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Full text of "Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen"

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BINDING  T.TST  OCT  1     1951 


ARCHIV 

FÜR  DAS  STUDIUM  DER  NEUEREN 
SPRACHEN  UND  LITERATUREN 

BEGRÜNDET  VON  LUDWIG  HERRIG 

HERAUSGEGEBEN  VON 

ALOIS  BRANDL  UND  OSKAR  SCHULTZ-GORA 


73.  JAHRGANG,   139.  BAND 
DER  NEUEN  SERIE  39.  BAND 


BRAUNSCHWEIG   UND  BERLIN 

DRUCK  UNDVERLAG  VON   G E 0 R G  WE ST E R M A N N 

1919 


Inhalts -Verzeichnis  des  139.  Bandes 

der  neuen  Serie  39.  Bandes 


Abhandlungen  ^^^^ 

Albert  Ludwig,  Homuiiculi  und  Androiden.     III.    (Scliluß) 1 

Ludwig  Geiger,   Ludwig  Börne  und  Rahel  Varnlia};en 26 

T.  ü.  Aclielis,  Zu  Lessings  Aufsatz  Romulus  und  Rimicius 137 

M.  Konrath,   Eine  altengliscbe  Vision  vom  Jenseits '   .     .     .     .  30 

Fritz  Fiedler,  Dickens'  Gebrauch  der  rhythmischen  Prosa  im  ^jShristmas  carol'       .     .  47 
Georu  Herzfeld,  August  Wilhelm  Schlegel  in  seinen  Beziehungen  zu  englischen  Dich- 
tern und  Kritikern 149 

Bernhard  Fehr,  John  Keats  im  Lichte  der  neuesten  Forschung 163 

G.  Cohn,  Bemerkungen  zu  'Adolf  Tobiers  A,ltfranzös.  Wörterbuch',  Lieferung  1  u.  2     .     .  51 
Leo  Jordan,  Die  Frage  der  Echtheit  von  Cyrano  Bergeracs  Sonnenreise.  —  Die  Sonnen- 
reise und  die  Sssays  ron  Montaigne.    II.  (Schluß) 72 

Felix  Rosenberg,  tioethes  'Braut  von  Corinth'  in  Frankreich 179 

H.  Jarnik,  Zur  Interpretation  von  I.  Creangä's  Harap  Alb.     111.   (Schluß) 198 

Kleinere  Mitteilungen 

Zu  einem  Briefe  Goethes.    Von  Ludwig  Geiger  (j) ,.     .     .     .  83 

Tiecks  Shaktspeare-Buch :  ein  neuer  Fund.    Von  H.Lüdeke 210 


Venantius  Fortunatus  und  die  ags.  Elegien  'Wanderer'  und  'Ruine'.    Von  A.  Brandl     .  84 

Ein  staatsiechtlichcr  Satz  .ällfrics  aus  lateinischer  Quelle.    Von  F.  Liebermann  ...  84 
Ansprache  am  Shakespeare  -  Tag   im  Deutschen  Theater  zu  Benin   1919.     Von  Hermann 

Kügler 85 

Eine  Vorahnung  von  Flugzeug  und  U-Boot     Von  F.  Lieberniann 87 

An  Prof.  Frederic  J.  Carpenter,  Barrington,  Illinois.     Von  A.  Brandl     .......  213 

Byroniana  111.     Der  Vtrfasser  des  Uriel.     Von  Fr.  Bader 214 

Randnoten  zu  Emil  Levys  provenza'ischen  Wörterbüchern  (Nr.  1 — 8).    Von  Adolf  Kolsen  87 

F>z.  fletirs  =  fltiores?     Von  L.  Spitzer 89 

AltproT.  lieis.     Von  M.  L.  Wagner .  94 

Lat.  fundibvhmi  >  *  funibulum  und  intestinae  >  istentinae.     Von  M.  L.  Wagner     ...  96 

Sobre  el  castellano  enhiesto.     Por  Vicente  Garcia  de  Diego 96 

Berichtigung.     Von  LeoSpitzer 97 

Hur  can  von  der  Hell.     VonW.  Mulertt 217 

Ein  provenzalisches  Sprichwort.         Von  O.  Schul  tz-Gora 222 

Cleomades-Fragmente.     Von  KarlChrist 222 

Zum  Planch  des  Bertnm  Oirbonel.     Von  O.  Schultz-Gora 225 

Italienisches  zum  Tartuffe.     Von  Max  J.  Wolf f 226 

Von  Goethe  über  Heine  zu  Victor  Hugo.     Von  ErichLoewenthal 227 

Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Josef  Eisenmeier,  s.  Anton  Marty. 

Friedrich  G  und  Ol  f,  Goethe.     (Albert  Ludwig) 228 

Daniel  Jones,  An  outline  of  English  phonetics.     (A.  Brandl) 98 

Alfred  Kastil  s.  Anton  Marty. 

W.  J.  Keller,  Goethe's  estimate  of  the  Greek  and  Latin  writers  as  revealed  by  bis  works, 

Ifttters,  diaries,  and  conversations.    (Albert  Ludwig) 232 

Oskar  Kraus,  s.  Anton  Marty. 

Anton  Marty,  Gesammelte  Schriften,  herausgegeben  von  Josef  Eisenmeier,  Alfred 
Kastil,  Oskar  Kraus.  I.Band,  1.  Abteilung.  —  1.  Band,  2.  Abteilung.  Schriften 
zur  genetisclien  Spraehpliilosophie.  —  2.  Band,  1.  Abteilung.  Schriften  zur  deskrip- 
tiven Psychologie  und  Sprachphilosophie.    (Beruhard  Fehr) 100 

Bernhard  Fehr,  Studien  zu  Oskar  Wildes  Gedichten.    (Friedrich  Brie) 237 

II  Codice  Vercellese  con'  onfelie  e  pnesie  in  hngua  anglosassone,  per  concessione  del  ven. 
C'ipitoo  Metropolitano  di  Vercelli,  la  prima  volta  fnteramente  riprodotto  in  fototipia, 
a  cura  delia  Bibliotheca  Vaticana,  con  introduzione  del  Prof.  Dott.  Massimiliano  Foerster 

dell'Uu.versitä  di  Lipsia.     (Wolfgang  Keller) 23S 


III 

Seite 
Harnlfl  Lindkvist,  s.  Richard  Bolle. 
Richard  Rolle's  Meditatio  de  passicuie  Domini  according  to  ms.  Uppsala  C  494  edited  with 

iutroduction  and  notes  by  Harald  Lindkvist.     (F.  Liebermann) 235 

Karl  Arnholdt,  Die  Stellung  des  attributiven  Adjektivs  im  Italienischen  und  Spanischen. 

(EuLen  Lerch) 242 

Helene  Burkhardt,  Studien  zu  Paul  Hervieu  als  Romancier  und  als  Dramatiker.  (Kurt  Glaser)  258 
R.  E.  Curtius,  Die  literarischen  Wegbereiter  des  neuen  Frankreich.  (\^  Klemperer)  .  256 
Dautis  Alagherii  De  monarchia  libri  III  rec.  Ludovicus  Bertalot.    Friedrichsdorf  in  monte 

Tauno  apud  1-rancofurtum  apud  editorem.     (Berthold  Wiese) .     120 

E.  Gamillscheg  und  L.  Spitzer,  Die  Bezeichnungen  der  Klette  im  Galloromauischen. 

tK.  Jaberg) 110 

Walther  K  Dehler,  Romain  Rolland,  Henri  Barbusse,  Fritz  von  Unruh.  (H.  Geizer)  .  .  258 
Paul  Lehmann,   Aufgaben  und  Anregungen  der  lateinischen  Philologie  des  Mittelalters. 

(F.  Liebermaun)  259 

Carl  Reinholdt,  Die  Wundergeschichten  des  Cod.  Pal.  germ.  118.  (Alfons  Hilka)  .  .  261 
Werner  von  der  Schulenburg,  Ein  neues  Porträt  Petrarcas.  (Berthold  Wiese)  .  .  .  121 
L.  Spitzer,  s.  E.  Gamillscheg. 

E.  \Valberg,    Quelques   remarques    sur    l'ancien   fran^ais    'ne   garder   Teure   que    .,.'. 

(O.  Schultz-Gora) 116 

Alice  Weil ,  Die  Sprache  des  Gilles  de  Chin  von  Gauthier  de  Tournay  (Laut-  und  Flexions- 
lehre).   (Alfred  Pillet) 106 

Verzeichnis  der  bei  der  Redaktion  eingelaufenen  Druckschriften, 
mit  folgenden  kurzen  Anzeigen: 

Allgemeines 

Th.  Litt,  Geschichte  imd  Leben.  Von  den  Bildungsaufgaben  geschichtlichen  imd  sprach- 
lichen Unterrichts 123 

Max  Lenz,  Für  die  Hamburgische  Universität 123 

Mitteilungen  des  Vereins  der  Freunde  des  humanistischen  Gymnasiums,  hg.  vom  Vereins- 

vors^tand,  redigiert  vom  Schriftführer  S.  frankfurter 124 

Sieben -Sprachen -Wörterbuch :  deutsch,  polnisch,  russisch,  weißruthenisch,  litauisch,  let- 
tisch, jiddisch,  hg.  im  Auftrage  des  Oberbefehlshabers  Ost 124 

Neuere  Sprachen 

Beiträge  zur  Literatur-  und  Theatergeschichte,  Ludwig  Geiger  zum  70.  Geburtstag  (5.  Juni 

1918)  als  Festgabe  dargebracht    . 124 

C.  G.  Brandis,  Beiträge  aus  der  Universitätsbibliothek  zu  Jena  zur  Geschichte  des  Re- 
formationsjahrhunderts     • 128 

Luise  Sigmann,  Die  englische  Literatur  von  1800 — 1830  im  Spiegel  der  zeitgenössischen 

deutschen  Kritik 128 

Heinz  Kindermann,  Hermann  Kurz  und  die  deutsche  Übersetzungskunst  im  19.  Jahr- 
hundert           .     .     128 

Germanisch 

Gr.  Neckel,  Studien  zu  den  germ.  Dichtungen  vom  Weltimtergaug 129 

Niederländisch 

V.  Ziegesar,  Niederländischer  Sprachführer  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  flämi- 
schen Mundart.    Taschenwörterbuch  für  Reise  und  Haus  .     .     i 129 

Deutsch 

Ernst  Wasserzieher,  Woher?    Etymologisches  Wörterbuch  der  deutschen  Sprache  .     .  129 

Otto  L.  Jiriczek,  Seifriedsburg  und  Seyfriedsage 130 

Dar  kloane  Catechismo  von  z'Böloseland,    vorträghet  in  z'gapr^cht  von  Siben  Kameün  un 

a  viar  halghe  Gasang 130 

F.  Lienhard,  Einführung  in  Goethes  Faust 131 

R.  Höniger,  üas  Deutschtum  im  Ausland  vor  dem  Weltkrieg.    2.  Aull 131 

Christian  F.  Weiser,   Das  Auslanddeutschtum   und  das  Deutsche  Reich.     Betrachtungen 

und  Vorschläge 131 

Englisch 

Sir  Degrevant,  hg.  von  Karl  Luick 133 

E.  Vettermann,  Die  Baien-Dichtungen  und  ihre  Quellen 133 

Hedwig  Reschke,  Die  Spenserstanze  im  19.  Jahrhundert 133 


IV 

Ssite 

Kftrl  Reuning,  Das  Altertümliche  im  Wortschatz  der  Speiisenmchahmungen  im  18.  Jahr- 
hundert       134 

Shakespeare  in  deutscher  Sprache,  hg.,  zum  Teil  neu  tibersetzt  von  Friedrich  Gundolf. 

X.ßand -. 134 

Walther  Fischer,  Die  persönlichen  Beziehungen  R.  M.  Milnes',  ersten  Barons  Houf-hton, 
zu  Deutschland,  unter  besonderer  Berücksichtigung  seiner  Freundschaf  t  mitVarnhagen 
van  Ense 135 

W.  B.  Yt-ats,  Das  Land  der  Sehnsucht  (The  land  of  heart's  desire),  ein  dramatisches 
Märchen  in  einem  Aufzug,  aus  dem  Irischen  übertragen  von  F.  Weekley  imd  E.  L. 
Stahl 131) 

Gustav  Krüger,  Unenglisches  Englisch.    Eine  Sammlung  der  üblichsten  Fehler,   welche 

Deutsche  beim  Gebrauch  des  Englischen  machen.     2.  stark  verm.  Aufl 136 

A.  Brandeis  und  Th.  Reitterer,  A  first  Eiiglish  primer  . 136 

Englisches  Tornisterwörterbuch  mit  genauer  Angabe  der  Aussprache.     4.  Aufl 136 

Romanisch 

W.  V.  Wartburg,  Zur  Benennung  des  Schafs  in  den  romanischen  Sprachen 265 

Karl  Ritter  v.  Ettmayer,  Vademecuin  für  Studierende  der  romanischen  Philologie     .     .  265 

Elise  Richter,  Fremdwortkunde 266 

Eug.  Lerch,   Die  Verwendung  des   romanischen  Futurums  als  Ausdruck  eines  sittlichen 

Sollens ■ 267 

Französisch 

Repetitorien  zum  Studium  altfranzösischer  Literaturdenkmäler,  hg.  von  K.  v.  Ettmayer. 

Nr.  2:  E.  Winkler,  Das  Rolandslied 269 

E.  Platz,  Les  noms  fran^ais  ä  double  genre 269 

A.  Zünd-Burguet,    Exercices   pratiques    et   m^thodiques    de   prononciation   fran^aise. 

Deuxiöme  (^dition  revue  et  corrig^e  par  H.  Wen  gl  er 270 

Provenzalisch 

A.  K  Olsen,  Zwei  provenzalische  Sirventese  nebst  einer  Anzahl  Einzel  Strophen    ....    270 

Spanisch 

L.  Spitzer,  Katalanische  Etymologien 271 


Homunculi  und  Androiden. 

(Schluß.) 

III.  Die  Epigonen. 

Die  Typen  der  künstliclien  Menschen  waren  durch  die  Romantik 
geschaffen,  die  Folgezeit  hat  nichts  wesentlich  Neues  hinzu- 
getan, aber  sie  hat  die  einmal  eröffnete  Bahn  auch  nicht  wieder 
verlassen:  von  Zeit  zu  Zeit  ist  immer  wieder  ein  neuer  Vertreter 
des  Geschlechts  hier  oder  dort  aufgetaucht,  und  neuerdings  sind 
sie  sogar  wieder  ziemlich  häufig  geworden.  Das  hängt  mit  den 
Zeitströmungen  zusammen.  Goethes  Homunculus,  Tiecks  Vogel- 
scheuche waren  schon  zu  spät  gekommen,  um  unmittelbar  als 
dichterische  Erzeugnisse  gewürdigt  zu  werden:  die  dreißiger 
Jahre  sahen  eine  gründliche  Abwendung  von  der  Romantik,  man 
war  der  Phantastereien  müde,  die  Dichtung  sollte  der  Zeit  dienen. 
Von  ihr  aber  führte  jetzt  kaum  noch  eine  Brücke  zu  diesen  Erfin- 
dungen: in  der  Philosophie  herrschte  ein  stolzer  Idealismus;  wer 
sich  gesättigt  hatte  an  Hegeischen  Gedanken,  der  brauchte  sich 
nicht  mehr  zu  wehren  gegen  das  Gefühl,  als  bloße  Puppe  an  einem 
verborgenen  Draht  gelenkt  zu  werden:  die  souveräne  Freiheit 
des  menschlichen  Geistes  schien  ein  für  allemal  festgestellt.  Und 
doch  hat  selbst  diese  Zeit,  die  Wende  des  vierten  und  fünften 
Jahrzehnts,  ihren  Homunculus:  die  Gestalt  eignete  sich  doch  gut 
dazu,  das  Gemachte,  Künstliche  im  gesellschaftlichen  und  lite- 
rarischen Leben  zu  verspotten:  ein  derber  Humor  konnte  die 
Nöte  eines  chemischen  Leibes,  dessen  Bestandteile  auch  andere 
Auffrischung  nötig  haben,  als  Speise  und  Trank  sie  gewöhn- 
lichen Menschenkindern  gewähren,  wirkungsvoll  schildern,  die 
geistige  Bildungsgeschichte  eines  solchen  Wesens  war  wie  ge- 
funden, um  äußerliche  Abrichtung  bloßzustellen.  Aber  hätte  ein 
Geschlecht,  das  vom  Roman  die  Spiegelung  seines  bürgerlichen 
Lebens  zu  verlangen  begann,  inmitten  der  Gestalten  der  Wirk- 
lichkeit sich  ein  Erzeugnis  des  Laboratoriums  gefallen  lassen?  Es 
scheint  mir  bezeichnend,  daß  der  erste  nachgoethische  'Munkel' 
der  Held  von  Tmmermanns  Münchhausen  ist;  seine  absonder- 
liche Herkunft  ist  also  eine  seines  Namens  ^^äirdige  geniale  Auf- 
schneiderei. 

Wenn  die  Verhältnisse  in  Deutschland  der  dichterischen  Ge- 
staltung des  Automaten-  und  Homunculussymbols  nicht  sehr 
günstig  waren,  so  konnte  ein  anderes  Land  als  ein  eher  geeigneter 
Boden  erscheinen.  Die  dreißiger  und  vierziger  Jahre  sahen  bei 
uns  ein  erstes  Erstarken  der  Industrie;  ihre  Heimat  war  Eng- 
land, und  wer  hellsichtig  in   den   deutschen   Fabrikherren    und 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  -  139.  1 


2  Homuneuli  und  Androiden 

Großkaufleuten  die  kommende  maßgebende  Macht  sah,  der  konnte 
in  englischen  Zuständen  wie  im  Spiegel  die  Zukunft  des  eigenen 
Volkes  erschauen.  Auch  hier  begegnen  wir  Immermann  in  un- 
serem Stoffkreise;  es  ist  charakteristisch,  daß  er  im  Tulifäntchen 
einen  Engländer  als  Ersinner  und  Erbauer  jener  ehernen  Mauer 
einführt,  die  das  Schloß  des  Riesen  Schlagadodro  umgibt.  Aus  ge- 
waltigen Platten  ist  sie  ohne  Nägel,  ohne  Schrauben  zusammen- 
gefügt; ein  einziger  dünner  Stift,  im  Schwerpunkt  ins  Scharnier 
eingesetzt,  hält  sie:  'das  Jahrhundert  will  Ersparnis  aller  über- 
fiüss'gen  Kräfte'.  Den  Stift  kann  aber  ein  Däumling  entfernen, 
und  dann  stürzt  der  mechanische  Riesenbau  zusammen  und  er- 
schlägt Besitzer  und  Erbauer.  —  Richard  M.  Meyer  hat  in  Karl 
Immermann.  Eine  Gedächtnisschrift  (Hamburg  u.  Leipzig  1896) 
dargelegt,  wie  hier  in  einem  Symbol  die  furchtbare  Abhängigkeit 
sich  spiegelt,  in  die  eine  hochentwickelte  Technik  den  Menschen 
von  dem  allerunbedeutendsten  Zufall  bringt.  Der  Erbauer  des 
AVunderwerkes  wird  seines  'maschinengrübeltiefen  Volkes  tiefster 
Grübelmaschinist'  genannt  und  rechtfertigt  die  Bezeichnung  da- 
durch, daß  er  sich  zu  seiner  persönlichen  Bedienung  einen  'Dampf- 
bedienten' und  eine  ihm  förmlich  angetraute  'Dampffrau'  gemacht 
hat;  ganz  wie  Menschen  sehen  sie  aus  und  gehaben  sich  auch  so, 
nur  der  Dampf,  der  aus  einer  Röhre  am  Hinterkopf  entweicht, 
verrät  ihr  Wesen.  'Sieh,  so  hoch  stieg  die  Mechanik  in  Alt-Eng- 
land,'meint  der  Dichter  —  wir  aber  dürfen  an  Ruskins  Groll  über 
die  utilitarische  Wirtschaftslehre  und  ihre  Auffassung  des  Ar- 
beiters als  Automaten  denken  (Unto  this  last  §  8),  um  zu  ermessen, 
wie  treffend  unseres  Dichters  Satire  ist.  Noch  war  sie  Warnung, 
wies  auf  England  als  abschreckendes  Beispiel  —  in  Deutschland 
handelte  es  sich  erst  um  Anfänge  des  Industrialismus,  dessen  Ge- 
fahren das  Volk  der  idealistischen  Philosophie  noch  von  sich  ab- 
wenden mochte. 

Aber  der  Stern  Hegels  sank;  das  Zeitalter  der  Naturwissen- 
schaften zog  herauf,  und  ihre  Erfolge  richteten  in  den  Köpfen 
bedenkliche  A^erheerungen  an.  Ein  populärer  Materialismus  be- 
gann viel  weitere  Kreise  zu  ziehen  als  jemals  der  alte:  die  Leute 
waren  ja  bildungsbeflissen  geworden,  und  die  Kirche  hatte  nicht 
mehr  die  Macht  über  die  Gemüter  wie  trotz  allem  noch  zu  den 
Zeiten  Lamettries.  Wenn  Kraft  und  Stoff  die  Welt  regierten, 
dann  lag  abermals  für  die  Satire  das  Symbol  nicht  fern:  H  am  er- 
lin g  hat  es  in  den  Mittelpunkt  seiner  großen  Dichtung  Homun- 
kulus (1888)  gestellt. 

Ein  satirisches  Epos,  bei  dem  Atta  Troll  Pate  gestanden  hat, 
aber  vom  letzten  'freien  Waldlied  der  Romantik'  trennt  es  ein 
Zeitalter  des  Realismus:  verschwunden  ist  der  Märchencharakter 
des  Liedes  von  den  Taten  und  Meinungen  des  großen  Pyrenäen- 


Homunculi  und  Androiden  3 

baren;  die  Phantastik  ist  nicht  geringer  geworden,  aber  sie  ent- 
stammt der  etwas  kalten  Phantasie  eines  Zeitalters  der  Technik. 
Auch  dies  Zeitalter  hat  seine  Romantik  geboren,  und  von  ihren 
Erzeugnissen  wird  weiter  unten  die  Rede  sein;  Hamerlings  Ho- 
munhulus  gehört  nicht  dazu,  weil  sein  Dichter  den  Geist  seiner 
Zeit  bekämpfen,  aber  sich  nicht  von  ihm  poetisch  befruchten 
lassen  wollte.  Trotzdem  weht  durch  die  Erfindungen  des  Ge- 
dichts nicht  bloß  der  Hauch  der  Satire:  wenn  es  ernsthaft  erzählt, 
was  im  Rahmen  des  Immermannschen  Münchhausen  nur  als  über- 
mütige Lüge  möglich  war,  so  dankt  es  das  der  Stimmung,  die  seit 
den  sechziger  und  vor  allem  den  siebziger  Jahren  die  Fortschritte 
der  Technik  bereitet  hatten. 

Will  man  den  Abstand  des  Homunkulus  von  romantischen  Er- 
findungen mit  Händen  greifen,  so  lese  man  die  Episode  des 
zehnten  Gesanges,^  in  der  der  Held,  selbst  ein  Homunkulus,  andere 
künstliche  Wesen  schafft.  Er  steckt  einen  Stab  in  die  Erde,  dem 
er  'wie  einem  Metronom  (nach  Meltzl)'  jeden  Grad  von  Schwin- 
gungsschnelligkeit zu  geben  versteht.  Zunächst  tönt  der  Stab, 
dann  erzeugt  er  Wärme,  dann  rotes,  gelbes,  grünes,  violettes  Licht, 
bei  Millionen  und  Billionen  Schwingungen  in  der  Sekunde  treten 
die  Erscheinungen  des  Magnetismus,  der  Elektrizität  auf: 

'Und  nachdem  er  in  undenkbar-  Er  auch  ein  Homunkel,  traun. 

Schnellstem  Schwung  zuletzt  erreichi  Wenn  auch  auf  ganz  anderm  Wege, 

hat  Auf  unendlich  kürzerm  Wege 

Jene  Zahl  von  Billionen  Hergestellt  —  ä  la  minute  — 

Schwingungen  in  der  Sekunde,  Als  der  andre,  der  ihn  machte. 

Deren  Resultat  das  Leben,  Froh  der  Vaterschaft  war  Munkel, 

Reißt  er  von  der  Erde  Grund  sich  Und  in  seinem  Stolz,  in  seiner 

Plötzlich     los     und     —     Läuft     von  Freude  setzt'  er  in  die  Welt  noch 

dannen:  Viele  ähnliche  Homunkel, 

Denn  er  lebt  —  er  lebt  und  denkt!  Die  in  ihr  umher  nun  laufen.' 

Das  ist  ganz  und  gar  die  Lehre  des  Materialismus,  nach  der  Leben 
und  Denken  Bewegungsfunktionen  des  Stoffes  sind  —  wie  weit 
stehen  da  Tiecks  Vorstellungen  von  den  siderischen  und  telluri- 
schen Kräften  ab,  die  Herrn  von  Ledebrinna  zum  Menschen 
machen! 

Eür  den  Helden  selbst  ist  Hamerling  einen  andern  Weg  ge- 
gangen: ein  Gelehrter  hat  ihn  wie  Wagner  in  der  Retorte  her- 
gestellt, das  Erzeugnis  ist  aber  bei  weitem  nicht  so  liebenswürdig 
ausgefallen  wie  jenes  in  Fausts  ehemaliger  chemischer  Küche,  mit 
dem  es  nur  das  Übergewicht  der  intellektuellen  über  die  körner- 
lichen Eigenschaften  teilt  —  solche  des  Gemüts  sind  gar  nicht 
vorhanden.  Der  Erzeuger  sieht  ein,  daß,  wenn  so  ein  Männlein  in 
die  Welt  passen  soll,  man  besser  die  TTatur  der  Kunst  helfen  läßt; 


5.  Auflage  (Hamburg  1896),  S.  289. 


4  Homunculi  und  Androiden 

er  hypnotisiert  also  sein  Geschöpf,  reduziert  es  im  Tiegel  wieder 
auf  das  'embryonale  Urprinzip';  dieser  erste  'Rein  materiell  er- 
zielte, Destillierte  LebensstofP'  wird  als  'Rationell  gemischtes. 
Zartes  Protoplasma-Klümpchen'  auf  geheimnisvolle  Weise  in  den 
Mutterschoß  einer  armen  Dorfschulmeisterfrau  verpflanzt,  und  so 
kommt  denn  'Munkel'  scheinbar  wie  ein  anderes  Menschenkind 
zur  Welt. 

Jetzt  ist  das  Experiment  gelungen:  bald  eilt  der  junge  Munkel 
von  einem  äußeren  Erfolge  zum  andern.  Es  ist  ja  die  Zeit  der 
Gründerjahre,  des  Tanzes  um  das  goldene  Kalb:  das  ist  der  rechte 
Boden  für  dieses  Gewächs.  Ein  Produkt  der  Berechnung,  des 
Messens  und  Wagens,  kennt  er  auch  nichts  andres,  als  was  sich  der 
Berechnung  fügt;  bald  sieht  er,  daß  das  Gold  der  große  Wert- 
messer ist,  und  wie  er  sich  erst  einmal  über  die  zum  Erwerb  taug- 
lichen Mittel  klar  ist,  strömt  es  ihm  überreichlich  zu.  Von  seiner 
Herkunft  hat  er  zunächst  keine  Ahnung;  es  erinnert  ein  wenig 
an  Immermanns  Münchhausen,  wie  er  spürt,  daß  seine  Moleküle 
sich  voneinander  lösen  wollen,  wie  sein  Erzeuger  ihn  auf  'eng- 
begrenztem Stoff-  und  Kraftweg'  mit  Salben,  Salzen,  Tinkturen 
usw.  wiederherstellt  und  ihm  dabei  sein  Geheimnis  enthüllt. 
Über  den  ersten  Schreck  hilft  die  Überzeugung  fort,  daß  der  durch 
Wissensmacht  Geschaffene  dem  bloß  Erzeugten  überlegen  sein 
muß ;  jetzt  wird  Munkel  erst  Lebenszweck,  was  er  vorher  nur  aus 
unbewußtem  Trieb  erstrebte.  Er  wird  Gründer,  bringt  es  zum 
Billionär;  der  große  Bankkrach  kostet  ihm  zwar  sein  Vermögen, 
öffnet  ihm  aber  erst  recht  eigentlich  freie  Bahn,  indem  er  ihn  aus 
den  beengenden  Verhältnissen  des  alten  Europas  löst.  Nicht  mehr  um 
den  persönlichen  Erwerb  geht  es  ihm  jetzt:  er  will  den  'Homun- 
kulismus im  höchsten  Stile  verwirklichen'.  So  wandert  er  nach 
Eldorado  aus  und  wird  dort  zum  Staatengründer:  aus  einem 
Reiche  der  Unschuld  macht  er  ein  Reich  der  Seelenlosigkeit,  das 
nach  chemisch-physikalisch-physiologischen  Grundsätzen  regiert 
wird ;  nachdem  es  zugrunde  gegangen  ist,  stiftet  er  das  Affenreich 
der  bloß  intellektuellen,  rein  äußeren  Bildung;  als  Judenkönig 
will  er  der  Messias  des  Verstandes  werden,  schließlich  die  Welt 
zum  Pessimismus  überreden  und  den  großen  allgemeinen  Selbst- 
mord herbeiführen.  Die  Leute  sollen  eben  sich  nach  seinem  Bilde 
formen;  er  weiß,  daß  ihm  etwas  fehlt,  und  das  soll  nun  überhaupt 
nicht  mehr  vorhanden  sein.  Freilich,  die  wirklich  lebendigen 
Kräfte  der  Menschenseele  erweisen  sich  doch  immer  stärker  als  er: 
Revolutionen  stürzen  ihn  von  seinem  Herrschersitz,  ein  liebendes 
Paar  überläßt  sich  in  seliger  Selbstvergessenheit  dem  Willen  zum 
Leben  und  vereitelt  damit  alle  Weltverneinungspläne.  So  zieht 
sich  denn  Munkel  in  tiefste  Einsamkeit  zurück:  das  Wissen  soll 
ihm  die  Macht  über  die  Menschheit  geben ;  aber  als  er  seinem  Ziel 


Homunculi  und  Androiden  5 

nahe  zu  sein  scheint,  erreicht  ihn  das  SchicksaL  Der  Blitz  trifft 
sein  lenkbares  Luftschiff,  steuerlos  treibt  er  außerhalb  des  Be- 
reiches der  Schwerkraft  im  Äther,  und  nun,  unwiderruflich  der 
Erde  fern,  sieht  er,  was  irdisches  Leben  in  seinem  eigentlichen 
Sinn  bedeutet,  erkennt  er,  was  ihm  gefehlt  hat.  Die  Liebe  ist 
die  große,  schaffende  Weltmacht,  an  ihr  hat  das  Erzeugnis  der 
Retorte  keinen  Anteil,  drum  ist  ihm  Menschenleid  und  -freude 
fremd  geblieben,  drum  ist  er  gescheitert:  Macht  über  Menschen 
hat  auf  die  Dauer  eben  nur  einer,  der  selbst  ein  voller  Mensch  ist. 
Die  große  Dichtung  ist  schwer  befrachtet  mit  politischer,  ge- 
sellschaftlicher, philosophischer,  literarischer  Satire  —  gegenüber 
all  dem,  was  sich  Hamerling  vom  Herzen  schreiben  wollte,  tritt 
das  Motiv  der  Wesensart  des  Helden  einigermaßen  zurück.  Munkel 
ist  zu  sehr  Sinnbild  der  Gründerzeit,  zu  sehr  Typus  des  materia- 
listischen Geld-  und  Machtjägers,  um  sich  von  seinesgleichen,  die 
aber  keine  Homunculi  sind,  wesentlich  zu  unterscheiden.  Wenn 
er  seiner  Art  nach  ein  Zwitterding  ist,  so  sollte  er  es  doch  dich- 
terisch nicht  sein:  so  ist  er  aber  auf  der  einen  Seite  zu  sehr 
Mensch,  auf  der  anderen  wieder  seelenloses  Kunsterzeugnis,  keines 
von  beiden  ganz,  und  das  läßt  die  Teilnahme  an  ihm  nicht  recht 
erwarmen.  Daß  die  Gestalt  ganz  andere  Möglichkeiten  barg, 
wußte  der  Dichter;  er  stellt  noch  ein  zweites  MaP  den  Schöpfer 
Munkels  (der  große  Gelehrte  ist  übrigens  nur  ein  flüchtiger 
Schemen)  seinem  Geschöpf  gegenüber,  mit  seinen  mahnenden 
Worten  holt  er  sich  aber  eine  gründliche  Abfuhr: 

'Hast  du  Kunde  nicht  vernommen  Vampirgleich,  gespenstig,  plötzlich 

Von  Mohammed,  dem  Propheten,  Vor  ihn  treten,  eine  Seele 

Weshalb  er,  in  Ton,  in  Farben  Von  ihm  heischend  —  eine  Seele, 

Nachzubilden  Mensehenwesen  Und  da  er,  der  Stümper,  ihnen- 

Streng  verboten  seinem  Volke?  Diese  nicht  vermag  zu  geben, 

Weil  die  Statuen,  die  Bilder,  In  geheimnisvoller  Art  sich 

Lehrt  er,  von  dem  Mann,  der  frevelnd  An  ihm  rächen,  Unheil  bringend 

Nachgeäfft  die  schöpferische  Und  ihn  ins  Verderben  stürzend!' .  .  . 
Gottesurkraft,  Menschen  formend. 

Aber  bei  dieser  Andeutung  bleibt  es;  der  Meister  gibt  sich  zu- 
frieden und  behält  Munkels  Geheimnis,  das  er  enthüllen  wollte, 
für  sich;  das  Motiv  verpufft  —  dem  Dichter  war  die  satirische 
Tendenz  wohl  wichtiger  als  ein  tragischer  Konflikt  zwischen  dem 
Homunculus  und  seinem  Erzeuger. 

Es  ist  anziehend,  zu  sehen,  wie  Hamerling  in  der  Art,  wie  er 
sein  chemisches  Männlein  entstehen  läßt,  an  Goethe  anknüpft, 
dabei  aber  zu  gleicher  Zeit  in  mancherlei  Erfindungen  sich  von 
dem  technischen  Zeitalter,  in  dem  er  lebte,  angeregt  zeigt.  ^  Es  war 
unausbleiblich,  daß  die  gewaltigen  Erfolge  der  Technik  die  Phan- 

^  Gesang  VII. 


6  Homunculi  und  Androiden 

tasie  befruchteten:  daß  sie  förmlich  berauschend  wirkten,  zeigt 
das  Beispiel  Jules  Vernes,  dessen  große  Erfolge  in  den  sech- 
ziger Jahren  begonnen  hatten.  Hier  war  keine  Rede  von  Satire: 
ein  guter  Erzähler  beutete  ohne  besonderen  literarischen  Ehrgeiz 
die  Fülle  der  Möglichkeiten  aus,  welche  die  Entwicklung  der 
Eisenbahnen  und  Dampfschiffe,  der  Luftschiffahrt,  die  Wunder 
der  Elektrizität  und  des  Magnetismus  eröffneten;  behaglich  folgten 
die  Leser  ihm  um,  über  und  unter  die  Erde  —  mehr  als  einer 
seiner  Träume  ist  im  Laufe  der  Zeit  zur  schier  alltäglichen  Wirk- 
lichkeit geworden.  Der  Acker,  auf  dem  er  zunächst  ziemlich 
allein  gepflügt  hatte,  wurde  allmählich  auch  von  anderen  an- 
gebaut, und  zu  den  Themen,  die  sich  diesen  technischen  Phan- 
tasten anboten,  gehörte  auch  dasjenige  des  Automaten.  Der  Zu- 
sammenhang ist  anders  als  einst  in  der  Zeit  der  Romantiker:  war 
man  damals  von  philosophischen  Spekulationen  ausgegangen, 
hatte  man  sich  anregen  lassen  von  mechanischen  Spielwerken,  so 
ging  man  diesmal  von  sehr  nützlichen  und  prosaischen  Beobach- 
tungen aus.  In  der  Technik  spielte  allerlei  Automatisches  eine 
beträchtliche  Rolle;  man  hörte  von  selbsttätigem  Aus-  und  Ein- 
schalten, von  automatischen  Sicherungen,  im  täglichen  Leben  sah 
man  überall,  in  Postämtern  und  auf  Bahnsteigen,  am  Kaufmanns- 
laden und  im  Vergnügungsgarten  jene  Kästen,  die  für  uns  heute 
die  Automaten  schlechtweg  sind,  in  den  Straßen  der  Städte 
tauchten  die  automatischen  Restaurants  auf:  da  ließen  sich  leicht 
die  Gedanken  weiterspinnen  —  konnte  man  nicht  allerlei  nütz- 
liche, aber  manchmal  auch  lästige  Lebewesen  durch  Automaten 
ersetzen?  Jetzt  wurden  Immermanns  Dampfbediente  zeitgemäß! 
Schon  Hamerlings  Held  umgibt  sich^  mit  allerlei  Automaten; 
ähnlich  ist  bei  Anatole  France^  der  Gasthof  mit  automati- 
scher Bedienung  eine  Erscheinung  hochgesteigerter  Kultur;  sehr 
hübsch  ist  eine  Episode  in  einer  Erzählung  des  Engländers  G.  K. 
Chesterton:^  automatische  Diener  werden  angepriesen  'a  cook 
who  is  never  cross,  a  butler  who  never  drinks,  housemaids  who 
never  flirt'.  Das  alles  ist  noch  im  Bereich  der  Möglichkeit;  aber 
wer  gesehen  hat,  wie  in  eine  rätselhafte  Maschine  vorn  die  weißen 
Papierballen  verschwinden,  hinten  die  Tageszeitung  fertig  ge- 
druckt und  zusammengefaltet  hervorkommt,  der  kann  sich  auch 
allerhand  Wunder  aussinnen:  Heinrich  Seidel  plaudert  ein- 
mal sehr  ergötzlich  von  der  eisernen  Kuh,  die  Milch  unmittelbar 
aus  Gras  und  Heu  produziert:  auf  der  einen  Seite  wird  der 
Futtertrichter  mit  Gras  gefüllt,  auf  der  anderen  fließt  aus  einem 
Rohr  die  köstlichste  Milch,  an  einer  besonderen  Stelle  gibt  es 
sogar  Kuhdung  (Kinkerlitzchen  Nr.  3). 

1  Gesang  III.       »  L'ile  des  Pingoiiins  S.  156  (1907). 

^  In  The  invisible  man  (Sammlung  The  innocence  of  Father  Brown). 


Homunculi  und  Androiden  7 

Der  "Wettbewerb  des  mechanischen  Kunsterzeugnisses  mit  dem 
organischen  Lebewesen  ist  nun  nicht  erst  in  dieser  Zeit  dichterisch 
behandelt  worden.  Schon  ein  Andersensches  Märchen,  Die 
Nachtigall,  erzählt  von  einem  Kaiser  von  China,  der  einen  Wett- 
gesang zwischen  einer  wirklichen  Nachtigall  und  einem  künst- 
lichen Spielwerk  veranstaltete.  Er  und  sein  Hof  ziehen  den 
Kunstvogel  vor,  weil  man  ihn  öffnen  und  sehen  kann,  wie  die 
Walzen  sich  bewegen;  die  wirkliche  Nachtigall  wird  in  Ungnade 
verbannt.  Freilich:  eines  schönen  Tages  versagt  das  Räderwerk 
des  Automaten,  und  niemand  kann  helfen;  der  Kaiser  wird  krank 
und  liegt  von  aller  Welt  verlassen  zu  Bett:  da  tönt  ins  Ohr  des 
Sterbenden  sieghaft  und  trostreich  das  ewige  Lied  der  Nachtigall. 
Man  sieht,  der  Märchendichter  der  Zeit  des  Vormärz  ist  opti- 
mistisch; seine  Satire  trägt  einen  gutmütigen  Zug,  sein  Humor  ist 
milde  und  freundlich.  Das  Hoffmannsche  Grauen  vor  dem  Auto- 
maten liegt  ihm  fern;  er  spottet  der  guten  Leute,  die  den  Kunst- 
ersatz der  Sache  vorziehen  —  sie  tun  es,  weil  sie  selbst  verbildet 
und  verkünstelt  sind,  während  die  schlichten  Fischer  gar  wohl 
merken,  daß  dem  Gesänge  der  künstlichen  Nachtigall  der  eigent- 
liche Reiz  fehlt,  und  der  Sieg  bleibt  denn  auch  dem  schlichten 
Waldvogel. 

Man  wird,  um  den  Wandel  der  Zeiten  zu  veranschaulichen, 
dem  Andersenschen  Märchen  eine  moderne  Geschichte  von  K.  H. 
Strobl  gegenüberstellen  dürfen,  die  sehr  bezeichnend  Der 
Triumph  der  Mechanik'^  heißt.  Da  verlangt  ein  amerikanischer 
Erfinder  von  dem  Bürgermeister  einer  Stadt  die  Konzession  für 
eine  Fabrik  automatischer  Spielsachen;  als  sein  Gesuch  ab- 
geschlagen wird,  droht  er,  eine  Milliarde  automatischer  Kaninchen 
auf  die  Stadt  loszulassen.  Man  lacht  ihn  aus,  er  aber  macht  seine 
Drohung  wahr.  Überall  erscheinen  Kaninchen:  sie  dringen  in  die 
Wohnungen,  springen  auf  Tische  und  Stühle,  liegen  in  den  Betten 
und  bedecken  die  Straßen,  unzählig  und  unvertilgbar,  da  sie  un- 
zerbrechlich sind.  Vor  diesen  Tieren  mit  den  stumpfen,  roten 
Glasaugen,  dem  höhnischen  Zug  um  den  Mund,  dem  'starren 
Lächeln  lebloser  Dinge',  macht  die  Stadt  "alle  Gefühle  durch  vom 
spöttischen  Achselzucken  über  ohnmächtigen  Zorn  bis  zu  Bestürzung, 
Verzweiflung,  Grauen  und  Ekel.  Als  Hopkins  gar  verkündigt,  seine 
Kaninchen  würden  auch  noch  fressen,  als  er  vor  den  Augen  einer 
großen  Versammlung  den  Beweis  führt,  da  tut  man  ihm  den 
Willen.  Gewiß:  das  fressende  Kaninchen  war,  wie  Hopkins  nach- 
her dem  Bürgermeister  sagt,  ein  natürliches  —  zur  Sache  tut  das 
aber  nichts:  diese  guten  Leute  hat  das  Grauen  vor  dem  Mechani- 
schen gepackt;  ihren  gepeinigten  Gehirnen  wird  die  Vorstellung 


Tn  Bedenksame  Historien,  Berlin  1907. 


8  Homunculi  uud  Androiden 

glaubhaft,  diese  entsetzlichen  Geschöpfe  könnten  auch  noch 
fressen,  und  da  bricht  der  letzte  Widerstand  zusammen:  die  Natur 
dient  nur  dazu,  die  Kunst  vollkommen  triumphieren  zu  lassen. 

Hier  hat  sich  ein  grotesker  Humor  eines  Problems  bemächtigt, 
das  für  unsere  Zeit  wieder  sehr  bedeutsam  geworden  ist;  der 
Siegeszug  der  Technik  hat  uns  eine  Mechanisierung  des  Lebens 
gebracht,  und  zwar  eine  Mechanisierung  von  unten  auf,  im  Gegen- 
satz zu  jener  aus  philosophischen  Theorien  abgeleiteten,  gegen  die 
sich  die  Romantiker  wehrten.  Demgemäß  ist  auch  das  Symbol, 
unter  dem  wir  diese  Erscheinung  begreifen,  ein  anderes  geworden. 
Die  Romantiker  sprachen  vom  Marionettenspiel  des  Lebens,  von 
den  Fäden,  an  denen  die  Puppen  gelenkt  werden;  wie  fremd  uns 
dies  Symbol  geworden  ist,  haben  wir  alle  gefühlt,  als  es  G  e  r  h  a  r  t 
Hauptmann  in  seinem  Festspiel  zur  Jahrhundertfeier  wieder 
hervorholte.  Wir  haben  uns  dagegen  gewehrt,  daß  unsere  große 
nationale  Vergangenheit  uns  im  Bilde  des  Puppenspiels  vorgeführt 
wurde,  und  das  geschah  nicht  nur  aus  vaterländischem  Empfinden, 
sondern  auch  aus  dem  Gefühl,  daß  wir  wahrhaftig  keinen  Grund 
haben,  der  Zeit  Goethes,  Schillers  und  der  Romantik  die  innere 
Freiheit  und  Selbstbestimmung  zu  verkleinern.  Als  wir  den  hun- 
dertsten Todestag  Schillers  begingen,  ist  es  uns  ja  sehr  deutlich 
bewußt  geworden,  daß  wir  die  Männer  von  Jena  und  Weimar 
brauchen,  weil  sie  den  Ausgleich  gefunden  hatten  zwischen  Not- 
wendigkeit und  Freiheit.  Ganz  anders  als  die  Geschlechter  der 
Vergangenheit  sind  wir  eingefügt  in  die  gewaltige  Organisation 
des  staatlichen  und  gesellschaftlichen  Lebens;  vorbei  ist  das  Still- 
leben, das  einst  der  einzelne  im  wesentlichen  auf  sich  selbst  gestellt 
führen  konnte;  das  Maschinenzeitalter  hat  im  öffentlichen  wie  im 
privaten  Leben  den  Großbetrieb  als  den  einzig  lohnenden  er- 
scheinen lassen;  sein  Symbol  aber  ist  die  Maschine,  die  durch 
ihre  mechanische  Tätigkeit  soundsoviel  Arbeiter  ersetzt,  deren 
Leistung  dabei  billiger,  gleichförmiger,  unermüdlicher,  kurz  un- 
persönlicher ist  als  die  der  Menschenkraft.  Der  einzelne  erscheint 
als  Rädchen,  das  sich  dreht,  weil  es  sO  sein  muß,  weil  andere 
Räder  es  treiben,  die  selbst  wieder  von  einer  Kraft  in  Bewegung 
gesetzt  werden.  Diese  Kraft  ist  dem  einzelnen  fremd,  unkontrol- 
lierbar; automatisch  scheint  ihm  das  ganze  Wesen,  von  dem  er 
selbst  ein  -^dllenloser  Teil  ist. 

'Was  ist  das  Höchste,  das  wir  im  gesellschaftlichen,  im  geschäft- 
lichen Umgang  am  Menschen  schätzen?  Doch  nur  das  Korrekte,  die 
gesetzmäßige  Funktion.  Wer  ist  der  Brauchbarste?  Der  heute  ar- 
beitet wie  gestern,  der  gestern  gearbeitet  hat,  wie  er  morgen  arbeiten 
wird  . . .  Was  schätzen  Sie  an  Ihren  Untergebenen?  Die  maschinen- 
mäßig verläßliche  Funktion  .. .',  das  ist  eine  Stelle  aus  einem 'phan- 
tastisch-satirischen' Roman  Sehie  FjXzeUenz  der  Automat,  in  dem 


Homunculi  und  Androiden  9 

Leo  Gilbert^  versucht  hat,  der  Zeit  einen  Spiegel  vorzuhalten. 
Er  läßt  einen  genialen  Techniker  einen  x\utoniaten  konstruieren, 
einen  vollkommen  menschenähnlichen  Androiden;  eine  Unzahl 
von  Räderwerken  lassen  ihn  gehen,  sprechen,  essen;  er  ist  so  ein- 
gerichtet, daß  er  auf  gewisse  Schlagworte  reagiert,  seine  Ansichten 
vorträgt,  auf  wahrscheinliche  Einwürfe  wahrscheinliche  Ant- 
worten bereit  hat.  Warum  denn  auch  nicht:  'unser  Geistesleben 
besteht  aus  feststehenden  Verbindungen  zwischen  Eindrücken, 
Empfindungen  und  Begriffen',^  'jeder  Durchschnittsmensch  besitzt 
eine  Anzahl  von  Ideen,  eine  beschränkte  Zahl;  die  variiert  er  nach 
Belieben  ...  es  ist  also  nichts  einfacher,  als  einem  Automaten  vier 
oder  sechs  oder  sagen  wir  zwanzig  leitende  Grundideen  zu  geben, 
Grundlagen  seiner  Tüchtigkeit,  und  in  seinem  Räderwerk  Spiel- 
raum zu  lassen  für  die  zahllosen  möglichen,  mannigfaltigsten 
Kombinationen  dieser  zwanzig  Ideen' !  ^  Der  Erfinder  will  seinen 
Automaten  verkaufen,  er  hat  ihn  zum  erstenmal  einigen  Inter- 
essenten vorgeführt  —  als  er  ihn  nachher  abstellen  will,  geschieht 
das  Unerwartete.  Der  Android  ist  so  eingerichtet,  daß  er  etwaige 
Angriffe  mit  Maschinenkraft  zurückweist;  der  Erfinder  bekommt 
es  zu  spüren:  ein  Stoß  schleudert  ihn  zu  Boden,  der  Automat  ver- 
läßt das  Zimmer. 

Er  tritt  jetzt  als  Großindustrieller  auf;  die  Ideen,  die  ihm 
sein  Schöpfer  mitgegeben  hat,  befähigen  ihn  zu  einer  glänzenden 
Laufbahn.  Er  wird  ein  hochangesehener  Mann,  Direktor  einer 
industriellen  Gesellschaft,  macht  seinem  Erbauer  seine  Braut  ab- 
spenstig und  bringt  es  schließlich  zum  Minister.  Als  seine  Tätig- 
keit den  Staat  mit  einer  nationalen  Katastrophe  bedroht,  gelingt 
es  endlich  seinem  schon  halb  verzweifelten  Erfinder,  ihn  nacli 
hartem  Kampf  unschädlich  zu  machen. 

Die  angeführten  Stellen  zeigen  zur  Genüge,  worauf  Gilberts 
Satire  hinauswill:  die  meisten  Menschen  sind  Automaten,  in  die 
gewisse  feste  Ideen  hineingepackt  sind  und  die  nun  auf  gewisse 
Schlagworte  reagieren;  der  wirkliche  Automat  paßt  also  zu  ihnen 
als  ihr  eigentlicher  und  rechter  Typus.  Er  paßt  auch  in  das 
Getriebe  des  Lebens  und  des  Staates  hinein:  wo  alles  maschinen- 
mäßig zugeht,  wird  die  vollkommene  Maschine  alle  Ansprüche 
aufs  beste  erfüllen.  Eine  gewisse  Macht  wird  man  also  der  Satire 
nicht  absprechen;  allerdings  ist  Gilbert  kein  Dichter:  für  das 
Dämonische,  das  in  der  Gestalt  seines  selbständig  handelnden 
Androiden  steckt,  für  das  Entsetzliche  der  Vorstellung  der 
menschlichen  Maschine  langt  seine  Kraft  bei  weitem  nicht  aus. 

Doch  hat  die  Idee  ihren  Dichter  gefunden :  das  moderne  Epos 

^   Berlin   u.   Leipzig   1907;    L.    Gilbert   ist   Dejckname    für    Silher- 
stein;    das   Zitat  S.  113. 
2  S.  10.5.       3  S.  116  u.  117. 


10  Homunculi  und  Androiden 

hat  für  seine  Mythologie  zu  diesem  Symbol  gegriffen.  In  S  p  i  t  - 
telers  Olympischem  Frühling  haust  Ananke,  der  Weltherr,  in 
so  etwas  wie  der  Zentrale  eines  ungeheuren  Maschinenbetriebes, 
Tasten  und  Klappen  sprechen  von  verborgenen  Drähten,  die  aus 
aller  Welt  Ecken  die  Kunde  der  Geschehnisse  zu  ihm  leiten;  er 
selbst  prüft  am  Rechentisch  den  Gang  des  Lebens,  der  Gestirne 
Gleichgewicht.  Will  er  genaueren  Bericht,  steckt  er  einem  'klugen 
Eisenmann'  einen  Zettel  ins  Ohr,  dreht  eine  Kurbel  und 

nach  einer  schwangern  Zeit 
Begann  ein  schauerlicher  Eingeweidckarnpf 
Im  Eisenmann,  mit  Krämpfen  und  mit  Fußgestampf. 
Dann  klappt'  er  mit  den  Kiefern,  würgte  und  gebar 
Aus  seinen  Zähnen  einen  langen  Streifen  dar. 
Und  auf  dem  Streifen  stand,  in  Kleinschrift  aufgeschrieben. 
Die  Antwort  auf  Anankes  Frage  und  Belieben.^ 

Neben  diese  allgemeine  Kennzeichnung  automatischen  Trei- 
bens stellt  sich  aber  der  Automat  selbst  als  Sinnbild  von  Anankes 
Wesen.  Das  Lied  des  Sängers  Zagreus^  berichtet  vom  Welten- 
freiheitskrieg. Die  schöne  Kora  ist  in  die  Gewalt  Kirkes,  der 
Tochter  Anankes,  gefallen;  sie  schmachtet  in  der  Unterwelt,  in 
Kirkes  sonnenloser  Burg  Metempsychose.  Einer  ihrer  Brüder 
nach  dem  andern  hat  sie  zu  erlösen  gesucht;  keinem  ist  es  ge- 
lungen, unter  Kirkes  Tieren,  die  alle  die  verwandelte  Kora  sein 
wollen,  die  Schwester  herauszufinden.  Da  versucht  Alastor,  der 
jüngste  Bruder,  das  letzte  Mittel.  Olymp  und  Erde,  alles  Leben- 
dige, führt  er  zum  Sturm  auf  Anankes  'Mörderweltburg',  schon 
ertönt  der  Siegesruf:   'Die  Welt  ist  frei.' 

Doch  jetzt,  von  einem  tückischen  Denkblitz  schlau  beraten, 

Versteckte  sich  Ananke  in  den  Automaten, 

Den  unbeseelten  Eisenriesen,  dessen  Herz 

Aus   Stein  beschaffen,  seine  Panzerhaut  von  Erz. 

Ein   Wellbaumschwung   durch   ewig   fleißige   Räderwerke 

Beköstigt   seiner   Armscharniere  Hammerstärke. 

Sein  Blick  ist  rotes  Feuer  und  sein  Atem  Dampf  . . . 

Auf  ihn  treffen  die  Angreifer : 

'Gleichgültig,    frei    von    Leidenschaft   und   Nervgefühlen, 
Schlug  er  des  Keulenwirbels  nimmermüde  Mühlen. 
Doch  wessen  Leib  und  Leben  traf  sein  Kolbenschlag, 
Und  schöpft  er  aus  gigantischer  Stärke,  der  erlag.' 

Nach  siebentägigem  Kampfe  gegen  das  leblose  Eisen  liegt  auch 

Alastor  zerschmettert: 

'Und  rückwärts  flutete  das  Erdenvolk  mit  Grauen. 

Also  verendete  der  Weltenfreiheitskrieg, 

Da  das  Geschöpf   des   Schöpfers  Mörderburg  erstieg. 


1  Anankes  Halt  Bd.  II  der  neuen  Ausgabe  (Jena  1910),  S.  2.37. 

2  Die  Fahne  Ollin  fällt  TT,  272  ff.,  besonders  279  f. 


Homunculi  und  Androiden  11 

Von   neuem  knirscht  das   Weltall   in    Anankes   Zangen, 
Und   Kora  schmachtet  noch,   in   Kirkes   Haft   gefangen.' 

Wie  verhält  sich  Ananke  zum  Automaten?  Die  Antwort  ist 
nicht  ganz  einfach :  in  der  erstzitierten  Stelle  erscheint  Ananke  als 
Weltherrscher,  im  Liede  des  Zagreus  wird  er  ebenfalls  so  genannt, 
und  es  sieht  beinahe  so  aus,  als  benutze  er  den  Automaten  fast 
willkürlich  zu  seiner  Verteidigung.  So  ist  es  aber  wohl  nicht 
gemeint:  der  Automat  ist  das  Sinnbild  des  erbarmungslosen  Welt- 
geschehens, gegen  das  es  keinen  Widerstand  gibt,  Ananke  ist  nur 
das  ausführende  Organ,  der  personifizierte  Ausdruck  des  un- 
abänderlichen Zusammenhangs  der  Dinge.  Als  darum  die  schöne 
Hera,  verbittert  und  verzweifelt,  sich  gegen  die  Weltordnung,  die 
ihr  den  Tod  auferlegt,  zur  Wehr  setzen  will,  da  fragt  sie  nicht 
nach  Ananke,  sie  macht  sich  auf  die  mühselige  Pilgerfahrt  zum 
Automaten.  Der  Tod  selbst  —  auch  er  nennt  sich  des  Automaten 
Diener  —  schärft  ihr  das  Ohr,  daß  sie  aus  dem  Grund  das 
dröhnende  Tosen  hervordringen  hört  wie  von  Myriaden  Maschinen, 
er  öffnet  ihr  die  Augen,  daß  sie  den  'Horst'  des  Automaten  auf 
dem  Unheilsberge  'Böse'  erspäht;  endlich  steht  sie  vor  einem 
Mauerring  von  Stein,  vom  Dach  lockt  höhnisch  der  Zuspruch: 
'Kommet  alle.'  Der  Automat  selbst  erscheint  als  eherner  Koloß 
mit  Kieselmaske  auf  ungeschlachtem  Eisenriesenroß;  pfeifend  und 
feuerschnaubend  bewegt  er  sich  im  Kreise,  gleich  Eädern  rollen 
die  Hufe  seines  Rosses.  Seine  Bahn  aber  bedecken  winzig  kleine 
Geschöpfe,  vernunftbegabt  scheinen  sie,  streiten  sich  um  Recht 
und  Unrecht,  Weisheit  und  Wahn:  der  Automat  zermalmt  sie, 
gleichgültig  seinen  Weg  fortsetzend. 

'Das  war  das  Stück,  vor  welchem  geistlos,   schreckentkräftet, 
Die  Fürstin  stand,  den  Angstblick  auf  den  Brei  geheftet. 
Da  stieß  der  Tod  sie  mit  dem  Ellenbogen:   "Juch! 
Fang  an,  klag'  jetzt  dem  Automaten  dein  Gesuch!" 
Da  senkte  sie  das  Haupt,  erhob  den  Wanderstab 
Und  kehrte  rückwärts  den  Enthoffnungsberg  hinab.'^ 

Die  Großartigkeit,  mit  der  hier  eine  Auffassung  des  Welt- 
geschehens ins  Mythologische  gesteigert  worden  ist,  wird  niemand 
bestreiten;  die  neue  Mythologie,  die  einst  die  Romantiker  for- 
derten, ohne  sie  doch  anders  als  andeutungsweise  geben  zu  können, 
ist  hier  in  einer  mächtigen  Dichtung  gestaltet;  freilich  von  dem 
bitteren  Pessimismus  des  Automatensymbols  hätte  sich  ein 
Novalis  schaudernd  abgewandt,  und  auch  Spitteler  schließt  sein 
Werk  mit  dem  trotzigen  'Dennoch'  von  Heroldes'  Erdenfahrt. 
Denkt  man  an  frühere  Behandlungen  unseres  Motivs,  so  mag  E.  T. 
A.  Hoffmanns  Gestalt  auftauchen:  der  Alpdruck,  von  dem  er  sich 

1  llera  und  der  Tod,  ebenda  II,  337  f. 


12  Homunculi  und  Androiden 

durch  die  Schilderung  der  seelenlosen  Puppe  befreite,  ist  hier  zu 
einem  kosmischen  Symbol  gestaltet;  was  dort  Einzelfall  war,  ist 
zur  Form  des  gesamten  Lebens  geworden,  unter  der  nun  auch  das 
Individuum  begriffen  werden  kann.  Hera,  geschändet  von  des 
Automaten  Hohn,  flucht  allem  Lebendigen,  da  kriecht  ihr  ein 
Schlänglein  über  den  Weg  —  sie  schleudert  es  halb  mechanisch 
beiseite: 

'Ein  Sieggedanke:  "Ha,  auch  ich  bin  Automat! 

Mit  Energie  geladen,  kraftgespannt  zur  Tat! 

So  habt's  denn:   Ihr  bleibt  stumm  und  kalt  bei  meinen  Leiden, 

Hei  nun,  so  will  ich  mich  an  euren  Qualen  weiden"  .  . .'  ^ 

Hera  ein  Automat  —  wenn  auch  natürlich  nur  in  übertragenem 
Sinne;  ist  das  aber  denkbar,  so  kann  man  auch  vom  Automaten 
als  Menschen  reden,  und  wir  sind  wieder  bei  dem  Problem  der 
künstlichen  Schöpfung. 

Die  dichterische  Anteilnahme  daran  ist  in  neuerer  Zeit,  wie 
oben  schon  angedeutet,  gerade  durch  die  Besonderheit  unseres 
technischen  Zeitalters  gefördert  worden.  Nicht  immer  war  wie 
bei  Hamerling  der  Zorn  des  Dichters  Muse.  Wenn  schon  nicht 
zu  verkennen  ist,  daß  die  Technik  mit  der  romantischen  Ver- 
gangenheit des  Waldhorns  und  der  Postkutsche  gründlich  auf- 
geräumt hat,  wenn  die  Entwicklung  des  modernen  Lebens  in  alle 
Verhältnisse  eine  Uniformierung  gebracht  hat,  die  man  in  der 
Vorzeit  nicht  kannte,  so  sind  anderseits  auch  wieder  der  Phan- 
tasie und  dem  Erleben  ganz  ungeahnte  Möglichkeiten  erschlossen 
worden.  Jedes  neue  technische  Wunder  eröffnete  dem  Blick  neue 
Fernen;  wenn  jemals,  so  weiß  die  Naturwissenschaft  in  unseren 
Tagen,  daß  ihre  Ergebnisse  nur  vorläufig  sind,  daß  hinter  jeder 
beantworteten  Frage  sich  eine  neue  erhebt.  Gevnß,  die  große 
Menge  ahnt  davon  nichts,  ist  zufrieden,  wie  herrlich  weit  man  es 
doch  gebracht  habe;  um  so  begieriger  spüren  unbefriedigte  Ge- 
müter nach  Anzeichen  dafür,  daß  unter  der  gleichförmigen  Decke 
der  Zivilisation  noch  immer  seltsame  Abgründe  sich  auftun.  Wir 
haben  es  mit  angesehen,  wie  in  unserer  anscheinend  so  nüchternen 
Zeit  eine  lebhafte  Anteilnahme  erwachte  für  alles  von  der  Norm 
Abweichende:  dem  Unerklärlichen,  den  Nachtseiten  der  mensch- 
lichen Natur  hat  man  zur  Zeit  der  Romantik  kaum  begieriger 
nachgespürt.  In  den  sechziger  Jahren  war  Verne  eine  Einzel- 
erscheinung gewesen  —  jetzt  haben  wir  ganze  Gruppen  von 
Phantasten;  man  lese  einmal  nach,  wie  die  Literaturgeschichte 
der  Vergangenheit  über  HofFmann  urteilte,  sehe  z.  B.,  was  der 
seinerzeit  für  breite  Schichten  der  Gebildeten  einfach  klassische 


A.  a.  O.  TT,  :^39. 


Homunculi  und  Androiden  13 

V  i  1  m  a  r^  urteilt:  'wer  seinem  Kater  Murr,  seinen  Teufelselixieren 
. . .  Geschmack  abgewinnen  kann,  für  den  ist  schwerlich  Schiller 
und  Goethe  noch  vorhanden,  geschweige  denn  ein  Nibelungenlied 
oder  ein  Homer'  —  heute  ist  Hoffmann  zu  hohen  Ehren  ge- 
kommen, mit  Poe  der  Schutzpatron  einer  ganzen  Reihe  unserer 
Jüngsten. 

Unter  solchen  Umständen  ist  auch  unser  Motiv  recht  üppig 
gediehen,  und  zwar  in  allen  seinen  Formen.  Gewiß  war  nirgend 
die  Überlieferung  ganz  erloschen:  beginnen  wir  mit  Gestaltungen 
des  Automatenmotivs,  so  wollen  wir  nicht  vergessen,  daß  Hoff- 
nianns  Beliebtheit  in  Frankreich  auf  der  Opernbühne  deutliche 
Spuren  hinterlassen  hat.  Allbekannt  ist,  daß  der  Sandmann  bei 
Hoffmanns  Erzählungen,  der  Oper  Offenbachs,  Pate  gestanden 
hat,  und  noch  andere  Titel  wären  zu  nennen:  Adams  Nürnherger 
Puppe,  A u d r a n s  Puppe,  das  Ballett  Coppelia  von  Delibes  — 
all  das  sind  aber  literarisch  gar  zahme  Erzeugnisse,  denen  man 
einen  Ehrgeiz,  dichterisch  aus  dem  Motiv  etwas  herauszuholen, 
nicht  nachsagen  wird.  Noch  in  romantischer  Zeit  taucht  in  einer 
1828  zuerst  veröffentlichten  Novelle  Leitners,  Meister  Kun- 
hert,^  der  dämonische  Automatenerbauer  auf,  aber  er  ist  kein 
Prometheus,  sowenig  wie  die  Opernpuppen  etwas  anderes  sein 
sollen  als  eben  Puppen.  Die  neuere  Phantastik  aber  hat  den 
letzten  Schritt  getan:  sie  hat  die  Androiden  lebendig  werden 
lassen. 

In  satirischer  Wendung  haben  wir  dies  Motiv  schon  bei  Gil- 
bert kennengelernt:  er  dürfte  beeinflußt  gewesen  sein  von  einem 
genialen  Vorgänger,  der  als  Dichter  sich  des  Stoffes  bemächtigte, 
von  dem  Franzosen  Villiers  de  l'Isle  Adam.  Sein  großer 
Roman  L'i^ve  future  ist  1886  erschienen,  augenscheinlich  in  seinen 
technischen  Umständlichkeiten  durch  Verne  bestimmt,  aber  weit 
über  den  bescheidenen  Vorgänger  hinausragend.  Der  Dichter 
braucht  für  sein  großes  "Werk  einen  Faust,  und  da  er  nicht  in  die 
romantische  Vergangenheit  zurückgehen,  sondern  seiner  Zeit  den 
Spiegel  vorhalten  will,  hat  er  Umschau  gehalten  unter  den  Größen 
der  Gegenwart,  und  da  schien  ihm  der  'Zauberer  von  Menlo-Park', 
Edison,  dessen  Ruhm  damals  gerade  die  Welt  durchlief,  eben 
recht.  Der  geniale  Erfinder  sieht  einen  Krebsschaden  der  Zeit  in 
der  Gefährdung  der  Ehe  —  die  Dirne  ist  die  Todfeindin  der 
Familie.  Er  hat  erlebt,  wie  ein  glückliches  Leben  durch  ein  käuf- 
liches Geschöpf  zerbrach,  und  was  den  ungetreuen  Gatten  ver- 
führt hat.  das  war  nicht  der  Geist  einer  Aspasia,  der  Leib  einer 
Phryne,  sondern  die  gemeine,  dürre  Alltäglichkeit  irgendeines 
Weibes,  die  es  durch  raffinierte  Toilettenkünste  verstand,  seine 


23.  Auflage  S.  46.5.      2  Neudruck  Novellen  und  Gedichte  1880. 


14  Homunculi  und  Androiden 

Sinne  aufzupeitschen.  Sie  ist  tot  —  in  einer  Schublade  bewahrt 
Edison  ihre  Reize  auf:  an  diesen  unsagbar  verächtlichen  Dingen 
ist  ein  Menschenglück  zugrunde  gegangen,  und  der  Fall  ist  wahr- 
lich nicht  vereinzelt,  er  ist  typisch  für  die  moderne  Zivilisation. 
Wenn  aber  erlogenes  Dirnentum  die  Heiligkeit  der  Ehe  gefährden 
kann,  ist  es  dann  nicht  besser,  mit  der  Täuschung  Ernst  zu 
machen,  zum  Schutz  des  Familienglücks  ein  Weib  künstlich  zu 
konstruieren?  Das  wäre  dann  doch  eine  ehrliche  Wahrheit;  schön 
wie  die  Venus  könnte  solche  Androide  sein,  und  wenn  die  Weis- 
heit der  Philosophen,  die  Kunst  der  Dichter  geplündert  werden, 
um  ihre  Sprechwalzen  auszustatten,  dann  kann  ein  ideales  Weib 
erstehen  an  Stelle  des  verächtlichen  Schädlings. 

Nur  —  wer  wird  den  Anfang  machen  wollen  mit  der  künst- 
lichen G-eliebten?  Der  Mann  findet  sich.  Ein  englischer  Lord  ist 
an  eine  Geliebte  gekettet,  die  im  Louvre  im  Bilde  der  Venus  von  Milo 
ihr  Ebenbild  erkennen  darf;  aber  dieser  Frau  fehlt  jedes  Innen- 
leben: sie  ist  gemein  in  Fühlen  und  Denken,  verständnislos,  die 
bare  Prosa  und  noch  dazu  schlechte  Prosa.  Ihr  Geistiges  ver- 
leidet Lord  Ewald  ihren  Leib  —  ja,  wer  diese  Seele  von  diesem 
Körper  trennte!  Edison  verheißt  dem  Freunde  etwas  ganz  Ähn- 
liches; seine  unbegreiflichen  Künste  vermögen  die  Androide,  die 
er  konstruiert  hat,  zum  genauen  Abbild  alles  Physischen  jener 
'bourgeoisen  Venus'  zu  machen.  Lord  Ewald  will  sich  mit  seiner 
Geliebten  auseinandersetzen,  zum  letztenmal  trifft  er  sie  im  Park, 
der  Edisons  Laboratorium  umgibt;  er  ist  in  begreiflicher  Auf- 
regung, und  da  scheint  es  ihm.  als  ob  nun,  da  es  sich  um  die 
Trennung  handelt,  etwas  natürliches  Gefühl  in  seiner  Partnerin 
erwacht.  Hat  er  ihr  doch  unrecht  getan?  Soll  er  sich  der  Puppe 
hingeben,  wenn  das  lebendige  Weib  ihm  Verständnis  und  Liebe 
verheißt?  Mag  Edison  doch  seinen  Automaten  behalten:  ins  Ohr 
der  Lebendigen  stammelt  er  von  neuem  Liebesworte  —  das  ist 
Edisons  Triumph,  denn  Lord  Ewald  hat  nicht  zu  Miß  Alicia 
Clary,  sondern  zu  seinem  Geschöpf,  der  Androide,  gesprochen. 

Der  Triumph  ist  aber  nur  scheinbar.  Gewiß,  Edisons  Werk 
ist  gelungen,  seine  Androide  wäre,  so  wie  sie  von  ihm  konstruiert 
ist,  von  lebendigen  Frauen  zunächst  nicht  zu  unterscheiden  — 
aber  nie  hätte  sie  Lord  Ewalds  Herz  gewinnen  können.  ^  Das 
Wunder  in  Wielands  Idris  hat  sich  in  moderner  Form  wieder- 
holt: eine  geheimnisvolle  Mitarbeiterin  Edisons,  die  infolge  be- 
sonderer Schicksale  zur  psychischen  Abnormität  geworden  ist, 
tritt  in  mystische  Verbindung  mit  der  Androide  und  macht  sie 
zu  mehr  als  einem  kunstvollen  Automaten.  Das  bedeutet,  daß 
Edisons  ehrgeizigster  Traum  doch  eigentlich  tragisch  zerrinnt, 
der  Meister  versteht  am  Ende  sein  eigenes  Geschöpf  nicht,  das 
sich  in  etwas  von  ihm  nicht  Gewolltes  gewandelt  hat;  der  Dichter 


Homunculi  und  Androiden  15 

selbst  gerät  aber  auch  in  einige  Verlegenheit,  was  denn  nun  mit 
dieser  beseelten  Androide  werden  soll:  er  hat  sich  gar  einfach 
durch  einen  Schiffsbrand  geholfen.  Alles  in  allem  bleibt  also,  in 
unserem  Zusammenhang  gesehen,  der  Roman  vor  dem  Ziele 
stecken :  Villiers  de  l'Isle  Adam  hat  sich  gewiß  die  Aufgabe  nicht 
leicht  gemacht,  sein  Schiff  fährt  schwer  befrachtet  mit  philo- 
sophischen Erörterungen  über  das  Problem  des  körperlichen  und 
geistigen  Lebens,  über  die  Frage  der  Persönlichkeit,  über  Schein 
und  Wahrheit,  als  Ballast  erscheinen  geradezu  die  technischen 
Auseinandersetzungen,  die  von  hundert  Lesern  vielleicht  einem 
verständlich  sein  werden,  und  trotz  alledem  greift  der  Dichter 
schließlich  zum  rein  zufälligen  Wunder;  das  Dämonische  fliegt 
von  außen  dem  Werke  der  Mechanik  an,  statt  seine  eigene  Aus- 
geburt zu  sein. 

Immerhin  bleibt  L'Eve  future  die  geistig  bedeutsamste  Auto- 
matendichtung der  neueren  Zeit.  Zwar  verwendet  auch  H  u  y  s  - 
maus  A  rebours  des  dekadenten  Helden  Freude  an  der  künst- 
lichen Nachbildung  des  Lebendigen  als  charakteristischen  Zug, 
doch  immerhin  nur  nebenbei;  zwar  haben  andre  die  letzte  Mög- 
lichkeit des  Motivs  herausgeholt  —  doch  ihnen  fehlt  jenes  etwas, 
das  die  Erfindung  aus  dem  Bereich  der  Anekdote  in  das  der  Dich- 
tung hebt.  Das  gilt  von  zwei  Novellen  des  in  vielen  Sätteln  ge- 
rechten K.  H.  Strobl.  Die  jüngere,  Das  Aderlaßmännchen, '^  ist 
eine  bloß  wunderliche  Vermischung  des  Motivs  vom  lebendigen 
Toten  mit  dem  des  automatischen  Wesens;  klarer  durchgeführt 
ist  die  ältere  Erzählung  Der  Automat  von  Horneck.^  Da  will  in 
der  Zeit  Josefs  11.  ein  österreichischer  Adliger  auf  seinem  mähri- 
schen Schloß  den  mittelalterlichen  Feudalherrn  spielen;  dazu 
gehört  aber  auch  der  Gefangene  im  Burg\'erlies,  dessen  Ketten- 
geklirr in  sein  üppiges  Schlafgemach  hinauftönen  soll.  Da  er  nun 
Menschen  doch  nicht  mehr  einsperren  kann,  soll  ihm  ein  berühmter 
Automatenbauer  einen  Androiden  schaffen,  dessen  Bewegungen, 
ihm  die  erwünschte  seltsame  Musik  schaffen  sollen.  Der  Meister 
warnt:  'Wir  geben  diesen  mechanischen  Figuren  einen  Antrieb 
zum  Leben,  dessen  täuschende  Gestalt  und  vielleicht  ein  Stück 
dieses  Lebens  selbst.  Aber  wir  können  ihnen  nichts  von  unserem 
Herzen  und  von  dessen  Weichheit  geben  . . .  Ihr  Leben  hat  noch 
immer  die  Grausamkeit  der  toten  Dinge.  Und  wenn  diese  Grau- 
samkeit erweckt  würde,  so  könnte  Furchtbares  geschehen  ...  Es 
ist  nicht  ratsam,  diese  merkwürdigen  Wesen,  die  zmschen  uns 
und  der  unbelebten  Welt  stehen,  schlecht  zu  behandeln.  Sie 
könnten  erwachen  und  sich  rächen.'    Der  Graf  hört  nicht;  so  wird 


^  In  Die  knöcherne  Hand,  München  1914. 

2  In  Die  Eingelungen  des  Arphaxat,  Minden  i.  W.  1904. 


16  Homunculi  und  Androiden 

ihm  denn  sein  Automat  geliefert;  er  wird,  mit  Ketten  beladen, 
ins  Burgverlies  geworfen  und  sogar  von  Zeit  zu  Zeit  ausgepeitscht. 
Da  ruft  eines  Tages  der  Beschließer  den  Grafen  zu  seinem  Ge- 
fangenen, mit  dem  eine  seltsame  Veränderung  vor  sich  gegangen 
sei;  in  der  Tat,  sein  Gesicht,  bisher  rührend  hilflos  in  seinen 
Zügen,  ist  jetzt  erfüllt  von  unerbittlich  grausamem  Ausdruck.  Als 
er  näher  hinzutritt,  wirft  der  Beschließer,  den  der  Graf  tödlich 
gekränkt  hat,  die  schwere  Eisentür  hinter  ihm  zu.  Man  sucht 
schließlich  den  Schloßherrn;  gegen  Abend  findet  man  ihn  wahn- 
sinnig in  den  Ketten  des  Automaten,  im  Bette  des  Grafen  aber 
'lag,  die  seidene  Decke  bis  zum  Halse  heraufgezogen,  mit  harm- 
losem und  zufriedenem  Gesichtsausdruck  —  der  Automat'. 

Auch  die  Homunculi  haben  modernen  Nachwuchs  aufzu- 
weisen; der  Goethische  dürfte  der  unmittelbare  Vater  von  Karl 
Goldmanns  'Weisem  Jungfräulein' ^  sein.  Das  haben  in  Rom 
zwei  mj^stische  Naturkundige  zustande  gebracht;  'die  Substanz, 
das  Ingrediens  aller  irdischen  Erscheinung',  haben  sie  'erst  aus 
der  zartesten  Materie  extrahiert,  dann  in  eine  gröbere  gebannt'; 
die  Gestalt  eines  lieblichen  Jungfräuleins  hat  es  angenommen, 
und  nun  schwebt  es  von  geheimnisvollen  Dämpfen  umgeben  in 
einer  Flasche  gar  wunderlich  auf  und  ab.  Als  die  geformte  Sub- 
stanz steckt  es  hinter  allen  Erscheinungen,  kennt  also  wie  der 
Homunculus  des  Paracelsus  alle  Geheimnisse;  drum  werden  alle 
Theologen,  Philosophen,  Naturforscher  Roms  eingeladen,  das 
Wunder  zu  beschauen  und  es  nach  der  Wahrheit  ihrer  Lehre  zu 
fragen.  Sie  kommen,  ein  Vertreter  jeder  Richtung  fragt  und 
wird  zur  Freude  der  anderen  spöttisch  heimgeschickt  —  da  ver- 
einen sich  endlich  alle  in  den  Schrei  'Was  ist  Wahrheit?',  und  ein 
tragisches  Gelächter  ist  die  Antwort:  der  Schöpfer  aber  zer- 
schmettert sein  Wunderwerk. 

Das  weise  Jungfräulein  ist  gar  keine  unebene  Base  ihres 
klassischen  Vetters,  wenn  auch  nicht  zu  verkennen  ist,  daß  sie 
weniger  um  ihrer  selbst  als  um  der  Pilatusfrage  und  der  beson- 
deren Art  der  Antwort  willen  geschaffen  ist.  Dagegen  hat  nur 
die  Freude  an  den  modernen  Wundern  das  Kino  zu  unserm  Motiv 
geführt:  ein  Drama  Homunkulus  war  1916  Zugstück  der  Licht- 
bildtheater und  füllte-  mit  seinen  sechs  Teilen  gleich  mehrere 
Abende.  Auch  die  Opernbühne  hat  den  älteren  Automaten- 
spielen eine  Homunculusoperette  zugesellt:  Der  hünstliche  Mensch 
von  Willner  und  Österreicher  wurde  mit  der  Musik  von 
Leo  Fall  1915  im  Berliner  Theater  des  Westens  zum  erstenmal 
aufgeführt. 

Neben  die  chemischen  Männlein  und  Fräulein  treten  auch  in 


Berlin  1912. 


