selber einen Fehler macht, indem er (107) in 'breiteten be-
[hütend]' das -ten doch für überunbetont ausgibt, obwohl doch nach
früheren Ausführungen (68) b und g beide km-ztönend sind.
Demgegenüber halte ich es für angebracht, wenn auch nicht
auf die Unterscheidung unbetonter Silben nach Art und Anzahl
darauffolgender Geräuschlaute, so doch auf die Verwertung
dieser Unterschiede zu verzichten — solche verwertbaren vielmehr
nur für Nebensenken auf Grund der Stellmig unbetonter Silben
entsprechend vor, nach und zwischen anderen 'unbetonten Silben
anzunehmen, wie das oben auch überall getan ist. Damit ist eine
gewisse Bezogenheit in der Bewertung und Bezeichnung von Silben
auf andere — aber doch in unmittelbarer Nähe stehende — Silben
zugegeben.
Die darf aber — und damit komme ich auf den letzten Punkt —
doch kaum schon so weit gehen wie bei Behn — der dem Grund-
154 Nebentonstärken
satz der 'Relativität der Betonungsstufen' gemäß z. B. die
Stufe Uberunbetont nur gelten lassen will 'bei sonst' innerhalb der
Zeile 'besetzter Stufe Unbetont' (68).
In 'sie bestreiten's' wären dann die zweite und vierte Silbe un-
betont (w), in 'sie bestreiten's alle' wegen der Unbetontheit des
letzten e dagegen überunbetont (^)!!
Doch schließlich ließe sich das noch verteidigen. Unerträglich
wird dies Verfahren aber, wenn auch entschieden schwachbetonte
Silben — bloß weil keine unbetonte mit in der Zeile steht — un-
betont gewertet werden: 'Zwei aus dem Zusammenhang gelöste,
aber aufeinander bezogene Silben bilden immer eine kurze Welle
aus Hochbetont und Unbetont' (44), weshalb denn auch (115) in
'sie trübt mir ja den Blick' sie unbetont (-) ist, in 'sie blieb aus
alten Zeiten' dagegen schwachbetont (i.), lein (118) in 'wie Auglein
schön' unbetont {-), in 'mit allen den Würzlein aus' dagegen
schwachbetont {i-), in 'weil' auf mir' (124) die beiden letzten Silben
unbetont (- -), ebenso vde das 'und' in 'für und für' gegen 'Klag'
und Jubel' (119)!!
Auf die Weise wird es ganz unmöglich, einen reinen Flach-
weller 'als ich traurig zu dir kam' von einem reinen Tiefweiler
'nahmen alle Früchte fort' zu unterscheiden, woran aber dem Dichter
sehr viel liegt. Die auch von Behn (48) bei seinen Versuchen
erkannte 'Neigung zu festen Stufen' ist nur zu berechtigt.
Im übrigen hoffe ich, daß in diesen Auseinandersetzungen mit
Behn — sowohl darin, wo ich mich mit ihm eins finde, wie aber
auch besonders darin, wo ich mich von ihm unterscheide — sich
die Brauchbarkeit meiner im ersten Teil dieser Arbeit dargelegten '
Betonformen zusammen mit ihrem Genam klar herausgestellt hat.
BerUn. H. L. Stoltenberg.
Kleinere Mitteilungen.
Zur Frage der Sesenheimer Lieder.
Das Sesenheimer Lied 'Bälde seh' ich Rickgeu wieder' entspricht nicht
der Situation und dem Verhältnis Goethes zu Friederike (vgl. K, Reuschel,
Euphorion 1918, S. 57—61).
Es muß also aus einer anderen Zeit Goethes stammen und eine andere
zur Empfängerin haben oder überhaupt nicht von Goethe geschrieben sein.
Folgendes spricht für Lenzens Autorschaft:
1. Die Koseform 'Rickgen' findet sich in Goethes vorweimarischer Zeit
nicht, während sie Lenz gebraucht, Dram. Nachl. S. 185 — 186, Der Ausdruck
'süßte Melodie' scheint aus Lenzens Sprachschatz zu stammen. In dem Auf-
satz 'Klassifikation der Konversationstöne' schreibt er: 'Die Baßgeige ver-
stärkt unter den verschiedenen Parthien eines Konzerts die Harmonie und
verstärkt das süße der übrigen Instrumente.'
2. Es ist anderswo niclit überliefert, daß Friederike mit Goethe dessen
Lieder oder Volkslieder gesungen hat (vgl. Morris, D. jg. Goethe VI, 160).
Lenz hat aber mit 'Friederike und ihren Kousinen ein gutes deutsches
Lied' gesungen (Lenz, Briefe, hg. von Freye-Stammler 1918, II, 148). An
Salzmann berichtet er unterm 5. August 1772, daß er 'einen trefflichen Fund
von alten Liedern' gemacht habe. Im Mai 1776 bittet er von Weimar
aus Friederike um elsässische Volksromanzen für den Herzog. Briefe 1,269.
3. Lenz war für Musik begabt, er spielte selbst vorzüglich die Laute und
hatte Freude am Gesang. Briefe II, 236.
4. Die weibliche Stimme übte auf ihn einen starken erotischen Reiz.
Sesenheimer Lied Nr. 5: 'Wo singst du itzt?' — 'Himmel, welche Stimme
höre ich!' (Katharina v. Siena), 'Die Stellung, der Ton ihrer Stimme würden
mich wahnwitzig gemacht haben' (Moralische Bekehrung) — ... 'rief sie mit
einer Stina^.e, deren Zauberklang er nicht länger widerstehen konnte' (Land-
prediger) '. . . Wenn zwei Leute zusammen singen, es ist, als ob sie
sonst was miteinander täten.' Dram. Nachl., S. 235.
In seinen Wahnsinnsanfällen rief Lenz oft den Namen Friederike, und
beim Hören einer Aveiblichen Stimme mag er an Friederikes Stimme erinnert
worden sein. 'Lenz' Raserei verdoppelte sich, so oft er eine weibliche
Stjmme hörte', schreibt Pfeffel an Sarasin. (Waldmann, Lenz in Briefen,
1894.)
In Dorpat entsteht Ende Januar 1780 sein Liebeswahnsinn zu Julie von
Albedyll beim Anhören ihres 'sehr guten Gesanges', 'darüber' dichtet
er 'ein versifiziertes Monodrama'. Briefe II, 236. Im Briefe vom März 1780
gedenkt er des Gesanges mit Friederike.
Das 'Ach wie schön hat's mir geklungen' entspricht daher ganz Lenzens
pathologischer Erotik und Empfindungsweise.
Bei Goethe finden wir ähnliches nur in 'Lilis Park', wo er schalkhaft-
ironisch die Hörigkeit in der Liebe schildert.
Lenz dagegen war wie sein Waldbruder Herze seiner Liebe 'hündisch
getreu' (II. Teil, 5. Brief), in seinen Dramen läßt er seine Liebhaber ihrer
Dame mehr als ein dutzendmal 'zu Füßen' liegen.
5. Man vergleiche die Verse vom 'wahren Gram' mit den Worten, die
er vor seiner Abreise nach Landau an Salzmann schreibt: '. . . um den letzten
156 Kleinere Mitteilungen
Tag recht vergnügt dort zuzubringen, recht vergnügt — mittlerweile
mein Herz von nichts als Flammen, Dolchen, Pfeilen und Wunden de-
klamiert.'
Königsberg i. Pr. R. Ballof,
Über die ^SiziKanische Yesper* von J. M. R. Lenz.
Die Entstehungszeit der 'Sizilianischen Vesper' ist ungewiß. Weinhold
nahm das Jahr 1775 an, Rosanow und andere dagegen 1780, als Grund
konnten sie jedoch nur das erst in Rußland erwachende historische Interesse
des Dichters anführen.
Folgende Erwägungen lassen die Entstehungszeit des Dramas mit einiger
Wahrscheinlichkeit bestimmen.
Das Schauspielfragment 'Graf Heinrich' hat Lenz im Herbst 1772 verfaßt.
Hier kommt der Name Ruggieri vor. Weinhold meint, Lenz habe den
Namen nicht aus Dante, den er wohl nicht gelesen habe, sondern aus Ger-
stenbergs 'Ugolino' entlehnt.
Folgende Stellen aus Lenzens Aufsätzen zeigen aber, daß er Dante gekannt
hat: 'Über die Theorie der drei Einheiten 1772' vgl. Friedrich, Die Anmer-
kungen übers Theater, 1907, S. 127; 'Rezension eines neu herausgekomme-
nen Trauerspiels vom 2. Dezember 1772'; '. . . und Dante hätte gewiß nicht
das Herz gehabt, eine solche Figur in der Hölle erscheinen zu lassen, viel
weniger auf dem Theater.'
Ich vermute nun, Lenz wurde im Jahre 1773 durch Dante angeregt, das
geschichtliche Ereignis der sizilianischen Vesper in einem Drama zu behan-
deln. Durch 'Ugolino' war ja Italien und seine Geschichte ein beliebter
Schauplatz für ein Drama geworden. Div. Com. Par. VIII, 67 — 82 weist
Dante auf die sizilianische Vesper hin. Purgat III, 140 hören wir von
Manfred und seiner Tochter Konstanze.
Diese Vermutung wird durch folgende Erwägung wahrscheinlicher gemacht.
Bei Lenz finden sich sehr häufig zur gleichen Zeit dieselben Worte und
Wendungen, so daß man auf die gleiche Entstehungszeit zweier Stücke
schließen kann, wenn sich Übereinstimmungen in Worten und Ausdrücken
zeigen. Beispiele ließen sich genug anführen.
Nun lesen wir in den Anmerkungen übers Theater: 'Hätt' ich nur mit
diesen Anmerkungen das ausgerichtet, was Petracius in seinem Gastmahl
des Trimalchir von . . .' (aus dem Jahre 1773).
Im Petron heißt der Sklave des Encolp Giton. Denselben Namen führt
aber der griechische Sklave in der 'Sizilianischen Vesper', was vermuten
läßt, daß Lenz diesen Namen der 1773 erschienenen Heinseschen Übersetzung
des Petron entlehnt hat.
Ich nehme daher an, die Konzeption des Dramas, durch Dante und
Ugolino' angeregt, ein Verzeichnis der Personen und ein kurzer Entwurf
'mag im Jahre 1773 entstanden sein.
Als dann Lenz nach Rußland zurückgekehrt war, plante er eine ver-
besserte Ausgabe seiner Jugenddramen. Dies und das neu erwachte histo-
rische Interesse mögen den Dichter bestimmt haben, den alten Stoff wieder-
aufzunehmen, vielleicht auch die Absicht, durch ein historisches Drama den
schlechten Eindruck, den er durch seine Komödien bei seinen Verwandten
gemacht hatte, wieder auszulöschen.
Kleinere Mitteilungen 157
Man hat gefragt, welche historischen Quellen Lenz für sein Drama be-
nutzte. 'Wegen der starken Umgestaltung des geschichtlichen Hergangs',
meint Weinhold, 'möchte es das Wahrscheinlichste sein, daß seine geschicht-
liche Erinnerung schwankend und unsicher geworden war und er daher
diesen zweifelhaften Gedächtnisstoff in dichterischer Willkür verarbeitete.'
Diese Vermutung trifft jedoch nicht zu. Man hat übersehen, daß fol-
gende Stelle aus dem satirischen Gespräch 'Über Delikatesse der Empfin-
dung', das in der ersten Zeit nach der Rückkehr (1780) entstand: Lenz,
Werke, hg. von Blei, V, 295, in Zusammenhang mit der Sizilianischen Ves-
per zu bringen ist.
Daraus ergibt sich einmal: Lenz hat Muratori, Annali d'Italia 1753 — 56
oder dessen deutsche Übersetzung Leipzig 1745—50 als Quelle benutzt; zum
anderen: er hat den Vorgang nicht aus unsicherer geschichtlicher Erinne-
rung, sondern bewußt umgestaltet und rechtfertigt hier eine solche Ver-
änderung.
Die angeführte Stelle läßt daher mit Wahrscheinlichkeit schließen, daß
die Ausführung des Dramas in die Jahre 1780 oder 1781 fällt.
Auf einen Punkt möchte ich noch aufmerksam machen: V, 2 erinnert an
den Schluß des Clavigo.
Königsberg i. Pr. R. Ballof.
Verlag von Seorg We/iermann, Braunfdiweig und Hamburg
DEUTSCHE
ME ISTER PROSA
EIN LESEBUCH
von
EDUARD ENGEL
Dritte veränderte Auflage ^o 11. bis 15. Taufend
Gefammelf aus den Werken von \Tb verfdiiedenen Sdiriffffellern
Mif einem Bildnis Leffings und adif handfdirifflidien Lefeffü&en
Schulausgabe in Halbleinen gebunden 10 Mark
Sefdienkausgabe auf holzfreiem Papier in Halbleinen gebunden 15 Mark
Vom preussischen Unlerrichlsminislerium für
die ihm unterstellten Lehranstalten empfohlen
Das anerkannt beffe deuffdie Lefebudi
Nidif nur für die Sdiulen geeignet,
fondern ein edles Hausbudi
für jeden gebildeten
Deuffdien
Seiner „Deuffdien Sfilkunff", in der er unfereProfaliferafur fdiarf unter
dieLupe nimmt und den Deutfdien zeigt, wie nidit gefdir:eben werden
füllte, hat Engel ein Lefebudi zur Seite gegeben, das eineAuslefe deutfdier
MufterftüÄe enthält, an der gezeigt wird, wie unfere großen Sdiriftfteller
Jahrhunderte hindurdi die hohe Kunft geübt, audi ohne den SdimuA ge-
bundener Rede die vollkommene innere Form, das heißt den Einklang
von Gehalt und Ausdru*, zu finden. Nur Klaffifdies, Meifterlidies nadi
Inhalt und Kunftform ift dargeboten. So ift das Werk nidit nur ein Quell
ftiliftifdier Belehrung, fondern audi ein reidier Born fittlidier, äffhetifdier
und wiffenfdiaftlidier Anregung. Wer feiner Lektüre einen Teil der Muße-
ftunden widmet, wird reine, nadihalfige ErquiAung darin finden. Ein
präditiges Werk für alle Lehrerbibliotheken. Sdiulblaff der Provinz Sadifen
So find alle Gattungen des Stils und mit ihnen alle Hauptzweige des
Lebens in diefem Budie vertreten und madien es zu einer muftergül-
tigen Sammlung vornehmer deutfdier Profa, durdi die nidit nur ein künft-
lerifdier und literarifdier, fondern zugleiii ein nationaler Geift weht.
Arfur Braujeweffer in der „Danziger Zeitung"
Das würdig ausgeftattete,auSgezeidineteBudi dürfte den Befitzern und
Lefern von Engels „Deutfdier Stilkunft" überaus willkommen fein.
Es eignet fidi aber audi vortrefflidi zum Gebraudi in höheren Sdiulen.
Dresdner Journal
Prüfungsetemplare ftehen auf Wunfdi zu ermäßigtem Preis zur Verfügung
A. Sachregister.
Kursiv gedruckt sind Abhandlungen, Kleinere Mitteilungen, Sitzungsberichte; in Antiqua die
Anzeigen. Die Ziffern bezeichnen Band (131—140 = 31 — 40) und Seite.
I. Allgemeines.
Rud. Tobler, Ad. Tobler zum Krieg
1870 33/175.
Festschrift für L. Morsbach von
F. Holthausen und H. Spies (Jordan^
32/429.
Pfandl, Ein Wort xur Auffassung
des Begriffs Lit.- Wissenschaft 37/223.
Sifx. der Berl. Oes. für das Stud.
der n. Spr. 32/154, 33/421, 34/295,
35/422, 37/77, 38/116, 40/136; Verx.
der Mitgl. 32/169, 34/408, 35/428,
38/122, 40/141
Gelehrtengeschichte.
Schidtx, Erich Schmidt 31/273.
Jaberg, Emil Freyfnond f 37/218.
Heusler, Axel Olrik 36/1.
Sprachwissenschaft.
Wvlpel, Wirklichkeit und Sprache
(A. Bally) 34/211.
Jaberg, Sprache als Äußerung und
Spr. als Mitteilung 36/84.
Marty, Gesam. Schriften, hg. von
Jos. Eisenmeier, Alfr. Kastil, Osk.
Kraus (B. Fehr) 39/100.
Klemperer, Zum Verhältnis von
Sprachivissenschaft und Völkerpsycho-
logie 40/125.
Literatur.
Stammler, Zum Fortleben d. antiken
Theaters im Mittelalter 36/285.
Winkler, Eine mittelalterl.-kirchl.
Fassung der Sage von Hero und Lean-
der 32/405.
Steinberger, Untersuchungen zur
Entstehung der Sage von Hirlanda
von Bretagne sowie zu den ihr am
nächsten verwandten Sagen (W. Be-
nary) 32/435.
Schröder, Th., Die drani. Bearbei-
tungen der Don-Juan-Sage in Spanien,
Italien und Frankr. bis auf Moliere
einschl. (M. J. Wolff) 32/190.
Wechssler, Zum Problem des Komi-
schen auläßl. Molieres (M. J. Wolff)
31/212.
Lommatxsch E., Zum Ritterbrauch
des Prahlens 34/114.
Koeppel, Aristoteles, Browning und
Björnson 31/164.
Pelizaeus, Beiträge zur Gesch. der
Legende vom Judenknaben (A. Hilka)
33/187.
Pfandl, Zur Biblioqr. des voyages
en Espagne 33/413, 34/143, 35'175.
Liiduiq A., Homunculiu. Androiden
37/137, 38/141, 39/1.
V. Löwis of Menar, Der Held im
dtschn. und russ. Märchen (E. Bleich)
33/179.
Landau, Hebrew-Germ. romances
and tales and their relation to the
romautic lit. of the Middle Ages. Part 1
(R. Petsch) 32/175.
11. Germanische Sprachen.
Allgemeines,
Cook A. S., Runic momwients known
as obelisks 32/395.
Zachrisson, The suffix *-ingja in
Oermanic names 33/348.
Metoula Sprachführer: Dänisch,
Norweg. und Schwed. (Joh. Neuhaus)
33/448.
Paulussen, Rhythmik und Technik
des sechsfüßigen Jambus im Dtsch.
und Engl. (R. Fischer) 34.166.
Schöffler, Der Pflanxenname Wald-
meister im Me. und Nhd. 36/234.
Spitzer, Anti-Charabcrlain. Betrach-
tungen eines Linguisten über H. St.
Chamberlains 'Kriegsaufsätze' und die
Sprachbewertung im allgem.(E.Lerch)
40/167.
1
Register au Archiv Band 131—140
1. Skandinavisch.
Bcnary, Zur Hervararsaga 33/332.
Richter W., Chr. Weises nordische
Dramen ^Regenerus' und 'Ulvilda'
34/245.
2. Deutsch.
Allgemeines.
Geiger f, Außerunqeyi Montesqiiieus
über die Deutschen 38/217.
Krieger, Friedrich der Große und
seine Bücher (Mangold) 33/475.
Pfand! , Zur span.-dtschn. Orts-
namenkunde des Mittelalters 34/380.
Kilian, Aus der Praxis der med.
Dramaturgie (R. Fischer) 34/163.
Witkop, Heidelberg und die dtsche.
Dichtung (Daffis) 35/189.
Walzel, Ricarda Huch. Ein Wort
über die Kunst des Erzählens (Friede-
mann) 36/299.
Liebermunn. Die dtsche. Volksseele
im britischen Urteil 37/222.
Heusler A., Dtscher. und antiker
Vers (Petsch) 37/234.
Stoltenberg, Bindung der dtschn.
Rede (Petsch) 37/234.
Brandl, Das geistige Testament
uveier Alttiroler: Joh. Schuler und
Beda Weber 38/224.
Schivarx K., Vom Pradler Bauern -
theater 40/254.
Spitzer, Fremdwörterhatz und
Fremdvölkerhaß (E. Lerch) 40/168.
Sprache.
Sehrt, Zur Gesch. der wgerm. Kon-
junktion 'Und' (Feist) 36/172.
Lasch , Mittelniederdtsche. Gram.
(Zippel) 33/430.
Enderlin, die Mundart von Keßwil
in Oberthurgau (Gebhardt) 31/445.
Abegg, Die Mundart von Urseren
(Gebhardt) 31/445.
Bohnenberger, Die Mundart der
dtschn. Walliser im Heimattal und in
den Außenorten (Gebhardt) 34/153.
Berger, Die Laute der Mundarten
des St. Galler Rheintals und der an-
grenzenden vorarlbergischen Gebiete
(Gebhardt) 34/153.
Dtsche. Dialektgeographie. Berichte
und Stud. über G. Weukere Sprach-
atlas des Dtschn. Reiches, hg. von
F. Wrede. Heft V hg. von T. Frings
(Gebhardt) 34/151.
Weigand, Dtsch. Wörterbuch (Feist)
32/419.
Bergmann Karl, Der dtsche. Wort-
schatz dargest. auf Grund des dtschn.
Wörterbuchs von Weigand (Feist)
31/459.
Schweizerisches Idiotikon. Wörterb.
der schweizerdtschn. Sprache. LXVI —
LXXVIII (Gebhardt) 34/152.
Loewe, Germ. Pflanzennamen. Etj^-
mol. Untersuchungen (Feist) 31/459.
Seiler, Entwicklung der dtschn.
Kultur im Spiegel des dtschn. Lehn-
worts. T. 13. T. 4. (W. Nickel)
34/150.
Schneider K., Zur Ausgestaltung
der deutschen Sprache (W. Nickel)
34/150.
Kruer, Der Bindevokal und seine
Fuge im schw. dtschn. Präterit. bis
1150 (Feist) 34/161.
Plenio, Über die sogen. Dreiteiligkeit
und Zweiteiligkeit in der mhd. Strophik
36/16.
A. Becker, Sprache Friedrichs
V. Spee. Beitrag zur Gesch. der nhd.
Schriftsprache (A. Hübner) 32/182.
Spitzer, Nochmals mundartl. -dtsch.
'Schlamassel' , 'schlamast(ik)' 38/234.
Maußer, Dts(!lie. Soldatenspr. (W.
Richter) 38/241.
Getzhuhn , Untersuchungen zum
Sprachgebr. und Wortschatz der Klage
(W. Richter) 38/237.
Stoltenberg, Nebentonstärken. Eigene
Lehre und ihre Stellung zu Behn, Der
dtsche. Rhythmus 40, Dtsch. Sonder-
heft 136.
Literatur.
Heusler, Vorschläge zum Hilde-
brandslied 37/1.
Paul H., Ulrich v. Eschenbach und
seine Alexandreis. (Hilka) 36/319.
Stettner, Wolframs Wappen in der
Manessischen Hs. 37/65.
Hilka, Zur Eatharincnlegende : die
Quellen der Jitgendgesch. Katharinas,
insbesondere in der mittelniederdtsehn.
Dichtung und in der mittelniederländ.
Prosa 40/171.
Benary, Basin und Elegast 32/144,
Juethe, Der Minnesänger Hiltbolt
V. Schwangau (A. Hübner) 32/423.
Lockemann, Techn. Stud. zu Luthers
Briefen an Friedr. den Weisen (Brecht)
31/446.
Register zu Archiv Band 131 — 140
Schölte, Probleme der Grimmels-
hausenforschung I (Körnchen) 31/170.
Eisner, Gi-immelshausen: der flie-
gende Wandersmann nach dem Monde
32/1.
Münnig Eilisab., Calderon und die
ältere dtsche. Romantik (Ludwig)
31/459.
Schröder E., Zwei altdeutsche
Schwanke: Die böse Frau, Der Wein-
schwelg (W. Richter) 34/156.
Bolte Joli.., Sclin-edische Beiträge xii
unserer älteren Thcatergeseh. 31/144.
Hermann M., Forschungen zur
dtschn. Theatergesch. des Mittelalters
und der Renaissance (Daffis) 35/181.
Kaulfuß - Diesch , Untersuchungen
über das Drama der Jesuiten im
17. Jhdt. 31/1.
Geiger, Ludw. Börne und Bakel
Varnhagen 39/26.
Mtdertt, Hur can von der Hell
39/217.
Fimck, Ein Brief von Geliert a?i
den Fabeldichter Pfeffel 36/147.
Müller B. A., Straßburger Lokal-
kolorit in Frischlins Julius redivivus'
35/1.
Singer, Lit- Gesch. der dtschn.
Schweiz im Mittelalter (H. Schneider)
40/146.
Ullrich Herrn., Zu Herders 'Ideen
xur Philosophie der Gesch.' 36/284.
Koschmieder, Herders theoret.
Stellung zum Drama (Petsch) 31/448.
Geiger, Notixen über Herder und
Lessing 38/218.*
Hankiss, Dideroiu. Herder 40, Dtsch.
Sonderh. 59.
Achelis, Zu Lessing s Aufsaix Ronm-
lus und Riniiciiis 39/137.
Kersten, Voltaires Henriade in der
dtschn. Kritik ' vor Lessing (Levin-
stein) 34/421.
Deetjen, Bürger u. H.v. Müncl/hausen
31/424.
Lederer Max, Dialog-Elemente des
Ifflandsch. Dramas 38/1.
Deuschle, Aufleben der dtschn. Lit.
des 17. Jhdts. im Zeitalter der Ro-
mantik 40, Dtsch. Sonderh. 1.
Qeiqer, Unbekannte Briefe Ifflands
33/310.
Lederer, Zeitgenössische Urteile über
Iffland 33/300.
Mazzucchetti , Schiller in Italia
(G. Hartmann) 32/214.
Kuberka, Der Idealismus Schiller
als Erlebnis und Lehre (Ludwig) 31/177
Basch, Poetique de Schiller (Lud-
wig) 31/177.
Geiger, Zu Schillers Don Carlos.
Eine dramaturgische Abhandig. 37/154.
Huch Ric, Wallenstein. Eine
Charakterstudie (Petsch) 35/184.
Leitzmann, Die Hauptqucllen zu
Schillers Wallenstein (Petsch) 35/184;
Zu Schillers dramat. Nachlaß 34/27.
Sejffert, Schillers Musenalmanache
(Wolfr. Suchier) 33/431; Schillers
Musenalmanach (Petsch) 35/184.
Bereslieim, Schiller als Herausg.
der Rhein. Thalia, Thalia und Neuen
Thal, und seine Mitarbeiter (Petsch)
35/184.
Geiger, W.v. Humboldt über Schiller
und Goethe ßb/29.
Ballof, Über die Sixilian. Vesper
von J. M. B. Lenx 40, Dtsch. Sonder-
heft 156.
Geiger, Georg Forster über dtsche.
Lit. und über Schiller 34/372.
Georg Försters Tagebücher. Hg. von
Zincke und Leitzmann (Levinstein)
34/419.
Zincke, Georg Förster nach seinen
Originalbriefen (Löschhorn) 35/432.
Leitxmann, Briefe G.Forsters^b/26Q.
Leitzmann, Zu R. Hayms Biogra-
phie W. V. Humboldts 33/401.
Leitzmann, W. v. Humboldt (Lud-
wig) 40/267.
Schönemann, A. v. Arnims geistige
Entwicklung an seinem Drama 'Halle
und Jerusalem' erläutert (Agnes Har-
nack) 31/175.
Geiger, Volksliedinteresse und
Volksliedforschung in der Schweiz
(Lohre) 33/181.
Buchtenkirch, Kleists Lustsp. 'Der
zerbrochene Krug' auf der Bühne
(Daffis) 35/432.
Behme, H. v. Kleist und Ch. M. Wie-
land (R. Petsch) 33/435.
Heinrich, H. v. Kleist und K. F.
Hindenburg 34/129.
Heinrich, H. v. Kleist und Frank-
furt a. 0. 32/273.
Grabbes Werke, hg. v. Sd. Wukadi-
novic (Schacht) 32/419.
Enders, Fr. Schlegel (R. M. Meyer)
31/457.
Kör?ier, Zu A. W. Schlegels Bricf-
weehsel mit Chr. Lassen 36/149.
Register zu Archiv Band 131—140
Mazzucchetti, A. W. Schlegel und
die ital. Lit. (K. Voßler) 37/98.
Schwartz W., A. W. Schlegels Ver-
hältnis zur span. und portug. Lit.
(Pfandl) 35/450.
Herzfeld, A. W. Schlegel in seinen
UeKiehimyen xu engl. Dichtern und
Kritikern 39/149.
Lüdeke, Tiecks Shakesp.-BuchB9l210.
Bräuning-Oktavio, J. H. Merck als
Mitarbeiter an Wielands 'Teutschem
Merkur' 31/24, 285.
Mayne, Gesch. der dtschn. Goethe-
Biogr. Kritischer Abriß, 2. Abdr.
Daffis) 32/183.
Gundolf, Goethe (Ludwig) 39/228.
Carre, Characieristics of Qoethe de
S. Austin et la collaboration de H. Ü.
Robinson 31/145.
Geiger, Qoethe-Misxellen : 1. 0. als
Tyrann. 2. Jacobiüber Wieland und 0.
3. O. und die Narrenakademie 37/66.
Geiger, Bettine Brentano und ihre
Besuche bei Goethe 31/18.
Bäumer Gertr., Goethes Freun-
dinnen. Briefe zu ihrer Charak-
teristika (H. Beyer) 40/268.
Geiger, Zu einem Briefe Goethes
34/128, 39/83.
Aus Ottilie v. Goethes Nachlaß.
Briefe und Tagebücher von ihr und
an sie bis 1832. Nach den Hss. des
Goethe- und Schillerarchivs, hg. von
W. V. Oettingen (Geiger) 32/424.
Leitxmann, Goethes älteste Gcdicht-
sammlmig 40, Dtsch. Sonderh. 75.
Goethes Faust: Nach Entstehung
und Inhalt erklärt von E. Traumann.
2. Bd. Der Tragödie 2. T. (Geiger)
32/427.
Geiger, Zwei Äußerungen Goethes
über seinen Faust 37/220; Die Ber-
liner Aufführung des Faust am
15. Mai 1838 38/99.
Geiger, Goethe über Wielands Oberon.
37/220.
Keller W. J., Goethe's estimate of
the Greek and Lat. writers as reveal-
ed by his works, letters, diaries, and
conversations (Ludwig) 39/232.
Geiger, Zu Goethes Gesprächen
35/397.
Bose7iherg, Goethes 'Braut von
Corinth in Frankreich 39/179.
Ballof Über die Echtheit des Sesen-
heimer Liedes 'Bälde seh ich Rickgen
wieder' 40/247.
Ballof, Zur Frage der Sesenheimer
Lieder 40, Dtsch. Sonderh. 155.
Geiger, Ich ging im Walde 35/260.
Geiger, Ein merkwürdiges Urteil
über Goethes ' Wahlverwandtschaften'
36/281 ; Zu einem Goetheschen Spruch
38/221.