Homuuculi  und  AndroicU'u  17 

neuerer  Zeit  von  der  Natur  selbst  auf  geheimnisvolle  Art  ge- 
schaffene Homunculi.  Etwas  wie  ein  Mittelding  zwischen  mecha- 
nischer Figur  und  Alraun  ist  Pinocchio  oder,  wie  er  deutsch  heißt, 
Zäpfel  Kern,  der  Held  von  Le  avventure  di  Pinocchio.  Storia  dl 
an  harattino.  Das  italienische  Original  von  C  o  1 1  o  d  i  ist  mir 
nicht  zugänglich,  es  soll  in  Italien  als  Jugendschrift  große  Ver- 
breitung erlangt  haben,  indessen  dürfte  für  unsern  Zweck  die 
deutsche  Bearbeitung  von  Otto  Julius  Bierbaum^  genügen. 
Danach  bringt  ein  geheimnisvoller  Mann  ein  Tannenscheit  zu 
einem  Schreiner,  aber  es  ist  ein  Scheit  besonderer  Art:  es  trägt 
von  vornherein  einen  Namen,  'weil  es  aus  einem  Tannenzapfen 
oder  genauer  aus  einem  Kern  in  einem  Tannenzapfen  gekommen 
ist.  Aus  einem  Kern  voller  Leben'.  Als  lebendig  erweist  sich 
denn  auch  das  Scheit  sehr  bald;  ein  Schnitzer  macht  eine  Mario- 
nette daraus,  und  diese  benimmt  sich  alsbald  wie  ein  kleiner 
Mensch.  Das  Buch  erzählt,  wie  er  durch  mancherlei  Schicksale 
aus  einem  unbesonnenen,  zu  allem  Schabernack  aufgelegten,  nur 
seinen  Trieben  folgenden  Kobold  zum  verständigen,  aufopferungs- 
fähigen Kerlchen  wird  —  zum  Schluß  verzichtet  der  Verfasser 
darauf,  ihn  zum  wirklichen  Menschen  zu  machen,  weil  er  ein 
Bild  des  Menschen  sein  und  deshalb  im  Fabellande  bleiben  soll. 
Das  wirkt  etw^as  erkältend,  wie  denn  schließlich  die  ganze  Er- 
findung, losgelöst  wie  sie  erscheint  von  ihren  volksmäßigen  Wur- 
zeln, etwas  Gewaltsames  hat;  aber  eigentlich  dichterische  An- 
sprüche lagen  wohl  auch  dem  A^erfasser  sehr  fern.  Ob  der  be- 
hauptete Erfolg  in  Italien  dauernd  gewesen  ist,  weiß  ich  nicht; 
von  deutschen  Bearbeitungen  kenne  ich  außer  der  Bierbaums  noch 
zwei^  andere  —  daß  irgendeine  rechten  Anklang  gefunden  hat. 
glaube  ich  nicht. 

Den  richtigen  Alraunen  ist  es  nicht  besonders  ergangen;  mehr- 
fach behandelt  ist  das  Motiv  zwar  im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts 
worden,  so  von  Otfried  Mylius  (Karl  Müller)  im  Glas- 
männchen,^  von  Baumbach  in  Trug-Gold,^  aber  das  war  in 
der  guten  alten  Zeit:  dort  erscheint  es  als  törichter  Aberglaube 
ungebildeter  Leute,  hier  wird  ein  Liebhaber  okkulter  Weisheit 
mit  einer  schnöden  Zaunrübe  betrogen.  Aber  auch  hier  ist  die 
Gegenwart  zur  wirklichen  Phantastik  zurückgekehrt:  Heinz 
Hanns  Ewers  hat  der  alten  Fabel  in  seinem  Roman  Alraune, 
die  Geschichte  eines  lebenden  Wesens^  eine  besondere  Wendung 
gegeben. 


1  Zäpfel  Kerns  Ahentetier,  Köln  o.  J.  [1912]. 

-  Uippeltitsülis  Ahenteuer,  Kattowitz,  Phönix-Verlag,  und  Die  Geschichte 
vom.  hölzernen  Bengele   (bearbeitet  von  Gramann),  Freiburg  i.  Br.  1913. 
»  1853,  jetzt  beiReclam.      «  1883,  Kap.  ITT. 
5  München  1911. 
Archiv  f.  n.  Sprachen.    139.  2 


18  Homunculi  und  Androiden 

Bei  einer  Einsegnungsfeier  —  man  muß  schon  sagen,  aus- 
gerechnet bei  einer  solchen  Feier  —  wird  von  einem  der  An- 
wesenden die  Alraunensage  erzählt,  und  es  genügt,  um  den 
Wandel  der  Zeiten  zu  ermessen,  wenn  man  diese  Darstellung  mit 
der  Achims  von  Arnim  vergleicht.  Da  ist  von  keiner  Ideali- 
sierung mehr  die  Rede:  'der  Verbrecher,  splitternackt  am  Kreuz- 
wege gehängt,  verliert  in  dem  Augenblick,  in  dem  das  Genick 
bricht,  seinen  letzten  Samen.  Dieser  Samen  fällt  zur  Erde  und 
befruchtet  sie  . . .'  Die  Erzählung  erweckt  in  Erank  Braun,  dem 
Helden  des  Romans,  den  Gedanken,  ein  solches  Wesen  zu  schaffen; 
er  gewinnt  seinen  Oheim,  den  berühmten  Physiologen  Jakob  ten 
Brinken,  für  den  Plan:  mit  dem  Samen  eines  Verbrechers  soll  eine 
Dirne,  in  der  sich  die  Zeugungskraft  der  Erde  symbolisiert,  künst- 
lich befruchtet  werden;  so  geschieht  es,  und  Alraune  ten  Brinken 
wird  geboren. 

Sie  ist  kein  Wurzel wesen,  wie  es  die  Sage  verlangt;  aber  wenn 
Ewers  vom  Alraun  berichten  läßt,  daß  er  Glück  in  Prozessen  und 
im  Kriege  brachte,  viel  Geld  ins  Haus  zog  und  seinen  Besitzer 
liebenswert  machte,  daß  er  bei  alledem  dennoch  Leid  und  Qualen 
schuf,  auf  die  anderen  Hausgenossen  Unheil  herabrief  und  seinen 
Herrn  zu  Geiz,  Unrecht  und  allen  Verbrechen  trieb,  so  trifft  das 
alles  zu  auf  den  Einfluß,  den  Alraune  ausübt.  Ihr  Wesen  hat 
etwas  Koboldhaftes,  von  Menschlichkeit  Unberührtes;  es  ist,  als 
ob,  dämonische  Naturkräfte  in  ihr  und  durch  sie  wirken.  Ihr 
'Vater',  der  alte  ten  Brinken,  wird  ein  gewaltiger  Grundherr, 
alle  seine  Unternehmungen,  selbst  die  anscheinend  unmöglichen, 
gedeihen,  der  Boden  speit  ihm  förmlich  Schätze;  aber  er  verliert 
im  Banne  Alraunens  auch  alles  Gefühl  für  Ehre  und  Menschlich- 
keit, wird  zu  ihrem  willenlosen  Sklaven  und  endet  durch  Selbst- 
mord. Ähnlich  ergeht  es  ihren  Spielkameraden  und  Verehrern 
—  im  einzelnen  haben  wir  nicht  nötig,  Alraunens  Schicksale  und 
ihren  Untergang  zu  erzählen;  es  genügt,  aufzuweisen,  daß  Ewers 
versucht  hat,  aus  der  alten  Eabel  doch  etwas  mehr  als  den  Namen 
seiner  Heldin  zu  entnehmen.  Daß  bei  dieser  Mischung  moderner 
Physiologie  und  mittelalterlicher  Dämonie  etwas  sehr  Erfreu- 
liches herausgekommen  ist,  kann  man  nicht  behaupten:  diese 
Ewerssche  Alraune  ist  ein  Zufallsprodukt,  ihre  mystischen  Eigen- 
schaften sind  ihr  einfach  zudiktiert,  damit  der  Verfasser  Gelegen- 
heit erhält,  allerhand  wenig  erfreuliche,  für  natürliches  Empfin- 
den recht  widerliche  Dinge  zu  erzählen. 

Das  ist  es  ja  überhaunt.  was  einen  bei  diesen  modernen  Dich- 
tungen häufiff  nicht  recht  froh  werden  läßt:  sie  wirken  nicht  als 
dichterische  Bekenntnisse  wie  Hoffmanns  und  Poes  Phantasien, 
sie  sind  nicht  aus  einer  mit  gläubiger  Seele  erfaßten  Natur- 
anschauung hervorgegangen  wie  romantische  Erzeugnisse  —  sie 


Homunculi  und  Androiden  19 

machen  einen  etwas  kalten  Eindruck,  als  habe  der  Verfasser  nur 
aus  Gründen,  die  mit  innerem  Erleben  wenig  zu  tun  haben,  nach 
dem  Stoff  gegriffen;  es  gilt  die  Aufmerksamkeit  zu  erregen  durch 
seltsame  Erfindungen,  eine  Modeströmung  auszunützen  und  sie 
um  der  Wirkung  willen  zu  übertreiben. 

Ein  wenig  ist  das  auch  der  Eindruck,  den  die  beiden  Schöp- 
fungen hinterlassen,  die  (den  Verfassern  wohl  unbewußt)  das 
Tiecksche  Vogelscheuchenmotiv  erneuert  haben.  Hermann 
Eßwein  erzählt  in  seinem  Herr  Krautmann,^  wie  in  einem 
glühendheißen  Sommer  sich  ein  Lebensmüder  in  der  Nähe  einer 
Vogelscheuche  erschießt.  Da  geschieht  etwas  Wunderbares:  der 
'zuckende  Todestanz  und  Unglückstaumel  . . .  dies  wilde  Kampf- 
spiel eines  Untergehenden  war  von  besonderer  Kraft.  Des  Todes 
geheimnisvolle  Wandlungsmächte,  erhöht  durch  den  in  diesem 
Sommer  unerhörten  Einfluß  der  Gestirne,  brausten  und  zitterten 
in  der  hageren,  schwarzen  Gestalt,  brachen  als  Ströme  dunkler 
Kraft  aus  seinen  Augen  und  Haaren  . . .  und  weckten  wunderlich 
tolles,  überhitztes  Leben  ringsum  in  der  vegetativen  und  anima- 
lischen AVeit  . . .  aus  dem  Blute  des  Sterbenden  rinnt  es  und  quillt 
es  wie  ein  fieberndes  Sichweithinwegwünschen  und  einer  wirren 
Sehnsucht  dumpfes  Drängen':  das  alles  läßt  dann  irgendwie  den 
Herrn  Krautmann  lebendig  werden.  Die  Vogelscheuche  zieht 
die  Beine  aus  dem  Boden  und  stapft,  die  Landstraße  entlang,  7mx 
Stadt,  'irgend  etwas  Lichtem  und  Gutem  hingegen'.  Aber  der 
Homunculus  scheitert  in  seinem  dumpfen  Drang;  während  ein 
unheimliches  Gewitter  tobt,  gerät  er  in  ein  vornehmes  Restaurant, 
der  Oberkellner  naht  dem  seltsamen  Gast,  da  löst  ein  Blitzschlag 
'mit  einem  jähen  Ruck  die  übernatürliche  Spannung,  die  den 
Herrn  Krautmann  aufrecht  gehalten',  er  bricht  zusammen,  und 
die  alte  Vogelscheuche,  die  für  eine  knappe  halbe  Stunde  der 
schmerzlich  um  ein  bewußtes  Seelenleben  ringende  Herr  Kraut- 
mann gewesen  war,  wird  hinausgekehrt  in  die  Müllgrube. 

Ein  merkwürdiges  Gegenstück  ist  die  ungefähr  gleichzeitige 
Novelle  von  Oskar  H.  A.  Schmitz,  Herr  von  Vepmster  und 
sein  Vojmnz:^  der  am  Leben  zu  Grunde  gehenden  stellt  sie  die 
das  Leben  besiegende  Vogelscheuche  gegenüber.  Gespenster 
sind  halbabgestorbene  Seelen,  Seelenreste,  und  vne  alles  in  der 
Natur  nach  Steigerung  seines  Lebens  strebt,  so  auch  die  Ge- 
spenster; sie  wollen  heraus  aus  dem  Schattendasein,  wollen  sich 
einsaugen  in  Wirtskörper  und  so  in  die  Wirklichkeit  gelangen. 
Herr  von  Pepinster  hat  in  seinem  Feld  eine  Vogelscheuche  auf- 
stellen lassen  und,  einer  Laune  folgend,  sie  mit  eigenen,  eben  ab- 


^  In  Megander,  der  Mann  mit  den  zween  Köpfen,  München  1912. 
2  Die  neue  Rundschau   (1912)   Bd.  II,  1709  ff. 


20  Homunculi  und  Androiden 

gelegten  Kleidungsstücken  ausgestattet.  In  diesen  ist  noch  so 
etwas  wie  aufgespeicherter  Lebensinstinkt,  gerade  genug,  um 
ein  Gespenst,  das  in  den  Popanz  fährt,  einigermaßen  wesenhaft 
zu  machen.  So  wird  die  Vogelscheuche  lebendig  und  ein  Doppel- 
gänger des  Herrn  von  Pepinster.  Der  ist  ein  Ästhet,  ein  Zu- 
schauer des  Lebens;  er  weiß  dem  Popanz,  der  sich  an  seine 
Schritte  heftet,  keine  Widerstandskraft  entgegenzusetzen  und 
verliert  sich  selbst.  Sein  Doppelgänger  tritt  an  seinen  Platz, 
Herr  von  Pepinster  wird  zur  Vogelscheuche. 

Am  meisten  Aufmerksamkeit  unter  allen  Homunculi  und 
Androiden  hat  aber  in  neuerer  Zeit  der  Golem  erregt,  der  durch 
einen  großen  buchhändlerischen  Erfolg  sogar  in  aller  Mund  ge- 
kommen ist.  Arnims  Golemfigur  hat  damit  nichts  zu  tun,  der 
Isahella  von  Ägypten  war  kaum  ein  augenblicklicher,  sicher 
nicht  ein  nachhaltiger  Erfolg  beschieden:  wer  las  denn  noch 
Arnim,  nachdem  die  Zeit  der  Romantik  vorbei  war!  Nur  ein 
Nachhall  seiner  Schöpfung  findet  sich  in  Annette  von  Droste- 
Hülshoffs  Gedicht  Die  Golem  (Mehrzahl,  entstanden  1844) : 
die  Figur  wird  hier  als  Symbol  für  Menschen  gebraucht,  die  mit 
der  Jugend  auch  deren  Ideale,  deren  warme  Empfindung  ver- 
loren haben  und  nun  nur  noch  ein  totes  Abbild  ihres  einstigen 
besseren  Selbst  sind.  Abgesehen  von  diesen  die  Sage  nur  ver- 
wendenden, nicht  darstellenden  Versen  sind  die  modernen  Golem- 
dichtungen ohne  Zusamenhang  mit  dieser  ersten  von  neuem  aus 
der  jüdischen  Überlieferung  erwachsen,  und  zwar  aus  einem 
anderen  Zweige  der  Sage.  Von  polnischen  Juden  hatte  Jakob 
Grimm  seine  Wissenschaft;  die  beiden  jüdischen  Schriftsteller, 
die  etwa  gleichzeitig  unabhängig  voneinander  die  Sage  er- 
neuerten, Gustav  Philippson^  und  Abraham  T  e n d  1  a u, ^ 
schöpften  aus  dem  Sagenkreis  des  Hohen  Rabbi  Low,  des  be- 
rühmten Prager  Rabbi,  dessen  Grab  noch  heute  auf  dem  Prager 
«ludenfriedhof  gezeigt  wird.  Beide  erzählen  in  herzlich  schlechten 
Versen  mit  einzelnen,  hier  gleichgültigen  Abweichungen  dieselbe 
Geschichte:  der  Rabbi  hat  sich  aus  Lehm  einen  Golem  gemacht, 
ihn  durch  den  Schem  belebt  und  verwendet  ihn  als  Diener;  nur 
am  Sabbat  wird  der  Schem  herausgenommen,  damit  der  Knecht 
den  Tag  des  Herrn  nicht  entweihe.  Doch  einmal  vergißt  es  der 
Rabbi;  er  ist  schon  in  der  Synagoge,  als  ihm  sein  Versäumnis 
einfällt  (die  Folgen  werden  verschieden  geschildert)  —  eiligst 
stürzt  er  nach  Hause,  zum  Glück  ist  der  Sabbat  noch  nicht  völlig 
angebrochen,  und  so  gelingt  es  ihm  noch  rechtzeitig,  seinem 
Diener  den  Schem  zu  entreißen.  Seitdem  hat  er  den  Ton  nicht 
mehr  belebt  —  der  Brauch  der  Prager  Altneusynagoge,  das  Ein- 

^  Der  Golem  {Allgemeine  Zeitung  des  Judentums,  5.  Jahrg.),  Leipzig  1841. 
*  Das  Buch  der  Sagen  und  Legenden  jüdischer  Vorzeit,  Stuttgart  1842. 


Homunculi  und  Androiden  21 

leitungslied  zum  Sabbat  zweimal  zu  singen,  die  Tonfigur  des 
Golem  auf  ihrem  Boden^  sollen  Erinnerungen  an  den  Vorfall  sein. 

Wie  alt  die  Sage  ist,  läßt  sich  nicht  feststellen.  Tendlau, 
der  ein  guter  Kenner  dieser  Dinge  war,  bemerkt,  daß  er  nur 
aus  mündlicher  Überlieferung  von  ihr  wisse;  nach  Nathan  Grün^ 
erwähnt  sie  der  erste  Biograph  Löws,  Maier  Perls,  im  Jahre 
1718  nicht,  weil  sie  eben  allgemein  bekannt  war,  wozu  man  viel- 
leicht ein  Fragezeichen  machen  darf.  Für  die  Verbreitung  der 
Sage  spricht,  daß  die  Sippurim,  die  große  Sammlung  von  Ghetto- 
sagen, jüdischen  Mythen  und  Legenden,  deren  erster  Band  ohne 
Jahr,  aber  ebenfalls  in  den  vierziger  Jahren  in  Prag  erschien,^ 
sich  förmlich  entschuldigen,  daß  sie  die  Geschichte  erzählen,  man 
könne  sonst  denken,  sie  sei  übersehen. 

Doch  nicht  nur  in  diesen  jüdischen  Kreisen  sah  die  Mitte  des 
Jahrhunderts  ein  kurzes  Aufleben  des  Golemmotivs.  Zeitlich 
gehört  schon  das  Gedicht  der  Droste  hierher,  allerdings  nur 
zeitlich,  da  sie,  deren  Lebenskreise  sich  mit  denen  der  Grimms 
und  Arnims  berührten.  Isabella  von  Ägypten  wohl  zweifellos 
kannte.  Dagegen  liegt  der  Zusammenhang  mit  der  Prager  Über- 
lieferung auf  der  Hand  bei  der  1842  im  ersten  Bande  des  Jahr- 
buches Lihussa  veröffentlichten  Erzählung  Der  Rabbi  von  Prag 
von  Therese  v.  M.,  hinter  welchem  Decknamen  sich  nach 
W u r z b a c h^  die  Gattin  des  Herausgebers  Paul  Aloys  Klar 
verbergen  soll.  Der  Stoff  der  Novelle  ist  Kaiser  Rudolfs  Besuch 
bei  dem  berühmten  Rabbi,  ein  Liebesverhältnis  eines  Adligen  zu 
einer  Jüdin  spielt  hinein;  der  Golem  ward  verwandt,  aber  es  ist 
bezeichnend  für  die  Stimmung  der  Zeit,  daß  er  nichts  anderes  ist 
als  eine  automatische  Figur,  ein  mechanisches  Kunststück,  das 
sich  durch  ein  Uhrwerk  bewegt  und  gegängelt  werden  muß,  um 
nicht  Tische  und  Gläser  umzuwerfen.  In  welchem  Verhältnis 
zu  dieser  Erzählung  des  deutsch-böhmischen  Dichters  U  f  f  o 
Hörn  Drama  Der  Babbi  von  Trag  steht,  läßt  sich  nicht  sagen. 
Es  fand  sich  in  seinem  Nachlaß  vor;  Wurzbach,  der  vermutet, 
daß  es  der  Novelle  seinen  Stoff  entlehnt  habe,  kennt  es  aber 
nur  dem  Titel  nach,  und  ob  es  in  die  posthume  Ausgabe  der  Ge- 
sammelten Werke^  aufgenommen  worden  ist,  habe  ich  leider 
nicht  feststellen  können.  Endlich  haben  noch  die  fünfziger 
Jahre  einen  verspäteten  Nachzügler  dieser  Rabbi-Löw-Dichtun- 
gen  gesehen:  den  Operntext  Ein  Steinwurf  oder  Opfer  um  Opfer, 
den  kein  Geringerer  als  Friedrich  Hebbel^  1858  für  Rubin- 

1  Die   Figur    ist    bei    der    Renovierung    vergebens    gesucht   worden;    vgl. 
N.  Grün,  Der  Hohe  RaMi  Low  und  sein  Sagenkreis  (Prag  188.5)   S.  39. 
-  A.  a.  0.   37.       '  Herausgegeben  von  Poscheies. 
*  Vgl.  Grülparzer-JahrUich  Bd.  13. 
5  Braunau  1906 — 08.       6   Siakularausgabe.   Erste  Abteilung.   Dramen   IIT. 


22  Homunculi  und  Androiden 

stein  verfaßte,  ohne  daß  freilich  dieser  sich  für  die  Komposition 
begeistern  konnte.  Auch  hier  ist  der  Rabbi  rationalistisch  ge- 
faßt: er  gilt  als  im  Besitz  übernatürlicher  Kräfte,  ist  es  aber 
nicht;  sein  getreuer  Joel  fordert  ihn  auf,  in  der  Not  der  Juden- 
verfolgung den  'Bleichen'  zu  rufen,  'der  in  einem  Winkel  kauert', 
den  Golem,  der  'den  heiigen  Schem  im  Munde,  Nimmer  faul  und 
nimmer  satt.  Mehr  erschlägt  als  Goliath'  —  aber  es  wird  nicht 
klar,  ob  eine  solche  Figur,  selbst  nur  als  mechanisches  Kunst- 
werk, überhaupt  vorhanden  ist. 

Es  scheint,  als  ob  dann  die  Kunde  vom  Golem  auf  Jahr- 
zehnte verschollen  ist:  jedenfalls  ist  nicht  zu  sagen,  wie  sie  zu 
einem  Dichter  gedrungen  ist,  bei  dem  man  einen  derartigen  Stoff 
von  vornherein  eigentlich  nicht  suchen  würde,  zu  Detlev  von 
Liliencron.  Vielleicht  ist  ihm  die  Volksausgabe  der  Sip- 
purim^  in  die  Hände  gefallen,  vielleicht  sind  Prager  Freunde 
die  Vermittler  gewesen;  jedenfalls  deckt  sich  seine  Ballade  Der 
Golern^  im  wesentlichen  mit  der  böhmischen  Überlieferung.  Nur 
der  Ton  ist  anders  genommen:  Liliencron  war  gar  nicht  feierlich 
gestimmt,  als  sich  ihm  die  Legende  zum  Gedicht  formte.  Er 
schildert  mit  kurzen,  derben  Strichen,  wie  der  Rabbi  sich  seinen 
Golem  aus  Holz  schnitzt,  wie  der  Diener  fegt,  kocht,  Stiefel 
wichst  und  Fenster  putzt,  bis  der  Herr  dann  einmal  vergißt,  ihm 
den  Schem  herauszunehmen.  Was  geschah?  'Rasend  wurde, 
dwatsch  der  Golem,  Ein  Berserker  ward  der  Kerl';  mit  humo- 
ristischer Übertreibung  wird  geschildert,  wie  er  tobt,  Häuser  in 
die  Wolken  'wuppt',  den  Hradschin  auf  den  Kopf  stülpt;  ein 
groteskes  Bild  gibt  das  Ringen  des  Rabbis  mit  seinem  Geschöpf 
ab:  'hopsa,  hopsa,  was  für  Sprünge',  bis  endlich  der  Schem  ge- 
packt ist  und  der  Golem  zerschmettert  daliegt.  Gar  lakonisch 
schließt  der  Dichter: 

'Nicht  noch  einmal  hat  der  Rabbi 

Einen  Golem  sich  geschnitzelt, 

Jede  Lust  war  ihm  vergangen : 

Allzu  klug  ist  leicht  zu  dumm.' 

Für  Liliencrons  burschikosen  Mangel  an  Feierlichkeit  ent- 
schädigen genugsam  die  folgenden  Bearbeiter,  die  das  Motiv  mit 
schwerem  Ernst  auffassen.  Der  nächste  ist  Arthur  Holit- 
scher,  der  Verfasser  einer  'Ghettolegende  in  drei  Aufzügen' 
Der  Golem. ^  Sein  Rabbi  —  er  trägt  einen  neuen  Namen  —  ist 
ein  faustischer  Übermensch,  ein  Gottsucher  und  Gottringer;  den 
Golem  hat  er  sich  geschaffen  aus  der  Fülle  seiner  Macht  heraus, 
in   prometheischem    Kraftgefühl,   und    seine   Gemeinde,   die  das 


1  Herausgegeben  von  J.  Brandeis.     2.  Auflage.     Prag  IJ 

2  Gesammelte  Werke  Bd.  III   {Bunte  Beute). 
s  Berlin  1908. 


Homunculi  und  Androiden  23 

gesehen  hat,  traut  ihm  nun  auch  das  letzte  Wunder  zu:  wer  den 
Golem  aus  Ton  und  Lehm  schaffen  konnte,  der  muß  auch  dem 
toten  Menschen  den  Odem  wieder  einflößen  können.  Der  Rabbi 
vermißt  sich  des  Versuches,  aber  da,  auf  der  Höhe  seines  Lebens, 
trifft  ihn  Gottes  Hand.  Während  er  vergeblich  sich  müht,  dem 
Tode  das  Leben  abzuringen,  entgleitet  ihm,  was  er  für  unver- 
lierbar hielt.  Die  urwüchsige  Kraft  des  Golem  hat  sein  Töchter- 
lein Abigail  gereizt,  im  lockenden  Spiel  erweckt  sie  in  dem  halb- 
lebendigen Gebilde  neue  Gefühle.  Ein  dumpfes  Bewußtsein 
seiner  selbst  erwacht  in  dem  Golem;  er  weigert  dem  Rabbi  den 
Dienst,  und  Abigail  fordert  von  dem  Vater,  daß  er  ihn  nun  ganz 
zum  Menschen  mache.  Aber  der  Rabbi  weiß  jetzt,  daß  er  über 
die  Kraft  hinausgewollt  hat;  dem  Golem  fehlt  zum  Menschen, 
was  ihm  selbst  zum  Gott  fehlt:  da  begeht  Abigail  Selbstmord, 
der  Golem  aber  reißt  sich  selbst  den  Schem,  der  ihm  das  Leben 
gibt,  von  der  Brust;  kann  er  nicht  als  Mensch  leben,  so  findet  er 
doch  den  Weg  zum  freien  Tode,  zum  Tode  des  Menschen.  Der 
Rabbi  bleibt  allein  zurück:  Gott  ist  der  Starke,  er  hat  ihn  zer- 
brochen. 

Die  Auffassung  des  Stoffes  erinnert  an  die  Prägung,  die  ihm 
Mary  Shelley  gegeben  hat:  hier  wie  dort  der  Sturz  des  Über- 
menschen, die  Empörung  des  Geschöpfes  gegen  den  Schöpfer; 
wenn  aber  der  englische  Roman  seine  Spannung  in  dem  romanti- 
schen Schauer  der  Ereignisse  suchte,  so  liegt  der  Reiz  des  Dramas 
wesentlich  in  der  Romantik  der  Zustände.  Eine  seltsame  Luft  weht 
in  ihm:  ein  mystischer  Wunderglaube  hebt  diese  Menschen  hin- 
weg über  ihre  eingeschränkte,  gedrückte  äußere  Lage,  ihre  geistigen 
Führer  sind  versunken  in  asketisches  Studium  und  spüren  nicht, 
wie  man  um  sie  her  schielt  nach  den  Freuden  der  Welt;  hier  ist 
uns  alles  fremd  nach  seinem  Dichten  und  Trachten:  es  sind  eben 
Menschen  und  Dinge  des  Ghettos.  Als  sein  Erzeugnis  erscheint 
uns  denn  auch  der  Golem:  ein  oder  mehrere  Grade  seltsamer  als 
die  anderen,  aber  auch  sie  sind  nicht  Vollmenschen,  sondern  in 
der  Dumpfheit  ihres  Wesens  befangene  Kreaturen.  Wie  sich  das 
auf  der  Bühne  als  darstellbar  und  wirksam  bewähren  würde,  steht 
dahin;  Holitscher  aber  hat  jedenfalls  den  Weg  eingeschlagen,  der 
für  die  moderne  Golemdichtung  bezeichnend  ist:  der  Golem  ist 
ihm  ein  Mittel,  die  Ghettoromantik  zu  schildern. 

Wo  aber  ist  die  zu  Hause,  wenn  nicht  im  alten  Prag,  der 
Stadt,  in  der  Rabbi  Low  gelehrt,  in  der  Kaiser  Rudolf  IL  ihn  zu 
geheimnisvoller  Zwiesprache  auf  den  Hradschin  entboten  hat? 
Holitscher  hat  merkwürdigerweise  Prag  gemieden:  sein  Werk 
spielt  in  irgendeiner  deutschen  Stadt  im  frühen  Mittelalter.  Da 
mag  es  denn  als  Fortschritt  gelten,  wenn  der  zweite,  der  den 
Stoff  für  die  Bühne  erobern  wollte,  ihn  wieder  nach  Prag  in  die 


24  Homunculi  und  Androiden 

Zeit  des  Astrologenkaisers  verlegt  —  das  ist  freilich  auch  das 
einzige  Gute,  was  man  über  die  ungeschickte  Dilettantenarbeit, 
das  'kabbalistische'  Drama  Der  Bahbiner  von  Prag  von  Jo- 
hannes Heß  (Karlsruhe  1914)  sagen  kann. 

Völlig  als  Zubehör  zum  alten  romantischen  Prag  erscheint  der 
Golem  in  den  letzten  beiden  dichterischen  Gestaltungen  des  Mo- 
tivs —  das  Kinodrama  Der  Golem  (1915)  sei  nur  nebenher  er- 
wähnt — ,  nämlich  in  Gustav  Meyrinks  erfolgreichem  Roman^ 
und  in  Auguste  Hauschners  Novelle  Der  Tod  des  Löwen} 
Freilich  im  engeren  Sinne  gehört  Meyrinks  Buch  gar  nicht  in 
den  Rahmen  dieses  Aufsatzes:  es  wird  in  ihm  kein  Golem  er- 
zeugt, noch  gehört  ein  künstlicher  Mensch  zu  seinen  Personen. 
Die  Geschichte  wird  erzählt  und  insofern  fortgebildet,  als  in 
jedem  Menschenalter  einmal  ein  Fremdling  im  Prager  Juden- 
viertel auftauchen  soll  als  Vorzeichen  besonderer  Ereignisse  — 
eben  der  Golem.  Seine  Erscheinung  wird  aufgefaßt  als  ge- 
schaffen durch  die  besondere  Art  des  Ghettos  und  seiner  Leute, 
er  wird  ein  Symbol  dieses  seltsamen  Lebens  und  Treibens,  das 
Meyrink  schildert  wie  keiner  vor  ihm,  im  besonderen  scheint  der 
Held  des  Romans,  der  Träumer,  der  Fremdling  im  Leben,  das  er 
mit  vierzig  Jahren  nach  einer  langen  Nacht  des  Wahnsinns  wie 
von  neuem  anfängt,  in  dem  Golem  das  Sinnbild  des  eigenen 
Daseins,  ein  zweites  Ich  erkennen  zu  sollen. 

Um  so  wirklicher  ist  der  Golem  Auguste  Hauschners: 
dem  bloßen  Symbol  stellt  sie  die  Legende  in  ihrer  örtlichen  und 
zeitlichen  Bedingtheit  gegenüber.  Dabei  hütet  sie  sich,  den 
Golem  auch  nur  zu  einer  Hauptperson  zu  machen;  ihr  geht  es  um 
die  Gestalt  des  einsamen  Habsburgers,  dem  ein  Löwe  der  beste 
Freund  ist.  Der  tief  unbefriedigte,  nach  Macht  und  Erkenntnis 
suchende  Rudolf  IL  begehrt  von  Rabbi  Low  den  Schlüssel  zur 
tiefsten  Weisheit  der  Kabbala.  Um  seines  Volkes  willen  entschließt 
sich  der  Rabbi  zu  dem  Frevel,  den  Fremden,  Uneingeweihten  in  die 
Geheimnisse  seines  Gottes  blicken  zu  lassen  —  sein  Werk  scheitert 
an  der  eigenen  Tochter,  die  sein  mystisches  Schauen  stört.  Des 
Kaisers  Blick  fällt  auf  sie,  und  in  ihm,  der  schon  von  der  letzten 
Lebenskraft  zehrt,  erwacht  eine  wilde  Begier:  da  tritt  ihm  des 
Rabbis  gewaltiger  Diener,  der  Golem,  entgegen;  seiner  Kraft,  die 
vor  keiner  irdischen  Majestät  zurückscheut,  erliegt  Rudolf;  als 
ein  Gebrochener  verläßt  er  das  Haus  des  Rabbi.  Das  aber  ist 
nur  eine  Episode  in  der  farbenreichen  Dichtung,  die  das  Prag 
Rudolfs  in  Bildern  voll  eigentümlich  flackernder  Beleuchtung 
heraufbeschwört:  die  persönliche  Umgebung  des  Kaisers  und 
seine  Gelehrten,  den  Hradschin  und  die  Judenstadt,  Politik  und 


1  Leipzig  1915;   zuerst  1914/15  in  den  Weißen  Blättern. 


2  Berlin  1916. 


Homunculi  und  Androiden  25 

kabbalistische  Mysterien,  im  Mittelpunkt  von  alledem  Rudolfs 
rätselvolles  Wesen  in  seinen  letzten  Tagen  —  vor  dem  großen 
Vorbild  Grillparzers  braucht  sich  die  Verfasserin  mindestens 
nicht  zu  schämen.  Der  Golem  aber  ist  meisterhaft  verwertet  als 
das,  was  er  in  solchem  Zusammenhang  sein  kann,  als  Episode. 
Seine  Grestalt  bleibt  im  Zwielicht,  taucht  auf  und  verschwindet; 
daß  er  das  Wunderwerk  des  Rabbi  ist,  wird  mehr  angedeutet  als 
gesagt.  So  gelingt  es,  der  Gestalt  das  Unheimliche,  Maschinen- 
mäßige zu  schaffen,  das  sie  haben  muß  —  auf  dem  Boden,  wo  sie 
entstanden  ist,  in  der  geheimnisvollen  Atmosphäre  von  Magie 
und  dunkler  Mystik,  ist  die  Sage  erneuert  und  ihr  Geschöpf 
poetisch  geworden  als  ein  Wahrzeichen  des  alten,  romantischen 
Prag. 

Wir  sind  am  Ende:  in  langer  Reihe  sind  sie  an  uns  vorüber- 
gezogen, Vorläufer,  Zeitgenossen  und  Nachfolger  des  Goethi- 
schen  Homunculus  —  eine  recht  bunte  Gesellschaft.  Das  Motiv 
ist  nicht  derart,  daß  es  leicht  aufgegriffen  wird  —  das  könnte 
man  höchstens  von  den  Geschöpfen  der  Opernbühne  und  des 
Kinos  sagen,  bei  denen  dort  der  Reiz  der  von  Menschen  nach- 
geahmten mechanischen  Bewegung,  hier  die  Möglichkeit  phan- 
tastischer Bilder  und  spezifisch  kinematographischer  Über- 
raschungen bestimmend  war  • —  aber  es  paßt  sich  doch  gar  ver- 
schiedenen Stimmungen  und  Naturen  an.  Darum  wird  sich  ja 
kaum  ein  Generalnenner  finden,  unter  dem  all  die  einzelnen 
Variationen  zusammenzufassen  wären.  Hier  eine  spielende  Freude 
an  der  Vortäuschung  des  Lebens,  dort  ein  grübelndes  Sinnen 
über  seine  Bedeutung  und  seine  Bedingungen,  hier  Beseelung  der 
Natur,  dort  Entsetzen  über  ihre  Leblosigkeit,  hier  Einkleidung 
bitterer  oder  gutmütiger  Satire,  dort  Symbol  für  menschliches 
Tun  und  Treiben:  in  mannigfaltiger  Form  hat  das  Problem  die 
Dichter  als  Einzelpersönlichkeiten  gereizt.  Gruppenweise  zu- 
sammengefaßt, wie  es  hier  versucht  ist,  spiegeln  diese  künstlichen 
Menschen  aber  doch  auch  in  ihrer  Weise  den  Geist  der  Zeiten 
wider,  als  deren  sehr  echte  Kinder  sie  sich  erweisen.  Darum 
dürfte  diese  allgemeine  Musterung  doch  nicht  ganz  unlohnend 
gewesen  sein. 

Berlin-Lichtenberg.  Albert  Ludwig. 


Ludwig  Börne  und  Rahel  Varnhagen. 

Mit  zwei  u  n  ged  r  u  ck  ten  Briefen. 

Friederike  Rahel  Yarnhagen  von  Ense,  die  berühmte  Brief- 
schreiberin,  gehörte  zu  den  eifrigsten  Be^vunderern  Börnes. 
Sie  hatte  ein  unendliches  Behagen  an  der  Zeitschrift  'Die  Wage' 
gefunden,  war  mit  Börne  in  Verkehr  getreten,  hatte  bei  ihrem 
Aufenthalt  in  Frankfurt  die  persönliche  Bekanntschaft  des  Jour- 
nalisten gemacht  und  sich  auch  als  Mitarbeiterin  an  seinem  perio- 
dischen Unternehmen  beteiligt.  Die  persönliche  Bekanntschaft 
erneute  sie,  als  sie  sich  1825  in  Frankfurt  befand.  Damals  erhielt 
sie  folgendes  bisher  unbekannte  Schreiben  Börnes,  dessen  Original 
sich  in  der  Königlichen  Bibliothek  zu  Berlin  (Varnhagensche 
Sammlung)  befindet. 

29.  August  1825. 
Gnädige  Frau! 

Sie  haben  gestern  den  Wunsch  geäußert,  einiges  von  meinen  ungedruck- 
ten Schriften  zu  besitzen,  und  ich  habe  mich  im  stillen  sehr  über  diese 
Äußerung  gefreut.  Die  Dankbarkeit  hätte  gefordert,  Ihrem  Wunsche  nicht 
zu  entsprechen,  aber  diese  Tugend  fiel  mir  zu  schwer.  Doch  bin  ich  so  vor- 
sichtig, erst  die  Beharrlichkeit  Ihrer  Wünsche  auf  die  Probe  zu  stellen, 
und  darum  teile  ich  Ihnen  nur  einen  Aufsatz  mit.  Wenn  Sie  standhaft 
bleiben,  werde  ich  mit  meinen  Mitteilungen  fortfahren.  Ich  habe  diesen 
Aufsatz  gewählt,  weil  er  Steffens  betrifft,  den  wir  gestern  etwas  berührten. 
Er  ist  schon  vor  zwei  Jahren  geschrieben,  und  die  Stuttgarter  Zensur  hat 
ihn  nicht  durchgehen  lassen.  Warum  nicht  —  darüber  bitte  ich  Sie  nach- 
zudenken, sobald  Sie  die  Zeit  haben.  Mir  ist  es  unerklärlich  geblieben.  Ich 
kann  es  Ihnen  nicht  verschweigen,  daß  Sie  meine  Ruhe  gestört  haben.  Ich 
lebte  so  zufrieden  mit  meinem  Schicksale,  und  jetzt  haben  Sie  die  heftigste 
Begierde  in  mir  erweckt,  in  Berlin  eine  grüne  Kernsuppe  mit  Ihnen  zu 
essen.  Möge  der  Himmel  diese  neue  Sehnsucht  stillen,  wie  er  schon  manche 
gestillt. 

Darf  ich  Sie  bitten,  mich  der  Hof  rätin  Herz  in  Erinnerung  zu  bringen? 
Ich  grüße  Sie  aufs  freundlichste 

Ihr  ergebener 

Dr.  Börne. 

Über  den  Aufsatz,  von  dem  in  unserem  Briefe  die  Rede  ist, 
soll  gelegentlich  der  Antwort  der  Rahel  etwas  ausführlicher  ge- 
handelt werden.  Diese  Antwort  vom  11.  September  ist  gleichfalls 
bisher  völlig  unbekannt  gewesen.  Das  Original  des  gleich  ab- 
zudruckenden Schreibens  ist  in  dem  Versteigerungskatalog  der 
K.  E.  Henricischen  Buchhandlung  in  Berlin  aufgeführt;  die  Ver- 
steigerung soll  vom  14.  bis  16.  März  1918  in  Berlin  stattfinden. 
Dieser  Brief  ist  ein  ungemein  merkwürdiges  Schriftstück,  ganz 
in  der  Weise  der  Rahel  geschrieben,  sehr  geistvoll,  mit  seltsamen, 
schwen^erständlichen   Ausdrücken.    Er  lautet  folgendermaßen: 


Ludwig  Börne  und  "Rahel  Varnhagen  27 

Berlin.     Sonntag  früh  11   Uhr,  den  11.  Sept.  1825. 

Endlich  schönes  Frankfurter  Wetter.  Machen  Sie  es  sich  zunutze,  lieber 
Dr.  Börne,  daß  ich  Sie  aus  Ihrer  Ruhe  gestört  habe,  und  reisen  nun,  mir 
und  vielen  zu  Nutz  und  Freude,  gleich  ab. 

Noch  ist  das  Wetter  köstlich,  die  Wege  herrlich,  der  Mondschein  tritt 
bald  Avieder  ein.  Sie  kommen  auf  lauter  gute  Wirtshäuser,  (in  Fulda  i  m 
Erbprinzen',  dem  Schlosse  gegenüber,  wenn  es  auch  anders 
lieißen  sollte.     In  Gotha  in  den  'Drei  Mohren'. 

In  Naumburg,  dicht  an  der  Stadt  vor  dem  Jakobstor  im  'Blauen  Stern'. 
In  Wittenberg  in  der  'Traube').  Diners  bekommen  Sie  jetzt  allent- 
halben. (In  Treuenbrietzen  im  'Blücher'.  In  Beelitz  im  'Eatskeller',  zwei 
Schritt  von  der  Post.)  Ich  möchte  Ihnen  Ihre  Pakete  machen,  Ihnen  alle 
Unbequemlichkeiten  wegräumen  und  übernehmen.  Ihre  Gedanken  im  Kopf, 
mit  einem  Griff  der  Hand,  mit  scch.s  eindringlichen  Worten  zum  Entschluß 
knoten.  Knoten,  das  Wort  steht  da.  Sie,  ich  bin  es  gewiß,  werden  auch 
seine  besseren  Seiten  einsehen.  Wie  ich  nur  so  auf  Ihr  Herkommen  dringen 
kann?  Weil  ich  nicht  allein  den  Vorteil  davon  haben  werde  —  würde 
will  ich  gar  nicht  mehr  aufkommen  lassen.  Weil  es  ein  großer  für  Sie 
wäre,  und  dann  gleich  für  viele.  'Nur  Schweigen  ist  schädlich',  Sie  würden 
hier  unfehlbar  schreiben.  Sie  fehlen  mir,  ich  fehle  Ihnen.  Sie  sind  mein 
pair  in  innerer  Seele,  ich  könnte  auch  sagen:  ich  will,  ich  kann  wie  Klär- 
chen  in  Egmont  die  Fahne  sein,  die  Euch  alle  führt.  Aber  ich  bin  auch  die 
Trommel,  die  Schlachtmusik,  der  Feldprediger,  die  restaurierende  Marke- 
tenderin, die  Wäscherin,  die  Pflegerin,  die  Aufhetzerin,  der  Sporn,  führe 
den  Balsam  in  der  Feldapotheke.  Will  auch  zerstreuen,  Komödienbillette 
schaffen,  Früchte,  besseren  Wein.  Will  auch  Sänger  einladen,  dumme,  an- 
genehme Leute,  kurz,  verführen  und  helfen  aus  allen  meinen  Kräften.  Ich 
bin  auch  öfters  Ihrer  —  nämlich  nous  allons  de  pair  et  c'est  la  vraiment 
etre  pair  l'un  pour  l'autre  —  und  das  bin  ich  nur  welche  ganz  bestimmte 
Hilfe  und  Anregung ;  Vormund,  Besorger  auch  Varnhagen ;  welcher  täti- 
ger Anerkenner;   und  das  ist  doch  auch  nur  wieder  einer.^ 

Es  bildet  sich  Kreis  an  Kreis,  schließt  sich  Freund  an  Freund!  Und 
daß  nur  so  viel  Geselliges,  Dummes  vergeht,  regt  ja  am  meisten  zum 
Denken  auf:  mich,  also  auch  Sie.  Hier  bleiben  sollen  Sie  ja  nicht:  ich  sehe 
es  aber  hier  an,  und  Sie  werden  es  einsehen  als  ein  russisches  Bad  der 
Seele.  Alle  Stockungen  werden  gehoben:  die  wenigstens,  die  das  deutsche 
Klima  dem  Geist  zu-  und  entgegenweht.  Sie  schreiben  mir,  wann  Sie 
kommen,  und  daß  es  bald  ist.  Wer  mit  Ihnen  unzertrennlich,  kann  Sie  ja 
begleiten  und  findet  in  allen   Fällen  seine  Eechnung. 

Gewiß  bin  ich  zu  ehrlich,  daß  ich  Ihnen  Ihr  köstliches  Manuskript  wie- 
der zurückschicke,  denn  am  Ende  lassen  Sie  es  trotz  meiner  inständigen 
Bitte  nicht  drucken.  Welcher  Jammer,  welcher  Schaden,  daß  dieser  milde, 
scharfe  Ausspruch  schon  zwei  Jahre  verschlossen  daliegt,  der  einen  so  ge- 
rechten Hunger,  ein  so  dringendes  Bedürfnis  hätte  stillen  können.  Welchen 
Ärger  mußte  man  aushalten:  wie  vielfältig  dachte  ich  einzelnes  aus  diesem 
Aufsatz,  alles  kann  ich  sagen,  ohne  daß  ich  es  je  würde  haben  zusammen- 
fassen können!  Und  so  ging's  allen,  nur  einem  nicht,  und  der  eine  ver- 
schließt's. So  kann  ich  es  nennen,  wenn  ich  nicht  annehme,  was  ich  nicht 
kann,  daß  Stuttgart  der  einzige  Ort  ist,  wo  gedruckt  wird.  Wenn  es  eine 
Möglichkeit  ist,   so  lassen   Sie  es  noch   schleunigst  abdrucken;   es   ist  noch 


^  Der  dunkle,  orakelhafte  Satz,  der  genau  nach  dem  Original  wiedergegeben 
ist,  soll  wohl  bedeuten:  'Ich  bin  Ihnen  häufig  gleich,  manchmal  aber  gehöre 
ich  und  ebenso  Varnhagen  zu  dem  großen  Haufen,  die  Ihnen  nicht  voll- 
ständig gleichstehen,  aber  doch  vermögen,  Ihnen  etwas  zu  sein  und  etwas 
zu  nützen.' 


28  Ludwig  Börne  und  Rahel  Varnhagen 

ganz  an  der  Zeit:  die  Mehrheit  ist  über  diesen  Punkt  nicht  erhellt.  Soll 
es  aber  liegenbleiben  —  ich  sollte  Ihnen  diese  von  mir  ausgeschmückte 
Alternative  gar  nicht  zeigen:  es  ist  ganz  wider  meine  kluge  Einsicht  — , 
so  senden  Sie  es  mir  zurück  oder  vielmehr  bringen  es.  Ich  lasse  es  dann 
abschreiben  und  gebe  es  so  viel  Mensehen  als  möglich,  und  es  ist  in  der 
Art  sehr  viel  möglich.  Das  Druckenlassen  von  diesen  Möglichkeiten  immer 
die  schönste.  Wo  Sie  solche  -\-  von  Bleistift  finden,  da  hat  es  mir  überaus 
gefallen ;  wo  Sie  solche  X  finden,  noch  besser.  Ein  paar  undeutliche  Stellen 
traf  ich  noch,  ich  habe  sie  zu  Ihrer  Beurteilung  angedeutet.  Was  Sie  vom 
Irrtum  sagen,  da  stimme  ich  aus  voller  Brust  bei.  Aber  ich  könnte  doch 
mit  einem  in  die  Wunde  treffenden  Worte  sagen,  welcher  nicht  zu  erdulden 
ist  und  welcher  nur  vom  lieben  Gott,  aber  nicht  von  seinen  Gesellen,  uns, 
geduldet  werden  darf.  Der  willkürliche  nämlich,  der,  welcher  eine  Aktion 
vor  dem  Forschen  erfordert,  nämlich  aus  dem  Felde  des  Forschens  zu  treten 
oder,  wie  Sie  zeigten,  den  Geist  oder  die  Vernunft  aussperrt  oder  kettet: 
dieser  ist  auch  noch  daran  zu  erkennen,  daß  ihm  Dunkel  vorhergeht,  folgt, 
begleitet  und  aufbläst;  der  nennt  die  Vernunft  mit  dem  Beiworte  die  so- 
genannte oder  vornehme.  Sie  ist  so  genannt,  weil  sie  vernimmt;  das  ein- 
zige uns  bekannte  intellektuelle  Vernehmen;  sie  ist  vornehm,  weil  sie  das 
Vornehmste  ist;  das,  welches  alles  anderen  wohl  gleichgeltenden  verliehenen 
Gaben  beleuchtende  Ordnende.  Ein  —  so  aussehender  Strich  mit  Bleistift 
bedeutet  diesen  letzten  Gedanken. 

Seit  heute  vor  acht  Tagen,  wo  ich  ein  eblouissement  hatte  und  davon 
starke  Migräne,  konnte  ich  bis  jetzt  ohne  Kopfweh  nicht  schreiben;  daher 
erst  heute  diese  Zeilen  der  Freundschaft,  des  Dankens,  des  Mahnens.  Sie 
schicken  mir,  noch  ehe  Sie  kommen,  mit  der  fahrenden  Post  (Frau  von 
Varnhagen,  Französische  Straße  20).  Hier  zeige  ich  Ihnen  alles,  was  ich 
mir  aufgeschrieben  habe,  und  gestatte  und  beantworte  Ihnen  jede  Frage, 
ga  est-il  chien.^  Sie  kriegen  Weintrauben,  Feigen,  Orangen,  Ananas  ä  foi- 
son.2  Lassen  Sie  sich  nicht  einreden  von  Herrn  Dr.  Neuburg,  der  hat 
nichts  gesehen:  keinen  Blumenmarkt,  keinen  Fruchtmarkt,  keine  Gärten. 
Im  Frühling  reise  ich  mit  Ihnen  zurück.  Mehr  weiß  ich  in  der  Geschwindig- 
keit nicht,  aber  es  ist  dafür  alles  wahr.  Fr.  Hoffr.*  ist  sehr  empfang-  und 
empfindlich  für  Ihr  schönes  Andenken  und  grüßt  Sie  herzlich  und  ladet  Sie 
auch  ein.  V.  bestürmt  Sie,  zu  kommen,  mit  besten,  schönsten  Grüßen.  Es 
soll  Ihnen  nicht  reuen.  Wie  schön  sprechen  Sie  über  Reue!  Ich  sage 
immer:  Reue  kommt  vor  der  Tat,  nicht  nach  der  Tat.  Nie  habe  ich  das 
bereut,  was  ich  wirklich  wollte.  N  i  e  kann  uns  nur  der  Ausgang  recht 
geben.  'Hast  du  darum  recht,  weil's  dir  der  Ausgang  sagt?'  läßt  Lessing 
in  Emilia  Galotti  sagen.  Noch  eine  Stelle  aus  Angelus,  die  ich  am  meisten 
liebe  und  die  meine  Devise  ist  und  die  weit  oben  stehen  sollte,  müssen  Sie 
jetzt  wissen  und  fühlen: 

'Die  Unschuld  acht'  ich  nur. 
Der  Gott  hat  Witz  beschert, 
Die  aber  den  nicht  hat, 
Ist  nicht  des  Namens  wert.' 


Und  damit  Gott  befohlen. 


Fr.  Varnhagen. 


Sie  schreiben  mir  in  jedem  Falle  gleich. 

Der  am  Schluß  erwähnte  Angelus  ist  der  bekannte,  von  Rahel 
^ehr  geliebte  Schriftsteller  des  17.  Jahrhunderts  Angelus  Silesius. 


1  Ungebräuchliche   Redensart,   eigentlich   in   dem    Sinne  =  ist   das   nicht 
gemein?       ^  Iq  Fülle.       »  Frau  Hof  rätin   (Herz). 


Ludwig  Börne  und  Rahel  Varnhagen  29 

Die  Verse  stehen  unter  dem  Bilde  der  Rahel,  das  dem  bekannten 
Buche  'Rahel,  ein  Buch  des  Andenkens'  beigegeben  ist.  Die  in 
dem  Briefe  angeführte  Fr.  Hofr.  ist  die  Hofrätin  Henriette  Herz. 
Dr.  Neuburg  ist  ein  Frankfurter  Arzt,  der  mit  Börne  gut  bekannt 
war.  Die  Worte  des  Briefes:  'Wer  mit  Ihnen  unzertrennlich'  be- 
ziehen sich  auf  die  wohlbekannte  Frankfurter  Freundin  Börnes, 
Frau  Jeanette  Wohl.  Der  Aufsatz,  der  aus  Zensurrücksichten 
zwei  Jahre  lang  ungedruckt  bleiben  mußte,  ist,  wie  aus  Börnes 
Briefen  hervorgeht,  die  wichtige  Studie  'Die  Apostaten  des  Wis- 
sens und  die  Neophyten  des  Glaubens',  der  wirklich  1823  ent- 
standen, aber  erst  1827  zuerst  im  Morgenblatte  gedruckt  wurde. 
Hier  kommen  wirklich  jene  Stellen  über  Reue  und  Irrtum  vor, 
auf  die  Rahel  anspielt.  (Vgl.  die  von  mir  geleitete  historisch- 
kritische Ausgabe  von  Börnes  Schriften,  Bd.  II,  S.  181 — 189.) 
Die  Stelle  aus  Lessings  'Emilia  Galotti',  Akt  2,  Szene  4,  lautet: 
'Aber,  gute  Claudia,  hattest  du  darum  recht,  weil  dir  der  Aus- 
gang recht  gibt?'  Von  dem  brieflichen  Verkehr  zwischen  Börne 
und  Rahel  ist  nichts  weiteres  bekannt.  Die  Reise  nach  Berlin,  zu 
der  Rahel  den  Frankfurter  Schriftsteller  so  dringend  aufforderte, 
erfolgte  erst  drei  Jahre  später,  im  Jahre  1828.  Sie  hatte  nicht  die 
Wirkung,  die  Beziehungen  zwischen  den  beiden  zu  stärken,  son- 
dern brachte  eine  Entfremdung  zwischen  beiden  hervor.  Diese 
erfolgte  aus  zwei  Gründen.  Zunächst  deswegen,  daß  Börne  zu 
Berlin  sich  wesentlich  in  Kreisen  bew^egte,  die  Rahel  unsj^m- 
pathisch  waren,  nämlich  in  denen  der  Henriette  Herz  und  Ma- 
riane  Saaling,  sodann,  weil  Rahel  und  ihr  Gatte  Varnhagen  Börne 
den  kurz  vorher  erschienenen  Aufsatz  'Einige  Worte  über  die  an- 
gekündigten Jahrbücher  der  wissenschaftlichen  Kritik,  heraus- 
gegeben von  der  Sozietät  der  Wissenschaftlichen  Kritik  zu  Ber- 
lin' übelnahmen.  Börne  selbst  hat  diese  Empfindlichkeit  und  die 
seltsamen  Svenen,  die  sich  daraus  ergaben,  in  seinen  Briefen  aus 
Berlin  1828,  die  von  mir  im  Jahre  1907  veröffentlicht  wurden, 
spöttisch  genug  geschildert. 

Ludwig  Geiger. 


Eine  altenglische  Vision  vom  Jenseits. 

Dem  Beispiele  Max  Försters  (Aiiglia  XLII,  145)  folgend,  lege  ich 
hiermit  den  Fachgenossen  auch  einen  bisher  migedruckten,  alt- 
englischen  Text  vor,  den  ich  vor  Jahren  im  British  Museum  aus 
der  Cotton-Handschrift  Otho  C  I  abgesclmeben  hatte.  Er  schließt 
sich  dort  auf  fol.  143  b  des  zweiten  Teils  an  jene  drei  Geschichten 
aus  den  'Vitae  Patrum'  an.  die  Aßmann  in  Grein -Wülkers  Biblio- 
thek der  ags.  Prosa  III,  195  herausgegeben  hat.  Wie  diese  und 
die  vorhergehenden  Dialoge  Gregors,  ist  auch  er  mit  zerstreuten 
lateinischen  Glossen  versehen,  und  zwar  von  der  Hand  desselben 
alten  Mönches  von  Worcester,  dessen  Tätigkeit  wir  in  verschiedenen 
anderen  Handschriften  beobachten  können  (vgl.  AVolfgang  Keller, 
Die  literarischen  Bestrebungen  von  AVorcester  in  angelsächsischer 
Zeit  S.  20).  Das  beweist,  daß  sich  die  Handschrift  zur  Zeit,  als 
die  Glossen  eingetragen  wurden,  d.  i.  um  das  Ende  des  12.  Jahr- 
hunderts, in  der  Klosterbibliothek  zu  Worcester  befunden  haben 
muß  (vgl.  das  Vorwort  von  H.  Hecht  zu  seiner  Ausgabe  der  Dialoge 
Gregors  in  der  Bibliothek  der  ags.  Prosa  V,  S.  VIII  und  meine 
Bemerkungen  in  diesem  Archiv  106,  S.  176). 

Dem  Inhalte  nach  erweist  sich  der  Text..als  Übersetzung  eines 
Berichtes  des  Bonifatius^  an  Eadburga,  Äbtissin  des  Nonnen- 
klosters auf  Thanet,  über  die  wunderbaren  Visionen,  die  ein  geist- 
licher Insasse  des  Klosters  der  Äbtissin  Milburga  (zu  Wenlock  in 
Shropshire),  während  er  infolge  einer  schweren  Krankheit  im  Schein- 
tode lag,  gehabt  und  dem  Bonifatius  in  Gegenwart  von  Zeugen 
später  wiedererzählt  haben  soll. 

Er  wurde  —  so  gibt  er  an  —  von  seinem  Schmerzenslager  weg, 
des  Körpers  entledigt,  von  Engeln,  deren  Glanz  sein  Auge  blendete, 
in  die  Lüfte  gehoben  und  sah  unter  sich  den  ganzen  Erdkreis  von 
emporzüngelnden  Flammen  mit  Vernichtung  bedroht,  wenn  sie  die 
Engel  nicht  durch  Christi  Kreuzeszeichen  gestillt  und  auch  ihn  vor 
der  Glut  geschützt  hätten.  Und  eine  ungeheure  Menge  von  Seelen, 
die  aus  ihren  Leibern  wanderten,  waren  da  versammelt  und  eine 
unzählige  Schar  böser  Geister  und  ein  glänzender  Chor  himmlischer 
Engel,  die  mit  den  Teufeln  um  die  Seelen  stritten.  Auch  seine 
eigenen  Sünden,  die  er  seit  seiner  Jugend  begangen  und  nicht  ge- 
beichtet oder  vergessen  oder  gar  nicht  als  solche  erkannt  hatte, 
traten  wider  ihn  auf  und  klagten  ihn,  jede  mit  eigener  Stimme,  an. 
Eine  sagte:  'Ich  bin  deine  sündhafte  Begierde';  eine  andere:  'Ich 
bin  deine  Euhmredigkeit' ;  eine  dritte:  'Ich  bin  deine  Lügenhaftig- 


1  Bibliotheca  Rerum  Germaiücarum   edidit  Philippus  Jaffe.     Tomus  III. 
Monumenta  Moguntina.     10.  Epist.,  p.  53. 


Eine  altenglische  Vision  vom  Jenseits  31 

keif,  und  so  fort.  Die  Teufel  aber  stimmten  in  die  Beschuldigungen 
mit  ein  und  bekräftigten  sie,  führten  auch  einen  damals  noch 
lebenden  Mann  herbei,  den  er,  noch  im  weltlichen  Stande,  einst 
verwundet  hatte,  und  dessen  offene  Wunde  laut  wider  ihn  zeugte. 
So  häufte  man  und  rechnete  ihm  vor  die  Zahl  seiner  Sünden,  und 
die  Feinde  erklärten,  er  sei  ihnen  zweifellos  verfallen.  Dagegen 
aber  erhoben  seine  geringen  Verdienste,  ihn  entlastend,  ihre  Stimme. 
Eines  sprach:  'Ich  bin  der  Gehorsam,  den  er  seinen  geistlichen 
Oberen  leistete';  ein  anderes:  'Ich  bin  das  Fasten,  womit  er  gegen 
die  fleischlichen  Begierden  ankämpfte',  und  so  weiter:  eine  jede 
Tugend,  von  den  ihn  verteidigenden  Engeln  noch  vergrößert,  in 
lautem  Widerstreit  mit  dem  entgegengesetzten  Laster.  Unterdes  sah 
er  in  der  Unterwelt  sehr  viele  feurige  Brunnen(schachte),  die  Flam- 
men ausspien;  drin  flatterten  in  Gestalt  schwarzer  Vögel  die  Seelen 
ungKicklicher  Menschen,  die  weinend  und  heulend  ihi'  eigenes  Ver- 
schulden und  die  gegenwärtige  Strafe  dafür  beklagten;  sie  setzten 
sich  ein  wenig  und  klebten  an  den  Rändern  der  Brunnen,  dann 
fielen  sie  wieder  jammernd  hinab.  Und  einer  der  Engel  sagte  ihm: 
'Diese  kurze  Ruhe  bedeutet,  daß  der  allmächtige  Gott  diesen  Seelen 
am  Tage  des  Gerichtes  Linderung  der  Strafe  und  ewige  Ruhe  ge- 
währen wird.'  Aus  der  untersten  Tiefe  aber,  unter  den  Brunnen 
herauf,  hörte  er  das  erschreckliche  Seufzen  und  Weinen  klagender 
Seelen:  derer,  wie  der  Engel  ihm  sagte,  die  zu  ewiger  Qual  in  den 
Flammen  verdammt  sind.  Darauf  sah  er  einen  wunderlieblichen 
Ort,  an  dem  eine  Menge  der  schönsten  Menschen  in  Freude  lust- 
wandelten, die  ihn  einladeten,  zu  ihnen  zu  kommen,  wenn  es  ihm 
g^estattet  wäre;  und  ein  wundersam  süßer  Duft,  der  Odem  jener 
seligen  Geister,  ging  davon  aus.  Das  sei,  erklärten  die  Engel,  das 
berühmte  Paradies  Gottes. 

Auch  einen  grausigen  Fluß  von  brennendem  Pech,  heiß  auf- 
wallend, schaute  er  da;  über  dem  lag  ein  Holz(stück)  statt  einer 
Brücke.  Dahin  eilten  die  heiligen  Seelen,  um  ans  jenseitige  Ufer 
zu  gelangen.  Einige  kamen  ohne  Schwanken  hinüber,  andere  aber 
verloren  das  Gleichgewicht  und  fielen  hinab  in  den  Fluß.  Und 
zwar  wurden  einige  von  ihnen  ganz  darin  untergetaucht,  andere  nur 
teilweise,  bis  zu  den  Knien,  bis  zur  Mitte,  oder  bis  zu  den  Schultern. 
Alle  aber  stiegen  reiner  und  schöner,  als  sie  vorher  gewesen  waren, 
aus  dem  siedenden  Pechfluß  heraus  ans  andere  Ufer.  Und  einer 
der  seligen  Engel  sagte,  das  seien  die  Seelen,  die  von  geringen 
Fehlern  noch  nicht  völlig  gereinigt  aus  dem  Leben  geschieden  seien 
und  einiger  Züchtigung  von  seiten  des  barmherzigen  Gottes  be- 
dürften, um  würdig  vor  ihm  erscheinen  zu  können.  Jenseit  des 
Flusses  erblickte  der  Visionär  glänzende  Mauern  von  wunderbarer 
Länge  und  Höhe,  Das  sei,  sagten  die  Engel,  jene  heilige  und 
ruhmreiche    Stadt,    das    himmlische   Jerusalem,    worin    die   heiligen 


32  Eine  altenglische  Vision  vom  Jenseits 

Seelen  sich  ewig  freuen  würden.  Und  jene  Seelen  und  die  Mauern 
der  glorreichen  Stadt  waren  von  solch  strahlendem  Glänze,  daß 
seine  davon  getroffenen  Augen  sie  nicht  anschauen  konnten. 

Es  kam  da  in  jene  Versammlung  unter  anderen  auch  die  Seele 
eines  Mannes,  der  im  Lehen  Aht  gewesen  war.  Um  die  stritten 
sich  die  bösen  Geister  und  die  Engel.  Da  trat  plötzlich  eine  große 
Schar  glänzend  weißer  Seelen  für  ihn  ein  und  sagten,  der  Mann 
sei  ihr  Vorgesetzter  und  Lehrer  gewesen  und  habe  sie  alle  durch 
seine  Führung  Gott  gewonnen;  um  diesen  Preis  sei  er  aus  der 
Gewalt  der  Teufel  losgekauft  worden.  Und  unter  dem  Beistand 
der  Engel  entrissen  sie  seine  Seele  den  Teufeln,  die  sich  auf  Befehl 
der  Engel  in  die  obenerwähnten  Feuerschlünde  stürzten,  aber  bald 
wieder  emportauchten  und  den  Kampf  um  die  Seelen  von  neuem 
aufnahmen.  Er  konnte  auch  von  den  damals  noch  lebenden  Men- 
schen beobachten,  wie  den  Tugendhaften  unter  ihnen  immer 
schützende  Engel  zur  Seite  waren,  während  den  Sündern  ein  böser 
Geist  zugesellt  war,  der  sie  beständig  verführte  und,  so  oft  sie  sich 
in  Wort  oder  Tat  verfehlt  hatten,  es  den  anderen  bösen  Geistern 
wie  zu  ihrer  Belustigung  verkündete  und  nicht  wartete,  bis  eine 
neue  Sünde  begangen  wurde,  sondern  jede  einzelne  zur  Kenntnis 
der  anderen  brachte.  So  sah  er  auch  ein  Mädchen,  die  in  einer 
Mühle  mahlte  und  sich  verstohlenerweise  einen  neben  ihr  liegenden 
schön  verzierten  Spinnrocken  eines  fremden  Mädchens  aneignete, 
was  daim  von  fünf  der  häßlichsten  Teufel  mit  ungeheurer  Freude 
in  der  Versammlung  angezeigt  wurde.  Ferner  sah  er  die  traurige 
Seele  eines  kürzlich  verstorbenen  Klosterbruders,  der  ihm  sterbend 
aufgetragen  hatte,  seinen  leiblichen  Bruder  zu  bitten,  daß  er  eine 
ihnen  beiden  gemeinsam  gehörende  Sklavin  um  seiner  Seele  willen 
freilasse.  Der  habsüchtige  Bruder  aber  erfüllte  diese  Bitte  nicht, 
worüber  sich  denn  die  genannte  Seele  bitter  beklagte. 

Nun  endlich  hießen  die  seligen  Engel  ihn  unverweilt  wieder  in 
seinen  Körper  zurückkehren  und  alles,  was  ihm  gezeigt  worden  war, 
gläubigen  und  in  guter  Absicht  fragenden  Menschen  offenbaren, 
Spöttern  aber  vorenthalten.  Einer  entfernt  lebenden  Frau  sollte  er 
ihre  Sünden  vor  Augen  führen  und  ihr  sagen,  sie  könnte  Gott 
durch  Buße  wieder  versöhnen;  und  einem  Priester  namens  Begga 
(Bojia)  sollte  er  alle  seine  geistigen  Gesichte  erzählen  und  sich 
von  ihm  weisen  lassen,  wie  er  sie  den  Menschen  offenbare;  sollte 
ihm  auch  die  Sünden,  die  ihm  von  den  unreinen  Geistern  vor- 
geworfen worden  waren,  beichten  und  nach  seinem  Ermessen  büßen; 
und  sollte  sich  von  ihm  bezeugen  lassen,  daß  er  aus  Liebe  zu  Gott, 
ohne  daß  es  jemand  wußte,  viele  Jahre  hindurch  einen  eisernen 
Gürtel  um  die  Lenden  getragen  habe. 

Nichts  —  erklärte  der  Visionär  am  Ende  seines  Berichtes  — 
von  allem,  was  er  während   seiner  Entrückung   gesehen,   erschien 


Eine  altenglisclie  Vision  vom  Jenseits  33 

ihm  so  widerlich  und  übeh'iechend,  außer  den  Dämonen  und  dem 
lodernden  Feuer,  wie  sein  eigener  Körper.  In  diesen  kehrte  er  auf 
Befehl  der  Engel  beim  Anbruch  des  Morgens  zurück,  während  er 
ihn  beim  ersten  Hahnenschrei  verlassen  hatte. 

So  weit  nun  geht  der  englische  Text  mit  dem  lateinischen  Original 
zusammen.  Der  Schluß  des  Briefes  des  Bonifatius  ist  in  der 
i'bersetzung  gekürzt.  Übergangen  ist  bemerkenswerterweise  auch, 
was  von  Oeolred,  dem  König  der  Mercier,  im  Original  erzählt  wird, 
der  übrigens,  wie  Bonifatius  bemerkt,  zur  Zeit  der  Vision  zweifellos 
noch  am  Leben  war  (er  starb  716).  Der  Visionär  sah  ihn  in  der 
Unterwelt,  von  Engeln  wider  den  Ansturm  der  Teufel  beschirmt, 
die  wutschnaubend  forderten,  daß  man  ihnen  gestatte,  ihren  grau- 
samen Mut  an  ihm  zu  kühlen;  denn  sie  beschuldigten  ihn  einer 
Unmenge  verruchter  Schandtaten  und  sagten  drohend,  er  verdiene, 
ins  sclireckUchste  Höllenverlies  eingeschlossen  und  dort  seiner  Sünden 
wegen  ewig  gepeinigt  zu  werden.  Voll  Trauer  mußten  die  Engel 
nachgeben  und  den  über  ihn  gehaltenen  Schirm  (gleichsam  in  Form 
eines  großen  Buches)  entfernen.  Da  strömten  frohlockend  aus  allen 
Teilen  der  Welt  Teufel  herbei  und  zerfleischten  den  Unglücklichen 
unter  mannigfachen  Qualen. 

Die  Wahrheit  dieser  Vision,  meint  Bonifatius,  hätte  das  nach- 
folgende plötzliche  Ende  des  lasterhaften  Königs  bestätigt.  Über 
dieses  Ende  spricht  er  in  einem  anderen  Briefe  (bei  Jaffe  Nr.  .59, 
S.  174).  Da  wird  dem  Ceolred,  König  der  Mercier,  und  Osred  von 
Deira  und  Bernicia  Schändung  der  Nonnen  und  Zerstörung  der 
Klöster  vorgeworfen;  und  weil  sie  in  ihren  Sünden  verharrten,  seien 
sie  von  Gott  mit  plötzlichem  Tode  und  ewiger  Verdammnis  bestraft 
worden.  'Nam  Ceolredum'  —  heißt  es  —  'ut  testati  sunt,  qui 
praesentes  fuerant,  apud  comites  suos  splendide  epulantem,  malignus 
Spiritus,  qui  eum  ad  fiduciam  dampnandae  legis  Dei  suadendo 
pellexit,  peccantem  subito  in  insaniam  mentis  convertit;  ut  sine 
poenitentia  et  confessione,  furibundus  et  amens  cum  diabolis  ser- 
mocinans  et  Dei  sacerdotes  abhominans,  de  hac  luce  sine  dubio  ad 
tormenta  inferni  migravit.' 

A.  Ebert,  i^llgemeine  Geschichte  der  Literatur  des  Mittelalters 
im  Abendlande  I,  616,  und  C.  Fritzsche,  Die  lateinischen  Visionen 
des  Mittelalters  bis  zur  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  (Roman.  For- 
schungen II,  275  f.),  haben  schon  angedeutet,  daß  die  von  Bonifatius 
hier  geschilderte  Vision  —  abgesehen  von  einzelnen  Sonderzügen  — 
nur  eine  Verschmelzung  älterer  Visionen,  insbesondere  der  von 
Gregor  dem  Großen  in  den  Dialogen  und  von  Beda  in  seiner 
Kirchengeschichte  erzählten,  darstelle.  So  ist  das  Eingangsmotiv  des 
Scheintodes  infolge  einer  schweren  Krankheit  herkömmlich. 

Furseus  (Beda  V,  cap.  36)  ist  (abweichend  von  unserer  Vision, 
die  vom  ersten  Hahnenschrei  bis  zum  Tagesanbruch  gedauert  hat) 

Archiv   f.  n.  Sprachen.     139.  3 


34  Eine  altcnglischo  Vision  vom  Jenseits 

vom  Abend  bis  zum  Hahnenschrei,  des  Körpers  entkleidet,  ins  Jen- 
seits entrückt  (a  vespera  iisque  ad  galli  cantum  corpore  exutu^).  Er 
wird  von  Engehi  in  die  Lüfte  getragen  und  sieht  unter  sich  die 
Welt  und,  aus  der  Tiefe  aufsteigend,  vier  Feuer,  die  sie  verzehren 
werden.  Sie  vereinigen  sich  zu  einer  ungeheuren  Flamme,  die  ihn 
selbst  zu  ergreifen  droht;  aber  die  Engel  teilen  sie  und  schirmen 
ihn.  Er  ist  Zeuge  des  Streites  zwischen  den  Engeln  und  Teufeln 
um  die  Seelen,  hört  das  Weinen  und  Heulen  der  armen  Sünder 
und  das  triumphierende  Gelächter  der  Teufel,  wenn  sie  einen  Sünder 
ergriffen  haben.  Darunter  ist  einer,  den  er  im  Leben  gekannt  hat. 
Auch  ihn  selbst  klagen  die  bösen  Geister  an,  während  die  guten 
ihn  verteidigen.  In  einer  anderen  Vision,  die  Beda  (V,  cap.  12)  von 
einem  Nordhumbrier  Dricthelm  erzählt,  hört  der  Visionär  klägliches 
Geheul  und  dazwischen  schallendes  Gelächter  und  sieht,  wie  die 
bösen  Geister  arme  Seelen  herbeischleppen  und  in  einen  feurigen 
Abgrund  werfen.  Er  sieht  ferner  ein  liebliches,  von  Licht  um- 
flossenes und  von  Blumenduft  erfülltes  Gefilde  und  auf  demselben 
Scharen  (conventicula)  weißgekleideter  Menschen  (ebenso  der  römische 
Soldat  bei  Gregor,  Dialog.  IV,  cap.  36).  Das  sei  aber  noch  nicht 
das  Himmelreich,  sagt  ihm  der  führende  Engel.  Li  unserer  Vision 
ist  es  das  Paradies. 

Die  BrÜL-ke  über  einen  grausigen  Fluß  kommt  schon  in  der 
Visio  Pauli,  dann  Avieder  bei  Gregor  vor  (Dialog.  IV,  36).  Hier 
wird  der  Fluß  'niger  atque  caliginosus,  foetoris  intolerabilis  nebulam 
exhalans'  genannt.  Nur  die  Gerechten  können  die  Brücke  un- 
gefährdet übersclireiten,  die  Ungerechten  aber  fallen  in  den  Fluß 
hinab.  Nach  der  Visio  Pauli  werden  sie  darin  je  nach  ihrer  Schuld 
versenkt:  die  einen  bis  an  die  Knie,  die  anderen  bis  an  den  Nabel, 
andere  wieder  bis  an  den  Kopf.  Ebenso  in  unserer  Vision.  Der 
Fluß  ist  hier  aus  brennendem  Pech.  Die  Seelen  aber,  die  hinein- 
fallen, kommen  geläutert  und  gereinigt  aus  demselben  heraus:  es 
sind  die  mit  läßlichen  Sünden  aus  dem  Leben  geschiedenen,  und 
der  Pechfluß  erweckt  hier  die  Vorstellung  des  Fegefeuers.  Das 
Holz,  das  an  Stelle  einer  Brücke  darüberführt,  ist  als  schmales 
Brett  oder  Balken  zu  denken,  'quia  angusta  valde  est  semita,  quae 
ducit  at  vitam'  (Matth.  VII,  14),  wie  Gregor  (Dialog.  IV,  37)  sagt. 

In  der  Visio  Pauli  wird  dem  Apostel  ferner  ein  Brunnen 
(puteus)  gezeigt,  dessen  Öffnung  mit  sieben  Siegeln  verschlossen  ist. 
Als  er  geöffnet  wird,  entströmt  ihm  ein  übler  Geruch.  Er  ist  von 
ungeheurer  Tiefe,  Weinen  und  Seufzen,  wie  lauter  Donner  er- 
klingend, erfüllen  ihn.  Wer  da  hineingeworfen  wird,  dem  wird  keine 
Barmherzigkeit  Gottes  zuteiL 

Auch  Beda  spricht  von  einem  'puteus  flamminivomus',  in  der 
Vision  des  Nordhumbriers  Dricthelm  (V,  cap.  12).  Der  steigt  mit 
semem  Führer  in  die  von  Finsternis  völlig  umfangene  Tiefe.     Da 


Eino  altcnglische  Vision  vom  Jenseits  35 

sieht  er  Flammenkugeln,  eine  nach  der  anderen,  aufsteigen,  'quasi 
de  puteo  magno',  und  wieder  dahin  zurücksinken.  Und  während 
diese  Feuerkugehi  ohne  Aufhören  bald  in  die  Höhe,  bald  wieder 
den  Tiefen  des  Schlundes  ('ima  baratri')  zustreben,  sieht  er,  daß 
sie  voller  Seelen  von  Menschen  sind,  die,  wie  Funken  mit  dem 
Rauch,  bald  emporgeschleudert  werden,  bald  zurückfallen.  Auch 
Gestank  ohnegleichen,  mit  den  feurigen  Dünsten  aufsteigend,  erfüllt 
den  ganzen  Raum.  Teufel  ziehen  fünf  Menschenseelen  mitten  in 
jenen  brennenden  Schlund  ('in  medium  baratri  illius  ardentis'),  und 
das  "Weinen  der  Menschen  und  das  Gelächter  der  Teufel  klingt  im 
Ohre.  Dann  steigen  aus  jenem  flammenspeienden  x^bgrund  ('de 
abysso  illo  flamminivoma')  schwarze  Gestalten  herauf,  mit  feuer- 
sprülienden  Augen  und  feurigem,  stinkendem  Atem  aus  I\Iund  und 
Nase  (vgl.  in  unserer  Vision  am  Schlüsse:  'ut  in  omnibus  visionibus  ... 
nihil  tam  durum  foetorem  evaporans,  exceptis  daemonibus  et  igne 
flagrante,  videret'),  und  wollen  ihn  mit  glühenden  Zangen  ergreifen, 
sein  Führer  aber  vertreibt  sie. 

Beda  denkt  sich  also  einen  flammenspeienden  Schlund  ('bara- 
trum'),  einen  Abgrund  ('abyssus'),  auch  'fornax  tenebrosa'  genannt, 
der  wie  ein  (ausgeschachteter)  Brunnen  aussieht  und  die  Höllen- 
mündung ('os  gehennae')  vorstellt.  Die  'ignei  putei  horrendam 
eructantes  flamman',  in  deren  hervorbrechenden  Flammen  arme 
Seelen  in  Gestalt  schwarzer  Vögel  herumflattern,  wie  unsere  Vision 
es  darstellt,  sind  wolil  ebenso  gedacht.  Sie  bedeuten  aber  hier  nicht 
die  Hölle,  sondern  das  Fegefeuer,  aus  dem  es  für  die  Seelen  am 
jüngsten  Tage  Erlösung  gibt;  und  zwar,  wie  es  scheint,  das  stra- 
fende, quälende  Feuer,  während  der  Pechfluß  das  läuternde  und 
reinigende  Feuer  andeuten  soll.  Die  eigentliche  Hölle  ist  in  unserer 
Vision  unter  den  Brunnen,  'in  imo  profundo,  quasi  in  inferno 
inferiori';  denn,  wie  es  in  einer  Redaktion  der  Visio  Pauli  (H.  Brandes, 
Engl.  Stud.  VII,  47)  heißt:  'Bene  debemus  scire  et  credere,  quod 
sint  duo  inferna,  scilicet  unum  superius,  et  aliud  inferius.  Superius 
infernus  est  ignis  purgatorii  . . .  Lifernus  mferius,  ubi  sunt  omnes 
anime,  qui  dampnate  sunt  . . .' 

Gregor  erwähnt  den  Brunnen  nicht,  er  spricht  von  'ollae  (Kessel) 
tormentorum'  und  verknüpft  damit  eine  eigentümliche  Vorstellung. 
Im  IV.  Buche  der  Dialoge,  cap.  35,  erzählt  er,  ein  gewisser  Eumor- 
phius  habe  vor  seinem  Ende  seinen  Diener  zu  einem  Nachbarn 
Stephanus  geschickt  und  ihm  sagen  lassen,  er  möge  schnell  kom- 
men, das  Schiff,  das  sie  nach  Sizilien  führen  solle,  sei  schon  bereit. 
Auf  halbem  Wege  sei  dem  Diener  ein  Mann  begegnet,  der  ihm 
sagte,  Stephanus  sei  eben  gestorben;  und  als  er  nach  Hause  kam, 
habe  er  auch  seinen  Herrn  Eumorphius  tot  gefunden.  Darauf  er- 
klärt Gregor  seinem  Unterredner  Petrus,  was  es  mit  dieser  Fahrt 
nach  Sizilien  für  eine  Bewandtnis  habe:  'Quod  vero  se  ad  Siciliam 


36  Eine  altenglische  Vision  vom  Jenseits 

duci  testatus  est,  quid  sentiri  aliud  potest,  nisi  quod  prae  ceteris 
locis  in  eins  terrae  insulis  eructante  igne  tormentorum  oUae  patue- 
runt?  Quae,  ut  solent  narrare.  qui  noverunt,  laxatis  quotidie  sinibus 
excrescunt,  ut  mundi  termino  appropinquante,  quanto  certum  est 
illuc  amplius  exurendos  colligi,  tanto  et  eadem  tormentorum  loca 
amplius  videantur  aperiri.  Quod  omnipotens  Deus  ad  correptionem 
viventium  in  hoc  mundo  voluit  ostendi,  ut  mentes  infidelium,  quae 
inferni  tormenta  esse  non  credunt,  tormentorum  loca  videant,  quae 
audita  credere  recusant.' 

In  cap.  30  des  IV.  Buches  der  Dialoge  steht  folgende  Ge- 
schichte: Ein  Beamter,  der  in  Sizilien  die  festgesetzte  Abgabe 
(canon)  an  Getreide  usw.  einzutreiben  hatte,  wird  auf  der  Bückfahrt 
nach  Italien  mit  seinem  Schiff  an  die  Insel  Lipari  angetrieben. 
AVährend  nun  die  Matrosen  mit  der  Ausbesserung  der  Schäden 
beschäftigt  sind,  besucht  er  einen  auf  der  Insel  wohnenden  frommen 
Mann,  der  ihm  sagte:  'Wißt  Ihr,  daß  der  König  Theodorich  ge- 
storben ist?'  Auf  seine  Verwunderimg  darüber  —  denn  sie  hatten 
nichts  davon  vernommen  —  erwidert  ihm  der  fromme  Mann,  es 
sei  doch  wahr,  und  erzählt  ihm,  am  vergangenen  Tage  um  die 
neunte  Stunde  sei  der  König  zwischen  dem  Papste  Johannes  und 
dem  Patrizier  Symmachus  einhergeführt  und  'in  hanc  vicinam  Vul- 
cani  oUam'  geschleudert  worden.  Für  'ollam'  lesen  einige  Hss. 
'insulam'  (Migne,  Patres  Latini,  Series  I,  Tom.  77,  p.  369),  was  von 
der  griechischen  Übersetzung  (ibid.)  bestätigt  wird:  8V  ty  yeitvia- 
^ovoy  vriao)  tov  ßovXwxvov  tv  up  vjvoKaiOßevoj  fCVQi  avtod'i 
SQQicpr).  Gemeint  ist  die  Lipari  benachbarte  Insel  Vulcano.  Es 
scheint  demnach,  als  ob  die  schwefliges  Feuer  ausspeienden  Krater 
Siziliens  und  der  umliegenden  vulkanischen  Inseln  die  Vorstellung 
von  Feuerschlünden  in  Gestalt  von  Brunnen(schachten),  aus  denen 
mit  den  Flammen  zugleich  übelriechende  Dünste  aufsteigen  und  die 
zum   Orte  der  Qualen  führen,  erzeugt  oder  doch  genährt  hätten. 

In  unserer  Vision  endlich  gebieten  die  Engel  dem  Visionär,  er 
solle  seine  Gesichte  nur  gläubigen  ('credentibus')  und  in  guter  Ab- 
sicht fragenden  Menschen  ('intentione  divina  interrogantibus')  offen- 
baren, Spöttern  ('insultantibus')  aber  vorenthalten.  Ahnlich  heißt 
es  bei  Beda  in  der  Vision  des  Furseus  (III,  19):  'Ordinem  autem 
visionum  suarum  illis  solummodo,  qui  propter  desiderium  compunc- 
tionis  interrogabant,  exponere  volebai'  Und  in  der  Vision  Dricthelms 
(V,  12):  'Haec  et  alia,  quae  viderat,  idem  vir  Domini  non  omnibus 
passim  desidiosis  ac  vitae  suae  incuriosis  referre  volebat,  sed  illis 
solummodo,  qui  vel  tormentorum  metu  perterriti,  vel  spe  gaudiorum 
perennium  delectati,  profectum  pietatis  ex  eius  verbis  haurire 
volebant.' 

Was  nun  die  altenglische  Übersetzung  anbelangt,  so  ist  sie  denn 
doch  recht  unbeholfen.    Des  Bonifatius'  —  freilich  auch  keineswegs 


Eine  altenglische  Vision  vom  Jenseits  37 

klassisches  —  Latein  hat  dem  Übersetzer  offenbar  große  Schwierig- 
keit gemacht.  Dem  lateinischen  Periodenbau  steht  er  ziemlich  ratlos 
gegenüber:  er  zerhackt  ihn,  sucht  sich  oft  mit  einem  nachhinkenden 
and  he  scecle  eac  pcet  . . .  und  dergleichen  zu  behelfen,  reißt  be- 
deutsamere Wörter,  die  er  irgendwo  unterbringen  will,  aus  dem 
Zusammenhang,  und  so  unterlaufen  ihm  denn  gelegentlich  auch 
böse  Mißverständnisse. 

"Wie  dem  Übersetzer  mit  dem  Latein,  so  scheint  es  dem  alten 
Glossator  stellenweise  mit  dem  Altenglischen  ergangen  zu  sein: 
glossiert  er  doch  den  Infinitiv  fleojan  (lat.  volitasse)  mit  'muscas' 
und  schreibt  über  das  je  der  Partikel  jena  'vos'l  Wenn  man  übri- 
gens so  gewöhnliche  Wörter  wie  pa  mit  qui  oder  Uli,  iviä  mit 
contra,  bidon  mit  extra  oder  sine,  je  mit  vos  verdeutlichen  zu 
müssen  glaubte,  so  läßt  das  doch  auf  eine  sehr  gesunkene  Kenntnis 
des  Altenglischen  schließen.  Das  lateinische  Original  des  ae.  Textes 
hat  der  Glossator  nicht  vor  sich  gehabt. 

Sprachlich  zeigt  der  ae.  Text  überwiegend  die  Formen  der 
jüngeren  westsächsischen  Schriftsprache.  Doch  nicht  ausschließlich: 
so  finden  sich  im  besonderen  viele  io  neben  eo\  ferner  e  als  Um- 
laut von  eä  {lej,  ned-,  cejan,  steinende,  unjehersunines,  neben 
hyran,  -hyrsum);  ia  in  hijardlice  (neben  heardlice),  compar.  hiard- 
ran,  jesiah  praet.,  hlaf  subst.  und  Formen  wie  spcece  (neben 
sprcBce),  jespecen;  jeseje,  optat.  praet.  (daneben  jeseaje,  part,  praet. 
^esejen;  meniu  (neben  menejo);  hlo  (lieö)  als  nom.  plur.,  hlom 
{heom)  dativ  plur.;  auch  öfters  in  für  wests.  on  und  einmal  mid 
mit  dem  Akkusativ  [mid  ealne  lichaman).  Einiges  davon  ist  mer- 
cisch  und  kann  einem  Schreiber  zu  AVorcester  leicht  aus  der  Feder 
geflossen  sein,  anderes  nicht  streng  westsächsisch;  aber  die  vielen 
io  für  und  neben  eo,  und  ganz  besonders  Formen  wie  hijardlice, 
hiardran,  jesiah,  hiaf,  nieniu  sind  charakteristisch  fürs  Kentische. 
Sollte  das  vielleicht  auf  eine  lu-sprünglich  kentische  Vorlage  deuten 
und  sollte  darin  etwa  auch  der  (jrund  für  die  obenerwähnte  und 
sonst  nicht  wohl  zu  erklärende  Übergehung  der  Geschichte  vom 
Mercierkönig  Ceolred  zu  suchen  sein? 

Bemerkenswert  ist  übrigens  noch,  daß  sich  dieselben  sprach- 
lichen Eigentümlichkeiten  wie  in  unserem  Text  und  ganz  die  gleiche 
Ubersetzungstechnik  auch  in  dem  in  der  Handschrift  vorhergehen- 
den Leben  des  Malchus  (nach  Hieronymus)  finden,  so  daß  der 
Schluß  auf  einen  Verfasser  für  beide  Stücke  naheliegt. 

Die  Cotton-Handschrift  hat  durch  den  Brand  in  den  Blättern, 
auf  denen  unser  Text  steht,  durch  Risse,  Sprünge,  Falten,  Löcher 
und  geschwärzte  Stellen  arg  gelitten.  Ich  habe  versucht,  mit  Hilfe 
des  lateinischen  Originals  und  Berücksichtigung  der  Arbeitsweise 
des  Übersetzers  die  Lücken  zu  ergänzen,  und  habe  zur  Bequemlich- 
keit des   Lesers   meine  Vermutungen   in   Ivlammern    gleich    mit  in 


38  Eine  altenglische  Vision  vom  Jenseits 

den  Text  gesetzt.  Auch  einzelne  Fehler  in  der  Handschrift,  wo  sie 
offensichtlich  oder  durch  den  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  des 
Übersetzers  als  solche  gekennzeichnet  sind,  habe  ich  im  Texte  ver- 
bessert und  die  betreffende  Lesart  der  Handschrift  in  den  Fuß- 
noten angegeben. 

Ich  lasse  nun  den  ae.  Text  mit  dem  lateinischen  Original  (nach 
Jaffe)  folgen. 

Her    sa3ad    on    Jjissum    bocum    \>rpt .  domne .  wynfrid    sende   I)is    jewrit 

diu 

serost  to  J)issu[m]  ^  leodura  bi  sumiD«  prcoste  se  wses  ^»raje  ford  fercd.  7 
jchwyrfdc  \)a  eft  to  his  llchanian  .  he  s.-ede  \])(et  he  bicomej  ^  to  J)isse  jicode.  7 
^at  he  spsece  wid  done  preost.  7  he  me  rehtc  Jia  [wundorlica]n2  jcsihde  f)a 

5  {)e  he  jeseah  J)a  he  wtes  buton  lichaman.  7  I^is  he  me  rehte  eall  his  ajene 
wordo .  he  cwcp^  {ocet  him  jeeodc  {)uih  nedbadc  f)«<  his  lichama  wsere  seoe  jfi- 
worden.  7  he  wres  senminja  ])y  jaste  bensemed.  7  him  |)uhte  l>a't  hit  wsere 
on  {)a3re  onlicnysse  Jje  him  man  f)a  eajan  weccende  mid  |)iece  hrsejle  for- 
brujde.  7  {^a  semninja  was  seo  bevvrijennys  onwej  anumcn.  7  {>a  wses  hiw 

10  setywed  on  3esihde  ealle  ])a  ymg  Jje  him  nsefre  aer  jesejen  wseron  ne  on- 
wrijen.  7  hiw  w?es  sejhwset  swide  uncud  {)a3s  f)e  he  jeseah.  7  J>a  fet  nyxtan 
Wies  eall  seo  swearte  bewri jennis  aworpen  fram  his  eajum  .  J3a  {luhte  him  f)«^ 
eall  |)es  middaneard  wa^re  3esamnod  biforan  his  lichaman  jesihdc.  7  he 
sceawode  eall  folc.  7  ealle  eordandselas.  7  ssestreamas  undcr  änre  jesihdc.  7 

im 

15  him  J)uhte  ]i(et  {)a  en3las  wseron  swilce  hij  byrnende  wseron  })a  J)e  hine 
Iseddon  iit  of  J)am  lichaman.  7  he  ne  mihte  nsenij  {jinja  locian  on  hij  for 
baere  micclan  beorhtnesse  be  hij  mid  ymbseted  wseron.  7  hij  sunjon  swide 
wynsumum  stefnum.  7  swide  scswejum.  7  hij  cwsedon.   Dominc  ne  in  ira 

Beatissimae  virgini,  imo  dilectissimae  dominae  Eadburge,  monastice  nor- 
midae  conversationis  emeritae,  VVynfrethus  exiguus  in  Christo  lesu  intimae 
caritatis  salutem. 

Rogabas  me,  soror  carissima,  ut  admirandas  visiones  de  illo  redivivo,  qui 
nupcr  in  monasterio  Milburge  abbatissae  mortuus  est,  et  revixit,  quae  ei 
ostensae  sunt,  scribendo  intimare  et  transmittere  curarcm,  qiicmadmodum  istas 
veneranda  abbatissa  Hildelida  referente  didici.  Modo  siquidem  gratias  om- 
nipotcnti  Dco  rcfcro,  quia  in  hoc  dilectionis  tuac  voliintatem  eo  plenius  liqui- 
diusque,  Deo  patrocinium  praestante,  implere  valeo.  Quia  ipse  cum  supradicto 
fratre  redivivo,  dum  nuper  de  transmarinis  partibus  ad  istas  pervenit  regiones, 
locutus  sum ;  et  ille  milii  stupendas  visiones,  quas,  extra  corpus  suum  raptus, 
in  spiritu  vidit,  proprio  exposuit  sermone. 

Dicebat  quippe,  se  per  violentis  egritudinis  dolorem  corporis  gravedine 
subito  exutum  fuisse.  Et  simillimum  esse  collatione,  veluti  si  videntis  et 
vigilantis  hominis  oculi  densissimo  tegmine  velentur;  et  subito  auferatur  ve- 
lamen,  et  tunc  perspicua  sint  omnia,  quae  antca  non  visa  et  velata  et  ignota 
fuerunt.  Sic  sibi,  abiecto  terrenae  velamine  carnis,  ante  conspectum  Univer- 
sum collectum  fuisse  muudum:  ut  cunctas  terrarum  partes  et  populos  et  maria 
sub  uno  conspectu  contueretur.  Et  tam  magnae  claritatis  et  splendoris  angelos 
eum,  egressum  de  corpore,  suscepissc,  ut  nullatenus  pro  nimio  splendorc  in 
eos  aspicere  potuisset.  Qui  iucundis  et  consonis  vocibus  cancbant:  Domine, 
ne  in  ira  tua  arguas  me,  neque  in  furore  tuo  corripias  me.    Et  suble- 

'  Ergänzt  nach  Wanley.       ^  Loch. 


Eine  altengliache  Vision  vom  Jonseits  39 

tua   arguas   mo  .  ncqtie   in    furore   tuo   corripias  mc*    l>cei  is.     Drihtcn   ne 

nrfiiias  corripias 

\)Tca  \>u  US  in  J)innum  yne  .  ne  {)u  us  ne  stcor  in  f)inrc  hatheort- 
nyssc.  7  lic  sa?dc  J)f?/  liij  hinc  abrudon  up  in  {)one  lyft.  7  lie  jescali  fyr 
beornan  ynib  calles  ]3yscs  niiddancardes  ymblivvyrfte.  7  sc  loj  waes  ford 
blaestcnde  mid  swide  ünnisetre  micclnyssc.  7  l'C  wjes  swide  cjcslic  up  astijende.  6 
7  UcTs  call  Ijcs  middancard  J)a  ic  hine  sccawode  buton  swilce  he  wseie  on 
anes  cloowcn[c9]-  oniicnysse  7  call  bis  weorc.  7  ic  jescah  licet  'j^cet 
fyr  woldc  blsestan  ofcr  ealiie  middancard  .  jif  se  enjcl  ne  sette  cristcs 
rodetaccn  onjean  pam  [fyre  7  l>\^onfie  ^cstildo  liit.    7   se  lej  swidrode*  on 

intollerabiliter  depressus 

(fol.  144)    micclum   dsele.     7   ic   wais    unargefuedlice    3c{)r8ested    on   minum  10 
eajum  for  {)isscs^  miclan  byrncs  cje.  7  nie  wses  eaira  swidost  seo  3csilid 
forstyntcd"  for  J)ara  scinendra  jasta  beorhtncsse.  7  {>a  ä!thrän  {)sere  bcorhtan 

protectns 

jesihde  an  enjel    minuw    hcafde   7  ic  wcard  {)urh   ^rpt  jcscyld   7    jcsund 
jchcaldcn  fram  {)ara  k'ja  sccaddijnesse.  7  he  ssede  on  {)8ere  tidc  f)e  he  wses 
of  his  lich[am]an.'^  Ipcet  Jjydcr  wsere  jcsamnod  of  lichamum  swa  miccl  mcncjo  15 
ford  fercdra   sawla   swa  he  ne  wende  1>ceI  calles  mennisecs  cynnes  n0er[e] 

inmimerabiiis 

swilc  unrim  mcnejo  swilc  jxet  wses.  7  he  ssede  eae  Ixr.t  J)Eer  wsere  micel 
mcniu  xt  awcrjcdra  ^asta.  7  eae  J)am  beorhtum  enjlum  Jjc  {)[?ejr^  scscjcne 
wseron  .  Inj  hsefdon  miccl  jefüt  wid  da  awyrijdan  jastas  bi  [|3am  earmj^cstan 
sawlum  J)c  {)ser  wseron  üt  3onjende  of  lichaman.  7  I^a  deoflu  wae[ron  wrojendcj'"  20 
{)a  [s]awle  7  hij  wa?ron  licapiende  liiora  synna  pund  on  liifj  7  t>a  cnjlas 
wseron  bc]lädicnde  7  ühtijcnde  hiora  synna.  7  sc  man  saidc  ])cet  he  sylf  jchj'rde 

vabantme  —  dixit  —  inaerasursum.  Et  incircuitutolius  mundi  igncm  ardentcm 
videbam  et  flamniam  immcnsae  magnitudinis  anhelantem  et  tcriibilitcr  ad 
supcriora  asccndcntcm,  non  aliter  pcne  quam  ut  sub  uno  globo  totius  mundi 
machimam  complcctentcm,  nisi  cam  sanctus  angclus,  inpresso  signo  sanetae 
crucis  Christi,  compcsccrct.  Quando  cnim  in  obviam  minacis  flamme  Signum 
crucis  Christi  e.xpresserat,  tunc  flamma  magna  ex  parte  dccrcscens  rescdit. 
Et  istius  flammac  tcrribili  ardore  intollerabiliter  torquebar,  oculis  maxime 
ardentibus  et  splendorc  fulgcntium  spirituum  vehcmentissime  rcverbcratis; 
doncc  splcndidac  visionis  angclus  manus  auae  inposiiionc  caput  meum  quasi 
protegcns  tangebat  et  me  a  lesione  flammarum  tutum  reddidit.  Praeterea 
rcfcrebat:  illo  in  tcmporis  spatio,  quo  extra  corpus  fuit,  tam  magnam  ani- 
marum  migrantium  de  corpore  mullitudinem  illuc,  ubi  ipse  fuit,  convcnisse, 
quam  totius  humani  gcncris  in  tcrris  non  fuisse  antea  existimarct.  Innu- 
mcrabilcm  quoque  malignorum  spirituum  turbam  nee  non  et  clarissimura 
chorum  supernorura  angelorum  adfuisse,  narra\it.  Et  maximam  inter  se 
miscrrimos  spiritus  et  sanctos  angelos  de  animabus  ogredientibus  de  corpore 
disputationen  liabuisse,  daemones  accusando  et  peccatorum  pondus  gravando, 
angelos  vero  relcvando  et  excusando.  Et  se  ipsum  audisse,  omnia  flasj-itiorura 
suorum  propria  peccamina  —  quae  fecit  a  iuventute  sua  et  ad  confitendum 


'  Der  lat.  Text  mit  fränkischen  Schriftzeichen.  2  ^yig,  cleowm.  ^  Sprung, 
nur  der  obere  Teil  der  Buchstaben  eikonnbar.  *  Am  unteren  Ran(le  mi- 
tigauit,  als  Glosse  zu  siciärode.  ^  Am  Rande,  undeutlich.  ^  Ms.  forsttjnded. 
■^  Nur  der  letzte  Strich  von  m  erhalten.  ^  Nur  r  und  der  obere  Teil  von  p 
erhalten.  ^  Loch.  ^o  Ausschnitt:  am  rechten  Rande  aide  7  /"'j;  etwas 
tiefer  stehend,  zwischen  ivce  und  anie,  pa;  am  rechten  Rande  der  folgenden 
Zeile  lädiende  und  als  Glosse  daneben  excus. 


40  Eine  alteuglische  Vision  vom  Jenseits 

ealle  his'  jodwrecnysse  2  7  his  ajene  synna  {)a  {)e  he  of  his  3io3ode  jefre- 
mede  odde  ^cft  he  on  receleaste  jefremode  J)«<  he  nolde  his  synna  ändettan.  7 
f)<«/  he  on  ofer5itolne3s[e]3  jefremode  odde  l>cet  he  eallunga  nyste  ^cet  hit 

contra. 

to    synne^    odlenjde.    7    selc    Jjara-  synna    cejde    his    ajenre    stefne    wid 

cowstanter 

5  hine. .  7  hio  hine  hijardlice  Jjreadon.  7  anra  jehwilc  {)ara  synna  J)e  he  of 
his  iujode  jefremede  on  aini3um  hade  \>ser  waes  ford  jeboren  on  hiora 
midnesse.    7   hio   wjeron   |)us   sprecende .  sum   cwsed.    Ic   eom   {)in   3itsun3 

illicite  cotitra 

\)e  ])U  unalyfedlice  3e3itsodest  wid  jodes  bebodu.  Sum  cwced.  Ic  eom 
idel  3ilp  f)e  J)u  mid  mannum  3ylplice  ahofe.  Sum  cwaä.  Ic  eom  leasun3 
10  in  {)sere  |)u  jefirenadest  {)8er  {)u  wa^re  li3ende.  Sum  cwceä.  Ic  eom  unnyt 
Word  {)e  {)u  idelice  3espra?ce.  Sum  cwced.  Ic  eom  jesihd  {)urh  |)a  ^u 
3efirenadest.  Sum  cwced.  Ic  eom  3emanes.5  7  unjehyrsumnes  {)ser  {)u  ealdum 
jastlicum  mannu/;/  un3ehyrsum  waere.  Sum  cwceä.  Ic  eom  drupunj.  7 
sleacnis .  Jie  |)u  wiere  receleas  in  hali3ra  3ewrita  3eornesse.    Sum  cwcrä.    Ic 

persecuUis  es 

15  eom  swiciende  3e{)oht.  7  unnyt  3ymenß  J3e  Jju  odra  manna  lif  eahtodest.  7 

extra 

{)in  a3en  lif  forlete  7  ic  J)e  ofer  jemet  on  cyrican.  7  buton  cirican  3ebis- 
3ode.  Sum  cwceä.  Ic  eom  slapolnis  mid  J)am  Jau  wjere  3eJ)ricced  ]i(Bt  J)u 
late  arise  3ode  to  ändettenne.  Sum  cwceä.  Ic  eom  unnytnis.''  7  hij  him 
on  ssedon  maneju  I)in3  |)issum  3elic.  7  ealle  J)a  {)e  he  on  his  lifes  dajum 
20  lifijende  3efremod[e  7  I^a  J^Je^  he  areceleasode  to  ändettenne  (fol.  144b) 
[mj^anije  sj-nna  f)aT  cirmdon  swide  ejeslice  wid  hine  Jja  \>q  he  na-fre  ne 
wende  ^cet  hio  to  synnum  odlenjdon.  7  I)a  awyrijdan  3astas  wa-ron  3eswe3e 
eallu»^  |)am  synnum.  7  hi3  wa;ron  hine  swide  heardlice  wrejende.  7  hij 
wseron   secjende   ealle   J)a   stowe  7  ealle   {)a   tide   f)e   hij  J)a  mända?de  on 

aut  neglexit  aut  oblivioni  tradidit  vel,  ad  peccatum  pertinere  omnino  nes- 
ciebat  • —  ipsius  propiia  voce  contra  illum  clamitasse  et  eum  dirissime 
accusasse.  Et  specialiter  unum  (piodque  Vitium  quasi  ex  sua  persona  in 
medium  se  obtulisse,  dicendo,  quoddam:  Ego  sum  cupiditas  tua,  qua  inlicita 
frequentissime  et  contraria  praeceptis  Dei  concupisti;  quoddam  vero:  Ego 
sum  vana  gloria,  qua  te  apud  homines  iactanter  exaltasti;  aliud:  Ego  sum 
mendacium,  in  quo  mentiendo  peccasti;  aliud:  Ego  sum  otiosum  verbum,  quod 
inaniter  locutus  fuisti;  aliud:  Ego  visus,  quo  videndo  inlicita  peccasti;  aliud: 
Ego  contumacia  et  inoboedientia,  qua  senioribus  spiritalibus  inoboediens  fuisti; 
aliud:  Ego  torpor  et  desidia  in  sanctorum  studiorum  neglectu;  aliud:  Ego 
vaga  cogitatio  et  inutilis  cura,  qua  te  supra  modum  sive  in  ecclesia  sive  extra 
ecclesium  occupabas;  aliud:  Ego  somnolentia,  qua  oppressus  tarde  ad  con- 
fitendum  Deo  surrexisti;  aliud:  Ego  iter  otiosum;  [aliud:  Ego  sum  neglegentia 
et  incuria,  qua  detentus  erga  Studium  divinae  lectionis  incuriosus  fuistij;  et 
caetera  his  similia.  Omnia,  quae  in  diebus  vitae  suae  in  carne  conversatus 
peregit  et  confiteri  neglexit,  multa  quoque,  quae  ad  peccatum  pertinere  omnino 
ignorabat,  contra  eum  cuncta  terribiliter  vociferabant.  Similiter  et  maligni 
Spiritus,  in  omnibus  consonantes  vitiis,  accusando  et  duriter  testificlando  et 
loca  et  terapora  nefandorum  actuum  memorantes,  eadem,  quae  peccata  dix- 
erunt,  conclamantes  probabant.   Vidit  quoque  ibi  liominem  quendam,  cui,  iam 


'  Von  ealle  Ins  nur  der  untere  Teil  sichtbar.  -  Ms.  jodwyrcnisse.  *  Ms. 
oferjitolness.  *  Oder  synnum  ?  Vgl.  unten,  S.  22.  Ms.  to  synna.  ^  =  jetnähnes. 
^  Ms.  jamen.      ">  L.  unmjt  siäl  =  iter  otiosum.       *•  Loch.      ^  Linker  Rand. 


Eine  altenglische  Vision  vom  Jenseits  41 

.•vedydon.  7  he  \rxr  jeseah  eac  sumne  {iara  manna  J)e  he  a?r  3ewund[ode]  >  {)a 
hwile  Jje  he  lifijende  wses.  7  se  man  lyfde  ^a  jyt.  7  to  jewitnesse  his  yfela 

recewrfe 

he  wa's  {)ider  jelseded.  7  sio  wund  waes  open.  7  J)«/  blöd  wses  steinende  7 
he   waes   cejende   his   ajenre   stefne.   7   he   [wjses   hi[m]2   edwit   cwedende. 
7  [he  wfes  him   witende  (?)  \jxs]^  blödes  jyte  swide  wfelhreowlice.  7  he    5 
tealode.  7  heapode  micel  m[an]  7  b^  ealdan  feond  trymedon    7  saedon  Jx«^ 

excusabant  virtus 

he  wsere  hira  3ew[ealdes.  ac  {)a  bejladedon  me  min  J)a  lyttlan  m8e3(e)nu* 
J)a  \)e  ic  earma  7  unmed[ema  yefjre*  jedyde.  Sum  cwcsä.  Ic  eom  fsesten 
{)e  he  his  lichaman  on  aclsensode  wid  dam  yfelan  jeornissum.     Sum  cw«^. 

fudlt 

Ic  eom  hluttor  jebed.  l)cBt  he  jeat  in  drihtnes  jesihde.    Sum  cw«^.    Ic  eom  lO 

iftürmoriini  ohseqiiium  infirmis 

untrunira  {)ejuun3  ^a  he  mildelice  siocum  3edyde.  Sum  cw«;^.  Ic  eom  sealm 
san3.    J)one  he  3ode  jedyde  to  böte  his  unnyttra  worda.     7  swa  him  ce3de 

excusando 

anra  jehwilc  J3a?ra  mfe3na  7  wajs  hine  beladijende  wid  his  synnuw.  7  |)as  ^ 
wseron    eac    miccli3ende    J^a    en3ellican    3a8tas.    7    me    wa^ron    |3as    maijnu 

protegendo 

bescyldi3ende    l>a   J)e   her   trymedon.    7   me    wjer[o]n'   J)a    ma'jnu^    miccle  15 
maran  3eJ)uht  l:>omie  ic  ajfre  wende  l>cBt  ic  hi3  on  minum  m<T3ne  3efremman 
mihte.  7   he  ssede  eac  l^cet  he  jeseaje  on   ^issum   nioderan  middan  earde 
fyrene    seadas.    7    ])a   wa^ron    swide    e3eslice   üp    bl?estende.    7    he    jeseah 
muscas  (!)  q»' 

fleojan  injemanj  I^am  fyrenan  leje  J)a  earman  3astas.   |)a  wa^ron  on  sweartra 
fu3ela  önlicnessuw.  7  hi3  waron  hiofijende.  7  wepende.  7  3ristbiti3ende  mid  20 
menniscre  stefne  .  hiora  a3ene  3ewyrhtu.''    7   \)(pf  andwearde  wite.     7  hi3 

in  saeculari  habitu  degens,  vulnus  inflixit  —  quem  adhuc  in  hac  vita  super- 
esse referebat  —  ad  testimouium  malorum  suorum  adductum;  cuius  cruentatum 
et  patens  vulnus  et  sanguis  ipse,  propria  voce  clamans,  inproperabat  et  in- 
putabat  ei  crudele  effusi  sanguinis  crimen.  Et  sie  cumulatis  et  conputatis 
sceleribus,  antiqui  hostes  adfirmabant:  cum,  reum  peccatorum,  iuris  eorum  et 
conditionis  indubitanter  fuisse.  E  contra  autem  —  dixit  —  excusantes  me, 
clamabant  parve  virtutes  animae,  quas  ego  miser  indigne  et  inperfecte  perigi. 
Quaedam  dixit:  Ego  sum  oboedientia,  quam  senioribus  spiritalibus  exhibuit; 
quaedam:  Ego  sum  ieiunium,  quo  corpus  suum  contra  desiderium  carnis 
pugnans  castigavit;  alia:  Ego  oratio  pura,  quam  effundebat  in  conspectu 
Domini;  alia:  Ego  sum  obsequium  infirmorum,  quod  clementer  egrotantibus 
exhibuit:  quaedam:  Ego  sum  psalmus,  quem  pro  otioso  sermone  satisfaciens 
Deo  cecinit.  Et  sie  una  queque  virtus  contra  emulum  suum  peccatum,  excusando 
me,  clamitabat.  Et  has  illi  inraensae  claritatis  angelici  spiritus  magnificando, 
defendentes  me,  adfirmabant.  Et  istae  virtutes  universae  valde  mactae  et 
multo  maiores  et  excellentiores  esse  mihi  videbantur,  quam  umquam  viribus 
meis  digne  perpetrate  fuissent.  Inter  ea  referebat,  se,  quasi  in  inferioribus,  in 
hoc  mundo  vidisse  igneos  puteos  horrendam  eructantes  flamman  plurimos. 
Et  erumpente  tetra  terribilis  flamma  ignis,  volitasse  et  miserorum  hominum 


'  Loch.  2  Zwischen  he  und  wtss  Falte;  nur  e,  hi  und  der  untere  Strich 
der  «-Rune  erhalten.  ^  Großer  Sprung  im  Pergament,  der  sich  auch  über 
die  drei  folgenden  Zeilen  erstreckt.  Erkennbar  nur  der  obere  Teil  eines  h  (?), 
/,  p,  f.  *  Ms.  pfft  lijltla  mcpjen.  *  Die  Ergänzung  cpfre  ist  unsicher,  er- 
halten ist  nur  re  und  darüber  ein  Akzentstrich.  ^  Ms.  pas  pe  pe  (?).  '  Loch. 
**  Von  pa  mrpjmi  nur  der  untere  Teil  der  Buchstaben  erhalten.    "  Ms.  fyrhtu. 


42  Eine  altenglische  Vision  vom  Jenseits 

ripa 

jcsseton   liwilum  lythwon  ou   {)£era   seada   ofrum.     7    hij   fiollon    oft   fefre 

lii;;enrlo 

heofijcnde  in  f)a  scadas .  {)a  cwsed  him  an  to  of  |)am  haljan  cnjlum .  {)C08 

lyttlo  rest  j^tacnad   ])cpj  selmihtij  drillte«  sylcd  J)issum  sawlum  cclnissc.   7 

roste  xher  f)am  toweardan  domosdsejc.     7  sc  man  j^'liyrdc  undcr  {)am  sea- 

5  dum  in  J)3ere  nioderan  helle  swide  ejcslice  jränunje  >  7  swide  micelne  wöp 

liigentiuw 

[|jseral  ^  hiofijendra  sa[wla  .  {)a  cwsed  him]  ^  tö  an  Jjsera  enjla .  {)eos  3ranun3 
(fol.  145)  7  {)es  wop  jie  J)u  her  jehyrest  in  {)isse  nioderan  helle.  |)r?<  syn- 
don  {)a  sawla  Jie  hiom  nsefre  to  ne  cymd  jodes  seo  ärfoste  miltsc .  ac  hio 
sccall  cwylraian  sc  cca  loj.  7  he  l3a?r  jrseah  eac  sumc  stowe  on^  swide 
10  wudorlicre  fsejernisse  7  I>3er  blissode  swide  fsegera  sawla  menigu .  {)a  ladedon 

f;audiiiTO 

hij  hine  ^cet  he  come  to  hiora  ^efean.  3yf  him  alyfed  wsere  .  Jia  com 
J)anon  swide  miccl  swcj  7  se  wses  on  swide  micelre  swetnysse .  |)is  {)onne 
wfes  J)aera  cadijra  3asta  orod  .  Iseos  stow  l>onne  wses  be  J)an  |3a  onjlas  him 
ssedau^  Ixft  hit  wfes  sc  mjera  niorxna  wanj.  7  he  {)8er  3escah  fyren[e]  ea 

15  sio  waes  jcfyllcd  mid  weallonde  picc.^  7  hio  wfes  call  iuneweard  bymcnde.  7 
hio  wfes  on  wundorlicre  fyrhtu.  7  lA^r  wj)e]s^  an  treow  ofer  f)a  ea  on 
brycje  onlicnysse .  ]oon«e  efstari  Jja  haljan  sawla  [to  ]3?erc]  ^  bricje  fram  \>am 
jemote  l>e  Inj  tet  wseron.  7  hij  jyrndon  \)cet  liij  ofer  foren  ])a  ea .  \)()n?ie  fcrdojn] 
hij  sunie  swide  anrsedlice  ofer  j)a  bricje  7  sume  hij  wurdon  asüdene  of  {)am 

20  triowe  \-)(xt  hij  bcfcollan  in  Ipa  tintrcjan  ea.  Sume  hij  befiollan  in  fotes 
deopnesse  .  sume  mid  ealne  lichanian .  sume  odda  cneowu  .  sume  oddone 
middel .  sume  odda  helan .  Jjon^ze  symble  wses  J)ara  sawla  aejhwilc  biorhtre 
l)onne  hio  a?r  wa^s  syddan  hio  eft  coman  up  of  Jaa^re  picenan  ea .  f)a  cwsed 

Spiritus,  in  similitudiue  nigrarum  avium  per  flammam,  plorantes  et  ululantea 
et  verbis  et  voce  humana  stridentes,  et  lugentes  propria  merita  et  praesens 
supplicium;  conscdisse  paululum,  hcrentes  in  marginibus  puteorum ;  et  iterum 
hciulantes  cecidisse  in  puteos.  Et  unus  ex  angelis  dixit:  Parvissima  haes 
rcquies  indicat,  quia  onmipotens  Dens  in  die  futuri  iudicii  his  animabus 
refiigerium  supplicii  et  rcquiem  perpetuam  praestiturus  est.  Sub  illis  autem 
putcis,  adhuc  in  inferioribus  et  in  imo  profundo,  quasi  in  Inferno  infcriori, 
audivi  horrendum  et  tremcndum  et  dictu  difficilem  gemitum  et  fletum 
lugontium  aniiiiarum.  Et  dixit  ei  angclus:  Murmur  et  fletus,  quem  in 
inferioribus  audis,  illarum  est  animarum,  ad  quas  numquam  pia  miseratio 
Domini  pervcniet;  sed  aeterna  illas  flamma  sine  fine  cruciabit.  Vidit  quoque 
mire  amoeuitatis  locum,  in  quo  pulche  rimorum  hominum  gloriosa  multitudo 
miro  laetabatur  gaudio;  qui  cum  invitabant,  ut  ad  eorum  gaudia,  si  ei  licitura 
fuissct,  cum  eis  gavisurus,  veniret.  Et  inde  mirae  dulcedinis  fraglantia 
veniebat;  quia  beatorura  alitus  fuit  ibi  congaudentium  spirituum  Quem  locum 
sancti  angeli  adfirmabant  famosum  esse  Dci  paradisum.  Nee  non  et  igncura 
piceumque  flumen,  bulliens  et  ardens,  mirae  formidinis  et  teterrimae  visionis 
cernebat.  Super  quod  lignum,  pontis  vice,  positum  erat.  Ad  quod  sanctae 
gloriosacque  animae,  ab  illo  secedentes  conventu,  properabant,  dcsidmo 
altcrius    ripae    transire   cupientes.     Et   quacdam   non    titubantes   constanter 


1  Ms.  eslic  jranunj  :  ej  nicht  mehr  zu  erkennen.  ^  Nur  einzelne  Striche 
sichtbar.  '  Sprung:  der  untere  Teil  der  w-Rune,  der  obere  des  /  und  ß 
erhalten.  *  oh  im  Ms.  vor  sume.  ^  Vom  ce  nur  der  erste  Strich  erhalten. 
^  Ms.  deutlich  uiie  für  pice.  '^  Sprung:  nur  p  und  ein  schwacher  Stiich 
danach  erkennbar.       **  Loch. 


Eine  altcnglische  Vision  vom  Jenseits  43 

an  enjol  to  him  bi  J)am  feallondum  sawlum  .  {)is  syndon  |)a  sawla  J)e  aeftcr 
Iiinsidc  sumerc  artestrc  clsensunje  biliofiad  7  jedes  niiltsunje .  licet  hij  syn 
him  wyrdc  to  brinjcnne.  7  he  ssede  {)<yf  he  J^ser  jcseje  seinende  weallas .  f)a 
■\v£eron  on  miceh-e  biorhtncsse.  7  on  wundorHcre  lenju.  7  on  örmjettre 
heannesse .  {)a   cwsedon   J)a   haljan   enjlas .  J)is   is   sio   halijo   7   sio   mserlice    5 

exiiltxiMt 

ceaster  hierusalem .  in  f)8ere  sefejniad  symble  J)a  eadijan  sawla.  7  J)a  haljan 
jastas.  7  l>onne  {)a  sawla  conian  ofer  J)a  ea  {)e  ic  a'r  bij  s?ede  {)on«e  efstan 
hij  eallum  m?ejne  widdissa  wcalla .  he  |5onr?e  ssede  liest  ^  hij  wseron  swide 
bcorhte  scinende.  7  he  s?ede  licet  him  wurde  for  {)isse  miclan  beoihtncsse 
his  eajena  jcsihd  forstynted .  licet  he  nsenij  I)inja  locian  ne  milite  on  J)a  lo 
beorh[t|nesse .  ssede  eac  lest  Ixr  cumen  wsere  sumes  mannes  sawul  to  f)ara 
jcmote .  se  weard  dcad  in  abboddomes  fjejnunje.  7  sio  wses  swide  wlitij 
jesejen .  pa  jejripon  ]3a  deoflu  Jja  sawle.  7  hij  ssedon  licet  hio  wgere  hiora 
hlytes^  7  hiora  anwealdes  .  J^a  andswarode  him  an  of  {)am  haljan'  cnjkim.  7 
cwö?(f.  Ic  eow  nu  jecyde  hrade*  je  earman  jastas  licet  J)ios  sawul  [ne  bid  lö 
eowj^res  jewealdcs .  Jia  mid  1y  Ic  l'is  (fol.  145b)  jecweden  wais.  J)a  com  {)ser 
fserlice  micol  hcap  swide  liwittra  sawla  7  {)us  wteron  cwedende .  {)es  abbod  wses 
ure  ealdor  7  us  ealie  he  jestrynde  jode  mid  his  lare.  7  he  bid  alysed  for  {)issum 
weordo.  7  he  ne  bid  eowres  anwealdes .  {)a  jefuhton  {)a  enjlas  widdam  deoflum. 

eriperent 

7  {>a  enjlas  {)a  jeeodon  ^  on  {)a  deoflu  J)«^  hij  jeneredon  la  sawle  of  {)ara  20 

corripuit 

wcrijdra'^   jasta   anwealde .  {)a  J)reade   se   halja   enjel   |)a   deoflu   7   cwceä. 

trausibant.  Quacdam  vero  labefactae  de  ligno  cadebant  in  Tartareum  flumen; 
et  aliae  tinn:ucbantur  pene,  quasi  toto  coipore  mersae;  aliae  autcm  ex  parte 
quadam,  vcluti  quedam  usque  ad  genua,  quacdam  usque  ad  corpus  medium, 
quaedam  vero  usque  ad  ascellas.  Et  tamen  una  quaeque  cadentium  niulto  clarior 
speciosiorque  de  flumine  in  alteram  ascendebat  ripam,  quam  prius  in  piceum 
bulliens  cccidisset  flumen.  Et  unus  ex  beatis  angelis  de  illis  cadentibus 
animabus  dixit:  Hae  sunt  animae,  quae  post  exitum  mortalis  vitae,  quibusdam 
levibus  vitiis  non  omnino  ad  purum  abolitis,  aliqua  pia  miserentis  Dei  cast- 
gatione  indigebant,  ut  Deo  dignae  offerantur.  Et  citra  illud  flumen  specula- 
tur  muros  fulgentes  clarissimi  splendoris,  stupendae  lougitudinis  et  altitudinis 
inmensae.  Et  sanetos  angelos  dixisse:  Haec  est  enim  illa  sancta  et  inclita 
civitas,  caelcstis  Hierusalem,  in  qua  istae  peri^otualiter  sanctae  gaudebunt 
animae.  lllas  itaque  animas  et  istius  gloriosae  civitatis  muros,  ad  quam  post 
transitum  fluminls  festinabant,  tarn  magna  inmensi  luminis  claritate  et  fulgore 
splendentes  esse  dixit,  ut,  revcrberatis  oculorum  pupillis,  pro  nimio  splendore 
in  eos  nullatenus  aspicere  potuisset.  Narravit  quoque,  ad  illum  conventura 
inter  alias  venisse  cuiusdam  hominis  animam,  qui  in  abbatis  officio  defunctus 
est;  quae  speciosa  nimis  et  formosa  esse  visa  est.  Quam  maligni  Spiritus 
rapientes  contendebant  sortis  eorum  et  condicionis  fuisse.  Respondit  ergo 
unus  ex  choro  angclorum  dicons:  Ostendam  vobis  cito,  miserrimi  spiritus, 
quia  vestrae  potcstatis  anima  illa  probatur  non  esse.  Et  his  dictis,  repente 
intervenit  magna  cohors  candidarum  animarum,  quae  dicebant:  Senior  et 
doctor  noster  f uit  iste,  et  nos  omnes  suo  magisterio  lucratus  est  Deo ;  et  hoc 


'  Nur  der  obere  Teil  des  durchstrichcnen  p  erhalten.  2  ^m  Rande: 
particip.  3  Nur  der  obere  Teil  von  jaw  erkennbar.  *  Am  Kande:  cito. 
^  Sprung.  Wegen  der  Ergänzung  vgl.  4  Zeilen  weiter  unten.  ^  Ms.  jeoden. 
^  Das  e  durch  untergesetzten  Punkt  getilgt  und  a  von  späterer  Hand 
darübergeschrieben. 


44  Eine  altenglische  Vision  vom  Jenseits 


sine 


Wite  36  nu  \:>fet  je  3euamon  {)a9  sawle  buton  rihte .  3ewitad  jena  earman 
jastas  nu  in  l)cet  ece  fyr,  7  J)a  se  enjel  l>ia  jecweden  bfefde .  J)a  ahofan 
{)a  awyrijdan  deoflu  swide  ormaitlicne  hiaf  7  lii3  wurpan  hi3  sylfe  mid 
cwealmiicre  füllte  on  {)a  byrn[endan  seajdas.i  7  hij  coman  eft  sefter  lyttlum 
5  fiiice  in  f)«^  3emot  7  hi3  flito[n  bi]  ~  manna  sawla  jewyrhtum.  7  bij  fliton 
eac  bi  Jjara  manna  3ewyrhtum  Jje  in  l^issum  life  mislice  lifiad.  7  he  seede 
eac  [o]n3  f»a  tid  |)e  he  wses  buton  lichaman  .  {>«;'  he  mihte*  sceawian  J)a 
men  {)a  Jje  wa-ron  mid  synnum  besmitene.  7  eac  {sä  |)e  wgeron  mid  hal3um 
m8e3num  3ode  Jjeowigende.  7  mid  ärfajstnyssum  hsefdon  a^lmihti3ne  3od.  7 

protecti 

10  he  jeseah  \)CBt  Jja  5odesmen  wajron  symble  biscyldede^  fram  {)am  en3lum. 
7  {)a  en3la8  wa?ron  to  him  3ej3eodde  mid  sibbe  7  mid  lufu.  7  he  ssede 
bi    J)am    mannu?»    {)e    wasron    3efylde    mid    manfullum    synnu»?    J)fe/   ^aer 

Uli 

wasron    symble    deoflu    to    Jiam    3eJ)eodde.    7    he    S8e,3de    l>onne   se   man 

syn3ode  .  odde  on  worde  .  odde  on  da^de  .  jicet  J)a  deoflu  ^cet  sinjallice  ssedon 

15  J)am  wyrrestan  deoflum.  7  \>(et  hi3  hit  brohtan  mid  hleahtre  in  hira  midnesse.  7 

he  saede  {)on«e  se  man  firnode  ])(et  J)a  deoflu  brohtan  selce  synne  on  sundran 

repente 

Jjam    odrum    deoflum    to    jewitnesse.    7    he    sfede   ])(st   se  diofol  semnin3a 

docuit 

Jja    synne    3elserde    I)one    man    7   J)«^   he    hi3    eft   semninja   jecydde   {)am 

deoflum.  7  he  ssede  f)«;"  he  3esea3e  3rindan^  her  on  worulde  an  msejden  on 

20  anre  cweorne'' .  pa  3esiah  hio  lic3an  oj^res  mfe3dnes  lorh  wid  1113  swide  faejre 

awrittenne  mid  fa3um  ffese .  {)a  forstael  hio  hine  .  J)a  wasron  J)a  deoflu  sona 

gaudio 

jefylled  mid  swide  ormiftlice  3efean.  7  {j'^r  urnon  sona  fif  Jja  wyrrestan  deofla. 

culpa 

7  ssednn  {)a  stalu   to   scylde  in  {)ara  odra  deofla  jemote.     7  hi3   wre3don 

pretio  redemptus  est,  et  vestri  iuris  non  esse  dinoscitur,  et  quasi  cum  angelis 
contra  daemones  pugnam  inirent.  Et  adminiculo  angelorum  eripientes  illam 
animam  de  potestate  malignorum  spirituum  liberaverunt.  Et  tum  increpans 
augelus  daemones  dixit:  Scitote  modo  et  intellegite,  quod  animam  istam  sine 
iure  rapuistis;  et  discedite,  miserimi  spiritus,  in  ignem  aeternum.  Cum  vero 
hoc  dixisset  angelus,  ilico  maligni  spiritus  levaverunt  fletum  et  ululatum 
magnum;  in  momento  et  quasi  in  ictu  oculi  pernici  volatu  iactabant  se  in 
supra  dictos  puteos  ignis  ardentis;  et  post  modicum  intervallum  emersi, 
certantes  in  illo  conventu  iterum  de  animarum  meritis  disputabant.  Et  diver- 
sorum  hominum  merita,  in  hac  vita  commorantium,  dicebat  se  illo  in  tempore 
speculari  potuisse.  Et  illos,  qui  sceleribus  obnoxii  non  fuerunt  et  qui,  sanctis 
virtutibus  freti,  propitium  omnipotentem  Deum  habuisse  noscebantur,  ab 
angelis  semper  tutos  ac  defensos,  et  eis  caritate  et  propinquitate  coniunctos 
fuisse.  Ulis  vero,  qui  nefandis  criminibus  et  maculate  vitae  sordibus  polluti 
fuerunt,  adversarium  spiritum  adsidue  sociatum  et  semper  ad  scelera  suadentem 
fuisse;  et  quandocumque  verbo  vel  facto  peccaverint,  hoc  iugiter  quasi  ad 
laetitiam  et  gaudium  aliis  nequissimis  spiritibus  in  medium  proferens  mani- 
festavit.  Et  quando  homo  peccavit,  nequaquam  malignus  spiritus  sustinuit 
moram  faciens  expectando,  donec  iterum  peccaret;  sed  singillatim  unum 
quodque  vitium  ad   notitiam   aliorum  spirituum   offerebat.     Et  subito   apud 


1  Nur  einzelne  Striche  erkennbar.  -  Lücke.  *  Falte  im  Pergament. 
*  //e  mikfe  sehr  undeutlich.  *  Ms.  biscyldende.  ^  Pergament  geschwärzt, 
nur  j,  r,  dem  deutlich.        ''  Nur  cimor  deutlich,  das  übrige  geschwärzt. 


Eine  altenglische  Vision  vom  Jenseits  45 

[)a  stale  to  scylde.  7  sanlon  ])cet  \)mt  ma'jden  \va?re  fyrenful.  7  ssede  eac 
^cef  he  {)fer  jeseje  sumes  ealdes  preostes  saw[le]  ^  in  micelre  unrotnesse .  se 
wjea  lyttle  ivr  d[e]ad.  7  {)am  he  Jsejnade  [sylf  jer  {)an]2  on  his  feorhadle.^  7 
he  me'(fol.  146)  {)a  bead  Jia  he  waes  sweltende.  |)«;  ic  bsede  his  [lices  broilor 
^^(Bt  he]*  friode  ^cat^  nisennen  for  hine  ^cBt  wses  hiom  baem  ^[emsene  .  {)a  ^e-  5 
cydd]e^  he  hit  him  .  ac  his  lices  brodor  for  his  jitsunje  aja'jlde  his  be]ne^ 
7  nolde  hij  jefyllan  * .  {)a  wa^s  his  sawul  on  J)8ere  hexlan  sworetunje  [7 
wa-ls"  wrejende  hire  I)one  unjetreowan  brodor.  7  hio  hefi3lic[e]  hine 
[J)rea]de. '"     7  I^a  Jjis  wa^s  call  J)uss  ^especen  7  jesceawod  .  {)a  bibudon  I)a 

mora 

eadijan  enjlas  '^mt  his  sawul  ahwyrfde  eft  buton  yldinje  to  his  lichaman.  7  he  lo 
J)a  3ecyd[djeii  call  ^cet  him  {jajr  jeteawed  waes  jelyfedum  niannum.  7  {)am 
J)e  hit  bismorodan  .  ^oime  forwyrnde  he  {)a»i  J)a?re  sejene.  7  sumum  wife  he 
jerehte  hire  synne  .  sio  wa^s  eardijende  in  feor  J)iode.  7  he  hire  jecydde  ^(st 
hio  niihte  jeearnian  jif  hio  sylf  wolde  ^cet  hire  wa?re  gelmihtij  jod  miltsiende. 
7  sumum  maessepreoste  he  jerehte  ealle  {)as  jastlican  jesihde  .  I^a-s  maese-  15 
preostes  nama  waes  bo^ia.  7  se  hine  jdaerde  ^cet  he  J)as  jesihde  mannum 
cydde.    7  he  jecydde  |)am  preoste  ^cet  he  waes  iu  for  manejum  wintrum 

cinctus 

bi^yrded  for  jodes  lufan  mid  iserne  jyrdelse.  7  naes  him  {)a^8  naenij  man 
jewita.  7  he  saede  |)a  he  eft  sceolde  to  his  lichaman.  ^oit  he  J)a  naenije  odre^* 
wiht   swa  swide  onscunode  on  ealre  J)aere  jesihde  ])e  he  jeseah  .  swa  his  20 

hominem  peccata  suasit,  et  ilico  apud  daemones  perpetrata  demonstravit. 
Inter  ea  narravit,  se  vidisse  puellam  quandam  in  hac  terrena  vita,  molentem 
in  mola.  Quae  vidit  iuxta  se  iacentem  alterius  novam  colum  sculptura  variatam ; 
et  pulchra  ei  visa  fuit,  et  furata  est  illam.  Tunc,  quasi  ingenti  gaudio  repleti, 
([uinque  teterrimi  spiritus  hoc  furtum  aliis  in  illo  referebant  conventu;  testi- 
ficantes,  illam  furti  ream  et  peccatricem  fuisse.  Intulit  quoque:  Fratris 
cuiusdam,  qui  paulo  ante  defunctus  est,  animam  tristem  ibi  videbara.  Cui 
antea  ipse  iu  infirmitate  exitus  sui  ministravi  et  exsequias  praebui;  qui  mihi 
moriens  praecepit,  ut  fratri  illius  gerniano,  verbis  illius  testificans,  demandarem, 
ut  ancillam  quandam,  quam  in  potestate  communiter  possederunt,  pro  anima 
eins  manu  mitteret.  Sed  germanus  eins,  avaritia  impediente,  Petitionen  eins 
non  implevit.  Et  de  hoc  supra  dicta  anima  per  alta  suspiria  aceusans  fratrem 
infidelem  et  increpans  graviter  querebatur  ... 

Tum  demum  beati  angeli  praecipiebant  ei,  qui  haec  omnia,  extra  corpus 
suum  raptus,  spiritali  contemplatione  vidit  et  audivit:  ut  sine  mora  ad  pro- 
prium rediret  corpus;  et  universa,  quae  illi  osteusa  fuerunt,  credentibus  et 
intentione  divina  interrogantibus  manifestare  non  dubitaret,  insultantibus  autem 
narrare  denegaret ;  etut  cuidam  mulieri,  quae  inde  in  longinqua  regione  habita- 
bat,  eins  perpetrata  peccata  per  ordinem  exponeret  et  ei  intimaret,  (piod  omni- 
potentem Deum  potuisset  per  satisfactionem  repropitiari  sibi,  si  voluisset;  et 
ut  cuidam  presbitero  nomine  Beggan  istas  spiritales  visiones  cunctas  exjioneret 
et  postea,  quemadmodum  ab  illo  instructus  fieret,  hominibus  pronunciaret ; 
propria  quippe  peccata,  quae  illi  a  spiritibus  inmundis  inputata  fuerunt,  con- 
fessa,  supra  dicti  presbiteri  iudicio  emendaret;  et  ad  indicium  angelici  prae- 
cepti  preabytero  testificaretur,  quia  iam  per  plurimos  annos  zonam  ferream 
circa    lumbos,    nullo    hominum    conscio,    amore   Domini    cogente,    habuerat. 


1  Falte.  2  Ausschnitt  am  unteren  Rande.  ^  Am  Rande  darunter: 
extrema.  *  Großer  Riß.  ^  Nicht  sicher  zu  erkennen.  ^  Riß  im  Perga- 
ment. ^  Riß.  8  Ms.  jefyllen.  »  Sprung,  i"  Sprung.  "  Loch.  '2  oder 
n(Bnij  oder  wihtl     Ms.  ncenijre  odru  wiht. 


46  Eine  altcnglische  Vision  vom  Jenseits 

ajcnnc  lichamaii .  ne  him  nan  Jiinj  SAva  ladlic  {)uhte  ne  swa  forsewenlic.  7  he 
najfrc  jostanc  hiardran  fülnc8[sel '  I^oune  hvii  Jjuiitc  licet  sc  lichama  stunce 
butau  I^am  dcoflum  7  I>am  byrncndura  fyre  ])e  he  J)8er  3cseah.  7  him  J)a 
wa^s  bibodcn  Ipcei  he  2  hwyrfde  to  his  lichaman  in  dsejred.  7  ser  he  eode  of 
5  his  lichaman  ast  {)am  forman  häncrcde.^ 

Proprium  corpus  dicebat  sc,  dum  extra  fucrat,  tarn  valde  perliori-uisse,  ut  in 
Omnibus  illis  visionibus  nihil  tam  odibilc,  nihil  tarn  dcspcctum,  nihil  tarn 
durum  foetorem  evaporans,  exceptis  demonibus  et  igne  flagrante,  videret, 
quam  proprium  corpus  . . . 

lussus  tarnen  ab  angclis,  primo  diluculo  redit  ad  corpus.    Qui  primo  galli- 
cinio  exicbat  de  corpore  . . . 


\ 


1  Ms.  fi'dnes.  2  Sprung,  nur  der  obere  Teil  des  h  erhalten.  ^  ^m 
Rande:  gaUican. 

Bemerkungen  zu  einzelnen  Stellen. 

S.  38  6.  Es  ist  schwer  zu  sagen,  was  sich  der  Übersetzer  bei  nedbad 
gedacht  hat.  Die  gewöhnliche  Bedeutung  'Notpfand,  gewaltsam  genommenes 
Pfand'  gibt  hier  keinen  Siun.  Wenn  wir  die  lateinische  Vorlage  in  Betracht 
ziehen  ('Dicebat,  se  per  violentis  egritudinis  dolorem  corporis  gravedine 
subito  exutum  fuissc'),  so  sehen  wir,  daß  'egritudo'  wiedergegeben  wurde 
mit  ßcet  his  Ucliayna  wäre  seoc  jeuorden.  Dem  'corporis  gravedine  subito 
exutum  fuisse'  entspricht:  7  he  iccbs  semninja  py  jaste  bencpmed.  So  bleibt 
also  nur  noch  'violens'  und  'dolor'  übrig,  'dolor'  scheint  ganz  übergangen; 
beim  'violentis'  der  Vorlage  mag  dem  Übersetzer  etwas  wie  'violentia'  in  den 
Sinn  gekommen  sein.  Man  erinnert  sich  der  öfters  belegten  Phrase  nyde 
jebmlrd,  so  daß  nedbad  hier  etwa  'schwere  (körperliche)  Bedrängnis'  oder 
dergleichen  bedeuten  könnte.  Im  bildlichen  Sinne  kommt  das  Wort  auch  in 
einer  Homilie  'on  the  Harrowing  of  Hell',  herausgegeben  von  H.  Huhne, 
Mod.  Phil.  I,  vor;  s.  E.  H.  Swaen,  Engl.  Stud.  49,  S.  350. 

S.  38  9.     beivrijennys  =  'velamen'. 

S.  39 '4.  scm^cfijwes  = 'laesio'.  scseddig  ist  bei  Bosworth- Toller  aus 
^Ifrics  Grammatik  (Zupitza  63,  15)  belegt,  wo  die  Hs.  U  sceaddig  bietet. 

S.  39-2.     lihtijende,  'relevando',  von  *lihtian  für  lihtan. 

S.  40  13.  drupunj  =  'torpor',  von  an.  drupa.  Hier  ein  ae.  Beleg  für 
das  Wort. 

S.  40  lö  f.  Hier  scheint  im  Texte  etwas  in  Unordnung  geraten  zu  sein. 
Die  Worte:  pa  pu  oära  manna  lif  eahtodest  (mit  der  Glosse  persccufus  es) .  7 
pin  ajen  lif  forlete  haben  in  der  lat.  Vorlage  nichts  Entsprechendes  und 
passen  auch  nicht  zum  vorhergehenden  siciciende  jepoht  7  u»nyt  jymeyi. 
Was  in  der  Vorlage  weiter  unten,  nach  Ego  Her  otiosum  steht:  Ego  surn 
neglrgentia  et  incuria  etc.,  ist  in  der  Übersetzung  ganz  übergangen. 

S.  40  17.  mid  pam  auf  slapolnis  bezogen  ('somnolentia,  qua  oppressus  ...'); 
doch  vgl.  S.  421^:  ßeos  stow  he  pan  enjlas  sadon  .  .. 

S.  41  6.     tealode,  zu  ialian  (übersetzt  lat.  'computare'),  mit  ««-Umlaut.. 

S.  42 12.  suej  beruht  entweder  auf  einem  Mißverständnis  des  Über- 
setzers oder  einem  Versehen  des  Schreibers;  man  würde,  entsprechend  dem 
lat.  'fragrantia'  ('fraglantia'),  stenc  erwarten. 

S.  44  4.     fliht  hier  feraininum. 

S.  44  2ü.     lorh  als  masculinum. 

Greifswald.  M.  Konrath. 


Dickens'  Gebrauch  der  rhythmischen  Prosa 
im  'Christmas  carol'o 

Rhythmische  Prosa  besteht  nicht  bloß  in  gleichmäßigem  Wechsel 
von  Hebung  und  Senkung  durch  eine  beträchtliche  Strecke 
sonst  ungebundener  Rede  hin  (Kettenrhythmik)  oder  in  gleich- 
mäßiger AViederkehr  irgendeiner  Gruppierung  von  Hebung  und 
Senkung  (Parallelrhythmik).  AVürde  dieses  rein  sinnliche  Kriterium 
genügen,  so  müßte  oft  die  gewöhnlichste  Geschäftsrede  dm-ch  ganze 
Satzreihen  hin  als  rhythmische  Prosa  bezeichnet  werden.  So  ist 
aber  der  Begriff  nicht  gemeint.  Er  setzt  vielmehr  voraus,  daß  die 
Rhythmisierung  nicht  etv^'as  Zufälliges  oder  Willkürliches  sei,  son- 
dern etwas  Künstlerisches,  ein  Mittel  zu  besserer  Hervorhebung 
poetischen  Inhalts,  eine  organische  Außenform  für  innere  Gehoben- 
heit. In  solchem  Sinne  sprechen  wir  von  der  rhythmischen  Prosa 
vieler  Bibelstellen,  besonders  der  Psalmen,  der  Üssiandichtungen, 
des  Nietzscheschen  'Also  sprach  Zarathustra'.  Natürlich  ist  solche 
Gehobenheit  des  Inhalts  nur  ein  relatives  Kriterium,  durch  dessen 
Hinzutritt  das  absolute  Kriterium,  nämlich  die  Wiederkehr  der 
Hebungen  und  Senkungen  in  einer  der  obengenannten  zwei  For- 
men, ohne  Zweifel  etwas  Vages  erhält.  Aber  in  allen  künstle- 
rischen Dingen  ist  mit  einer  gewissen  Unbestimmtheit  der  Grenzen, 
mit  einem  sehr  individuellen  Element  des  Schaffens  und  des  Auf- 
fassens zu  rechnen.  Verzichtet  man  darauf,  die  Zweckmäßigkeit 
in  der  Rhythmisierung  der  Rede  mit  zu  beachten,  so  ist  es  fast 
unmöglich,  bei  den  alltäglichsten  Plu-asen  rhythmische  Prosa  zu 
vermeiden. 

Mit  richtiger  Absicht  hat  Dickens  im  Xm  C  weit  mehr  als  in 
irgendeinem  früheren  Werke  das  Prinzip  verfolgt,  aus  gewöhn- 
licher, rhythmusloser  Prosa  da,  wo  das  Übernatürliche  hereinspielt, 
in  Rhythmik  und  zugleich  in  eine  gewähltere  Rhetorik  überzugehen; 
meistens  ist  es  allerdings  einfache  Rhetorik,  die  sich  nur  durch 
Vornehmheit  in  der  Wortwahl  auszeichnet. 

Dickens  braucht  dieses  Stilmittel,  um  aus  der  Welt  der  Wirk- 
lichkeit, ja  krasser  Wirklichkeit,  mit  der  seine  Geschichte  anhebt, 
den  Leser  glaubwürdig  ins  Traumhafte,  Wunderbare  und  Bedeut- 
same hinüberzuschieben.  Er  verwendet  es  zuerst  da,  wo  er  bei 
Scrooges  einsamem  Abendessen  ein  unheimliches  Rumpeln  im  Kel- 
ler erwähnt;  es  ist  das  Vorspiel  zur  Erscheinung  des  Geistes.  Nie- 
mals hatte  Dickens  früher  einen  Geist  beschworen,  höchstens  dü- 
stere Regungen  des  Gewissens  ausgemalt.  Es  war  eine  neue 
Aufgabe,  der  er  sich  hier  unterzog,  über  die  Wirklichkeit  hinaus- 
zugreifen, und  es  ehrt  sein  Geschmacksgefühl,  daß  er  hiezu  auch 
einen  neuen  Redeton  anschlug. 


48       Dickens'  Gebrauch  der  rhythmischen  Prosa  im  'Christmas  carol' 

Die  Kettenform,  in  der  die  Ankündigung  von  Marleys  Geist 
beschrieben  ist,  wird  durch  eine  Reihe  blankversartiger  Gebilde 
dargestellt;  manchmal  sind  es  drei  oder  vier  Jambenpaare,  manch- 
mal auch  sechs  oder  mehr,  die  durch  eine  geringe  Unterbrechung 
der  Rhythmik  oder  durch  einen  markanten  Satzschluß  voneinander 
geschieden  sind: 

The  cellar-door  flew  open  with  a  booming  sound, 

And  then  he  heard  the  noise  much  louder  on  the  floors  below; 

Then  coming  up  the  stairs. 

'It's  humbug  still  I'  said  Scrooge.     'I  won't  believe  it.' 

His  colour  changed  though,  when,  without  a  pause, 

It  came  on  through  the  heavy  door, 

And  passed  into  the  room  before  his  eyes. 

lipon  its  Coming  in,  the  dying  flame  leaped  up, 

As  though  it  cried,  'I  know  himi     Marley's  Ghost!' 

And  feil  again.  (Ed.  Tauchnitz,  S.  24.) 

Ahnliche  Kettenformen  begegnen  bei  der  Ausmalung  der  visionären 
Tischszene  im  Hause  des  Schreibers  Cratchit: 

At  last  the  dishes  were  set  on  and  grace  was  said. 

It  was  succeeded  by  a  breathless  pause, 

As  Mrs.  Cratchit,  looking  slowly  all  along  the  carving-knife, 

Prepared  to  pluuge  it  into  the  breast; 

But  when  she  did, 

And  when  the  long  expected  gush  of  stuffing  issued  forth, 

One  murmur  of  delight  arose  all  round  the  board, 

And  Tiny  Tim,  excited  by  the  two  young  Cratchits, 

Beat  on  the  table  with  the  handle  of  his  knife. 

And  feebly  cried  Hurrah I  (S.  67.) 

Ebenso   bei   der  Beschreibung   der  Allegorien  von   Ignorance  und 
Want  durch  den  Geist: 

'They  are  Mau's,' 

Said  the  Spirit,  looking  down  upon  them. 

'And  they  cling  to  me,  appealing  from  their  fathers. 

This  boy  is  Ignorance.     This  girl  is  Want. 

Beware  them  both  and  all  of  their  degree; 

But,  most  of  all,  beware  this  boy,  for  on  his  brow 

I  see  that  written  which  is  Doom, 

Hnless  the  writing  be  erased.     Deny  it!'  ... 

'Slander  those  who  teil  it  ye! 

Admit  it  for  your  factious  purposes  and  make  it  worse! 

And  bide  the  end!'  (Ö.  84), 

Auch  in  den  Worten  des  erschütterten  Scrooge  an  den  Geist  der 
zukünftigen  AVeihnacht: 

'Ghost  of  the  Future!'  he  exclaimed, 

'I  fear  you  more  than  any  spectre  I  have  seen. 

But  as  I  know  your  purpose  is  to  do  me  good, 

And  as  I  hope  to  live  to  be  another  man  from  what  I  was, 

I  am  prepared  to  bear  you  Company, 

And  do  it  with  a  thanliful  heart. 

Will  you  not  speak  to  me?'  (S.  85—86), 


Dickens'  Gebrauch  der  rhytliniischen  Prosa  im  'Christinas  caror        49 

in  der  Schilderung  des  Zimmers,  in  dem  der  Tote  liegt: 

A  pale  light 

Rising  in  the  outer  air, 

Fell  straight  upon  the  bed; 

And  on  it,  plundered  and  bereft, 

Unwatched,  unwept,  uncared  for, 

Was  the  body  of  this  man.  (S.  94.) 

Weitere  Belege  dieser  Art  bieten  die  malerische  Beschreibung  der 
wilden  Heidelandschaft  (S.  73),  der  Vorwurf,  den  der  Geist  der 
gegenwärtigen  Weihnacht  gegen  Scrooge  erhebt  (S.  36 — 37),  das 
feierliche  Versprechen  des  bekehrten  Scrooge  an  den  letzten  Geist 
(S.  103). 

Die  Parallelform  dagegen  in  Ossianischer  Gestalt  ist  selten  zu 
beobachten,  am  ehesten  in  der  Weise,  daß  zwei  Redegruppen  von 
je  vier  Füßen  aufeinander  folgen,  z.  B.  in  der  Klage  von  Marleys 
Geist  über  seine  Ketten: 

'I  ivear  the  c//ain  I  /brged  in  Zife'  (replied  the  Ghost). 

'I  made  it  Zink  by  Zink,  and  ^ard  by  ya.rd. 

I  ^rirded  it  on  of  my  own  free  iviU, 

And  oi  my  own  free  iriW  I  irore  it  . . .'       (S.  27 — 28) 

und  in  der  Schilderung  seines  unsteten  Daseins: 

,;  '. . .  I  cannot  rest,  I  cannot  stay, 

I  cannot  linger  anywhere  . . .'  (S.  28); 

Ferner  in  der  Frage  des  in  Seelenangst  versetzten  Scrooge  an  den 

^®^^''-  'But  H'hy  do  spirits  ?i'alk  the  earth, 

And  why  do  they  come  to  we?'  (S.  27); 

Auch  in  seiner  Bitte  an  den  Geist: 

'Old  Jacob  ilfarley,  Zell  me  more. 

Speak  comfort  Zo  me,  Jacob.'  (S.  28.) 

Doppelte  Wiederholung  einer  rhythmischen  Gruppe  von  vier  Füßen 
ist  zu  beobachten,  wo  Dickens  selbst  beschreibt,  wohin  Scrooge 
von  dem  Geist  der  gegenwärtigen  Weihnacht  geführt  wird: 

Much  they  saw  and  far  they  went, 

And  many  homes  they  visited, 

But  always  with  a  happy  end.  (S.  82.) 

Überblickt  man  den  Bau  in  diesen  Hauptstellen  mit  rhythmischer 
Prosa  —  von  den  kürzeren  und  fraglichen  Belegen  abgesehen  — , 
so  ergeben  sich  für  Ketten-  und  Parallelformen  charakteristische 
Unterschiede. 

Die  Kettenform  hat  offenbar  einen  wesentlich  epischen  Cha- 
rakter. Die  Sätze  dehnen  sich  vor  uns,  als  wollten  sie  uns  auf 
Flügeln  der  Phantasie  hintragen.  Der  dramatische  Blankvers  lag 
dem  Dichter  im  Ohr,  aber  seine  Fünffüßigkeit  ist  vermieden;  meist 
sind  sehr  lange  Gebilde  ausgesponnen.    Nur  ausnahmsweise  ist  der 

Archiv    f.  n.  Sprachen.     139.  4 


50       Dickens'  Gebrauch  der  rhythmischen  Prosa  im  'Christmas  carol' 

Anfang  ein  trochäischer.  Zweisilbige  Senkung  wird  fast  niemals 
eingeschoben;  auch  schwere  Senkungen  werden  gemieden. 

Inhaltlich  erinnert  das  erste  Beispiel  dieser  Kettenform  —  An- 
kündigung von  Marleys  Geist  —  an  die  Beschreibung,  die  zu  An- 
fang des  Hamlet  von  der  Erscheinung  des  Vaters  gegeben  wird, 
und  es  ist  wohl  möglich,  daß  von  dort  die  Anregung  zu  Dickens 
gelangte,  für  eine  Weile  zum  Stil  der  Verstragödie  sich  zu  erheben. 
Die  zweite  Stelle  in  Kettenrhythmik  gemahnt  insofern,  als  der 
Inhalt  eine  visionäre  Tischszene  ist,  an  Macbeth,  und  zwar  in  paro- 
distischer  Umformung.  Jedenfalls  hat  Shakespeare,  mit  dem  Dickens 
nicht  umsonst  sich  so  intim  beschäftigt  hatte,  wesentlich  geholfen, 
dieses'^halbe  Versgewand  ihm  aufzudrängen. 

Die  Parallelrhythmik  hat  mehr  lyrischen  Charakter.  Sie  wird 
tatsächlich  zum  Ausdruck  auffälliger  Stimmungen  verwendet.  Häu- 
fig ist  sie  verbunden  mit  Wortwiederholung  oder  doch  mit  par- 
allelem Satzbau,  auch  mit  Alliteration.  Da  sie  regelmäßig  in  vier- 
füßigen  Gebilden  auftritt,  einmal  sogar  mit  großer  Annäherung  an 
Endreim  {went :  end  S.  82),  haben  eher  die  Verse  der  Hecate  in 
Macbeth  III,  5  und  der  Hexen  daselbst  auf  Dickens  gewirkt,  als 
etwa  die  rhythmische  Prosa  des  Ossian. 

Man  kann  nicht  sagen,  daß  diese  Verwendung  rhythmischer 
Prosa  in  Dickens'  Manuskript  im  ersten  Entwurf  weniger  aus- 
geprägt wäre  als  in  seiner  eigenen  Korrektur  oder  in  dem  von 
Forster  für  die  Presse  besorgten  Text.  Von  vornherein  waren  die 
Wunderszenen  des  Xm  C  in  dieser  gesteigerten  Ausdrucksweise 
abgefaßt,  und  es  lag  Dickens  fern,  sein  neues  Kunstmittel  im  Über- 
maß bis  zur  Manieriertheit  zu  gebrauchen. 

Berlin-Steglitz.  Fritz  Fiedler. 


Bemerkungen 
zu  'Adolf  Toblers  Altfranzös.  Wörterbuch', 

Lieferung  1  und  2. 

'Tu  der  im  Arch.  f.  n.  Spr.  137,  83  begonnenen  Anzeige  der  von 
^  E,  Lommatzsch  herausgegebenen  Sammlungen  Adolf  Toblers 
zu  einem  Altfranzösischen  Wörterbuche  folgt  hier  die  Fort- 
setzung, deren  Abdruck  der  Raum  dort  nicht  gestattete.  In  den 
unverändert  gebliebenen  Bestand  derselben  sind  nur  die  Bemer- 
kungen zur  Präposition  a,  die  zur  Einschränkung  des  Umfanges 
der  Besprechung  damals  fortgelassen  worden  waren,  nachträglich 
eingefügt  worden.  Eine  abweichende  Meinung  über  einige  Ein- 
zelheiten aus  dem  von  Tobler  gesammelten  Stoffe  wird  zur 
Sprache  kommen.  Hinzu  werden  auch  neben  Godefroys  Wörter- 
buch noch  mögliche  Ergänzungen  zum  Wortschatze,  zu  den  Be- 
deutungen und  zu  den  Wendungen,  sowie  dort,  wo  eine  Ver- 
mehrung der  dargebotenen  Belege  wünschenswert  oder  wenigstens 
nicht  überflüssig  erschien,  weitere  solche  treten.  Ein  *  bezeichnet 
Wörter,  die  Tobler  nicht,  Godefroy  hingegen  aufführt,  ein  ** 
solche,  die  keiner  von  beiden^gibt;  entsprechende  Kennzeichnung 
hinzugefügter  Bedeutungen  *  unterbleibt.  Chretien  de  Troyes' 
Dichtungen  sind  im  allgemeinen  nur  dann,  wenn  W.  Foersters 
Wörterbuch  zu  diesen  im  Stiche  läßt,  angezogen.  Einige  Belege 
entstammen  auch  Denkmälern,  die  erst  nach  Toblers  Heimgang 
herausgegeben  worden  sind;  auch  auf  Texte  des  15.  Jahrhunderts 
wird  hin  und  wieder  herabgegangen,  auch  wenn  manche  unter 
den  Zugaben  aus  diesen  strenggenommen  nicht  in  den  Rahmen 
der  Sammlungen  Toblers  (vgl.  Lommatzsch,  Einleitung  S.  .") 
unten)  gehören.^ 

;  a,  s.  m.  Buchstabe  a,  auch:    ' A!  dist  li  prestre,  'a'  dist  li  lous,   MFce, 

j(,  Fab.  81,  3;  Car  a,  qui  est  letre  seconde  De  vo  non  (sc.  Maria),  senefie  a'ie 
^'.  Contre  l'assaut  et  Venvaie  De  Vanemi,  TrBelg.  I,  208,  88;  Por  ce  secont  a, 
jl  virge  .  .  .  ,  Me  deveis  vos  copcr  le  corde  Dont  je  suis  asprement  loy6s,  ib. 
>       212,  210. 

.f  bildl.,  auch:  Dieu  .  .  . ,  Qui  nous  fait  si  d'un  a  un  h  Que  totiz  jours  notis 

.'■-  sommes  gahe  Et  perdons  tout  (Worte  des  Teufels),  Mir.  ND.  36,  579;  (?) 
'■       Vous  en  saves  l'a  et  avant,  Froiss.,  Po6s.   I,   192,  3566   (Scheler  vergleicht 

dtsch.  'von  A  bis  Z'). 

a!  interj.  klagend,  als  haa:  Uaa,  sire  Chevalier,  je  te  requier  merci,  Pr. 

Clig.  322,  20. 

1  Aus  dem  15.  Jahrhdt.  weist  A.  Delboulle,  Rev.  d'hist.  litt,  de  Fr.  I, 
178  ff.  u.  486  ff.  in  Ergänzungen  zu  Godefroy  die  neufranzösischen  Wörter 
a'bat  (als  ce  qui  ahat),  ahject,  ahnegation,  abord,  abriter,  ahruption,  aca- 
riätre,   activer,   acfivite,   adjuraiion   nach. 