Loewenthnl, Vmi Goethe über Heine
XU V. Hugo 39/227.
Stammler, Claudius und Gersten-
berg 40, Dtsch. Sonderh. 21.
Moestue Wilh., Kritisches xu Uhlands
Briefwechsel und Tagebuch 38/221;
Neue kritische Bern, xu Uhlands
Briefw. und Tageb. 40'251.
Schwaller, Untersuchungen zu den
Dramen W. Spangenbergs (W. Stamm-
ler) 33/439.
Ludwig Karl, Untersuchungen zur
Chronologie Albrechts von Halber-
stadt (W.Richter) 35/180.
Wackemell, Ludw. Steub, Ad. Pich-
ler und der Tiroler Sängerkrieg
(Brandl) 35/434.
Steig, über Grimms' dtsche. Sagen'
35/47, 225.
Geiger, Rahel und F. A. Wolf
36/283; Zu Michel Beer 36/282.
di Leesthal, Studien über Veldekes
Eneide (W. Richter) 34/155.
Symons, Kudrun'-^ (W. Richter)
34/154.
Riesenfeld, H. v. Ofterdingen in der
dtschn. Lit. (W. Nickel) 34/149.
Im polnischen Exil. Briefe von
Thcr. Forster an ihre Stiefmutter.
Mitget. von A. Leitxmann 33/268.
Waiblinger, Liebe und Haß, ungedr.
Trauerspiel. Nach dem Ms. hg. von
A. Fauconnet (Levinstein) 34/417.
Köhler, Die Lyrik M. v. Schenken-
dorfs (Löschhorn) 35/188.
Ludteig Alb., Schlemihle 40, Dtsch.
Sonderh. 95.
Heilniann, Mörikes Lyrik und das
Volkslied (H. Lohre) 34/416.
Hempel, Die Kunst Friedrichs von
Logau (W. Richter) 38/237.
Geiger, Literar. Anklänge 38/99.
Wagner A. M., Ungedr. Briefe und
Dichtungen aus dem Nachlaß H. W.
V. Gerstenbergs 34/3, 35/11, 36/24,
209, 40/1.
Richert Gertr., Aus dem Brief-
wechsel der Brüder Grimm mit Roma-
nisten und Schriftstellern 34/339,
35/320, 38/73.
Register zu Archiv Band 131 — 140
Wöber Ä., Äfis dem . Lager der
Berliner Romantik 40/185.
Fischer \V., Ferd. Freiligrath und
Annely Böltß 40/25.
Meyer Rieh. M., Die dtsche. Lit. bis
zum Beginn des 19. Jhdts., hg. von
0. Pniower (A. Ludwig) 36/173.
Nagl, Zeidler und Castle, Dtsch.-
österr. Literaturgesch. 2 Bde. 1. Abt.
(Petsch) 36/302.
Siebs, Herrn. Allmers, sein Leben
und Dichten (Keese) 34/164.
Litzniann, E. v. Wildenbruch. l.Bd.
(E. Groß) 34/414.
Schulze Werner, G. Schwab als
Balladendichter (Mayne) 34/413.
Fleury, Herwefjh als Uhersetxer.
Ungedr. Briefe von Bodenstedt 32/66.
Baidinger, G. Herwegh, Gedanken-
welt der 'Gedichte eines Lebendigen'
(W. Richter) 38/239.
Geiger, Eine xeitgenössische Äuße-
rung über das junge Dtschland. 38/99.
Walzel, Hebbeiprobleme (Lindau)
33/183.
Saedler, Hebbels Moloch (Friede-
mann) 36/301.
Speyer, Die dt sehn. Kaiser in der
Dichtung C. F. Meyers 33/45.
Brecht, C. F. Meyer und das Kunst-
werk seiner Gedichtsammlung (H.
Beyer) 40/147.
Deeijen, Zur Oesch. einer romant.
Zeitschrift 36/145.
Geiger, Eine unbekannte Gegen-
schrift gegen Gufxkoivs Wally 36/229.
Suchier Wolfr. , Dr. Chr. Phil. Hoester
(Kinderraann) 40/145,
A. V. Dr.-Hülshoff, Neues aus ihrer
Jugendzeit (Deetjen) 33/442.
Pfeiffer, Die Lyrik der A. v. Dr.-
Hülshoff (Bertha Badt) 33/445.
Carre J. M., W. Wheivell et H. C.
Robinson 31/425.
Chr. Weises Dramen 'Regenerus'
und 'Ulvilda' nebst einer Abhdig. zur
dtschn. und seh wed, Literaturgesch. hg.
von W. V. Unwerth (Levinstein)33/437.
Krüger Herrn. A., Der junge Raabe
(Riemann) 33/446.
G. Kellers Leben, Briefe und Tage-
bücher, hg. von E. Ermatinger. 3. Bd.
(Heynen) 38/240.
G. Kellers Leben, Briefe und Tage-
bücher. Auf Grund der Biographie
J. Baechtolds dargest. und hg. von
E. Ermatinger (Heynen) 35/190.
3. Holländisch.
Lion, Der erste Psalrn in niederländ.
Dichtung vorn Jahre 1740 40/252.
Koßmann, Nieuwe Bijdragen tot
de Geschiedenis van het nederlandsche
Tooneel in de 17^ en 18e Eeuw (J.
Bolte) 34/415.
4. Englisch.
Weltkf'ieg.
Trent W. P., Germany 33/265;
Austria-Hungary 33/266.
Viereck, The iron chaneellor 34/1.
Keynes, The economic consequences
of the peace (Liebermann) 40/148.
Brandt, An Prof. Frederic J. Car-
penter, Barrington, Illinois 39/213.
Liebermann, Vorahnung von Flug-
zeug und U-Boot 39/87.
Allgemeines.
Liebermann, Zum Urkundenwesen
bei den Angelsachsen 31/153.
Liebermann, Mancus als Goldmünxe
31/153.
Liebermann, Jahr und Tag 35/401.
Liebermann, Zur Oesch. der engl. Per-
sonennamen im 13. — 16. Jhdt. 31/154.
Liebermann, Zu Liedrefrain und
Tanx im engl. Mittelalter 40/261.
Liebermann, Zwischenspiele für Ed-
uard IL 40/262.
_ Liebermann, Engl. Volksspiele in
cler Johannisnacht 31/429.
Born, Die engl. Ereignisse der Jahre
1685 — 90 im Lichte der gleichzeit.
Flugschriftenlit. Dtschlands. (Lieber-
mann) 40/271.
Brie, Imperialistische Strömungen
in der engl. Lit. (Ludwig) 36/317.
Liebermann, Englands Dichtung
und Sprache im Weltkrieg 37/221.
Tönnies, Der engl. Staat und der
dtsche. Staat (Liebermann) 38/249.
Kilgler Herrn., Ansprache am Shake-
speare- Tag im Dtschn. Theater xu
Berlin 1919 39/85.
Roosevelt Th., Hist. as lit., and
other essays (Brandl) 40/274.
Sprache.
Holt hausen, Die ae. Beda- Glossen
36/290.
Förster M., Paläographisches xu
Bedas Sterbespruch 35/282.
Register zu Archiv Band 131—140
Förster 31., Die altkornische Be-
arbeitung von Abt ^Ifrics lat.-ae.
Glossar 35/285.
Förster M., Äe. yre, der Singular
XU öran 'Ör' 32/397.
Förster M., Nochmals ae. fregen
'Frage' 35/399.
Förster M., Spätae. Prosper- Glossen
in Cambridge 36/290.
Swaen, Note on the Ä.-S. Indieia
monasterialia 40/106.
Bradley, Someplace-names in Sweet' s
A.-S. reäder 31/427.
Brandt, Siegmuyid, Siegfried und
Brunhilde in Ortsnamen des nordwestl.
Englds. 33/408.
Liebermann, Southampfons ältester
Name 33/133.
Tangl, Frühags. Doppelformen von
Eigennamen 35/399.
Förster M., Frühags. Doppelformen
von Eigerinamen? 36/289.
Wende, Über die nachgestellten Prä-
positionen im Ags. (Björkman) 35/437.
Spira, Die engl. Lautentwicklung
nach frz. Grammatiker - Zeugnissen
(Jordan) 31/186.
Zachrisson, Pronunciation of Engl,
vowels 1400—1700 (Brunner) 35/195.
Liebermann, Zum Verschwinden
ags. Buchstaben aus dem me. Alpha-
bet 31/428.
Liebermann, Shuteme.: 'Lastschiff
40/263.
Zippel f, Zwei angebliche me. Inter-
jektionen 34/131.
Luick, Histor. Gram, der engl. Spr.
1. Bd. (Zachrisson) 33/450.
Zachrisson, To Luick's 'Histor.
Gram.' 34/378.
Einenkel, Gesch. der engl. Spr. IL,
Histor. Syntax (Fehr) 36/307.
Deutschbein, System der ne. Syntax
(Fehr) 36/176.
Stoelke, Die Inkongruenz zwischen
Subj. und Prädikat im Engl, und ver-
wandten Sprachen (Brunner) 36/181.
Hor>i Wilh., Zur ae. Wortgesch.
40/106.
Horyi Wilh., Zur engl. Wortgesch.
38/62.
Sisam, Epenthesis in the consonant
groups sl, sn. 31/305.
Stvaen, Entirely, wholly, larqely,
frankly 34/48.
Zachrisson, French 'le' for Engl,
'the' 35/69.
Daniel, Outline of English phonetics
(Brandl) 39/98.
Schröer, Ne. Aussprachewörterb.
mit besonderer Berücksichtigung der
wichtigsten Eigennamen (Wildhagen)
34/183.
Klein W., Der Dialekt von Stokesley
in Yorkshire, North Riding (Brunner)
33/457.
Literatur.
Moore, Notes on the 0. E. 'Christ'
31/311.
Brandl, Die Urstammtafel der West-
sachsen und des Beowulfepos 37/6.
Zur Zeitbestimmung des Kreuxes von
Ruthwell 36/150,
Müller Joh., Kulturbild des Beo-
wulfepos (Brunner) 38/242.
Klaeber, Das Grändelsmoor — eine
Frage 31/427.
Konrath, Eiiie ae. Vision vom Jenseits
39/30.
Gonser, Das ags. Prosaleben des
hl. Guthlac (Brunner) 36/306.
Lehmann P,, Wert und Echtheit
einer Beda abgesprochenen Schrift
(Liebermann) 40/269.
Kolbe, Die Konjugation der Lindis-
farner Evangelien (Wildhagen) 31/461.
Förster M., Die ae. Beigaben des
Lambeth-Psalters 32/328.
Lieberma^m, Ags. Urkunde 1085 —
1117 33/133.
Liebermann, Ein staatsrechtlicher
Satx uElfrics aus tat. Quelle 39/84.
Liebermann, Vorrang rechter Seite
31/153.
Liebermann, Emendation xu JVcer-
ferä 31/153.^
Brandl, Venantius Fortunatus und
die ags. Elegien ' Wanderer' und 'Ruine'
39/84.
Sieper, Die ae. Elegie (Brotanek)
37/240.
Codice Vercellese con omelie e
poesie in lingua anglosassone, ripro-
dotto in fototipia, con introd. del
Prof. Dott. Foerster (Keller) 39/233.
2jupitxa, Jacob und seine xirölf
Söhne. Engl. Verslegende, hg. von
Brandl 38/156...
Förster M., Älteste Fassung des me.
Gedichts 'Earth upon earth' 38/39.
Brotanek, Texte u. Untersuchungen
zur ae. Lit.- und Kirchengesch. (Wild-
hagen) 34/169.
Kegister zu Archiv Band 131—140
Leifxmann, Bemerkungen xu Oalfred
V. Monmouth 34/373.
Logeman, The M.-E. West Minster
prose psalter, Ps. 90, 10 34/132.
Holthausen, Ein nie. Hymnus auf
Maria und Christus und seine kym-
rische Umschrift 40/33.
Förster M., Beiträge xur mittel-
alterlichen Volkskunde. IX. 34/264.
Zenke, Synthesis u. Analysis desVer-
bumsim Orrmulum (Wildhagen) 31/461.
Chaucer and his poetry. Lectures
delivered in 1914 by G. L. Kittredge
(E. Koeppel) 34/175.
Förster M., Chauceriana I. 32/399.
Eitle, Die Satzverknüpfung bei
Chaucer (Brunner) 33/460.
Liebermann, Zu Chaucers Stellung
in Hofämtern 40/261.
Bihl, Wirkungen des Rhythmus in
der Spr. von Chaucer und Gower
(Brunner) 38/243.
Cook A. S., Dante and OouerS2ld95.
Cracken, Lydgatiana 31/40.
Cords Rose, Fünf me. Gedichte aus
der Hs. Rawlinson Poetry 36 und
Rawlins. C. 86 35/292.
Christ, Zu Rieh. Rolle von Hampole.
Eine vatikanische Hs. des Psalmen-
kommentars 36/35.
Rolle's Meditationes de passione
Domini according to Ms. Upsala C 494
with introd. and notes by H. Lind-
quist (Liebermann) 39/235.
Brunner, Die Reimsprache der sogen,
kent. Fassung der ^Sieben weisen
Meister' 40/199.
Thiemke,Die me. Th. Beket-Legende
des Gloucesterlegendars. Kritisch hg.
mit Einl. { Brunner) 40/270.
Bolle W., Forbes' 'Songs and fan-
cies', das erste in Schottland gedr.
Liederbuch 31/320, 32/36, 281.
Hecht, Bibliographisches xu J. Forbes'
Songs and fancies 40/108.
Neuendorff, Nachklänge des nuß-
braunen Mädchens 32/139.
Bodenstein, Zur Oesch. von Chevy
Chase 36/151.
Brunner, Zum Balladenrhythmus
40/259.
Brie, Zwei verlorene Dichtungen ro7i
Skelton 38/226.
Long Percy W., The name 'Shep-
herd's calendar' 31/429.
Brunner, Die Dialektwörter in
Spensers 'Shepherd's calendar' 32/401.
Bninner, Hs. Brit. Mus. Additional
31042 32/316.
Fehr, Zu 'The pearV 81/154.
Patience : an alliterative version of
Jonah by the poet of Pearl (Brunner)
32/184.
Brotanek, Zu den ältesten engl. Hexa-
metern 33/87.
Herxfeld 0., Thom. Russell, ein
früher Vermittler dtschr. Lit. in Eng-
land 36/153.
Liebermann, Zu Thom. Oceleve
40/261.
Liebermann, Weltliches Theater in
der Kirche 31/429.
Swaen, Fair Margaret and Sweet
Williatn 36/40.
Stopes, The debt the Engl, stage
owes to the Burbages 31/155.
Lüdeniann, Shakesp.s Verwendung
von gleichartigem und gegensätzlichem
Parallelismus bei Figuren, Situationen,
Motiven und Handlungen (R. Fischer)
347180.
Hörn Wilh., Das Komische in
Shakesp.s Tragödien mid die Maler
Reynolds und Hogarth 37/159.
Phelps, Father Parsons in Shakesp.
33/66.
Oollancx, The name Polonius 32/141.
Brückner, Zum Namen Polonius
32/404.
Trench, Shakesp.s Hamlet. A new
commentary (R. Fischer) 34/179.
Tilley, Notes on ' Tu-elfth n ight'Ulim.
Cyntia's revels or, The fountain
of self-love by B. Jonson, ed. by
A. C. Indson (R. Fischer) 34/182.
Thelemann, Dictys als Mitquelle
von Shakesp.s Troilus 33/91.