52  Bemerkungen    zu    'Adolf   Toblers   Altfranzös.    Wörterbuch' 

abwehrend:  '77a."  fet  uns  autre,  'ne  vos  chaut.  Leissiez  cest  truant  ...', 
Gd'Angl.   591. 

scheinheilig  bewundernd:  'A,  Dens  sire!'  fet  li  gupiz,  Hant  par  est  eist 
oisels  gentiz!'  MFce,   Fab.   13,  13. 

ffl  praep.  Nur  weniges  finde  Erwähnung.  Innerhalb  der  einzelnen  Ru- 
briken kann   man   häufig  noch   Scheidungen   vollziehen. 

1.  lokal.  Ankunftsort.  Zu  a  terre  2,  3:  aler  a  terre  'landen'  Gd'Angl. 
2409.  Zu  a  terre  2,  4:  venir  a  terre  'zur  Erde  sinken'  {pasmez)  Clig.  5766, 
'absiizen'  Graal  C  8678;  (im  Kampfe  vom  Pferde  fliegen)  Erec  2206,  Clig! 
4065,  4940.  Neben  a  terre  'zur  Erde,  zu  Boden'  (auch  Clig.  1778,  ChLy. 
4493,  ChCharr.  4313,  Gd'Angl.  1469,  1715,  MFceFab.  92,  5,  Am.  Am.  3024, 
JBlaiv.  1918,  4010,  JCond.  I,  359,  146  .  .  .)  gleich  oft  a  la  terre:  Erec  3059, 
ChLy.  6271,  MFceFab.  15,  30,  Am.  Am.  2973,  JBlaiv.  512,  702,  BComm. 
1135,  JCond.  II,   16,  489  ... 

Ziel  (abstrakt),  2,  13  (vgl.  6,  3;  6,  18),  hierher  auch  Et  ses  euers  est  en 
tel  destrece,  Qu'il  ne  set  a  quel  fin  il  (er)  viegne  (d.  h.  wie  die  Sache  für  ihn 
auslaufen  möge),  Julian  747;  issi  que  ...  (die  Heiden)  de  la  malvaisi  error 
venissant  a  la  verai  fin  de  religion,  Afr.  Pr.-Leg.  K  8,  8  und  Wendungen 
wie  venir  a  victoire  Prior.  Veg.  6127,  7256,  venir  a  naissance  Julian  3541, 
venir  a  vaillance  'sich  Geltung  erringen'  TrBelg.  II,  80,  35,  venir  au  repentir 
'Eeue  fassen'  Erec  2538,  ferner  venir  a  ce:  Por  qu'estes  chenuz?  Est  tiostrc 
aaiges  a  ce  venuz  (soweit  gediehen)  ?  Ly.  Ys.  2866,  venir  a  ce  que  .  .  .  : 
Pour  le  le  honte  que  il  avoit  De  die  qu'il  fu  a  che  venus  Que  fameilleus  estoit 
et  nus,  Chastoiem.  2,  147;  car  espoir  qu'il  venra  A  ce  qu'il  se  repentira  De 
son  meffait,  Mir.  ND.  14,  423,  vient  a  .  .  .  und  go  vient  a  'es  kommt  zu  etw., 
d.  h.  etwas  kommt  heran,  tritt  ein',  Tant  que  vint  a  la  nuit  oscnre,  ChLy. 
4838;  Clig.  6164,  Tant  que  vint  a  la  fin  d'este,  Clig.  1052;  tant  .  .  .  que  vint 
a  l'anuitier,  ChSax.  1384;  tant  .  .  .  que  ce  vint  au  Chief  de  Van  Abent.  Gaw. 
(ed.  H.  0.  Sommer,  1913)  67;  Quant  vint  a  la  tierce  semainne,  Erec  2126; 
quant  vint  a  l'ajornee,  JBlaiv.  4217;  quant  vint  al  quart  jor,  Afr.  Pr.-Leg. 
F  18,  3;  Quant  vient  au  tens  que  .  .  .  ,  Ly.  Ys.  1945;  quant  ce  vint  au  des- 
sevrcr,  Clig.  4384;  Quant  vint  au  prendre  le  congie,  FlBl.  1168;  quant  vient 
a  Vesprouver,  ArtChev.  14;  Quant  ce  vint  au  chief  de  dis  anz,  Gd'Angl. 
1359;  quant  ce  vint  au  vespre,  Pr.- Julian  XXII,  7;  quant  ceo  vint  a  l'assem- 
blee,  MFceFab.  65,  41;  quant  ce  vint  a  son  tens  (da  sie  gebären  mußte), 
ChSax.  110;  quant  ce  vient  a  la  saison  Dou  tournoi,  JCond.  I,  200,  1028; 
quant  ceo  vint  al  departir,  MFeeElid.  935;  8'estoit  venu  a  l'esiovoir,  Ch- 
Charr. 5259;  Dire  li  vueil,  puis  qu'a  ce  vient  (es  gilt  dies),  Mir.  ND.  8,  897; 
auch  mit  a  c.  Inf.  'es  kommt  dazu,  handelt  sich,  gilt':  quant  vint  a«  tailes 
oster,  Clig.  3322;  et  quant  vient  a  ferir  de  pres  et  a  houter  ou  de  glaive  ou 
de  qnelconque  autre  chose,  ArtChev.  29  (lat.  cum  ad  pila  venitur) ;  puis 
qu'a  ce  faire  vient,  Mir.  ND.  22,  1165;  puis  qu'a  faire  vient,  ib.  30,  1405 
und  vieles  andere.     Vgl.   Zustand,  Lage,  4,  15  ff. 

Zu  ö  la  montance,  2,  19  s.  Verm.  Beitr.  3  ^,  67  Anm. 

Ort  wo,  ...  2,  21.  Neben  chcoir  a  auc.  as  picz  2,  40  auch  .  .  .  au  pie:  Or 
n'alcz  ja  plus  delaiant  Qu'au  pie  ne  Van  ailliez  cheoir,  ChLy.  3977,  ebenso 
bei  venir,  ib.  1862.  a  une  part  'a.uf  einer  Seite,  seitwärts,  abseits':  Pres  de 
cel  ynunt  a  une  part  .  .  .  ZTnc  cite  fist  faire  uns  reis,  MFce,  DAm.  11 ;  vi  une 
part,  que  il  lo  voie,  Li  ont  son  cheval  cstaMe,  Chev.  a  l'esp.  234  (das  häufige 
a  une  part  'abseits,  beiseite',  auf  die  Frage  wohin?,  ist  5,  32  berührt),  a 
terre  'am  Boden'  Gd'Angl.  1892.  MFceFab.  52.23,  Abent.  Gaw.  127  .  . .  ;  a  la 
terre,  dsgl.,  Erec  5065,  Am.  Am.  1547,  Abent.  Gaw.  40,  123  ...  (zu  'zu  Boden' 
s.  oben),  a  Vair  'im  Freien':  La  fors  a  Vair  vous  deduires,  Chast.  12,  122. 
Zu  estre  a  auc.  3.  10  ff.:  estre  a  Dieu  'bei  Gott  sein':  Et  teiz  i  at  qui  plo- 
rent  por  ce  k'a  deu  ne  sunt,  PoMor.  95  d. 

Ort,  dem  man  etwas  entnimmt,  dtsch.  'von,  aus':   S'amie  fcra   (er)   Ves- 


Bemerkungen   zu    'Adolf   Toblers    Altfranzös.    Wörterbuch'  53 

previer  Devant  toz  a  la  ptrche  prandre,  Erec  577,  813,  828;  A  un  leignier 
prent  un  grant  fast,  Julian  1604;  Une  foiz  devoit  il  de  Vaiice  al  ptic  pulsier, 
PoMor.  70a;  A  la  riviere  n'ay  peu  Pulsier  ...  Goute  d'yauc,  Mir.  ND.  29, 
2422;  Ci  dit  del  lou  e  de  Vuignel,  Ei  ieveient  a  un  duitel.  Li  lous  en  la 
siirse  bcveit  ...,  MFceFab.  2,  2;  pour  boire  a  la  fontaine,  DitRobDi.  176a. 

Zu  a  ostel,  3,  16,  auch,  a  muison  'zu  Hause':  A  maisun  est  e  si  se  tapist 
(ecce  absconditus  est  domi),  LRois  S.  35  (Ler.) ;  S'amie  remest  a  maisun, 
MFceMil.  123;  'nach  Hause':  Tant  qiie  jeo  revienc  a  maisun,  MFceBiscl.  96; 
Va  a  maisun,  MFceFab.  76,  83. 

anhaften,  hängen  au,  2,  38,  s.  Verni.  Beitr.  4,  37. 

Anwesenheit  unter  einer  Mehrheit  von  Personen:  Alez  s'en  est  li  Cheva- 
liers Mien  escient  tut  us  premiers,  MFceBiscl.  216. 

Entfernungsmaß,  4,  27,  als  Maß  bis  zu  welchem  auch,  zu  den  Zielangaben 
gehörig.  Weitere  Wendungen:  desoz  le  pin  trova  Celui  qu'ele  ne  cuidoit 
pas  Trover  a  si  petit  de  pas,  ChLy.  6668;  a  comhien  Peut  il  pres  estre?  — 
A  main^  d'une  liue,  chier  maistre.  Mir.  ND.  25,  412;  Luinz  de  la  porte  al 
trait  d'un  arc,  MFceElid.  799;  et  si  les  voyoient  passer  a  tm  trait  ou  deux 
d'arc  pres  d'eux,  Journ.  d'un  Bourg.  de  Par.  1429,  bei  Buchon,  Chron.  et 
M6m.  I,  679b;  A.  ii.  arcliies  ti  a  mains  De  la  forest  dont  il  issirent  ..., 
Veng.   Rag.  3832. 

Alarmrufe,  5,  43,  auch.  Or  ga  trestuit  a  moi!  (los  auf  mich)  ChCharr. 
1188;  Or  tost  a  luil  Gd'Angl.  984;  A  lui!  fait  il,  sil  me  batez  .  .  .  !  Purg. 
Patr.  2291;  a  eulx!  a  eulx!  Pr.-Clig.  299,  14;  hareu!  hareu!  o  cest  tirant! 
Judkn.  82,  68;  Or  as  chevaus  por  lui  secorre!  Clig.  3549;  Or  as  chevau^! 
BComm.  3749;  or  as  armes,  seignor!  Graal  C  5875;  Or  as  armes!  Mer. 
5743;  Ore  as  armes  sans  plus  atendre!  Julian  2149;  As  armes!  Veng.  Rag. 
2681;  As  armeg!  Pr.-Jul.  XII,  1;  Or  a  Vassaut!  Gaydon  4568;  Bonnes  genz, 
venez!  a  l'assault!  Mir.  ND.  22,  1349;  Or  a  Vassaut!  Froiss.  Po€s.  II,  421, 
LXXXVII;  en  criant  a  Vassaut!  et  a  Varme!  Jean  de  Troyes  1465  bei  Bu- 
chon, Chron.  et  M6m.  I,  256  a. 

Verkäuferrufe:  As  pos!  as  pos!  Eust.  M.  1072,  1082,  1113. 

Richtung,  Ziel  des  Trachtens,  6,  3,  so  auch  A  vie  parmenable  bee  L'ame 
n'a  a  el  sa  pensee,  Bari.  1822;  n'as  pas,  joti  cuic,  garde  A  chou  qui  parant 
est  defors,  ib.  1352;  Ne  pren  pas  garde  a  ta  voisine,  Se  son  chief  muche  et 
encortine  (s.  Aufmerksamkeit  richten,  achtgeben  auf),  Clefd'Am.  2265; 
A  ceu  tent  et  a  ceu  t'enforce  ke  tu  praignes  deleit  en  nostre  signor,  Serm. 
Bern.  (F.)  156,  9;  Puis  qu'a  ce  ta  voulente  prise  S'est,  je  n'y  contrediray 
pas,  Mir.  ND.  19,  1201.  avoir  le  euer,  6,  8,  auch  mit  a  u.  Inf.:  A  Jiouneur 
conquerre  et  a  pris  Avoit  le  euer,  JCond.  I,  306,  108.  Weitere  Verba  oder 
Wendungen  mit  a  u.  Inf.:  A  lui  garir  ont  grant  antante,  Erec  5200;  Chas- 
cuns  a  Dieu  prier  avoit  s'entente  mise,  Jdnkn.  111,  22  d;  Li  XXXIIII  es 
(sc.  chapitres)  devise  quele  entente  on  doit  mettre  a  faire  les  liburnes,  (Qua 
diligentia  fabricentur  liburna«)  ArtChev.  S.  162;  a  penitence  faire  vous  mei- 
tez  (Imp.),  Mir.  ND.  21,  S.  247;  Et  per  le  lox  que  eil  an  orent  A  meuz  faire 
s'estudiarent,  Prior.  Veg.  186;  Si  ne  met  je  pas  m'esttidie  A  dire  que  ..., 
Froiss.  Poes.  III,  158,  4;  A  querre  m'arme  s'efforsoient,  Reimps.  37,  12  in 
Oxf.  Ps.  S.  286;  (conari)  ArtChev.  S.  5;  (moliri)  ArtChev.  S.  133;  A  Cliges 
(unter  den  Lanzenstechenden)  esgarder  estrive  (strengt  sie  sich  an),  Clig. 
2912;  Onques  en  jour  de  son  vivant  Ne  fu  qu'il  ne  fust  estrivant  A  mal  faire, 
Mir.  ND.  14,  730;  ceulx  qui  sont  en  la  vie  active,  qui  contendent  ci  aval  a 
detenir  celle  vierge  (sich  anstrengen) ,  Mir.  ND.  26,  S.  229.  S.  auch  H.  Solt- 
mann.  Franz.   Stud.  I,  378;    393;    J.  Soergel,  Hom.   Forschungen   14,  241   f. 

Im  besonderen  zu  demorer,  fair-e  demore  a  .  .  .  'zögern  zu',  6,  17:  demorer 
a  mit  sbst.  Inf.:  La  dame  demora  molt  au  respondre,  Pr.-Jul.  XXI,  6: 
ebens50  rfl.  tarder:  La  reine  au  dire  se  tarde,  Clig.  1575;  faire  demor  ...: 
Et  eil  ne  voet  faire  demour  A  faire  ce  qu'il  ot  empris,  JCond.  I,  319,  502; 


54  Bemerkungen   zu    "Adolf    Toblers    Altfranzös.    Wörterbuch' 

delaier:  Et  par  cel  jugement  pot  on  veir  c'on  pot  bien  perdre  par  delaier  a 
requerre  son  droit,  Cout.  Beauv.  Cap.  9,  7 ;  vaz  li  dire  Qu'a  venir  ne  delaie 
mie,  Mir.  ND.  16,  17;  detriier:  Je  ...  Vous  requier  que  .  . .  ne  nons  detriez 
A  faire  aide,  Mir.  ND.  13,  547;  sejorner:  Ne  a  ce  faire  ne  sejorne  (Imp.), 
Prior.  Veg.  7114;  tardor,  targier  (bez;  rfl.),  atargier:  a  prendre  le  salut  de 
voz  ames  ne  tardez,  Mir.  ND.  21,  S.  247;  A  venir  doiz  un  poy  targier,  Clef 
d'Am.  3215;  Ne  se  targa  pas  a  fiiir,  Fab.  Avian  350,  22;  et  tu  ki  es  tu  Jci  ne 
t'atarzes  a  offrir?  Serm.  Bern.  (F.)  125,  30  (vgl.  auch  A  folie  n'est  pax 
tardi  Cohars  qui  se  prant  a  l'ardi,  Ly.  Ysop.  1800)  ;  nietre  mit  Zeitdauer- 
angabe (das  zweite  Beispiel  als  einziges  altfranzösisches  auch  bei  Godefroy 
V,  316  c)  :  Trop  a  niis  (sie)  a  li  atorner,  Erec  2669;^  Trop  avons  mis  A  aler 
chez  ma  fille  Anthure,  Mir.  ND.  6,  241;  Je  croi  que  trop  lonc  tens  a  mis 
A  moi  venir  reconf orter,  Chast.  S.  Gille  146;  Egar!  que  met  taut  a  venir 
De  la  ou  est  ma  chamieriere?  Mir.  ND.  15,  666;  Sire,  il  m'est  avis  qu'avons 
mis  Grant  piecc  a  revenir  ici,  ib.  38,  662;  Quant  Lanceloz  s'öi  nomer,  Ne 
mist  gueires  a  soi  torner,  ChCharr.  3686;  faire  longuement:  Trop  me  fisies 
longuement,  Amis,  a  mi  proiier  ent,  Ad.  Halle  XXXI,  3,  1.  demorer,  tarder 
(se),  sejorner  a  c.  J.  belegt  auch  J.  Soergel,  Rom.  Forschungen  14,  249. 

Erreichtes  Ziel  .  . .  ,  6,  18,  so  auch:  estre  ars  a  cendre  (zu  Asche),  Jdnkn. 
121,  245.  Wunschformeln:  ce  soit  a  hon  destin!  ChSax.  2706;  ce  soit  a  mal 
eur!  JBlaiv.  277;  cc  soit  a  hon  cur!  Mir.  ND.  7,  506;  a  huen  eur!  Erec 
2776,  JBlaiv.  1204,  Eönsch,  Kindh.  Ev.  S.  61;  a  mal  eur!  Gd'Angl.  676  (in 
F.s  Anm.  weitere  Belege),  Ferg.  122,  23. 

Belauf:  D'andeus  parz  a  trois  ganz  se  content,  8i  furent  par  igal  de 
nonhre  (sich  belaufen  auf),  Clig.  2882;  As  cans  ont  lor  gens  aesmes,  A  trois 
cens  prisent  lor  armes  (schätzen  auf),  Julian  2400;  ...,  s'c7i  i  ot  d'armez 
Bien  .XXX.,  a  tant  les  a  esmez  Li  Chevaliers,  ne  mie  a  mains,  !Mer.  2254; 
s.  Tobler  s.  v.  aesmer. 

Person,  an  die  man  sich  wendet,  6,  28;  zu  avoir  auc.  r.  a  auc.  42  u. 
50  ff.:  Regardez  ou  femme  truissiez,  A  qui  hoir  masle  avoir  puissiez.  Mir. 
ND.  29,  6;  zu  cmpetrcr,  7,  7,  auch  conqucrre:  Et  si  despande  Vor  cuit  et  les 
mangons  (Art  Goldmünzen).  Qu'il  a  conquis  au  riche  rot  Charlon,  Am. 
Am.  2551. 

Gesellschaft,  8,  1 1 ,  so  auch  Repairies  est  en  son  päis  A  che  que  il  avoii 
conquis,  Chastoiem.  2,  90;  Lc  roy  Loey  fist  passer  A  grant  navie  outre  la 
mer,  Eust.  M.  2253  (neben  Vnc  autre  fois  entra  en  mer  Od  grant  navie  por 
passer,  2265)  ;  prendre  compaignie  a  auc,  MFceFab.  11,  42,  Chastoiem.  6,  66 
(neben  od  auc.  Bari.  1966);  prendre  soistie  a  auc.:  A  luxure  prenez  soistie, 
Dav.  Proph.  221,  1141.  Abschiedswunschformel:  alez  a  Dieu!  und  va  a 
Dieu!  'mit  Gott,  unter  Gottes  Geleit':  Alez  a  Deu  qui  vos  conduie,  Graal 
C  1673;  A  Deu  alez,  hiaus  sire!  Am.  Am.  310;  Ales  a  Diu,  car  je  m'en  vois! 
Veng.  Rag.  5355;  Alez  a  Deu,  dame!  Tr.  Belg.  I,  236,  329;  Alez  a  Dieu, 
mon  chier  enfant,  Qui  vous  doint  la  venir  a  joie!  Mir.  ND.  1,  1134;  Or  alez 
donc  a  Deu,  hiaus  sire!  ChLy.  4627;  Bien  a.s  deservi  le  congie.  Or  va  a 
Dieu!    Chastoiem.   10,    92. 

Zur  Bildung  eines  Dativs,  9,  1.  Zu  Alex.  108  b,  Z.  17,  vgl.  Sp.  3,  14. 
Nach  Adjektiven:  eis  nons  Juliiens  est  comuns  a  toutes  gens,  Pr.-Jul. 
XXVIII,  6;  (der  Teufel)  li  pramist  (dem  Adam)  si  grant  honur  Que  pers 
sereit  al  creatur,  MFceFab.  53,  50;  Por  ce  s'il  a  vous  n'est  iveus  En  richete 
et  en  lignie,  Tr.  Belg.  I,  131,  30;  li  Jone  hoinme  diliganment  esleu  . . .  por- 
ront  legierement  cm,  hrief  temps  estre  parail  as  Ions  Chevaliers  a/nctensi< 
(iuniores  ...  veteres  illos  milites  facile  coaequabunt) ,  ArtChev.  S.  60;  La 
quinte  meniere  samhlauhle  Est  a  la  quarte,  Prior.  Veg.   7 i09;  cumparez  est 


1  Die  von   Foerster,   Krist.-Wb.    184  angegebene  Bdtg.   'zuviel    Zeit  ver- 
wenden auf   trifft   nicht  zu. 


Bemerkungen   zu    'Adolf   Toblers    Altfranzös.    Wörterbuch'  55 

as  jumenz  nunsavanz  e  semblanz  est  faiz  a  eis,  Oxf.  Ps.  48,  12;  contraire  est 
du  tout  son  dit  A  ce  que  vous  nous  aviez  dit,  Mir.  ND.  31,  2529;  Buns  Sins 
est  a  tuz  (Bonus  Dominus  Omnibus),  Cambr.  Ps.  144,  9  (vgl.  Certes,  mes 
sires  m'iert  muH  iotis,  Tr.  Belg.  I,  233,  235) ;  Suefs  li  Sire  a  trestuz  (Suavis 
Dominus  universis),  Oxf.  Ps.  144,  9;  Deu  est  a  toutes  genz  soues,  Reimps. 
ib.  S.  355;  Se  il  est  pechierre  de  soi  Et  ü  soit  soues  a  la  gent,  Chastoiem. 
21,  137;  Nostre  sires  est  doulz  et  deionaires  a  touz,  Lothr.  Ps.  144,  9;  se 
(der  König)  de  son  Corps  estoit  ncs  Ions  et  par  defors  Fast  au  pueple  fei 
et  malvais,  Chastoiem.  21,  143;  au  pueple  quHl  governoit  Est  crüels, 
Chastoiem.  22,  6  (vgl.  Crüels  lor  a  este  et  fels,  ib.  74) ;  Tu  dois  tous  jours 
faire  ce  qui  est  pourfitable  a  toi  et  nuisant  a  ton  anemi,  ArtChev.  S.  130; 
ce  sera  Chose  a  toz  moult  profitauhle  Et  moult  ione  et  moult  aidauhle,  Prior. 
Veg.  8609;  Agaiz  qu'as  autres  sont  aidanz,  ib.  9930;  Dameldeu  est  a  moi 
aidis,  Keimps.  117,  7  in  Oxf.  Ps.  iS.  340;  tel  preiere  Ki  a  la  gent  ne  seit 
nuisahlc,  E  ki  a  deu  seit  acceptahle  (Var.  pleisahle),  MFceFab.  55,  15;  mille 
chose  n'est  plus  plus  perilleuse  a  ceus  qui  folement  cachent  que  .  .  .  ,  Art 
Chev.  S.  123 ;  Detis  .  .  . ,  a  cui  totes  clioses  sont  sozjetes  .  . . ,  a  cui  tota 
poesta  est  sojcta,  Afr.  Pr.-Leg.  D  27,  5;  gent  qui  ne  sont  obeissant  a  lor 
dvc  ne  a  lor  cJtevetaines,  ArtChev.  S.  82;  a  Deu  n  fud  pas  ohcdient,  LRois 
289  (L.) ;  por  ceu  k'il  (sc.  nostre  sacrefices)  moens  soit  a  deu  acceptaules, 
Serm.  Bern.  (F.)  140,  5;  Jo  Marie  ai  mis  en  memoire  Le  livre  de  VEspurga- 
toire  En  Romanz  qu'il  seit  entendaMes  A  laie  gent  e  cuvenables,  MFcePurg. 
■2300;  parier  si  raisnahlement  Que  il  seit  plaisihle  a  la  gent,  MFceMil.  4; 
totes  choses  .  .  .  Que  a  nostre  ost  sont  necessaires,  Prior.  Veg.  5475  u.  a.  Ad- 
jektiva  mehr. 

Besitzanzeigend,  9,  23.  Zu  chape  a  moine  9,  41 :  chape  a  pastor,  Gaydon 
7328;  chape  a  provoire,  Clig.  4682;  loges  a  pastours,  ArtChev.  156.  serf, 
teir,  Serm.  Bern.  (F.)  122,  7;  Li  aver,  li  serf  a  Vavoir,  Tr.  Belg.  II,  255, 
serjant  a  auc,  a  auc  r.:  et  dcvient  sers  a  l'anemin  ki  de  luy  se  lait  sormon- 
206;  N'estoit  pas  sers  a  son  argent,  Car  ses  argens  si  le  servoit  Que  Vamor 
Dieu  li  deservoit,  Ruteb.  (Jub.)  III^;  249,  28;  Serjanz  est  c  Vavoir,  Li  avoirs 
est  ses  sire,  PoMor.  502  d;  Car  qui  serf  a  pitie  se  moustre  N'est  pas 
serf,  non,  Mir.  ND.  20,  311  (oder  als  Adj.  aufzufassen,  wie  in  Trop  a  este 
a  pechier  serve,  Rut^b.  IP,  275,  339).  Vor  Sachbezeichnung  auch:  Mes 
c'est  li  mireors  au  euer  (sc.  d.  Auge),  Clig.  712. 

2.  temporal.  Zeitpunkt,  in  dem  etvv.  eintritt  .  .  . ,  so  auch :  a  un  jor 
'eines  Tages',  Clig.  2361,  LRois  357  (cum  esset  quaedam  dies),  a  une  nuit 
'eines  Nachts'  LRois  415,  a  une  matinnee  JBlaiv.  3340,  a  un  vespre  JBlaiv. 
2066,  a  un  avesprenient  HCap.  554,  au  matin  ChLy.  428,  (am  nächsten  Mor- 
gen) Erec  1428,  au  matinet  Am.  Am.  2798,  (am  nächsten  Morgen)  Julian 
3918,  a  la  ma^inee  MFceYon.  301,  au  main  Clig.  2760,  (am  nächsten  Morgen) 
Erec  1430,  au  soir  Veng.  Reg.  2932  (vgl.  Sp.  11,  19),  au  vespre  Am.  Am. 
1073,  as  vespres  (ad  vesperas)  ArtChev.  157,  a  la  vespree  Mir.  ND.  4,  90, 
hui  main  a  V esclairier  Am.  Am.  3369,  a  Vajornee  JBlaiv.  2554,  a  Vavespre- 
mcnt  dcl  jor  Bari.  1389,  a  l'anuitier  Prior.  Veg.  5078,  a  Vanuitie  Bari.  5383, 
o  cel  soir  Clig.  1557,  a  cel  ajornant  BComm.  2430,  Ce  fu  un  venredi  a  nuit 
Julian  2895,  a  prima  Afr.  Pr.-Leg.  G  28,  6,  a  tierce  Pr.-Julian  XXIX,  4, 
A  prime  e  a  tierce  e  a  none  E  au  vespre  la  saluez  JoiND.  1114,  c  ore  de 
prime  ChCharr.  2211,  a  la  prime  sonnee  Am.  Am.  2164,  a  ccle  ore  que  prime 
sonne  Erec  2304,  a  Celle  heure  et  a  edle  foiz  Mir.  ND.  33,  737,  c  ceste  ore 
LRois  (L.)  370,  a  ce  jour  d'ui  Mir.  ND.  6,  90,  a  droite  ore  Bari.  1398; 
a  Aii.  heures  apres  mynuit  Pr.-Clig.  296,  43;  au  vendredi  Mir.  ND.  2,  794; 
a  une  feste  Clig.  2700,  a  un  quaresme  ChBaris.  60,  a  la  pentecuste  MFce 
Lanv.  11,  a  pentecuste  MFceChvrf.  4,  a  cest  nöel  Julian  1421,  a  cele  feste 
qui  .  .  .  ChLy.  5  u.  a. 

Künftiger  Zeitpunkt,  10,  37.     Zu  a  demain  'für,  auf  morgen':  '...  se  je 


56  Bemerkungen   zu    'Adolf   Toblers   Altfranzös.    Wörterbuch' 

vif  jusqu'a  demain,  Je  ferai  savoir  a  Oorvuin  Coment  ma  force  est  hui 
creüe',  'A  demain  soit!  Cil  en  seront  coart  revoit  Qui  a  demain  vos  en  fau- 
dront',  Meraug.  5579  (Var.  au  d.) ;  Ccst  mar-iaige  ne  quier  ja  refuser.  A 
demain  soit  sans  plus  de  demorer,  JBlaiv.  3540. 

Zeitliches  Entfernungsmaß,  10,  50,  dsgl.  Savoir  vous  fas  .  .  . ,  Qu'a  quin- 
zaine  de  Penthecouste  Les  Senliz  le  tournoy  sera,  Mir.  ND.  29,  892  Li  jur 
est  a-sis  a  un  mois  (einen  Monat,  sc.  von  jetzt  ab,  gerechnet),  Ipom.  7730; 
Lur  (1.  Li  jur,  vgl.  Mussafia,  Wiener  Stzgs.-Ber.  CXXI,  XIII,  S.  67)  est 
asis  a  quinzeine,  ib.  8018. 

Nach  Verfluß  von,  11,  3:  auch  A  poi  de  ure  estevus  li  ciels  devint  taut 
ohscurs    (in,   nach   kurzer   Zeit),  LRois    (L.)    319. 

Zeit,  in  die  etwas  hineinfällt,  11,  7.  Zu  a  cel  tans  'damals':  gleich- 
bedeutend a  cel  jor:  A  cel  jor  antre  moi  et  vos  Estiiens  juenes  et  petites, 
Erec  6288;  A  cel  jor,  comant  qu'il  soit  ores,  Qui  le  chastel  vosist  def andre, 
Ne  fust  mie  legiers  a  prandre,  Clig.  1238.  Zu  a  hien  courte  saison  'inner- 
halb s.  kurzer  Zeit':  Et  aries  tant  d'onneur  (Land)  a  hien  courte  saison 
Que  de  quatre  royames  croisteroie  vo  nom,  Bast.  4326;  Sathans  perdera  la 
droiture  Que  sur  vos  a  a  hrief  termine  (innerhalb  kurzer  Frist),  Mir.  ND.  1, 
1123;  d'errer  ne  fineray  Jusqu'a  tant  qu'au  roy  reseray,  Et  ce  sera  a  terme 
court,   ib.   21,   141. 

Zeitdauer,  auf  die  sich  etw.  erstreckt,  11,  22,  so  auch  a  piece  ('auf  eine 
längere  Weile  hin',  Tobler,  Verm.  Beitr.  2,  1)  a  grant  piece:  Ne  vous  aroie 
a  piece  tous  noumes,  Enf .  Og.  4485 ;  a  grant  piece  n'en  fu  li  cuens  retez,  Am. 
Am.  2062;  A  moult  grant  piece  i  aurez  gent  deduit,  ib.  2560;  a  grant  pose 
'auf  eine  lange  Weile  hin':  Outre  ne  seront  (die  Schafe  über  das  Wasser) 
a  grant  pose,  Chastoiem.  10,  93;  a  tens  'auf  eine  bestimmte  Zeit':  Mais 
tant  me  dist  li  lamentans  Qu'il  n'estoit  ilec  (im  Purgatoire)  fors  qu'a  temps, 
Mir.  ND.  14,  1165;  a  jamais  'auf  immer':  par  quoi  il  esperoit  d'en  faire 
teile  occision    qxi,'il  eyi  seroit  «  james  perpetuelle  memore,  Pr.-Clig.  297,  3. 

3.  modal.  Zu  den  adverbialen  Ausdrücken,  12,  4,  gäbe  es  viele  nach- 
zutragen,  was   hier   unterbleibe. 

au  plus  que  ...  Zu  au  plus  droit,  12,  45:  Vers  Karadigant  s'averti  Lu- 
cans   tout  au  plus  droitement,   Claris  14098. 

Begleitender  Umstand,     a  hon  vent,  13,  9,  vgl.  Sp.  16,  50. 

Reich  vermehrbar  wäre  auch  die  Reihe  a  ton  talent  'deiner  Neigung 
entsprechend'   13,   37. 

'nach,  zu  schließen  nach'  14,  7,  auch:  Mult  fu  malades  a  sun  dit,  MFce 
Fab.  36,  4;  Mais  molt  satnhloit  hien  a  sa  eiere  Que  chaceure  a/ooit  molt 
chiere,  Julian  853 ;  Qiiar  il  samhle  a  vo  parier  Qu'il  n'i  ait  pas  courtoisie, 
Tr.  Belg.  I,  60,  25;  car  il  m'est  vis  A  la  couleur  de  vostre  vis  Qu'cstes  tout 
sain,  Mir.   ND.   21,  488. 

'nach  etwas  als  Vorbild' :  a  sa  samhlanche  et  a  s'ymage  Eist  (Gott) 
homme,  Bari.  1548;  Pour  chou  . . .  A  fait  Dex  l'omme  a  sa  figure  K'il  con- 
neust  son  creatur,  ib.  1600;  Faciamus  hominem  ad  ymaginem  et  similitu- 
dinem  nostram  (I  Mos.  1,  26),  C'est  a  dire  en  la  concordance:  Faisons  homme 
a  nostre  semblance.  Mir.  ND.  20,  1155;  ...  fisrent  li  prince  rommain  lor 
navies  a  la  fourme  d'iceles  (ad  earundem,  sc.  navium,  instar  classem  .  .  . 
texuerunt),  ArtChev.  162;  ...  Refurent  lors  ainsi  forgies  Les  nez  des  Ro- 
mains .  .  .  A  lor  forme  et  a  lor  samhlance.  Prior.  Veg.  10263;  Puis  (plutei) 
sont  apele  uns  instrumens  fais  a  la  samhlance  d'un  hyaume  ou  d'un  vaissel 
parfont  (plutei  qui  ad  similitudinem  absidis  contexuntur) ,  ArtChev.  147; 
.  .  .  TJns  fers  qui  est  aguz  et  lez  Et  corhcs  et  est  a  Vinstance  D'une  fauz  et 
a  sa  samhlance,  Prior.  Veg.  11321. 

'im  Verhältnis  zu,  .  .  .',  14,  19.  Zu  den  ersten  Fällen:  Tant  en  i  ot  (an 
Heiden,),  nus  nes  porroit  nomhrer,  A  .i.  des  noz  en  puet  on  .iii.  conter,  Otinel 
1615;  A  un  anoi  qtie  j'ai  cent  en  anroie,  Froiss.  Poes.  I,  77,  845. 


Bemerkungen    zu   'Adolf   Toblers    Altfranzös.    Wörterbuch'  57 

Merkmal  zwei  Sbst.  verbindend,  15,  15.  Determinativpron.  a,n  erster 
Stelle:  Velui  a  cele  bände  d'or  Parmi  cel  escu  de  hellic,  ChCharr.  5794; 
celui  de  joste  .  . .  a  cel  escu  vert,  ib.  5803;  cez  deus  de  lez  A  (auf)  cez  deus 
chevaus  pomeles  As  eseuz  d'or  as  lions  bis,  ib.  5813;  a  celui  a  le  mance, 
JCond.   I,   193,   888. 

Merkmal  bei  Vbn.  (erkennen  an,  ...),  15,  29.  Weitere  Vba.  oder  Wen- 
dungen: avoir  conoissance :  a  ton  gracieux  maintien  je  ay  ferme  congnois- 
sance  que  ...,  Pr.-Clig.  302,  9;  apargoivre:  Nos  poons  bien  aparccvoir  A 
ce  qu'ele  est  et  bele  et  sage  Qu'ele  est  de  mout  jantil  lignage,  Erec  4754; 
Fl.  Bl.  107;  rfl. :  Qu'aparceüe  m'an  sui  bien  As  contenances  de  chascun  Que 
de  deus  cuers  avez  fet  un,  Clig.  2294;  aviser:  AI  cri  a  son  aste  avise,  Julian 
2549;  A  la  parole  et  as  dis  Vavisa,  JBlaiv.  3024;  prover  'den  Beweis  für 
etw.  finden  an' :  Bien  le  provai  Au  sanblant  que  an  li  trovai,  Charr.  4395. 
Zu  pert  que,  15,  52,  persönl.  paroir:  Mal  pert  a  (=  al)  douz  chant  de  la 
bocJie  La  dolour  qui  au  euer  li  toiche,  Ly.  Ys.  2429.  Fernere  Belege  für 
entendre:  Clig.  3097  PB;  Amad.  6028;  für  savoir:  Mir.  ND.  25,  1110;  33, 
1736,  für  paroir:  PoMor.  551b;  Ruteb.  ed  Jub.^  I,  7,  44;  Ly.  Ys.  3491; 
A  la  vostre  oevre  Est  bien  purant  (C,  parut  PM,)  selonc  la  letre  Ke  an  vos 
doit  fors  de  Vuis  metre,  Bari.  2107,  für  mostrer:  II  moustre  bien  a  sa  ma- 
niere  Qu'il  est  un  vraiz  fols  et  estouz,  Mir.  ND.  33,  1484. 

Preis,  17,  3,  bei  achater:  dui  serf  que  li  cuens  ot  norris  Et  achatez  a  de- 
niers,  Am.  Am.  2392,  bei  avoir:  Qu'aussi  furent  li  mes  plenier  Con  s'an  eu,st 
buef  a  denier,  Clig.  5040;  Cil  a  qui  li  chevals  esteit  Otreie  a  l'autre  qu'il 
l'avreit  AI  pris  que  li  huem  le  metreit  Ki  ...,  MFoeFab.  47,  11;  A  trois 
tournois  y  arons  vin  Et  bon  et  gent,  Mir.  ND.  35,  231. 

'für,  als",  17,  22  und  'zu,  als',  18,  4:  zur  Auffassung  s.  Meyer-Lübke, 
Synt.  §  403  f.  Zu  savoir  auc.  «  .  .  .  ,  17,  41:  auch  savoir  se  a  .  .  .  :  Cele  qui 
a  mesfete  se  savoit  (sich  schuldig  wußte),  ChLy.  1789.  Weitere  Verba: 
esmer:  De  tes  paonaz  (Fußsoldaten)  bien  armez  Foison  et  as  moillors  asmez, 
Prior.  Veg.  6896;  conter:  A  neant  porroies  conter  Quanque  tu  dire  me 
savroies,  ChCharr.  2744;  Por  ce  qu'a  pris  li  iert  conte,  ib.  3258;  Par  felonie 
m'espargnas,  Que  ja  ne  t'iert  a  el  conte,  ib.  4343 ;  jugier :  Ainceis  lou  jugomes 
a  vice,  Dav.  Proph.  233;  Nuns  jugeroit  ce  a  proesce,  Ly.  Ys.  614;  reputer: 
Si  que  je  le  repnte  a  fait,  Mir.  ND.  14,  1299;  Ne  la  repute  pas  a  greve  (die 
penitence),  ib.  30,  897;  quanque  me  dis  et  ennonces  Je  repute  et  tiens  a 
frivoles,  ib.  39,  625;  confermer:  Conferme  toutes  ses  paroles  A  voir,  Clef 
d'Am.  479;  esprover:  Dame,  nos  avons  esprove  Cel  cevalier  al  plus  proudome 
Qui  soit  en  l'enpire  de  Rome,   Julian   2260. 

Bestimmung,  Verwendung  zu,  als,  18,  4.  Zu  avoir  a  ferne,  prendre  a 
ferne  .  .  .  ,  18,  7  ff.:  avoir  a  per  (Gemahlin)  ChLy.  5488,  avoir  a  moillier  e  a 
per  JBlaiv.  2600,  avoir  a  mari  Mir.  ND.  4,  428;  21,  1417,  avoir  a  per  et  a 
mari  BComm.  2679,  prendre  a  espouse  Gaydon  9753,  prendre  a  moillier 
JBlaiv.  2344,  Enf.  Og.  7902,  prendre  a  oissour  FlBl.  2100,  3128,  regoivre  a 
seignor  ChLy.  3653,  recoivre  a  ferne  Erec  4701,  requerre  a  moillier  LRois 
102,  MFoeFab.  73,  13,  Mont.  Rayn.  I,  32,  238,  doner  a  feme  Clig.  6751,  ChLy. 
5702,  doner  a  espouse  DitRobDi.  234  b,  doner  a  signor  Pr. -Julian  XX,  11, 
otreiier  a  segnur  Ipom.  3860;  ferner,  vor  Concr.  u.  vor  Abstr. :  Un  gargon  .  .  . 
Li  a  baillie  a  escuiier,  Gd'Angl.  1646;  Ainz  le  m'a  anvoie  a  hoste  Mes  frerc, 
Graal  C  5928;  Mut  l'amereicnt  a  seignur,  Ipom.  6902;  Mut  le  desirent  a 
seignur,  ib.  10450;  choisir  a  rei,  MFceFab.  19,  2;  12;  Et  si  est  esprove  a 
droit  Qu'il  (sc.  li  brans)  vos  a  choisi  au  meillor  (sc.  Chevalier),  Chev.  a  l'Esp. 
763;  Sur  tuz  se  fist  lever  a  rei  MFceFab.  34,  11;  A  toz  biens  fere  s'atorna, 
Tant  qu'a  provoire  s'ordena,  Jdnkn.  101,  312;  prendre  a  cumpaignun,  MFce 
Fab.  37,  2;  70,  72;  (zu  einem  Arzte)  dites  moi,  sire,  Se  vous  vouldries  a 
apprentiz  Prendre  Panthalcon  mon  filz.  Mir.  ND.  22,  38;  receivre  a  rei, 
l/Rois  191  ;   en  tel  maniere  qu'elle  vous  regoive  .  .  .  a  son  amy  et  a  son  che- 


58  Bemerkungen    zu    'Adolf   Toblers    Altfranzös.    Wörterbuch' 

valier,  Abent.  Gaw.  S.  ZS;  .  . .  ,  Si  an  trai  a  garant  Macrohe,  Erec  6738; 
Dieu  et  saint  Piere  Trai  a  garant  que  n'i  ai  courpe  De  morir,  Watr.  213, 
457;  Veriie  en  trai  a  garant,  JCond.  II,  35,  1132;  et  se  les  braies  eonquer, 
Oui  en  trairai  a  tesmoignage?  MRayn.  I,  101,  111;  ...,  8'en  trai  Vestoire 
a  garantie,  Joufr.  3794;  Et  veez  encor  ivy  ses  armes  que  je  empörte  a  tes- 
moing,  Abent.  Gaw.  S.  29;  .  .  .  ,  Si  li  mostra  a  antresaingne  Les  deus  panz, 
Gd'Augl.  2947;  Li  drap  de  soie  sont  fors  tret  Et  estendu  a  parement 
(Schmuck),  ChLy.  2341;  ne  povons  pas  nostre  estage  Avoir  au  siede  a  hire- 
tagc  (als  dauernden  Besitz,  für  immer),  JCond.  II,  67,  596;  si  com  il  aviont 
a  costume,  Afr.  Pr.-Leg.  K  17,  3;  Si  cum  a  costume  avoit,  Rönsch,  Kindh.- 
Evang.  22,  26;  ainsi  comm,e  Hz  avoient  a  coustume,  Abent.  Gaw.  S.  66;  si 
k'a  constume  avoit,  PoMor.  532  d;  ainsi  qu'elles  avoient  a  costume,  Abent. 
Gaw.  S.  78;  Com  chil  qui  ne  l'avoit  a  us,  Chastoiem.  2,  99.  Das  Beispiel 
Sp.  18,  19  paßt  nicht  in  den  Zusammenhang. 

Bestimmung,  Verwendung  für,  zu,  18,  27.  Diesen  Sinn  hat  a  auch  in 
den  letzten  beiden  Belegen  des  vorhergehenden  Absatzes  ('mit  abstr.'  18, 
22  wäre  übrigens  an  seinem  Orte  nicht  erst  am  Platze),  dazu  an  Stellen  wie 
et  a  chiaus  servent  li  dizenier  qui  sont  estaMis  a  livroisons  d'yaue,  ArtChev. 
S.  94;  Et  Van  li  a  Veve  donee  As  mains,  Gd'Angl.  2565";  L'eve  li  donent  a 
ses  mains,  MFceLanv.  178. 

Zwei  Subst.  verbindend,  18,  33,  so  auch  armeure  a  Chevalier,  Clig.  6697; 
les  garnemenz  a  homme,  Mir.  ND.  37,  1290;  cel  habit  a  femme,  ib.  37,  1302; 
pastures  a  cheval,  ArtChev.  S.  141;  voie  a  cheval,  BCond.  209,  122;  dix  che- 
vaulx  a  somme.  Mir.  ND.  36,  434;  pot  a  vin,  ib.  26,  288;  torchon  a  piez,  ib. 
39,  377;  moulin  a  vent,  Journ.  d'un  B.  de  Par.  1411  bei  Buchen,  Chron.  et 
Mem.  I,  608  b;  chape  a  pluie,  Sp.  18,  38,  auch  Gd'Angl.  1632;  MRayn.  VI, 
98,   100. 

Nach  Subst.  mit  Inf.,  19,  4,  auch  el  seisein  lue  ara  chambra  a  desporter, 
el  settem'  ara  .  .  .  trois  chamhres  a  fenestres  qui  ferront  el  verger  a  acodar 
(zetas  aestivales  ...  triclinia  accubitalia) ,  Afr.  Pr.-Leg.  F  15,  14;  i.  espital 
as  povr^s  norrir,  ib.  K  29,  14;  Puis  desarme  le  Saisne  .  .  .  De  la  cote  a  armer 
et  do  vermeil  escu,  ChSax.  383Q;dy  qu'il  m'envoie  Un  parement  a  armer 
gent  Tout  blanc.  Mir.  ND.  33,   1931. 

Nach  Adj.,  19,  10.  digne  a  .  .  .  auch:  Li  signifer  porlent  les  signes,  Alauz 
(V.  e'slire)  i  sont,  a  ce  sont  dignes.  Prior.  Veg.  2600;  le  duc  qui  a  ce  dignes 
Est,  ib.  4590,  auch  mit  a  u.  Inf.:  Clefd'Am.  1004  (s.  God.) ;  Sire,  pas  ne  seroie 
Digne  a  vous  deschaucier,  Chron.  anglon.  III,  195  (bei  Ebeling,  Auberee 
S.  64  zu  V.  39). 

Nach  Adj.  mit  Inf.,  19,  17.  Das  Beispiel  aus  SMagd.  paßt  nicht  dorthin. 
In  den  beiden  letzten  Beispielen  des  Absatzes  ist  das  Subjekt  nicht  wie  in 
den  übrigen  das  Ziel,  sondern  der  Träger  der  Handlung,  die  die  Infinitive 
angeben,  welch  letztere  im  ersten  Satze  Transitiva  mit  eigenem  Objekt,  im 
zweiten  ein  Intransitivum  sind.  Weitere  Adjektiva  gleicher  Konstruktion: 
c'est  une  oroison  moult  belle  Et  haulte  a  dire  (sc.  la  kyrielle).  Mir.  ND.  40, 
2244;  un  chant  ...  Qui  soit  delictable  a  öir,  ib.  35,  1612;  femme  . . .  a  re- 
gard'er  deliteuse,  JCond.  I,  244,  17;  Legiers  est  a  ploiier  (sc.  nostres  sires), 
PoMor.  406  b;  Ne  fust  mie  legiers  a  prandre  (sc.  li  chastiaus),  Clig.  1240; 
Li  sois  estoit  legiere  a  clore,  Eust.  M.  1^40;  Neis  l'escorce  et  la  racine  En 
est  (sc.  von  der  neire  espine)  mult  dure  a  depescier  (Var.  Est  molt  tresforz), 
MFceFab.  49,  15:  A'e  veez  vos  con  eist  fer  sont  Roit  a  ploiier  et  fort  a  frain- 
dre?  ChCharr.  4621;  Vez  cy  choscs  fortes  a  croire,  Mir.  ND.  14,  1215;  La 
chose  est  tant  plus  preciouse  Come  a  trouer  est  plus  penouse,  Ly.  Ys.  2610; 
Li  fais  est  lais  a  escouter,  JCond.  II,  184,  86;  C'est  der  a  voir,  Mir.  ND.  4, 
258-  tot  ICO  laisem,  per  co  quar  trop  scroit  long  a  recontar,  Afr.  Pr.-Leg. 
J  20  14.  Belege  auch  durch  Soltmann,  Franz.  Stud.  I,  405  und  Hilding 
Kjell'mann,  La  constr.  de  l'inf.  d6pendant  d'uue  loc.  imp.  en  fr.,  Upsala  1913, 


Bemerkungen   zu    'Adolf   Toblers    Altfranzös.    Wörterbuch'  59 

S.  288  ff.  Wie  lent  a  u.  Inf.,  Sp.  19,  -37,  so  isnel:  car  häyne  de  citoiens  entre 
yaxis  est  ignele  a  encliner  soi  a  estre  destrmt  de  lor  anemis  (nam  civile 
odium  ad  inimieorum  perniciem  praeceps  est),  ArtChev.  101;  Soltmann  a. 
a.   O.:    Ron  II,  4181. 

Zweck,  Ziel,  19,  39,  so  auch  a  ren  plus  non  est  cre^tians  mas  que  .  .  .  (ad 
nihil  aliud  christianis  est  iunctus  nisi  ut  ...),  Afr.  Pr.-Leg.  M  60,  11.  a  la 
fin  quc  c.  Cj.,  Clefd'Am.  850,  1102;  Bast.  4416  (nach  Sch.s  Vermutung,  Hs. 
a  fin,  —  1);  Mir.  ND.  2,  880;  5,  845;  40,  2034;  DitRobDi.  228  c;  Froiss. 
Po6s.  39,  1312,  a  celle  fin  que  c.  Cj.,  Clefd'Am.  991  ;  Mir.  ND.  1,  824;  38,  590; 
Froiss.  Po6s.  I,  79,  901;  Chd'Orl  (Jann.)  II,  1,  159  (Rond.  144),  a  fin  teile 
que  c.  Cj.,  Mir.  ND.  25,  1136;  Journ.  d'un  Bourg.  de  Par.  1425  bei  Buchou, 
Chron.  et  Mem.  I,  669a,  a  fin  que  c.  Cj.,  DitRobDi.  217b;  {nfin  qve)  Mir. 
ND.  5,  85;  40,2085,  afin  de  c.  Inf.,  Mir.ND.  7,  397;  32,133;  34,635;  Froiss. 
Poes.  III,  102,  25;  (a  fin  de  .  .  .)  ib.  123,  862.  Zu  a  que  faire  .  . .  ?  19,  45: 
Et  a  que  faire  en  retenroit  Plus  que  mestierne  li  seroit?  Chastoiem.  24,  181; 
A  quoy  faire  vous  mentiroie?  Mir.  ND.  33,  2032. 

An  die  folgenden  Abschnitte  sei  nicht  mehr  angeknüpft.  S.  zum  Inf. 
nach  a  auch  die  Zusammenstellungen  in  den  von  Tobler  oder  oben  angezoge- 
nen Arbeiten  von  Lachmund,  Soltmann,  Soergel  und  Kjellmann,  außerdem 
Erw.  Stimming,  D.  Acc.  c.  Inf.  im  Frz.,  Halle  1915,  S.  101  u.  110. 

aaa  tir ,  vb.  rfl.  mit  dem  Belege  Qtii  durement  se  sont  de  ce  aaati 
Que  ...,  BComm.  2161.  Eine  auffällige  Zusammensetzung,  wohl  nur  ein 
Erzeugnis  des  Schreibers,  der  vielleicht  Qui  durement  se  sont  de  ce  aati 
{ —  1)  vor  sich  hatte.  Als  ursprüngliche  Lesart  ist  denkbar  Qui  durement 
se  sont  de  ce  entraati  (sich  untereinander,  gegenseitig  vornehmen,  anhei- 
schig   machen). 

aairier ,  vb.  rfl.,  übertr.  auch :  Si  couvient  le  cors  sivir  Men  euer  la 
ou  i  s'aaire,  AdHalle   (ed.  Berger)   XXIV,  5,  2. 

*  aai  s  e  m  e  nc  e  ,  s.  f..  JCond.  II,  17,  548;  von  God.  im  Vorwort  zum 
1.    Bd.    nachgetragen. 

aai  s  i  er ,  vb.  trs.,  mit  pers.  obj.  'pflegen',  servir  et  aaisier  auc:  Car 
hien  doit  li  uns  l'autre  servir  et  aaisier,  ChSax.  2428;  Celle  nuyt  furent 
les  Ai.  Cousins  seruis  et  aeisie  assez  plus  que  s'il  fussent  en  l'ostel  le  roy 
Artus,  Abent.  Gaw.  S.  11^;  Celle  nuyt  fu  Gauuain  seruis  et  aaisies  de  toutes 
les  ehoses  que  ceulx  de  leans  porent  avoir,  ib.  S.  25. 

aäison,  s.  f.  mit  dem  Belege  Clers  et  prestres  et  moines  de  grant 
aäison,  RMont.  93,  14.  Tobler  vermutet  Irrtum  für  aaisison  'Pflege'.  Auch 
aorison  'Beten,  Beteifer,  Frömmigkeit',  vom  intr.  aorer  abgeleitet,  könnte 
gemeint  sein;  or  wurde,  wenn  das  o  etwas  klein  geraten  war,  einem  a 
ähnlieh. 

aancrer,  vb.,  tr.,  bildl.  auch:  Dane  li  vueil  je  fere  savoir  Qu'il  (sc. 
mes  cuers)  est  dedenz  li  aencres,  Merang.  411  Var.  intr.  od.  rfl.  auch  Ses 
galies  fist  aancrer,  EustMoine  1955. 

aate,  adj.,  von  Dingen  auch:  Li  her  la  prist,  se.  d'un  sengler  une  es- 
palle, si  la  manjat  en  haste.  II  la  fist  tant,  cum  s'el  fust  mult  aate,  Wilh.- 
Lied   1408  2    (Suchier   "biegsam,   mürbe'). 

aatie,  s.  f.  'Eifer',  faire  aatie  in  envers  noiis  fönt  aatie,  JCond.  II,  25, 
783  nach  Scheler,  und  zutreffend,  rivaliser,  faire  concurrence. 

aatine  ,  s.  f.:  par  ahatines  auch  Tr.  Belg.  I,  263,  612;  par  grant  aatine, 
Watr.   26,   791. 

aatir,\h.  rfl.  'sieh  ereifern':  Tr.  Belg.  II,  181,  138  stellt  sich  zu  Gay- 
don 114,  Sp.  33,  6,  weitere  Belege  für  aatir  se  de  c.  J.  bei  God.  oder  Wilh.- 

1  H.  Oskar  Sommer,  Die  Abenteuer  Gawains,  Ywains  und  Le  Morholts 
mit  den  drei  Jungfrauen,  Halle   1913. 

2  H.  Suchier,  Les  changun  de  Guillelme,  Halle  1911. 


60  Bemerkungen   zu    'Adolf   Toblers    Altfranzös.    Wörterbuch' 

Lied   1400;   Watr.  87,  122;   298,  88;  das  Beispiel  aus  Chron.  Ben.  zeigt  ob- 
jektloses trans.  aatir. 

'sich  eifrig  an  etw.  machen':  De  tres  crueuse  plainte  se  va  aatissant, 
Bast.    3960. 

'sich  zum  Kampfe  entgegenstellen',  auch  contre  auc,  ein  Beisp.  bei  God., 
ferner  Vautre  partie  Qui  contre  lui  est  ahastie  A  grant  hruit  d'estrumens 
diviers,   JCond.   I,   103,   192. 

'sich  gleichstellen',  auch :  dcti  euer  .  .  .  A  vous  nous  volons  aatir,  JCond. 
II,  29,  927;   hierher  aucli  der  Beleg,  ib.  II,  24,  777   {envers  auc.)  zu  ziehen. 
aati,  pt.  pf.,  adj.  'bedacht  auf,  auch  mit  a  c.  Inf.:   je  te  chasti  Que  ton 
euer  n'aies  aati  A  desroi  faire  ne  outrage,  Watr.  9,  252. 

aatise,  s.  f.,  eine  dritte  und  vierte  Stelle  GLiege  5456,  {atise)  26520. 
ah  ai ,  s.  m.,  übertr.  'Schelten,  Anfahren'  oder  'Bedrohung' :  Apries  U 
ciens  par  abayer  Fait  le  larron  si  esmayer  Qu'il  s'en  fait  paoureus  et  mos. 
Baus  prinees  .  . . ,  Fai  ensi  que  par  ton  abbay  Soient  li  mauvais  en  esmai, 
Si  qu'il  ne  t'osent  aprocier,  JCond.  I,  152,  45;  a  ycel  temps  ...  Aloit  par 
Alemagne  ...  Une  grant  compangnie  de  gens  de  male  aboy :  On  les  nomoit 
Normans,  GLiege  21941  ('Bedrohung,  Bedrängung',  Scheler  jedoch:  de  mau- 
vais cri,  mal  fam6). 

abaieor,  s.  m.,  s.  A.  Delboulle,  Rev.  d'hist.  litt,  de  Fr.  I,  180  (14.  J.). 
ab  aiier ,  vb.  intr.  übertr.  auch :  eii  lor  languaige  abaiant  si  b  enirent 
le  grant  seignor  tot  poissanz,  Makk.  XV,  29;  jangier  et  abaiier  auch  JCond. 
II,  72,  755;  abaiier  vers  auc,  LEois  (ed.  Ler.)  129;  abaiier  sur  auc,  Watr. 
370,  102;  (mit  personfic.  Abstr.  als  Sbj.)  Car  Seurtez  .  .  .  Me  fait  hardi  sanz 
esmaier  (sagt  Hardement),  Et  tu  (sc.  Orgueil)  ne  sez  fors  abaier  Seur  ton 
furnier  et  a  la  porte,  Watr.  348,  191. 

ab  ais  s  i  er ,  vb.  trs.,  objektlos:  plus  essalcet  la  prosperiteiz  Ice  n'a- 
baisset  li  aduersiteiz  de  la  necessiteit,  Job  318,  34. 

mit  sächl.  Obj.  'herunterlassen,  herabdrücken,  niederlassen'  auch:  selone 
ce  qu'il  les  drescent  ou  abaissent  (sc.  les  tres,  die  Balken)  senefient  ce  que 
on  fait  (erigere  - —  deponere),  JMeun.,  ArtChev.  S.  84;  Quant  Von  les 
abaisse  ou  asce  (sc.  les  trez),  Prior.,  Veg.  4701;  quant  on  abaisse  Vun  chief 
(des  Balkens),  Vautre  se  hatice  (deprimere  —  erigere).  JMeun.,  a.  a.  0. 
S.  152;  Prior.,  Veg.  9622;  li  vens  contraires  reflecist  et  abaisse  les  gavelos 
(inflectit  ac  deprimit),  JMeun.,  ib.  S.  107;  Et  li  vanz  contraires  abaisse 
Les  javeloz  n'aler  nes  laissc.  Prior.,  Veg.  6431;  abaissiez  lur  hatereaz  (mit 
gebeugtem  Nacken),  Dial.  Greg.  163,  14;  et  lo  haterel  ...  despitat  abaissier 
a  (vor)  la  creature,  ib.  163,  19;  abaisse  la  (sc.  ccle  flaische)  uisousement  et 
si  troueras  quelle  chose  ele  at  deuenz  (nach  unten  richten,  umkehren,  lat. 
inclinare),  Dial.  Greg.  84,  12;  abaissier  le  pont  bildlich  in  Car  par  lui  (sc. 
Salute,  Sallust)  n'est  pas  abaissies  Li  pons  de  la  haute  science,  Hs.  in 
Alexius   S.   209. 

'unterwerfen',  etwas  einem  Zwecke  (auc.  r.  a  c.  Inf.)  :  Les  alkanz  somunt 
a  folie  la  force  del  cors,  mais  cant  il  Vabaissent  a  faire  les  pies  oeures,  si 
achatent  guaangnes  de  pieteit.  Job  311,  22. 

'beschwichtigen,  zur  Ruhe  bringen':  Des!  ...  cest  torment  (Sturm)  nos 
abeissiez,  Gd'Angl.   2361. 

'zu  Boden  werfen,  niederdrücken,  unterdrücken,  ablassen  von'  por  le  mal 
abaissier,  PdMor.  327  d ;  A  son  pooir  doit  abessier  Le  mal  et  doit  verite 
dire,  JCond.  II,  275,  258;  Par  lui  iert  li  tors  abaissiez,  Drois  soustenuz  et 
essauciez,  Watr.  203,  119;  Verror  que  nos  cuidians  que  tu  abaissa^es,  Afr. 
Pr.  Leg.  C  6,  10;  Por  Vanuiouse  guerre  finer  et  abaissier,  ChSax.  84;  Leur 
Tay  (der  Heiden)  durement  abessa  et  acrut  la  loy  crestienne,  JCond.  II,  294, 
176;  Parier  (sc.  doit  du  bien),  le  mal  lessier  Et  les  paroles  abessier  Dont 
preudons  puet  estre  honnis,  Watr.  371,  130. 

'(seine  Ehre)   herabsetzen':  Ja  tant  m'onor  n'  abaisserai,  Se  Dieu  piaist. 


Bemerkungen    zu    'Adolf   Toblers    Altfranzös.    Wörterbuch'  61 

quo  Sans  vos  m'en  aille,  Veng.  Rag.  3070;  (jmds.  Wert)  ce  sera  chose  qui  plu^ 
ahaissera  ton  pris,  Abent.  Gaw.  S.   93. 

mit  pers.  Obj.:  Tierabsenken,  hinabstoßen'  Tu  nos  as  abaissiet  el  liu 
d'affliction,  si  nos  at  coiicrz  li  umhrcs  de  mort,  Job  314,  20. 

'erniedrigen'  auch :  Dame,  .  .  .  hien  m'avez  agaitie  Et  sormont4  et  del 
tout  ahaissie,  Am.  Am.  2083 ;  Oloriex  sire  peres,  .  .  .  8i  me  garde  hui  cest 
jor,  que  ne  soie  ahaissiez,  ChSax.  3344;  Dunt  ele  n'ert  desparagee  Ne  avilee 
n'aheissee,  Ipom.  2338;  (der  Esel  zum  Pferde)  Ores  t'ai  abaissie  fortune, 
Ce   est  sa  rnaniere  commune,  Ly.   Ysop.   2335. 

rfl.  'sich  senken':  .</.  petit  est  pansive,  s'est  ses  voiis  ahaissiez.  Ch.Sax. 
3917;  (mit  sächl.  Subj.)  ele  (die  ferre]  ne  pot  soustenir  si  grant  fais,  ainz 
füi  (gab  nach)  et  s'ahaissa  (tanto  ponderi  solo  cedente  subsedit),  JMeun, 
ArtChev.    S.    151. 

'zu  Boden  fahren':  Ainz  qu'elle  (sc.  Vespee)  fust  a  la  terre  ahaissie, 
Uavoit  li  ctiens  et  prinse  et  enpoingnie.  Am.  Am.   1552. 

'sich  herablassen,  erniedrigen'  auch :  ki  s'ahaisset  de  son  greif,  il  serat 
essalciez  (qui  se  humiliat  exaltabitar),  Serm.  Sap.  295,  20;  Par  taut  couient 
ke  la  pen^e  soi  ellieuet  ensi  de  sa  saineteit,  ke  ele  soniousement  soi  ahaisset 
en  humnlifeit,  Job  307.  40;  Bele  dorne  est,  ne  s'ahaisseroit  si!  Ad.  Halle 
XVII,  V,  4. 

'sich  legen'  auch:  Maintenant  s'est  le  duel  et  le  cri  ahaissie,  Pr.  Clig. 
330,    25. 

'sich  neigen,  untergehen  (v.  d.  Sonne)':  Bien  vees  que  solels  s'abesse, 
Veng.  Rag.  1643;   Et  ja  soit  ce  que  li  solax  s'alest,  Eust.-Leb.  65c.i 

intr.  'sich  senken'  (v.  Meere)  :  Une  heure  hausse,  une  autre  abesse  (sc. 
la  mers).  Mir.  ND.  29,  1806;  (v.  einem  Körperteil)  Moult  li  abaisse  et 
angoisse  li  ncs  Et  li  retranche  durement  li  parlers  (dem  aussätzigen  Ami), 
Am.   Am.   2059. 

'sich  legen'  auch:  Maintenant  abeisse  et  acoise  Par  le  pales  tote  la  noise, 
Clig.  5905  A ;  Signurs  .  .  . ,  fetes  noise  aheiser,  BHaunst.  2258 ;  Vueillez 
pour  nous  a  Dieit  requerre  Que  Vorage  qui  (1.  qu'i,  i  ^  il)  fait  abesse,  Mir. 
ND.  27,  1321;  comme  eile  sentist  le  tempz  resioir,  les  venz  abaissier  et  les 
oisillons  chanter  Pr.  Clig.  335,  5;  Car  lors  la  tresgrant  cruautey 
Et  la  tresgrant  desloiautey  Des  forz  venz  est  moult  apaisie  Et  demoree 
et  abaissie.  Prior.,  Veg.  10732;  Quant  le  gieu  sera  abessie  Et  ta  dame  ara 
delessie  A  chanter  ou  a  caroler,  Clefd'Am.  1574  (oder  refl.) ;  mais  cella  (sc. 
dolor)  deves  temer  qui  non  a  fin  et  qui  non  abaisse  per  nul  temps  (exstin- 
guitur),  Afr.  Pr.Leg.  M  18,  11;  duchi  que  li  forsenz  de  la  persecucion  fust 
abaissies  (ad  persecutoris  rabiem  declinandam) ,  ib.  M  53,  21. 

'sich  neigen,  untergehen'  (v.  d.  Sonne)  :  Car  li  solav^s  ahaissir  uait,  Chev. 
II  Esp.   9524. 

'herunterkommen'  auch:  Par  soi  meisme  s'apergoit  Que  sa  force  est  molt 
retrencie  Et  sa  cors  (Hof)  est  trop  ahaisie,  Bari.  9838;  Car  vostre  cors  est 
abaisie  De  gent,  ib.  9870;  Por  monter,  non  por  abessier  (nicht  damit  es  ab- 
wärts mit  ihnen  gehe),  Prior.,  Veg.  2313;  Certes  tous  les  preudommes  du 
monde  abaisseroient  et  avilleroient  de  uosfre  mort,  Abent.  Gaw.  S.  54. 

abaliier,  vb.  (auch  Menganz,  dormanz,  ahaloianz.  Prior.  Veg.  5887: 
il  se  vont  abaloiant,  ib.  10001)  ist  kein  selbständiges  Zeitwort,  sondern 
csbaniier  in   anderer   Form. 

ab  and  er,  vb.,  vgl.  ahrundcr. 

ab  andon,  s.  m. :  d'ahnndon:  chis  s'en  fuyt  d'ahandon,  Geste  Li^ge  II, 
5995  (Seh.:  ä  coeur-joie,  de  plein  §lan).  doner  en  abandon:  Et  le  vous  don 
(sc.  mon  euer)  Pour  tous  jours  en  abandon  Tres  liement,  Froiss.  Po€s.  TT, 
52    1772.     estre  a  auc.  en  abandon:  c'est  la  fontaine  Qm  sourt  clere  et  de 


1   Andreas  C.   Ott,  Das   altfrauzösische   Eustachiuslebeu,   Erlangen   1912. 


62  Bemerkungen    zu    'Adolf    Toblers    Altt'ranzös.    Wörterbuch' 

grant  randon  Et  est  a  tous  en  abandon  (z.  Verfüg,  stehen),  JCond.  II,  309, 
118;  Tant  vous  seront  niieuls  soir  et  main  Les  fortunes  en  abandon,  Froiss. 
Po€s.   II,    182,    717. 

**  ah  andone ,  s.  f.  (wenn  auch  -e  leicht  zu  beseitigen):  Point  le 
hlanc  cheval  de  randonne,  Entrc  yulz  sc  ficrt  u  ubandomie,  Eich'   4920. 

aha  n  doner,  vb.  trans.  'darbieten,  preisgeben,  loslassen',  ohne  be- 
gleitenden Dativ  der  Person:  La  ncf  toi  de  piain  ahandone  (der  Schiffs- 
führer) Et  la  leisse  toute  an  halance.  Gd'Angl.  2318;  en  ahandonnant  lor 
gent  (ihre  Streitkräfte  entwickeln,  vorgehen  lassen,  expositis  copüs); 
JMeun,  ArtChev.  S.  145;  guant  ...  ont  lor  jant  ahandonnee,  Prior.  Veg. 
9099;  Et  lors  lor  defendit  Vantree  Que  jai  estoit  ahandonee,  Prior.  Veg. 
9922;  Farne  qui  sa  houche  ahandone,  Le  soreplus  de  legier  done,  Graal  C 
3825;  et  hahandonne  la  renne  de  son  destrier,  Pr.-Erec  293,  14. 

auc.  r.  a  auc.  r.  'etwas  einer  Sache  preisgeben,  aussetzen':  ansois  est 
plus  ahandonnes  a  peril  (sc.  li  passages  de  mer)  (discrimini  propior), 
JMeun,  ArtChev.  S.  168;  Aingois  est  plus  ahandonez  A  peril  que  a  hien 
donez  (sc.  es  nez  li  passages,  die  Schiffahrt),  Prior.  Veg.  10739. 

a   auc.  faire  auc.  r.   'freistellen':    Dieus,   qui  a  Vomme  vie  donne,   Bien 

faire  et  mal  li  ahandonne;  Auquel  qu'il  veut  faire  s'accort,  BCond.  212,  20. 

a  auc.  auc.  r.  a  faire  'überlassen' :   .  .  .  qu'il  vous  vueille  plaire  .  . .  Qu'en 

Heu  de  vous  le  coronnez  (euren  Sohn)  Et  du  tout  li  ahandonnes  Vostre  roy- 

aume  a  gouverner.  Mir.  ND.  34,  888. 

son  euer  a  auc.  r.  oder  a  faire  auc.  r.  'sein  Herz,  sich  einer  Sache  hin- 
geben' :  Ains  pensse  ...  A  ce  que  grant  don  puist  donner;  A  ce  voit  an 
ahandonner  Son  euer  qui  est  en  honnour  duis,  JCond.  II,  316,  86;  Et  si 
voellies  ahandonner  Vo  euer  a  largement  donner,  ib.  I,  317,  461;  ahandonner 
Son  euer  a  largement  donner,  ib.  II,  310,  149;  Si  dois  ton  euer  ahandonner 
A  hiel  despendre  et  hiel  donner,  ib.   I,  375,   129. 

'aufwenden,  in  Tätigkeit  setzen'  auch:  large  d'ahandonner  En  armes  la 
viertu  dov  cors,  BCond.  188,  22;  mit  a  c.  Inf.:  .  .  .  ,  Si  ahandonne  son  avoir 
A  courtoisie  et  honte  faire,  JCond.  I,  319,  506. 

refl.  'sich  darbieten,  hingeben',  absolut  auch:  Cur  cascuns  por  lui  s'ahan- 
done  (sich  aufopfern),  Julian  1540;  La  contesse  tant  s'ahandone  Qtie  devant 
ax  trestos  li  done  ün  anel  d'or  (sich  gehen  lassen,  so  weit  gehen  zu),  ib. 
2071;  Si  (derart)  li  ot  fait  ahandonner  (Refl.-Pr.  fehlt  wegen  li)  Ses  cuers 
.  .  .  Que  dedens  les  .iii.  ans  premiers  Tout  son  meide  (bewegl.  Habe)  aleuwe 
et  despense,  JCond.  I.  321,  581;  Trop  sui  hardis  Quant  si  plainnement  m'a- 
handonne  Que  mon  euer  entirement  donne  Et  Varreste  sus  mon  contraire, 
Froiss.  Po6s.  II,  56,  1884;  En  hon  espoir  est  ma  plaisance  nee,  Qui  ne  nie 
voelt  nesunement  guerpir,  Ains  s'est  dou  tout  en  moi  ahandonnee  Et  me 
semont  de  mon  coer  resjöir  (sich  frei  entfalten,  od.  dgl.),  ib,  II,  204,  337. 

que  c.  Cj.:    Et  j'oitroy  Perdre  d'Espaigne  la  couronne.  Biau  sire,  stelle 
(meine  Frau)   s'ahandonne  Qu'avec  li  gisez  cJiarnelment,  Mir.  ND.  28,  674. 
en  auc.  r.:  Cui  li  cuers  en  ce  s'ahandone,  Prior.  Veg.  8177;  Ki  en  largece 
s'ahandone.  Ja  en  ricliece  ne  morra,  Eies  378. 

o  c.  Inf.,  sehr  häufig,  beispielsweise  auch:  Clefd'Am.  2906;  JMeun,  Art- 
Chev S.  14;  Prior.  Veg.  2664;  7348;  7446;  9982;  Brakelmann,  Chans,  frg. 
S.  57,  X,  36;  JCond.  I,  377,  184;  Mir.  ND.  21,  65;  40,  1181;  Pr.  Free  290, 
25;    Pr.   Clig.  326,   26. 

de  c.  Inf.  auch:  Je  qui  conoix  ma  propre  enfermeteit  ne  m'ose  mie  ahan- 
doner  d'entrer  en  cest  puix,  S.  Bern.  (F.)  178,  8;  La  ou  Deu  platt  si  s'ahan- 
done De  l'ome  faire  riche  ou  povre,  Prior.  Veg.  158. 

'losstürzen,  losstürmen'  abs. :  Et  va  ferir  Bufor  qi  s'iert  ahandonez  Par- 
devant  toz  les  autres  .ii.  arpans  mesurez,  ChSax.  3400. 

^  en  c.  Plur.  'hinein  in  ...':  Et  Juliens  s'i  alandorie  Es  Turs,  Julian 
2414;   Ens  es  Turs  de  piain  s'ahandone,  ib.  1730. 


Bemerkungen    zu    'Adolf    Toblers    Altfranzös.    Wörterbuch'  63 

abandoni  als  adj.,  abs. :  Et  Sarrasin  se  denrengierent,  Qui  lor  vinrent 
(ibandonne,  JCond.  I,  28,  1581;  in  der  Liebessprache:  Trop  sui  abandonnee, 
.  .  .  Mais  che  fait  bonne  amours  qui  m'en  donne  doctrin,  Bast.  2630  (vgl. 
Sclielers  Anin.  zu  2595) ;  je  seroie  trop  habandonec  se  je  requcroie  ce  dont 
fai  este  requise,  Pr.  Clig.  290,  42;  Par  terre  fis  ma  destinee  Set  anz  con 
garce  abavdover,  Que  nvs  n'an  aloit  refusez  (sich  preisgebend,  garer  ^  ee 
Buhldirne),  Gd'Angl.  1152. 

a  CMC:  e'est  un  bourgeois  Larges,  a  touz  habondonne,  Qui  'maint  bian 
diner  a  donne,  Mir.   ND.  .35,  62. 

vers  aue.:    Car  vers  vous  sitie    (d.  i.  sui  ie)    totis  abandones,  Aiol  1454. 

ffl  c.  Inf.:  Lors  cuers  est  plus  habandoneis  As  biens  liement  rechevoir, 
JCond.  TI,  34,  1088;  oz  ordonee,  A  toz  biens  faire  abandonee.  Prior.  Veg. 
6480  (ib.  3022:  de  c.  Inf.). 

•*  abas  tardissement,  s.  m.,  s.  A.  Delboulle,  Eev.  d'hist.  litt,  de  Fr. 
I,  178    (14.  J.). 

abastir,  vb.  trs.,  auch:  De  son  fol  plait,  s'el  l'abasti,  El  ne  Inrroit  por 
nul  cJiasti,  Yder  5471. 

*abat,  s.  m.,  s.  A.  Delboulle,  ib.   (15.  J.). 

ab  at  e  i  z ,  s.  m.  'Trümmer':  (nach  Zer.störung  der  Mauer  durch  die 
Belagerer)  L'on  doit  sanz  delnier  entandre  Qui  vuet  Vabateiz  defandre  En 
faire  apres  un  mur  autre,  Prior.  Veg.  9726. 

abatre,  vb.  trans.  mit  sächl.  Obj.,  auch  'niederreißen':  Et  doit  Von  les 
maisons  abatre.  Prior.  Veg.  9728;  Wistasces  ...  a  fait  le  palais  abatre, 
Eust.  Moine  2146;  'fällen':  Et  de  ce  meisme  se  convient  il  garder  que  on 
ne  tnille  ne  ne  soiece  pas  les  ^res  si  tosf  nue  li  arhre  snnt  abafu  (continiio 
ut  deiectae  fuerint  trabes),  JMeun.,  ArtChev.  S.  163;  On  ne  doit  au  soier 
entandre  Prs  tantost  qu'il  {li  trev)  abatu  sont,  Prior.  Veg.  10383;  'mähen": 
Et  savons  bien  soier  et  batre:  S'avez  gangnages  a  abatre,  Voulentiers  en 
rnnrchanderons  Et  si  les  vous  abaterons  Bim  et  tost,  dame,  Mir.  ND.  26, 
202. 

a.  le  bendel  d'auc,  a  auc.  übpitr.  'jemanrlem  die  Binde  von  den  Auepn 
reißen,  jemanden  aus  seiner  Verblendung  reißen':  si  se  pourpense  (sc.  Agra- 
vain),  que  s'il  puet,  il  abattra  de  son  frere  (sc.  Gauvain)  cest  bandel,  car  il 
m'a  fait  honnir  et  avillier  ...  quant  il  devant  moy  a  enpris  ceste  aventure 
a  wiener  a  cliief,  qui  suis  ainsnes  de  luy  et  plus  fors  et  vlus  vistes  qu'il 
n'est  ...  Je  luy  feray  cognoistre  sa  musardie'  .  .  .  (Er  will  ihn  unerkannt 
unterwegs  zum  Zweikampf  stellen)  'Et  ainsi  .  .  .  ly  pourray  ie  legieremenf 
abatre  cest  bandel  qu'il  a  si  grant  encommencie,  car  ie  scay  bien  ati'il  n'a 
ne  le  Corps  ne  la  force  pour  durer  encontre  moy',  Abent.  Gaw.  S.  98. 

übertr.  'niederschlagen'  auch:  Por  tort  lever  et  droit  abatre,  Ipom.  9710: 
Ha,  dioux!  voiremrnt  abnies  vnus  tout  ornueil  et  exaulcies  hum-Hi^e.  Ab'^nt. 
Gaw.  S.  101;  se  vous  voulez  Mon  ennoy  estaindre  et  abatre,  Froiss.  Po6s. 
TU,  85,  16;  Ceste  despntisons  l'i  antre  Te  sera  hui  molt  chier  vendue,  Se 
ta  parole  est  abatue   (unterliegt),  Bari.   6326. 

'entreißen,  entziehen':  (der  Sünder)  M'a  dit  (mir,  ND.)  que,  se  ne  le 
sequeurs,  Teile  deshonneur  me  fera  Que  le  nom  il  m'abatera  De  mere  de  mi- 
sericorde.  Mir.  ND.   8,  835. 

mit  pers.  Obj.  'niederwerfen'  auch:  abatre  auc.  a  terre,  JBlaiv.  1918: 
'sich  selbst':  Et  de  son  cop  mesme  s'abat,  Watr.  260,  923. 

bildl.  'erniedrigen,  herabsetzen':  Ki  nos  dex  as  por  viex  tenus  Et  par 
parier  si  alatus,  Bari.  7300;  Celle  l'ahiert  et  semont  et  abat  (Lubias  ihren 
Gatten  Ami),  S'elle  nnques  puet  el  le  ciinrhTcra,  Am.  Am.  403:  Devant  Vc- 
vesque  s'en  ala  Lubias,  Ami  encuse  et  trehuche  et  abat,  ib.  2114. 

'erlegen'  auch :  Nous  deux  menons  ma  dame  esbatre  Aux  oisiaux  sau- 
vages  abatre,   Mir.   ND.    37,    1322. 


64  Bemerkungen    zu    "Adolf    Toblers   Altfranzös.    Wörterbuch' 

(?)  refl.  'stürmen":  Tant  (soweit)  s^cst  Juliens  ahafiis  Que  rescous  a  les 
abatus  Qui  al  füir  erent  cheu,  Julian  1688   (Tobler  ändert  in  embatus). 

ahauhir,  vb.  trans.,  ~  de  euer  auch:  Akres  ce  fu  moult  tost  toute 
Vost  estormie  Et  la  (jens  tourmcntee  et  de  euer  ahaulie,  BComm.  1510;  ~  i 
d'auc.  r.  'verlegen  um':  On  demande  niout  souvent  k'est  amours,  Dont  mains 
on  est  dou  respondre  ahaubis,  Ad.  Halle  XIII,  I,  1. 

abc,  s.  m.,  auch:  en  la  fyn  del  abicee,  Nie.  Bozon,  Cont.  Moralisßs 
S.  161;  Li  abeces  par  ekivoche  et  li  significations  des  lettres  par  Huon  le 
Roi  de  Cambrai,  hrsg.  v.  Art.  Längfors,  Helsinski  1911  (s.  auch  Längfors, 
Rom.    41,    237). 

ab  e  ,  s.  m.  'Trachten',  estre  en  abe  de  c.  Inf. :  Cardinal,  evesque  et  abe 
Et  maint  autre  sont  en  abe  De  prendre  l'argent  et  haper,  JCond.  II,  225,  60. 

ab  elir ,  vb. :  abelist  a  auc.  c.  Inf. :  car  moult  m'abelli  Lui  öir,  quant  il 
m'aime  tant,  Mir.  ND.  17,  1134;  Et  si  li  plot  et  abeli  Especialment  m'en- 
voier  A  vous  .  .  .  ,  ib.  17,  1258;    ^    a  auc.  a  c.  Inf.:  Beispiele  Sp.  21,  50. 

**  abelissenient,  s.  m.  'Behagen,  Gefallen' :  Et  souffreray  en  gre 
le  huy  Du  peuple  et  l'escharnissement  Et  touzjonrs  abelissement  Aray  a  tel 
(solch  entbehrungsreiches)  vie  souffrir  (Gefallen  finden  ...),  Mir.  NT).  17, 
178. 

ab  enge,  s.  f.,  auch  valMssant  une  ahenche,  G^ste  Lißge  23941. 

aberie,  s.  f.  'Baumpflanzung',  s.  Ad.  Tobler,  Zeitschr.  f.  rom.  Phil. 
V,  155. 

**  ab  e  s  tiier ,  vb.  rfl. :  Dont  grandement  m'abestioie,  Froiss.  Po6s. 
II,   3,  84   (Scheler:   s'avilir). 

abestir,  vb.  trans.,  auch:  Ces  coquars  prestres  abetir  Pour  leur  pro- 
strise  me  cuidoient  (dumm  machen),  Mir.  ND.  14,  298. 

ab  ev  r  a  g  e,  s.  m.,  '(sich)  Tränken,  Trinken':  Oar  de  malvaise  iaue  li 
abruvaiges  Est  si  con  de  venin  l'usaiges.  Prior.  Veg.  4224. 

abevrement,  s.  m.,  auch:  Apres  veult  David  tesmoingnier  Le  bailUer 
et  le  despoillier  Et  aussi  son  abruvement,  Mir.  ND.  20,  1229. 

abevreoir,  s.  m.,  'Trog'  auch  li  abuvroirs  (lat.  hingegen  aquatio 
'Wasserholen') ,  JMeun.,  ArtChev.  S.  95;  Li  abruvaour  voiremant  Et  totes 
choses  ausimant  Qui  a  nostre  ost  sont  necessaires,  Prior.  Veg.  5473. 

abevrer,  vb.,  Inf.  sbstviert:  De  Vabruver  dist  il  tnoult  bei,  sc.  David,-. 
Dederunt  in  escam  meam  fei  (vorher  abruvement).  Mir.  ND.  20,  1233. 

potiono,  abuvrer,  poissonner,  Cath.  Lille  S.   100. 

trans.,  objektlos:  .  .  .,  si  oste  ja  les  seles  Et  f orbist  et  estrille  et  aboivre 
et  aaisse,  Aiol   6461. 

abevrer  auc.  d'un  boivre,  d'un  buvrage  usw. :  Quant  ele  l'avra  abevree  D'un 
boivre  qui  la  fera  froide,  Clig.  5458;  tu  fus  au  jour  des  noces  abuvre  d'un 
buvrage  de  tel  vertu  que  .  .  .  ,  Pr.-Clig.  337,  20;  en  la  meie  sei  abevrerent  mei 
d'aisil  (in  siti  mea  potaverunt  me  aceto),  Oxf.  Ps.  68,  26  (dsgl.  Cambr.  Ps.)  ; 
en  ma  sei  m'ont  abevre  de  vin  aigre,  Afr.  Pr.-Leg.  E  11,  7;  En  vostre  testa- 
ment  nouvel,  Crestien,  avez  confesse  Vostre  Crist  de  femme  estre  n4,  .  . .  De 
fiel  et  d'aizil  abruve,  Mir.  ND.  20,  1207;  pour  abuvrer  Touz  ses  suhgiz  d^yauc 
delicieuse,  Mir.  ND.  31,  S.  254,  Serv.  II,  25. 

bildl.  auch:  et  si  serons  aboureit  del  ruit  de  ton  deleyt,  Serm.  Bern. 
(F.)  110,  39;  De  eompunction  Vahreuvas,  sc.  ton  pueple,  Eeimpsalter  LIX,  3 
in  Oxf.  Ps.  S.  300;  vostre  sens  est  grans  et  ymaginatis  et  abuvres  en  tels 
oevres,  Froiss.,  Po§s.  I,  S.  323  (Scheler:  expert) ;  deus  coers  ...  Si  abuvres 
de  tout  revel  .  .  .  Que  . .  .,  ib.  II,  61,  2074;   Et  si  fort  en  sui  abuvres,  sc.  de 

CG  mal,  Que ib.   II,   134.  4531;   je  n'ai  mie  Uart  ne  l'arest  sus  tel  ou- 

vrage;  Abuvre  l'ai  d'autre  bevrage  Et  Nature  aillours  me  Vadrece,  ib.  II, 
51,  1727;  Belle  me  seroit  la  journee,  ße  la  pastoure  a  blons  cheviaus  Estoit 
de  moi  enamouree  Et  de  tel  buvrage  abuvree  Que  je  sui  pour  Vamour  de  lui, 


Bemerkungen    zu    'Adolf    Toblers    Altfranzös.    Wörterbuch"  65 

ib.  II,  329,  21;  (das  Mittel  Subjekt:)  II  est  en  bo7is  Heus  refuse,  Par  ce  vice 
qui  tant  Vdbeuvre,  ib.  III,  234,  6. 

intr.  'sich  tränken' :  si  que  on  y  puet  seurement  aler  et  abevrer  (ut  aqua- 
toribus  liber  praestetur  accessus,  den  Wasserholern) ,  JMeun,  ArtChev. 
S.  144;  Si  que  Von  i  puct  stiremant  Aler  abuvrer  voiremant,  Prior.  Vesr. 
9042. 

refl.,  auch:  Ne  nus  ne  s'i  aboivre  (beim  Stürzen  in  die  Rhone)  qui  (od. 
que)  chier  escot  n'i  pait,  ChSax.  2186  Var.;  in  Vbdg.  m.  paistre  se  auch  8i 
se  veut  paistre  et  abeuvrer  Qu'il  se  puist  ades  enivrer,  3   Ringe  373,  343. 

**  ahhorr  er ,  vb.  Irans.,  s.  A.  pelboulle,  Rev.  d'hist.  litt,  de  Fr.  I 
179    (14.   J.). 

ahile,  adj.,  de  c.  Inf.:  ceulz  qui  ahile  Sont  de  parier  a  toutes  fins 
D'Amours  et  des  meurs  feminins,  Froiss.,  Po6s.  III,  176,  3. 

*aiilement,  adv.  (God.  hah.,  auch  Compl.)  :  Ils  saillent  hahillement 
sur  pies.  Pr.-Erec  258,  42;  comhien  qu'ilz  soient  chutz,  Hz  sont  habillement 
sallis  sur  pies,  Pr.-Clig.  316,  8;  Hz  se  relievent  habillement,  ib.  320,  25;  et 
habillement  s'en  va  mestionner  son  buvrage,  ib.  329,  14. 

abilite,  s.  f.,  auch:  Quant  eile  (sc.  Humilite)  voit  qu'ilz  sont  en  grace 
Par  leur  sens  ov  pnr  leur  bonte  Ou  par  nncnnr  habilite,  Froiss.  III.  257, 
2468;  —  de  c.  Inf.:  Les  enfans  aprent  a  aler  Et  lor  donne  Vabilite  De  parier 
par  soiitievete,  ib.  I,  98,  403. 

abilit  er ,  vb.,  s.  auch  Scheler,  Gloss.  zu  Froiss.  Po^s. 

abillement ,  s.  m.  'Kleidung,  Gewand' ;  'Kleidungsstück',  auch :  un 
rice  aiillement  de  drnp  d'or,  Pr.-Erec  286.  43;  puis  se  adouba  de  ses  bons 
abillemens,  Pr.-Clig.  286,  1 ;  quant  il  fu  atourne  de  ses  habillemens,  ib.  292, 
15;  manda  a  son  escuier  qu'il  lui  aportast  sa  robe  chapeau  chainture  chaus- 
sez  saullers  et  aultres  abillemenz,  ib.  321,  5. 

ab  Uli  e  r,  vb.  traus. :  Designans  fut  nommeis,  celui  le  pape  abilhe, 
Geste  Lifire  .5785    (Scheler:    investir). 

abitacion,  s.  f.  'fleischlicher  Verkehr,  Beischlaf :  Et  que  a  fame 
n'eusce  habitacion  Ne  compaingnie  tel  com  avoir  doit  on,  Am. Am.  1198. 

*  ab  i  t  a  g  e  ,  s.  m.  'Wohnung,  Behausung' :  A  Dieu  plaise  que  ce  (der  ge- 
suchte Eremit)  soit  eil  Que  je  voy  la  en  Heu  [d'Jessil  Devant  son  petit  habi- 
fage,  Mir.  ND.   17,  1229. 

'Lebensgewohnheit':  8i  est  le  meilleur  que  g'y  voie  De  fouz  terriens  hert- 
fages  Guerpir,  Car  de  telz  habitages  A  mainte  ame  male  merite:  Si  vault 
viiex  que  m'en  desherite  Et  relenquisse  tels  deliz,  Mir.  ND.  17,  160. 

abifer,  vb.  intr.  'sich  aufhalten,  um  jemdn.  sein':  Et  hons  de  nafion 
vilaine  .  . .  entour  prodome  a'biter  Ne  doit,  JCond.  II,  191,  56;  'sich  befinden' 
mit  Abstr.  als  Sbj.  auch:  Povr  ce  bien  que  (t^  qui)  en  lui  abbitte,  JCond. 
I.   165,   62. 

'fleischlich  beiwohnen',  mit  dem  Zusatz  charnelment :  Saciez  que  ce  saint 
homme  nin  damr  espotisn.  .1/r.s  onquez  charnehnent  a  son  Corps  n'abitn. 
Alexius  Q  174b;  D'une  moye  suer  se  vanta  Qu'a  U  charnelment  habita,  Mir. 
ND.   28,   1720. 

abifüer,  vb.  rfl.  'sich  kleiden':  Puis  qu'abituees  nous  sommes  Et  ves- 
fues  con  fussions  hommes,  Partir  nous  fault  sanz  faire  noise.  Mir.  ND.  37, 
1313;  Lors  abit  de  femme  laissames,  Co^nme  hommes  nous  habituasmes,  ib. 
3186. 

*ab  ject.  adj.,  .s.  A.  Delboulle,  Rev.  d'hist.  litt,  de  Fr.  I,  179   (15.  J.). 

*ablatif,  s.  m.,  s.  A.  Delboulle,  ib.   (14.  J.). 

**  ab  lüi  r  ,  vb.  trans.  'abwaschen':  Srs  mains  et  son  viaire  de  claire 
rawe  abluist,  GLi^ge  10366. 

*  ablv  t  i  on  ,  s.  f.  'Abwaschung' :  par  nblution  o  vin  chaut,  Mondev. 
Chir.  823;  par  ablutions  remolUtives,  ib.  1567:  ablucion,  ib.  1616;  1683;  aMu- 
sions,  ib.  1624. 

ArchiT  f.  n.  Sprachen.     139.  5 


66  Bemerkungen    zu    'Adolf   Toblers   Altfranzös.    Wörterbuch' 

*  a  b  0  l  e  r ,  vh.  trs.,  ^6  'entflammt,  erregt':  Li  scnescals  de  Bruges  astoit 
tous  abolleis,  GLißge  2273  Var. 

'schreien?':  Et  entre  dois  orent  (hörten  sie)  «ne  vois  qui  abolle,  GLiöge 
7637. 

**  ab  omable  ,  adj.  'verabscheuenswert' :  De  trestout  le  pechiet  qui  tant 
fut  abomable,  GLißge  10663. 

ab  ondanc  e ,  s.  f.  'Überfluß',  auch  .  .  .  qui  donet  avondanci  a  tot  cres- 
tin  .  .  .  (tribuitque  copiam,  Unterhalt,  omni  Christiano),  Afr.  Pr.-Leg.  M  53, 
19;  avoir  abondance  de  ...,  Prior.  Veg.  4306;  5594;  5614:  8625;  a  grant 
habundance,  Afr.  Pr.-Leg.  F  15,  18;  cn  a.:  viandes  enveia  a  eis  en  abundance 
(cibaria  misit  eis  in  abundantia),  Oxf.  Ps.  77,  29;  par  a.:  il  n'est  mie  Farne 
en  vie  A  qui  de  tant  monteplic  (sc.  la  plaisance)  Qu' eile  fait  par  habundance 
A  moi  selonc  m'esperance,  Froiss.  Po6s.  II,  300,  63;  outre  a.  'übergroß,  un- 
gewöhnlich': sa  beaute  oultre  habondance,  ib.  II,  328,  56.  Zu  d'abondance 
s.  auch  Scheler,  Gl.  zu  Froiss.  Po€s. 

ab  ond  er ,  vb.  intr.  'überfließen,  überlaufen':  quant  (sc.  li  fosse)  so- 
ronder  Comenceront  et  abonder  De  Viaul  et  de  la  sorecrue,  Prior.  Veg.  8750. 

'heranströmen' :  Et  lors  sont  tuit  apparoillie  .  .  .  Por  conbatre  a  la 
jant  qu'abonde  Et  qui  lor  jant  chacent  a  force,  Prior.  Veg.  6598. 

'reichen,  sich  erstrecken',  auch:  Lors  soit  essise  et  ordonee  L'aberge  (das 
Lager)  en  forme  quarree  Ou  en  triangle  ou  en  raonde,  Selonc  ce  que  la  place 
abonde,  Prior.  Veg.  5316. 

'an  Fülle  zunehmen,  wachsen,  sich  vergrößern':  8i  abonde  (die  zuerteilte 
Speise)  entre  lor  mains,  Que  cascuns  fu  saous  et  plains,  Drei  Freunde  463; 
Et  li  don  abondent  et  croissent  A  cex  qui  adone  l'ost  descroissent  Et  s'an 
vont,  Prior.  Veg.  2303;  Et  plus  y  pense  et  plus  m'abonde  Vouloir  et  desir  de 
l'avoir,  Mir.  ND.  34,  294. 

'sich  mehren,  zahlreich  werden':  Les  oeilles  d'els  fedunuses,  aljundanz  en 
lur  eissemenz  (oves  eorum  foetosae,  abundantes  in  egressibus  suis,  nXri^-v- 
vovTn).  Oxf.  Ps.  143,  16;  Lor  berbis  sunt  fructifians,  En  lor  issues  habun- 
dans,  Reimps.  ib.  S.  355. 

'fruchtbar  sein':  Ta  femme  en  ta  maison  sera,  Funt  (1.  Unt)  come  vigne 
habunderait,  Reimps.  127,  3  in  Oxf.  Ps.  S.  348;  vgl.  abondant. 

'überwiegen,  gewaltig  sein':  Car  li  travauz  trop  ne  habonde  De  porter 
avec  lui  la  fonde,  Prior.  Veg.  1269. 

'vorhanden  sein,  sich  befinden'  (mit  Ortsbestimmung)  :  Li  solaz  (Sonne) 
qui  est  eaz  dou  monde,  En  cui  toute  clartey  abonde,  Ly.  Ysop.  362;  La  se- 
sieme  compagnie  habonde  Et  la  septisme  en  ceste  seconde  (sc.  bataille), 
Prior.  Veg.  3123. 

'zu  teil  werden':  Cest  signe  pues  veoir  toudis  De  ceulz  qui  chacent  les  ri- 
chesses  .  .  .  Et  les  grans  honors  de  cest  monde,  Et  com  plus  a  homme  en 
abonde,  Plus  s'i  solasce  et  glorefie,  JCond.  II,  54,  152., 

'hinreichen,  genügen':  Diabios  .  .  .,  avondeisc  tei  co  que  tu  as  confondu  la 
bona  gent  (iam  sufficiat  tibi  et  confuudere),  Afr.  Pr.-Leg.  L  22,  5;  A  rendre 
gracies  per  vosfros  beneficios  neguna  parolla  de  ma  bochi  no  abonde  (ad  re- 
ferendas  ...  gratias  nullus  mihi  oris  suf fielt  sermo),  ib.  M  37,  6. 

'mächtig  sein,  Kraft,  Vermögen  haben'  auch:  Tant  com  chascuns  est  en 
ce  monde,  II  s'efforce  a  ce  qu'il  habonde  A  avoir  des  biens  temporax.  Mir. 
ND.  21,  286. 

trans.  'fließen  lassen,  ergießen' :  Royne  des  cieulx  .  .  .  ,  Vueilliez  vostrc 
grace  habender  En  mon  euer,  qui  le  puist  monder  Du  grant  pechie,  Mir.  ND. 
4,   1132. 

'in  Fülle  da  sein  lassen,  spenden'  und  schlechthin  'spenden,  verleihen': 
Car  Diex  abonda  leur  viande;  Cascuns  a  plus  quHl  ne  demande,  Manek.  7685 ; 
Nus  biens  est,  se  Diex  ne  Vahonde,  ib.  4724;  celui  qui  fait  croistre  Les  biens 
dessus  terre  et  liabondc,  Qui  seul  gouverne  tout  le  monde,  Mir.  ND.  24,  664. 


Bemerkungen    zu    'Adolf   Toblers   Altfranzös.   Wörterbuch'  67 

'vermehren,  erhöhen':  (Gott)  Vostre  honneur  acroisse  et  habonde,  Mon 
scigneur  chier,  Mir.  ND.  27,  1667. 

abondant,  als  adj.  'in  Fülle  vorhanden,  gewaltig':  Car  en  Dieu  est  la  pities 
gratis  Et  redemptions  luibundans,  Reimps.  129,  7  in  Oxf.  Ps.  S.  348. 

•in  Überfluß  lebend':  Kar  mult  raempUde  est  la  nostre  aneme,  re- 
proce  a^  ahtindanz  e  despisement  as  orguilliis  (opprobrium  abundantibus  et 
despectio  superbis,  toTs  evffijiovat,  vgl.  Joh.  Stöcklein,  Arch.  f.  lat.  L-ex.  7, 
230),  Oxf.  Ps.  122,  5;  Car  nostre  arme  est  motilt  remplie  De  despisement  et 
d'envie;  Reprochiers  fu  as  haiundans,  As  orguülous  despisemens,  Reimps.  ib., 
in  Oxf.  Ps.  S.  347. 

'fruchttragend,  fruchtbar' :  La  tue  ferne  si  cume  viz  ahundant  es  lez  de  la 
tue  maisitn  (uxor  tua  sicut  vitis  abundans,  in  lateribus  domus  tuae,  evd-rj- 
vovart,  vgl.  J.  Stöcklein,  a.  a.  O.  S.  212),  Oxf.  Ps.  127,  3. 

'überzählig' :  Cil  . . .  Doit  entor  liii  toz  jors  avoir  Chevaliers  Jiardiz  et  vail- 
lanz  .  .  .  Et  des  ahondanz  doivent  estre,  Prior.  Veg.  6981  {z=  bons  Chevaliers 
sorhabundans,  JMeun,  ArtChev.  114,  bonos   equites  supernumerarios,  Veg.). 

d'nhondant,  s.   auch   Scheler,  Gloss.   zu   Froiss.,  Po6s. 

ahonde,  ^  d'auc.  ii.  auch:  On  voit  trop  le  siede  habonde,  Entre  povres  et 
entre  riches,  De  ehieres  sauvages  et  niches.  De  quoi  on  voit  chascun  parer, 
JCond.  II,  220,  90;  avoir  le  euer  abonde  de  .  .  .  :  Mais  qui  a  le  euer  abonde 
Des  .ii.  (sc.  mestiers) ,  on  voit  bien  avenir  Qu'il  le  fönt  a  honnour  venir, 
JCond.  I,  105,  266. 

ab  00  t  er  ,  vgl.   auch   ahaater. 

**  abord,  s.  m.,  s.  A.  Delboulle,  Rev.  d'hist.  litt,  de  Fr.  I,  180  (15.  J.). 

**  ab  or  de  e ,  s.  f.  'Anhieb,  Anfang' :  puis  couce  la  lance  et  de  prime 
abordee  il  en  tresperca  l'un,  Pr.-Clig.  299,  15. 

ab  o  s  er ,  vb.  trs.,  vgl.  God.  abouser,  embouser. 

ab  o  t ,  s.  m.,  vgl.  God.  about. 

ab  0  t  er ,  vb.  rfl.,  auch:  Li  oeil  Deu  a  ceauls  qui  le  doutent,  Qui  s'i  affient 
et  aboutent,  Reimps.  32,  17  in  Oxf.  Ps.  S.  282. 

*  ab  o  t  ir,  vb.  intr.,  'angrenzen  an  (a)',  s.  A.  Delboulle,  Rev.  d'hist.  litt, 
de  Fr.  I,  180   (14.  J.). 

**  ab  0  u  t  0  ir ,  s.  m.,  s.  A.  Delboulle,  Rom.  31,  351. 

abracier,  v.  rfl.,  'sich  umarmen' :  Des  braz  se  sont  entrabrachiez, 
Meraug.   4610  T. 

ab  r  as  e  r  2.,  vb.  trs.,  auch:  La  iri  de  Deu  abrase  lo  perdurablo  fue  d'en- 
fer  qui  dnre  perdurahlament  (aeternas  gehennae  . .  .  flammas  accendit),  Afr. 
Pr.-Leg.  J  28,  13. 

bildl.  auch:   toz  abrasas  d'iri  s'en  allet  (ira  accensus),  ib.  J  28,  2. 

abregier,  vb.  trs.  'abkürzen'  (übersetzt  abbreviare  auch  JMeun,  Art- 
Chev. 72),  (das  Leben)  auch:  Ei  mort,  .  . .  Ne  lessez  pas  pur  ma  richeise  .  . . 
Que  vus  ncn  abreggez  mun  jur!  Ipom.  5248;  Li  jorz  de  ceuz  qui  serant 
dampna  sont  abregie  (breviabuntur),  Afr.- Pr.-Leg.  M  15,  9;  'verringern,  ver- 
kleinern': Por  quele  cause  abregerent  Les  legions  eil  qui  taut  seurent  (Ka- 
pitelüberschrift, nachher  in  der  Form  Apres  ce  la  raison  dions  D'a/petisier 
los  legions),  Prior.   Veg.   2009. 

'beschleunigen':  Piques,  pour  mon  fait  abregicr,  G'iray  prier,  ains  que 
plus  tarde,  Froiss.  Po4s.  IIT,  184,  14;  en  attendant  sa  tresdesiree  revenue 
que  dieux  veulle  ahregier,  Pr.-Clig.  317,  37;  —  Inf.  sbstviert:  le  plus  beau 
sens  qui  soit  en  nostre  fait  c'est  de  l'abregier,  ib.  325,  24  (^  N'i  a  que  .  .  . 
dcl  feire  hnstivement,  Clig.  5375). 

'jmdn.  schnell  abfertigen,  jmds.  Angelegenheit  schnell  erledigen':  (der 
König,  im  Begriffe,  seine  Pilgerreise  anzutreten)  Seigneurs,  il  est  maishul 
Saison  D'alcr  m'en,  de  vous  preng  congiS,  Puis  que  tant  vous  ai  abregie, 
Qu'avez  regcnt,  Mir.  ND.  34,  928;  Vous  nie  chargiez  d'un  fait  Qui  n'est  mie 
trop  legier,  Mais  nient  moins,  pour  vous  abregier,  Je  vous  en  diray  mon  avis, 
ib.  39,  76 ;  Par  aventure  a  cy  aucun  Qui  nous  en  pourra  de  legier  Un  nommer, 

5* 


68  BoniPrkungeu    zu    'Adolf    Toblers    Altfranzös.    Wörterbuch' 

povr  1WV.1  ahregicr,  Bonffisnnt  homc  (der  ein  für  den  Kaiserthron  geeigneter 
Mann  ist)?  ib.  38,  812.  Denkbar  auch  intr.  Bdtg.,  aber  warum  dann  vous, 
nous  dabei? 

rfl.  'sich  beeilen',  de  c.  Inf.:  prient  qu'il  s'abregece  de  faire.le  sarcus,  Pr.- 
Clig.  328,  4. 

*airenoncier,  vb.  intr.,  'entsagen':  Apres  li  demandet  st  el  rcnon- 
ciave  n  totes  les  ydoles.  El  respondet:  Abrenoncio  (abrenuntio) ,  Afr.  Pr.- 
Leg.  M  51,  4. 

*  abr  eviation  ,  s.  f..  s.  A.  Delboulle,  Rev.  d'hi.st.  litt,  de  Fr.  I,  180 
(14.  J.). 

abr  iv  e  r  ,  vb..  ^e  de  c.  Inf.  auch:  Et  il  en  est  outre  passes,  Cil  qui  de 
sivre  est  abrives,  Ferg.  87,  13. 

abroiier,  vb.  trs.,  'in  der  Schlinge  fangen,  bildl.  jmds.  Meinung  entkräften 
oder  jmdn.  ad  absurdum  führen?':  Ea,  bele  riens  cortoise  et  debonaire,  J'ai 
trop  mespris  .  . .  ,  Quant  giierredon  cuidoie  d'amors  trere  Autre  qu'ades  ser- 
vir  et  depr'ier;  Gar  de  legier  ine  puet  on  abroier,  Que  tres  bien  doit  grief  mal 
souffrir  et  trere  Cil  qui  d'amors  a  si  bon  essemplaire,  Gaut.  Dargies  XII,  12, 
S.  27  (Gl.:  'für  "abrier".  döfendre,  justifier?'). 

**abroutir,  vb.  trs.,  s.  A.  Delboulle,  Rev.  d'hist.  litt,  de  Fr.  I,  181 
(14.   J.). 

ab  s  c  0  ndr  c  ,  vb.  rfl. :  droit  a  soillie  (1.  solelh)  abscon  (bei  Sonnenunter- 
gang), GLi6ge  4843. 

**  ab  s  c  0  11  s  ,  s.  m.,  'Versteck':  mettre  se  en  abscons,  GLi6ge  37932 
(Seh.:    s'embusquer). 

*absconser,  vb.  trs.,  GLi6ge  23012  (Seh.:  cacher) ;  Taut  que  fondee 
fut  Liege  qui  Vabsconsat  (sc.  Tongres),  ib.  5911  (Seh.:  öclipser,  mettre  dans 
l'ombre) . 

ab  s  enc  e  ,  s.  f.,  auch :  nostri  oil  no  sentiront  nostra  absenci,  quar  nos 
nos  regarderem  des  euz  del  euer,  Afr.  Pr.-Leg.  M  54,  22;  Vorlöge  ...  les  heit- 
res nous  aprent  .  .  .  En  l'absense  meisme  dou  soleil,  Froiss.  Po4s.  I,  53,  11; 
Et  mieuls  vous  vaurra  ce  a  faire  secretement  en  l'absence  de  li  qu'en  le  prc- 
sence,  ib.  I,  S.  279. 

**absenser,  vb.  rfl.,  'sieb  entfernen':  Plusieur  bon  Chevalier  y  pen- 
sent,  Qui  de  letirs  terres  s'en  absensent,  Meliador  3755. 

abs  enter,  vb.  rfl.,  auch:  Mes  se  taist  et  de  vous  s'absente  Et  seuls  a 
par  soi  se  demente,  Froiss. ,  Po6s.  I,  39,  1301;  Chascun  qui  pourra  s'en  ab- 
scente  (sc.  de  la  forest  de  Longue  Attente),  Car  l'entree  en  est  perilleu^e  Et 
l'issue  fort  danqereuse,  Rond.  des  Graf.  v.  Nevers  in  Chd'Orl.  (ed.  d'Hßric.) 
II,  163. 

**  ab  s  en  t  ir  ,  vb.  rfl.,  'sich  entfernen':  soy  absentit,  GLi6ge  II,  11189; 
JStavelot  99,  107   (nach  A.  Risop,  Stud.  z.  Conj.  auf  -ir,  S.  5,  Anm.). 

absolucion,  s.  f.,  auch :  et  ge  les  assoudrai  de  eele  absolucion  dont 
Diex  assolt  ses  apostres,  l'Erberie  bei  Rut.  III,  S.  188;  Proiies  a  ma  dame 
merchi  En  genous  de  tous  les  meffais  .  .  . ,  S'en  queris  absolution,  JCond.  II, 

10,  295;  Et  se  nuls  d'amer  se  retrait,  Devant  go  Ic'il  ait  sun  bon  fait,  En  fiti 
eil  ert  escumenge  .  . .  Asouz  ert  eil  ki  plus  avra;  A  Credehulle  a  ma  maison 
Chartre  ai  de  l'absolucion,  Tporn.  10570;  Aurai  je  or  aisoludon?  Froiss.  Po€s. 

11,  61,  2089. 

*  abstrair  c  ,  vb.  rfl.,  s.  A.  Delboulle,  Rev.  d'hist.  litt,  de  Fr.  I,  182 
(14.  J.). 

**  abstrus,  adj.,  s.  A.  Delboulle,  ib.    (14.  J.). 

abuisser,  1.  abuissier. 

nbus,  s.  m.,  'Mißbrauch,  übler  Brauch':  cc  scroil  granf  ahus  a  vng  fils 
de  roial  estrc  d'aler  tout  seul  quant  il  le  puelt  faire  aultrement,  Pr.-Erec 
269,  37. 

**  ab  u  s  e  e  m  ent,  adv.,  'mißbräuchlich' :  notis  ne  nous  complaindons 
pas  de  ceste  infortune  abusecment,  Pr.-Clig.  330,  24. 


Bemerkungen    zu    'Adolf    Toblers    Altfranzös.   Wörterbuch'  69 

ah  US  er ,  vb.  trans.,  'täuschen':  Je  tien  et  croy  que  par  raison  Nous  leur 
motisterrons  clerement  Qu'il  sont  abuse  laidement  Par  ce  Jhesu,  Mir.  ND. 
20,  1016;  a  Vexaliation  de  lu  foy  et  Vinstruction  de  ceux  qui  ont  este  en  ceste 
matiere  dtceus  et  ahuses  a  Voccamon  d'icelle  fenime,  Chron.  Puc.  d'Orl.,  bei 
Buchon,  Chron.  et  M6m.  I,  462  b;  une  femme  qui  se  faict  appeller  Jehanne 
la  Pucelle  . .  .  a  donne  a  entendre  au  simple  peuple,  pour  le  seduire  et  ahuser, 
qu'elle  estoit  envoyee  de  par  Dieu,  ib.  465  b ;  H  precede  les  hommes  en  beaulte 
science  et  coiirtoisic,  sc  (1.  si)  srroie  bicn  abusee  de  le  hair  (auf  dem  Irrwege 
sein),  Pr.-Clig.  290,   19. 

rfl.  'sich  irren':  et  ausi  il  ne  s'ahusevoit  mie  s'il  me  nonmoit  amie,  Pr.- 
Clig.  294,  34. 

ab  u  t  e  r,  vb.  trans.  Ces  eoquars    prestres  abetir  Pour  leur  presirise  nie 
cuidoient.     Je  croy  qu'abute  Hz  avoient  Qu'amende  n'oseroie  d'eulx  PrendrA 
pour  ce  qu'estoient  deux,  Mir.  ND  14,  -300  (Bonnardot:  buter  une  id6e  en  son 
esprit,  croire  fermement). 

acarier,  vb.  trans.,  1.  acarer,  s.  A.  Tobler,  Zeitschr.  f.  roman.  Phil. 
IV,  375. 

acato7ier,  vb.  rfl.,  vgl.  God.  aquastroner. 

accepcion,  s.  f.,  'Ansehung',  auch:  En  totes  cestes  choses  est  esgauz 
li  dispensacions  nostron  seignor  senz  accepcion  de  persone  (absque  persona- 
rum  acceptione),  Afr.  Pr.-Leg.  D  15,  28;  (Gott)  qui  vout  salvar  totes  les  genz 
qui  croient  en  lui  senz  accepcion  de  persona  (sine  personarum  acceptione) ,  ib 
F  25,  15;  s.  auch  A.  Delboulle,  Rev.  d'hi.st.  litt,  de  Fr.  I,  184. 

acces,  s.  m.,  'Zutritt',  auch:  Le  roy  si  m'envoie  savoir  Se  de  parier 
pourra  avoir  Acces  a  vous,  Mir.  ND.  39,  1665. 

'Krankheitsanfair  auch:  la  parole  et  la  voiz  M'afebloient  trop  malement. 
Je  siti  en  acces  vruiement,  .  .  .  maine  moy  lost  couchicr,  Mir.  ND.  36,  283;  Je 
vous  vois  ordener  tandis  TJn  colis  de  quoy  humerez,  Quant  hors  de  vostre  ac- 
c^s  serez,  ib.  36,  340. 

ac  cident ,  s.  m.,  auch:  sinthoma  (d.  i.  symptoma),  accident  ou  signe 
de  maladie,  Cath.  Lille  127;  et  congnoist  bien  ad  ce  qu'elle  leur  voit  souvent 
changier  couleur  que  ce  sont  accidens  d'amotirs  procedans,  Pr.-Clig.  296,  19; 
vostre  paine  est  causee  d'un  accident  d'amours,  ib.  309,  36. 

accident  el,  adj.,  s.  auch  A.  Delboulle,  Eev.  d'hist.  litt,  de  Fr.  I,  184. 

accion,  s.  f.,  'Handlung'  auch:  es  legions  A  toz  jors  plusours  actions 
Que  (nom.)  letrez  Chevaliers  requierent,  Prior.  Veg.  3296;  Doulx  Jhesus,  qui 
touz  jours  user  Seitlz  a  nous  rn  taute  accion  D'amour  et  de  dileccion.  Mir. 
ND.  25,  627;  Et  misent  toutes  nations  Enclines  a  leurs  actions  (die  Römer), 
Froiss.  Po^s.  II,  5,  136;  Pluisours  imaginations  A  uns  homs:  ce  n'est  pas 
mcrveilles,  Car  il  est  de  moult  actions.  Forgi4s,  qui  ne  sont  pas  pareilles, 
M^s  diverses  et  despareiUes  (Scheler:  car  il  ^t  formö  par  diverses  influen- 
ces),  ib.  II,  385,  3. 

'Handlungsweise,  Verhalten' :  .  .  .  ,  Si  le  tienc  (sc.  die  violette)  a  trop  plus 
hautaivne  Et  de  trop  plus  noble  action  Que  rose  ne  soit,  Froiss.  Po6s.  II, 
242,  241.     S.  ferner  Schelers  Gl.   (maniere  d'agir,  proc^de). 

aceindre,  vb.  trans.,  'umgeben,  umgehen,  umflügeln',  mit  pers.  Obj. 
auch:  quant  .  .  .  convint  Pompee  .  .  .  bresier  les  achaintes  dou  mur  dont  Ju- 
lius Cesar  avoit  aehainle  s'ost.  JMeun,  ArtChev.  S.  77;  se  tes  adversaires  n 
plus  grant  multitude  de  gens  que  tu  n'as,  il  porra  achaindre  la  bataille  au 
coste  destre  ou  a  senestre  (a  lateribus  aut  dextram  aut  sinistram  alam  cir- 
cumvenit),  ib.  S.  117. 

bildl.  auch:  Frans  cuers  gentius  esleus  Pour  toutes  valours  achaindrc, 
AdHalle  XI,  IV,  2. 

intr.  'ringsum  erscheinen':  Choisirent  de  Herupe  la  nobile  compaingne, 
Dont  lor  fu  bien  avis  qne  toz  li  mons  againgne,  ChSax.  2500. 

acelee  men  t ,  adv.,  'verstohlen'.  Anfechtbare  Besserung  aus  c  che- 
leement:  il  passa  la  outre  tot  a  cheleement,  God.  Bouill.  158;  acheleement  ist 


70  Bemerkungen    zu    'Adolf   Toblers   Altfranzös.   Wörterbuch' 

kein  wahrscheinliches  Wort.  Es  liegt  wohl  Verderbnis  für  la  outre  trestof 
cheleement  vor.  tres  verlor  sich  nach  der  gleichklingenden  Schlußsilbe  von 
outre;  a  celee  half  dann  mit  seinem  a  die  wahrgenommene  Silbenlücke  füllen. 

acensir ,  vb.  trans.,  übertr.  auch :  Li  valles  se  maintient  ensi  K'a  nulle 
son  euer  n'acensi  Deus  ans  puis  que  eil  furcnt  mort,  JCond.  I,  309,  184;  Tu 
OS  trop  ion  euer  accenssi  A  avarisce,  ib.  II,  315,  50. 

aeerin,  adj.,  'stählern,  stahlgleich,  fest  wie  Stahl',  übertr.  auf  Men- 
schen :  .  .  .  ,  8'assaillissent  tuit  enterin,  Tuit  agu  et  tuit  acerin  Lor  enemis 
plus  aigremant,  Tuit  fres,  sanz  point  de  lessemant,  Prior.  Veg.  6660. 

acertefiier,  vb.  trans.,  auch :  Mes  mon  esperit  tres  agu  .  . .  M'acerte- 
fie  et  dist  tout  oultre  Et  par  pluisours  signes  me  moustre  Que  e'est  ma  dame 
Sans  mentir,  Froiss.  Poös.  II,  57,  1948;  Cur  tout  ensi  Vires  li  signefie  A  son 
retour  et  li  acertefie  Ne  plus  ne  mains,  ib.  II,  213,  119. 

acertener,  vb.  trans.,  mit  sächl.  Obj.  auch:  Et  mon  voloir  acertenai 
Au  conseil  gu'ele  m'eut  basti  (GL:  certifier,  informer),  Contd'Am.  32,  5 
(Beauni.  II,  1,  247) ;  Tote  voe  est  il  provee  Chose  et  hien  acertenee  Que  . .  . , 
Prior.  Veg.  10312;  Car  iV  est  hien  chose  provee  Et  de  lonc  tans  acertenee 
Que  ...,  ib.  10852. 

auc.  r.  a  auc.,  'jemdm.  etw.  versichern':  Dites  vous  que  la  doy  avoir  Pour 
tout  certain?  —  öil,  je  le  vous  acertain,  Mir.  ND.  19,  706;  Tu  as,  ce  m'est 
avis,  pesance  Des  maux  qu'as  faiz  et  repentance:  Est  il  certainf  —  Sire,  öil, 
ce  vou^  acertain,  ib.  33,  1132;  Didier,  c'est  voir,  je  facertain,  Que  des  hien- 
f alz  que  d'eulz  avons  Loer  Dieu  pour  eulz  en  devons,  ib.  36,  48;  Sire,  pour 
voir  vous  acertain,  Se  tien  seurement  savoie  Que  .  .  .  ,  Cc  que  j'en  sgay  vous 
en  diroie,  ib.  17,  556. 

mit  pers.  Obj.:  äuc.  d'auc.  r.  (oder  auc.  que)  a.uch:  Est  il  certainf  —  Öil, 
je  vous  en  acertain.  Mir.  ND.  33,  588;  apres  ce  qu'il  eust  este  acertene  du 
fait  de  lui  et  de  Fenice,  Pr.-Clig.  337,  46;  Alixandre  doncques  acertene  par 
son  enqueste  que  toux  les  milleurs  Chevaliers  du  monde  estoient  .  . .  a  la  court 
du  roy  Artus,  ib.  284,  8;  comme  il  (Gl.)  fust  acertene  qu'il  (d.  König)  estoit 
assez  pres  d'illec,  ib.  318,  6;  je  fui  comptente  de  laissier  mon  pays  et  moy 
acertenee  qu'il  estoit  de  hauli  Heu  et  de  hon  hostel  (abs.  Part.-Gonstr.)  de 
m'en  venir  avec  luy  en  celle  terre,  Pr.-Erec  291,  15. 

ac  er  t  er ,  vb.  trans.,  auch  auc.  r.  a  auc.  nach  Ce  vous  arai  tost  acerte, 
BGond.  176,  31  B,  wo  Scheler  jedoch  irrige  Verknüpfung  von  asserter,  Fre- 
quentativ  von  asserere,  'affirmer,  soutenir',  mit  certus  durch  den  Schreiber 
annimmt. 

ac  esmer ,  vb.  trans.,  mit  sächl.  Obj.:  Et  pour  qu'il  (der  Baum)  est 
acesmez  D'azur  .  .  .  ,  Watr.  88,  167. 

rfl.,  mit  de  u.  sbstvtm.  Inf. :  A  cez  paroles  se  trest  sus  Li  Chevaliers,  qui 
per  joster  A  pris  l'escu;  de  Vencontrer  S'acesme,  Meraug.  2287.  Paarungen: 
rfl.  acesmer  et  afaitier,  Veng.  Eag.  1056  {por  c.  J.),  ^  et  atorner,  Ipom. 
3164    (de  c.   J.). 

ach  aahl  er ,  vb.  trans.,  auch:  Ses  fors  hras  sur  euls  tant  desploie, 
Tous  les  achaahle  et  desront,  Dame  a  la  Lycorne  4967. 

**  achan  g  onnir ,  s.  A.  Delboulle,  Rom.  31,  351;  A.  Thomas,  ibid. 
39,  221. 

acharner,  vb.,  ^('  a  ...  :  en  ce  tenips  estoient  les  Arminacs  plus 
acharnes  a  cruaute  qite  oncques  mais,  Journ.  d'un  Bourg.  de  Par.  1420,  bei 
Buchon,  Chron.  et  M6m.  I,  643  a.  Zum  rfl.  s.  auch  A.  Delboulle,  Rev.  d'hist. 
litt,  de  Fr.  I,  488. 

achater,  vb.  trans.,  auc.  r.  d'auc.  'jmdm.  etw.  abkaufen'  auch:  Pansc 
que  d'aiis  achatera  Les  rohes,  puis  lor  redonra.  Gd'Angl.  3251. 

auc.  r.  a  auc.  'jmdm.  etw.  abkaufen':  en  verite  le  vos  di  ...,  Que  cest 
ceval  jo  Vachatai  Loialment  a  un  damoisel,  Julian  824. 

ache,  s.  f.,  'Eppich',  auch:   selinum,  une  herhe,  ache,   Cath.  Lille  125. 

**  a  c  h  e  m  i  n  e  m  e  n  t ,  s.   m.,   'Aufbruch' :    Apres   Vacheminement  de  la 


Bemerkungen   zu    'Adolf   Toblers    Altfranzös.    Wörterbuch'  71 

gente  damoiselle  Enide  la  reyne  . . .  oncques  plus  joieuse  ne  fu,  Pr.-Erec 
263,  32. 

ach  eminer,  vb.  trans.,  mit  sächl.  Obj.  und  Angabe  des  Ziels:  Le  jotir 
aquist  la  bienveillance  De  mainte  gent  par  sa  vigour,  Qui  ot  jut  lonctamps 
en  langonr,  Or  est  garie  et  tierminee  Et  a  honnour  aceminee,  JCond.  I,  193, 
826.  ^  la  voie  auch:  Sans  arrest  nous  acheminames  Üevant  notis  la  voie 
tout  droit,  Watr.  258,  852. 

ach  e  vir,  vb.  trans.  agovir,  Veng.  Hag.  1519  ist  assevir,  assovir 
(Meyer-Lübke,  E.  W.  724,  734),  zum  Reim  agovie  :  prie  vgl.  pri  :  merchi, 
Veng.  Rag.  4293,  pri  :  issi,  ib.  5679. 

achevir  ist  eschivir  in  Si  deit  Vum  achevir  orgoil,  Ipom.  6367. 

acidio  s ,  adj.,  'träge'  auch:  Eons  accidieus  n'a  courage  D'öir  les  Mens 
nis  recorder,  JCond.  II,  224,  50. 

acier,  s.  m.,  'Stahl',  bildl. :  Antre  Ini  (sc.  Baudöin)  et  Berart  sont  d'a- 
cier  dur  trempe,  ChSax.  3181. 

'Stahlspitze  der  Lanze':  Parmi  (durch  die  Schilde)  en  passent  les  acers 
Des  bons  espez  clers  e  furhiz,  Ipom.  9558. 

acliner,  vb.  trans.,  bildl.  auch:  N'onques  a  soulas  ne  a  feste  Ne  vous 
vi  acliner  la  teste,  Watr.  219,  628. 

a.  son  ciier  a  auc. :  Baudöins  la  regarde  a  cid  son  euer  acline,  ChSax. 
I,XIX  u.  Var.  R   (ed.  Menzel  S.  87). 

rfl.,  nhs. -.En  orisons  s'est  aclinee,  Julian  2979;  —  sor  auc.  r.:  Sor  le  hor- 
don  est  si  fort  aclinez  Que  les  esclices  fist  contremont  voler,  Gaydon  9918; 
—  joste  auc,  vers  auc. :  Sire,  dist  li  dus  Naimmes  qui  joste  lui  s'acline,  Cest 
B.  voz  nies,  ChSax.  1622;  Et  ses  iras  a  son  seignor  rue  (sie),  Vers  lui  molt 
doucemcnt  s'acline,  Si  fait  son  duel  sor  sa  poitrine,  Julian  3683. 

übertr. :  Qu'a  ntile  autre  rien  ne  ni'aclin  Forsqti'a  ma  douce  amie  bele. 
.Salud'Am.  (Zeitschr.  f.  rom.  Ph.  24,  361)  91;  Jeo  quidoue  si  halt  munter,  Or 
me  covient  a  rettirner  E  acliner  a  ma  nature  (od.  intr.),  MFceFab.  73,  81 
Var.;  Baudöins  la  regarde  a  cui  ses  cuers  s'acline,  ChSax.  LXIX,  u,  Ms.  A; 
Aclines  a  bonne  oevre  toi,  Gentis  princes,  Watr.  143,  169;  Chascuns  l'on- 
neure  et  l'encline,  Et  li  autres  peules  s'acline  Vers  lui  pour  son  commant  a 
faire,  JCond.  II,  103,  6  (Scheler:  montrer  de  l'empressement) ;  —  a  c.  Inf.: 
Com  plus  est  hons  puissans  veus,  Tant  est  ses  pris  plus  bas  cheus,  Se  il  a  mal 
faire  s'acline,  Watr.  143,  168;  Dame,  bien  me  doi  acliner  A  faire  tout  vostre 
voloir,  ib.  271,  1264;  li  firmamens  s'acline  A  faire  pape  du  dauffin,  ib.  303, 
216;  — ■  a  ce  que  c.  Cj.:  Et  priem  Dieu  .  .  .  qu'a  ce  se  veulle  acliner  Qu'il  vous 
otroit  sa  gloire  fine,  Watr.  230,  1020;  —  estre  aclinez  a  c.  J. :  Tous  li  mons 
le  (fem.)  doit  encliner,  Quant  a  bien  faire  est  aclinee,  JCond.  II,  209,  189. 

acline  'untertan,  gefügig':  Biax  sire  nies,  vous  arez  ma  contree,  En  poi 
de  terme  est  la  terre  aclinee,  RCambr.  3651. 

ac  0  ar  d  er ,  vb.  intr.,  auch:  Et  quant  Juliens  la  regarde  Et  voit  que 
onques  n'acoarde,   .  . .  ,   Julian    4200. 

rfl.,  auch:  Mes  tous  m'aloie  acouardant,  Froiss.  Po€s.  II,  190,  3499. 

ac  o  ar  dir ,  vb.  rfl.,  auch :  Juliens  qui  molt  est  hardis  Ne  s'est  lors  m,ie 
acoardis,  Julian  1594;  Et  les  hardis  (sc.  facli)  acouardir,  JCond.  II,  32,  1047; 
tantost  s'en  racouardi,  Froiss.  Poes.  II,  122,  4109. 

trs.  auch:  Les  plus  hardis  acouardist  (sc.  amors)  Et  les  plus  couars  en- 
hardist,  BCond.  277,  251. 

acoardi  :  avoir  le  euer  ^  :  S'il  a  le  euer  aeouardi,  On  ne  li  doit  pas  re- 
procier,  JCond.  I,  301,  131. ^ 

(Fortsetziiiii;  folgt.) 

Berlin.  Gr.    Colin. 


1  in  Arch.  137,  84,  Z.  32  v.  o.  1.  116,  11.1  statt  106,  111;   ib.  S.  88,  Z.  21 
v.  o.  ist  die  Stelle  ChCharr.  4867  zu  streichen. 


Die  Frage  der  Echtheit  von  Cyrano 

Bergeraes  Sonnenreise.  —  Die  Sonnenreise 

und  die  Essays  von  Montaigne. 

(Schluß.) 

Nur  noch  ein  paar  kürzere  Parallelen  bringen  Gedanken  aus  den 
Essays,  die  auch  schon  in  der  Mondreise  gebraucht  waren: 
in  der  Mondreise  wird  (S.  142  meiner  Ausgabe)  erzählt,  wie  der 
Dämon  des  Sokrates  Campanella  lehrte,  durch  Nachbildung  des 
Gesichtsausdrucks  alle  Gedanken  der  von  der  Inquisition  An- 
geklagten in  sich  nachzubilden,  ein  Scherz,  der  auf  materialisti- 
scher Anschauung  beruht.  In  der  Sonnenreise  sehen  wir  Campa- 
nella (Jacob,  315  ff.)  diese  physiognomische  Gedankenlesekunst 
praktisch  ausüben.  Er  beantwortet  Dyrconas  Fragen,  ehe  sie 
gestellt  sind,  und  erklärt  (S.  316):  farrange  toutes  les  parties  de 
mon  Corps  dans  un  ordre  semhlahle  au  vötre;  car  etant  de  toutes 
parts  situe  comme  vous,  fexcite  en  moi  par  cette  disposition  de 
matiere  la  meme  pensee  etc.  Auch  Montaigne  spricht  in  dem 
Kapitel  de  la  Physionomie  (III,  12)  von  den  traict  et  fagon  de 
Visage,  et  ces  lineaments,  par  lesquels  on  argumente  aulcunes  com- 
plexions  internes  et  nos  fortunes  ä  vcnir,  ohne  allerdings  so  weit 
zu  gehen  wie  Cyrano,  der  die  Anregung  zu  dieser  'praktischen 
Physiognomik'  in  erster  Linie  von  Campanella  selber  erhielt,  wie 
in  einem  späteren  Aufsatz  gezeigt  werden  wird. 

Zu  den  Liebesäpfeln  schreibt  Cyrano:  (Jacob  311)  Les  peres  et 
les  meres,  qui,  comme  voiis  savez,  au  gouvernement  de  leurs 
familles  ne  sc  laissent  conduire  que  par  Vinteret,  fäches  que  leurs 
enfans,  aussitöt  quils  avoient  goute  de  ces  pommes,  prodiguoient 
ä  leur  ami  tout  ce  quils  possedoient,  brülerent  autant  de  ces 
plantes  quils  en  purent  decouvrir.  Hier  steckt  eigene  Erfahrung, 
aber  auch,  wie  in  der  Mondreise,  Montaigne  II,  8,  de  Vaffection 
des  peres  aux  enfants  dahinter. 

Neben  diesen  schon  in  der  Mondreise  in  Rudi- 
menten zu  findenden  Parallelen  erscheinen  in 
der  Sonnenreise  ein  paar  neue,  darunter  zwei 
überaus  charakteristische.  Ein  paar  nebensächliche 
Parallelen  seien  zuerst  genannt:  Montaigne  treibt  schon  eine  Art 
Sonnenkult.  Unter  den  falschen  Religionen,  sagt  er,  ie  me 
feusse,  ce  me  semhle,  plus  volontiers  attache  ä  ceulx  qui  adoroient 
le  soleil, 

La  lumiere  commune 
L'ceil    du    monde    .  .  . 


i 


Die  Frage  der  Echtheit  von  Cyrauo  Bergcracs  Sonnenreise  73 

Ja,  es  konnte  Cyrano  zu  seinen  Beschreibungen  anregen,  daß 
Montaigne  gleich  darauf  sagt:  cest  la  piece  de  cette  machine  . . . 
la  plus  esloignee  de  nous,  et  par  ce  moyen  si  peu  cogneue.  Aus 
demselben  Kapitel  konnte  er  noch  allerhand  für  seine  Sonnen- 
bewohner herholen:  Xenophones  faict  Dieu  rond  —  wie  eine  Kugel 
bewegt  sich  Dyrcona  auf  der  Sonne  (Jacob  258):  je  roulois  sou- 
vent  comme  une  boule.  —  Epiciire  faict  les  dieux  luisants,  trans- 
parents  —  so  wird  Dyrconas  Körper  vor  Erreichung  der  Sonne 
durchsichtig:  (Jacob  254)  nous  etions,  ma  cabane  et  moi,  devenu 
transparens  usw.  ^ 

Von  ganz  anderer  Bedeutung  ist,  daß  Cyrano 
sich  von  Montaigneschem  Geist,  nicht  bloß  von 
seinen  Exempeln  beeinflussen  ließ:  einmal  vermut- 
lich in  der  Abschätzung  von  Gedächtnis  und  Verständ- 
nis, ein  andermal  sicher,  wiederum  mit  wörtlichen  Anklängen, 
in  der  Beurteilung  des  Gebets. 

Montaigne  ist  wie  Rabelais,  wie  alle  Humanisten  und  wie  wir 
es  noch  heute  sind,  ein  Verächter  der  bloßen  Erinnerung.  Er  will 
für  ein  Kind  einen  Erzieher:  qiii  eust  plustost  la  teste  bien  faicte 
que  bien  p  leine  (I,  25);  er  soll  die  scholastische  Methode 
vor  allem  bessern:  On  ne  cesse  de  criailler  ä  nos  aureilles,  comme 
qui  verseroit  dans  un  entonnoir;  et  nostre  charge,  ce  nest  que 
redire  ce  quon  nous  a  dict?  ie  vouldrois  quil  corrigeast  cette 
partie  . . .  Quil  ne  luy  demande  pas  seulement  compte  des  m.ots  de 
sa  legon,  mais  du  sens  et  de  la  substance  . . .  Sgavoir  par  coeur  nest 
pas  sgavoir;  cest  tenir  ce  quon  a  donne  en  garde  ä  sa  memoire; 
was  könnte  man  nicht  noch  alles  anführen  aus  diesem  großartigen 
Kapitel  und  aus  dem  vorhergehenden  gegen  die  Pedanten:  Nous 
ne  travaillons  qua  remplir  la  memoire  . . .  que  disons  nous?  que 
jugeons  nous?  . . .  Äutant  en  diroit  bien  un  perroquet! 

Daß  Cyrano,  der  sich  gegen  Autoritäten  immer  gesträubt  hat, 
diese  Kapitel  mit  Begeisterung  las,  liegt  auf  der  Hand.  Hier  fand 
er:  (I,  25)  Les  principes  d'Aristote  ne  luy  soient  principes  . . .  La 
verite  et  la  raison  sont  communes  ä  un  chascun  .  .  .  ainsi  les 
pieces  empruntees  d'autruy,  il  les  transformera  et  confondra  pour 
en  faire  un  ouvrage  tout  sien.  Das  ist  ja  dann  wohl  auch  Cyranos 
Arbeitsmethode  geworden. 

So  mag  das  Kapitel  folgende  Sonnenszenerie  beeinflußt 
haben:  (Jacob  331  ff.)  drei  Flüsse  gibt  es  dort,  der  breiteste  das 
Gedächtnis,  dann  die  E  i  n  b  i  1  d  u  n  g  s  k  r  a  f  t,  der  schmälste 
die  Urteilskraft.  An  den  Ufern  des  Gedächtnisflusses  stehen 
Elstern,  Papageien  usw.  qui  gafouillent  ce  qu'elles  ont  appris. 
Was  sie  am  vorhergehenden  Abend  zu  sich  nahmen,  geben 
sie    am    Morgen    wieder    von    sich,    so    schlecht    ist    ihr 


74         Die  Frage  der  Echtheit  von  Cyrano  Bergeracs  Sonnenreise.  — 

Magen.  Dickflüssig  scheint  der  Fluß,  rollt  dahin  mit  viel  Spek- 
takel. Tausend  Echos  wiederholen  die  Laute.  Wesen  bilden  sich 
in  ihm,  die  wie  Frauen  aussehen,  andere  qui  ont  la  tete  cornue 
et  carree,  et  ä  peu  pres  semblable  ä  cette  de  nos  pedans.  Ceux-lä 
ne  s'occupent  qua  crier,  et  ne  disent  pourtant  que  ce  quils  se  sont 
entendu  dire  les  uns  aux  autres.  Montaigne  hatte  gewettert: 
(I,  24)  nos  pedantes  (sie)  vont  pillotants  la  science  dans  les  livres, 
et  ne  la  logent  quau  bout  de  leurs  levres,  pour  la  degorger  seule- 
ment  et  mettre  au  vent. 

Von  dem  Flusse  der  Einbildungskraft  wurde  schon  oben 
erzählt,  wie  Cyrano  in  diesem  einzelne  seiner  Ideen  lokalisiert: 
or  portable,  remores,  salamandres.  Die  Arme  der  Einbildungs- 
kraft und  des  Gedächtnisses  verschlingen  sich.  Ist  ein  Arm  des 
Gedächtnisses  breiter,  il  etaignoit  aussitöt  celui-lä  und  umgekehrt: 
ist  der  Arm  der  Einbildungskraft  stärker,  il  tarissoit  ceiui  de  la 
Memoire.  Proche  de  la  coule  d'une  lenteur  incroyable  la  Riviere 
du  Jugement:  son  canal  est  profond,  son  humeur  semble  froide; 
et  lorsquon  en  repand  sur  quelque  chose,  eile  seche  au  Heu  de 
mouiller  usw.  Bilder,  die  in  ganz  rabelesker  Weise  erfunden 
und  Montaigne  geistesverwandt  sind,  wenn  sie  nicht,  was  wahr- 
scheinlich ist,  durch  ihn  angeregt  wurden. 


i 


So  ist  es  nicht  zu  verwundern,  daß  sich  beide  noch  in  einem 
treffen,  in  der  Verurteilfung  mechanischer  Wie- 
dergabe auswendig  gel  ernter  Gebete.  II  semble  ... 
sagt  Montaigne  (I,  56),  que  nous  nous  servons  de  nos  prieres 
comme  d'un  iargon,  et  comme  ceulx  qui  employent  les  paroles 
sainctes  et  divines  ä  des  sorcelleries  et  effects  magiciens;  et  que 
nous  facions  nostre  compte  que  ce  soit  de  la  contexture,  ou  son, 
ou  suitte  de  mots,  ou  de  notre  contenance  que  despende  leur  effect: 
car  ayants  l'ame  pleine  de  concupiscence,  non  touchee  de  repen- 
tance  ny  d'aulcune  nouvelle  reconciliation  envers  Dieu,  nous  luy 
allons  presenter  ces  paroles  que  la  memoire  preste  ä  nostre  langue, 
et  esperons  en  tirer  un  expiation  de  nos  fautes. 

Cyrano  seinerseits  läßt  im  Plaidoyer  der  Vögel  über  den  Men- 
schen sagen:  il  leve  en  haut  tous  les  matins  ses  yeux  . . .  colle  ses 
mains  ouvertes,  la  pointe  au  Ciel,  plat  contre  plat,  . . .  se  casse  les 
jamhes  par  la  moitie,  en  sorte  quil  tombe  sur  ses  gigots  (das  ist 
in  heiterer  Art  dargestellt,  was  Montaigne  mit  contenance  be- 
zeichnet) puis  auec  des  paroles  magiques  qu'il  bourdonne,  j'ai  pris 
garde  que  ses  jambes  rompues  se  rattachent^  etc.  (Jacob  287). 


1-  Nach  bourdonne  ist  wahrscheinlich  eine  Lücke.     Zu  Freimütiges  wurde 
ausgelassen.  ,     ; 


Die  Sonnenreise  und  die  Essays  von  Montaigne  75 

Der  Vergleich  mit  dem  Rezitieren  magischer  Formeln  ist 
wolil  von  Montaigne  genommen.  Jedenfalls  ist  der  Geist  der- 
jenige des  Meisters.  

Damit  haben  wir  eine  Übersicht  über  die  Art  und  Weise,  wie 
Cyrano  Montaigne  in  der  Sonnenreise  benutzt  hat.  Eine  syste- 
matische Durcharbeitung  mag  noch  ein  paar  Entlehnungen  för- 
dern. Allein  eine  Stelle  wörtlicher  Entlehnung  wie  diejenige  zu 
dem  Thema  fortis  imaginatio  generat  casum  sichert  einmal,  daß 
Cyrano  Leser  der  Essays  war  und  nicht  nur  indirekt  von  ihnen 
gehört  hatte,  sichert  weiterhin,  daß  auch  die  anderen  Parallelen 
nicht  bloß  Zufallsparallelen  sind,  sichert  schließlich,  daß  die 
Sonnenreise,  da  sie  in  all  diesem  die  gleichen  Arbeitsmethoden 
wie  die  Mondreise  zeigt,  als  echt  angesehen  werden  muß.  Da  ich 
nun  schon  erkennen  ließ,  daß  nicht  alle  Stellen  echt  sind,  sondern 
daß  mehrere  die  Tätigkeit  stärkerer  Redaktion  erkennen  lassen, 
so  soll  in  einer  Tabelle,  die  der  Seitenzahl  der  Ausgabe  Jacob 
folgt,  alles  bisherige  zur  Beurteilung  der  Echtheit  einer  Partie 
Erforschte  eingereiht  werden  und  zugleich  Bedenken  geäußert 
werden,  wo  solche  angebracht  sind. 

5.  Echtheit  der  einzelnen  Teile  der  Sonnenreise 
und  Spuren  redaktioneller  Tätigkeit. 

Ed.  Jacob,  205 — 237.  Einleitung  =  echt.  Es  wird  an 
das  Ende  der  Mondreise  angeknüpft,  so  wie  es  in  den  Handschrif- 
ten sich  findet,  nicht  aber  an  das  von  Le  Bret  stammende  Ende 
der  Drucke.  Fast  auf  jeder  Seite  finden  sich  Varianten  zu  den 
Briefen  (vgl.  oben).  Auch  zur  Mondreise  iind  zum  Pedant  Jone 
Parallelen.    Keinerlei  Spuren  redaktioneller  Tätigkeit. 

237 — 273.  Die  Reise  zur  Sonne  =  echt,  aber  vermut- 
lich stark  retuschiert.  Keinerlei  Parallelen  zum  Briefstil.  Da- 
gegen Weltanschauung  durchaus  gassendistisch :  S.  240,  241.  Das 
Feuer  als  Urprinzip,  le  Soleil,  cette  grande  äme  du  Monde,  stammt, 
wie  in  einem  späteren  Aufsatz  gezeigt  wird,  von  Campanella. 
Starke,  zujn  Teil  wörtliche  Entlehnungen  aus  den  Essays  (fortis 
imaginatio  generat  casum).  Auch  der  Tanz  der  Atome  echt 
Cyrano.  Dagegen  ist  wohl  stilistisch  von  fremder  Hand  gefeilt 
und  gelegentlich  gefaßt  worden.  So  scheint  Jacob  259  unecht. 
Vgl.  mignardes  langueurs,  den  ungeschickten  Übergang:  Tout 
cela  veut  dire,  en  deux  mots,  que  je  me  couchai. 

Dagegen  ist  auf  S.  261  kaum  eine  Lücke  anzunehmen,  wie 
Jacob  dies  tut. 

273 — 296.  Histoire  des  Oiseaux  =  echt,  gelegentlich 
Beziehungen  zu  den  Briefen,   starke  Parallelen  zur  Mondreise, 


76  Die  Frage  der  Echtheit  von  Cyrano  Bergeiacs  Sonnenreise.  — 

zahlreiche,  zum  Teil  wörtliche  Entlehnungen  aus  den  Essays: 
fortis  iniaginatio,  Freundschaft,  Tod,  Gebet  usw.  Im  Gebet 
(Jacob  287)  nach  paroles  magiques  quil  hourdonne  vermutlich 
Auslassung  des  Herausgebers. 

296 — 314.  Baumreich  =  echt.  Zahlreiche  Parallelen 
zu  den  Briefen  und  zu  Montaigne.  Echt  Cyranosche  Erfin- 
dung. 

314 — 321.  Der  Kampf  vom  Feuertier  und  vom 
Eistier  =  echt.  Das  Feuertier,  der  Salamander,  bereits  in 
den  Briefen,  die  Remora,  das  Eistier,  wird  von  Montaigne  in  den 
Essays  besprochen  und  kommt  mit  einem  Beispiel,  das  Montaigne 
zitiert,  schon  im  Pedant  Joue  vor.  Brun  sieht  in  diesem  Kampfe 
die  verlorene  Histoire  de  VEtincelle  Cyranos.  Dies  ist  vollkom- 
men unbegründet.  Das  Ganze  eine  Illustrierung  zu  Campanellas 
Lehre. 

321 — 327.  Begegnung  mit  Campanella  =  echt  ... 
gelegentlich  redigiert  (S.  319  oben  Lücke). 

Von  der  Begegnung  mit  Campanella  ab  mehren  sich  die  Ent- 
lehnungen aus  dessen  Werken.  Es  soll  in  einer  besonderen  Arbeit 
dargestellt  werden,  wie  Cyrano  Teile  der  Lehre  des  süditalieni- 
schen Dominikaners  verarbeitete,  und  auch  hier  wird  sich  zeigen, 
wie  dieser  Einfluß  durch  das  ganze  Werk  von  der  Mondreise 
an  durchgeht,  was  ein  letzter  Beweis  für  die  Echtheit  des 
Schlusses  ist. 

327 — 333.  Das  Schlummerreich,  die  drei  Flüsse 
=  echt.  Beziehungen  zu  den  Briefen  wie  zu  Montaigne.  Hier 
sind  es  die  petits  corps  innes  der  Sonnenbewohner,  die  durch  die 
drei  Flüsse  umgeformt  zu  Sonnenstrahlen  werden  (Campanella- 
sche Lehre  +  Gassendische  Atomistik),  die  Erde  besch einen  und 
auf  sie  die  Wunderkraft  der  Flüsse  übertragen:  il  se  laissent 
attirer  aux  plantes  pour  vegeter;  les  plantes  se  laissent  brouter 
aux  animaux  pour  sentir;  et  les  animaux  se  laissent  manger  aux 
hommes,  afin  quetant  passes  en  leur  substance,  ils  viennent  n 
reparer  ces  trois  facultes  de  la  Memoire,  de  Vlmagination  du 
Jugement.     (Die  drei  Flüsse!) 

335 — 336.  Der  Tod  des  Philosophen  gibt  kaum  An- 
haltspunkte zu  seiner  Beurteilung.  Die  Erfindung  ist  echt  cy- 
ranoisch. 

337 — 345.  Das  Liebesreich  —  echt:  starke  Entlehnun 
gen  aus  Campanellas  Ciiiitas  Solis. 

345—347.    D  e  s  c  a  r  t  e  s. 

Hier  kommt  nun  der  schwierigste  Punkt:  Descartes  war  der 
Gegner  Gassendis.  Ihm  setzt  Cyrano,  der  Gassendist,  Essay- 
Leser,  Anti-Aristoteliker,  ein  Denkmal!?    Mancherlei  spricht  da- 


Die  Sonnen r-cise  und  dio  Essaya  von  Montaigne  77 

für,  daß  die  Stelle  echt  ist,  mancherlei  dagegen,  eine  Entschei- 
dung ist  a  priori  nicht  zu  fällen. 

Für  die  Echtheit  des  Schlusses,  der  ja  kein  Abschluß  ist, 
spricht,  daß  Cyrano  in  einer  zweifellos  echten  Stelle  sich  als 
Leser  Descartes  entpuppt:  in  der  Sonnenreise  (218)  stoßen  die 
abergläubischen  Bauern  auf  die  Physique  des  Descartes:  quand 
ils  apergurent  fous  les  cercles  par  lesquels  ce  Philosophe  a  dis- 
tingue  le  mouvement  de  chaque  Planete,  tous  d'une  voix  hurlerent 
que  cetaient  les  cernes  que  je  fragois  pour  appeler  Beizehut.  In 
der  Tat  sind  die  Principia  des  Descartes  voll  solcher  Holzschnitte. 
Aber  die  Bauern  'lesen'  weiter  (219):  ä  Vendroit  dont  je  parle,  il 
11  a  une  figure  de  cette  pierre  metallique,  oü  les  petits  corps  qui  se 
deprennent  de  sa  masse  pour  accrocher  le  fer  sont  representes 
comme  des  hras.  Mit  diesem  Zeichen  habe  man  Pferde  getötet- 
Ich  habe  die  Figur  in  den  Principia  nicht  gefunden,  wohl  aber 
zahlreiche  Hände  beim  Experimentieren.  Also  Descartesleser  ist 
Cyrano  gewesen,  daran  ist  kein  Zweifel.  Allein  vom  Leser  zum 
Anhänger  ist  ein  weiter  Schritt.  Die  angeführte  Stelle  ist  kein 
Zeugnis  der  Anhängerschaft;  sie  bedeutet:  selbst  die  Figuren  des 
zahmen,  akademischen  Herrn  Descartes,  der  nicht  im  Gerüche  des 
Freidenkertums  steht,  werden  für  Zauberformeln  gehalten. 

Das  stärkste  Argument  für  die  Echtheit  ist,  daß  Des- 
cartes (t  1650)  als  eben  verstorben  bezeichnet  wird,  was  für  den 
Redaktor,  der  erst  gegen  1660  seiner  Tätigkeit  oblag,  die  Ak- 
tualität der  Anregung  nimmt. 

Das  wichtigste  Argument,  das  gegen  die  Echtheit  der  letzten 
Seiten  vorgebracht  werden  könnte,  ist  die  Tradition,  daß  ein 
Cartesianer  die  Sonnenreise  herausgab.  Allein  der  Hei:ausgeber 
hat  v.'cnig  Spuren  hinterlassen:  in  der  Sonnenreise  ist 
Cyrano  der  schärfste  Gegner  Descartes,  keine 
der  in  den  Principia  A^orgetragenen  Descartes- 
schen  Lehren  wird  angenommen.  Die  Sonnen- 
reise  ist  so  uncartesianisch  wie  möglich.  Und 
gerade  darum  wird  man  um  so  mehr  geneigt  sein, 
in  den  gelegentlichen  cartesianischen  Spuren 
eine  Tätigkeit  des  Redaktors  zu  sehen. 

Ohne  hier  systematisch  vorzugehen,  will  ich  doch  die  Haupt- 
punkte nennen,  an  denen  Cyrano  und  Descartes  Antipoden  sind. 
Ich  benutze  die  französische  Ül:)ersetzung  der  Principia,  die  Des- 
cartes einleitete,  also  autorisierte: 

Der  Grundgedanke  der  Sonnenreise,  wie  sie  uns  vorliegt,  mit 
ihrem  Vogelreiche  und  ihrem  Pflanzenreiche,  mit  ihrer  ständigen 
Unterscheidung  dreier  Seelenstufen  der  rlwe  vegetative  (=  Pflan- 
zen), sensitive  (=  Tiere)  und  intellectuelle,  der  menschlichen 
Seele,  ist  entgegengesetzt  cartesianischer  Denkweise;   denn  Car- 


78         Die  Frage  der  Echtheit  von  Cyrano  Bergeracs  Sonnenreise.  — 

tesius  dachte  anthropozentrisch  und  machte  die  Tiere  zu  Ma- 
schinen. Aus  diesem  Rahmen  soll  in  der  Sonnenreise  das  Philo- 
sophenreich herausfallen.  Ist  es  von  Cyrano,  so  wollte  er  hier 
Gelegenheit  zu  einer  Auseinandersetzung  mit  Descartes  haben, 
die  nicht  zu  dessen  Grünsten  ausfallen  konnte,  wenn  sie  erhalten 
wäre.  Denn  wie  in  der  Mondreise  —  ich  habe  dies  in  meiner  Ein- 
leitung gegen  Brun,  Loewenstein  und  andere  gezeigt  — ,  ist  auch 
jede  Seite  der  Sonnenreise  anticartesianisch,  vom  Verlassen  der 
Erde  ab,  wie  ich  nun  zeigen  will: 

Cyranos  Maschine  beruht  (S.  238)  darauf,  daß  sich  in  einem 
Ikosaeder  aus  Kristall  ein  leerer  Raum  bildet;  durch  das 
horror  vacui  getrieben,  dringt  die  Luft  von  unten  ein,  um  den 
leeren  Raum  zu  füllen,  der  sich  aber  immer  erneuert,  so  daß  der 
Kasten  gehoben  wird.  Die  Erklärung  der  Bewegung  durch  den 
leeren  Raum,  wenn  auch  in  etwas  anderem  Sinne,  ist  gassen- 
distisch.  Vgl.  S.  79  meiner  Ausgabe.  Cyrano  bleibt  in  der 
Sonnenreise  bei  dieser  Theorie;  denn  in  der  Nähe  der  Sonne  geht 
die  Reise  viel  langsamer  (S.  255)  la  mauere  en  cet  etage  est  fort 
deliee  pour  le  grand  vide  dont  eile  est  pleine  etc. 

Die  Leugnung  des  leeren  Raumes  ist  eine  Grundlage  cartesia- 
nischer  Denkweise.  Der  16.  Abschnitt  Tl.  Teils  der  Principia  ist 
betitelt:  Qu'il  ne  peut  y  auoir  aucun  vuide  au  sens  que  les  Philo- 
sophes  prennent  ce  mot.  Cyrano  kannte  diese  Theorie  sehr  wohl, 
denn  vor  der  Begegnung  mit  Descartes  läßt  er  sich  in  eine  Dis- 
kussion gerade  über  diesen  Gegenstand  ein:  (S.  325)  'Mais,  lui 
(Campanella)  dis-je,  il  me  semhle  que  ce  Philosophe  (Descartes) 
a  toujours  impugne  le  vide'  etc.  Campanella  antwortet,  Des- 
cartes würde  hierzu  selber  Rede  und  Antwort  stehen,  und  verrät 
so  den  Sinn,  den  Cyrano  der  Begegnung  mit  Descartes  geben 
wollte. 

S.  240,  241  (Jacob)  wird  über  das  Feuer  gesprochen:  ce  que 
Von  nomme  chaleur  est  une  hrouine  d'atomes  de  feu.  Das  Feuer 
ist  ein  Element,  das  aus  besonderen  Atomen  gebildet  wird.  Dies 
ist,  wie  ich  in  meiner  Einleitung  (78,  78  ^)  ebenfalls  gezeigt  habe, 
gassendistisch.  Brouine  ist  das  in  diesem  Zusammenhang  ge- 
brauchte lukrezische  pruina  (frz.  hruine).  Descartes'  Anschauung 
ist  geradeso  falsch,  chemisch  gefaßt,  wie  diese  (vgl.  Teil  IV  der 
Principia  Nr.  80) .  Aber  er  würde  nie  das  Feuer  aus  Atomen 
bilden  lassen,  da  er  die  Atomlehre  ja  bekämpft,  aus  dem  Grund- 
satz heraus,  daß  es  für  Gott  nichts  Unteilbares  gibt:  (IT,  10) 
Quil  ne  peut  y  auoir  aucuns  atomes  ou  petits  corps  indiuisihles. 
Diese  von  Descartes  stets  geleugnete  Atomlehre  ist  aber  wiederum 
eine  der  Grundlagen,  nicht  nur  der  Mondreise,  sondern  auch  der 
Sonnenreise;  ich  kann  es  unterlassen,  Belegstellen  anzuführen. 
Nur  die  eine  sei  abermals  erwähnt:  Dyrcona  trifft  einen  wunder- 


Die  Sonnenreise  und  die  Essays  von  Montaigne  79 

baren  Baum  auf  der  Sonne.  Der  Baum  zerfällt  in  lauter  kleine 
Männerchen  (S.  261).  Plötzlich,  aus  einem  mit  der  Erzählung 
eng  verknüpften  Grunde,  beginnen  diese  einen  Tanz  und  bilden 
einen  Jüngling,  in  denen  der  Sprecher  als  letzter  (die  Seele) 
durch  den  Mund  schlüpft:  la  liaison  de  toutes  les  parties  qui 
acheverent  ce  parfait  microcosme  se  fit  en  im  clin  d'oeil.  Der 
junge  Mann  erklärt,  die  fortis  imaginatio,  verbunden  mit  der 
puren  Materie,  bedingte  ihren  leichten  Gestaltwechsel.  Die  Lö- 
sung des  Rätsels  aber,  das  längst  von  meinen  Vorarbeitern  gelöst 
wurde,  vermittelt  eine  Stelle  der  Mondreise  (vgl.  S.  74  meiner  Ein- 
leitung): aus  den  verschieden  geformten  Atomen  entstehen  die 
Elemente,  das  Feuer  aus  runden  Atomen  (S.  195  meiner  Ausgabe) 
wie  in  der  Sonnenreise  (Jacob  241),  das  Feuer  treibt  die  anderen 
Atome  zur  Bildung  der  Körper:  TJn  peu  moins  de  certaine  figure 
ceüt  ete  un  orme  . .  •;  u.n  peu  plus  de  certaines  autres  figurcs, 
ceüt  ete  ...  un  moineau,  un  singe,  un  komme.  Daß  hier  die 
Ordnung  von  Epikurs  Chaos  zugrunde  liegt,  habe  ich  gezeigt. 
Cyrano  faßt,  vermutlich  Gassendi  folgend,  diesen  Bau  aus  Atomen 
ganz  modern:  petit-etre  que  notre  chair,  notre  sang  et  nos  esprits, 
ne  sont  autre  chose  qu'une  tissure  de  petits  animaux  qui  s'entre- 
tiennent,  nous  pretent  mouvement  par  le  leur  etc.  Ich  brauche 
nicht  auszuführen,  daß  der  Tanz  der  Männerchen  zur  Bildung 
eines  Jünglings  nichts  anderes  ist,  als  die  Illustrierung  der 
oben  angeführten  Theorien.  Diese  echt  epikurischen  Theorien 
sind  Descartes  entgegengesetzt,  einmal  wegen  der  Atomistik,  das 
andere  Mal,  weil  hier  Descartes  streng  bei  dem  Schöpfungsgedan- 
ken bleibt:  (Principia  I,  20)  Que  nous  ne  sommes  pas  la  cause  de 
nous  meme,  mais  que  cest  Dieu  —  wogegen  Cyrano  ganz  be- 
wußt ketzerisch,  vielleicht  absichtlich  gegen  Descartes  polemi- 
sierend, als  der  Jüngling  wieder  zerfallen  und  die  Seele  die  Form 
einer  Nachtigall  annahm:  Ce  Rossignol,  creature  de  soi- 
meme. 