Kerl Anna, Die metr. Unterschiede
von Shakesp.s King John und Jul.
Caesar (R. Fischer) 34/178.
Koeppel E., Zu. 'Amor und Psyche'
in England 31/161.
Fischer M., Zum Stil der Elisabeth.
Madrigale 33/1.
Lawrence, Restoratio7i stage nurseries
32/301.
Becker 0., 'The advenim-es of Don
Simonides', ei?i Poznan von B. Rieh
und seine Quelle 31/64.
Brunner, Ein Yorkshire-Dialekttext
aus dem 18. Jhdf. 33/134.
Schuhe K, Zu Halts Satiren 31/430.
Maier W., Chr. Anstey und der
New Bath Guide. Beitrag zur Ent-
Register zu Archiv Band 131 — 140
Wicklung der engl. Satire im 18. Jhdt.
(M. Fischer) 33/461.
Liljegren, Studies on Milton (Brandl)
38/246.
Gälvez, Guevara in England (A.
Ludwig) 38/244.
Orane, Date of Forde's Monteljon
31/434.
Danielowsky Emma, Richardsons
erster Roman (Dibelius) 38/247.
Holthausen, Smollett u. J.Paul 35/402.
Hörn W., Der Kirchenschlaf bei
Swift und Hogarth 37/68.
Jiricxek, Zur Textgesch. von Mac-
pherson's Fragtnents 36/151.
Macpherson's Fragments of ancient
poetry. In diplom. iS^eudr. mit den
Lesarten der Umarbeitungen hg. von
L. Jiriczek (Wolfg. Keller) 36/186.
Richter Helene, Gesch. der engl.
Romantik IL Bd. 1. T. (A. Ludwig)
36/315.
Hörn W., Thomson und Qains-
borough 38/65.
Koeppel E., Georgian poetry 81/315.
The Cambr. hist. of Engl. lit. ed.
by Sir A. W. Ward and A. R. Waller
vol. X. (Brandl) 33/184.
Koeppel E., Zur Byron-Biogr. 31/163.
Bader, Lord Byron im Spiegel der
xeitgen. dtschn. Dichtung 35/303.
Bader, Zu Childe Harold's Mo-
nitor 38/65.
Bader, Byroniana H. Der Verf. von
'Childe Harald in the shades' 38/228.
Bader. Byroniana HI. Verf. des
Uriel 39/214.
Pfandl, R. Southev und Spanien
(Hämel) 40/163.
Fehr, Keats im Lichte der neueste)»
Forschtiny 39/163.
Jacobson Anna, Ch. Kingsleys
Beziehungen zu Dtschland. (Brunner)
40/273.
Albrecht, Sprachgebr. des Dialekt-
dichters Ch. E. Benham zu Colchester
(W. Klein) 36/182.
Willoughby, Samuel Naylor and
'Reynard the fox' (Herzfeld) 35/197.
Dibelius, Ch. Dickens (A. Ludwig)
35/199.
Fiedler Fritx, Dickens' Gebrauch der
rhythm. Prosa itn Xmas earol 39/47.
Fiedler Fritx, Dickens' Belesenheit
40/43.
Wüliamson C. N. and A. M., The
wedding day (A. Ludwig) 40/275.
Fischer W., Über Bret Hartes Drama
'Two men of Sandy Bar' 36/72.
Fehr, Zu Swinburnes literar. Biogr.
36/240.
Jiricxek, Orkadische Zauberlieder
36/150.
Depken, Sherl. Holmes, Raffles und
ihre Vorbilder (A. Ludwig) 35/202.
Sixtus, Sprachgebr. des Dialekt-
schriftstellers Frank Robinson (Mutsch-
mann) 31/181.
Schulze Bruno, Exmoor scolding
and Exmoorcourtship (Brunner) 31/184.
Eimer, Drei Briefe von Elixab. P.
Peabody über Nath. Hatothorne u. a.
33/318.
Olivero, On the poems of Sarah
Hei Whitman 32/78.
Fehr, 0. Wildes 'The harlot's house'
34/59.
Fehr, Stud. zu 0. Wildes Gedichten
(Brie) 39/237.
Segal, Bern. Shaw, a study (W. Reh-
bach) 36/187.
Hörn Wilh., George Gissing über das
dichterische Schaffen 37/25.
Bennet, The truth about an author
(A. Ludwig) 40/275.
Watson, The Excelsior (A. Ludwig)
40/275.
Un tetrichts Wesen.
Förster M., Ae. Lesebuch für An-
fänger (Wildhagen) 34/167.
Dannheißer, England past and pre-
aent. Engl. Lese- und Realienbuch
für höh. Schulen (Rieh. Böhmer) 33/462.
Hl. Romanische Sprachen.
Allgemeines,
Jacoby, Zur Gesch. des Wandels
von lat. ü zu y im Gallorom. (Gamill-
scheg) 38/126.
Seifert Eva, Zur Entwicklung der
Proparoxytona auf -ite, -Ita -itu im
Gallorom. (Schultz-Gora) 40/164.
Gamillscheg, Studien zur Vorgesch.
einer rom.Tempuslehre(Spitzer) 31/466.
Nedired, Die linguistische Exkursion
des Züricher rovi. Seminars 32/411.
Kaufmann, Die gallorom. Bezeich-
nungen für den Begriff 'Wald' (Thom)
32/204.
Gamillscheg und Spitzer, Bezeich-
nungen der Klette im Gallorom.
(K. Jaberg) 39/110.
Register zu Archiv Band 131—140
Windisch, Das keltische Britannien
bis zu Kaiser Arthur (Pokornv)
32/434.
Tuttle, Romanic notes 33/167.
Tuttle, Romanic *akivia 33/170.
Tuttle, 'Sapta' in icestern Romanic
33/409.
Seifert Eva, Die Lehre rotn Akxent
in den r/allorom. Mundarten 34/387.
Wag?ier M. L., Das Sardische im
Ro7n. etymol. Wörterbuch von Meyer-
Lübke (Liefere/. 4—10) 34/309, 35/103,
40/240.
Spitzer, Katal. 'tramitar' weiter-
geben, Hrämit' I?istanx, spart. Hrdmite'
Instanxcnweg 36/162.
Spitxer, Zum REW. Nr. 111 7 : birnis
'rot' 37/74.
Spitzer, Aufsätze zur rora. Syntax
und Stilistik (E. Lerch) 40/282. '
Henschel Margot, Zur Sprachgeo-
graphie Südwestgalliens (v. Wartburg)
40/155.
Mitteilungen und Abhandlungen aus
dem Gebiete der rom. Philol., ver-
öffentl. vom Seminar für rom. Spr.
und Kultur, Hamburg. Bd. III (Jordanl
36/190.
Pfandl, Beiträge zur span. und
provenz. Lit.- und Kulturgesch. des
Mittelalters (Hämel) 34/423.
Bertrand, Cervantes et le roman-
tisme allemaud (Hämel) 34/186.
Lommatx.sch, Savaric v. Mauho7i
und G. Keller 34/384.
Wulff, Die frauenfeiudl. Dichtungen
in den rom. Literaturen des Mittel-
alters bis zum Ende des 13. Jhdts.
( Pariselle i 33 '21 2.
1. Französisch.
Allgemeines.
Strich, Liselotte und Ludwig XIV.
(M. J. Wolff) 32/197.
Merk Jos., Anschauungen über das
Leben der Kirche im afrz. Heldenepos
Elise Richter) 3.5/205.
Lommatxseh, Ne vache ne ccel!
31/437.
Sprache.
Schönig, Rom. vorkonsonantisches
L in den heutigen frz. Mundarten
■V. Wartburg) 33/465.
Brück, Lber zwei Punkte der rom.
Lautgesch. 33/354.
Homing, Glossare der rom. Mund-
arten V. Zell (La Baroche) u. SchSnen-
berg im Breuschtal (Belmont) in den
Vogescn (Ganiere) 37/90.
Voßler, Frankreichs Kultur im Spie-
gel seiner Sprachentwicklung. Gesch.
der frz. Schriftspr. von den Anfängen
bis zur klass. Neuzeit (Rubel) 31/220.
Schinz, Les accents dans l'ecriture
fr§se. (Pariselle) 33/212.
Wagner M. L., Lat. fundibtdtim
>*funibulum und intestinaoistenti-
nae 39/96.
Lommatxseh, Zu afrz. flori = weiß
35/170.
Spitxer, Frx. fleurs = fluores ? dd/S9.
Schultz- Oora , Afrx. viaus < vtlis
35/171.
Schultx-Gora, Afrx. 'e'estla somme'
35/411.
Schultz- Gora, Zum afrx. Substant.
berserex 35/415.
Schultz- Gora, Par impossibleBSIlld.
Schidtx- Gora, Afrx. estre dou mains
38/232.
Schultz- Gora, Afrx. bourghes, Obl.
bourghet 40/264.
Benartj, Zu 'ftls de ehar' 40/266.
Walberg, Quelques remarques sur
l'ancien frang. 'ne garder Teure que . . .'
(Schultz-Gora) 39/116.
Baist, Per und for 38/230.
Spitxer, Frz.printemps, ital.prima-
vera 35/417.
Spitzer, Zu REW Nr. 9544a:
Winnld 36/163.
Spitxer, Afrz. dnser, daserie, dasian
36/165.
Spitzer, Über einige Wörter der
Liebessprache (E. Lerch) 40/167.
Schultz-Gora, Zum Geschlecht von
afrz. ost 34/139.
Schultx-Gora, Afrx. 'a chicf de foix'
36/169.
Ad. Toblers Afrz. Wörterb., hg. von
E. Lommatzsch (Cohn) 37/83.
Cohn, Bemerkungen %u Ad. Toblers
afrx. Wörterb. 39/51, 40/84.
Trunzer, Die Syntax des Verbums
bei G. de Deguilcville (Walther Suchier)
35/442.
Weil, Sprache des Gilles de Chin
von Gauth. de Tuurnay (Pillet) 39/106.
Beiz, Die Münzbezeichnung in der
afrz. Lit. (Walther Suchier) 36/188.
Schultx-Gora, En somet (KarU-
reise V. fi07) 37/75.
10
Register zu Archiv Band 131—140
Lerch E., Prädikative Partizip, für
Verbalsubstantiva im Frz. (C'etait son
reve accompli) (Spitzer) 31/225.
Faj, Elliptical partitive usage in
affirmative clauses in French prosc
of the 14Ü1, 15th, and 16*'ii centuries
(K. Schmidt) 33/211.
Winkler, La doctrine granimaticale
frQse. d'apres Maupas et Oudin (Fran-
9ois) 31/479.
Tappolet, Ursachen des Wortreich-
tums bei den Haustiernamen der frx.
Schweix 31/81.
Tappolet, Die alemannischen Lehn-
wörter in den Mundarten der frz.
Schweiz (v. Wartburg) 37/248.
Stipp, Die Benennungen des Jahres
und seiner Teile auf dem Boden des
heutigen Frankr. (Jaberg) 32/227.
Spitxer, Frx. allons doncl 33/147.
Tiktin, Frx. euree und Verwandtes
33/120.
Heiß, Entstehung des romant. Tri-
meters 31/125, 384.
Soltmann, Syntax der Modi im Frz.
(Spitzer) 33/203.
Haas, Frz. Syntax (F. Strohmever)
38/256.
Lorck, Passe def., imparf., passe
indef. (Elise Richter) 34/209.
Stimming, Der a. c. i. im Frz. (Fried-
wagner) 34/435.
Gohin,Lalanguefr§se. (K. Schmidt)
38/470.
Oetken, Der Modus des Objekt-
satzes im Französ. (F. Strohmeyer)
32/207.
Thorn, Sartre-Tailleur. Etüde de
lexicologie et de geographie lin-
guistique (Jaberg) 32/416.
Herzog, Histor. Sprachlehre des
Neufrz. (Rubel) 31/223.
Gillot H. und G. Krüger, Diction-
naire system. frgs.-allemand; 1. Bd.
1.— 2. Abt. (Pariselle) 31/230.
Richter Elise, Studie über das neu-
este Frz. 35/348, 36/124, 269.
Spitxer, Zu frx. omelette 'Eierkuchc?t'
38/110.
Literatur.
Bedier, Les legendes epiques.
Recherches sur la formation des chans.
de geste (Tavernier) 31/187.
Theodor, Die komischen Elemente
der afrz. chans. de geste (Else Stem-
berg) 33/468.
Stemberg Else, Das Tragische in
den chans. de geste (A. C. Ott) 36/205.
Farnsworth, Uncle and nephew in
the old french chans. de geste (Jordan)
33/218.
Spanier, Die Ironie im afrz. National-
epos (Pillet^ 35/443.
Olschki, Paris nach den afrz. natio-
nalen Epen. — Der ideale Jlittelpunkt
Frankreichs im Mittelalter in Wirk-
lichkeit und Dichtung (Winkler) 38/130.
Die afrz. Prosaversion der Alexius-
legende. Kritisch hg. von E. Lutsch
(Hilka) 33/191.
Voretxsch, Alfer und Entstehwig
der frx. Helde^idichtung 34/294.
Lommatxsch, Oautier de Coincy
als Satiriker ( Walther Suchier) 33/471.
Geizer, Der afrz. Yderroman (Fried-
wagner) 36/191.
Schult'X-Gora, Zum Texte des Yder-
romans 37/229.
Hoffmann Angelica, R. de la Piere,
R. le Clerc, R. de Castel. Zur Arraser
Literaturgesch. des 13. Jhdts. (Schultz-
Gora) 37/92.
Cohn, Zum O. d'Ängleterred2IS5, 336.
Nitze, The sisters and the Conte
del Graal (Jordan) 33/218.
Geher, Zu der anglonorm. Vers-
version des Briefes des Presbyters
Johannes ed. Hilka 37/70.
Schidtx-Gora, Zum 'Planch' des
Bertran Carbonel 39/225.
Hilka, Zu 'GoufredeSatenic' 40/130.
Aucassin und Nicolette. Dtsch. von
V. Oppeln-Bronikowski (Noll) 32/193.
Suchier Wolfram, Zu Aucassin und
Nicolette in Dtschland. 35/403.
Christ, Cleomades-Fragmente39l222.
Levy, Bemerkungen xu Oavaudan,
ed. Jeanroy 35/374.
Hilka, Aus dem Nachlaß von Wendel.
Foerster: I. Carmen Rotolandi. ü. Iden-
tität des Beneoit des Trojaromans und
der Reimchronik. — Nachruf: W.
Foerster xum Gedächtnis 35/121.
Schultx- Gora, Eine Stelle im Placi-
das-Eustachius (V. 278) 34/146.
Winkler, Marie de France (Geizer)
40/279.
Becker Ph. A., Jugendgedichte Marga-
retas aus einer Wiener Hs. 31/334.
Schultx- Gora, Ein Jeu-parti zwi-
schen Maistre Jehan und Jehan Bretel
36/292.
Hilka, Zum Creseentiastoff 33/135.
Register zu Archiv Band 131—140
11
Hilka, Ein neuer Text der Florentia-
scufe 33/151.
Die Lieder Raouls von Soissons,
hg. von E. Winkler (Lnbinski) 33/472.
Förster Marg., Die frz. Psalmen-
übersetzung vom 12. bis zum Ende
des 18. Jhdts. (Thurau) 35/444.
Eckhardt, Remy Belleau (Heiß)
40/292.