Brauche  ich  noch  zu  erwähnen,  daß  Descartes  die  Bewegung 
der  Erde  leugnet:  (Principia  ITI,  19)  que  je  nie  le  mouvement  de 
la  terre,  Die  Erde  ruht  in  ihrem  'Himmel',  mit  diesem  dreht  sie 
(Tourbillons-Theorie).  Natürlich  ist  diese  Hypothese  nur  eine 
Umgehung,  vielleicht  eine  Konzession  an  die  Kirche.  Aber  Cy- 
rano und  Descartes  sind  auch  hier  Antipoden. 

Und  so  ist  es  in  allem,  wenn  sie  sich  auch  in  Einzelheiten, 
bald  zufällig,  bald  auch  auf  Grund  der  Lektüre  Cyranos  treffen: 
die  Sonne  ist  bei  Descartes  (111,  21)  flüssig,  das  Feuer  (ein  Ele- 
ment!) braucht,  wie  bei  Cyrano.  keinen  Gegenstand,  an  dem  es 
brennt  (IIT.  22;  Cj^rano  ed.  Jacob  241:  cc  qui  hrüle  ti'est  pas  le 
feu,  mais  la  matiere  oü  il  est  attache;  et  que  le  feu  du  Soleil  ne 
peut  estre  mele  d'aucune  matiere).  —  Daß  Descartes  die  Sonnen- 


80         Die  Frage  der  Echtheit  von  Cyrano  Bergoracs  Sonnenreise.  — 

flecken  (III,  32)  sich  um  die  Sonne  drehen  läßt  =  une  de  ces 
petitcs  terres  qui  volUgent  n  Ventour  du  Soleil  (Jacob  245),  daß 
die  Entstehung  dieses  Macules,  wie  schon  Brun  nachwies  {These 
S.  302),  bei  beiden  gleich  erklärt  wird  (Principia  III,  94  fF.). 
Aber  diese  Sonne  hat  bei  Descartes  ein  Zentrum  (III,  61),  bei 
Cyrano  hat  sie  keins  (Jacob  258),  ein  Umstand,  der  das 
Gewicht  aufhebt,  der  Materie  also  auch  diese  Eigenschaft  nimmt. 
So  ist  also  der  Einfluß  Gassendis  noch  allmächtig,  auch  die 
Sonnenreise  beruht  auf  der  gleichen  philosophischen  Anschauung 
wie  die  Mondreise.  Ein  paar  Anregungen  aus  den  Principia  ge- 
nügen nicht,  die  Behauptung  7ai  stützen,  Cyrano  sei  auf  dem  Wege, 
Cartesianer  zu  werden.  In  allem  Wesentlichen  ist  er 
noch  Anticartensianer,  und  die  Besprechung  mit  dem  Ver- 
storbenen, wenn  sie  von  Cyrano  ist,  hätte  Kontroversen  enthalten, 
wie  das  ja  auch  ganz  deutlich  aus  den  Seiten  325  ff.  der  Ausgabe 
Jacobs  hervorgeht.  Cyrano  kann  nicht  seine  Reise  nach  der  Sonne 
auf  dem  Prinzip  des  leeren  Raumes  aufbauen  und  ihn  auf  der  Sonne 
mit  Descartes  leugnen.  Als  sollte  Descartes  zum  Erkennen  seiner 
Irrtümer  geführt  werden.  Hat  das  Cyrano  etwa  durch- 
geführt, und  hat  es  der  Herausgeber  unterdrückt, 
eben  weil  es  die  herrschende  Philosophie  be- 
kämpfte? Le  Bret  hatte  in  der  Mondreise  geschrieben:  Son 
Histoire  de  VEstincelle  &  de  Ja  Ttepuhlique  du  Soleil,  oü  en  mesme 
Stile  qiiil  a  prouue  la  Lune  hahitahle,  il  prouuoit  le  sentiment 
des  Pierres,  <&  le  raisonnement  des  Brutes,  estoit  encore  au-dessus 
de  tout  cela.  Le  Bret  sagt  kein  AVort  davon,  daß  die  Sonnenreise 
ein  Torso  sei;  wo  ist  die  Histoire  de  rEstincelle?  Wenn  sie  Brun 
im  Kampfe  von  Feuertier  und  Remora  finden  will,  was  ganz 
un wahrscheinlich  ist,  wo  ist  dann  das  Steinreich,  die 
logische  Fortsetzung  des  Pflanzenreichs?  Le 
Bret  kannte  also  vermutlich  mehr,  als  1662  herausgegeben  wurde. 
Hinterließ  Cyrano  also  das  Werk  als  Torso,  dann  doch  nicht  in 
der  Form  und  in  dem  Grade,  wie  es  heute  erhalten  ist. 


Resultate. 

Die  Vergleiche  mit  älteren  Werken  Cyranos,  mit  Montaignes 
Essays,  Gassendis  I^ehren  haben  gezeigt.,  daß  die  Sonnenreise 
eine  authentische  Dichtung  Cyranos  ist.  Auch  die  Beziehungen 
zu  Campanellas  de  sensu  rerimi  und  zur  Civitas  Solis  zeigen  dies. 
Auch  ihr  Einfluß  geht  durch  beide  Romane.  In  einer  späteren 
Arbeit  soll  dies  noch  gezeigt  werden.  Für  die  Sonnenreise  ist 
die  Hauptfrage  schon  ohne  diese  letzten  Nachweise  gesichert. 
'Letzte  Nachweise'  ist  nicht  in  dem  Sinne  gebraucht,  als  ob  nun 
damit  alles  erschöpft  sei,  was  Cyranos  beeinflußte  und  was  er 


i 


Die  Sonnenreise  und  die  Essays  von  Montaigne  81 

verarbeitet  hat.  Noch  fehlt  so  mancher  Nachweis  für  Einzel- 
heiten, aber  die  Grundlinien  sind  gezogen. 

Cyranos  innere  Entwicklung,  die  Haupteinflüsse,  die  diese  be- 
dingten, die  Werke,  die  ihnen  entflossen,  kennen  wir  heute  so 
gut,  wie  die  Wissenschaft  eine  fremde,  innere  Entwicklung  er- 
schließen kann.  Er  hat  kein  Geheimnis  aus  seinen  Ideen,  aus 
seinen  Studien  gemacht-  Sie  flössen,  allerdings  immer  von  seiner 
Einbildungskraft  umgeformt,  dem  Gesamtwerk  assimiliert,  in 
seine  Dichtungen.  Wörtlich,  wenn  es  sich  um  Reden  handelte, 
bis  zum  Punkte,  bei  dem  die  Wahrscheinlichkeit  seiner  Darstel- 
lung gelitten  hätte.  Da  machte  er  sich  dann  kein  Gewissen  dar- 
aus, eine  Anekdote,  die  Montaigne  von  sich  und  einem  Greis  er- 
zählte, dem  König  Codrus  anzudichten,  oder  von  Cardan  etwas 
zu  zitieren,  was  in  dessen  Werken  nicht  zu  finden  ist. 

Was  lag  daran?  Er  wollte  une  ceuvre  d' Imagination  schaffen; 
nicht  ohne  Sinn  verlegt  er  auf  der  Sonne  die  von  ihm  umgestaltete 
Wirklichkeit  und  die  Fabeln  der  Alten  in  den  fleuve  d'Iniagina- 
iion.  Aber  hinter  seiner  Reniora,  seinem  Feuertier,  seiner  Ima- 
gination steckte  Positives.  Und  hinter  seinen  Bildern  bald  antike, 
bald  moderne  Ideen.  Weltanschauung  vermittelte  jede  Seite  fa.st 
seines  Romans.  Oft  schrullig,  oft  heute  verlassen,  physikalisch, 
chemisch,  mathematisch  unmöglich.  Oft  aber  auch  überaus  weit- 
sichtig, modern,  modernste  Ideen  vorausahnend,  ohne  daß  man 
ihm  einen  Vorgänger  weiß,  wenn  nicht  Gassendi  mündlich  solche 
Gedanken  verbreitete,  die  er  sich  hütete  schriftlich  auszusprechen. 

Mut  hatte  Cyrano,  nicht  nur  auf  dem  Paukboden.  Er  ge- 
traute sich  die  Dinge  zu  sagen,  genau  wie  Montaigne,  sein  gei- 
stiges Vorbild.  Entschlossen  war  er  an  der  Wende  der  Zeiten 
den  beiden  großen  neuen  Parteien  beigetreten,  die  den  geozentri- 
schen und  anthropozentrischen  Standpunkt  der  Antiken 
äv^oojtog  /LisToav  djtdvvcov  wie  der  Kirche  bekämpften.  Hier 
focht  er  für  die  Grundlagen  unserer  heutigen  ÜlDerzeugungen : 
die  Erde  ein  verlorener  Winkel,  der  Mensch  die  höchste  Stufe 
einer  Entwicklung,  die  Natur  ein  großes  Wunderbares,  bis  zu 
einem  geuassen  Punkt  Begreifbares.  Das  Ganze  schwer  denkbar 
ohne  ein  göttliches  Wesen,  das  das  All  schuf  und  die  Zügel  hält 
—  mit  diesem  All  sich  deckt.  Denn  All  und  Gottheit  müssen 
ewig  und  unendlich  sein  (Campanella). 

Fast  zehn  Jahre  nun.  seit  der  Entdeckung  der  Münchener 
Handschrift  der  Mondreise,  habe  ich  Cyranos  Werke  zum  Gegen- 
stand meiner  Forschung  gemacht.  Ich  verdanke  ihm  die  Freude 
wissenschaftlicher  Funde,  viele  angenehme  Stunden  über  seinen 
Werken,  den  Wegweiser  zu  den  größten  Geistern  seiner  Zeit.  Er 
offenbarte  mir,  wenn  nicht  sein  Innerstes,  so  doch  wesentliche 
Seiten  seines  Inneren.     So  wird  es  eine  schöne  Pflicht,  fröhlicher 

ArchiT  f.  n.  Sprachen.    130.  6 


82  Die  Frage  der  Echtheit  von  Cyrano  Bergeracs  Sonnenreise 

Forschung  frohe  Zusammenfassung  sein,  ihm  das  Buch  zu  schrei- 
ben, das  er  verdient,  und  das  besser  wie  eine  Komödie  oder  die 
Arbeiten  von  Brun  und  Dübi,  die  nur  äußerer  Entwicklung  gal- 
ten, sein  Wesen  veranschaulicht.  Diese  Biographie  zu  schrei- 
ben, habe  ich  ein  Recht,  denn  die  wesentlichsten  Seiten  seines 
Denkens  sind  durch  meine  Arbeit  erst  geklärt  worden,  wie  die 
Beziehungen  zu  Gassend i,  die  nur  behauptet  worden,  die  an- 
geblichen zu  Descartes,  die  sich  auf  ein  Minimum  reduziert 
haben;  die  Beziehungen  zu  Montaigne  aber,  die  literarisch 
tiefsten  und  folgenschwersten,  sind  allen  anderen  entgangen.  Die- 
jenigen zu  Campanella,  nicht  die  losesten,  werde  ich  dem- 
nächst aufweisen. 

Das  Recht  aber,  ihm  einmal  dies  Buch  zu  schreiben,  das  sein 
Wesen  erfaßt,  nicht  am  Äußeren  hängen  bleibt,  wird  nach  dem 
Gesagten  zur  Pflicht! 

München.  Leo  Jordan. 


l 


Kleinere  Mitteilungen. 

Zu  einem  Briefe  Goethes. 

Auch  Briefe  haben  ihre  Schicksale,  und  die  Herausgeber  von  Briefen 
wissen  ein  Liedchen  davon  zu  singen,  in  welch  liederlicher  Weise  Briefe 
herausgegeben,  und  namentlich  darüber,  wie  einzelne  Stellen  aus  Briefen 
zitiert  werden.  Ein  recht  charakteristisches  Beispiel  liegt  in  der  nexien 
Veröffentlichung  vor:  'Veröffentlichung  des  Vereins  für  die  Geschichte  von 
Ost-  und  Westpreußen.  Briefe  an  und  von  Johann  George  Seheffner,  her- 
ausgegeben von  Arthur  Warda.  Erster  Band,  erster  und  zweiter  Teil. 
München  u.  Leipzig,  Verlag  von  Duncker  &  Humblot,  1918.'  W.  Dorow, 
der  bekannte  Schriftsteller  und  Herausgeber  von  vielen  Hunderten  von 
Aktenstücken,  beabsichtigte  eine  neue  Hamann-Ausgabe.  Zu  dieser  hatte 
er  von  Hamanns  Freund  J.  G.  Seheffner  viel  Material  erhalten  und  wandte 
sich  zu  demselben  Zwecke  an  Jean  Paul,  F.  H.  Jacobi  und  andere.  Von 
letzterem  erhielt  er  reichliches  Material.  In  derselben  Absicht  ging  er 
auch  Goethe  an.  Dieser  antwortete  am  29.  August  1818  mit  einem  Schrei- 
ben, das  bei  Dorow,  Denkschriften  und  Briefe  IV,  167  und  danach  zugleich 
mit  Benutzung  des  Goetheschen,  von  Stadelmann  geschriebenen  Konzepts 
in  der  Weimarer  Ausgabe,  Bd.  29,  S.  274  f.,  gedruckt  ist.  In  diesen  Fas- 
sungen (also  nach  dem  Konzept  und  nach  dem  Original,  welches  letztere 
allerdings  jetzt  verschollen  ist)  lautet  der  Schluß:  'Von  Hamann'schen 
Schriften  besitze  ich  Manches,  wovon  ich  ein  Verzeichnis  übersende,  sobald 
ich  nach  Hause  komme.'  (Der  Brief  ist  aus  Karlsbad  geschrieben.)  Diese 
Stelle  teilte  nun  Dorow  am  9.  November  1818  Seheffner  mit  (die  oben  an- 
geführte Brief  Sammlung  Bd.  I,  S.  165).  Diese  Mitteilung  ist  nicht  ganz 
genau.  Statt  des  Sätzchens  'wovon  ich  ein  Verzeichnis  übersende'  heißt 
es  nämlich  'und  übersende  ein  Verzeichnis'.  Dann  aber  folgt  in  dem  Briefe 
Dorows  an  Seheffner  noch  die  Stelle:  'Teile  gern  alles  mit,  was  Sie  noch 
brauchen  können'.  Hat  Goethe  nun  wirklich  diese  Worte  geschrieben? 
Eine  bestimmte  Antwort  auf  diese  Frage  wird  man  nicht  leicht  erteilen 
können,  da,  wie  bereits  erwähnt,  das  Original  nicht  mehr  vorhanden  ist. 
Im  Konzept  standen  sie  sicher  nicht.  Aber  der  Kenner  Goethescher  Briefe 
weiß  gar  wohl,  daß  Goethe  in  dem  Mundum  mancherlei  hinzufügte.  An- 
dererseits aber  muß  man  sagen,  daß,  wenn  sich  die  Stelle  wirklich  im 
Original  befunden  hätte,  kein  Grund  einzusehen  wäre,  warum  Dorow  sie 
nicht  in  seinen  Abdruck  aufgenommen  haben  sollte.  Daher  wird  man  wohl 
annehmen  können,  er  habe  sie  absichtlich  seiner  Mitteilung  an  Seheffner 
beigefügt,,  und  kann  leicht  einen  Grund  für  diesen  Zusatz  vermuten.  Dieser 
Grund  könnte  sein,  daß  der  Schreiber  Goethes  Willfährigkeit  Seheffner  als 
mahnendes  Beispiel  vorhalten  und  ihn,  der  freilich  schon  vielerlei  gegeben, 
veranlassen  wollte,  ihm  alles  anzuvertrauen,  was  er  besaß.  Ich  will  nicht 
so  weit  gehen,  dieses  eigenartige  Verfahren  Dorows  geradezu  als  eine 
Fälschung  zu  bezeichnen,  aber  immerhin  i.st  es  ein  willkürliches  Umspringen 
mit  einem  Texte,  das  man  in  keiner  Weise  gutheißen  kann.  Natürlich  ist 
es  ein  einzelnes  Beispiel.  Aber  es  ist  so  typisch  für  die  Mitteilung  von 
Briefstellen,  daß  es  als  ein  warnendes  Exempel  hervorgehoben  zu  werden 
verdient. 

Berlin.  Ludwig  Geiger. 


84  Kleinere  Mitteilungen 

Venantius  Fortimatus  und  die  ags.  Elegien  'Wanderer'  und 
'Ruine'. 

Im  Jahre  569/70  schrieb  der  dem  fränkischen  Hofe  nahestehende  Fortu- 
natus  zu  Poitiers  für  die  thüringische  Prinzessin  Radegunde  den  lateini- 
schen Versbrief  'De  excidio  Thoringiae"  (Leos  Ausg.  1881,  S.  271  ff.).  F.r 
schildert  die  Zerstörung  der  Herrscherburg,  den  Fall  der  Mannen,  das 
Walten  der  Fortuna,  die  Seefahrt  der  Flüchtigen  über  winterliches  Meer 
und  namentlich  auch  die  Erinnerung  an  frühere  Liebe  zu  einem  väterlichen 
Freunde  mit  Küssen  —  in  einer  Weise,  die  manchmal  bis  auf  Einzelheiten  in 
den  genannt^en  Elegien  wiederkehrt.  Beigefügt  hat  der  englische  Dichter 
die  Spezialangaben  über  Bath  in  der  'Ruine'  und  t^je  Klage  über  die  Zer- 
störung im  ganzen  middangeard,  womit  der  'Wanderer'  wohl  auf  den  Sturz 
der  Augelreiche  um  870  anspielt.  Näheres  in  der  2.  Aufl.  meiner  ags.  Lite- 
raturgeschichte, bei  deren  Vorbereitung  mir  der  Fund  begegnete.  Da  der 
Dichter  des  Originals  ein  Geistlicher  war,  dürfte  auch  der  ags.  Nachahmer 
diesem  Stande  angehört  haben.  Der  Theorie,  wonach  die  ags.  Elegien  aus 
der  germ.  Totenklage  hervorgegangen  seien,  geht  es  dabei  nicht  gut.  Da- 
gegen erweist  sich  das,  was  man  für  die  Zusanunenhänge  der  frühags. 
liiteratur  mit  fränkischen  Personen  und  Dingen  vorgebracht  hat,  als  sehr 
beachtenswert;  so  Imelsmanns  Eadwacer-Forscbung  und  die  Beobachtung, 
daß  die  erste  Redaktion  der  ags.  x\nnalen  mit  einem  Besuch  des  damaligen 
Westsachsenkönigs  am  Frankenhofe,  wo  die  weltliche  Geschichtschreibung 
blühte,   zeitlich   zusammenfiel. 

Berlin.  A.  B  r  a  n  d  1. 

Ein  staatsrechtliclier  Satz  jEIMcs  aus  lateinischer  Quelle. 

Aus  einer  zu  Köln  im  12.  Jahrhundert  angelegten  Sammlung,  die  in 
einer  Handschrift  zu  Trier  um  1200  erhalten  ist,  gab  Floß^  ein  ungewöhn- 
lich langes  Privileg  Leos  VIII.  für  Otto  I.  von  angeblich  964  heraus,  daö*! 
einige  Zeilen  enthält  über  den  vom  Volke  erwählten  König  und  die  Un- 
möglichkeit, daß  es  den  einmal  eingesetzten  abschüttle.  Diese  lauge  Form 
erkannte  Waitz^  als  weitere  Verfälschung  einer  an  sich  schon  unechten 
Urkunde,*  die  in  kürzerer  Form  schon  vor  Floß  bekannt  war.  Giesebrecht^ 
sah  in  dem  Fälscher  einen  kaiserlichen  Parteigäng-er  ans  der  Zeit  des  Tn- 
vestiturstreites  und  wies  darauf  hin,  daß  der  Satz  'niemand  kanu  sich  selbst 
zum  König  machen'  usw.  auch  in  der  Streitschrift  eines  Kardinals  gegen 
die  Gregorianer*  sich  vorfindet.  Fälscher  und  Pamphletist  benutzen  ferner 
gemeinsam  das  jenem  Satze  vorangehende  Concilium  Toletanum  VI. 
von  638. 

Jener  staatsrechtliche  Satz  aber  ist  älter  als  das  11.  Jahrhundert.  Be- 
reits 990  oder  bald  nachher  übersetzte  ihn  nämlich  ^Ifric^  als  ein  higspell 
für  seine  Palmsonntag-Predigt.  Dieser  steht  an  sieben  Punkten  dem  Texte 
der  Streitschrift  näher  als  dem  der  Urkunde. 

1  Papstwahl  unter  den  Ottonen;  Urk.  162;   vgl.  Darst.   103. 

2  Giesebrecht,   Gesch.  dt.  Kaiserzeit  I   (1863)    831. 

3  Jaffß-Löwenfeld,  Regesta  pont.  Rom.  n.  3704. 

«  Ed.  Francke,  Mon.  Germ,  hist.,  Lih.  de  Ute,  imp.  et  pont.  II  (1892)  422. 
5  Bomil.  ed.  Thorpe  I  212. 


Kleinere  Mitteilungen  85 

Kardinal  um  1098.  ^Ifric. 

Inpriiuis'    quidem    nemo  2   potest  Ne  mseg  nan  man   hine  sylfne  to 

SB  ipsum   regem   facere,  sed  populus  cynge  gedon.    Ac  paet  folc  hsefd  cyre 

creat'  sibi   regem,  quem  elegit;'  sed  to  ceosenne  pone   to  cyninge  pe  him 

cum    rex  j   ille   fuerit  factus   et   con-  sylfum  licad;  ac  siddan  he  to  cyninge 

firmatus    in    regno,   iam   habet "^    po-  gehalgod  bid,  ponne  haefd  h6  anweald 

testateni    in    hominibus,  ^    et   nullo  ^  ofer  pset  folc,  and  hi  ne  magon  hia 

modo     potest     populus     iugum     eius  geoc  of  heora  swuran  asceacan. 
de  cervice  sua   repellere. 

Sachlich  bemerkenswert  scheint  an  der  Übersetzung  nur,  daß  der  angel- 
sächsische Mönch  die  Königsweihe  als  Bestätigung  in  der  Regierung  be 
trachtete. 

Berlin.  F.  Liebermann. 

Ansprache  am  Shakespeare-Tag  im  Deutschen  Theater 
zu  Berlin  1919. 

In  ruhigen  Zeiten  pflegt  die  Deutsche  Shakespeare-G-esellschaft  in  unserem 
klassischen  Weimar  den  Tag  zu  begehen,  an  dem  Shakespeare  starb  und 
wahrscheinlich  auch  geboren  wurde.  Solche  jährliche  Erinnerung  an  den 
fremden  Dramatiker,  von  dem  unser  eigenes  Poesietheater  ausgegangen  ist, 
die  Menschenverkörperung  Goethes  und  Schillers  und  Grillparzers  und  vieler 
neuerer  Bühnendichter  bis  auf  den  heutigen  Tag,  ist  uns  so  zur  Gewohnheit 
geworden,  daß  wir  sie  auch  diesmal,  wo  uns  Weimar  durch  die  Unruhen 
und  Verkehrsschwierigkeiten  versperrt  ist,  nicht  missen  mögen.  Als  eine 
Schar  von  Schönheitsfreundeu  lassen  wir  es  uns  nicht  nehmen,  am  Shake- 
speare-Tage mit  geistigen  Blumen,  mit  einem  Kranze  dankbarer  Erinnerung 
aufzuziehen  und  gegenüber  allen  materialistischen  Strömungen  uns  als  Ver- 
ehrer des  Ewig-Großen  zu  bekennen.  Kein  Lügenfeldzug  englischer  Presse 
soll  uns  davon  abhalten  und  uns  in  Philister  verwandeln.  Wir  empfinden 
tief  die  Grausamkeit,  mit  der  viele  unserer  Kommilitonen  noch  immer  von 
den  Landsleuten  Shakespeares  in  den  Gefangenenlagern  festgehalten  werden, 
wo  doch  schon  längst  Deutschland  die  Waffen  niedergelegt  hat.  Hinter 
Stacheldraht  führen  sie  ein  Leben,  richtiger  ein  Vegetieren  der  Verödung 
und  müssen  vergessen,  während  wir  uns  über  den  Niedergang  des  Vater- 
landes wenigstens  durch  angestrengte  Berufsarbeit  in  Hörsaal  und  Seminar 
hinwegzuhelfen  vermögen.  Unerhört  in  der  Weltgeschichte  finden  wir  es,  daß 
immer  noch  die  Hungerblockade  gegen  unser  Volk  fortgesetzt  wird,  obwohl 
sich  die  Festung  längst  ergeben  hat.  Aber  nicht  mit  dem  modernen  England 
der  Politiker  und  Imperialisten  haben  wir  es  hier  zu  tun,  sondern  mit  einem 
Dichter  der  Renaissance,  dessen  Genie  der  ganzen  Welt  angehört,  und  dem 
am  meisten,  der  es  am  tiefsten  ausschöpft.  Unsere  eigenen  Klassiker  sind 
uns  heut«  gegenwärtig,  wie  sie  aus  den  Dramen  des  Stratforders  unser 
deutsches  Poesietheater  ableiteten,  den  Götz  und  den  Faust,  die  Räuber  und 
den  Wallenstein,  deren  Nachfolger  in  ununterbrochener  Reihe  immer  noch 
unsere  Bühnen  zieren,  unsere  Gebildeten  erheben,  dem  Deutschen  welt- 
geschichtliche Aufgaben   vor   Augen   führen. 


1   I.  q.  fehlt  Floß.       2  n.  enim  se  i.  po.  Fl.       »  primum  si.  creavit  r.  F. 
*  voluerat  F.       5  fac.  fuerat  rex  ohne    et  c.  in  r.  F.        «  habuit  F. 
'  Omnibus  F.       *  iam  non  po.  F. 


86  Kleinere  Mitteilungen 

Was  könnte  ich  Ihnen  in  dieser  Stunde  Besseres  bieten  als  einige  von 
den  Aussprüchen,  die.  damals,  als  die  deutsche  Literatur  in  Maienblüte  auf- 
schoß, im  unvergeßlichen  Straßburg  an  der  Seite  von  Erwins  Münster  der 
begeisterte  Anreger  Herder  an  Goethe  richtete,  um  ihm  Verständnis  und 
Liebe  zu  Shakespeare  ins  Herz  zu  pflanzen.  Uns  drückt  eine  schwere  Zeit; 
Müdigkeit  und  Verzagtheit  wollen  uns  schier  übermannen;  mühsam  wehren 
wir  uns  gegen  die  dumpfe  Schlaffheit,  die  der  schlimmste  Begleiter  des  Un- 
glücks ist.  Da  soll  uns  der  Herold  deutschen  Literaturaufstiegs  den  Mut 
bestärken.  Das  Elsaß  französisch  zu  wissen  hat  damals  unsere  Geist«s- 
führer  nicht  abgehalten,  mit  den  Waffen  des  Ausländers  Shakespeare  die 
deutsche  Poesie,  bis  dahin  so  ärmlich  und  kümmerlich,  auf  den  Thron  zu 
setzen.  Das  uneinige  und  zerrissene  Deutschland  vor  anderthalb  Jahr- 
hunderten war  imstande,  eine  Literatur  zu  schaffen,  an  der  sich  das  ganze 
Volk  in  wenigen  Jahrzehnten  emporgerankt  hat  zu  den  Taten  der  Be- 
freiungskriege. Ich  verzichte  also  auf  alle  eigene  Weisheit,  indem  ich  Ihnen 
solche  Sätze  aus  Herders  Shakespeare-Aufsatz  von  1771  und  dessen  end- 
gültiger  Fassung  von   1773  einfach  vorlese: 

'Shakespeare,  der  Sohn  der  Natur,  Vertrauter  der  Gottheit,  Dolmetscher 
aller  Sprachen  und  Leidenschaften  und  Charaktere,  Führer  und  Verwickler 
des  Fadens  aller  Begebenheiten,  die  menschliche  Herzen  treffen  können'  usw. 

Dann  ein  Wort  des  gereiften,  älteren  Goethe  aus  Dichtung  und  Wahrheit: 

Shakespeares  Einfluß  hat  uns  zu  'höheren,  freieren  und  ebenso  wahren 
als  dichterischen  Weltansichten  und  Geistesgenüssen  vorbereitet  und  uns 
erst  heimlich  und  mäßig,  dann  aber  immer  offenbarer  und  gewaltiger  be- 
herrscht. . . .  Ich  habe  jederzeit,  was  man  zu  seiner  Ehre,  zu  seinen  Gunsten, 
ja  ihn  zu  entschuldigen  gesagt,  gern  unterschrieben.  Die  Einwirkung  dieses 
außerordentlichen  Geistes  auf  mich  ist  früher  dargestellt.  . .  .  Die  Verehrung 
Shakespeares  ging  bei  uns  bis  zur  Anbetung.' 

Genug  der  Sätze  aus  deutscher  Vergangenheit.  Wie  damals,  handelt  es 
sich  heute  darum,  die  Geister  straff  zu  halten  und  künstlerische  Er- 
oberungen zu  machen.  Noch  lange  ist  Shakespeare  in  der  Darstellung  nicht 
ausgeschöpft.  Es  ist  deutscher  Ehrgeiz,  anderen  Völkern  in  der  Ausmünzung 
seiner  Gestalten  und  Gedanken  voranzugehen.  Vieles  ist  in  diesem  Theater 
schon  in  solcher  Richtung  geleistet  worden.  Unvergeßlich  bleibt  uns  das 
Jahr,  in  dem  hier  Abend  für  Abend  ununterbrochen  nur  der  durch  Schlegel 
und  Tieck  ins  Deutsche  umgewandelte  Shakespeare  auf  der  Bühne  erschien. 
Doppelt  warm  danken  wir  es  Professor  Reinhardt,  daß  wir  heute  in  diesen 
Räumen  zu  Gaste  sein  und  solche  Szenen  aus  Shakespeare  sehen  können,  in 
denen  seine  derbere  Komik  Triumphe  feiert.  Schwank  und  Posse  haben  auf 
der  englischen  Bühne  sich  toller  ausgetobt  als  auf  unserer.  Eine  Keckheit 
und  Tollheit  steckt  in  den  Shakespeareschen  Rüpeln,  die  mit  vollem  Saft 
und  voller  Kraft  herauszubringen  noch  zu  den  Aufgaben  unserer  Schau- 
spielkunst gehört.  Wir  haben  die  Darsteller  dazu;  das  wird  sich  bei  der 
Aufführung  zeigen.  Möge  solche  gesunde  Realistik  sich  weit  bei  uns  ver- 
breiten, um  unserem  Theater  die  Lebendigkeit,  die  Frische,  auch  den  Übermut 
zu  erhalten,  der  als  Gegensatz  zur  Tragik  das  Theaterleben  ergänzen  muß. 

Auch  die  Bühneneinrichtung  der  Shakespeare-Zeit  besaß  Vorteile,  die  für 
die  heutigen  Methoden  der  Aufführung  noch  nicht  ganz  ausgebeutet  sind. 
In  weiten  Kreisen  herrscht  sogar  noch  der  Glaube  an  den  leeren  Balken- 
boden, auf  dem  Shakespeare  seine  Dramen  nur  mit  Hilfe  des  Dichterwortes 


Kleinere  Mitteilungen  87 

aufgeführt  habe,  und  an  das  Brett,  dessen  Aufschrift  jedesmal  den  Schau- 
platz der  Handlung  bezeichnet  habe.  Lichtbilder  von  den  erhaltenen  Skiz- 
zen, die  wir  von  Londoner  Bühnen  der  Shakespeare-Zeit  besitzen,  mögen  die 
wirkliche  Kenntnis  von  jenen  Verhältnissen  endlich  in  weitere  Kreise  tra- 
gen und  vielleicht  geschickt«  Originalgeister  in  unserer  Mitte  veranlassen, 
die  Mittel   zu   neuen   Shakespeare- Wirkungen  zu   entdecken. 

Wir  haben  viel  Demütigung,  die  unser  Volk  vor  anderen  Völkern  er- 
fahren hat,  wieder  gutzumachen;  wir  können  es  zur  Zeit  nicht  besser  tun, 
als  wenn  wir  viel  geschmähte  Barbaren  auf  den  Wegen  der  Kunst  und 
Dichtung  mutig  vordringen  und  die  anderen  vielleicht  mit  Glück 
überholen. 

Berlin.     •  Hermann  Kugle r. 

Eine  Torahnung  von  Flugzeug  und  U-Boot. 

Der  greise  Fred.  Harrison  lenkt  (in  Fortnightly  Review,  March  1918, 
p.  328)  die  Aufmerksamkeit  auf  die  epische  Satire  Scriileriad,  die  Rieh. 
Owen  Cambridge  1751  in  Nachahmung  der  Dunciad  Popes  veröffentlichte. 
Darin  wird  ein  Luftkampf  beschrieben,  den  ein  Kupferstich  von  Boitard 
illustriert : 

The  one  a  German  of  distinguish'd  fame: 
His   rival  from  projecting  Britain  came. 
They  spread  their  wings,  and  with  a  rising  bound, 
Swift  as  the  wind  together  quit  the  ground;   IV,  p.  137. 
Das  andere  wissenschaftliche  Wunder  der  Neuzeit  sei  das  Unterseeboot: 
from  the  flood 
A  bark  emergent   rose;    with  oars   well-timed, 
Cut  the  smooth  wave,  and  o'er  the  surface  skimmed, 
Then  sank  again,  but  still  her  course  pursu'd;   II,  p.  312. 
Der  Dichter  zitiert  in  den  Anmerkungen  für  beide  technische  Wunder  die 
Mathematical  Magick  (1648)  des  Bischofs  Wilkins,  der  ein  Kollege  Newtons 
und   ein   Schwager    Cromwells   war   und   selbst   schon   das   Wort  submarine 
anwendet. 

Berlin.  F-  Liebermann. 

Randnoten  zu  Emil  Levys  provenzalischen  Wörterbüchern 
(Nr.  1—8). 

1,  Im  P  e  t.  D  i  c  t.  verzeichnet  L  e  v  y  asenhorar  (v.  a.)  und  asenhorir 
(v.  n.)  'dominer,  maitriser',  nicht  aber  asenhorivar  (v.  n.).  Letzteres  be- 
gegnet in  dem  Gedichte  des  R.  d'Aurenga  A  mon  vers,  Str.  VIII.  Anders 
nämlich  als  Rayn.  Choix  5,  406  und  MW.  1,  69,  Str.  II,  wo  der  fragliche 
Vers  8  statt  7  Silben  hat,  wird  die  Stelle  gemäß  den  Hss.  Aa,  die  da  Ca 
seignoriu  aufweisen,  lauten: 

Et  es  paraula  certana 
Ca  midonz  laisset  en  patz 
C  aseignoriu  vas  totz  latz 
'und  es   ist  bestimmt  wahr,   daß   er    (Gott)    meiner   Herrin   ruhig  überließ, 
überall  zu  herrschen'.     Aseignoriu  ist  dann   3.  Pers.  praes.   conj.,  und  ein 
Verbum  senhorivar,  von  dem  as.  das  Kompositum  wäre,  verhielte  sich  zum 
Adj.    senhoriu    'herrisch'    etwa   wie    aizivar    (refl.    'sich    nähern')    zu    aiziu 
('nahe') . 


88  Kleinere  Mitteilungen 

2.  Für  escobrir  setzt  Levy,  Sw.  3,  174  unter  1  frageweise  die  Bedeutung 
'freimachen'  an.  Einen  neuen  Beleg  für  escobrir  in  ähnlichem  Sinne  scheint 
mir  die  letzte  Strophe  des  Gedichtes  B.  Gr.  323,  1  (ed.  Appel,  P.  Regier, 
S.  98)  darzubieten,  deren  gegenwärtiger  Wortlaut  den  Herausgeber  selbst, 
gemäß  seiner  Anmerkung  S.  107  zu  5,  53,  nicht  befriedigt.  Für  den  in 
Frage  kommenden  Vers  das  que  ses  aus  C  {E)  mit  coherta  aus  ABQ  kom- 
binierend, würde  ich  lesen: 

E  cobezetatz  abrazec 

Un'  arsor,  qu'es  escoberta, 
Don  vezem  manht  ric  abrazar 

und  übersetzen :  'Und  Habgier  entfachte  eine  Glut,  die  freigemacht  ist 
(um  sich  gegriffen  hat),  von  der  wir  manchen  Reichen  erglühen 
sehen.' 

3.  Der  Satz  aus  R.  V  i  d  a  1 ,  Äo  fo  318,  in  dem  das  Wort  esvelh  dem  Hrsg. 
Cornicelius  'dunkel'  vorkommt  und  Levy,  Sw.  3,  359a  'Schwierig- 
keiten bietet',  ist  wohl  so  zu  deuten:  'Und  ich  werde  euch  sagen,  was  nicht 
alle  euch  sagen  könnten,  und  frische  in  dieser  Beziehung  auf,  was 
Girant  de  Bornelh  sagte,  und  rufe  euch  nachdrücklich  ins  Gedächtnis  zu- 
rück .  .  .'  Statt  n'esvelh  könnte,  da  die  Handschrift  an  der  Stelle  undeut- 
lich zu  sein  scheint  (s.  Cornicelius'  Varianten  S.  55),  im  Original 
iuich  resveUi,  gestanden  liabeu;  vgl.  die  Var.  resveilhar  aus  Hs.  e  zu  Gi- 
rant de  Bornelh  Nr.  65,  1  Per  solatz  revelhar.  Auch  nfrz.  reveüler 
und  it.   risvegliare  begegnen  im   Sinne  von   'erneuern,  auffrischen'. 

4.  In  den  beiden  Zitaten  G.  d  e  1  a  B  a  r  r  a  2  196  u.  1434  ist  L  e  v  y,  Sw.  5, 
285  unter  mirar  4  beide  Male  der  Vers  Qu'om  s'i  pogra  per  cert  mirar  'nicht 
klar'.  Gewiß  ist  davor  je  ein  Punkt  zu  setzen,  que  als  Frageadverb 
(s.  Schu  1  tz  -  G  or  a,  'Zwei  altfrz.  Dichtungen' 3  II,  333  und  meine  'Dich- 
tungen d.  Trobad.'  Nr.  31,  58)  aufzufassen  und  zu  verstehen:  'Wie  könnte 
man  sich  wahrlich  darin  spiegeln!'^ 

5.  Für  natural  12  'Angehöriger,  Getreuer',  Sw.  5,  365,  kann  wohl  auch 
das  durch  Kannegießer,  Gedichte  S.  73  mißdeutete  Geleit  von  Gr.  389, 
18  als  Beispiel  dienen,  das  ich  nach  MW.  1,  72  und  Hs.  V  (Arch.  36,  448) 
so  rekonstruiere:  Mos  vers  venra  (tenra),  c'an  fin  e  paus  (V :  filipaus), 
A  Rodes,  don  son  naturaus  und  verstehe:  'Mein  Vers  wird  seinen  Weg 
zu  (dem  Grafen  von)  Rodez  nehmen,  dessen  Getreuer  ich  bin,  denn  er 
hat  dadurch  (bekommt  durch  den  Vers)  Frieden  und  Ruhe.'  Daraus  ließe 
sich  dann  schließen,  daß  R.  d'Aurenga,  der  Verfasser  des  Gedichtes,  mit 
einem  Grafen  von  Rodez  befreundet  war.  - 

6.  Ses  orgolh  (Sw.  5,  520,  4)  wird  im  ersten  Beleg  mit  Appel  'ohne 
Überhebung'  bedeuten,  da  ja,  was  nach  Levy  der  Zusammenhang  erfordert, 
durch  ses  ganda  ausgedrückt  wird.  Im  zweiten  Beleg  ist  ses  orgolh 
ebenfalls  'ohne  Stolz' ;  man  lese  da  pair'e  und  verstehe  sa  e  sal  e  ses  orguelh. 


1  Anders  deutet  diese  Stellen  Stimming,  B  Born  3,  S.  213  zu  V.  26. 

2  Eine  Gräfin  von  Rodez  sollte  Raimbaut  in  der  tornada  von  Gr.  389,  8 
direkt  erwähnen  (s.  Appa,  Po6s.  prov.  inöd.  S.  119/20  und  Bergert,  Damen, 
S.  121).  Indes  heißt  es  da  nicht  ma  chansos  ...  tengra  vas  Rodes  a  vos, 
comtessa,  sondern  mit  der  bis  jetzt  allein  die  richtigen  Reime  os,  iva,  ai: 
iva,  ai  aufweisenden  Hs.  C  (MG.  357)  vas  Rodes  en  lai  ('dorthin'  oder 
'weg,  fort'),  während  mit  comtessa  ein  zweites  Geleit  beginnt. 


' 


Kleinere  Mitteilungen  89 

7.  Das  Verbum  perdezirar  =  afrz.  pardcsirer  'dösirer  extremement'  und 
perdeziraire,  Subst.  oder  Adj.,  'einer,  der  zuviel  wünscht'  sind  wohl  in 
Levys  Wörterbüchern  noch  nachzutragen.  Bei  Dejeanne  heißt  der 
ihm,  gemäß  der  Anm.  S.  218,  unverständlich  gebliebene  V.  55  von  Marca  - 
brus  Gedicht  V-  Desirat  per  desiraire.  Gibt  man  dem  Geleit  die  Gestalt: 
Desirans  per  desiraire  A  nom  qui-n  vol  Amor  traire,  so  läßt  sich  ver- 
stehen: 'Ein  begehrlicher  Anmaßender  (oder  ein  anmaßender  Leidenschaft- 
licher) heißt  derjenige,  der  die  Minne  daraus  (aus  ihrem  Heim)  herausholen 
will.'  Zu  avcr  nom  mit  dem  Nom.  des  Namens  s.  Schultz-Gora,  Prov. 
E.-B.3,  §  171,  und  zu  desirans,  für  das  in  einer  Vorlage  vielleicht  desirät 
stand,  Gir.  de  B.,  Nr.   7,  45:   Tan  sui  soirejafujzens  e  dezirans. 

8.  Das  bei  L  e  v  y  noch  fehlende  Verbum  pervaler  =  afrz.  parvaloir  'avoir 
une  grande  valeur'  ist  Jaufre  Rudel  3,  58  zu  entnehmen,  wo  Stim- 
min g ,  der  einzigen  Hs.  e  gemäß.  Bona  es  Vamors  e  molt  per  vau , 
Jeanroy  aber  in  seiner  Ausgabe  von  1915  zu  Unrecht  pro  vau  schreibt. 
In  den  Text  gehört  m.  E.  pervau. 

Berlin.  Adolf   Kolsen. 

Frz.  fleurs  =  fluores  ? 

Archiv  1917,  S.  361,  Anm.  1  will  El.  Richter  frz.  ä  fleur  d'eau  einerseits 
aus  flos  'die  Blüte,  das  Beste,  das  Oberste',  anderseits  aus  f^or  'der  an  der 
Oberfläche  schwimmende  Ausfluß'  erklären.  Es  wären  also  mehrere  Etyma  in 
eins  zusammengelaufen,  eine  Möglichkeit,  die  schon  Schuchardt  theoretisch  für 
möglich  gehalten  hat  und  El.  Richter  selbst  wieder  für  hocke  (ZffSpr.  45,  131) 
erwägt.  Dabei  bemerkt  El.  Richter:  'Anderseits  ergibt  fl^ior  ja  ebenfalls 
fleur  Ausfluß,  Fluoreszenz:  fleur  d'alun,  de  soufre  ==  "Schwefelblumen" 
drückt  in  einer  Lautreihe  beides  aus.  Fleur  de  vin  "Schimmel"  usw.,  alles, 
was  an  oder  unmittelbar  unter  der  Oberfläche  schwimmt.'  Etwas  zurück- 
haltender drückt  sich  Meyer-Lübke,  Hist.  Gran/m.  der  frx.  Sprache^,  S.  112, 
aus:  'Nur  o-eu  scheint  [im  Hiatus]  zusammengezogen  zu  werden:  fleur  'Men- 
struation' FLUORE,  doch  ist  das  Wort  erst  seit  dem  16.  Jahrhundert  belegt 
und  gehört  vielleicht  nicht  dem  Erbwortschatz  an.'  Immerhin  erscheint 
REW  8.  V.  fluor  'Menstruation'  rum.  flort  (letzteres  wie  auch  im  DicUonarul 
Uinbii  romtne  s.  v.  flori),  frz.  fleur.  Nun  haben  wir  aber  auch  ein  altprov. 
flors  'Menstruation',  keineswegs  ein  *flo'drs,  span.  flor  'Menstruation'  (schon 
bei  Nebrija  und  Oudin),  ferner  versteht  man  die  rumänische  zweisilbige  P"'orm 
/k)o  nicht;  endlich  besitzen  wir  ein  ital.  fiori  'il  mestruo'  bei  Francesco  Redi 
(17.  Jh.,  nach  Petrocchi ;  vgl.  abruzz.  fmri  'mestruo'  Finamore,  furbesco  fiore-frole 
'mestruo',  Mirabella),  das  schon  Littre  als  Beweis  gegen  die  Etymologie 
fluores  anführt,  während  Dict.  gen.,  dem  offenbar  REW  und  auch  Pu9cariu 
im  Dict.  limbii  rom'ine  folgen,  fluores  annimmt,  was  nun  wieder  auf  Du 
Gange  zurückgeht,  der  s.  v.  flores  sagt:  'Nostri  Fleurs  dicunt,  non  a 
floribus  sed  a  fluore:  ita  enim  ooi'v  mulierum  vertunt  Latini  Medici.'     Nun 


1  Auch  im  Lat.  ist  eine  Kontraktion  von  flüör  zu  flor  undenkbar  (vgl. 
über  die  Nichtzusammenziehbarkeit  von  ü  und  ö  Sommer,  Haijdb.  d.  lat. 
Laut-  u.  Formenl.^  S.  117).  —  Für  ein  vlt.  flore  aus  fluore  könnte  man  sich 
allerdings  auf  die  Entwicklung  von  quattuor,  battuo,  futtuo  und  tuum  be- 
rufen, die  aber  die  Betonung   ' --  bzw.  — ',  nicht  -'  aiif weisen. 


90  Kleinere  Mitteilungen 

ist  aber  frz.  fleurs  nicht  erst  aus  dem  16.  Jahrhundert  belegt,  wie  Dict.  gen. 
und  REW  angeben,  sondern  aus  dem  14.  Jahrhundert  (Littre),  engl,  flowers 
ist  nach  New  Eniß.  Dict.  schon  1400  in  dieser  Bedeutung  belegt,  altprov. 
flors  rückt  uns  noch  weiter  hinauf,  und  noch  weiter  das  flores  bei  Michael  Scotus 
(t  1250,  vgl.  Du  Ganges  Beleg:  . . .  quod  Flos  nominatur  in  vulgari,  et 
Menstruum  in  Scriptlira). 

Um  also  ein  fluor  als  Etymon  anzusehen,  müssen  wir  hinnehmen:  1.  daß 
keine  zweisilbige  flo-or-Yonn  belegt  ist,  die  unzweideutig  für  fluor  spräche,^ 
2.  daß  ital.  fiore,  rum.  florz  und  mit.  flores  aus  frz.  fleurs  umgesetzt  wäre, 
was  mit  dem  Datum  des  ersten  Auftretens  des  mittellateinischen  Wortes  in 
Widerspruch  steht.  Dtsch.  Blume  'Menstruation'  {ütsch.  Wb.  s.  v.  blume,  6: 
ihrer  blume  fluß)  könnte  ja  übersetzt  sein,  worauf  vielleicht  auch  die  Zu- 
sammenstellung blume  und  fluß  (wie  fleur  und  flucur  bei  Gh.  Estienne)  weist. 
Ahnlich  müßte  es  mit  alb.  l'ul'e  'Blume',  'Menstruation'  stehen,  das  Treimer, 
Mitt.  d.  rum.  Inst.  I,  S.  352  bespricht  (nach  seinen  Worten  '"Menstruation" 
ist  eine  anscheinend  unverständliche  Nebenbedeutung  und  lag  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  auch  in  l'ul'e  ursprünglich  nicht  drinnen'  müßte  auch 
angenommen  werden,  daß  er  an  eine  Lehnübersetzung  nach  rum.  flori 
denkt). 

Wir  müssen  uns  also  mit  flores  'Blumen'  als  Etymon  begnügen.  Wie  ist 
die  Bedeutungsentwicklung  zu  erklären?  Littre  meint:  'ainsi  dit  parce  qu'on 
a  compare  les  menstrues,  ä  cause  de  leur  couleur  rougc,  ä  une  ficur.'  Sicher 
ist,  daß  die  von  El.  Richter  angeführten  fleur  d'alun,  fleur  de  soufre  auf  flos 
'Blume'  zurückgehen  {fleur  de  vin  vollends  geht  auf  griech.  avd'vs  o'irov 
'Kahm,  Schimmel',  lat.  flos  vini  dass.  zurück  und  vergleicht  sich  mit  rum. 
flori  'Schimmel',  kat.  florirse  'schimmelig  werden',  neuprov.  flouri  'moisi'). 
Man  vergleiche,  was  M.  Berthelot  in  der  Grande  Encyclopedie  s.  v.  fleur 
VI  sagt:  'Le  mot  fleur  est  employe  par  Dioscoride  et  par  Pline  pour  de- 
signer  ccrtains  produits  metalliques  ou  salins:  flos  ceris,  de  cuivre  ...  flx)s 
salis,  efflorescence  saline  . . .  Ghez  les  alchimistes,  le  mot  a  pris  un  sens 
plus  comprehcnsif  et  dans  lequel  intervient  le  double  sens  des  mots  flos  et 
ard-oe,  qul  designent  ä  la  fois  la  fleur  d'une  plante  et  la  couleur  ou  principe 
colorant  d'une  dissolution.  G'est  ce  que  montrent  certains  passages  de  Sy- 
nerius.  11  insisto  notamment  sur  la  Sublimation  des  matieres  volatiles,  ap- 
pelees  esprits  ou  fleurs  des  metaux,  assimilees  aux  ames  des  plantes  et  de- 
signecs  par  les  noms  de  celles-ci,  conformement  aux  principes  de  la  nomen- 
clature  des  prophetcs  egyptiens.  Ge  sont,  pour  nous,  des  oxydes  et  des 
sulfures  sublimes  et  cntraines  par  les  gaz,  pendant  les  Operations  chimiques. 
On  dit  encore  fleurs  aujourd'hui,  dans  un  sens  analogue  aux  alchimistes: 
fleurs  argentines  d'antinwine,  fleurs  de  xinc,  fleurs  de  soufre  . . .  Les  noms 
fleurs  de  safran  et  safrans  designaient  diverses  matieres  minerales  colorces, 
des  sulfures  d'arsenic,  par  exemple  . . .  Les  fleurs  d'alun  sout  l'alun  de 
plume;  les  fleurs  de  cobalt  sont  une  efflorescence  minerale  rose,  annon^ant 
les  mines  de  cobalt.  Rappeions  encore  que  le  mot  fleur  s'applique  de  nos 
jours  au  veloute  des  fruits,  ä  la  farine  la  plus  fine,  aux  mycodermes  qui  se 
forment  ä  la  surface  du  vin  et  de  la  biere  älteres,  etc.  Une  fois  le  mot 
fleur  prononce,  il  etait  developpe  de  toute  maniere,  avec  des  sens  meta- 
phoriques.  De  meme,  dans  d'autres  passages,  certaines  substances  minerales 
sont  appelees  plantes  ou  herbes;  on  assimile  leur  accroissement  ä  celui  des 
vegetaux,  et  les  teintures  metalliques  fugaces  sont  assimilees  aux  couleurs 


Kleinere  Mitteilungen  91 

vegetalcs  ...  La  connaissance  de  ces  analogies  et  de  ces  assimilations  est 
indispensable  pour  bicn  entendre  les  textes  alchimiques.' 

Aber  von  den  alchimistischen  Bezeichnungen  der  Minerale  ist  es  weit  zu 
der  der  periodischen  Blutabsonderung  des  weiblichen  Organismus,  und  schließ- 
lich leuchtet  auch  ein  Vergleich  des  Menstruationsblutes  mit  einer  Blume 
nicht  von  voinherein  ein.  Dozent  Dr.  J.  Fischer,  Direktor  des  Wiener  Frauen- 
krankcninstituts  'Charite',  weist  mich  auf  Ploss,  Das  Weib''  I,  338: 

'Bei  den  Nayecs  in  Malabar  heißt  das  von  einer  Prinzessin  während  dieser 
Zeit  ausgeschiedene  Blut  tiri-apickerdu,  das  bedeutet  heilige  Blüthen. 

Auch  die  Letten  bezeichnen  nach  Alksnis  die  Menstruation  mit  dem 
Worte  Blüthen  (seedi),  und  danach  ist  auch  einer  ihrer  Namen  für  den  Uterus 
gebildet,  nemlich  scedu  mähte,  d.  h.  Blüthenmutter.  . . . 

Das  erste  Eintreten  der  Menstruation  wird  . . .  von  den  Xosa-Kaffern  das 
Aufknospen  der  Blume  genannt  (Kropf). 

Der  Serbe  nennt  sie  die  weibliche  Blüthe.  . .  . 

Der  getreue  Eckarth  [ein  Hebammenbuch  in  Romanform  1715]  spricht 
von  einer  Rosenblüth  und  von  den  rothen  Amaranthen.' 

Krauß'  Antliropophyieia  VI,  216  belegt  für  Sumadija  (Serbien)  dobijaii 
ru^u  'die  Rose  (=  Periode)  bekommen',  VII,  286  für  Pletemica  (Slavonien) 
die  Redensart  'ein  Weib,  das  ihre  Blume  (svoj  cvit)  hat'. 

Der  letzte  Beleg  bei  Ploss  könnte  auf  die  Farbe  des  rosa  Menstniations- 
blutes  anspielen,!  sonst  wird  aber  der  Gedanke  nicht  abzuweisen  sein,  den 
Fischer  mir  nahelegt:  Das  Mädchen,  das  zu  menstruieren  anfängt,  wird  mit  der 
aufblühenden  Blume  verglichen.  Nicht  nur  der  Dichtung  (von  Goethes  'Heide- 
röslein'  bis  zu  Bierbaüms  'Rosen')  ist  das  Mädchen  eine  Blume:  das  geläufige 
Wort  deflorieren,  mhd.  deti  bluomen  nemen,  für  'entjungfern'  heißt  doch  'die 
Blume  des  Mädchens  wegnehmen'  (nämlich  die  Blume  der  Unberührtheit, 
vgl.  ital.  fiore  'perfezione  virginale'  bei  Ariost  etc.  nach  Diz.  univ.  ital.)! 
Bedenkt  man,  daß  die  weibliche  Menstniation  der  Brunstzeit  der  Tiere  ent- 
spricht, 30  wäre  bei  ursprünglichen  Völkern  eine  Bezeichnung  wie  'Blüte' 
sehr  entsprechend.  Fischer  erinnert  auch  daran,  daß  für  sexuelle  Vorgänge 
gern  Vergleiche  aus  dem  Pflanzenleben  angewendet  werden  (Leibesfrucht, 
doiHü  'zeugen'  usw.).  Ich  möchte  hier  noch  erwähnen,  daß  nach  Krauß, 
VIII,  110  der  Arzt  A.  Pareo  ('Thesaurus  Chirurg.',  Frankfurt  1610,  S.  532) 
bemerkt:  'ut  flos  fructum  in  plantis,  sie  in  mulierum  genere  hie  fluor  foetus 
conceptionem  seiet  praecedere.'  ^    Wie  auch  Michael  Scotus  ausdrücklich  be- 


1  Vgl.  ein  scherzhaftes  deutsches  Frau  von  Rothenburg,  die  neuprov.  Re- 
densart lis  Angles  an  desbarea  'se  dit  d'une  femme  qui  a  ses  mois',  rotige 
cou)ne  un  angles  'allusion  ä  l'habit  rouge  des  soldats  anglais'  (Mistral),  fer- 
ner die  von  Krauß  (VII,  93)  noch  erwähnten  frz.  ecraser  des  tomates,  sauce 
lotuate,  passer  la  mer  rovge,  fleurs  rouges,  cardinales  (der  Kardinalspuipur 
hat  auch  sonst  die  rote  Farbe  bezeichnen  müssen:  im  Don  Quijote  wird  cardenal 
von  einer  roten  Wunde  gebraucht,  Rabelais  spricht  von  cardinaliser  beim 
Rotkochen  von  Krebsen)  usw. 

2  Barbusse  in  dem  eine  Philosophie  des  Sexuellen  darstellenden  Roman 
L'enfer  bezeichnet  sogar  den  weiblichen  Geschlechtsteil  als  'Frucht'  (S.  42): 
Et  ils  avai'ent  presque  ce  quils  voulaient,  dans  eette  ombre  ouverte,  dans 
cette  ombre  wie,  au  centre  d'elle,  ...  —  daiis  cette  ombre  qui,  au  fand,  est 
im  fruit.  —  Über  einen  —  unsexuellen  —  Vergleich  von  Blüte  und  Mensch 
hat  Lommatzsch  hier  135,  170  aus  Anlaß  von  afrz.  fleuri  gehandelt. 


92  Kleinere  Mitteilungen 

zeugt,  liätten  wir  es  also  bei  fleurs  'Menstruation'  mit  einer  volkstüm- 
lichen Bezeichnung  zu  tun  —  im  Gegensatz  zu  den  aus  Alchimistenkreisen 
stammenden  fleur  d'alwi,  fleur  de  soufre.  Anderseits  ist  auch  in  diesen 
Kreisen  jede  rote  Absonderung  des  menschlichen  Leibes  seit  alter  Zeit  als 
'Blüte'  bezeichnet  worden, ^  wie  die  von  Fischer  mir  mitgeteilte  Stelle  aus 
Galen  beweist,  die  sogar  an  eine  lat.  Lehnübersetzung  flos  'Menstruation' 
(aus  ärd-os)  denken  läßt: 

fivd'tn:    ov  fiövov  mvra   rä   sie  Tri   aT£(fni'a,   nÄ/.n 
y.nl  T«   älkn   Tinvxn   ovtcos   6i  OnnL,£i   y.nX  t« 
ons'ouara  Ss   iuanvrtog   iviore  xnlsl,   aiane^ 
x(d  et>  7(p   SevTiftM   Toiv  yvi  niy.euor,   nkkä   y.nl 
in   k  ov  9"  r]  ftnr  n  ,   (os   kv  xiony.ms   ■   xal  mvouma 
§£   nrd'ijoft  T«   iovd'Qa   xrtl   v(paifia   Xeyai   er 
TM   s'  Tföv  emSrifiicov. 

[Pdlriiov  Tcöv  ' iTiTTOxonrovi  yXmoacbv  s^Tjyriais  ed.  Kühn  XIX,  81).  Als 
Repräsentanten  der  Blumen  gelten  wohl  meist  solche  mit  relativ  einfachen 
Farben,  daher  als  Blume  y.nl  ft'>x^f  in  volkstümlicher  Rede  entweder  die 
Lilie  als  die  weiße  Blume  (fleur  [de  lis])  oder  die  Rose  als  die  rote  erscheint. 
Daß  die  'Menstruationsblumen'  tatsächlich  als  Rosen  aufgefaßt  werden,  zeigt 
außer  dtsch.  Rosenblüth,  serb.  dobijafi  ndM  noch  die  Variante  zu  der  Stelle 
des  andalusischen  Volksliedes: 

Tendi  'r  panitelo  'n  er  cnao 
Y  nie  se  yenö  de  rosas 
bei  Rodriguez  Marin  Cantos  populäres  espanoles  II,  101 : 

En  tm  praito  berde 

Tendi  mi  pahuelo; 

Como  salieron,  —  mare,  tres  rositas 

Conio  tres  hiseros, 

wobei  schon  Demöfilo  (Coleccion  de  cantes  flamencos  117)  'la  costumbre  que 
tienen  los  gitanos  de  presentar,  al  dia  siguiente  de  la  boda,  la  camisa  de 
la  desposada,  para  que  las  familias  conocidas  puedan  cerciorarse  de  la  vir- 
ginidad  de  la  ex-doncella'  ^  zur  Erklärung  erwähnt  hat.  Vgl.  auch  span.  flores 
=  rote  Blumen  in  der  Bedeutung  'roter  König,  roter  Schnui)fen'. 

Eine  andere  Frage  ist  es,  ob  fluor  und  flor-  infolge  ihrer  Synonymität 
wie  ihres  lautlichen  Gleichklanges  nicht  schon  im  Lateinischen  des  Mittel- 
alters zusammengefallen  sind:  die  Etymologie  Isidors,  der  flos  durch  fluor 
etymologisiert  (XVII,  6,  21),  würde  dafür  sprechen.  Dann  stellten  die  ro- 
manischen Völker  ein  flores  dar,  das  —  unter  dem  Einfluß  in  der  gleichen 
Richtung  wirkender  Volksanschauungen  —  irrtümlich  mit  fluores  zusammen- 
geworfen wurde.     Ein  etymologisches  Wörterbuch,  das  die  lautliche  Vor- 

1  Vgl.  heute  auf  eine  mit  Pickeln  besetzte  Nase:  deine  Nase  blüht,  un 
nex.  flenri  de  boiifons,  gr.  «;«'/'.'//,/<«,  span.  flores  'roter  König,  roter  Schnup- 
fen' oder  (Niceforo,  'Le  genie  de  l'argot'  S.  267)  Le  printemps  est  de  la  bäte, 
tout  est  en  fleur  'annonce  que  l'une  d'entre  elles  [les  prostituees]  est  tombee 
malade  et  devra  passer  ä  Thopital'. 

2  Ähnliche  Wertschätzung  des  Menstrualblutes  in  Deutschland:  Strack, 
Das  Bild  im  Qlaubeu  und  Aberylaubeu,  S.  30  führt  den  Satz  der  'Hauß- 
Apothek'  an:  'Bevorab  wird  die  erste  jungferliche  Blume,  auf  dem  Hemd 
oder  einem  Leinwand  verwahret,  in  hohem  Wert  gehalten.'  Vgl.  span.  flor 
de  la  camisa  'Menstruation'. 


Kleinere  Mitteilungen  93 

stufe  der  Wörter  anführt,  müßte  daher  flores,  ein  die  Begriffsahnen  buchen- 
des AVörterbuch  fluores  als  Etymon  angeben.  Umgekehrt  scheint  ja  frz. 
fJeurs  blanches,  kat.  flors  hlanques  'weißer  Fluß'  ein  nach  fleurs  'Blumen'  und 
'Menstruation'  ausgeglichenes  flueurs  blancltes  (=  Leukorrhoe)  zu  sein  (vgl. 
le  flreur  de  sang  =  la  flueur  de  sang  bei  Jonain,  Pat.  saintotaj.)  und  steht 
bei  Maupas  (vgl.  den  großen  Larousse)  im  Wortspiel  mit  fleurs  'Blumen'.  Zu 
diesen  volksetymologischen  Wortspielen  hatte  das  Volk  noch  einen  besonderen 
Grund :  die  euphemistische  V  e  r  h  ü  1 1  u  n  g  s  t  e  n  d  e  n  z ,  die  Niceforo,  Le 
genie  de  l'argot,  S.  270f.  vortrefflich  beschreibt: 

'Le  sang  de  la  menstruation,  ainsi  que  le  sang  de  la  drfloration,  est 
sacre,  puisqu'il  represente  le  sang  de  la  race  et  puisqu'il  coutient  un  prin- 
cipe spirituel:  l'äme  du  vivant  (c'etait  aussi  l'opinion  des  Juifs,  des  Romains, 
des  Arabes).  II  represente  aussi  le  totem,  c'est-ä-dire  l'ancetre  et  le  pro- 
tecteur  du  clan,  qui  reside  dans  le  sang  de  chaque  individu.  Quand  le  sang 
s'ecoule,  c'est  l'etre  totemique,  c'est  uu  dieu,  c'est  ce  (jui  est  sacre,  qui  se 
repand;  donc  le  sang  est  sacre,  il  est  tabou.  De  lä  le  rituel  special  sur- 
veillant  et  reglant  l'effusion  du  sang  de  la  part  des  membres  du  clan,  et 
toutes  les  interdictions  concernant  soit  le  sang  feminin,  soit  les  objets  et  les 
gestes  de  la  vie  sexuelle  . . .  Havelock  Ellis  a  rappele  avec  une  grande 
justesse,  au  chapitre  dedii'  a  la  pudeur,  dans  le  premier  volume  de  ses 
Etudes  de  psychologie  sexuelle  .  .  .  la  repulsion  qu'eprouvent  les  femmes,  et 
meme  les  hommes  d'aujourd'hui,  ä  prononcer  le  nom  clair  des  menstruations. 
Le  nom  mOme  de  menses  n'est-il  pas  deja  par  lui-meme  un  euphemisme,  un 
doublet?  . . .  Schuring  (Parthenologia  1739  i)  a  donne  la  terminologie  usitee 
pour  designer  cette  fonctiou,  auterieurement  au  XVlIIe  siecle.  Chez  les 
peuples  latins  et  germaniques  les  femmes  recouraient  ä  des  metaphores 
suggerees  par  le  mot  fleur,  ,parce  que,  dit-il,  c'est  la  fleur  qui  presage  la 
possibilite  du  fruit.' ^  Les  paysannes  allemandes  l'appelaient  Roscnkranx 
(couronnes  de  roses);  nos  dames  italiennes  contemporaines  l'appellent  mar- 
chese  (marquis);^  les  fran^aises:  les  anglais,  ou  les  affaires;  les  dames  alle- 
mandes disent:  fai  re^u  une  lettre;  les  femmes  du  bas  peuple  en  Italie, 
disent:  je  suis  empechee.  . . .  Cette  interdiction  linguistique  est  tellement 
ancree  dans  nos  moeurs  que,  pour  la  plupart  des  cas,  les  mores  elles-memes 
n'osent  pas  en  parier  ä  leurs  filles.  Plusieurs  d'entre  elles  [junge  Ameri- 
kanerinnen] furent  mCme  tres  epouvantees  par  la  premiere  apparition  du 
sang  —  tout  comme  l'heroine  d'Edmond  de  Goncourt  qui  s'effraie  —  dans 
Chcrie  —  de  voir  s'epanouir  la  fleur  de  sa  puberte.* 

1  Desselben  Autors  Oijnaecologia  gebraucht  sowohl  fluxus  mensium  wie 
fluor  für  'Menstruation', 

2  Vgl.  die  obige  Deutung,  die  übrigens  in  dem  stilistischen  Gebrauch 
der  Wendung  la  fleur  de  sa  puberte  durch  Niceforo  nochmals  durchschim- 
mert. Ähnlich  schreibt  Krauß  VIII,  140  über  den  Brauch  in  Nicastro  (Ka- 
labrien),  daß  'das  Mädchen  nur  in  dieser  Zeit,  welche  die  aufgebliite  [sie!] 
Blmne  ihrer  Jugend  anzeigt,  den  grünen  Unterrock  ablegt,  um  den  schar- 
lachroten anzuziehen,  der  den  Verlobten  (Bräuten)  und  den  Ehefrauen  ge- 
bührt.' 

3  Wohl  Umdeutung  aus  marca  'Merkzeichen'  (vgl.  argotfrz.  marquise 
'Dirne'  zu  marque,  dem  mittelalterlichen  Dirnenabzeichen,  worüber  zuletzt 
Dauz  t,  L'argot  de  la  guerre,  S.  169). 

^  Euphemistisch  werden  auch  'Blumen'  verwendet  in  der  mir  aus  Schle- 
sien bekannten  Redensart  Blümchen  pflücken  für  'urinieren' :  es  handelt  sich 


!)4  Kleinere  Mitteilungen 

Wir  stehen  hier  vor  der  alten  Frage,  die  Schuchardt  in  die  für  jeden 
Linguisten  beängstigende  Alternative  'Elementarverwandt  oder  geschiclitlich 
verwandt?'  gepreßt  hat:  der  Bedeutungsübergang  'Blüte'  >  'Menstruation'  ist 
allenthalben  durch  die  elementare  Anschauung  gegeben,  durch  elementares 
Schamgefühl  auf  weiten  Gebieten  nahegelegt  —  anderseits  bietet  sich  in 
einer  Sprache  der  Gleichklang  fluor-,  flor-.  Welchem  der  beiden  Umstände 
werden  wir  das  romanische  *flores  'Menstruation'  zuschreiben?  Kon  liquct 
et  non  liqucbit. 

Nach  dem  Gesagten  kann  denn  auch  frz.  ä  fleur  d'eau,  das  übrigens 
nicht  erst  seit  Rabelais,  wie  El.  Richter  angibt,  sondern  seit  dem  14.  Jahr- 
hundert (vgl.  Littre)  belegt  ist  und  dem  ein  ital.  a  fior  d'acqua,  span.  u 
flor  de  agua,  mall,  a  la  flor  del  man  'auf  Erden',  wörtl.  'auf  der  Erd- 
oberfläche' Rondayes  mallorquines,  zur  Seite  stellt,  nur  mit  Littre  als  ßos  in 
der  Bedeutung  'superficie'  erklärt  werden:  ä  fleur  de  wie  ä  niveau  de.  Es 
ist  nicht  auffälliger  wie  ital.  fior  di  latte.  Vielleicht  gehört  hierher  der  bei 
Froissart  belegte  Ausdruck  sus  fleur  de  coursier  (God.),  wenn  er  'auf  der 
Oberfläche  des  Zelters',  nicht  'auf  dem  besten  der  Zelter'  bedeutet.  Fraglich 
ist,  ob  frz.  effleurer,  ital.  sfiorare  hier  anzuführen  ist  (zu  fleur,  fiore  'Ober- 
fläche'?): es  wird  nämlich  wahrscheinlich  'entblättern,  abstreifen'  und  dann 
'oben  hinstreifen'  bedeutet  haben  (vgl.  lt.  deflorare). 

Bonn.  L.  Spitzer, 

AltproT.  lieis. 

Die  Nebenform  Ifijeis  neben  Ifijei  im  Altprovenzalischen  hat  bisher  eine 
ausreichende  Erklärung  nicht  gefunden.  Das  -s  ist  noch  nicht  befriedigend 
erklärt,  meint  z.  B.  Schultz-Gera,  Prov.  Elementarb.3,  S.  73,  §  115. 

Feststehen  dürfte,  daß  die  -s-lose  Form  die  ältere  ist.  Der  Boeci  hat  sie 
einmal,  V.  253:  qui  amor  ab  lei  pren,  die  St.  Fides,  V.  162:  fa  estar  de  lei 
marritz,  dann  aber  schon  V.  444:  Deus  li  reddet  per  leis  la  luz.  Ursprüng- 
lich Obliquus,  ist  l(i)ei(s)   bald  auch  Subjektskasus  geworden. 

Die  ältesten  Grammatiken  kennen  die  Form  lieis  weder  als  Nominativ 
noch  als  Obliquus.  Die  Leys  dagegen  behaupten  (II,  224)  :  'Item  havem  Hey 
o  Heys.  Lieys  es  tostemps  del  feminin  e  no  ha  plural,  e  deu  hom  dire  en  lo 
nominativ  singular  lieys  ab  s  et  en  los  autres  cazes  Hey  o  lieys.  quar  loncs 
uzatges  o  requier  empero  miels  es  dig  en  los  oblics  lieys  can  vocals  se  sec  e 
Hey  can  consonans  se  sec.'  Tatsächlich  kommt  lieis  fast  immer  für  den 
Subjektskasus  vor  (doch  auch  lei  bei  Bern.  Marti) ;  aber  die  Forderung  der 
Toulousaner,  lei  vor  Konsonant  und  leis  vor  Vokal  zu  gebrauchen,  wurde 
nicht  eingehalten.^ 

Im  Neuprov.   ist  lieis,  ebenso  wie  lui,   verschwunden,  beide  finden  sich 


aber  um  eine  fiktive  Beschäftigung,  die  zur  Entschuldigung  des  Zurück- 
bleibens einer  Persönlichkeit  angeführt  werden  mag  (wie  etwa  das  geläufige 
sich  die  Hände  ivascheyi  gehen  für  'auf  den  Abort  gehen'),  selbstverständlich 
hier  ebenso  spöttisch  wie  etwa  im  frz.  Kriegsargot  telephnner  ä  Guillaume 
'aller  ä  la  seile'  (Dauzat  1.  c.  S.  142).  —  Die  geläufigste  deutsche  Umschrei- 
bung für  Periode,  das  nach  meiner  Beobachtung  nur  Männer,  und  Menstruation, 
das  nur  Arzte  e'obranfhon.  erwähnt  Niceforo  nicht:   U>i/rofilse>>K 

^  Siehe  Wilh.    Bohnhardt,    Das   Personalpron.    im    Altprov.      Mar- 
burg 1888   (Ausg.  u.  Abh.  LXXIV),  S.  12  u.  28. 


i 


Kleinere  Mitteilungen  95 

nach  Chabaneaui  noch  in  Texten  aus  Limoges  vom  Ende  des  15.  Jahr- 
luinderts,  geraten  aber  vom  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  an  gänzlich  außer 
Oebrauch. 

Daß  l(i)ci  wie  rum.  e?,  it.  lei  einem  illaei  entspricht,  das  ülui  nachgebildet 
ist,  wird  wohl  heute  von  niemand  bestritten. 

Was  aber  ist  Ueis't  Tob  1er,  der  ZRPh  III,  159  lei,  liei  aus  illaec  er- 
klärte, sah  in  lieis:  illaece.  Da  aber  illaec  als  Etymon  nicht  mehr  in  Frage 
kommt,   fällt  auch  illaece  von  selbst. 

Die  ältere  Annahme,  es  handle  sich  um  illae  ~\- ipsu,  hat  in  As  coli, 
AGI  XV,  .314  u.  396 — 97  einen  Verteidiger  gefunden.  Und  diese  Annahme 
stützt  sich  vor  allem  auch  darauf,  daß  leifs)  auch  mit  geschlossenem  e 
bindet;-   doch  sind  solche  Reime  mit  ei  selten. ^ 

Und  müßte  es  nicht  auffallen,  daß  eine  solche  Verbindung  illae  -\-  ipsu 
nur  im  Provenzalischen  auftritt,  und  noch  dazu  als  unzweifelhaft  jüngere 
Form?*  Auch  würde  es  merkwürdig  sein,  daß  nirgend  ein  illui -\- ipsu 
daneben  auftritt. 

A.  Thomas  endlich  erklärt  Ro  XII,  332  lieis  aus  dem  Genitiv  illaeius, 
der  ein  Seitenstück  zu  dem  Gen.  masc.  illius  wäre.  Aber  wieder  wird  man 
fragen:  Weshalb  kommt  dieses  illaeius  (gegen  das  ja  an  sich  nichts  ein- 
zuwenden wäre,  um  so  weniger,  als  es  inschriftlich  belegt  ist)  nur  hier  vor, 
noch  dazu  als  jüngere  Form,  warum  gibt  es  keine  entsprechende  Maskulin- 
form, endlich,  wie  schon  Meyer-Lübke,  Rom.  Gr.  II,  S.  95  einwendete: 
'was  soll  ein  Genitiv  auf  einem  Gebiete,  das  den  Dativ  kaum  kennt?' 

Da  es  sich  um  eine  ausschließliche  Form  der  provenzalischen  Dichter- 
sprache handelt  und  da  dieser  mit  lautlichen  Mitteln  nicht  beizukommen 
ist,  da  endlich,  was  von  größter  Wichtigkeit  ist,  dem  lieis  kein  *  luis  ent- 
spricht, wird  man  versuchen  müssen,  die  Form  aus  dem  Provenzalischen 
selbst  heraus  zu  erklären. 

Das  Pronomen  bezieht  sich  in  erster  Linie  und  an  unzähligen  Stellen 
auf  die  angebetete  Dame,  den  hauptsächlichsten  Gegenstand,  um  den  sich 
die  ganze  altprovenzalische  Kunstlyrik  dreht,  und  zwar  dann,  wenn  von 
der  Dame  in  der  dritten  Person  die  Rede  ist.  Wendet  sich  der  Dichter  au 
die  Geliebte  selbst,  so  gebraucht  er,  zumal  es  meist  eine  über  ihm  stehende 
Dame  ist,  fast  ausnahmslos  das  ehrerbietige  vos. '  Ist  es  also  nicht  nahe- 
liegend, die  Form  lieis  als  eine  Kreuzung  der  beiden  Pronomina  für  die 
Geliebte  liei  X,  vos  anzusehen?  Mag  diese  Erklärung  auch  nicht  tatsäch- 
lich beweisbar  sein,  so  hat  sie  doch  das  eine  für  sich,  daß  sie  die  nur  pro- 
venzalische  Form  mit  den  Mitteln  des  Provenzalischen  deutet,  daß  sie  be- 
greiflich macht,  weshalb  neben  lieis  kein  *  luis  steht,  daß  sie  eine  Form  der 
Kunstsprache  aus   den   kulturellen   Voraussetzungen   dieser   erklärt. 

Charlottenburg.  M.  L.  Wagner. 

1  Chabaneau,  Gramm,  limousine.     Paris  1876.     S.   178  u.  Anm.  4. 

-  P.  L  i  e  n  i  g ,  Die  Grammatik  der  prov.  Leys  d'amors,  verglichen  mit 
der  Sprache  der  Troubadors,  S.  43;  Stengel,  Die  beiden  ältesten  prov. 
Grammatiken,  S.  116. 

3  Lienig,  a.  a.  0.;    Crescini,   Manuale 2,   S.   100,   Anm.   1. 

•*  Appel,  Prov.  Lautlehre  (Leipzig  1918),  §  54,  scheint  die  alte  Er- 
klärung noch  aufrechtzuerhalten,  da  er  von  lieis  in  dem  Kapitel  'Ursprüng- 
liche  Doppelkonsonanz   im   provenzalischen    Auslaut'   spricht. 

5  Bohnhardt,  a.  a.   0.,  S.   99. 


96  Kleinere  Mitteilungen 

Lat.  fundibulum  >  *funibulum  und  intestinae 
>  istentinae. 

Im  REW  3583  führt  Meyer-Lübke  als  romanische  Abkommen  von 
lat.  fundibulum  'Trichter'  an:  prov.  fenjfonilh,  span.  fonil,  pg.  funü,  und 
fügt  hinzu:  '-nd-  zu  -n-  ist  als  Katalanismus  oder  als  Gaskognismus  erklär- 
bar, Ausgangspunkt  also  etwa  Bordeaux,  wozu  auch  die  Verbreitung  in  den 
uprov.  Mundarten  paßt.' 

Auffallend  ist  aber  doch,  daß  die  Form  mit  -n-  so  weit  verbreitet  ist,  die 
ganze  Pyrenäenhalbinsel  bedeckt  (aus  dem  Romanischen  auch  bask.  unila, 
Diez,  Wtb.  451)  und  daß  dieselbe  Form  auch  im  Norden  auftaucht.  Denn 
mittelengl.  foncl,  das  im  Oxford  Dictionary  für  das  15.  Jahrhundert  belegt 
wird  (>  ne.  funnel)  und  breton.  founil  setzen  doch  wohl  ein  afrz.  fofujnil 
voraus,  wie  schon  Diez  annahm.^  Ist  es  wahrscheinlich,  daß  eine  von  Bor- 
deaux ausgehende  Dialektform  sich  die  ganze  Westromania  erobert  hat, 
ohne  daß  von  der  -?irf-Form  auch  nur  irgendwo  Spuren  geblieben  wären? 

Mir  scheint  es,  daß  eine  schon  für  das  Vulgärlatein  anzusetzende  Be- 
einflussung durch  das  entsprechende  griechische  Wort  xroium-  (ngr.  -/ovii) 
vorzuziehen  ist,  die  um  so  unbedenklicher  ist,  als  griechisch-lateinische 
'Wortehen'  (um  mich  eines  einst  von  Schuchardt  geprägten  Ausdruckes  zu 
bedienen)  nichts  Seltenes  sind.  Man  denke  an  einen  so  merkwürdigen  Fall 
wie  ovy.coTov —  ficatum. 

Auch  in  der  metathetischen  Form  fijstentinae  für  intestinae,  die  reich- 
lich belegt  ist  (PI  e  r  a  e  u  s  ,  Sprache  des  Petron.  S.  41;  Ahlquist,  Stud. 
z.  Mulomedicina  Chironis  S.  115,  Anm.  1;  Meyer-Lübke  in  Gröbers 
Grdr.  12,  S.  477,  §  44)  und  im  Südital.  und  Sardischen  sowie  im  Alt- 
spanischen und  in  Tirol  sich  fortsetzt,  sehe  ich  den  Einfluß  des  gleich- 
bedeutenden griech.  errepa.  Für  Meyer-Lübke,  HG  I,  S.  483,  §  582 
war  die  Umstellung  'dunkel'.  Dunkle  Umstellungen,  bei  denen  weder  be- 
stimmte lautliche  Vertauschungen  noch  Einfluß  von  Suffixen  in  Frage 
kommen,  sind  aber  meist  solche,  bei  denen  ein  anderes  Wort  sich  eingemischt 
und  die  Umstellung  begünstigt  hat,  vgl.  M.-L.,  a.  a.  0.  §  583. 

Zu  beachten  ist  auch,  daß  es  sich  bei  all  den  erwähnten  Wörtern  um 
Küchenausdrücke  handelt;  und  daß  auf  diesem  Gebiete  der  griechische  Ein- 
fluß besonders  stark  war,   ist  bekannt. 

Charlottenburg.  M.  L.  Wagner. 

Sobre  el  castellano  enhiesto, 

Como  es  sabido,  la  etimologia  fastigium,  propuesta  por  Diez,  Etym. 
Wort.  451,  para  las  formas  ibericas  y  para  el  francea  faiste"^  >  faiie,  no  ha 
tenido  fortuna,  y  parece  definitivamente  aceptado  como  base  de  todaa  las 
formas  francesas  y  espanolas  el  aleraän  first  'altura'.  Realmente  ella  parece 
asegurada  por  formas  con  r,  como  el  antiguo  franccs  freste  y  el  provenzal 
frest.^  Pero  la  cuestiön  no  es  saber  si  la  voz  germanica  diö  origen  a  algunas 
formas,  sino  si  todas  las  formas  romänicas  proceden  de  ella,  o  bien  al  lado 

1  Leider  umfaßt  die  Karte  cntonnoir  des  AL  nur  den  Süden. 

2  Icti  kenne  nur  fest  {fa/st),  feste,  s.  Godefroy  111,  7<Üa,  nUc,  IX,  613c 
und  REW.  Nr.  3321.     (Sch.-G.) 

3  Ein  prov.  frest  ist  recht  problematisch,  s.  Levy,  S.-W.  III,  599.  (Sch.-G.) 


Kleinere  Mitteilungen  97 

de  los  derivados  j^ermänicos  subsisten  formaa  do  un  ori^en  latino.  Dcsde 
lueg-o  no  es  imposible  (lue  im  diptongo  ie  castellano  se  produzca  de  i  original 
por  influencia  de  etimologia  populär,  como  en  spiculu  esplego  espliego, 
aunque  este  trato  por  ser  anormal  es  indicio  desfavorable  para  cl  origen 
germänico:  first  piido  dar  en  castellano  *fesf-o,  con  reducciön  normal  de 
rs  >  s,  y  nißesto  por  atracciön  material  de  ftesta.  Pero  las  formas  de  la 
peninsula  iberica  parecen  referirse  a  una  composiciön  primitiva  con  in,  y 
deben  referirse  a  una  forma  adjetiva.  En  efecto  los  casos  raros  de  firsto 
se  contienen  en  la  fräse  en  ßesto,  que  puede  ser  un  anälisis  coineidente, 
como  en  el  vulgär  ninjer  en  cintci  'embarazada'  por  encinia  inciv ei a.  La 
misma  forma  sustantiva  enfcsfa  'altura,  cima'  del  portuguos,  debe  tener  un 
origen  adjetivo,  que  se  conserva  en  el  aragonos,  7nonte  enfi.ef<to  'alto,  elevado' 
(Huesca).  En  los  mas  antiguos  textos  esi)anoles  se  nos  descubrc  como  base 
la  forma  enfiestu  de  valor  adjetivo,  por  'erguido,  derecho':  'E  ((uando  [el 
Rey]  se  yrguiesse  no  deue  pararse  mucho  enfiesto  nin  acoruado'  Parhdas, 
11,  5,  4;  'Otro  si  que  anden  apuestamente,  non  muy  enfiesfos  nin  otrosi 
coruos'  11,  7,  8.  El  moderno  castellano  cnhiesto  y  el  leones  enjicsto  con- 
servan  fielmeutc  esta  significaciön.  El  verbo  enhestnr  castellano,  como  el 
salmantino  cnjipsfar  (Gabriel  y  Galan,  Extremenas,  päg.  46)  son  formaciones 
a  base  de  los  adjetivos  citados.  Si,  como  parece,  estos  son  el  tipo  primitivo, 
no  seria  absurdo  admitir  que  pudiescn  referirse  a  una  base  infestxi.  Es 
cierto  que  no  hay  pruebas  seguras  de  un  latin  infestu  que  ofrezca  la  sig- 
nificaciön de  'levantado,  erguido',  pero  la  existencia  de  fastus  y  fasfigium 
no  haria  absurda  tal  suposiciön.  Aunque  admitiesemos  el  distinto  origen 
bhr^  y  dhrs  de  fastgium  e  infestu s  (Walde,  Lat.  Wort.  s.  v.),  aün  seria 
preciso  aclarar  oscuras  relaciones,  y  ver  si  en  las  significaciones  de  infestus 
qite  nos  descubren  frases  como  infestis  pilis,  infestis  signis,  no  liay, 
ademäs  de  la  idea  de  'enemigo,  hostil"  otras  ideas  que  pudieran  ser  la  base 
del  espanol  enfiesto  enhiesto,  frecuentemeute  aplicado  como  en  las  frases 
latinas  a  armas,  banderas,  etc.  'erguidas,  enarboladas,  enhiestas'. 

Zaragoza.  Vicente  Garcia  de  Diego. 


Berichtigung. 

S.  109  Artikel  gh jamherluccu  Z.  3  lies  disgiungerlo  .statt  disgiungesto ; 
Z.  6  1.  mammalucco  st.  mammalucca;  Anm.  1  Z.  2  1.  giammirgu  st.  giamo- 
nirgk;  S.  110  Z.  20  v.  o.  1.  jamuli  st.  jamuti;  Z.  22  v.  o.  1.  G.  Meyer  st. 
H.  Steyer;  S.  2.34  Z.  12  v.  o.  1.  Frommans  Zeitschr.  st.  Frommann,  Zeitschr.; 
Anm.  1   Z.  .3  1.  Meyer  st.  Müller. 

Bonn.  Leo   Spitzer. 


Archiv  f.  n.  Sprachen.     139. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Jones,  Daniel,  An  outline  of  English  phonetics.  Leipzig,  Teubner 
(1908;  the  greater  part  was  in  print  in  July  1914).  XII, 
221  S.    M.  10. 

Das  Buch  will  hauptsächlich  einem  praktischen  Zwecke  dienen,  nämlich 
der  Verhütung  von  Fehlern,  die  Ausländer  zu  machen  pflegen,  wenn  sie 
Englisch  sprechen.  Bescheiden  nennt  es  sich  'outline'.  Tatsächlich  ist  es 
die  vollständigste  Anleitung  zu  genauer  ne.  Aussprache,  die  wir  zurzeit 
besitzen,  und  vielfach  fördert  es  zugleich  die  allgemeine  Lautphysiologie 
sowie  die  anglistische   Sprachgeschichte. 

Als  Standard  schwebt  dem  Verfasser  die  Aussprache  vor,  die  man  in 
den  großen  südengliscben  Staatsinternaten  hört.  Und  zwar  unterscheidet 
er  dabei  zwischen  Rezitation,  Konversation  und  vertraulicher  (familiär) 
Rede:  erstere  ist  zu  stattlich,  letztere  zu  flüchtig;  nur  höfliche  Uragangs- 
rede  soll  gelehrt  werden.  All  das  ist  einwandfrei.  Es  kommt  dabei  zum 
Ausdruck,  was  Oxford  und  Cambridge,  Eton,  Harrow  und  andere  Schulen 
für  die  Spracheinigung  der  gebildeten  Engländer  in  London  vorgearbeitet 
haben.  Die  Bühne  befleißt  sich  einer  deutlicheren  elocution,  z.  B.  beim  r; 
die  Kanzel  läßt  sich  Zeit  zu  viel  mehr  Wort-  und  Satzakzenten,  wovon  auf 
S.  96  f.  eine  Reihe  Proben  gegeben  wird;  bei  rascher,  formloser  Verständi- 
gung aber  fallen  viele  Vokale  unter  den  Tisch,  so  daß  von  einem  Satz  wie 
Won't  yon  have  another  cup  of  tea  oft  nicht  mehr  übrigbleibt  als  einige 
Geräusche,  das  Wörtchen  tea  und  ein  Frageton.  Zu  solch  extremer  Laut- 
gestaltung rhetorischer  oder  unvollkommener  Art  mag  der  Nichtengländer 
allmählich  durch  den  Gebra.uch  vordringen,  denn  ihre  Grenzen  sind  sub- 
jektiv;  aber  die  Mittelstufe  bleibt  naturgemäß  die  Hauptsache. 

Indem  sich  Jones  anschickt,  die  Hervorbringung  der  Laute  zu  beschrei- 
ben, geht  er  mit  Recht  wesentlich  von  Sweet  aus.  Fast  zu  sehr  hält  er 
sich  an  dessen  allgemeine  Zungendirektive  front,  lack,  high,  low  usw.,  die 
doch  erst  vom  geübten  Phonetiker  frei  getroffen  werden  und  nur  bei  ex- 
tremen Stellungen,  aber  nicht  bei  mid  u.  dgl.,  Klarheit  geben.  Soweit 
meine  Erfahrung  reicht,  geht  man  praktischer  vom  nächstverwandten  Laut 
kontinenta.ler  Art  aus,  z.B.  für  o:  von  o:,  für  den  Vokal  in  come  von  dem 
in  deutsch  kämm  oder  franz.  femme,  (ma)dame,  um  dann  möglichst  einfach 
zur  Produktionsweise  des  englischen  Lautes  überzuleiten;  also  von  so  zu 
saw,  indem  man  die  Zungenwurzel  senken  läßt,  von  kämm,  zu  come,  indem 
man  eine  leise  Aufkrümmung  des  Zungenrückens  verlangt.  Dagegen  lehrt 
Jones  o:  in  folgender  gewiß  viel  umständlicherer  Weise:  'The  tongue  is  low 
down  in  the  mouth  and  very  slightly  raised  at  the  back,  but  not  so  high 
as  the  half  open  position  .  .  . ;  the  lips  are  rounded  so  as  to  leave  only  a 
small  opening  ...;  the  soft  palate  is  raised;  the  lip  of  the  tongue  is  gene- 
rally,  though  not  necessarily,  slightly  retracted  from  the  lower  teeth;  the 
lower  jaw  is  lowered  very  considerably'  (S.  82).  Ich  fürchte,  trotz  so 
vieler  Worte  wird  ein  deutscher  Schüler  da  meist  nur  zu  einem  Mittelding 
zwischen  a:  und  o:  gelangen,  wie  man  es  besonders  in  hannoverischen  und 
bayrischen  Dialekten  hört.  Jones  hört  ja  gern  auf  einen  vernünftigen 
Wunsch.  —  In  manchen  Dingen  aber  ist  Jones  auch  über  Sweet  hinaus- 
gegangen. Statt  Sweets  narrow  und  wide  gebraucht  er  tense  und  lax,  was 
mir  ein  Fortschritt  scheint.  Für  ij  transkribiert  er  nach  Passy  i:,  für  uii- 
entsprechend  u:,  indem  er  gegenüber  der  kontinentalen  Gepflogenheit,  diese 
Laute  straff  zu  sprechen,  schlaffe  Vokalbildung  einschärft;  dann  müßte  frei 
lieh  wenigstens  bei  o:  die  stark  abweichende  Straffbildung  des  Engländers 
hervorgehoben  werden.     Bei  1(1)  vor  Geräuschlaut  oder  im  Auslaut  fordert 


I 


i 


Bpurteilunppn  und  kurze  Anzoigen  99 

Jones  nicht  Eückbewcgung  der  Zungenspitze,  sondern  deren  Anlegung  an 
die  Zahnschneiden  verbunden  mit  einem  ?<-Laut  —  Sweet  sagte  a  grunting 
sound;  ich  werde  fortan  Jones  folgen.  Bei  w  schreibt  Jones  vor:  rounding 
and  pushing  forioard  tlie  Ups  und  raising  tlie  hack  of  the  tongue  in  the  di- 
rection  of  the  soft  palate  (S.  64) ;  da  bleibe  ich  lieber  bei  Sweets  AuAveisung: 
'u  mit  Zurückziehung  der  Zungenwurzel'.  Im  übrigen  weiß  ich  wohl,  daß 
wir  beide  so  ziemlich  im  Dunkeln  tappen,  bis  uns  einmal  eine  verbessert(» 
Zungenpliotographie  deutliche  Maße  schafft. 

Es  ist  dankenswert,  daß  Jones  seine  Vorschriften  nicht  bloß  durch  viele 
Pliotographien  von  Lippenstellungen  erläutert,  sondern  auch  durch  solche 
von  Palatogrammen.  Experiment  und  Dokument  gehören  zum  Hausrat  ge- 
sunder Phonetik.  Einen  weiteren,  sehr  einfachen  und  lehrreichen  Versuch 
möchte  ich  dazu  vorschlagen,  um  p  gegenüber  7),  t  gegenüber  d  zu  verdeut- 
lichen. Tennis  und  Media  stehen  einander  nicht  bloß  als  stimmlos  und 
stimmhaft  gegenüber  (S.  25,  28),  sondern  bekanntlich  auch  dadurch,  daß 
die  Tennis  —  selbst  wenn  sie  nicht  aspiriert  ist  —  einen  intensiven  Luft- 
druck voraussetzt,  die  Media  einen  schwachen.  Veranschaulichung:  Glas- 
röhrchen, aufgesetzt  auf  dünnen  Gummischlauch,  lotrecht  gestellt  und  mit 
farbiger  Flüssigkeit,  z.  B.  tintigem  Wasser,  gefüllt;  das  andere  Ende  des 
Gummischlauches  zwischen  die  Lippen  (bei  p,  b)  oder  zwischen  Zungenspitze 
und  Vordergaumen  (bei  t,  d)  gesteckt;  dann  veranlassen  p  und  t  einen 
starken  Ausschlag  der  Wassersäule  in  der  Glasröhre,  h  und  d  einen  ganz 
r.nbedeutenden.  Besonders  wichtig  für  'genigliche  Sachsen',  deren  Tenues 
meist  sehr  zaghaft  sind. 

Die  allgemeine  Lautphysiologie  wird  vielleicht  am  meisten  auf  einem 
Gebiete  gefördert,  für  das  bereits  Jespersen  ('Handb.  d.  Phon.'^  1912, 
S.  169  ff. :  Assimilationen)  viel  gesammelt  hat,  nämlich  durch  die  Dar- 
li'giingen  über  Angleichung  zusammenstoßender  Laute.  Die  Gleitelaute,  zu 
deren  Kenntnis  die  Studien  Scriptures  über  Grammophonkurven  und  Gutz- 
inanns  Beobachtungsmethoden  vieles  beitragen  konnten,  sind  weniger  be- 
achtet. Die  englische  Sprachgeschichte  gewinnt  durch  die  Zusammen- 
stellung der  o-Wörter  mit  «-Aussprache  wie  come  (S.  84  f.  —  ich  weiß 
sie  nirgends  so  vollständig  aufgezählt),  durch  die  reiche  INIaterial- 
sammlung  über  die  Akzentlage  bei  zwei-  und  mehrsilbigen  Fremdwörtern 
(S.  112  ff.)  und  namentlich  durch  das  Kapitel  über  die  Wörter  mit  zwei 
gleichen  Akzenten,  das  mir,  zusammen  mit  Jespersens  Darlegungen 
(S.  220  ff.),  für  diese  Frage  grundlegend  scheint.  Nachtrag:  man  sagt 
immer  Oxford  Street  mit  nur  einem  Akzent  auf  dem  ersten  Wort,  aber' 
Oxford  Circus,  Oxford  Terrace  u.  dgl.  mit  Hauptakzent  auf  beiden  Wörtern. 
Bei  'Rhytmus'  (S.  123  ff.)  stellt  sich  die  große  Abneigung  des  Engländers 
heraus,  zwei  haupttonige  Silben  oder  Wörter  aufeinander  folgen  zu  lassen; 
daher  heißt  es  z.  B.  (the  Jrllow  Js)  goöd  for  nöfhing.  aber  [he  is  a)  goöd 
fnr  ndthing  felloiv;  auch  Upper  Oxford  Terrace,  shört-sighted  man  u.  dgl. 
Für  Satzmelodie,  'Intonation',  ist  Jones  ebenfalls  sehr  freigebig;  viel  mehr 
als  Storm  in  'English  philology'^  war;  es  wundert  mich,  daß  bei  diesem 
Material,  das  mit  dem  bloßen  Ohr  doch  schwer  abzuschätzen  ist,  die  —  aller- 
dingrs  unvollendeten  —  Forschungen  von  W.  Effenberger  (1908)  unverwendet 
blieben. 

Künftige  Phonetiker  werden  sich  auch  mit  der  akustisch  auskalkulierten 
Vokalhervorbringungsmaschine  von  Stumpf  (Berliner  Akad.  d.  Wiss.  1918) 
nuseinanderzusetzen  haben.  Es  ist  dies  der  erste  Apparat,  von  dem  ich 
wirkliches  i,  e,  a  usw.  gehört  habe. 

Die  Leistung  von  Jones  verdient  aufmerksames  Studium  und  weite  Ver- 
breitung. Je  mehr  der  Leser  bereits  vom  Englischen  weiß,  desto  mehr 
wird  sie  ihm  sagen. 

Berlin.  A.  B  r  an  d  1. 


100  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Anton  Marty,  Gesammelte  Schriften,  herausgegeben  von  Josef 
Eisenmeier,  Alfred  Kastil,  Oskar  Kraus.  1.  Band,  1.  Abtei- 
lung. Mit  einem  Lebensabriß  und  einem  Bildnis.  Halle 
a.  d.  S.,  Niemeyer,  1916.  IX,  329  S.  —  1.  Band,  2.  Abteilung. 
Schriften  zur  genetischen  Sprachphilosophie.  1916.  IX,  329  S. 
—  2.  Band.  1.  Abteilung.  Schriften  zur  deskriptiven  Psycho- 
logie und  Sprachphilosophie.    1918.    XXI,  364  S. 

Ist  eine  Betrachtung  des  Gedankens,  unabhängig  von  seinem  sprachlichen 
Ausdruck,  möglich?  Marty  beantwortet  die  Frage  in  bejahendem  Sinne. 
Nach  ihm  gibt  es  ein  Denken  des  Begriffsinhaltes  vor  und  neben  dem  sym- 
bolischen Denken,  dem  Denken  dies  stellvertretenden  Zeichens.  Diese 
Stellungnahme  grenzt  die  Gebiete  der  Logik  und  der  Grammatik  deutlicher 
ab,  als  es  bis  jetzt  geschehen  ist,  und  gibt  auch  dem  Philologen  zu  denken, 
der  lernen  muß,  sein  eigenes  Gebiet  der  Ausdruckslehre  von  dem  Gebiet  der 
Urteilslehre  zu  trennen  und  der,  wenn  er  diesa  Trennung  scharf  durch- 
geführt hat,  manchen  Erscheinungen  des  Sprachlebens  gerechter  werden 
wird.  Verschiedene  Form  bedeutet  noch  lange  nicht  verschiedenes  Denken. 
Martys  Schriften  gehen  mit  besonderer  Vorliebe  derartigen  Fragen  nach, 
und  so  wird  auch  der  Philologe  die  Herausgabe  seiner  Gesammelten  Schrif- 
ten mit  Freuden  begrüßen. 

Die  erste  Abteilung  des  ersten  Bandes  enthält  ein  Verzeichnis 
der  von  Marty  veröffentlichten  Schriften  in  zeitlicher  Reihenfolge  —  e.s 
sind  deren  29  — ,  von  denen  neun  in  dieser  Abteilung  abgedruckt  werden, 
die  aber  für  uns  weniger  Interesse^  haben.  Vorausgeschickt  wird  von  Oskar 
Kraus  eine  lebensgeschichtliche  Einleitung,  die  uns  in  liebevoller  Weise 
ein  Bild  dieses  mutigen,  scharfsinnigen  Denkers  entwirft,  der  als  Mensch 
so  aufrichtig  und  so  schlicht  war  und  der  sein  körperliches  Leiden  und 
seine  schwermütige  Veranlagung  in  harter  wissenschaftlicher  Arbeit  zu 
tberwinden  suchte.  Einen  eigenartigen  Lebensweg  ist  er  gegangen.  Ge- 
boren 1847  in  dem  trauten  Städtchen  Schwyz,  in  der  Stiftsschule  zu  Ein- 
siedeln erzogen,  am  Seminar  in  Mainz  weiter  ausgebildet,  empfing  er  die 
Priesterweihe,  las  im  Herbst  1870  zum  erstenmal  die  Messe  und  wirkte  zu 
gleicher  Zeit  am  Schwyzer  Lyzeum  als  Professor  der  Philosophie;  denn 
schon  früh  hatte  er  sich  mit  Philosophie  beschäftigt  und  sich  von  dem 
Priester-Professor  Brentano  in  Würzburg  angezogen  gefühlt,  der  ausschlag- 
gebend anf  ihn  wirken  sollte.  Als  Brentano  1873  seine  Professur  nieder- 
legte, weil  er  aufhörte,  gläubiger  Katholik  zu  sein,  wurde  Marty  tief  er- 
schüttert, und  derselbe  Wandel  vollzog  sich  auch  in  ihm.  Er  promoviert  in 
Göttingen,  1875  ist  er  schon  Professor  in  Czernowitz,  1880  erfolgt  seine 
Berufung  nach  Prag,  wo  er  bis  zu  seinem  Tode  1914  lebte.  Wien  war  ihm 
versagt;  seine  Berufung  dorthin  scheiterte  an  seiner  Vergangenheit.  Seine 
Heimat,  an  der  er,  wie  jeder  Schweizer,  mit  aller  Liebe  hing,  hatte  er  schon 
viele,  viele  Jahre  nicht  mehr  gesehen. 

Tn  gedrängter  Form  gibt  uns  Kraus  eine  meisterhaft  klare  Übersicht  der 
Werke  und  Schriften  Martys. 

Die  zweite  Abteilung  des  ersten  Bandes  enthält  a-ls  Nr.  X  die 
.304    Seiten    umfassende    Abhandlung :     'Über    Sprachreflex,    Nati- 

1  Die  drei  polemischen  Artikel  über  den  Farbensinn  (Nr.  VII— IX) 
setzen  Bekanntschaft  mit  seinem  Buche  'Die  Frage  nach  der  geschichtlichen 
Entwicklung  des  Farbensinnes'  (Wien  1877)  voraus.  Es  schneidet  ein 
Problem  an'^  das  den  Literarhistoriker  interessiert.  Waren  die  Zeitgenossen 
des  Homer  blau-  oder  grünblind,  weil  Homer  dieselben  Worte  für  diese 
zwei  verschiedenen  Farben  brauchte? 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  101 

vis  m  US  und  absichtliche  Sprach  bildung'  (1884).  Hier  rollt 
er  noch  einmal  die  ganze  Frage  auf,  die  er  in  seinem  Buche  über  den 
'Ursprung  der  Sprache'  1875  schon  behandelt  hatte.  Er  wandte  sich  gegen 
die  von  ihm  so  benannte  nativistische  Theorie  des  Sprachursprungs. 
W.  V.  Humboldt  hatte  die  Sprache  als  eine  unbewußte  Emanation  des 
Geistes  erklärt.  Steinthal,  Lazarus,  M.  Müller  und  Wundt  brachten  die 
Sprache  unter  die  Gattung  der  Reflexbewegungen.  Marty  schloß  sich  den 
Empirikern  wie  Bleek,  Whytney,  Tylor,  Geiger  und  Madvig  an,  die  die 
Sprache  aus  dem  Trieb  und  Verlangen  nach  Mitteilung  erklärten,  obschon 
er  sich  vor  allem  in  der  Methode  von  ihnen  unterschied.  Absichtliche,  aber 
planlose  Bildung  schuf  aus  nachahmenden  Bezeichnungsmittelu  den  großen 
Bau  der  Sprache.  Die  Zeichen  wählte  man  sich  nach  dem  Prinzip  der  Ähn- 
lichkeit oder  der  Assoziation,  wobei  die  Assoziationsvorstellung  eine  Hilfs- 
vorstellung war,  die  auf  die  eigentliche  Bedeutung  hinweisen  sollt«;  sie  war 
selbst  nur  ein  Zeichen,  das  Etymon  oder,  wie  es  Humboldt  genannt  hatte, 
die  innere  S  p  r  a  c  h  f  o  r  m.  ('Wau-wau'  weckt  die  Vorstellung  des 
Bellens,  die  aber  dazu  dienen  soll,  die  Vorstellung  des  Hundes  zu  bezeichnen. 
Das  Bellen  ist  das  Etymon,  die  innere  Form.) 

Das  Problem  der  inneren  Form  hat  Marty  immer  wieder  beschäftigt,  und 
es  spielt  in  seiner  Abhandlung  über  die  subjektlosen  Sätze,  auf  die  wir 
nachher  eingehen  wollen,  eine  große  Holle.  Auch  sein  großes  Hauptwerk 
'Untersuchungen  zur  Grundlegung  der  allgemeinen  Grammatik  und  Sprach- 
philosophie' Band  I  (Halle  1908)  befaßt  sich  eingehend  mit  der  inneren 
Sprachform.  Dieses  große  Werk,  das  sich  die  neuere  Philologie  bereits  zu- 
nutze gemacht  hat,  wendet  sich  der  wichtigen  Aufgabe  einer  deskriptiven 
Semasiologie  zu,  wo  bei  der  Spaltung  von  Stoff  und  Form  die  sprachliche 
Form  als  äußere  und  innere  Sprachform  und  die  letztere  wiederum  als 
figürliche  und  konstruktive  unterschieden  wird. 

Die  lange  Abhandlung  über  Nativismus  usw.  setzt  sich  mit  Wundt 
und  auch  mit  dem  bekannten  Buche  Pauls,  'Prinzipien  der  Sprachgeschichte', 
auseinander. 

Die  erste  Abteilung  des  zweiten  Bandes  bringt  als  Nr.  XIII  die 
Abhandlung  'Über  subjektlose  Sätze  und  das  Verhältnis  der  Grammatik  zur 
Logik  und  Psychologie'  (erster  bis  dritter  Artikel  1884,  vierter  bis  siebenter 
Artikel  1894—1895)  und  als  Nr.  XIV  den  Aufsatz  'Über  die  Scheidung^ von 
grammatischem,  logischem  und  psychologischem  Subjekt  resp.  Prädikat'. 

Diese  letzte  Abhandlung  schlägt  vor,  statt  von  einem  grammatischen  von 
einem  scheinbaren  Subjekt  zu  reden  —  denn  der  Ausdruck  'grammati- 
sches Subjekt  resp.  Prädikat'  beruht  auf  einer  Übertragung  der  Bezeich- 
nung der  Teilgedanken  eines  Doppelurteils,  die  man  Subjekt  und  Prädikat 
nennt,  auf  den  sprachlichen  Ausdruck.  Marty  untersucht  die  Fälle,  die 
scheinbare  Subjekte  und  Prädikate  aufweisen.  (Wunschsätze  z.  B.  haben 
nicht  Subjekt  und  Prädikat,  weil  sie  Gemütstätigkeiten,  nicht  Urteile  aus- 
drücken; ebenso  erwecken  Existentialsätze  bloß  den  Anschein,  Subjekt  und 
Prädikat  zu  haben.)  Er  deckt  uns  aber  auch  Fälle  auf,  wo  Subjekt  und 
Prädikat  tatsächlich  gegeben  werden,  wo  das  eine  oder  andere  dieser  Ge- 
dankenelemente oder  beide  nicht  durch  diejenigen  sprachlichen  Ausdrücke 
repräsentiert  sind,  welche  durch  ihre  übliche  Form  und  Syntaxe  dies  prä- 
tendieren. Eine  Diskrepanz  also  zwischen  dem,  was  der  Bedeutung 
nach  Subjekt  und  Prädikat  ist,  und  dem,  was  der  üblichen  sprachlichen  Be- 
zeichnung nach  diesen  Schein  erweckt.  In  'Alle  Bäume  meines  Gartens 
sind  fruchtbar'  (d.  h.  'alle  A  sind  B')  ist  der  Prädikatsbegriff  'u  n  frucht- 
bar', d.  h.  etwas  anderes  als  das  Prädikatszeichen  uns  vortäuscht,  etwas 
Negatives,  nämlich  'n  i  c  h  t  -  B',  da  'alle'  eine  doppelte  Negation  in  sich 
schließt,  wovon  die  erste  zur  Kopula,  die  zweite  zum  Prädikatsbegriflf  ge- 
hört, d.  h.  die  Ausnahme  wird  geleugnet:  Es  gibt  in  meinem  Garten  Bäume; 


102  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

unter  ihnen  ist  nickt  ein  unfruchtbarer.  Das  'fruchtbar'  erweckt  eine 
Hilfsvorstellung,  von  der  man  zum  eigentlichen  Prädikat  'unfruchtbar' 
übergeht. 

Um  es  dem  Leser  zu  ermöglichen,  sich  in  Martys  Gedankengänge  einzu- 
fühlen, sei  es  gestattet,  die  Hauptpunkte  seiner  Abhandlung  über  die  s  u  b  - 
j  ektlosen  Sätze  wiederzugeben. 

Ausgangspunkt  dieser  langen  Untersuchung  war  M  i  k  1  o  s  i  c  h,  'Die 
Verba  Impersonalia  im  Slawischen',  K.  Akademie  der  Wissenschaften  in 
Wien,  Philosophisch-historische  Klasse,  Bd.  XIV,  199—244  (1865),  und 
'Subjektlose  Sätze',  Wien  1883.  Marty  durchgeht  alle  bisherigen  Erklä- 
rungen der  Impersonalia  und  zeigt,  wie  man  vergeblich  versucht  hat,  dem 
'Es'  ein  Subjekt  einzuverleiben.  Den  Ausweg,  solche  Es-Sätze  als  Existen- 
tialsätze  aufzufassen,  wobei  das  Prädikat  der  Existenz  und  das  Subjekt 
dem  Nomen  des  Verbes  gleichkommt  —  'es  sommert'  gleich  'Sommer  ist'  --, 
verwirft  er,  da  der  Existenzbegriff  nicht  ursprünglich  ist,  sondern  aus  der 
Betrachtung  des  Urteils  abstrahiert  ist.  Auch  der  Ausweg  'unvollstän- 
diges Urteil'  hilft  nicht.  Marty  tut  nun  den  Schritt,  daß  er  Sätze  zugibt, 
die  keine  Zusammensetzung  von  Begriffen  aussprechen  und  doch  Ausdruck 
eines  Urteils  sind.  Dies  ruft  einer  neuen  Definition  des  Urteils.  Ein  Ur- 
teil ist  Anerkennung  oder  Verwerfung  eines  vorgestellten  Inhalts.  In 
kategorischen  Aussagen  (A  ist  B)  wie  in  existentialen  (A  ist)  wird  durch 
'ist'  der  Gegenstand  anerkannt,  durch  'ist  nicht'  verworfen,  und  zwar  beim 
Existentialsatz  explicite,  beim  kategorischen  Satze  implicite  (dadurch  daß 
ich  in  A  ist  B  dem  A  etwas  zuerkenne,  anerkenne  ich  implicite  auch' das  A). 
Die  Unterscheidung  von  Subjekt  und  Prädikat  (A  B)  ist  nicht  etwas  dem 
Urteil  Wesentliches.  Notwendige  Bestandteile  für  jede  Aussage  sind  nur: 
ein  Name,  welcher  eine  gewisse  Vorstellung  erweckt,  und  ein  Zeichen, 
welches  das  Vorgestellte  als  anzuerkennend  oder  verwerfend  kundgibt 
(A  ist).  Diese  Definition  umfaßt  die  existentiale  und  die  kategorische 
Formel.  Weil  aber  die  kategorische  Redeweise  bei  uns  überwiegt,  hat  man 
behauptet,  jedes  Urteil  verbinde  zwei  Begriffe  als  Subjekt  und  Prädikat. 
Wenn  also  beim  Impersonale  'Es  regnet'  kein  Subjekt  nachgewiesen  ist,  so 
hindert  das  nicht,  daß  es  ein  wahrhaftes  Urteil  ist.  Eine  nicht  in  Subjekt 
und  Prädikat  gegliederte  Materie  wird  anerkannt. 

Es  gibt  kategorische  Aussagen,  die  nur  scheinbar  Subjekt  und 
Prädikat  enthalten.  Dieser  Schein  ist  Sache  des  sprachlichen  Ausdrucks. 
Aus  wahrhaft  kategorischen  entstanden  scheinbar  kategorische 
Aussagen. 

Alles,  was  in  kategorischer  Form  ausgesprochen  wird,  läßt  auch  eine  ein- 
fachere Form  des  Ausdrucks  zu,  die  existentiale,  wo  kein  eigentliches 
Subjekt  und  Prädikat  vorliegt..  'Jeder  Schuldige  ist  unglücklich'  :z=  'Es 
gibt  keinen  nicht  unglücklichen  Schuldigen'.  Nun  ist  aber  der  Unterschied 
zwischen  der  kategorischen  und  der  entsprechenden  existentialen  Aus- 
drucksformel nicht  nur  lautlich  äußerlich,  sondern  auch  innerlich.  Woher 
kommt  nun  dieser  innere  Unterschied?  Hier  wirken  gewisse  begleitende, 
dem  ästhetischen  Vergnügen  oder  dem  weiteren  Verständnis  dienende  Neben- 
vorstellungen, die  zu  der  die  Bedeutung  des  Namens  ausmachenden  hinzu- 
treten, die  W.  V.  Humboldt  als  die  innere  Sprachform  bezeichnet 
hat.  Sie  dient  als  Assoziationsband  zwischen  dem  äußerlich  wahrnehm- 
baren Zeichen  und  seiner  Bedeutung,  seinem  psychischen  Inhalt,  der  im 
Hörer  herbeigeführt  werden  soll.  Sie  ist  ein  Hilfsmittel,  das  den  Begriff 
des  psychischen  Zustaudes,  der  die  Bedeutung  des  Namens  bildet,  erwecken 
soll,  ohne  die  Bedeutung  selber  zu  sein,  eine  Mitbedeutung  im  weitesten 
Sinne  des  Wortes  —  also  nicht  nur  eine  Metapher,  sondern  ebenso  eine 
sprachliche  Form  oder  Anordnung,  in  ihrer  Funktion  ähnliche  Zwecke  wie 
die  Metapher  verfolgend.     Es  kann  also  in  'es  regnet'  als  'innere  Form'  die 


i 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  103 

\'or Stellung  eines  tätigen  Subjekts  nebenher  gehen.  Die  'innere  Form' 
faßt  hier  anders  auf  als  die  Logik.  Deshalb  hat  es  seine  guten  Gründe,  war- 
um man  einfache  An-  und  Aberkennungen  nicht  bloß  im  einfachen  Existen- 
tialsatz,  sondern  auch  in  der  kategorischen  Formel  ausdrückt. 

Diese  kategorische  oder  zweigliedrige  Aussageform  ist  entstan- 
den als  angemessener  Ausdruck  für  Doppelurteile.  Ein  solches  liegt  z.  B. 
vor  in:  Diese  Blume  ist  blau.  Schon  durch  'diese  Blume'  ist  die  Anerken- 
nung eines  Gegenstandes  gegeben.  Das  erste  Urteil  liegt  hier  vor.  Auf 
seiner  Basis  ist  eine  zweite  Anerkennung  gebaut,  welche  ohne  die  erste 
nicht  denkbar  wäre.  Dieses  zusammengesetzte  Urteil  läßt  die  Unterschei- 
dung eines  subjektischen  und  eines  prädizierenden  Teiles  oder  Teilurteils 
zu.  Es  liegen  nicht  zwei  Begriffe,  sondern  zwei  Urteile  vor,  wobei  aller- 
dings das  zweite  das  erste  involviert.  Ein  solches  Doppelurteil  kann  nicht 
durch  eine  Formel  wiedergegeben  werden,  die  einem  einfachen  Urteil 
entspricht.  'Diese  Blume  ist  blau'  ist  nicht:  'es  existiert  eine  blaue 
Blume'.  Der  zweite  Satz  enthält  ein  zusammengesetztes  Begriffsgebilde 
(blaue  Blume),  das  erst  sekundär  in  Keflexion  auf  das  Urteil  des  ersten 
Satzes  gebildet  wurde.  (Doppelurteile  liegen  immer  vor  bei  Personal-  und 
Demonstrativpronomen  als  Subjekt  —  auch  bei  Städtenamen:  Prag  r=  das 
Prag  genannte.)  Statt  zweier  affirmativer  Urteile  können  auch  eine  An- 
erkennung und  eine  Verwerfung  miteinaider  verbunden  sein:  Alle  Apostel 
sind  Juden  =  Keiner  der  Apostel  ist  ein  NichtJude,  d.  h.  Es  gibt  Apostel. 
Unter  ihnen  ist  keiner  ein  NichtJude  ('Alle'  involviert  eine  doppelte  Ne- 
gation, s.  oben). 

Die  zusammengesetzte  Natur  der  Gegenstände  brachte  den  Menschen  auf 
das  Doppelurteil.  Sobald  er  an  einem  Gegenstand  irgendeinen  neuen  Teil 
entdeckt,  bildet  er  ein  Doppelurteil.  Dazu  liegt  für  ihn  häufiger  ein  Anlaß 
vor  als  zum  bloßen  Anerkennen  und  Verwerfen.  Dieser  Anlaß  tritt  ein, 
sobald  er  einen  Gegenstand  analysiert,  d.  h.  die  Teile  auf  das  Ganze  bezieht. 
Hat  er  auf  Grund  solcher  Doppelurteile  prädikative  Urteilssynthesen  ge- 
wonnen, so  reflektiert  er  auf  sie  und  gelangt  zu  Vorstellungssynthesen. 
'Dieses  Rote  ist  rund'  (Doppelurteil),  woraus  wird:  'Rundes-Rotes'  (Vor- 
stellungssynthese) . 

Bei  der  erdrückenden  Häufigkeit  der  Doppelurteile  gewann  der  für  sie 
ausgebildete  sprachliche  Ausdruck,  die  kategorische  Formel,  das  Über- 
gewicht über  jede  andere  Form  der  Urteilsäußerung  und  wurde  zum  eigent- 
lichen Typus  unserer  Aussagen. 

Man  hat  schon  oft  die  Idee  von  Ding  und  inhärierender 
Eigenschaft  als  Wesen  der  kategorischen  Aussageformel  hingestellt. 
Dies  beruhte  aber  auf  einer  Überschätzung  oder  falschen  Einschätzung  einer 
oft  nebenherlaufenden  Bedeutung  —  eben  der  inneren  Form  — ,  die 
fälschlich  als  Kern  der  Aussage  betrachtet  wurde.  Die  nackte  Formel 
A  ist  B  hat  natürlich  keine  innere  Form,  und  die  Gefahr,  in  ihr  eine 
Nebenbedeutung  neben  der  Hauptbedeutung  zu  sehen,  ist  nicht  vorhanden. 
Be'  keinem  Menschen  könnte  hier  die  Vorstellung  der  Inhärenz  aufkommen. 
Hier  wird  einfach  dem  A  zuerkannt.  Anders  steht  es  mit  dem  bedeu- 
tungsvollen Satz:  'Röte  ist  eine  Farbe'.  Hier  inhäriert  'Röte'  den  Begriff 
'Farbe'. 

Man  kann  daher  sagen :  AlsinnereForm  haftet  die  Dingvorstellung 
und  die  Vorstellung  einer  ihr  anhaftenden  Eigenschaft,  Tuns  oder  Leidens 
unseren  kategorischen  Sätzen  an,  während  sie  das  kategori- 
sche Urteil  als  solches  nicht  notwendig  angeht.  Am  liebsten  nehmen 
wir  denjenigen  Begriff  ins  Subjekt  auf,  der  ein  Ganzes  auffaßt,  und  machen 
eine  neu  erfaßte,  bisher  unbekannte  Bestimmung  zum  Inhalt  seines  Prädi- 
kats. Nun  überwiegt  gewöhnlich  das  Verhältnis  von  Ding  und  Eigenschaft 
derart,    daß    für    uns    das   Ding,    die    Substanz,    meistens    als    Subjekt, 


104  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

das  Akzidens  als  Prädikat  auftritt.  Der  Subjekts  n  am  e  rückt 
deshalb  das  von  ihm  bezeichnete  jedesmal  unter  das  sprachliche  Bild  einer 
Substanz. 

Ebenso  wird  die  Eigenschaft  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  zum 
Typus  des  Prädikats,  vor  allen  Dingen  die  Relation  des  Tuns  und  Lei- 
dens, die  wir  bei  psychischen  und  unbeseelten  Wesen  —  oft  in  poetischer 
Auffassung  —  wahrzunehmen  glauben,  wodurch  sich  für  uns  die  stehende 
Form  von  Aktiv  und  Passiv  schuf,  so  daß  das  Verbum  finitum  zum  notwen- 
digen Element  jedes  Prädikats  wurde.  Die  grammatischen  Kategorien,  die 
sich  das  häufige  Verhältnis  von  Ding  und  inhärierendem  Tun  und  Leiden 
geschaffen  hatte,  übertrugen  sich  irrigerweise  auch  auf  Prädikationen,  in 
denen  dieses  Verhältnis  fehlte,  und  was  dort  logisch  geforderte  richtige  Vor- 
stellung war,  sank  hier  zur  inneren  Sprachform  herab  —  die 
Erinnerung  an  Ding  und  Eigenschaft  verblieb,  so  daß  der  Grammatiker 
hinter  jedem  Subjekts-  und  Prädikatsverhältnis  das  reale  Verhältnis  von 
Substanz  und  Inhärenz  witterte,  während  dies  Verhältnis  nur  symbolisch 
bestand. 

Ähnlich  ist  auch  das  Prädiziertwerden  selber  einer  Bestimmung 
von  einer  anderen  oft  nur  Bild  und  nicht  Bedeutung  gewisser  Sätze. 
Es  gibt  pseudokategorische  Aussagen,  die  einfache  Urteile  ausdrücken  -• 
sie  prädizieren  nur  bildlich,  der  inneren  Form  nach  — :  'Alle  Dreiecke 
haben  zur  Winkelsumme  zwei  Eechte',  wa~s  ein  einfaches  negatives  Urteil  in 
scheinbar  kategorischer  Form  ist:  'Es  gibt  nicht  ein  Dreieck,  das  nicht 
zwei  Rechte  zur  Winkelsumme  hätte'.  Oder  man  nehme  die  folgende  ein- 
fache Anerkennung:  'Einige  Waldbäume  sind  Koniferen',  wodurch  bloß 
die  Existenz  wirklicher  Koniferenwaldbäume  anerkannt  wird.  Der  Aus- 
druck dieser  einfachen  Urteile  ist  einem  kategorischen  Satze  täuschend  ähn- 
lich, und  zwar  nicht  nur  der  äußeren,  sondern  auch  der  inneren  Form 
nach.  Wir  haben  beim  Aussprechen  symbolisch  oder  bildlich  die  Vorstel- 
lung des  Prädiziertwerdens  einer  Bestimmung  von  einer  anderen  anerkann- 
ten. Zuerkennen  und  Absprechen  war  häufiger  als  einfaches  Anerkennen 
oder  Verwerfen,  und  deshalb  wurden  auch  die  Urteile  letzterer  Art  in  der 
Form  der  ersteren  —  mit  ihrer  syntaktischen  Gliederung  Subjekt-Prädikat 
—  ausgedrückt. 

Die  Übertragung  der  kategorischen  Syntaxe  auf  einfache  Anerkennung 
dient  in  hohem  Maße  dazu,  in  angenehmer  Weise  die  Aufmerksamkeit  zu- 
nächst auf  die  Substanz  zu  lenken  und  von  dort  auf  das  Attribut.  'Einige 
Blumen  sind  gelb'  fordert  auf,  sich  zuerst  unter  den  Blumen  umzusehen  und 
darunter  gelbe  wahrzunehmen.  ('Es  gibt  gelbe  Blumen'  tut  das  nicht.)  Da- 
her ergibt  sich  auch  so  leicht  die  Täuschung,  es  sei  hier  nicht  nur  äußerlich 
und  innerlich  die  Form  von  Subjekt  und  Prädikat,  sondern  auch  wirk- 
liche Zu-  oder  Absprechung  einer  weiteren  Bestimmung  an  etwas  bereits 
Anerkanntes   vorhanden. 

Bei  'Es  regnet'  ist  die  Entfremdung  zwischen  Aussageform  und  Bedeu- 
tung noch  viel  weiter  gediehen.  Hier  liegt  keine  prädikative  Vorstellung 
zugrunde.  Der  Schein  der  Kategorie  entsteht,  indem  ein  Verbum  finitum 
in  der  3.  Person  Singularis  die  Täuschung  erweckt,  als  ob  es  ein  pronomi- 
sches Subjekt  und  ein  verbales  Prädikat  involviere,  während  es  bloß  den 
Namen  eines  Vorganges  nebst  dem  Zeichen  der  Anerkennung  oder  Verwer- 
fung involviert  (es  regnet).  Bei  'Gott  ist'  ruft  ein  scheinbar  bedeutungs- 
volles Verbum,  das  in  Wahrheit  zu  einem  Zeichen  der  Anerken- 
nung resp.  Verwerfung  herabgesunken  ist,  den  Anschein 
hervor,  als  ob  es  als  Prädikatsname  zu  einem  Subjekt  hinzukomme.  Unser 
'bin,  ist,  gewesen'  ist  wohl  aus  einem  wirklichen  Prädikatsbegriff  wie 
Stehjen,  Sitzen,  Wachsen  usw.  hervorgegangen,  dann  zur  Bedeutung  des 
bloßen    Seins    im    Sinne   des   Anerkannt  wer  denkönnens   verblaßt. 


f 


Boiirteihingen  und  kurze  Anzeigen  105 

Neben  die  pseudokategorischen  Sätze,  die  thetische  (d.  h.  einfache)  Ur- 
teile in  ungewöhnlicher  Form  ausdrücken,  stellen  sich  gewisse  dis- 
junktive und  hypothetische  Sätze.  'Entweder  gibt  es  einsichtige 
Urteile,  oder  es  gibt  keine  Wissenschaft'  —  'Wenn  es  keine  Evidenz  gibt,  so 
gibt  es  keine  Wissenschaft'.  Hier  stehen  wir  vor  einer  einfachen  Anerken- 
nung^ resp.  Verwerfung^,  und  nur  in  der  Materie  liegt  eine  Komplikation  vor 
gegenüber  einfachen  Urteilen  wie  'Es  gibt  evidente  Urteile'.  Diese  disjunk- 
tiven und  hypothetischen  Sätze  —  wobei  ein  Urteil  über  eine  disjunk- 
tive Materie  stets  affirmativ,  ein  Urteil  über  eine  hypothetische 
Materie  stets  negativ  ist  —  haben  weder  logisches  Subjekt  noch  Prädi- 
kat und  sind  wie  die  Impersonalien  usw.  subj  ektlos. 

Einigen  wir  uns  dahin,  daß  wir  sagen:  1.  Impersonalien,  Existential- 
und  kategoroi'de  Sätze  sind  thetische  Aussagen  mit  pseudo- 
kategorischer Form  —  2.  Subjektlose,  disjunktive  und  hypothetische 
Sätze  sind  thetische  Aussagen  mit  konjunktiona  1er  Form 
(d.  h.  hier  ist  der  anerkennende  oder  verwerfende  Charakter  nicht  durch  den 
Schein  des  Zu-  und  Aberkennens,  sondern  durch  eine  eigentümliche  Kon- 
junktion der  Satzglieder  ausgedrückt).  Unbeschränkte  Anwendung  hat  der 
Existentialsatz,  der  für  den  Inhalt  jedes  kategoroiden  und  impersonalen 
Satzes,  für  jedes  in  einer  disjunktiven  oder  hypothetiscben  Aussage  liegende 
Urteil  den  Ausdruck  geben  kann.  Das  engste  Anwendungsgebiet  hat  die 
impersonale  Formel,  die  im  Deutschen  besonders  stark  vertreten  ist.  Sache 
des  Grammatikers  ist  es,  festzustellen,  welche  Sprache  diese,  welche  andere 
Sprache  die  andere  Form  anwendet. 

Was  hat  der  Philologe  von  diesen  sprachphilosophischen  Betrachtungen 
zu  lernen?  Gewiß  sehr  vieles,  wenn  ihm  ein  voll  ausgebautes  System  der 
Urteilslehre  vorläge.  Hier  haben  wir  es  mit  einem  ganzen  Werke  über  die 
subjektlosen  Sätze  zu  tun.  Eine  Urteilslehre  würde  eine  ganze  Bibliothek 
umfassen,  und  ans  dieser  Bibliothek  ließe  sich  mancherlei  herausdestillieren, 
was  für  den  Sprachforscher  Betätigung  verheißt.  Dabei  wird  er  sich  aber 
nicht  auf  eine  Sprache  oder  eine  Sprachgruppe  beschränken  dürfen,  sondern 
er  wird  über  den  Kreis  der  europäischen  Sprachen  hinausgehen  müssen, 
um  hier  Übereinstimmung,  dort  Diskrepanz  zwischen  Urteil  und  Aussage 
feststellen  zu  können.  Marty  muß  das  auch  tun,  um  mit  ein  paar  spär- 
lichen Beispielen  aufwarten  zu  können.^  Er  greift  zu  Misteiis  bekanntem 
Buche  'Typen  des  Sprachbaues'.  Gelegenheit  zur  Anwendung  der  Marty- 
schen  Ergebnisse  hat  noch  am  ehesten  der  Dialektforscher,  der  beobachten 
kann,  wie  der  Trieb  nach  Mitteilung  die  Möglichkeiten  der  'inneren  Sprach- 
form' bewußt,  aber  planlos  ausbeutet.  Vorsicht  gebieten  dem  Sprachforscher 
die  Uneinigkeiten  unter  den  Sprachphilosophen.  Der  eine  oder  andere 
Philologe  hat  schon  versucht,  sich  Wundts  Führung  anzuvertrauen.  Marty 
aber  widerlegt  so  oft  —  vielleicht  mit  Recht  —  den  berühmten  Leipziger 
Psychologen.  Wir  aber  fragen  doch :  Wo  liegt  die  Wahrheit?  Am  Ende  ist 
das  Beste,  was  uns  Marty  hinterlassen  hat,  seine  feine,  gesunde  Methode. 
Der  Philologe  wird  sie  anwenden,  um  das  Brauchbare  sich  selber  zu 
schmieden.* 

z.   Z.  Basel.  Bernhard  F  e  h  r. 

1  Sowohl  A  als  B  sind. 

^  Die  Existenz  von  A  ohne  die  Existenz   von  B   ist  nicht. 

*  Wie  oft  seufzt  man  über  Martys  abstrakten  Ausführungen,  wo  ein  ein- 
ziges Beispiel  erlösend  wirken   würde! 

*  Wie  weit  Martys  sprachphilosophische  von  der  philologischen  Erörte- 
rung abweicht,  zeigt  ein  Vergleich  der  Martyschen  Abhandlung  über  die 
subjektlosen  Sätze  mit  K.  Brugmanns  lichtvoller  Arbeit:  'Der  Ur- 
sprung   des    Seh  ein  Subjekts    "es"    in    den    germanischen    und    romani.schen 


106  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Alice  Weil,  Die  Sprache  des  Gilles  de  Chin  von  Gauthier  de  Tour- 
nay  (Laut-  und  Flexionslelire) .  Dissertation.  Heidelberg 
1916.    124  S.  8^ 

Das  wichtige  Buch  von  Canaille  Li6geois  über  'Gilles  de  Chin,  l'histoire 
et  la  lögende' 1  hat  Fräulein  Alice  Weil  leider  nicht  gekannt  und  natürlich 
auch  nicht  seine  Besprechungen.  Infolgedessen  ist  ihr  Urteil  über  die  Ver- 
fasser- und  die  Zeitfrage  willkürlich  und  unsicher.  Während  Liögeois  die 
'Histoire  de  Gilles  de  Chin'  für  ein  einheitliches  Werk  hält,  nur  daß  Gautier 
de  Tournay  für  die  Darstellung  der  Kreuzfahrt  des  Helden  ein  älteres  und 
kürzeres  Gedicht  von  Gautier  le  Cordier  benutzte  und  überarbeitete,  haben 
J.  Pirson,  Zts.  f.  frz.  Sprache  u.  Lit.  27  II  40  ff.  und  ich  selbst  in  diesem 
Archiv  CXIII  447  ff.  übereinstimmend,  obschon  mit  verschiedenartigen 
Gründen,  nachzuweisen  gesucht,  daß  nach  V.  4903  eine  wirkliche  Kluft  ist 
und  ein  neuer  Mann  eine  neue  Darstellung  beginnt.^  Noch  weiter  ist  Ernest 
Langlois,  Bibl.  de  l'ficole  des  Chartes  LXV  (1904)  203  ff.  gegangen:  nach 
ihm  sind  die  Verse  4904 — 5487  von  einem  Unbekannten  interpoliert,  die 
letzten  Verse  5488 — 5543  gehören  wieder  dem  Verfasser  der  Verse  1 — 4903;^ 
dieser,  der  eigentliche  Dichter,  nennt  sich  selbst  V.  5528  und  5538  Gautiers 
de  Tornai,  wird  aber  von  dem  Interpolator  V.  4904  Gautiers  li  Cordiers 
genannt  und  ist  somit  ein  Gautier  le  Cordier  aus  Tournay.  Die  Ansicht 
des  französischen  Gelehrten  halte  ich  jetzt  für  unbedingt  richtig.  Auch 
Frl.  W.  neigt,  wie  sie  in  ihrer  ziemlich  flüchtigen  Einleitung*  gesteht,  der 
Annahme  von  zwei  Teilen  und  zwei  Verfassern  zu,  zieht  aber  nicht  die 
selbstverständliche  Folgerung,  daß  sie  die  beiden  bei  der  Untersuchung  der 


Sprachen'  (Berichte  über  die  Verhandlungen  der  Kgl.  sächs.  Ges.  der  Wissen- 
schaften zu  Leipzig,  phil.-hist.  Kl.,  Bd.  69,  Heft  5,  1917). 

Es  wird  von  beiden  Gelehrten  mehrfach  das  gleiche  vorgetragen,  aber 
in  zwei  ganz  verschiedenen  Zunftsprachen  —  verschiedene  Form  bedeutet 
noch  lange  nicht  verschiedenes  Denken!  — ,  wobei  allerdings  Brugmanns 
Idiom  uns  das  verständlichere  ist.  (Vgl.  besonders  Brugmann  S.  8  und 
24 — 25.)  Die  H  i  n  z  u  t  r  e  t  u  n  g  des  'es'  bei  den  Impersonalien  —  und 
um  eine  solche  handelt  es  sich  im  Germanischen  und  Romanischen;  denn 
einem  'es  regnet'  steht  im  Gotischen  noch  ein  rigneip  (ahd.  regenöt)  gegen- 
über —  entspricht  auch  nach  Brugmann  der  Befriedigung  nicht  eines 
semantischen,  sondern  eines  formal  syntaktischen  Bedürfnisses  (Martys 
'innere  [syntaktische]  Form'!).  Das  'es'  in  'es  regnet'  ist  —  sagt  Brug- 
mann —  ganz  undeiktisch.  (Marty  sagt:  Hier  involviert  'es  regnet' 
nicht  pronominales  Subjekt  und  Verbalprädikat,  sondern  bloß  den  Namen 
eines  Vorgangs  nebst  dem  Zeichen  der  Anerkennung) .  —  Martys  Erkenntnis  : 
'Verschiedene  Form  bedeutet  noch  lange  nicht  verschiedenes  Denken'  steht 
bei  Brugmann  als  hübsches  Gegenstück  zur  Seite:  'Gleiche  Form  bedeutet 
noch  lange  nicht  gleiches  Denken'  mit  dem  schönen  Beispiel:  Es  brennt: 
1.  auf  der  Straße  gerufen,  mit  undeiktischem  'es'  (nach  Marty:  An- 
erkennung eines  Vorgangs  in  pseudokategorischer  Form) ;  2.  im  Zimmer 
gesprochen,  im  Hinblick  auf  das  Ofenfeuer  mit  außendeiktischem 
'es'  (Marty  würde  sagen:  kategorisches  oder  Doppelurteil  und  damit  sich 
deckende  kategorische  Syntaxe). 

1  Universite  de  Louvain.  Recueil  de  travaux  publi6s  par  les  membres 
des  Conferences  d'histoire  et  de  philologie,  lle  fasc,  Louvain-Paris   1903. 

2  Ph.  Aug.  Becker,  Literatiirblatt  1904,  109  ff.  hat  die  Grenze  anders 
gezogen,  mich  aber  keineswegs   überzeugt. 

"      3  Langlois  meint  übrigens   S.  208,  man  müsse  auch   in  Gautiers   Anteil 
mit   der  Möglichkeit  unbedeutender  Interpolationen   rechnen. 
«  S.  7  verwechselt  sie  sogar  Gröber  mit  H.  Suchier! 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  107 

Sprache,  und  wäre  es  auch  nur  zur  Probe,  auseinanderhalten  müßte  —  und 
sie  kann  es  auch  ohne  auffallende  Widersprüche  unterlassen.  Der  Unter- 
schied ist  eben,  soweit  die  Laut-  und  Formenlehre  in  Betracht  kommt,  ganz 
gering;  er  zeigt  sich  aber  in  der  Stilistik  und  der  Reimtechnik  wie  in  der 
Auffassung  und  Darstellung.  Die  Herkunft  Gautiers  ist  durch  seinen 
Namen  gegeben,  und  auch  der  Interpolator  stammt  zweifellos  aus  derselben 
Gegend.  Als  Abfassungszeit  bezeichnet  Frl.  W.  mit  dem  Pierausgeber,  dem 
Baron  de  Heiffenberg,i  das  Ende  des  13.  oder  den  Anfang  des  14.  Jahr- 
hunderts. Das  ist  viel  zu  spät.  Ich  habe  hier  ausgesprochen  (S.  451),  daß 
Gautier  le  Cordier  etwa  im  letzten  Jahrzehnt  des  12.  Jahrhunderts  gewirkt 
habe,  der  Interpolator,  wie  ich  heute  sagen  würde,  gewiß  noch  im  ersten 
Drittel  des  folgenden.  Von  dieser  Datierung  abzugehen  habe  ich  keinen 
Grund;  im  Gegenteil,  ich  finde  sie  durch  die  Betrachtung  der  Sprache  und 
namentlich  der   Deklination   bestätigt. 

Mit  großem  Fleiße  hat  Frl.  W.  für  die  Untersuchung  ein  umfangreiches 
und  brauchbares  Material  herbeigeschafft.  Die  richtige  Beurteilung  wird 
freilich  durch  mehrere  Mängel  erschwert.  Zunächst  durch  jene  Gleichgültig- 
keit gegen  die  Verfasserfrage.  Sodann  steht  sie  der  veralteten  Ausgabe, 
die  auf  Schritt  und  Tritt  zu  Besserungen  auffordert,^  nicht  kritisch  genug 
gegenüber.  Endlich  nützt  es  wenig,  daß  sie  sich,  theoretisch  klarmacht,  daß 
die  späte  Hs.  (1571)  die  Sprachformen  des  Originals  unvollkommen  wieder- 
gibt: sie  hätte  schärfer  zwischen  Schreiber  und  Dichter  unterscheiden  und 
zu  dem  Zweck  die  Reime  und  die  Ergebnisse  der  Silbenzählung  mehr  heraus- 
stellen sollen.  Man  wird  gleich  sehen,  daß  die  Sprache  bei  ihr  in  einigen 
Punkten  geradezu  jünger  erscheint,  als  sie  in  Wirklichkeit  ist. 

Nun  eine  Reihe  einzelner  Bemerkungen.  (Ich  bezeichne  hierbei  das  inter- 
polierte Stück  mit  J.)  S.  12  ff.  Die  Verfasserin  beginnt  mit  einem  kurzen 
Abschnitt  'Metrik',  der  von  Reim  und  Silbenzählung  handelt  und  besser  mit 
den  späteren  §§  38  und  39  'Vokale  in  Hiatusstellung'  verschmolzen  worden 
wäre,  aroute :  some  3363  ist  keine  Assonanz;  die  Ausgabe  hat  richtig 
aroute  :  sonne.  Unter  den  mit  sich  selbst  reimenden  Wörtern  durfte  nicht 
roi  2547  genannt  werden ;  denn  nur  das  erste  roi  kommt  von  regem,  das 
zweite  von  germ.  r  e  d  s  ;  1.  garir  ne  sevent  roi.  Die  Liste  der  Verse,  die  um 
eine  Silbe  zu  kurz  sind,  ließe  sich  stark  vermehren,  und  die  vorgeschla- 
genen Besserungen  sind  nicht  alle  glücklich.  V.  1830  1.  Mais  Gilles  de  Cyn 
nequedent  (Hs.  quident),  Son  oirre  atorne,  1858  Ensi  que  anuit  [ains)  le  de- 
maine,  3951  Si  n'avoifenjt  autre  desir,  4046  Molt  i  laiss[ier]ent  grant  tresor. 

Vokalismus.  S.  17.  Interessanter  als  die  Schreibung  escherpe  sind  mir 
esprds :  pres  5214  J,  die  offenbar  für  espers  (s  p  a  r  s  u  s)  und  pers  (partes^ 
stehen,  gaignons  2152  ist  das  Substantiv  'Hofhunde';  es  ist  also  kein  vor- 
toniges Hiatus-a  verstummt.  Ein  anderes  Beispiel  bringt  Frl.  W.  nicht. 
Man  könnte  aus  J  zweisilbiges  gaagniet  5475  anführen,  wird  aber  vorziehen, 


1  Monuments  pour  servir  ä  l'histoire  des  provinces  de  Namur,  de  Hai- 
naut  et  de  Luxembourg.  recueillis  et  publies  .  .  .  par  le  baron  de  Reiffen- 
berg,  t.  VII,   Bruxelles  1847. 

2  V.  925  ist  besonders  merkwürdig  und  komisch  entstellt.  Bei  einem 
Turnier  in  Maastricht  ist  auch  der  Graf  von  Jülich  erschienen.  Ainc  hom 
ne  Vit  si  hon  tornoi.  Li  quens  de  Julers  Adefroi  Assanle  a  iaus  o  sa  baniere. 
Tont  le  tornoi  remet  arriere  Dusqu'au  tnsquet  de  la  sapoie.  Hierzu  bemerkt 
Reiffenberg:  On  ne  sera  pas  surpris  qu'aucun  comte  r4el  de  Juliers  ne  se 
soit  appele  ainsi,  und  Liögeois,  der  S.  26  mit  gutem  Recht  ausführt,  daß  die 
meisten  Nebenpersonen  sich  nicht  identifizieren  lassen,  weil  der  Dichter  über 
sie  keine  bestimmten  historischen  Kenntnisse  habe,  benutzt  triumphierend 
diese  Stelle,  um  die  ignorance  des  Ärmsten  festzunageln.  Es  unterliegt  aber 
keinem   Zweifel,  daß  einfach  a  desroi  zu  lesen  ist. 


108  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

zu  lesen  Qtii  gaagniet  ot,  sü  (statt  si  Ic)  tint  chier  Li  dus.  —  Der  §  2 
'Palatal  +  a'  ist  zu  kurz.  Nachträge  stehen  unter  -ier  S.  91,  -iez  S.  105, 
-i4  S.  114.  Gegen  S.  112  ist  auch  -ierent  zu  belegen  mit  noierent  2491  :  fie- 
rent.  Überhaupt  scheint  Bartsch'  Gesetz  durchaus  befolgt.  Ein  Gegenbeispiel, 
das  mir  aufstieß,  beruht  auf  falscher  Herstellung  von  V.  2272  a  grans  gres. 
Ains  que  li  m4s  soit  remis.  Die  Hs.  hat  angeblich  reunies;  1.  reniues.  — 
S.  19.  Der  Übergang  von  ai  zu  offenem  e  ist  nur  in  geschlossener  Silbe 
vor  s  nachzuweisen.  Zu  den  wenigen  Belegen  kommt  a  esUs  914  (gänzlich 
mißdeutet)  :  aqjvds  hinzu.  Daß  in  mmifcz,  litt  das  e  nicht  aus  ai  entstanden 
ist,  sollte  die  Verfasserin  wissen.  —  S.  23.  Dreisilbiges  taierme  3605  für 
terme,  angeblich  das  einzige  Beispiel  für  Diphthongierung  von  gedecktem 
offenem  e,  ist  kaum  möglich;  schon  der  Sinn  verlangt  an  der  Stelle  fors  a 
tierme.  Wenn  die  Erhaltung  des  vortonigen  e  von  merite,  menestreil  usw. 
berichtet  wird,  an  der  niemand  zweifelt,  war  ein  Wort  über  vrai  für  verai 
erst  recht  angebracht.  —  S.  24.  Daß  in  zweisilbigem  eurent,  peurent,  seurent 
voi toniges  Hiatus-e  verstummt  sei,  ist  mir  unwahrscheinlich;  dreisilbiges 
seurent  1615  ist  abzulehnen,  1.  Qu'il  a  preme[raijns  ne  le  seurent.  Zwei- 
silbiges peussent  5141  steht  in  J,  hingegen  dust  3602  (s.  S.  119)  ist  nicht 
deust,  sondern  dut.  —  In  §  8  '^fej  -\-  l  -j-  Konsonant'  herrscht  eine  solche 
Verwirrung,  daß  dieses  wichtige  Stück  Lautlehre  nicht  zur  Geltung  kommt. 
Es  mag  daher  nachgetragen  sein,  daß  außer  iaus  (illos;  auch  543:  damoi- 
siaus)  noch  ceviax  [capillos)  3595  :  hiax  begegnet.  —  S.  25.  Zu  den  wenigen 
Reimen,  die  i  aus  ^  -\-  i  beweisen,  könnte  man  außer  prise  (pretiat)  5400 
J  :  irise  wohl  fiere  (fcriat)  :  ocicre  (occidere)  3379  rechnen,  wenn  man  es  als 
fire  :  ocire  ansieht  (doch  refiere  5099  J  :  hieve) ;  sonst  müßte  man  ociere  er- 
klären wie  viergc,  cierge.  ■ —  S.  27.  fiez  1617  ist  nicht  foiz,  sondern  fies.  — 
S.  33.  Au  Formen  für  1  o  c  u  m  wird  nur  liu  angegeben,  das  nicht  im  Reime 
vorkommt;  es  war  daher  unbedingt  Icu  726:  leu  (lupum)  zu  erwähnen.  — 
Der  §  27  'lat.  p'  zeigt  die  Unklarheit  und  Unsicherheit  einer  Darstellung, 
die  nicht  methodisch  zwischen  Reim  und  Schreibung  unterscheidet.  Folgendes 
wäre  etwa  über  das  freie  geschlossene  o  zu  sagen  gewesen.  Die  Schreibung 
-or  ist  viel  häufiger  als  -our,  und  -our  häufiger  als  -enr.  Im  Reime  begegnen 
1.  zu  jor:  jongleor  4689  (übersehen),  zu  jour:  lionour,  coulour,  errour, 
dolour  (erwähnt),  zu  estor:  poigneor  5520,  2.  zu  amor:  sauveor,  signor  und 
dolor  1894,  zu  amour,  das  mit  jour  reimt:  verdour,  dougour,  valour  und  auch 
1.  Sg.  Praes.  Ind.  demour,  von  der  Verfasserin  S.  98  vielleicht  mit  Recht  als 
Analogieform  betrachtet.  Danach  nehme  ich  an,  daß  -  o  r  e  m  auf  dem  Stand- 
punkt -our  stand,  aber  noch  nicht  zu  -eur  geworden  war,  da  sonst  die  Reime 
zu  jour,  estor  und  auch  amour  ausgeschlossen  wären.  Das  einzige  Beispiel 
für  -eur,  das  ich  gefunden  habe,  ist  vieleurs  449  :  entr'eurs,  d.  h.  eus  (illos). 
Bemerkenswert  ist  auch,  daß  sich  aeurent  (a  d  o  r  a  n  t)  2843  mit  keurent 
(zu  courre)  und  demeure  (sonst:  eure  1844,  seure  5056  J)  mit  sequeure 
paaren,  und  wieder  sekeurent  mit  eurent.  -  o  s  u  s  erscheint  in  der  Schrei- 
bung teils  als  -ous,  teils  als  -eus.  convoitous  reimt  mit  votis,  und  dieses  als 
voz  mit  dous  (dulcis)  2894.  Demgegenüber  kann  hydeus  3751  :  deus 
(duos)  nichts  beweisen,  wohl  aber  interessiert  preus  1029  :  menestreus; 
a.uch  die  Schreibung  scheint  stets  preus  zu  sein,  nur  bezeichnenderweise 
prous  403  :  cevalerous.  sous  (solus)  reimt  in  J  mit  dessous  4953.  Die  Zahl 
der  Reime  von  ou  aus  o  -\-  l  vor  Konsonant  mit  ou  aus  sonstigem  gedecktem  o 
ist  größer,  als  man  nach  S.  39  denken  sollte.  —  S.  41.  Zu  un  möchte  ich  auf 
V.  5072  J  verweisen:  desevres  Et  desaamez  et  dcspars,  wo  wahrscheinlich 
desaounez  herzustellen  ist,  also  u  für  ü.  —  S.  42.  Wenn  in  V.  1491  le  conie 
de  Ostarde  voit  das  de  nicht  elidiert  ist  (aber  V.  870  li  quens  d'Ostarde),  so 
mag  das  daran  liegen,  daß  HocJistaden  ursprünglich  durch  Hostarde  wieder- 
gegeben war.  —  S.  44  ff.  An  die  Elision  eines  -es  vor  Vokal  glaube  ich  nicht. 
V.  37  grovdez  espaulez  et  pis  U  ist  kein  Beispiel;  eust  5238  J  ist  bestimmt 


I 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  109 

—  eut,  1.  S'eut  ü  tant  plaiez  et  pointurez  En  cors,  cn  ners;  4767  würde  ich 
lieber  tornes  einsetzen.  —  Daß  e  in  ajue  4190,  joie  332  verstummt  wäre,  ist 
irrig.  Auch  ist  das  mittlere  e  von  tornoiement  in  der  Lesart  der  Hs.  V.  4732 
mitgezählt.  (Die  Änderung  des  Herausgebers  war  überflüssig,  aber  in  den 
beiden  vorhergehenden  Versen  muß  man  eine  kleine  Umstellung  vornehmen : 
Si  vinrrent  as  rens  tout  ensartiMe.  Mesire  Gilles,  ce  me  sanle,  Asanle  le 
tornoiement.)  —  Die  sieben  Fälle  von  'Diärese'  sind  alle  zu  streichen,  brisie 
640  ist  hrisie,  ebenso  envoiez  1703  m  envo'iez,  puie  477  =3  ptih  :  apuie;  puest 
4347  -=z  peust,  pncut  4834  <  potent  bieten  metrisch  keine  Schwierigkeiten; 
iert  482  fasse  ich  als  i  ert  auf;  V.  321  hat  schon  Reiffenberg  Dont  il  i  avoit 
(Hs.  ot)  a  fuison  gebessert.  Umgekehrt  kommt  zweisilbiges  nient  oft 
genug  vor. 

Konsonantismus.  S.  47.  ostez  5079  J  :  costez  wäre  das  einzige  Beispiel 
im  Reime  für  Sehwund  des  l  nach  e  aus  a;  es  handelt  sich  aber  um 
Ostes  :  cöstes.  —  S.  48.  Übergang  von  gl  -\-  Konsonant  zu  au  zeigt  wahr- 
scheinlich auch  saus  (soldos)  2961;  wenigstens  vermute  ich,  daß  die  rich- 
tige Lesart  ist  faitez  prendre  vers  cendax  Pour  a  couster  plus  de  eent  sax 
(fax).  —  S.  54  ff.  Zu  c  §  46  und  47  vermisse  ich  die  richtigen  Reime 
lance  :  hrance  4418  und  lance  (Hs.  mance)  640,  acointance  605,  connissance 
1055  :  mance  'Ärmel',  tence  :  detrence  5414  J,  justice  :  rice  3639,  Anthioce  : 
force  'Gewalt'  3843  und  face  (f  aciat)  139  :  sace  (sapiat),  nicht  face,  wie 
Hs.  und  Ausgabe  haben.  —  S.  63.  Für  Erhaltung  eines  isolierten  t  im  Aus- 
laut zeugt  auch  ein  zweiter  Reim,  nämlich  liet  (1  actum)  1366  :  sie* 
(sedet).  ■ —  S.  64.  Für  Verstummen  von  s  vor  stimmhaftem  Konsonant 
führt  die  Verfasserin  den  Reim  septimes  :  witismes  an,  der  natürlich  nichts 
besagt;  dagegen  fehlt  ihr  (Imper.)  ditez  :  venistez  3218,  wo  s  vor  t  gefallen 
ist.  —  Verstummen  von  s  im  Auslaut  beweist  nicht  einer  der  S.  65  paradie- 
renden Reime.  Statt  dis  11  :  Rcmi  ist  die  alte  Form  cZi  <  d  i  c  o  einzusetzen, 
ebenso  1565  N.  Sg.  morfs]  :  dcsconfors,  5237  J  li  hauhers  fu  sacie[z]  :  saciez 
(sapiatis);  aver  4:920  :  laver  hat  nichts  mit  ad  versus  zu  tun,  schon 
weil  die  beiden  e  nicht  reimen  würden,  ist  vielmehr  avarum;  4536  sali 
en  pied:  ne  fu  pas  lies  ist  en  pi^s  zu  bessern.  —  S.  67.  imdent,  d.  h.  vuident 
5422  J  :  cuident  ist  kein  Beleg  für  v  >  ic. 

Die  alte  Deklination  ist  ausgezeichnet  erhalten.  Die  wenigen  Ausnahmen, 
die  Frl.  W.  S.  69  anführt,  sind  nur  scheinbar,  ramenteu  500  :  veu  ist  Neu- 
trum, sacie  wurde  eben  richtiggestellt,  N.  Sg.  venu  4658  steht  im  Versinnern. 
Anderseits  finden  sich  tatsächlich  einige  Fälle,  die  sich  teils  sofort  als 
Fehler  des  Abschreibers  herausstellen :  2068  N.  PI.  chevalierfsj  :  haisier,  teils 
mit  einiger  Gewalt  zu  beseitigen  sind:  3885  N.  PI.  miller(s)  :  chevalierfs), 
3044  1.  est  ...  voisin[s]  :  Sarrazin [s],  und  wohl  auch  1907  1.  haitie[zj  als 
N.  Sg.  :  por  ses  pitiez  (Hs.  sa  pitie) ,  teils  eine  besondere  Erklärung  ver- 
langen. —  S.  71.  Daß  conte  für  quens,  signor  für  sire  eintreten  könnte,  be- 
weist keine  der  4  bzw.  10  (!)  Stellen,  auch  nicht  V.  1043.  wo  an  castel  Le 
gentil  conte  de  Duras.  Venus  estoit  zu  interpungieren  ist.  —  S.  72.  Analoges 
s  im  Obl.  Sg.  von  Femininen  der  ehemaligen  lateinischen  III.  Deklination 
beruht  nur  auf  Einbildung,  verites  555,  pities  3181  sind  Nominativ,  und 
nmistez  2893  ist  Plural.  — •  Auch  geht  aus  den  Beispielen  nicht  hervor,  daß 
der  Obliquus  als  Vokativ  gebraucht  würde:  signor  ist  stets  N.  Plur.,  über 
rni  2548  habe  ich  eben  gehandelt,  statt  amis  ist  2464  zu  lesen  A  nus  n'en 
set  conte  tenir. 

Pronomina.  S.  81.  Für  Im'  soll  man  einige  Male  li  tr'-ffen.  In  Wirklich- 
keit ist  li  da  Femininum.  Auch  kann  keine  Rede  davon  sein,  daß  für  den 
Singular  il  'häufig'  i  stünde  oder  gar  (S.  82.)  für  den  Plural:  denn  von  den 
Belegen  ist  höchstens  fait  i  1086  in  Erwägung  zu  ziehen. 

Die  Konjugation  ist  ausführlich  und  ansprechend  dargestellt.  S.  102.  In 
der  1.  Sg.  Praes.  Ind.  von  I  überwiegen  nach  Frl.  W.  durchaus  die  c-losen 


110  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Formen.  Das  ist  noch  zu  wenig  gesagt.  Von  den  aufgezäiilteu  Foriuen 
mit  e  ist  nicht  eine  gesichert,  dcmeiire  4969  J  steht  vor  Vokal;  presenle 
5250  J  :  rente  ist  Konjunktiv;  die  übrigen  sind  3.  Sg.  Praes.  Ind.  —  S.  106. 
Auch  die  Statistik  der  Formen  des  Sg.  Praes.  Konj.  in  I  stimmt  nicht.  An 
ält/eren  Formen  ohne  e  führt  die  Verfasserin  ein  halbes  Dutzend  an,  wozu 
mindestens  noch  hinzukommen  consant  (consiliet)  838  und  2015  :  f mit 
und  avoit  1704  (zu  avoiier,  Text  amoit,  Hs.  amit)  :  avoit  (habebat).  Von 
den  jüngeren  mit  e,  die  in  der  Mehrzahl  sein  sollen,  la.sse  ich  nur  1.  Sg. 
abasse  und  presenie  (in  J),  zögernd  auch  3.  Sg.  mesvoie  und  esgarde  gelten; 
mainiete  3118  ist  verlesen  für  malmete.  —  S.  107.  mele  123  ist  met  le,  fran- 
zisch la,  wie  Reiffenberg  richtig  erkannte.  —  S.  117.  dcstroit  hat  nichts  mit 
destruire  zu  tun,  und  S.  121  vaus  1257  (v all  es)  nichts  mit  valoir. 
Königsberg  i.  Pr.  A  1  f  r  e  d   P  i  1 1  e  t. 

E.  Gamillsclieg  und  L.  Spitzer,  Die  Bezeichnungen  der  Klette  im 
Galloromanischen.  Mit  einer  Karte.  Halle,  Niemeyer,  1915. 
(Sprachgeographische  Arbeiten.     1.  Heft.) 