Jordan, Eruähnung Vinc. Voihires
in seiner Eigenschaff als Introdueteur
des ambassadeurs 36/170.
Becker Ph. A., Cleme?it Marot.
Nachlese 33/142, 34/147.
Lemm, Aus einer Chartier-Hs. des
kffl. KupferstichkabineUs xu Berlin
32/131.
Smith H. E., Literarv criticism of
P. Bayle (Elise Sonntag) 31/215.
Jordan, Die Pariser Pucelle 32/146.
Schiffer, Tassoni in Frankreich
(Wiese) 35'448.
Jordan, Oijrayio Berger ac und Mon-
taigne 35/386.
Jordan, Frage der Echtheit von Oyr.
Bergeracs 'Sonnenreise'. — 'Sonnenr.'
und 'Essays' von Montaigne 38/188,
39/72.
Claus, Jean Godard, Leben und
Werke (W. Baeske) 32/441.
Hofer, Rabelais: Kritische Dar-
stellung der mod. Rab.-Forschung und
ihrer Probleme 32/103, 352, 33/97.
Bauer C, 'La vraye histoire comique
de Francion', der erste realist. Boman
Frankreichs 33/366.
Jordan, Ein xeitgen. Ms. der' Re-
flexions sur le bonheur der Marqnise
du Chutelet 33/115.
Dietschy, Die 'Dame d'intrigue'
in der frz. Originalkomodie des 16.
und 17. Jhdts. (Glaser) 36/327.
La Gazette de 1609, reimpression
textuelle avec une notice par L. Loviot
(M. Lopelmann) 33/213.
Searles, Les sentiments de l'Aca-
demie frgse. sur le Cid (Glaser) 36'204.
Wolff M.J., Moliere und della Porta
34/148.
Zenker, Zuei Quellen von Molieres
Misanthrope 34/321, 35/148.
Oeiger, Ldterar. Anklänge 38/109.
Wolff M. J., Italienisches %utn Tar-
tuffe 39/226.
Schwennhagen, Verhältnis der Ecole
des maris xm Mendoxas 'El marido
hace muger' 31/166.
Achenwall, Stud. zur Gesch. der kom.
Oper in Frankreich im 18. Jhdt. und
ihre Beziehungen zu Moliere (M. Fehr)
33/198.
Voßler, La Fontaine und sein Fabel-
werk (Schultz-Gora) 40/294.
V. Wurzbach, Gesch. des frz. Romans.
1. Bd. Von den Anfängen bis zum
Ende des 17. Jhdts. iGlaser) 32/191.
V. Roretz,Diderots Weltanschauung,
ihre Voraussetzungen und Leitmotive
(Sakmann) 32/445.
V. Voß, Diderots Moralphilosophie
(Sakmann) 32/442.
Marcel, Le frere de Diderot (Sak-
mann) 32/444.
Neumann Dorothea, Der Artikel
Geneve des VII. Bds. derEncyclopädie
(Glaser) 37/93.
Lombard, La correspondance de
l'abbe Du Bos. — L'abbe Du Bos.
Un initiateur de la pensße mod. (Heiß)
40/165.
Jordan, Voltairiana 32/408.
Price W. R., Symbolism of Vol-
taire's novels with special reference
to Zadig (Sakmann) 31/218.
Jordan, Die Münchener Voltaire-
Hss. 31/347.
Frank, La Beaumelles 'Mes jjensees'
36/249, 37/34, 192.
Lemm, Das Ms. des Kardinals de
Rohan 32/151.
Allard Emmy, Friedrich d. Gr. in der
Lit. Frankreichs (A. Ludwig) 33/199.
Koehler, Der Dandvisraus im frz.
Roman des 19. Jhdts! (W. Küchler)
32/198.
Bertel, Jules de Ressgguier (Wink-
ler) 31/462.
Fach, Die Naturschilderung bei Ch.
Nodier (Heiß) 32/196.
Jakob, L'illusion et la dßsillueion
dans le roman realiste fr^s. (1851 — 90)
(Heiß) 32,212.
Rochette, L'esprit dans les oeuvres
poetiques de V. Hugo (Heiß) 32/193.
Blossom, La composition de Sa-
lammbo d'apres la correspondance de
Flaubert 1857—62 (Heiß) 35/211.
Coleman A., Flaubert's liter. deve-
lopment in the light of his Memoires
d'uu Fou, Novembre, and education
sentimentale (Heiß) 35/211.
Fay und Coleman A., Sources and
structure of Flaubert's Salammbo
(Heiß) 3.5/211.
12
Register zu Archiv B&nd 131—140
Schirmer, Stendhal und Deutschland
33/158.
Henriot. A quoi revent les jeunes
gens (G. Noll) 32/200.
Sattler, Hon. de Balzacs Roman La
peau de chagrin (Heiß) 32/196.
Heiß, Balzac (Morel) 33/195.
Bernheim, Balzac und Swedenborg.
Einfluß der Mystik Swedenb.s und
Saint-Martins auf die Romandichtung
Balzacs (Heiß) 34/441.
Turquet-Milnes, The influence of
Beaudelaire in France and England
(Heiß) 32/450.
Reuel, Maupassant als Physiog-
nomiker (Neubert) 37/94.
Oelxer, Maupassant und Flaubert
40/222.
Neubert, Die liter. Kritik Mau-
passants. — Die krit. Essays G. de
Maup.s (Geizer) 40/295.
Michaelis Paul, Philosophie u. Dich-
tung bei Einest Renan (Heiß) 34/441.
Lemm, Zur Entstehungsgesch. von
E. Zolas Rougon-Macquait und den
Quatre ßvangiles (Heiß) 34/440.
Fischer W., 'The Merchant prince
of Cornville' von S. E. Groß und
Rostands ' Cyrano de Bergerac' i33/382.
Fischer W., Ei7i Zwiegespräch des
Erasmus von Rotterdam und Rostands
'Cyr. de Bergarac' 36/287.
Beutler, Der Wortschatz in Edm.
Rostands Dramen (Spitzer) 33/477.
Küchler Walther, Rom. Rolland,
Henri Barbusse, Fr. v. Unruh (Geizer)
39/258.
Jordan, Neue Oyrano-Lit. 33/417.
Burkhardt Hei., Stud. zu P. Hervieu
als Romancier und Dramatiker (K.
Glaser) 39/258.
Babbit, The masters of French mod.
criticism (M J. Wolff) 33/201.
Dupouy, France et Allemagne, litt^r.
comparees (Morel) 33/192.
Suchier-Birch-Hirschfeld, Gesch. der
frz. Lit. von den ältesten Zeiten bis
zur Gegenwart. 1.2 von H. Suchier
(Glaser) 32 437; II.2 (Glaser) 34/206.
Glaser, Rodenbach, der Dichter des
toten Brügge (Th. Engwer) 38/132.
Curtius, Der liter. Wegbereiter des
neuen Frankreich(V.Klemperer)39/256.
Un terrichts wesen .
Strohmeyer, Frz. Unterrichtswerk
(Jensen) 38/134.
Herrig und Burguy, France littßr.,
remaniee par H. Bornecque (Pariselle)
32/202.
Cuitius Anna, Der frz. AufsatzS (M.
Hartmann) 35/447.
2. Provenzalisch.
Sprache.
Dederich, Die lexikograph. Eigen-
tümlichkeiten des Frankoprovenzal.
nach dem Atlas linguistique de la
France (Jaberg) 32/216.
Kolsen, Randnoten xu E.
prov. Wörterbüchern (1—8) 39/87.
Polack Marg., Zur Gesch. der ei-
Diphthonge im Prov. 37/210.
Schultz- Oora, Aprov. warres.33/411.
Wagner M. L., Aprov. lieis. 39/94.
Bruch, Prov. aus 'unbebaut' 85/173.
Schultz- Gora, Ein prov. Sprich-
wort 39/222.
Literatur.
Lewent, Zu Pons von Capduelh
40/263.
Der Trobador Cadenet, hg. von
C. Appel (Schultz-Gora) 40/288.
Die Lieder d. Trobador G.d'Espanha.
Hg. von O.Hoby (Schultz-Gora) 34/431.
Levy E.f, Zum Texte von Eobys
Ausg. des G. d'Espanha 38/100.
Strempel, Gir. de Saliuhac, ein
prov. Trobador (Levyf) 38/265.
Sutorius, Le debat prov. de l'äme
et du Corps (Levy) 37/256.
Der Trobador Pistoleta, hg. von
E. Niestroy ; der Trobador G. Magret,
hg. von F. Naudieth (Kolsen) 34/424.
Lery, Zu Pistoleta ed. Niestroy und
G. Magret ed. Naudieth 36/156.
Kolsen, Wilh. v. la Tor, Ges eil que's
blasmon d' Amor 33/156.
Kolsen, Wilh. v. la Tor, Canson ab
gais motz 36/166.
Bern. v. Ventadorn. Seine Lieder
mit Einl. hg. von C. Appel (Schultz-
Gora) 36/322.
Bergert, Die von den Trobadors
genannten oder gefeierten Damen
(Kolsen) 35/206.
Bertr. v. Born. Hg. von A. Stim-
ming2 (Lewent) 33/215.
Stimming, Zu Bertr. de 5or« 34/101.
Franz A., Über den Troubadour
Marcabni (C. Appel) 34/193.
Register zu Archiv Rand 131 — 140
la
Caynüli, L'Älba del codice vaticano
reginense 1462 31/412.
d'Arbaud, Lou lausie d'Arle.
Pouemo (Minckwitz) 33/223.
3. Katalanisch.
Textes catalans avec leur trans-
criptious phon. par J. A. Pereira (Fr.
Krüger) 38/273.
4. Italienisch.
Sprache.
Stiefel, Die ital. Tenzone des 13.
Jhdts. und ihr Verhältnis zur pro-
venzal. Tenzone (Pillet) 38/267.
Miltschinsky Marg., Der Ausdruck
des konzessiv. Gedankens in den alt-
nordital. Mundarten (Wiese) 38/136.
Arnholdt, Stellung des attribut. Adj.
im Ital. und Span. (Lerch) 39/242.
Thorn, Qualche parola sui rerbi
denominativi delV italiano 31/440.
Camilli A., Rafforxamenti inixiali
in italiatio 31/170.
Spitxer, Nachträge xu meinem Ar-
tikel über ital. cosi (Arch. 301335)
32/149.
Spitxer, Ital. laxxaretto 'Kranken-
haus' 37/2^5.
Spitxer, Ital. taranai, tananai
'Wirricarr, Lärm' 36/164.
Spitxer, Nochmals ital. ghetto^Qß^b.
Wagner M. L., Südital. kandkka
37/226.
Literatur.
Voßler, Ital. Lit. der Gegenwart
von der Romantik zum Futurismus
(Wiese) 33/479.
Voßler, Ital. Lit.-Gesch.3 (Wiese)
36/327.
Mignon, fitude de la lit. ital. (G.
Hartmann) 32/213.
Bertoni, I trovatorid'Italia (Schultz-
Gora) 34/194.
Levy E., Zu O. Bertoni, I trovatori
d'Italia 40/109.
Tonaca, Per la biogr. di G. Boccac-
cio (G. Hartmann) 33/226.
Dantis Alagherii De monarchia
libri III. rec. Ludov. Bertalot (Wiese)
39/120.
Federn, Dante und seine Zeit 2
(Wiese) 35/213.
Camilli, II gran riüuto dantesco
33/163.
Camilli, 1 versi 112—3, 135—6 del
Purgatorio V 33/162.
Camilli, Cid terra infra le pietre
redende 33/163.
V. d. Schuleuburg, Ein neues Por-
trät Petrarcas (Wiese) 39/121.
Wolff M.J., Ariosts Satiren 40/206.
Smith W., The comedia dell'arte.
A studv in Ital. popul. comedy (B.
Fehr) 32/185.
Serban, Leopardi sentimental (G.
Hartmann) 3.^/480.
Lettres inedites relatives ä G. Leop.
publikes par N. Serban (G. Hartmann)
33/225.
Ravasi, Leop. et Mme. do Stael
32/209.
Serban, Leop. et la France (G.
Hartmann) 32/450.
5. Korsisch.
spitxer, Kors. ghjamberluccu, jam-
'tonto, dappoco' 38/109.
Spitxer, Berichtigung daxu 39/97.
6. Spanisch.
Sprache.
de Diego G., Elementes de gramä-
tica histörica castellana (Fr. Krüger)
40/159.
de Lamano y Beneite, El dialecto
vulgär salmantino (Fr. Krüger) 37/263.
Spitxer, Altspan, curiar 'schütxen'
35/420.
Spitxer, Altspan, decir, ptg. descer
'herabsteigen' 36/296.
Bruch, Span, naia und lat. novalis
38/111.
de Diego, Sobre el castellana 'en-
hiesto' 39/96,
Spitxer, Über span. que 32/375.
de Toro-Gisbert, Americanismos
(P. de Mugica) 31/231.
Spitxer, Zu span. xara 'Mais' 3G/165.
LiteratifT.
liistoria de la lit. espanola y anto-
logia de la misma por Gn Jünemann
(Graefenberg) 32/211.
V. Faulhaber, Calderon, der Meister-
sänger der Weltlit. Vortrag (Pfandl)
36/207.
Pfandl, Der Didlogo de Mugeres
von 1544 und seine Bedeutung für
die Castillejo-Forschung 40/72.
14
Register zu Archiv Band 131 — 140
Wagner M. L., Der mexikan.-span.
Sohelmenronian 'Pertquillo Sarnirmto'
des Fern, de Lixardi 34/76.
El sacrificio de la Misa por G. de
Berceo. Ed. de A. G. Solalindc
(Pfand!) 34/185.
Parpal y Marques, Menendez y
Pelayo historiador de la lit. espan.
(Hämel) 33/228.
GonzaloB-Blanco, Marc. Menendez
Pelayo (Hämel) 33/228.
Pietscli, Concerning Ms. 2-G-5 of
the Palace libr. at Madrid (Brugger)
33/299.
Lehmann -Nitscbo, Adivinanzas Rio-
platenses (Petsch) 34/189.
7. Rumänisch.
Ion Creangä's Harap Alb, hg., übers,
und erläut. von G. Weigand (Jamlk)
35/219.
Jarnik, Zur Interpret, von Ion
Cremuß's Harap Alb 37/51, 38/207,
39/198.
Spitzer, Rum. grmü (grunü) 'Hügel'
34/138.
Bruch, Ewn. grmü 'Hügel' 35/416.
IV. Alte Sprachen.
Lateinisch.
Vulgärlat. Inschriften, hg. von E.
Diehl (Rubel) 31/478.
Lehmann Paul, Vom Mittelalter und
von der lat. Philol. des Mittelalters
(Hilka) 35/439.
Lehmann Paul, Aufgaben und An-
regungen der lat. Philol. des Mittel-
alters (Liebermann) 39/259.
Achelis, Äesope trugedian 31/435.
Reinholdt, Wundergeschn. des Cod.
Pal. germ. 118 (Hilka) 39/261.
B. Personenregister.
Kursiver Druck bedeutet Originalbeitrag.
Achelis, Zu Lessings Aufsatz Ro-
mulus und Rimicius 39/137. — Msope
tragedian 31/435.
Appel, Franz, Über den Trou-
badour Marcabru 31/193.
Bader, Lord Byron im Spiegel der
xeitgen. dtschn. Dichtung 35/303, —
Zu Childe Harold's Monitor 38/65. —
Byroniana IL Der Verf. von 'Childe
Har. in the shades' 38/228. — Byro-
niana in. Verf. des Uriel 39/214.
Badt, Pfeiffer, Die Lvrik der A.
V. Dr.-Hülshoff 33/445.
Baeske, Claus, Jean Godard,
Leben und Werke 32/441.
Baist, Fer und for 38/230.
Ballof, Über die Echtheit des
Sesenheimer Liedes 'Bälde seh ich
Rickgeti ivieder' 40/247. — Zur Frage
der Sesenheimer Lieder 40, Dtsch.
Sonderh. 155. — Über die Sizilian.
Vesper von J. M. R. Lenx 40, Dtsch.
Sonderh. 156.
Bally, Wylpel, Wirklichkeit und
Sprache 34/2il.
Bauer, La vraye hist. comique de
Francion, der erste realist. Roman
Frankreichs 33/366.
Becker, G., The adventures of Don
Simonides, ein Roman von B. Rieh
und seine Quelle 31/64.
Becker, Ph. A., Jugendgedichk
Margarctas 31/334. — Clement Marot.
Nachlese 33/142, 34/147.
Benary , Basin und Elegast 32/144.
— Zur Hervararsaga 33/332. —
Steinberger, Untersuchungen zur Ent-
stehung der Sage von Hirlanda v. Bre-
tagne sowie zu den ihr am nächsten
verwandten Sagen 32/435. — Zu 'fils
de char' 40/266.
Beyer, Bäumer, Goethes Freun-
dinnen. Briefe zu ihrer Charakteristik 2
40/268. — Brecht, C. F. Meyer und
der Kunstwert seiner Gedichtsamm-
lung 40/147.
B j ö r k m an , Wende, Über die nach-
gestellten Präpositionen i. Ags. 35/437.
Bleich, V. Löwis of Menar, Der
Held im dtschn. und russ. Märchen
33/179.
Bodenstein, Ztir Gesch. von Chery
Chase 36/151.
Bolle, Forbes' 'Songs andfaneies',
das erste in Schottland qedr. Lieder-
buch 31/320, 32/36, 281."
Register zu Archiv Band 131—140
15
B o 1 1 e , Schwedische Beitr. xu unserer
älteren Theater gesch. 31/144. — Koß-
mann, Nieuwe Bijdrage tot de Ge-
schiedenis van het nederlandsche Too-
neel in de 17e en 18« Eeuw. 34/415.
Bradley, Some place-names in
Stveefs A.-S. reader 31/427.
B ran dl, Das geistine Testament
xwcier Alttiroler: Joh. Schuler und
Beda Weber 38/224. — Wackerneil,
Ludw. Steub, Ad. Pichler und der
Tiroler Sängerkrieg 35/434. — Ati
Prof. Fred. J. Carpenter, BarrirK/ton,
Illinois 39/213. — Th. Roosevelt, Eist,
as lit. and other essays 40/274. —
Die Urstammtafel der Westsachsen
und das Beownlfepos 37/6. — Vetian-
tius Fortunatus tind die ags. Elegien
'Wanderer' und 'Ruine' 39/84. —
Ztcr Zeitbestimmung des Kreuxes ron
Ruihuell 3G/150. — Siegmund, Sieg-
fried und Brunhilde in Ortsnamen
des nordwestl. Englds. 33/408. — Jones,
Outlines of Engl, phonetics 39/98. —
Cambr. bist, of Engl. lit. ed. bv Sir
A. W. Ward and A. R. Waller. Vol. X.
33/184. — Liljegren, Studies on Mil-
ton 38/246.
Bräuning-Oktavio, J. Heim:
Merck als Mitarbeiter an Wielands
'Teutschem Merkur' 31/24, 285.
Brecht, Lockeraann, Techn. Stud.
zu Luthers Briefen an Fr. den Weisen
31/446.
Brie, Zwei verlorene Dichtungen
von Skelton 38/226. — Fehr, Studi zu
0. Wilde's Gedichten 39/237.
Brotanek, Sieper, Die ae. Elegie
37/240. — Zu den ältesten engl. Hexa-
metern 33/87.
Bruch, Über xwei Punkte der rotn.
Lautgesch. 33/354. — Provenxal. aus
'unbebaut' 35/173. — Span, nnva und
lat. novalis 38/111. — Rum. grum
'Hügel' 35/416.
Brückner, Zum Namen Polonius
32/404.
Brugger, Pietsch, Conceming
Ms. 2-G-5 of the Palace libr. at Ma-
drid 33/299.
Brunner, Gonser, Das ags. Prosa-
leben des hl. Guthlac 36,306. — Joh.
Müller, Kulturbild des Beowulfepos
38/242. — Patience. An alliterativc
Version of Jonah by the poet of Pearl
32/184. — Die Reimsprache der sog.
kent. Fassung der 'Sieben aeisen
Meister' 40/199. — Bihl, Wirkungen
des Rhythmus in der Spr. von Chau-
cer und Gower 3S/243. — Eitle, Die
Satzverknüpfung bei Chaucer 33/460.
Thiemke, Die nie. Th. Beketlcgende
des Gloucesterlegendars. Kritisch hg.
mit Einl. 40/270. — Hs. Brit. Mus.
Additional 31042 32/316. — Zachris-
son, Pronunciation of Engl, vowels
1400—1700 35/195. — Die Dialckt-
wörter in Spensers 'Shepherd's ca-
lendar' 32/401. — Zum Balladen-
rhythmusA0/25d. — Klein, Der Dialekt
von Stokesley in Yorkshire, North
Riding 33/457. — Stoelke, Die In-
kongruenz zwischen Subj. und Prä-
dikat im Engl. u. verwandten Sprachen
3C/181. — Ein Yorkshire-Dialekttext
aus dem 18. Jhdt. 33/134. — Br. Schulze,
Exmoor scolding and Exmoor court-
ship 31/184. — Jacobson, Ch. Kings-
leys Beziehungen zu Deutschland
40/273.
C a m i 1 1 i , Rafforx umenti inixiali
in italiano 31/170. — // gran rifiuto
dantesco 33/163. — 1 versi 112-3,
135-6 del Purgatorio V. 33/162. —
Qiä terra infra le pietre vedendo
33/163. — L'Alba del codice vaticano
reginense 1462 31/412.
Carre, 'Char acter isti es of Qoethe'
de S. Austin et la collaboration de
H. a Robinson 31/145. — W. Whe-
well et H. G. Robinson 31/425.
Christ, Zu Rieh. Rolle von Eam-
pole. Eine Vatikan. Hs. des Psalmen-
kommentarsZQßb. — Cleomades Frag-
mente 39/222.
Cohn, Zutn 0. d' Angleterre d2/85,
336. — Ad. Toblers Afrz. Wörterb.,
hg. von E. Lommatzsch 37/83. — Be-
merkungen XU Ad. Toblers Afrx.
Wörterb., Liefrg. 1—2 39/51, 40/84.
Cook, Riinic monuments knounas
obelisks 32/395. — Dante and Qouer
31/395.
Cords, 5 me. Gedichte aus den
Hss. Rawlinson poetry 36 und Rau-
lins. C. 86 35/292.
Crane, Date of Forde's Monteljon
31/434.
Daffis, Witkop, Heidelberg und
die dtsche. Dichtung 315/189. — Herr-
raann, Forschungen zur dtschn. The-
atergesch. des Mittelalters und der
Renaissance 35/181. — Mayne, Gesch.
der dtschn. Goethe-Biogr. Krit. Abriß.
16
Register zu Archiv Band 181 — 140
2. Abdr. 32/183. — Buchtenkirch,
Kleists Lustsp. 'Der zerbroch. Krug'
auf der Bühne 35/432,
D eetj en , Bürger und H. v. Münch-
hausen 31/424. — Ä. v. Dr.-Hülshoff,
Neues aus ihrer Jugendzeit 33/442. —
Zur Oesch. einer romajit. Zeitschr.
36/145.
Deuschle, Aufleben der Li f. des
17.Jhdts. im Zeitalter der Romantik
40, Dtsch. Souderh. 1.
Dibelius, Danielowsky, Richard-
sons erster Roman 38/247.
de Diego, Sobre el castellano 'en-
hiesto 39/96.
Eimer, Drei Briefe von Elisab. P.
Peahody über Nath. HautJwrne u. a.
33/318.
E 1 8 n e r , Orimmelshausen : der
fliegende WandersiJtann nach dem
Monde 32/1.
Eng wer, Glaser, Rodenbaoh, der
Dichter des toten Brügge 38/132.
Fehr B., Marty, Gesara. Schriften,
hg. von Eisenmeier, Kastil, Kraus
39/100. — Einenkel, Gesch. der engl.
Spr. IL, Histor. Syntax 36/307. —
Deutschbein, System der ne. Syntax
36/176. — Zu 'The pearV 31/154. —
Keats im Lichte der neuesten Forschung
39/163. — Zu Swinburnes liter. Biogr.
36/240. — 0. Wildes 'The harlot's
house' 34/59. — W. Smith, The co-
media dell'arte. A study in Itaiian
popul. comedy 32/185.
Fehr M., Achenwall, Stud. zur
Gesch. der kom. Oper in Frankr. im
18. Jhdt. und ihre Beziehungen zu
Möllere 33/198.
Feist, Sehrt, Zur Gesch. der wgerm.
Konjunktion 'Und' 36/172. — Kruer,
Der Bindevokal und seine Fuge im
Bchw. dtsch. Präterit. bis 1150 3^4/161.
— Bergmann, Der dtscbe. Wortschatz
dargest. auf Grund des dtschn. Wörter-
buchs von Weigaud 31/459. — Loewe,
Germ. Pflanzennamen. Etymol. Unter-
suchungen 31/459. — Weigand, Dtsch.
Wörterb. 32/419.
Fiedler Fritz, Dickens' Gebrauch
der rhythm. Prosa im Xmas carol
39/47. — Dickens' Belesenheit 40/43.
Fischer M., Zum Stil der Eli-
sabeth. Madrigale 33/1. — W. Maier,
Chr. Anstey und der New Bath Guide.
Beitr. zur Entwicklung der engl. Satire
im 18. Jhdt. 33/461.
Fischer R., Paulusscn, Rhythmik
u. Technik des sechsfüßig. Jambus im
Dtschn. und Engl. 34/166. — Kilian,
Aus der Praxis der raod. Dramaturgie
34/163. — Trench, Shakesp.s Hamlet.
A new commentary 34/179. — Kerl,
Die metr. Unterschiede von Shakesp.s
King John und Jul. Caesar 34/178. —
Lüdemann, Shakesp.s Verwendung
von gleichartigem und gegensätzlich.
Parallelismus bei Figuren, Situationen,
Motiven und Ilandlgn. 34/180. —
Cynthia's revels or, The fountain of
self-love by B. Jonson, ed. by A. C.
Indson 34/182.
Fischer W., Ferd. Freilißrath und
Aniely Balte 40/25, — Über Brei
Hartes Drama ^Two men of Sandy
Bar' 36/72. — 'Tlie Merchont Prince
of Cornville' von S. E. Groß und
Rostands 'Cyr. de Bergerac' 33/382.
— Ein Ziviege.^jjräch des Erasmus
von Rotterd. und Rostands 'Cyr. de
Bergerac' 36/287.
Fleury, Herwegh als Übersetzer.
Ungedr. Briefe von Bodenstedt 32/66.
Förster M., Die altkor n. Bear-
beitung von Abt ^Ifrics lat.-ae. Glossar
35/285. — Spätae. Prospcr- Glossen in
Cambridge 36/290. — Ae. yre, der
Singul xu örari 'Ör' 32/397. —
Npchmals ae. frcgen 'Frage' 35/399.
— Paläographisches xu Bedas Sterbe-
spruch 35/282. — Friihags. Doppel-
formen von Eigennamen? 35/282. —
Die ae. Beigaben des Lambeth-Psalters
32/328. — Älteste Fassung des nie.
Gedtchts 'Barth upon earth' 38/39. —
Chauceriana 1. 32/399. — Beiträge xur
mittelalterlichen Volkskunde 7X.34/264.
Frangois, Wiukler, La doctrine
grammaticale fr§se. d'apres Maupas et
Oudin 31/479.
Frank, La Beaumelles 'Mes pen-
sees' 36/249, 37/34, 192.
Friedemann, Walzel, Ric. Huch,
Ein Wort über die Kunst des Er-
zählens 36/299. — Saedler, Hebbels
Moloch 36/301.
Friedwagner, Geizer, Der afrz.
Yderroraan 36/191. — Stimming, D.
a. c. i. im Frz. 36/191.
Funck, Ein Brief von Geliert an
den Fabeldichter Pfeffel 36/147.
Gamillscheg, Jacoby, Zur Gesch.
des Wandels von lat. fi zu y im Gallo-
rom. 38/126.
Register zu Archiv Band 131 — 140
17
Ganiöre, Horning, Glossare der
rom. Mundarten von Zell (La Baroche)
und Schönenberg im Breuschtal (Bel-
mont) in den Vogesen 37/90.
Gebhardt, Abegg, Die Mundart
von Urseren 31/445. — Bohnenberger,
Die Mundart der dtschn. Walliser im
Heimattal und in den Außeuorten
34/153. — Berger, Die Laute der Mund-
arten des St. Galler Rheintals und der
angrenzenden vorarlbergischenGebiete
34/153. — Enderlin, Die Mundart von
Keßwil in Oberthurgau 31/445. —
Schweizerisches Idiotikon. Wörterb.
der schweizerdtsch. Spr. LXVI bis
LXXIII 34/152. — Dtsche. dialekt-
geogr. Berichte und Stud. über Weu-
kers Sprachatlas des Dtschn. Reiches,
hg. von F. Wrede. Heft V hg. von
Th. Frings 34/151.
Geiger -f, Äußerungen Montes-
quieus über die Dtschn. 38/217. —
Notixen über Herder und Lessing
38/218. — Unbekannte Briefe Ifflands
33/310.— W.V.Humboldt über Schiller
und Goethe 35/29. — Q. Forster über
dtsche. Lit. und über Schiller 34/372.
— Zu Schillers Don Carlos. Eine
dramattirgische Abhandig. 37/154. —
Ooethe-Misxellen . 1. Goethe als Tyrann.
2. Jacobi über Wieland und Goethe.
3. Goethe tmd die Narrenakademie
37/66. — Bettine Brentano und ihre
Besuche bei Goethe 31/8. — Zu einein
Briefe Goethes 34/128, 39/83. — Aus
Ottilie V. Goethes Nachlaß. Briefe
und Tagebücher von ihr und an sie
bis 1832. Nach den Hss. des Goethe-
und Schillerarchivs hg. von W. v. Oet-
tingen 32/424, — Goethes Faust. Nach
Entstehung und Inhalt erkl. von E.
Traumann. 2. Bd, Der Tragöd. 2. T.
32/427, — Zwei Äußerungon Goethes
Über seinen Faust 37/220. — Die Ber-
liner Aufführg. des Faust am 15. Mai
1838 38/99. — Goethe über Wielands
Oberon 37/220. — Zu Goethes Ge-
sprächen 35/397. — Ich ging im Walde
35/260. — Zu einem Goetheschen
Spruch 38/221. — Liferar. Anklänge
38/99. — M71 merkwürdiges Urteil
über Goethes 'Wahlverwandtschaften'
36/281. — Eine utibekannte Gegen-
schrift gegen Gutxkotos Wally 36/229.
— Raliel und F. A. Wolf 36/283. —
Zu Michel Beer 36/282. — Ludw.
Börne und Rahel Varnhayen 39/26.
— Eine xcitgen. Äußerung über das
junge Deutschland 38/99. — Literar.
Anklänge 38/109.
Geizer, Zu der anglonorm. Vers-
version des Briefes des Presbyters
Johannes ed. Hilka 37/70. — Winkler,
Marie de France 40/279. — Maiqmssant
und Flaubert 40/222. — Neubert, Die
literar. Kritik G. de Maupassants. —
Die krit. Essays G. de Maupassants
40/295. — Küchler, Rom. Rolland,
Henri Barbusse, Fr. v. Unruh 39/285.
Glaser, Suchicr u. Birch-Hirsch-
feld, Gesch. der frz. Lit. von den älte-
sten Zeiten bis zur Gegenw, von H.
Suchier3 32/437; Bd. 112 34/206. —
Searles, Les sentiments de l'Academie
frQse. sur le Cid 36/204. — Dietschy,
Die 'Dame d'intrigue' in der frz.
Originalkomödie des 16. u. 17. Jhdts.
36/327. — V. Wurzbach, Gesch. des
frz. Romans, l.Bd., von den Anfängen
bis zum Ende des 17. Jhdts. 32/191.
— Neumann, Der Artikel Geneve des
VII. Bds. der Encyclopädie 37/93. —
Burkhardt, Stud. zu P. Hervieu als
Romancier und Dramatiker 39/258.
Gollancz, The nanie Polonius
32/141.
Gräfenberg, Hist. de la lit. espaö.
y antologia de la misma por G. Jüne-
mann 32/211.
Groß, Litzmann, E. v. Wilden-
bruch, 1. Bd., 34/414.
Hämel, Pfandl, R. Southey und
Spanien 40/163. — Pfandl, Beitr. zur
span. und prov. Lit.- und Kulturgesch.
des Mittelalters 34/423. - Bertrand,
Cervantes et le romantisme allemand
34/186. — Gonzalez-Blanco, Marc.
Menendez Pelayo 33/228. — Parpal y
Marques, Menendez y Pelayo histo-
riador de la lit. espaü. 33/228.
Hankiss, Diderot und Herder AQ,
Dtsch. Sonderh. 59.
Harnack Agnes, Schönemann,
A. V. Arnims geistige Entwicklung
an seinem Drama 'Halle und Jeru-
salem' erl. 31/175.
Hartmann, Mazzucchetti, Schiller
in Italia 32/214. — Mignon, Etüde
de la lit. italienne 32/213. — Torraca,
Per la biogr. di G. Boccaccio 33/226.
— Serban, Leopardi sentimental 33/480.
— Lettres inedites relatives ä G. Leo-
pardi, publiees par N. Serban 33/225.
— Ravasi, Leop. et Mme de Stael
2
18
Register zu Archiv Band 131 — 140
32/209. — Sorban, Leop. et la France
32/450. — Curtius, Der frz. Aufsatz
35/447.
Hecht, Bibliographisches zu J.
Forbes' Songs and fnncies 40/108.
Heinrich, H. v. Kleist und K. F.
Hindenburg 34/129. — E. v. Kleist
und Frankfurt a. 0. 32/273.
Heiß, Entstehung des ronmnt. Tri-
meters 31/125, 384. — Lombard, La
correspondance de l'Abbe Du Bos. —
L'Abbe Du Bos. Un initiateur de la
pensee mod. 40/165. — Eckhardt,
Remy Belleau 40/292. — Rochette,
L'esprit dans les oeuvres pootiques
de V. Hugo 32/193. — "Walter, Hon.
de Balzacs Roman La peau de cha-
grin 32/196. — Bernheim, Balzac und
Swedenborg. Einfluß der Mystik
Swed.s und Saint-Martins auf die
Romandichtg. Balzacs 34/441. —
Blossom, La composition de Sa-
lammbö d'apres la correspondance de
Flaubert 35/211. — Coleman, Flau-
bert's literary development in the light
of his Memoires d'un fou, Novcmbre,
and Education sentimentale 35/211. —
Fay and Coleman, Sources and struc-
ture of Flaubert's Salammbo 35/211.
— Jakob, L'illusion et la desillusion
dans le roman real. frgs. (1851—90)
32/212. — P. Michaelis, Philosophie
und Dichtung bei E. Renan 34/441.
— Lemm, Zur Entstehungsgesch. von
Zolas Rougon-Macqiiart und den Qua-
tre evangiles 34/440. — Turquet-Mil-
nes, Influence of Baudelaire in France
and Engl. 32/450. — Fach, Die Natur-
schilderung bei Ch. Nodier 32/196.
Herzfeld, A. IV. Schlegel in seinen
Bexiehungen xu engl. Dichtern und
Kritikern 39/149. — Th. Rüssel, ein
früher Vermittler dtschr. Lit. in
Engld. 36/153. — Willoughby, Sam.
Naylor and 'Reynard the fox' 35/197.
Heusler, Axel Olrik 36/1. — Vor-
schläge ximi Hildebrandslied 37/1.
Heynen, Gottfr. Kellers Leben,
Briefe und Tagebücher. Auf Grund
der Biogr. J Baechtolds dargest. und
hg. von E. Ermatinger 35/190. —
G. Kellers Leben, Briefe und Tage-
bücher, hg. von E. Ermatinger. 3. Bd.
38/240.
Hilka, Pelizaeus, Beitr. zur Gesch.
der Legende vom Judenknaben 33/187.
— Zur Katharinenlegende : Die Quelle
der Jiigendgesch. Katharinas, insbe-
sondere in der mittelniederdtsch. Dich-
tung und in der mittelnieder länd.
Prosa 40/171. — Paul, Ulr. v. Eschen-
bach und seine Alexandreis 36/319.
— Die afrz. Prosaversion der Alexius-
legende, kritisch hg. von E. Lutsch
33/191. — Zu Ooufre de Satenie 40/130.
— Alis d. Nachlaß von Wend. Foerster:
1. Carmen Rotolandi. 2. Identität des
Beneoit des Trojaromans und der
Reitnchron. — Kachruf: W. Foerster
zum Oedächtnis 35/121. — Zum Cres-
cetitiastoff 33/135. — Ein neuer . Text
der Florentiasage 33/151. — Lehmann,
Vom Mittelalter und von der lat.
Philol. des Mittelalters 35/439. —
Reinholdt, Wundergeschn. des Cod.
Pal. germ. 118 39/261.
H 0 f e r , Rabelais : Krit. Darstellung
der mod. Rabelais-Forschung und ihrer
Probleme 32/103, 352, 33/97.
Holthausen, Dieae. Beda- Glossen
36/290. — Ein me. Hymnus auf Maria
imd Christus tmd seine kymr. Um-
schrift 40/38. — Smollett und J. Paul
35/402.
Hörn, Zur engl. Wortgesch. 38/62.
— Zur ae. Wortgesch. 40/106. — Das
Komische in Shakesp.s Tragödien und
die Maler Reynolds und Hogarth
37/159. — Der Kirchenschlaf bei ' Steift
und Hogarth 37/68. — Thomson und
Oainsbo7-oughii8/6b. — George Qissing
aber das dichterische Schaffen 37/25.
Hüb n er A., A. Becker, Sprache
Friedrichs v. Spee 32/182. — Juethe,
Der Minnesänger Hiltbolt v. Schwan-
gau 32/423.
Jaberg, Emil Frey7nondf 37/218.
— Sprache als Äußerung und Sprache
als Mitteilung 36/84. — Gamillscheg
und Spitzer, Bezeichnungen der Klette
im Gallorom. 39/110. — Stipp, Die
Benennungen des Jahres und seiner
Teile auf dem Boden des heutigen
Frankr. 32/227. — Thoru, Sartre-
Tailleur, Etüde de lexicologie et de
geogr. linguistique 32/416. — Dede-
rlch. Die lexikograph. Eigentümlich-
keiten des Frankoprovenzal. nach dem
Atlas ling. de la France 32/216.
Jarnik, Ion Creangä's Harap Alb,
hg., übers, und erläut. von C. Wei-
gand 35/219. — Zur Interpretat. von
I. Creangä's H. A. 37/51, 38/207,
39/198.
Register zu Archiv Btond 131 — 140
19
Jensen, Strohmeyer, Frz. Unter-
richtswerk 38/134.
Jiriczek, Zur Textgesrh. von Mac-
jihersons Fragments 36/151. — Orka-
dische Zauberlieder 36/150.
Jordan , Festschr. für L. Morsbach,
redig. von Holthausen u. Spies 32/429.
— Spira, Die engl. Lautentwicklung
nach frz. Grammatiker -Zeugnissen
31/186. — Mitteilungen u. Abhandlgn.
aus dem Gebiet der rom. Philol., ver-
öffentl. vom Seminar für rom. Spr.
und Kultur, Hamburg, Bd. III 36/190.
— Nitze, The sister's son and the
Conte del Graal 33/218. — Farnsworth,
Uncle and nephew in the old French
chans. de geste 33/218. — Die Pariser
'Pucelle' 32/146. — Erwähnung Vinc.
Voitures in seiner Eige^isch. als In-
troducteur des ambassadeiirs 36/170.
— Cyr. Bergerac wid MontaignedößSö.
— Frage der Echtheit voji Cyr. Ber-
geracs 'Sonnenreise' . — 'Sonnenreise'
und 'Essays' von Montaigne 38/188,
39/72. — Xeue Cyr.-Lit. 33/417. —
Ein xeitgen. Ms. der Reflexions sur
le bonheur der Marquise du Chätelet
33/115. — Die Münchener Voltaire-
Hss. 31/347. — Voltairiana 32/408.
Kaulfuß-Diesch, Untersuchungen
über das Drama der Jesuiten im 17.
Jhdt. 31/1.
Keller, Codice Vercellese con
omelie e poesie in lingua anglosassone,
con introd. del Prof. Dott. Foerster
39/233. — Macpherson's Fragments
-}f ancient poetry. In diplom. Neudr.
mit den Lesarten der Umarbeitungen
hg. von Jiriczek 36/186.
Keese, Siebs, Herm. Allmers, sein
Leben und Dichten 34/164.
Kindermann, Suchier, Dr. Chr.
Phil. Hoester 40/145.
K 1 a e b e r , Das Orändelsmoor — eine
Frage 31/427.
K 1 e i nW.,Albrecht, Der Sprach gebr.
des Dialektdichters Ch. E. Benham zu
Colchester 36/182.
Klemperer, Zum Verhältnis von
Sprachtvissensch. und Völkerpsycho-
logie 40/125. — Curtius, Die literar.
Wegbereiter des neuen Frankreich
39/256.
K o e p p e 1 , Aristoteles, Broivning
und Bjbrnson 31/164. — Zu 'Amor
und Psyche' in England 31/161. —
Chaucer and his poetry. Lectures deli-
vered in 1914 by G. L. Kittredge
34/175. — Oeorgian poetry 31/315.
— Zur Byron-Biogr. 31/163.
Kolsen, Wilh. v. la Tor, Qes eil
que-s blasmon d'Amor 33/156. — W.
V. la Tor, Canson ab gais motz 36/166.
— D. Trobador Pistoleta, hg. von
E. Niestroy; d. Trob. G. Magret, hg.
von F. Naudieth 34/424. — Bergeret,
Die von den Trobadors genannten
oder gefeierten Damen 35/206. —
Randnoten xu E. Levys provenxal.
Wörterbüchern (1—8) 39/87.
Konrath, Eine ae. Vision vom
Jenseits 39/30.
Körnchen, Schölte, Probleme der
Grimmeishausenforschung I. 31/176.
Körner, Zu A. W. Schlegels Brief-
wechsel mit Chr. Lassen 36/149.
Krüger Fritz, Textes catalans
avec leur transcript. phonet. par A.
Pereira 38/273. — de Lamano y Be-
neite, El dialecto vulgär salmantino
37/263. — G. de Diego, Elementos de
gram, histör. castellana 40/159.
Küchler, Koehler, Der Dandyis-
mus im frz. Roman des 19. Jhdts.
.32/198.
Kügler, Ansprache am Shakesp.-
Tag im Dtschn. Theater xu Berlin 1919
39/85.
Lawrence, Restoration stage nur-
series 32/301.
L e d e r e r , Dia log-Elemen te des Iff-
Jandschen Dramas 38/1. — Zeitgen.
Urteile über Ifflatid 33/300.
Leitzmann, Goethes älteste Ge-
dichtsammlung 40, Dtsch. Sonder-
heft 75. — Zic Schillers dram. Nach-
laß 34/127. — Zu R. Hayms Biogr.
W. V. Hmnboldts 33/401. — Briefe
G. Forsters 35/266. — Im polnischen
Exil. Briefe von Ther. Forster an ihre
Stiefmutter 33/268. — Bemerkungen
xu Oalfr. V. 2Ionmouth 34/373.
Lemm, Aus der Chartier-Hs. des
Kgl. Kupferstichkabinetts xu Berlin
32/131. — Das Ms. des Kardinals de
Rohan 32/151.
Lerch, Spitzer, Anti-Chamberlain.
Betrachtungen eines Linguisten über
H. St. Chamb.s 'Kriegsaufsätze' und
die Sprachbewertungimallgem. 40/167.
— Spitzer, Fremdwörterhatz u. Frerad-
völkerhaß 40/168. — Spitzer, Aufsätze
zur rom. Syntax und Stilistik 40/282.
— Spitzer, Über einige Wörter der
3*
20
Register zu Archiv Band 131—140
Liebessprache 40/167. — Arnholdt,
Stellung des attribut. Adj. im Ital.
und Span. 39/242.
Levinstein, G. Forsters Tage-
bücher. Hg. von P. Zincke und A,
Leitzmann 34/419. — Waiblinger, Liebe
und Haß, ungedr. Trauerspiel. Nach
dem Ms. hg. von A. Fauconnet 34/417.
— Kersten, Voltaires Henriade in der
dtschn. Kritik vor Lessing 34/421.
— Chr. Weises Dramen 'Regenerus'
und 'Ulvida' nebst einer Abhandig.
zur dtschn. und schwed. Lit.-Gesch.
hg. von W. V. Unwerth 33/437.
L e V y t, Bemerkungen zu Oavaudan,
ed. Jeanroy 35 '3 74. — Ziim Texte von
HobysAusg. des O. d' EspanhaS8/100. —
Strempel, G. de Salinhac, ein prov.
Trobador 38/265. — Sutorius, Le debat
prov. de l'äme et du corps 37/256.
— Zu Pistoleta, ed. Niestroy und 0.
Maqret, ed. Naudieth 36/156. — Zu
G.Bertoni, 'Itrovatorid'Italia' 40/109.
Lewent, Bertr. v. Born, hg. von
A. Stimming2 33/215. — Zu Potts v.
Caioduelh 40/263.
Liebermann, Die dtsche. Volks-
seele in britischem Urfeil 37/222. —
Keynes, The economic consequences
of the peace 40/148, — Vorahnung
von Flugxeug imd U-Boot 39;87. —
Zum Urkundenwesen bei den Angel-
sachsen 31/153. — Mancus als Oold-
ynünxe 31/153. — Englands Dichtung
und Spr. im Weltkrieg 37/221. —
Tönnies, Der engl. Staat und der
dtsche. Staat 38/249. — Born, Die
engl. Ereignisse der Jahre 1685—90
im Lichte der gleichzeit. Flugschriften-
lit. Deutschlands 40/271. — Engl.
Volksspiele vi derJohan tiistia cht3 1 /429 .
— Zwischenspiele für Edward, II.
40/262. — Zu Liedrefrain und Tanx
im engl. Mittelalter 40/261. — Zur
Qesch. der engl. Personemiamen im
13.—16.Jhdt. 31/154. — Southamptons
ältester Name 33/133. — Zum Ver-
schwinden ags. Buckstaben aus dem
me. Alphabet 31/428. — Shute me.:
'Lastschiff 40/263. — Ags. Urkunden
1085—1117 33/133. — P. Lehmann,
Wert und Echtheit einer Beda abge-
sprochenen Schrift 40/269. — Ein
staatsrechtl. Satz ^Ifrics aus lat.
Quelle 39/84. — Emendation xu War-
fer ä 31/153. — Rolle's Meditatio de
passione Domini according to Ms.
Uppsala C 494 39/235. — Zu Chaucers
Stellung in Ilofämtern 40/261. — Zu
Thom. Occleve 40/261. — Weltliches
Theater in der Kirche 31/429. — Vor-
rang rechter Seite 31/153. — P. Leh-
mann, Aufgaben und Anregungen der
lat. Philog. des Mittelalters 39/259.
Lindau, Walzel, Hebbelprobleme
33/183.
Lion, Der erste Psalm, in nieder-
länd. Dichtung vom Jahre 1740 40/252.
Loewenthal, Von Ooethe über
Heine xu V. Hugo 39/227.
Loge man, TheM.-E. West Minster
prose psalter, Ps. 90, 10 34/132.
Lohre, P. Geiger, Volksliedinter-
esse und Volksliedforschung in der
Schweiz 33/181. — Heilmann, Mörikes
Lyrik und das Volkslied 34/416.
Lommatzsch, Savaric v. Mauleon
und O. Keller 34/384. — Ne vache ne
z;ee// 31/437. — Zu afrx.flori = weiß
35/170. — Zum Ritterbraueh des
Prahlens 34/114.
Long, The name 'Shepherd's cii-
lendar' 31/429.
Lop el mann, La Gazette de 1609, |
reimpression textuelle avec une notice l
par L. Leviot 33/213. I
Lösch hörn, Zincke, G. Forster
nach seinen Orig.-Briefen 35/432. —
Köhler, Die Lyrik M. v. Schenken-
dorfs 35/188.
Lubinski, Die Lieder Raouls
V. Soissons, hg. von E. Winkler 33/472.
Lüdeke, Tiecks Shakesp.-Buch
39/210.
Ludwig A., Homunculi und An-
droiden 37/137, 38/141, 39/1. — Schle-
mihle 40, Dtsch. Sonderh. 95. — R.
M. Meyer, Die Dtsche. Lit. bis zum
Beginn des 19. Jhdts., hg. von 0. Pni-
ower 36/173. — Münnig, Calderon und
die ältere dtsche. Romantik 31/459.
— Kuberka, Der Idealismus Schillers
als Erlebnis und Lehre 31/177. —
Basch, Poetiques de Schiller^^ 31/177.
— Gundolf, Goethe 39/228. — Keller,
Goethe's estimate of the Greek and
Lat. writers as revealed by his works,
letters, diaries and conversations
39/232. — Leitzmann, W. v. Hum-
boldt 40/267. — Brie, Imperialistische
Strömungen in der engl. Lit. 36/317.
— Gälvez, Guevara in Engld. 38/244.
— Hei. Richter, Gesch. der engl. Ro-
mantik 36/31 5. — Dibelius, Ch. Dickens
Register zii Archiv Band 181 — 140
21
35/199. — Depken, Sherl. Holmes,
Raffles und ihre Vorbilder 35/202. —
Bennet, The truth about au author
40/275. — Watson, The Excelsior
40/275. — C. N. and A. M. Williana-
son, The wedding day 40/275. —
Allard, Friedr. der Gr. in der Lit.
Frankreichs 33/199.
Mac Cracken, Lydgatiana 31/40.
Mangoldf, Krieger, Friedr. d. Gr.
und seine Bücher 34 413.
Mayue, W. Schulze, G. Schwab
als Balladendichter 34/413.
Meyer R. M., Enders, Fr. Schlegel
31/457.
Miuckwitz, Arbaud, Lou Lausie
d'Arle. Pouemo 33/223.
Mo es tue, Kritisches xu Uhlands
Brieftoechscl und Tagebuch 38/221. —
Neue krit. Bemerlcuiigen xu TJhl.s
Briefw. U7xd Taget. 40/251.
Moore, Notes on the 0. E.' Christ'
31/311.
Morel, Heiß, Balzac 33/195. —
Dupouy, France et AUemagne, lit.
comparees 33/192.
M u g i c a , Toro-Gisbert, Americanis-
mos 31/231.
'iS.Vil Qxit, Hur can von der Helim 1211.
Müller B. A., Straßburger Lokal-
kolorit i?i Frischlins 'Jul. redivivns'
35/1.
Mutschmann, Sixtus, Sprachgebr.
des Dialekt-Schriftstellers Frank Eo-
binson 31/181.
Nedwed, Die linguist. Exkursion
des Züricher rom. Seminars 32/411.
Neubert, Reuel, Maupassant als
Physiognomiker 37/94.
Neuendorff, Nachklänge des nuß-
hraunen Mädchens 32/139.
Neu haus, Metoula - Sprachführer :
Dänisch, Norweg. und Schwed. 33/448.
Nickel, Schneider, Zur Ausgestal-
tung der dtschn. Sprache 34/150. —
Seiler, Entwicklung der dtschn. Kultur
im Spiegel des dtschn. Lehnworts
34/150. — Riesenfeld, H. v. Ofter-
dingen in der dtschn. Lit. 34/149.
N 0 1 1 , Aucassin und Nicolette. Dtsch.
von F. V. Oppcln-Bronikowski 32/193.
— E. Henriot, A quoi revent les
jeunes gens 32/200.
Olivero, On the poems of S. H.
Whitman 32/78.
Ott, Sternberg, Das Tragische in
den char.3. de geste 36/205.
P a r i s e 1 1 e , Wulff, Die f rauenf eindl.
Dichtungen in den rom. Literaturen
des Mittelalters bis zum Ende des
13. Jhdts. 33/312. — Schinz, Les ac-
cents dans l'ecriture frgse. 33/212. —
Gillot und Krüger, Diction. System,
f r^s.-allemand l.Bd., 1.— 2. Abt. 31/230.
— Herrig und Burguy, France lit.
remanioe par Bomecque 32/202.
Petsch, Landau, Hebrew-Germ.
romances and tales and thcir relation
to the romantic lit. of the Middle-
Ages. Parti. Ar thurian legends 32/175.
— Heusler, Deutscher und antiker
Vers 37/234. — Stoltenberg, Bindung
der dtschn. Rede 37/234. — Nagl,
Zeidler und Castle, Dlsch.-öster. Lit-
Gesch. 36/302. — Koschmieder, Her-
ders theoret. Stellung zum Drama
31/448. — Berresheim, Schiller als
Herausg. der Rhein. Thalia, Thalia
und Neuen Thalia und seine Mitarbeiter
35/184. — Huch, Wallenstein. Eine
Charakterstudie 35/184. — Leitzmann,
Hauptquellen zu Schillers Wallenst.
35/184. — Seiffert, Schillers Musen-
almanach 35/184.— Behme, H.v. Kleist
und Ch. M. Wieland 33/435. — Leh-
mann-Nitsche, Adivinanzas Riopla-
tenses 34/189.
P f a n d 1 , Ein Wort xur Auffassung
des Begriffs 'Lit.- Wissetischaft' 37/223.
— Zur Bibliogr. des voyar/es en Es-
pagne 33/413, 34/143, 35/175. — 2^.r
span.-dtschn. Ortsnamerikunde des
Mittelalters 34/380. — Schwartz, A.
W. Schlegels Verhältnis zur span. und
portug. Lit. 35/450. — El sacrificio
de la Misa por G. de Berceo. Ed. de
A. G. Solalinde 34/185. — Der 'Dia-
logo de Mugeres' ton 1544 und seine
Bedeutung für die Castillejo-Forsckung
40/72. — v. Faulhaber, Calderon, die
Meistersänger der Bibel in der Welt-
lit. Vortrag 36/207.
P h e 1 p s , Father Parsons in Shake-
speare 33/66.
Pillet, Weil, Sprache des G. de
Chin von Gauth. de Tournay 39/106.
— Spanner, Die Ironie im äfrz. Na-
tionalepos 35/443. — Stiefel, Die ital.
Tenzonc des 13. Jahrhunderts und ihr
Verhältnis zur provenzal. Tenzone
38/267.
Plenio, Über die sog. Dreiteilig-
keit loid Ziceiteitigkeit in der mhd.
Strophik 36/16.
Register zu Archiv Band 131—140
P ü k 0 r n y , Windisch, Das keltische
Britannien bis zu Kaiser Arthur
32/431.
Polack, Zur Gesch. 'der ei-I)iph-
thonge im Provenxal. 37/210.
Rehbach, Segal, Bern. Shaw, a
study 36/187,
R i c h e r t , Aus dem Briefwechsel der
Brüder Grimm mit Romanisten und
Schriftstellern 34/339, 35/320, 38/73.
Rieht er Elise, Merk, Anschauungen
über die Lehre und das Leben der
Kirche im afrz. Heldenepos 35/205.
— Lorck, Passe def., imparf., passe
indef. 34/209. — Studie über das
■neueste Frx. 35/348, 36/124, 269.
Richter W., Schröder, Zwei alt-
dtsche. Schwanke: Die böse Frau,
Der Weinschwelg 34/156. — Getzhuhu,
Untersuchungen zum Sprachgebr. und
Wortschatz der Klage 38/237. —
Maußer, Dtsche. Soldatenspr. 38/241.
— Symons, KudrunS 34/154. — G.
di Leesthal, Stud. über Veldekes
Eneide 34/155. — Hempel, Kunst
Friedrichs von Logau 38/237. — K.
Ludwig, Untersuchungen zur Chro-
nologie Albrechts von Halberstadt
35/180. — Baldinger, G. Herwegh,
Gedankenwelt der 'Gedichte eines
Lebendigen' 38/239. — Chr. Weises
nordische Dramen 'Begenerus' und
'Ulvilda' 34/245.
Riemann, H. A.Krüger, Der junge
Raabe 33/446.
R ö h m e r , Dannheißer,England past
and present. Engl. Lese- und Realien-
buch für höh. Schulen 33/462.
Rosenberg, Goethes 'Braut von
Corinth' in Frankreich 39/179.
Rubel, Voßlcr, Frankreic;iS Kultur
im Spiegel seiner Sprachentwicklg.
Gesch. der frz. Schriftspr. von den
Anfängen bis zurklass. Neuzeit 31/220.
— Herzog, Histor. Sprachlehre des
Neufrz. 31/223. — Vulgärlat. In-
schriften, hg. von Diehl 31/478.
Sakmann, Price, Symbolism of
Voltaire's novels with special refe-
rence to Zadig 31/218, — v. Voß,
Diderots Moralphilosophie 32/442. —
Marcel, Le frere de Diderot 32/444.
— v.Roretz, Diderots Weltanschauung,
ihre Voraussetzungen iind Leitmotive
82/445.
Schacht, Grabbes Werke von Spir.
Wukadmovic 32/419.
Schirmer, Ste?i(lhal mid Deutsch-
land 33/158.
Schmidt K., Fay, Elliptical parti-
tive usage in affirmative clauses in
French prose of the litt, I5th^ and
16th centuries 33/211. — Gohin, La
langue frgse. 33/470.
Schneider, Singer, Lit-Gesch. der
deutschen Schweiz im Mittelalter
40/146.
Schöffler, Der Pflanxenname
• Waldmeister' im Me. und IS'Äc?. 36/234.
S e h u 1 z e , Zm Halls Satiren 31/430,
Schultz, Erich Schmidt 31/273,
Schultz-Gora, Seifert, Zur Ent-
wicklung der Proparoxytona auf -ite,
-ita, -itu im Gallorom. 40/164. — Zum
Geschlecht von afrz. ost 34/139. —
Afrx. bourghes, obl. bourghet 40/264.
— Afrx. estre dou mains 38/232. —
Zum afrx. Subst. berserex 35/415. —
Afrx. viatis <v'ilis 35/171. — Afrx. a
Chief de foix 36/169. — Afrz. c'est la
somme 35.411. — Walberg, Quelques
remarques sur l'ancien frgs. 'ne gar-
der Teure que . . .' 39/116. — En
somet (Karlsreise V. 607) 37/75. —
Par impossible 38/113. — Eine Stelle
im Placidas-Eustachius (V. 278)
34/146. — Zum 'Pkmrh' des Bertr.
Carbonel 39/225. — Zum Texte des
Yderromans 37/229. — Hoffmann,
R. de la Piere, R. le Clerc, R. de
Castel. Zur Arrascr Lit.-Gesch. des
13. Jhdts. 37/92. — Ein Jeu-parti
zwischen MaistreJehan undJeh. Bretel
36/292. — Voßler, La Fontaine und
sein Fabelwerk 40/294. — Aprov.
marvcs 33/411. — Ein prov. Sprich-
ivort 39/222. — Bern. v. Ventadorn.
Seine Lieder mit Einl. hg. von C.
Appel 36/322. — Der Trobador Ca-
denet, hg. von C. Appel 40/288. —
Die Lieder des Trobador G. d'Espanha.
Hg. von 0. Roby 34/431. — Bertoni,
I trovatori d'Italia 34/194.
Schwarz, Vom Pradler Bauern-
theafer 40/254.
Schwennhagen, Verhältnis der
'Ecole des 77iaris' xu Mendoxas 'El
marido hace muger' 31/166.
Seifert Eva, Lehre vom Akzent in
den gallorom. Mundarten 34/387.
Sisam, Epenthesis in the consonnnt
groups sl, sm 31/305.
Sonntag, Smith, Liter, criticism
of P. Bayle 31/215.
Register zu Archiv Band 131—140
23
Speyer, Die dtschn. Kaiser in der
Dichtung C. F. Meyers 33/45.
Spitzer ,Nochmals mimdartl.-dtsch.
■Schlamassel', 'seklamastfik)' 38/234.
— Gamillscheg, Stud. zur Vorgesch.
einer rora. Tempuslehre 31/466. —
Katal. 'tramitar' weitergeben, Hrämit'
Instanx, span. Hrdmite' Instanxenweg
36/162. — Zum REW Nr. 1117:
birrits 'rot' 37/74. — Zum REW
Xr. 9544a: Wlnald 36/163. — Afrx.
daser, daserie, dasion 36/165. — Frx.
fleurs = fluores? 39/89. — Zu frx.
Omelette Eierkuchen 38/110. — Frx.
printemps, ital. primavera 35/417. —
Frx. allons donc! 33/147. — Lerch,
Prädikative Partiz. für Verbalsubst.
im Frz. 31/225. — Soltmann, Svntax
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Wortschatz in Edm. ßostands Dramen
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32/149. — Nochmals ital.ghetto 40,265.
— Ital. taranai, tananai 'Wirnvarr,
Lärm 36/164. — Ital. laxxaretto
'Krankenhaus' 37/225. — Kors. ghjam-
berluecu, jam-'tonto, dappoco' 38/109;
Berichtigung daxu 39/97. — Altspan.
deeir, ptg. descer 'herabsteigen' 36/296.
— Altspan, curiar 'schütten' 35/420.
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35^69.
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Engl. Verslegende, hg. von A. Brandt
38/156.
PB
3
A5
^d. 139-1/0
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der neueren Sprachen
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