Ich  habe  kürzlich  im  Archiv ^  in  schematisierender  Weise  festzustellen 
versucht,  wie  sich  die  onomasiologischen  Verhältnisse  in  einem  kolonisierten 
und  sprachlich  überwältigten  Lande  gestalten.  Wenn  wir  die  dort  ge- 
wonnenen Gesichtspunkte  auf  die  Bezeiehnungsgeschichte  der  Klette  (Lappa) 
anwenden,  so  können  wir  sagen: 

1.  Es  ist  wahrscheinlich,  daß  die  Klette  in  den  vor  romanischen  Sprachen 
und  Mundarten  Frankreichs  nicht  einheitlich  benannt  war;  denn  als  Un- 
kraut hatte  sie  keinen,  als  nicht  angebaute  Heilpflanze,  soviel  sich  nach  den 
Angaben  von  Gamillscheg  und  Spitzer  vermuten  und  soweit  sich  das  histo- 
risch Festgestellte  auf  die  vorromanische  Zeit  übertragen  läßt,  nur  einen 
verhältnismäßig  geringen  Verkehrswert.  Dazu  kommt,  worüber  sich  die 
Verfasser  nicht  genügend  Eechenschaft  abgelegt  zu  haben  scheinen,  daß  die 
Klette,  wenn  wir  auch  hier  die  heutigen  Verhältnisse  in  die  Vergangenheit 
projizieren  dürfen,  nicht  überall  in  Frankreich  vorkam  oder  häufig  genug 
auftrat,  um  allgemein  beobachtet  und  benannt  zu  werden.  Die  Karte  b  a  r  - 
d  a  n  e  des  Atlas  linguistique  zeigt  im  Nordwesten  und  im  Südosten  Nord- 
frankreichs zahlreiche  Fragezeichen,  die  vereinzelt  auch  anderswo  vorkom- 
men,  aber   in   Südfrankreich   vollständig   fehlen.^ 

2.  Es  ist  aus  den  oben  angeführten  Gründen  nicht  anzunehmen,  daß  das 
lateinische  lappa,  vorausgesetzt,  daß  dies  überhaupt  der  einzige  importierte 
Name  der  Klette  war,  überall  in  Frankreich  bekannt  wurde.  Es  ist  viel- 
mehr zu  vermuten,  daß  einerseits  vorromanische  Namen  der  Klette,  wo 
solche  vorhanden  waren,  sich  zum  Teil  recht  lange  erhielten,  daß  anderseits 
die  Neubenennung  mit  lateinischem  oder  anderem  Sprachmaterial  gleich 
einsetzte  und  daß  erst  im  Verlaufe  der  Entwicklung  die  offizineile  Ver- 
wendung der  Blätter,  Früchte  und  Wurzeln  der  Klette  von  gewissen  Kultur- 


1  136   (1917),  109  ff. 

-  Ich  selbst  kenne,  trotzdem  mir  die  Flora  von  Bern  und  Umgebung 
ziemlich  gut  vertraut  ist,  Lappa  nicht,  wohl  aber  Galium  aparine,  das  hier- 
zulande den  Namen  Klette  trägt,  und  von  dessen  Früchten  jedes  Kind 
weiß,  daß  sie  an  den  Kleidern  hängen  bleiben.  Fischer,  Flora  von  Bern  und 
Umgebung,  bezeichnet  Galium  aparine  als  gemein,  Lappa  major  und  minor 
als  hie  und  da  vorkommend.  Das  stimmt  durchaus  zu  den  Fragezeichen  des 
Atlas  im  schweizerischen  Mittelland.  Für  den  Jura  allerdings  gibt  Ch.-M. 
Godet,  Flore  du  Jura  Lappa,  und  zwar  speziell  Lappa  minor,  als  sehr  ge- 
mein an. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  111 

Zentren  aus  die  Bildung  von  kleineren  oder  größeren  einheitlichen  Be- 
nennungsgebieten ermöglichte.  Im  letzteren  Falle  handelt  es  sich  um  mehr 
oder  weniger  gelehrte  Mediziner-,  Apotheker-  und  Drogistenausdrücke  wie 
hardane,  napolier,  herhe  mix  teigneux,  houülon  noir  usw.,  wohl  auch  läppe, 
neben  denen  sehr  wohl   lokale  Bezeichnungen  weiterbestehen  konnten. i 

Es  werden  somit  schwerlich  je  in  Frankreich  (das  gilt  besonders  für 
Nordfrankreich)  so  ausgedehnte  einheitliche  Benennungsschichten  existiert 
haben,  wie  sie  Gamillscheg  und  Spitzer  rekonstruieren  möchten.  Wenn  sie 
auch  S.  76  sich  gegen  den  Vorwurf  verteidigen,  bei  der  Rekonstruktion  einer 
nordfranzösischen  k  1  e  1 1  o  - ,  einer  südfranzösischen  1  a  p  p  a  -  Zone  den 
absichtslos  gesammelten  Materialien  Gewalt  angetan  zu  haben,  so  liegt  doch 
eine  nicht  zu  billigende  petitio  principii  darin,  daß  sie  z.  B.  S.  34  sagen,  es 
ialle  schwer,  in  dem  Vielerlei,  das  der  Norden  Frankreichs  heute  für  die 
Bezeichnung  der  Klette  biete,  die  ehemalige  Einheit  zu  erkennen. 

Im  übrigen  haben  die  Verfasser  den  die  Aufgabe  der  Interpretation  un- 
gemein erschwerenden  Doppelcharakter  der  Karte  bardane  richtig  er- 
kannt: die  Karte  weist  größere  zusammenhängende  Benennungsgebiete  auf 
oder  verrät  ein  mehr  oder  weniger  zusammenhangloses  Wuchern  lokaler  Be- 
nennungen, je  nachdem  bei  der  Namengebung  der  offizielle  oder  der  Unkraut- 
charakter der  Pflanze  im  Vordergrund  stand,  je  nachdem  sie  allgemein  be- 
kannt oder  wenig  beachtet  war.  Da,  wo  sich  größere  Gebiete  feststellen  lassen, 
suchen  die  Verfasser  aus  ihrer  Form  und  Lage  Rückschlüsse  zu  ziehen.  Über- 
zeugend weisen  sie  nach,  wie  in  Südfrankreich  die  Verwendung  des  Stammes 
läpp-  für  die  Bezeichnung  der  Königskerze  und  des  Sauerampfers  die  Ver- 
wendung für  die  Klette  ausschließt  oder  zur  Anfügung  unterscheidender  Suf- 
fixe und  Zusätze  zwingt.  Sie  zeigen  an  einer  Reihe  von  instruktiven  Bei- 
spielen, daß,  wie  Gilliöron  seit  Jahren  lehrt  —  auch  der  tüchtigen  Arbeit  von 
Merian  2  über  die  französischen  Namen  des  Regenbogens  sei  in  diesem  Zu- 
sammenhang gedacht  — ,  die  Volksphantasie  nicht  so  unabhängig  schöpft,  wie 
man  oft  glauben  möcht«.    Der  Anstoß  kommt  vielmehr  häufig  von  außen,  sei 


1  Es  ist  für  die  Methodik  der  Pflanzennamenforschung  von  Wichtigkeit, 
sich  daran  zu  erinnern,  daß  nur  eine  sehr  beschränkte  Zahl  von  Pflanzen- 
namen allgemein  bekannt  sind.  Die  einheimische  Tradition  wird  zum 
großen  Teil  durch  einheimische  Pflanzenkenner  aufrechterhalten,  die  sich  aus 
beruflichen  Gründen  oder  aus  Liebhaberei  besonders  dafür  interessieren. 
Anderseits  kennen  gerade  solche  Leute  auch  nichteinheimische  Ausdrücke. 
Daher  das  Nebeneinander  von  lokalen  und  provinziellen  oder  schriftsprach- 
lichen Benennungen  und  ein  häufiges  Abweichen  von  der  lokalen  Laut- 
gebung.  Vgl.  z.  B.  in  P.  150  u.  69  (lothringisch)  der  K.  bardane  ein 
queue  de  renard,  das  mit  den  einheimischen  Reflexen  von  queiie  nicht  über- 
einstimmt. Für  Huflattich  gibt  Haillant,  Essai  sur  un  patois  vosgien  S.  574 
neben  lokalem  [tacon]  ein  provinzielles  taconnet  (vgl.  Atl.  K.  1345  tussi- 
lage)  etc.  Umgekehrt  verzeichnet  der  Atlas  für  Klette  das  doch  wohl  recht 
vrbreitete  herle  aux  teigneux  nicht.  Sprachgeographisch  äußern  sich  diese 
Verhältnisse  darin,  daß  die  Beneiinungsgebiete  bei  Pflanzen  in  viel  höherem 
Maße  übereinandergreifen  als  anderswo,  und  daß  die  Kontakterscheinungen 
hier  besonders  häufig  auftreten. 

Wo  die  dialektische  Tradition  überhaupt  unsicher  geworden  ist,  leidet 
die  Pflanzenbenennung  natürlich  besonders  stark.  Den  etwas  simplistischen, 
eine  wissenschaftliche  Untersuchung  ausschließenden  Ausspruch  von  Bruneau 
[T^a,  limite  des  dialectes  wallon,  champenois  et  lorrain  en  Ardenne,  S.  13) 
'Presque  toutes  les  plantes  sont  nommßes  au  hasard'  werden  aber  doch  wohl 
Gamillscheg  und  Spitzer  nicht  ganz  ernst  nehmen,  trotzdem  sie  ihn  S.  34 
zitieren. 

2  Basler  Diss.     Halle  1914. 


11-  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

es,  daß  die  nietaphorisclie  Bezeichnung  des  Nachbar dialekts  nachgeahmt,  ver- 
gröbert oder  übertrumpft  wird  {Wolfskamm  für  'Weberkarde'  zieht  Katzen- 
kamm, Schweinekamm,  Zaubererkamtn;  Wolfskamm  für  'Klette'  sogar 
Hurenkamm  nach  sich;'  das  [tire-poüsY^-  von  P.  967  der  K.  bardane 
wird  zum  [pouüle-poils]  von  P.  966*),  sei  es,  daß  die  sinnlose  Form  des 
Nachbars  sinnvoll  ausgedeutet  (läppe  zu  nappe  wegen  der  Form  der  Blätter, 
iipolicr  <  napolier  zu  [appillei<r]  wegen  des  Anhaft<>ns  der  Frucht)  oder 
eine  an  sich  bedeutsame  verdeutlicht  oder  korrigiert  wird  (nappe  wird 
durch  fenilles  de  nappe  ersetzt,  das  den  Benennungsgruud  deutlicher  zum 
Ausdruck  bringt,  nappe  durch  nappcron  korrigiert),  sei  es,  daß  man  in  ein 
formales  Wortelement  eine  konkrete  Vorstellung  hineindeutet  (peignelot 
wird  durch  peigne  au  loup  ersetzt),  oder  sei  es  endlich,  daß  die  Identität 
der  formalen  Elemente  bei  benachbarten  Formen  einen  Zusammenhang  an- 
zunehmen  zwingt    (japisson,  grattisson,   coutisson,   iourri-sson,   gafaron). 

Wenn  wir  bedenken,  daß  die  Karte  112  (bardane,  capitules  de 
bardane;)  weder  für  die  Klette  noch  für  die  Klettenköpfchen  vollständig 
ist,  daß  die  Bezeichnungen  für  die  Pflanze  und  diejenigen  für  ihre  Blumen- 
köpfchen zum  Teil  voneinander  abweichen,  zum  Teil  übereinstimmen,  daß 
die  Klette  wegen  der  Form  und  Größe  ihrer  Blätter,  wegen  ihrer  offizinellen 
Verwendung  usw.  mit  anderen  Pflanzen,  die  Köpfchen  besonders  wegen  der 
Eigenschaft  des  Anhaftens  mit  anderen  Blumenköpfchen  oder  Früchten  ver- 
wechselt oder  daß  sie  nach  denselben  Merkmalen  benannt  werden,  daß  end- 
lich die  oben  angedeuteten  geographisch  bedingten  Benennungsimpulse  auch 
von  diesen  im  allgemeinen  Habitus  oder  in  einzelnen  Merkmalen  der  Klette 
ähnlichen  Pflanzen  ausgehen  können  (so  von  Galium  aparine  und  Dipsacus 
fullonum)  —  wenn  wir  das  alles  überlegen,  so  haben  wir  eine  Idee  von  den 
Schwierigkeiten,  die  sich  der  Interpretation  der  von  den  Verfassern  ge- 
wählten Atlaskarte  entgegenstellen,  und  werden  es  begreiflich  finden,  wenn 
sie  nicht  überall  zu  einer  befriedigenden  Lösung  gelangt  sind.  Daß  einzelne 
Fragen  auf  verschlungene  Nebenpfade  führen,  wird  unten  bei  der  Be- 
sprechung von  [Uetter]  angedeutet.  Wie  weit  man  bei  derartigen  Arbeiten 
im  Aussprechen  von  Vermutungen  gehen  soll,  die  mehr  von  dem  lebhaften 
Geist  und  von  der  neugierigen  Kombinationsgabe  der  Verfasser  zeugen,  als 
daß  sie  sich  auf  beweiskräftige  Argumente  stützten,  mag  Geschmacksache 
sein.  Ich  hätte  wohl  manches  beiseite  gelassen,  was  mehr  geistreich  als 
überzeugend  ist,  unterlasse  es  aber,  in  den  nun  folgenden  Einzelbemerkungen 
all  die  Fragezeichen  zu  kommentieren,  die  ich  an  den  Rand  meines  Re- 
zensionsexemplars gesetzt  habe.  Ich  könnte  sonst  leicht  in  Versuchung 
kommen,  Erklärungen  vorzuschlagen,  die  ebenso  subjektiver  Natur  wären 
wie  manche  unter  denen  der  Verfasser. 

Zu  S.  7.  P.  339  der  Karte  bardane  (nicht  359!)  besitzt  bardön 
f.  r=  bardane,  vgl.  K.  376  b  e  1 1  e  d  a  m  e  :  b  el  dö  m,.  Mit  dem  bardona  von 
Diefenbach  hat  also  die  Form  nichts  zu  tun,  und  die  Vermutung  eines 
bardon  nach   chardon  ist   gegenstandslos. 

Zu  S.  10.  Über  die  Glossengeschichte  von  glis,  glitis  'Klette'  möchte 
man  gern  mehr  erfahren.      Das  Wort  klingt  merkwürdig  an  glettcron  au. 

S.  14.  Daß  nappe  'Tischtuch'  der  Fortexistenz  von  nappe  'Klette'  ge- 
schadet habe,  ist  doch  wohl  kaum  anzunehmen.  Die  beiden  Begriffe  stehen 
zu  weit  voneinander  ab,  als  daß  sie  zu  Konflikten  Anlaß  gäben. 

Zu  S.  19,  Anm.  1.  Warum  das  lapi  von  P.  976  der  Karte  bardane 
etwas  anderes  sein  soll  als  1  a  p  a  t  h  i  u  m  resp.  mit  Einmischung  von 
lappai    lappathium    oder    mit    Suffixtausch    lappaceum,    ist   mir 


'  Ga.  u.  Spi.  S.  51.       2  in  eckigen  Klammern  französierte  Dialekttypeu. 

3  Vgl.   Cerlogne   231   pieille    'lausen'. 

i  Wegen    der    lautlichen    Entwicklung   von    -athium    (resp.    -aceum) 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  113 

nicht  verständlich,  lape,  lapi,  läpe  'Eumex'  ist  in  den  frankoprov.  Mund- 
arten der  Westschweiz  weitverbreitet,  vgl.  Atl.  K.  1657  patience.  Bri- 
del  219  lamp6,  läppe,  Odin.  Blonay  310  läpe  (waadtl.  volksfranz.  läpe), 
Vionn.  161  lape.  lape  habe  ich  auch  in  Leysin  notiert.  Hierher  wohl  auch 
das  hipc  in  P.  60  der  Karte  206  c61eri.  Apium  erscheint  im  Wallis 
und  im  Aostatal  als  apio.  Vgl.  Atl.  ling.  K.  206  celeri,  Bridel  15  und 
Cerlogne  80   apio,  Leysin  und   Blonay   afso. 

Zu  S.  27.  Ob  das  [patterassc  {faierasse)]  der  K.  molene,  das  [pattes] 
i.  pl.  der  Karten  tussilage,  molene  und  bardaue  ursprünglich, 
« ie  Gamillscheg  und  Spitzer  meinen,  von  patte  'Tatze'  oder,  wie  v.  Wart- 
burg, Litbl.  f.  germ.  u.  rom.  Phil.  37  (1916)  123  vermutet,  von  patte  'Lum- 
pen' ausgehen,  ist  ohne  ein  eingehenderes  Studium,  vor  allem  der  Karte  tus- 
silage und  speziell  des  Typus  pas  d'änc  und  seiner  Abkömmlinge,  kaum 
zu  entscheiden.  Heute  wird  patte  in  den  Namen  der  genannten  Pflanzen 
offensichtlich  teils  als  'Pfote',  teils  als  'Lumpen'  aufgefaßt.  Bemerkenswert 
ist  der  Parallelismus  zwischen  dem  [fniilles  de  nappe]  der  Karte  b  a  r  - 
d  a  n  e  und  dem  [fctiilles  de  patte]  der  Karten  m  o  1  ö  n  e  (P.  933)  und  t  u  s  - 
Silage  (P.  942),  dem  [feiiille  de  tacon]  der  Karte  tussilage  (P.  130), 
die  alle  die  Großblättrigkeit  der  fraglichen  Pflanzen  als  charakteristisches 
Merkmal  auffassen,^  geradeso  wie  das  lothr.  tacon  und  das  frkprov.  taconnct 
'Huflattich' 2  zu  tacon  'Flicken',  wobei  man  beachte,  daß  taconnet  von  einem 
patte-Kranz  umgeben  ist. 

Zu  S.  29.  Ich  habe  in  Pral,  d.  h.  in  der  Nähe  von  P.  982  (der  übrigens 
wie  der  stark  französierte  P.  972  und  der  stark  piemontisierte  P.  992  pro- 
venzalisch  und  nicht  südostfranzösisch  spricht,  wie  immer  wieder  behauptet 
wird)  vapultje  notiert.  Von  den  Deformationen,  die  das  Wort  erlitten  hat, 
ist  die  volksetymologische  Anlehnung  an  *  p  i  1  i  a  r  e  in  P.  972  bemerkens- 
wert. Das  dort  belegte  apifiou  ist  =i  [apptHet/r].^  [Appiller']  in  der  Be- 
deutung 'ergreifen',  'kleben'  etc.  ist  im  Frankoprovenzalischen  und  in  den 
Westalpen  verbreitet.  Vgl.  die  Karten  1581  gluant  (P.  978,  975,  963),* 
389  d  6  n  i  c  h  e  r  (P.  979)  des  Atlas  ling.^,  Fankhauser,  Val  d'Illiez  141, 
Anm.  2  apdRi,  Cerl.  Valdost.  apeille,  Const.  u.  Des.  sav.  apQÜe  etc..  Brächet 
sav.  appellier,  Puitspelu  lyonn.  apio,  vielleicht  auch  appeillir,  Eavanat  Gre- 
noble  appid,  Mistral  apiha,  apilha  ete. 

Wenig  überzeugend  ist  der  Rekonstruktionsversuch  eines  französischen 
*  1  a  p  p  u  1  (1)  a  -  Gebietes.*'  Auch  die  Begründung  des  Typus  *  1  a  p  p  ü  1  (1)  a 
befriedigt  nicht,  napolier  ist  nur  in  den  Waldensermundarten  und  in  dem 
Gebiete  von  Briangon  (P.  971),  das  sprachlich  gewöhnlich  mit  den  Wal- 
densermundarten zusammengeht,  zuverlässig  belegt.  Die  7iapolier-Be\ege, 
die   anderswoher    stammen,    machen    durchaus    den    Eindruck    verschleppter 

vgl.  K.  171  bras.  Die  Eegelniäßigkeit  der  Resultate  in  der  Schweiz  spricht 
für  eine  recht  alte  formale  \'ernnschung  von  1  a  p  a  t  h  i  u  m  und  1  a  p  p  a. 
Doch  möchte  ich  die  Möglichkeit  der  Erhaltung  von  p  in  lapathium 
unter  gelehrtem    Einfluß    nicht    ausschließen. 

^  Es  ist  übrigen.?)  bezeichnend,  daß  sich  Tschirsch  in  seinem  Handbuch 
der  Pharmakognosie  IT,  1,  218  veranlaßt  sieht,  die  Unterschiede  in  den 
Blättern  dieser  Pflanzen  besonders   festzustellen. 

2  Vgl.    napperon   'Klette'    zu   nappe. 

*  Formal  wäre  auch  [appilloir]  möglich;  -atorem  und  -atorium 
fallen  in  diesen  Mundarten  zusammen.  Vgl.  Arch.  glatt.  11,  335  und  Studi 
romanzi  10,  33  f. 

*  In  P.  955    (Savoie)    hat  wohl  pede  das  Fragezeichen  nicht  verdient. 
^  Vgl.   [empiller]  im  Wallis  auf  der  Karte  455  empoigner. 

«  Zugunsten  der  Verfas.ser  sei  noch  auf  P.  814  (H.  Loire)  grapuva  der 
Karte  gratteron   hingewiesen. 

Archiv   f.  n.  Sprachen.     139.  8 


114  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Wörterbuchformen,  die  für  eine  sprachgeographische  Untersuchung  keinerlei 
dokumenta.rischen  Wert  besitzen. 

napolier  finde  ich  bei  Eob.  Estienne,  Dict.  fr.-lat.  1549  nicht,  sondern 
erst  in  der  Neuauflage  von  Thierry  (1564,),  und  zwar  ausdrücklich  mit  dem 
Zeichen  versehen,  das  die  Beifügungen  von  'M.  Jehan  Thierri  &  plusieurs 
aultres  sgauants  personnages'  andeutet. 

Zu  S.  31  f.  Der  geographische  Zusammenhang  zwischen  den  Typen 
[lappeux],^  \lippeux],  [limpeux]  der  K.  1581  gluant  des  Atlas  ling.,  die 
ihrerseits  von  lipa,  lepa,  lüpa  'lecken'  (Mistral)  nicht  zu  trennen  sein  wer- 
den, verbietet,  das  Verbum  lapper  in  der  Bedeutung  'klebrig  sein',  wie  wir 
es  im  Champagnischen  und  Burgundischen  finden.^  von  lappa  abzuleiten. 3 
Dagegen  mögen  der  Stammvokal  und  die  sekundäre  Bedeutungsentwicklung 
'kleben'  >  'ergreifen'  (refl.  'sich  an  etwas  machen'  etc.),  wie  sie  das  Bur- 
gundische und  das  Bourbonnais  aufweisen,*  dem  Anklang  an  lappa  zu 
danken  sein.  Umgekehrt  ist  läppe  'Klette'  im  Bourbonnais  wohl  eben  gerade 
durch  lapper  gehalten  worden. 

Zu  S.  32  ff.  Den  Abkömmlingen  von  drauoca  sei  beigefügt:  Leysin 
l9  drutse  f.  pl.   'Petasites   vulgaris'. 

Zu  S.  38  f.  Daß  gletton  auf  frankoprov.  Gebiet  mit  dem  Typus  [lietter], 
[alietter]  in  Verbindung  gebracht  worden  ist,  unterliegt  keinem  Zweifel. 
Zur  Verbreitung  von  [lietter'\  mit  der  Bedeutung  'binden',  'anbinden',  'be- 
festigen' etc.  vgl.  Atl.  767  Her  les  gerbes,  Bridel  226  liettha  'tordre; 
attacher,  aecrocher',  ebenda  200  hlletta,  gletta,  lietta  'tordre;  prendre, 
attraper;  Her,  attacher',  H6r6m.  110  fieta,  Vionn.  182  deta,  Val  d'IU.  142 
detä,  Leys.  df  •',  Hätelin  Freibg.  176  liettd  'saisir',  Blon.  325  fittä,  Const. 
D6s.  249  lieta  'Her,  attacher,  coller'. 

Mit  Präfix  ad-^:  Bridel  10  allietta  'attacher.  Her,  coller  agglutiner, 
avoir  de  Tinclination  pour  quelqu'un',  Odin,  Blon.  12  afitd  'adhßrer,  agglu- 
tiner', dazu  das  Beispiel  la  fl  tala  l  ah  t  ei-z  äßö  k  ö  pou  pd  s'  e  defer^  [la 
liettelle  eile  aliette  aux  haillons  qu'on  peut  pas  s'en  döfaire]  ■=  'le  grateroii 
s'attache  [de  teile  fagon]  aux  vgtements  qu'on  ne  peut  pas  s'en  dßfaire'. 

Von  den  Ableitungen  ist  Leys.  dttö  'Strick  zum  Anbinden  der  Kühe' 
bemerkenswert,  das  zeigt,  wie  nahe  Berührungspunkte  gletton  (gl"^  ä\) 
mit   [lietter']   hatte. 

Das  von  Cornu  zitierte  lietäla  'Klette'  (so,  nicht  lietdta  ist  S.  39  Anm. 
offensichtlich  zu  lesen;  korrigiere  dort  auch  Nevey  in  Vevey)  findet  man 
in  dem  oben  aus  dem  Wörterbuch  von  Blonay  zitierten  Beispiel.  Siehe  dort 
auch  S.  325  unter  fi 1 1 ala  = 'IjoIcW  und  'Klebekraut'  (Galium  aparine).  Vgl. 
Brid.  226  liettala  s.  f.  'glouteron,  gratteron  Galium  aparine'   (Lavaux). 

Es  ist  der  lautliche  Übergang  gl  >  ß,  der  gletton  in  den  Bannkreis  von 
[fajlietter]  gezogen  und  die  Wortbildung  neu  angeregt  hat.  Die  Typen 
[{ajlietton'],  [fajliette],'^  [liettelle]  sind  also,  neben  die  k  1  etto- Formen 
mit  Einmischung  von  Verben  wie  gratter,  gripper,  grapper  etc.  zu  stellen. 

1  Dieses  bei  Tarbö  II,  80  belegt,  lipeux  finde  ich  bei  Möge,  Souv.  de  la 
langue  d'Auv.  S.  156  mit  der  Bedeutung  'gras,  visqueux,  gluant,  filandreux'. 

2  Vgl.  Tarbg,  Baudouin,  Chambure.  Barbier,  Rev.  l.  r.  51,  273  zitiert 
auch  Laianne  poitev.  lapai  'saisir,  empoigner,  coller',  was  ich  nicht  kontrol- 
lieren kann. 

3  Nicht  weit  von  dem  lapo  von  P.  841  der  K.  1  i  m  o  n  findet  sich  lipon. 
Vgl.  Mistral  lajw,  lapio,  loupa  'boue,  vase'  etc.,  lapoun  'limon,  vase',  limpo, 
limpoun  in   derselben   Bedeutung. 

*  Chambure,  Duchon,  Choussy. 

6  Von  einer  lautlichen  Erklärung  von  a-  in  oihtö  etc.  kann  nicht  die 
Bede  sein. 

ß   [Uette]  in  P.  977  der  K.  1584  gratteron;  vgl.  ähnlich  neben  einem 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  115 

Das  sav.  agäeta  'englu6'  und  agßftä  'gluant'  der  K.  1581  gluant  ge- 
hört zu  dem  von  Constantin  und  D6sormaux  S.  11  aus  derselben  Gegend 
verzeichnten  agßota  'coller,  accoupler,  attacher',  zu  dem  das  zitierte  Wörter- 
buch iKjfiotö  stellt  —  'tete  äpiueuse  du  chardon,  de  la  bardone  ou  autres 
plantos  pemblables,  dont  les  enfants  aiment  ä  se  servir  comme  projectile'. 
Von  dem  eben  erwähnten  Verbum  agfiata  nicht  zu  trennen  ist  das  ebenfalls 
savoyische  gßQta  (Const.  Dös.  207)  'attacher,  accoupler,  mettre  sous  le  joug". 
Daß  der  Anlaut  gfi  hier  lautlichen  Fluktationen  zwischen  gd  und  ß  zu 
verdanken  ist,  wird  durch  die  Form  gfiö  'Gemüse'  (Const.  Des.  208)  nahe- 
gelegt, anderswo  Rö  (Const.  D6s.  249,  vgl.  Bridel  226  liong  etc.).  Doch  ich 
gerate  in  ein  Dickicht,  das  zu  lichten  nicht  Aufgabe  einer  Rezension  ist. 
Ich  weise  nur  noch  darauf  hin,  daß  die  Rückbildung  von  ß  anscheinend  bis 
zu  gl  gehen  kann;  so  erklären  sich  gUtaRe  s.  f.^  'laniöre  de  cuir  servant  ä 
assuj6tir  le  joug  sur  la  tete  des  boeufs;  cordon  de  cuir  servant  ä  lacer  la 
ehaussure'  (Const.  D6s.  207)  und  agleti  'coller'  (Const.  D6s.  11),  und  es  fällt 
neues  Licht  auf  den  Anlaut  von  gloße,  das  man  nun  kaum  mehr  mit  Gamill- 
scheg  und  Spitzer  S.  72  als  Kontaminationsprodukt  von  gletö  -\-  loße  wird 
ansehen  wollen. ^  Anderseits  geht  aus  dem  Gesagten  hervor,  daß  nicht  nur 
ein  sav.  gReiö,  sondern  selbst  ein  gletion  (P.  954  der  K.  bardane)  das 
Anhaften    (T.   lietter)    als  Vorstellungsbestandteil   enthalten  kann. 

Was  zu  S.  41 — 45  anschließend  an  amarifolium  gesagt  wird,  steht 
größtenteils  in  der  Luft. 

Zu  S.  44.  Der  Vergleich  mit  den  Karten  552  fer  und  1.371  ver  zeigt, 
daß  es  sich  bei  amel  'Galle'  nicht  um  eine  Kontamination  am  er -^  fiel,  son- 
dern um  lautliche  Entwicklung  handelt. 

Zu  S.  48,  Anm.  1.  kaicc  kann  nicht  [qiiriie].  höchstens  eine  Ableitung 
davon  sein. 

Zu  S.  51.  Der  für  Ostfrankreich  charakteristische  Ableitungstypus  von 
peigne  sowohl  in  der  Bedeutung  'Weberkarde'  als  in  der  Bedeutung  'Klette' 
ist  [j^eignot],^  nicht  [peignon],  das  nur  in  P.  132  (und  P.  59?)  der  Karte 
bardane  vorkommt,  wo  die  Nasalierungsverhältnisse  besonderer  Unter- 
suchung bedürfen.     Damit   fällt   der   Erklärungsversuch    für    [gleite]. 

Zu  S.  59,  Anm.  1.  Daß  der  Bedeutungsübergang  'Klette'  >  'lästiger,  zu- 
dringlicher Mensch'  naheliegt  (vgl.  Bonhote,  neuch.  pignet  'imparfun, 
ennuyeux',  it.  lappola  etc.),  wird  niemand  bestreiten  wollen.  Trotzdem  ge- 
hört venez.  lapio  'lästiger  Mensch'  (REW  4903),  wie  eine  Durchsicht  der 
ostoberitalienischen  Dialektwörterbücher  ergibt,  nicht  zu  lappa  'Klette', 
sondern  zu  [lappare]  'schwatzen',  'trödeln',  'zaudern'.  —  Eine  Spezial- 
untersuchung der  Wörter  vom  Stamme  läpp-  würde  sich  lohnen.  Die  Be- 
deutungsentwicklung älterer  Typen  kreuzt  sich  hier  mit  stets  imminenten 
onomatopoetischen   und   lautsymbolischen   Neuschöpfungen. 

Zu  S.  67.  Das  kokaku  von  P.  196  (Wallonie)  ist  nicht  *calca- 
c  u  1  u  m  ,  sondern  höchstens  *calca-in-culum  und  entspricht  dem 
cok-d-kou  von  Forir  Li^ge,*  das  in  der  Bildungsweise  an  das  ebenfalls  von 

[grippon]  ein  [grippe]  bei  Dottin.  Bas-Maine,  neben  grattferjon  ein 
[gratte]  in  P.  296  der  K.  gratteron,  dem  das  [läppe]  des  Zentrums  zu 
[lapper]   durchaus  entspricht. 

^  Vgl.  auch  grdfaRd,  das  an  das  gerteR  von  P.  91 6  der  Karte  bar- 
dane erinnert. 

2  Vgl.  Leys.  dcJlr,V\onn.  54  dcpg,  Frankhauser,  Val  d'Uliez  93  döß9  mit 
weiteren  nützlichen  Angaben. 

'  Dieser  Typus  reicht  bis  ins  Neuenburgische,  für  das  Bonhote,  Gloss. 
nruch.  180  pignet  'fruit  du  glouteron  ou  de  la  bardane'  verzeichnet,  -et 
und  -ot  fließen  bekanntlich  in   Ostfrankreich  zusammen. 

*  Vgl.  K.  456  empörter  P.  196  apwarte  gegenüber  dem  epioarte  der 
Nachbarpunkte.    Vgl.   K.   465   j'entends. 


116  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Forir  verzeichnete  pontt-d-kouz:z  [point-en-cul]  zum  Verbum  pontt  'piquer' 
erinnert.  Ob  man  das  erste  Element  von  cok-d-koti  zu  Sigart  Mons  cöquier 
stellen  darf,  bleibe  dahingestellt.  Liöge  (Forir),  Verviers  (Remäcle)  jnskou 
'bardane',  das  Gamillscheg  und  Spitzer,  soviel  ich  sehe,  nicht  anführen,  ge- 
hört zum  Verbum  jnssi  'pincer',  ist  also  gleichgebildet  wie  gratte-cul.  Forir 
verzeichnet  endlich   auch   pochett,  bei    Sigart  :=  couvolvulus. 

Auch  sonst  ließe  sich  noch  dies  und  jenes  nachtragen,  wovon  ich  nicht 
weiß,  ob  es  bei  Eolland  steht,  den  ich  hier  nicht  zur  Verfügung  habe,  und 
ob  es  die  Verfasser  absichtlich   beiseite  gelassen   haben. 

Die  Zahl  der  kleinen  Irrtümer  und  Druckfehler  sowohl  im  Text  als  auf 
der  beigegebenen  Karte  übersteigt  das  landesübliche  Maß.  Sprachgeogra- 
phische Arbeiten  bedürfen  einer  außerordentlich  sorgfältigen  Korrektur. 
Für  ein  Register  wäre  der  T.cier   sehr   dankbar  gewesen. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  einmal  ausdrücklich  gesagt,  daß  die  Arbeit,  trotz- 
dem sie  zu  manchen  Einzelaussetzungen  Anlaß  gibt,  eine  tüchtige  Leistung 
ist,  daß  die  Verfasser  mit  frischer  Energie  eine  schwierige  Aufgabe  richtig 
angepackt  und  manches  Problem  zu  einer  glücklichen  Lösung  gebracht  haben. 
Die  sprachgeographische  Betrachtungsweise  ist  für  sie  nicht  bloß  eine 
statistische  Feststellungsmethode,  sondern  ein  verfeinertes  Arbeitsinstru 
ment  für   die  Gewinnung  historisch-biologischer   Erkenntnisse. 

Bern.  K.  J  a  b  e  r  g. 

Walberg,  E.,  Quelques  remarques  sur  Fancien  fraiiQais  'ne  garder 
Teure  que  . . .'.  S.-A.  aus  Filologiska  föreningen  i  Lund 
(Sprakliga  uppsatser  TV).    1915.    15  S. 

Schon  vor  ziemlich  langer  Zeit  war  man  auf  die  Wendung  nc  garder 
Veure  que  .  .  .  aufmerksam  geworden,  hatte  nicht  wenige  Belegstellen  bei- 
gebracht und  war  auch  hier  und  da  zu  einer  Erklärung  fortgeschritten, 
aber  es  kam  darauf  an,  weitere  Umschau  zu  halten,  d.  h.  eine  viel  größere 
Zahl  von  Beispielen  zu  sammeln,  an  allen  Stellen  den  Sinn  genau  zu  prüfen 
und,  auf  dieser  Unterlage  fußend,  zu  einer  möglichst  allseitig  befriedigenden 
Deutung  des  Ausdrucks  zu  gelangen.  Man  darf  wohl  sagen,  daß  E.  Walberg 
dies  in  dem  vorliegenden,  leider  nicht  bequem  zugänglichen  und  auch  nicht 
gerade  sehr  übersichtlichen  Aufsatze  unternommen  hat,  wiewohl  der  Titel 
auf  weniger  schließen  läßt  und  es  S.  2  bescheiden  heißt:  peiit-efre  ne  sera-t-ü 
pas  inutile  .  .  .  d'ajouter  quelques  remarques  supplementaires  ä  ce  qui  a  dSjä 
ete  ecrit  lä-dessus.  Allerdings  scheint  mir  auch  jetzt  noch  keineswegs  das 
letzte  Wort  über   den  Gegenstand  gesagt  zu   sein. 

Es  befremdet  zunächst,  daß  bei  der  S.  1 — 2  angeführten  Literatur  fehlt: 
BischoiT,  Der  Konjunktiv  bei  Chrestien  S.  87,  die  Anmerkung  zu  II,  86  der 
1.  und  2.  Auflage  meiner  'Zwei  altfranz.  Dichtungen',  sowie  die  Bemerkungen 
ron  Ebeling  (zur  1.  Aufl.)  in  der  Zs.  f.  franz.  Spr.  XXV 2,  34  und  Alfred 
Schulze  (zur  2.  Aufl.)  ebd.  XXXIX  2,  17.3—174.  Hinzugefügt  sei  hier  gleich 
als  später  dazugekommen  meine  erweiterte  Anmerkung  in  der  3.  und  4.  Auf- 
lage (1916,  1919)  und  für  das  Provenzalische  meine  'Proveuzalische  Studien' 
(Schriften  der  Wissenschaftlichen  Gesellschaft  in  Straßburg  37.  Heft,  1919) 
I,  75  zu  60,  3. 

Was  Gestalt  und  Konstruktion  betriflft,  so  erfahren  wir  durch 
W.,  daß  auch  ne  garder  quel^  ore  einmal  begegnet,  womit  das  prov.  non 
gardar  cora  (s.  meine  'Prov.  Stud.'  a.  a.  O.)  zu  vergleichen  ist,  ferner,  daß 
man  im  Alexander-Roman  auch  ne  g.  que  Teure  que  ...  findet,  an  welcher 


1  Das   folgende  mais   tut   tens    l'atendez    (Hs.   lentendez)    zeigt,   deutlich, 
daß  nicht  etwa  que  l'ore  zu  schreiben  ist. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  117 

Stelle  fünf  andere  Handschriften  das  gewöhnliche  ne  g.  l'eure  bieten,  zwei 
aber  ne  g.  mais  l'eure  und  drei  weitere  ne  g.  ne  mais  l'eure  aufweisen; 
hierher  stelle  ich  noch  Guillaume  le  Marßchal  11647 — 48:  Si  que  je  ne 
yurdoe  l'ore  N  e  mais  que  il  me  corust  sorc,  wo  ne  g.  l.  schon  wie  eine 
zusammengewachsene  Verbindung  erscheint.  Des  weiteren  wird  ein  esgarder 
le  hurre  mit  ÄTawf -|- Konjunktiv  und  Indikativ  (s.  das  zweite  Verb)  aus 
dem  Thöophile-Mirakel  festgestellt:  ich  verweise  noch  auf  regart  l'eure  que 
lerre  pour  7nes  pechiez  m'cngloute  (Rustebuef  ed.  Jubinal  III,  314,  V.  14), 
wo  freilich  die  andere  Hs.  ne  gart  l'eure  hat.  Für  l'eure  erscheint  an  einer 
Stelle  auch  le  terme;  auf  beide  Ausdrücke  zusammen  trifi't  man,  wie  ich 
hinzufüge,  bei  Hustebuef  III,  272,  V.  690:  Ne  garde  l'eure  ne  le  terme  Que 
vif  deahle  estrangle  l'aient.  Auch  ne  begegnet  im  gwe-Satz;  zu  dem  S.  8 
zitierten  Beispiel  gesellt  sich  noch:  que  ne  gars  l'eure  qu'en  mer  ne  verse 
(Monmerquö  et  Michel,  Th.  frang.  S.  522).  —  Was  Tempus  und  Modus 
angeht,  so  sehen  wir,  daß  im  Hauptsatz  das  Futurum  steht  und  zugleich  im 
Nebensatz  der  Indikativ  mehrfach  auch  des  Futurums,  aber  auch  einer 
anderen  Zeit;  ingleichen  findet  sich  der  Konjunktiv  bei  vorangehendem 
Futurum.  Den  beigebrachten  Beispielen  (unter  ihnen  auch  eins  mit  si  für 
que)  schließe  ich  an  Jehau  et  Blonde  4122 — 23:  Cha!  voiis  ne  garderes  ja 
l'eure  Que  li  quens  et  sa  gent  venrront,  und  eine  weitere  Stelle,  die  im 
que-Satz  den  Indikativ  zeigt  und  im  Hauptsatz  das  Präsens:  ne  garde  l'eure 
que  eil  vient  (Eracle  5896).  —  Endlich  begegnen  zwei  Hauptsätze  neben- 
einander, von  denen  der  zweite  unsere  Wendung  enthält.  Den  drei  S.  5 — 6 
beigebrachten  Stellen '  füge  ich  hinzu  Montaiglon-Raynaud,  Rec.  g6n.  d. 
fabl.  I,  250:  Je  vi  ore  vostrc  seignor  Qui  revcndra,  je  ne  gart  l'eure, 
und  weiterhin  ein  Beispiel,  wo  on  ne  garde  l'eure  mit  que  angeschlossen  ist; 
la  Mort  vient  que  on  ne  garde  l'eure  (Sprichwörtersammlung  des  Mielot 
ed.  Ulrich  in  Zs.  f.  frz.  Spr.  XXIV,  191,  No.  177);  auch  sei  in  diesem 
Zusammenhang  noch  gleich  eine  Stelle  namhaft  gemacht,  welche  ein  aus 
unserer  Wendung  gewonnenes  Substantiv  l'eure-garde  aufweist,  das  mit 
se  doner  verbunden  ist :  Tres  chiere  dame,  il  l'esconvient  Que  un  petit  encore 
endurez.  L' eure -garde  ne  vous  donrez,  Que  Dieu  si  grant  hien  vous 
fera  Qu'a  joie   vous  delivrera    (Th.   frang.    S.    552). 

Hinsichtlich  der  Bedeutungen  hätte  W.  sich  klarer  und  bestimmter 
ausdrücken  können.  Er  bemerkt  zwar  im  ganzen  richtig,  daß  ne  garder 
l'eure  que  .  .  .  bedeutet  's'attendre  ä  ce  que  tel  evenement  se  produise  d'un 
moment  ä  l'autre,  prevoir  qu'il  se  produira  sous  peu',  und  führt  eine  Reihe 
von  Beispielen  dafür  auf,  die  ich  hier  nicht  vermehren  will,'  wendet  sich 
dann  aber  nicht  entschieden  genug  gegen  die  Meinung  von  Perle  und 
Nyrop,  die  aus  dem  ursprünglichen  Sinn  'nicht  auf  die  Stunde  achten,  wo' 
den  von  'chercher  ä  Veviter',  'l'attendre  tranquillement'  (comme  expression 
d'une  forte  resignation)  herleiten,  sondern  sagt  nur:  dans  plusieurs  des 
passages  cites  jusqu'ici  le  calme  resigne  indique  par  MM.  Perle  et  Nyrop 
est  hien  incertain.  Auch  muß  es  befremden,  daß  es  S.  6  wieder  nur  heißt: 
de  quelques-uns  de  ces  exemples  il  ressort  avec  toute  ^vidence  que  la 
locution  ne  signifie  pas  simplement  's'attendre  dt,  prevoir  tel  evenement' 
mais  que  celui-ci  doit  arriver  d'un  instant  ä  l'autre,  während  es  heißen 
mußte,  daß  dies  aus  allen  deutlich  hervorgeht.  Es  unterliegt  keinem 
Zweifel,  daß  unsere  Redensart  in  den  allermeisten  Fällen  nichts  anderes 
bedeutet  als  'jeden  Augenblick  einer  Sache  gewärtig  sein',  'jeden  Augen- 
blick darauf  gefaßt  sein  müssen'.    Beachtenswert  ist  dabei,  daß  sehr  oft  der 


'  Auch  das  S.  7  unten  aus  Rustebuef  angeführte  Beispiel  gehört  hierher. 

2  Es  seien  immerhin  ein  paar  neue  Fundstellen  genannt:  Rom.  d'Alix. 
S.  11,  V.  31,  TtHirnoiement  Antecrit  V.  264,  Th.  frang.  S.  394  u.  593.  Rec. 
gSn.  d.  fabl.  IT,  106. 


118  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Inhalt  des  ^we-Satzes  etwas  für  das  Subjekt  Peinliches  darstellt;  daraus 
erklärt  sieh,  daß  die  Wendung  sich  zuweilen  stark  dem  Sinne  von  'fürchten' 
nähert,  wie  in  dem  Beispiel,  das  W.  S.  7  aus  dem  'Atre  perilleus'  anführt, 
ja  geradezu  'fürchten'  heißt,  wie  an  den  beiden,  hier  (s.  vor.-  Seite)  erwähnten 
Stellen,  an  denen  sich  ne  im  gwe- Satze  findet.  Die  eben  genannte  Bedeutung 
'jeden  Augenblick  auf  etwas  gefaßt  sein  müssen',  die  durch  den  Zu- 
sammenhang an  mehreren  Stellen  gefordert  wird,  liegt  ganz  besonders  vor 
in  den  Fällen,  wo  die  Wendung  als  zweiter  Hauptsatz  auftritt,  s.  hier  auf 
voriger  Seite;  sie  setzt  voraus,  daß,  wie  n'avoir  garde,  n'avoir  paor,  doutance 
auch  'nicht  Furcht  zu  haben  brauchen'  heißt,  ne  garder  Veure  auch  'nicht 
auf  die  Stunde  zu  achten  brauchen'  bedeuten  konnte,  und  dafür  spricht 
noch  deutlich  die  Stelle  aus  G.  de  Beaulieu  vous  ne  gardez  quel  ore  mais 
tut  tens  l'atcndez,  wo  ne  garder  zweifellos  'nicht  zu  achten  brauchen' 
heißt.  —  Eine  zweite,  weit  seltenere  Bedeutung,  die  W.  feststellt,  nachdem 
ich  schon  in  der  2.  Auflage  meiner  'Zwei  altfranz.  Dichtungen'  (1911)  auf 
sie  hingewiesen  hatte,  ist  'es  mit  etwas  eilig  haben',  'es  nicht  erwarten 
können',  'es  lebhaft  wünschen'.  Allerdings  wäre  von  den  vier  Belegen,  die 
er  aufführt,  nach  seiner  Meinung  nur  einer  entscheidend.  Das  ist  nicht 
ganz  richtig.  Die  Stelle  aus  dem  'Cor.  Loeis'  scheidet  freilich  aus,  wenn 
man  mit  Langlois  der  Lesart  von  A  folgt,  was  der  Zusammenhang  gebietet, 
und  weiter  gehört  die  Stelle  aus  dem  Trojaroman  nicht  hierher,  wohl  aber 
liegt  unser  Sinn  an  der  Mousket-Stelle  (Fortune  hat  es  eilig,  das  Oberste 
zu  Unterst  zu  kehren)  fast  ebenso  deutlich  vor,  wie  Montaiglon-Raynaud. 
Rec.  g6n.  II,  90:  Sa  queste  et  ses  deniers  en  trait;  Ne  garde  Veure  qu'i[lj 
Vait  fait,  Moult  forment  se  haste  et  esploite.  H\inzufügen  kann  ich  noun 
einen  ebenfalls  ganz  sicheren  Beleg  aus  Aliscans:  Cü  pautonier  qui  sont  de 
pufc  orine  Je  7t e  gart  l'ore  fen  face  decipline  (G.  d'Orange  ed.  Jonckbloet 
S.  339,  V.  4704 — 05,  in  der  Ausgabe  von  Wienbeck-Hartnacke-Kasch 
V.  4453 — 54).  —  Eine  dritte  Bedeutung  formuliert  W.  S.  10  nicht  genauer, 
sondern  sagt  nur:  c''est  qu'on  se  laisse  surprendre  par  Vevenenient,  qu'il 
arrive  söws  qu'on  s'y  attende,  also  'unversehens'.  Von  den  angezogenen 
Beispielen  sind  die  beiden  letzten  abzutrennen,  denn  es  liegt  hier  nicht, 
wie  W.  meint,  eine  'fusion'  vor.  sondern  wir  haben  es,  wie  schon  der  Kon- 
junktiv zeigt,  nur  mit  dem  ersten  Sinne  zu  tun.  Die  übrigen  Stellen,  denen 
sich  die  hier  oben  angeführten  aus  Jehan  et  Blonde  und  Eracle  zugesellen, 
weisen  alle  den  Indikativ  im  g««e-Satze  auf.  Prüft  man  an  ihnen  aufmerk- 
sam den  ganzen  Zusammenhang,  so  sieht  man,  daß  bei  G.  Alexis  eine  Über- 
setzung mit  'unversehens'  sich  rechtfertigen  läßt,  wie  sie  denn  auch  an  der 
Stelle  aus  Mielot  (s.  hier  oben)  das  natürlichste  ist,  aber  an  den  anderen 
Stellen  heißt  es  m.  E.  geradezu  'bald';  eine  nähere  Begründung  würde  hier 
zu  weit  führen,  und  ich  will  nur  bemerken,  daß  dieser  Sinn  besonders  deut- 
lich an  den  Beispielen  aus  Blancandin  und  Eracle  zutage  tritt. 

Was  nun  die  Hauptsache,  die  Erklärung  der  verschiedenen  Be- 
deutungen, betrifft,  so  kann  man  sich  mehrfach  mit  Walberg,  soweit  wie  er 
sich  deutlich  äußert,  nicht  einverstanden  erklären,  am  ehesten  noch,  wenn 
er  zu  der  ersten  und  häufigsten  bemerkt:  cetfe  locution  veut  dire  d'abord, 
ne  pas  faire  attention  au,  ne  pa^  se  soucier  du  moment  oü  tel  dvenement  se 
produira,  d'oü  's'attendre  ä  ce  qu'il  se  produise  d'un  moment  ä  l'autre. 
Bischoffs  Auffassung  'ich  kann  nicht  einstehen  für  den  Zeitpunkt  .  .  .,  weil 
dies  eben  jeden  Augenblick  stattfinden  kann'  ist,  wie  ich  hier  zurück- 
greifend anschließen  möchte,  unhaltbar,  und  ich  wundere  mich,  daß  sie  eine 
Art  Beifall  bei  A.  Schulze  (Zs.  f.  frz.  Spr.  XXXIX 2,  174)  gefunden  hat, 
der  im  übrigen  mit  Recht  Ebelings  Erklärung  'sich  vor  der  Stunde  nicht 
zu  hüten  brauchen,  sie  ist  schon  da'  (Zs.  f.  frz.  Spr.  XXV 2,  34)  zurückweist. 
Gar  nicht  befriedigt  Försters  Glossierung  im  Crestien -Wörterbuch  für  die 
Erec-Stelle  2993  'ich  kann  den  Augenblick  nicht  berechnen,  nicht  voraus- 
sehen'.   Ich  habe  schon  in  der  I.Auflage  meiner  'Zwei  altfranz.  Dichtungen" 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  119 

gesagt:  'auf  die  Stunde  nicht  achten,  daß  das  Betreffende  geschehe',  d.  h. 
'jeden  Augenblick  darauf  gefaßt  sein'.  Das  deckt  sich  ungefähr  mit  dem, 
was  Walberg  bemerkt,  und  wenn  ich  nicht  den  Beifall  von  Ebeling  und 
Schulze  fand,  so  liegt  dies  wohl  daran,  daß  ich  'Stunde'  nicht  gesperrt  ge- 
druckt oder  'bestimmte'  nicht  in  Klammern  hinzugefügt  hatte;  in  der 
dritten  Auflage  glaube  ich  mich  klarer  ausgedrückt  zu  haben,  und  ich  sage 
jetzt  noch  deutlicher  in  der  vierten:  'nicht  auf  die  Stunde,  d.  h.  nicht 
auf  den  bestimmten  Zeitpunkt  achten'  (ein  solcher  ist  nicht  gegeben), 
daher  'jeden  Augenblick  des  Eintretens  eines  Geschehnisses  gewärtig 
sein',  oder  auch  'jeden  Augenblick  darauf  gefaßt  sein  müssen'.  Mit  an- 
deren Worten,  ich  betone  das  l'eure  und  verstehe  es  als  'eine  bestimmte 
Stunde',  'einen  bestimmten  Zeitpunkt',  und  daß  es  dies  heißt,  wird  m.  E. 
durch  das  Danebenstehen  einerseits  von  terme  und  andererseits  von  ne 
garder  quel  etire  (s.  die  Beispiele  oben)  bestätigt.  Mit  dem  gleichen  Sinn 
haben  wir  es  auch  in  den  vereinzelten  Beispielen  zu  tun,  wo  im  Hauptsatz 
kein  ne  steht  (s.  oben),  oder  wo  wir  ne  g.  que  (mais,  ne  mais^)  finden. 
Auch  hier  liegt  zwar  keine  gegebene,  festgesetzte  Stunde  vor,  aber  sie  ist 
gleichsam  in  der  Phantasie  des  Sprechenden  vorhanden,  weil  er  sie  immer 
vor  sich  sieht,  sie  ihm  deutlich  vor  Augen  steht,  er  die  Stunde  erwartet, 
in  der  das  Bedrohliche  eintreten  wird  (Indik.)  oder  eintreten  kann  (Konj.). 
Wie  lassen  sich  nun  mit  der  ersten,  häufigsten  Bedeutung  die  beiden 
anderen  'es  eilig  haben  mit'  und  'bald  (unversehens)'  vereinigen?  Ich  fasse 
zunächst  die  letztere  ins  Auge,  für  die  Walberg  mit  c'est  qu'on  se  laisse 
surprendre  par  l'evenement  gewiß  keine  richtige  Erklärung  gibt,  und 
schicke  zur  größeren  Deutlichkeit  eine  Stelle  aus  dem  Escoufle  7668  ff. 
(Walberg  S.  10)  voraus:  Les  puceles  en  ont  en  Tel  pitie  que  cascunne  en 
plore.  Mais  eis  ne  garderont  ja  l'ore  Que  eil  plour  a  ris  tourneront;  Que 
jou  cuit  bien  qti'eles  verront  Par  tans  en  la  cainbre  tel  rage  Qu'ainc  puis  . .  . 
N'ot  tant  de  joie  ne  tant  ris  en  un  ostel.  Es  ist  zu  beachten,  daß  an  allen 
Stellen  der  Indikativ  steht  und  das  Eintreten  eines  Geschehnisses  gar  nicht 
in  der  Vorstellung  des  Subjekts  liegt.,  sondern  nur  vom  Schriftsteller  als 
sicher  hingestellt  wird.  Wenn  letzterer  nun  im  Hauptsatz,  der  meistens 
das  Futurum  zeigt,  ne  garder  l'eure  gebraucht,  so  will  er  sagen,  daß  die  be- 
treffende Person  auf  die  Stunde  des  Eintretens  gar  nicht  zu  achten,  sich 
darum  gar  nicht  zu  kümmern  braucht  (an  allen  Stellen  ist  ne  g.  l. 
r= 'nicht  auf  den  Zeitpunkt  zu  achten  brauchen'),  da  das  Eintreten 
selbst  nicht  nur  gesichert  ist,  sondern  auch  nahe  bevorsteht,  näher  als  sie 
es  ahnt.  So  kommt  es  zu  den  Bedeutungen  'bald'  und  zuweilen  'unversehens'; 
letzteres  drückt  Chrestien  im  Yvain  2661 — 62  auch  mit  savoir  l'ore  aus: 
Ja,  ce  cuit,  l'ore  ne  savra  Qu'esperance  träi  l'avra.  —  Was  den  anderen 
nur  dreimal  belegten  Sinn  angeht  'es  eilig  haben  mit',  'es  nicht  erwarten 
können',  'es  lebhaft  wünschen',  so  kann  ich  Walberg  nicht  zustimmen,  wenn 
er  S.  8  meint,  von  der  ersten  Bedeutung  zu  dieser  sei  die  Entfernung  nicht 
groß,  ja,  ich  finde  gar  keinen  Weg  dahin.  Auch  sagt  er  nicht,  wie  er  sich 
diesen  Übergang  vorstellt,  dagegen  gedenkt  er  einer  anderen  Entwicklungs- 
möglichkeit: 'ne  pas  tenir  compte  de  l'heure'  [fix6e],  d'oü  'ne  pas  attendre 
que  l'heure  soit  venue',  'avoir  häte  de  faire  une  chose',  allein  diese  ist  doch 
sehr  gezwungen  und  nichts  weniger  als  überzeugend,  denn  der  Betreffende 
denkt  ja  gerade  an  nichts  anderes  als  den  Zeitpunkt,  wo  er  mit  etwas  fertig 
sein,  oder  etwas  Ersehntes  eintreten  könne,  man  erwartet  also  ein  il  garde 
l'eure.  Ich  sehe  nicht,  wie  man  aus  unserer  Wendung  selbst  zu  einer  plau- 
siblen Erklärung  gelangen  kann;  im  besten  Falle  bliebe  immer  der  Sprung 
von  einem  ne  pas  tenir  compte  de  l'heure  [fixee]  zu  einem  ne  pas  attendre 
que  l'heure  soit  venue,  und  so  zweifle  ich  denn  nicht,  daß  sich  eine  andere 


1  Auch  mais  fors  mit  n'at&ndre  im  Hunbaut  2128—29:  Si  que  eil  n'atent 
mais  fors  l'eure  De  morir  sans  autre  confort. 


120  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Ausdrucksweise  eingemischt  hat,  nämlich  das  häufige  ne  cuidier  veoir  Veure 
gwe-|-Konj.  'etwas  lebhaft  wünschen',  von  der  Walberg  S.  14  in  anderem 
Zusammenhang  spricht.  Den  von  ihm  zusammengetragenen  Belegstellen 
füge  ich  noch  hinzu:  Rom.  de  Renart  ed.  Martin  I,  84,  V.  2994,  Philomena 
460,  Clef  d'amors  3219,  Rom.  de  la  poire  2585  (formal  etwas  abweichend) 
und  Floire  et  Blaneheflor  2104,  vgl.  Jaufre  I,  131  b:  Ni  cuia  la  sazon 
vezer  Que  ah  ella  puesca  parlar.  Ich  meine  also,  daß  ne  garder  Veure  von 
ne  cuidier  veoir  Veure  beeinflußt  wurde  und  zuweilen  die  Bedeutung  des 
letzteren  annahm.  Den  gleichen  Sinn  hat  das  italienische  non  veder  Vora, 
das  W.  S.  13  unter  Pliuweis  auf  Entsprechendes  im  Spanischen  und  Räto- 
romanischen in  dankenswerter  Weise  berührt.  Angeschlo-ssen  sei  noch  Ro- 
vetta,  La  signorina  S.  355:  non  vede  Vora  di  cacciarsi  in  letto,  sowie  eine 
andere  Stelle  bei  demselben  Autor:  non  vedeva  il  momento  d'essere  a  Ge- 
nova,  und  bemerkt  sei,  daß  schon  C4oldoni,  Un  curioso  accidente  II,  8  sagt: 
non  vedo  Vora  di  veder  fremere,  di  vedere  a  disperarsi  Biccardo,  wäh- 
rend Boccaccio,  um  Gleiches  auszudrücken,  gli  parve  mille  anni  che  .  . .  ge- 
braucht (Decam.  III,  6;  IV,  2;  V,  8).  Freilich  begegnet  die  Wendung  schon 
bei  Giordano  Bruno,  Candelaio  IV,  5,  aber  hier  in  einem  ganz  anderen, 
geradezu  entgegengesetzten  Sinn :  Uo  inviato  alla  hotteca  di  Consalvo  tl  mio 
garzone  per  certa  polvere,  et  non  vede  ora  di  venir.  Bisogna  ch'io  vi  vadi, 
d.  h.  'er  hat  keinerlei  Eile',  eigentlich  wohl:  er  sieht  nicht,  findet  nicht 
eine  Stunde,  wo  er  zurückzukehren  hat.  Auch  im  Altfranzösischen  kommt 
übrigens  einfaches  ne  vcoir  Veure  [le  jor)  vor,  so  Rec.  gönßr.  d.  fabl.  I,  212, 
II,   106,  aber  es  heißt  da  nur  'die  Stunde  nicht  erleben'. 

Schließlich  sei  noch  ein  Irrtum  berichtigt,  der  sich  im  Rec.  g6n.  d.  fabl. 
II,  106  vorfindet.  Dort  sagt  die  Dame:  Faites  le  iien,  si  vos  levez,  Que 
mes  sires  vient  du  tornoi;  das  darauffolgende  Par  cele  foi  que  ge  vos  doi, 
G  e  ne  gart  l'  eur  e  que  il  viegne  wird  nun  von  den  Herausgebern  als 
Rede  des  Guillaume  aufgefaßt.  Wäre  dies  richtig,  dann  müßte  der  letzte 
Vers  dem  Zusammenhange  gemäß  heißen:  'es  ist  mir  ganz  gleichgültig,  ob 
er  kommt',  'ich  mache  mir  nichts  daraus',  ein  Sinn,  den  ne  garder  Veure 
sonst  niemals  hat.  Es  ist  jedoch  alles  bis  eschaperez  Rede  der  Dame;  die 
beiden  Striche,  die  die  Wechselrede  anzeigen  sollen,  sind  zu  beseitigen,  und 
damit  erhält  unsere  Wendung  wieder  ihre  gewöhnliche  Bedeutung. 

Jena.  O.  Schultz-Gora. 


Dantis  Alagherii  De  monarchia  libri  III  reo.  Ludovicus  Bertalot. 
Friedrichdorf  in  monte  Tauno  apud  Francofurtum  apud  edi- 
torem.  1918.  111  S.  8^  2  M.,  für  Seminare  und  ähnliche 
Studiengesellschaften  bei  6  und  mehr  Abzügen  1,60  M. 

Dieselbe  Handschrift  Bini,  die  Bertalot  aufgefunden,  und  mit  deren  Hilfe 
er  die  Abhandlung  Dantes  De  vulgari  eloquentia  in  vielfach  verbesserter 
Gestalt  1917  im  Selbstverlage  herausgegeben  hat,  enthält  auch  eine  gute 
Abschrift  der  drei  Bücher  De  monarchia.  Auf  Grund  dieser  Lesart  und  der 
Lesart  weiterer  elf  Handschriften  und  unter  Zuhilfenahme  der  Übersetzung 
Ficinos,  der  Editio  princeps  und  der  kritischen  Ausgabe  Wittes  ist  der  Text 
neugestaltet.  So  durchgreifende  Änderungen  wie  bei  der  Vulgaris  eloquentia 
konnte  man  hier  nicht  erwarten,  da  der  Text  in  den  bisher  bekannten 
Handschriften  schon  gut  überliefert  war.  In  einzelnen  Kleinigkeiten  ist 
aber  doch  manches  gebassert,  z.  B.  gleich  I,  1,  1  quos  ad  amorem;  II,  1, 
17 — 18  die  Herstellung  von  Wittes  uitio  und  muco  usw.,  und  die  Satz- 
zeichensetzung ist  einer  gründlichen  Neuordnung  unterzogen.  Das  Lesarten- 
verzeichnis ist  beschränkt;  die  Abweichung  einer  einzelnen  Handschrift, 
selbst  wenn  es  sich  um  eine  der  vier  handelt,  die  noch  aus  dem  14.  Jahr- 
hundert stammen,  ist  nicht  immer  angeführt.    Daher  kommt  es  wohl,  daß 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  121 

man  an  manchen  Stellen  über  die  abweichende  Lesart  Wittes  weder  bei 
diesem  noch  bei  Bertalot  Auskunft  findet.  So  I,  3,  33  W  hoc  etiam,  B  hoc; 
I,  d,  35  W  sie  et,  B  sie  etiam;  I,  15,  19  W  est,  B  sit;  II,  5,  98  W  putavit, 
B  putat;  III,  6,  4  W  ut,  B  quod;  III,  9,  76  W  esset,  B  est;  III,  9,  86  W 
pacein  milterc,  B  mittere  pacem;  III,  10,  54  W  co,  B  ea.  In  der  Recht- 
schreibung befolg-t  Bertalot  den  Grundsatz,  den  er  in  seiner  Ausgabe  der 
Vulgaris  eloqueutia  befolgt  hat,  ohne  ihn  weiter  zu  begründen.  In  Fuß- 
anmerkungen werden  die  Quellen  Dantes  kurz  angegeben.  Leider  fehlen 
aber  jegliche  Verzeichnisse,  wie  sie  jener  Ausgabe  beigegeben  wurden. 
Immerhin  ist  es  aber  sehr  erfreulich,  daß  man  Dantes  wichtige  Schrift  jetzt 
in  einer  so  sorgfältigen,  gut  gedruckten  und  billigen  Ausgabe  lesen  kann. 
Halle.  Berthold  Wifese. 

Dr.  Werner  von  der  Schulenburg,  Ein  neues  Porträt  Petrarcas. 
Eine  Studie  über  die  Wechselwirkung  zwischen  Literatur  und 
bildender  Kunst  zu  Beginn  der  Renaissancezeit.  Bern, 
Francke,  1918.    64  S.  Lex.-S«  und  4  Tafeln.    M.  10. 

Verfasser  macht  den  ganz  verunglückten  Versuch,  den  Krieger  auf  der 
Miniatur  Simone  Martinis  in  der  Virgilhandschrift  Petrarcas  als  ein  Bildnis 
Petrarcas  zu  erweisen.  An  zwei  dünnen  Fäden  reihen  sich  die  Beweis- 
gründe auf.  Das  von  de  Nolhac  entdeckte  Petrarcabild,  meint  Verf.  zunächst, 
kann  nicht  ähnlich  sein,  denn  es  stimmt  nicht  zu  anderen  gleichzeitigen 
Darstellungen,  und  Petrarca,  war  auch  nicht  so  schön,  sondern  eher  häßlich. 
Ich  sehe  nun  keinen  so  großen  Unterschied  in  den  verschiedenen  Miniaturen 
und  Bildern,  die  Anspruch  auf  Echtheit  haben,  von  dem  Bilde  in  der  Franz 
von  Carrara  gewidmeten  Handschrift  der  De  viris  illustribus.  Weiter  ist 
es  nicht  richtig,  daß  sich  Petrarca  selbst  für  häßlich  erklärt  hat.  Er  sagt 
in  dem  Briefe  ad  posteros:  'Forma  non  glorior  excellenti,  sed  quae  placere 
viridioribus  aunis  posset:  colore  vivido,  inter  candidum  et  subuigrum, 
vivacibus  oculis  .  .  .',  und  die  S.  19  aus  De  contemptu  mundi  angeführte 
Stelle  besagt  wegen  des  asketischen  Charakters  der  Schrift  nichts;  im 
Gegenteil  liest  man  zwischen  den  Zeilen,  daß  Petrarca  sich  für  hübsch  hielt. 
Boccaccio,  der  Petrarca  doch  genau  kannte,  sagt  von  ihm:  'Forma  venustus, 
facie  rotunda  atque  decorus',  und  Filippo  Villani:  'Fuit  poeta  aspectu  pulcher 
et  venerabilis,  statura  proc-erus.  hilari  facie  et  liueamentis.  proportionata 
venuste  .  .  ."  Ganz  verkehrt  ist  aber  die  Erklärung  des  Namens  8  i  1  v  u  n  u  s, 
den  Petrarcas  Freunde  ihm  scherzweise  gaben:  'Gewichtige  literarische 
Quellen  zeigen  nämlich,  daß  Petrarca  in  der  Zeit  seiner  Mannesjahre  nicht 
nur  in  seiner  Lebensführung,  sondern  auch  in  seinem  Äußeren  sogar  etwas 
Faunisches  gehabt  hat.  Die  Freunde  nannten  den  Einsiedler  von  Vaucluse 
scherzweise  Silvanus:  "Multi  ex  uostris  in  omni  sermone  saepius  me  Sil- 
vanum  quam  Franciscum  vocaut",  schreibt  der  Dichter  harmlo-s  an  seinen 
Bruder,  farm.  X,  4.'  Es  handelt  sich  um  den  bekannten  Brief,  in  welchem 
l'etrarca-Silvius  seinem  Bruder-Monicus  den  Sinn  der  Ekloge  Parthenias 
erklärt  und  von  dem  Namen  sagt:  'Nominum  ratio  haec  est:  primi  quidem 
tum  quia  in  silvis  res  acta  est,  tum  propter  insitum  ab  ineunte  aetate  urbis 
odium  amoremque  silvarum,  propter  quem  multi  ex  nostris  in  omni  sermone 
saepius  me  Silvanum  quam  Franciscum  vocaut.'  Silvanus  bedeutet  also,  wie 
Verfasser  hätte  sehen  müssen,  wenn  er  die  Stelle  gelesen  hätte,  und  wie 
auch  aus  de  Nolhac  zu  erkennen  war,  wie  Silvius  nur  der  Liebhaber  der 
Einsamkeit.  1^ 


^  Das  beweist  auch  die  zehnte  Ekloge  über  den  Sturz  eines  Lorbeer- 
baumes, den  Verfall  der  Dichtkunst  und  den  Tod  Lauras,  in  der  Petrarca 
sich  Silvanus  nennt,  und  vgl.  auch  Boccaccio  in  seiner  Vita:  'Nam 
quamquam    solitndine    .  .  .    delectatiir,    qnod    i|)senu't    in    quadam    ecloga    sua, 


122  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Diese  Auffassung  des  Verfassers  leitet  nun  aber  zu  dem  zweiten  Teile 
seiner  Arbeit  über,  der  eine  Miniatur  Simone  Martinis  mit  'faunischem' 
Gesichtsausdruck  als  realistisches  Petrarcabild  zu  erweisen  sucht.  Zunächst 
wird  behauptet,  daß  der  römische  Hauptmann  auf  der  Kreuzigungstafel 
dieses  Malers  ein  Selbstbildnis  des  Künstlers  sei,  denn  das  S.  P.  in  der 
Fahue  bedeute  nicht  etwa,  wie  gewöhnlich,  senatus  populusque  romanus 
(Q.  E.  sind  verdeckt),  sondern  Simon  pinxit.  Dazu  sollen  noch  um  den 
Kopf  die  Buchstaben  S.  A.  S.  P.  stehen  und  Simon  a  Sena  pinxit  bedeuten. 
Ich  erkenne  sie  nicht  und  finde  a  statt  de  auffällig.  Unter  allen  Umständen 
ist  die  Deutung  nicht  sicher.  Die  Gesichtszüge  dieses  Bildes  werden  nun 
in  der  aus  dem  17.  Jahrhundert  stammenden  Kopie  eines  Gemäldes  aus  der 
Sainte  Chapelle  in  Paris  wiedergefunden,  welches  den  Besuch  des  späteren 
Königs  Johann  von  Frankreich  bei  Clemens  VI.  in  Avignon  (1342)  dar- 
stellt. Der  Mann,  welcher  dem  Papste  in  des  Herzogs  Namen  ein  Diptychon 
in  senesischer  Art  überreicht,  soll  somit  Simone  sein,  und  folglich  soll  auch 
das  überreichte  Bild  von  ihm  herrühren.  Ich  finde  keine  große  Ähnlichkeit 
zwischen  beiden  Gesichtern.  Dieselben  Züge  soll  nun  endlich  auch  noch  der 
Servius  auf  der  bekannten  Miniatur  Simones  in  Petrarcas  Virgilhandschrift 
tragen,  so  daß  auch  diese  Figur  ein  Selbstbildnis  des  Malers  wäre.  Diese 
Miniatur  ist  nämlich  nach  Verf.  allegorisch  zu  fassen,  und  ihre  von  Pe- 
trarca in  lateinischen  Versen  beigegebene  Erklärung,  daß  Servius  Rittern, 
Landleuten  und  Hirten  Virgils  Werke  erklärt,  ist  nur  der  wörtliche  Sinn, 
die  schöne  Hülle;  der  eigentliche  Sinn  ist,  daß  Servius-Simone  dem  Ritter 
(Scipio) -Petrarca  in  Virgil-Petrarca  seine  eigene  künftige  Dichterkrönung 
zeigt.  Denn  der  Dichter  trägt  die  verklärten  Züge  des  Ritters,  und  dessen 
Erstaunen  ist  auf  die  Erkenntnis,  sich  sich  selber  gegenüber  zu  sehen, 
zurückzuführen.  Daß  dieser  Dichter  aber  Petrarca  ist,  wird  so  erwiesen: 
'Und  ehe  die  Einladungen  (zur  Dichterkrönung)  von  Rom  und  Paris  an- 
gelangt waren,  malte  er  dem  Dichter  für  seinen  Vergil  die  eigene  bevor- 
stehende Krönung,  eine  höfliche,  freundschaftliche  Schmeichelei,  ein  Ent- 
gegenkommen des  zarten  Malers  gegen  den  aktiven  Dichter.  Petrarca  wird 
im  Kostüm  des  Scipio  Africanus  dargestellt,  des  Helden  seines  Krönungs- 
epos,  des  Eroberers  Afrikas,  mit  den  Löwenköpfen  an  den  Knien.  Aber 
nicht  nur  weil  er  Schöpfer  Scipios  ist,  läßt  sich  Petrarca  von  Simone  so 
darstellen,  sondern  als  wiedergeborener  Scipio.  Petrarca  ist  Scipio  usw.' 
(S.  42.)  Weiter  heißt  es  S.  43:  'Mit  dieser  Verherrlichung  seiner  Persön- 
lichkeit als  Scipio  auf  der  Miniatur  ist  der  Eitelkeit  Petrarcas  aber  noch 
nicht  Genüge  getan.  Auch  von  Vergil  steckt  ein  Teil  in  ihm'  usw.  Auf  eine 
Wiedergabe  der  Gedanken,  wie  auch  die  eigenhändige  Eintragung  Petrarcas 
über  Lauras  Tod  vor  der  Miniatur  mit  dieser  Allegorie  in  Zusammenhang 
zu  bringen  ist,  verzichte  ich.  Es  sind  noch  größere  Hirngespinste  als  die 
vorherigen  Ausführungen.  Die  philologische  Vorbereitung  des  Verfassers 
ist  übrigens  viel  zu  dürftig;  er  beschränkt  sich  eigentlich  darauf,  einige 
Stellen  aus  Körting  und  de  Nolhac  auszuschreiben.  Man  versteht  daher 
nicht,  was  die  zahllosen  Literaturangaben  S.  5 — 10  sollen,  die  dazu  zum 
Teil  ganz  ungenau  sind.  Das  aus  de  Nolhac  stammende  Zitat  S.  19  gehört 
nach  S.  20,  wo  es  ebenso  verstümmelt  wiederholt  ist.  In  den  Literatur- 
angaben fehlt  Corazzinis  Ausgabe  der  Briefe  Boccaccios  bezeichnenderweise. 
Überzeugungstreue  kann  man  der  Arbeit  nicht  absprechen,  aber  Über- 
zeugungskraft. 

Halle.  Berthold  Wiese. 


cui  nomen  Argus,  testatur  amplissime  se  posterum  Solivagum  ac  etiarn 
Sylvium  vocitando,  fuit  tarnen  et  est  homo  moribus  et  loquela  civilis  .  . .' 
(Ausgabe  Solerti  S.  260). 


Verzeichnis 
der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Allgemeines. 

Zeitschrift  für  österreichische  Volkskunde.  Orgau  des  Vereins  für 
österreichische  Volkskunde  in  Wien.  XVIII.  Jahrgang,  1917.  5.  bi.s 
6.  (Schluß-)  Heft.  Mitte  Februar  1918.  Vitien,  Gerold  &  Co.,  1918.  [L.  von 
Führer:  Bilder  aus  Sekular,  Velika,  Plav  und  Gusinje  (mit  5  Abbildungen). 

—  R.   Kühnelt:    Das   Weib   in   Montenegro.   —   A.    Dachler:    Alte   deutsche 
Siedlungen   im  nordöstlichen   Italien    (mit  9   Grundrissen).] 

Zeitschrift  für  Geschichte  der  Erziehung  und  des  Unterrichts  (Neue 
Folge  der  ,Mitteilungen  der  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  und 
Schulgeschichte'.  Schriftleitung:  Prof.  Max  Herrmaiini.  Berlin,  Weidmann, 
1916.  VI.  Jahrgang,  1.  Heft  [E.  Schwabe,  Der  Methodiker  Joh.  Ehenius 
(1574 — 1639).  Ein  Beitrag  zur  Entwicklungsgeschichte  von  Melanchthons 
lateinischer  Grammatik.  —  R.  Stölzle,  Schulerinnerungen  eines  ^Vürz- 
burger  Jesuitenzöglings  aus  den  Jahren  1755 — 63].  —  2.  Heft  [E.  Körner, 
Erasmus  Alber  als  Pädagog.  —  A.  Arnheim,  Die  'Musicomastix'  des  Elias 
Herlicius.  —  R.  Köhler,  Das  höhere  Schulwesen  im  Herzogtum  Anhalt  bis 
zum  Jahre  1910].  —  3.  Heft  [F.  Boehm,  Antike  Kinderspiele.  —  A.  Herr, 
Die  Bücherverzeichnisse  der  ehemaligen  Schlaggenwalder  Lateinschule.  — 
A.  Schnizlein,  Schulgeschichtliches  aus  Stipendiatenbriefen].  —  4.  Heft 
[Quellen  und  Abhandlungen :  B.  A.  Müller,  Zur  Ikonographie  Jakob  Wimpf- 
lings.  —  R.  Stölzle,  Pestalozzi  und  die  bayrische  Regierung  im  Jahre  1802. 

—  S.   Aschner,  Der  deutsche  Unterricht  und   die  Romantik]. 

Litt,  Th.,  Geschichte  und  Leben.  Von  den  Bildungsaufgaben  geschicht- 
lichen und  sprachlichen  Unterrichts.  Leipzig,  Teubner,  1918.  V,  194  S. 
M.  3,60.  [Der  Titel  läßt  Gutes  erwarten.  Wer  sollte  in  dieser  Zeit  all- 
gemeinen Umsturzes  nicht  aus  dem  Studium  der  Vergangenheit  Lehren  für 
die  riesigen  Aufgaben  der  Gegenwart  erhoffen?  Je  weitere  Schichten  der 
Bevölkerung  in  einem  demokratischen  Gemeinwesen  zur  Teilnahme  an  der 
Regierung  gelangen,  desto  notwendiger  wird  historisch-politische  Massen- 
bildung. Was  ist  das  Ziel  des  Verfassers?  Im  Kapitel  'Normen  der  Gegen- 
wart' bezeichnet  er  es  als  'geistiges  Gesamtgebilde',  als  'Aufgeschlossenheit 
des  Mitfühlens'  und  handelt  von  der  Eingliederung  alles  Einzelwissens  in 
dies  'historische  Ganze',  S.  182.  Das  ist  die  Denkweise  eines  Humanisten, 
der  neben  der  Welt  lebt.  Der  Engländer  hat  die  Geschichte  als  das  Er- 
ziehungsmittel für  die  Jugend  zur  Führung  und  Förderung  seines  Staates 
ausgebaut.  Er  hat  damit  seine  Massen  zu  nationaler  Gewissenhaftigkeit 
und  zu  umsichtigem  sozialen  Wissen  gebracht.  Werden  wir  auf  die  Dauer 
uns  den  Luxus  einer  so  abstrakten  Bildungsschönheit  gestatten  können? 
Und  mit  wie  vielen  Worten  hat  unser  wohlmeinender  Autor  seine  schönen 
Träume,  die  an  transzendentale  Philosophie  erinnern,  vorgetragen!  Das 
Drucken   scheint   immer   noch    zu  billig.] 

Lenz,  Max,  Für  die  Hamburgische  Universität.  Zugleich  eine  Kritik 
der  Gegner.  Hamburg,  Broschek,  1918.  51  S.  4".  [Ein  Geschichtschreibi^^r 
des  Universitätswesens  stellt  hier  aus  genauer  Kenntnis  der  Verhältnisse 
die  Schwierigkeiten  dar,  die  sich  in  der  größten  Hafenstadt  Deutschlands 
der  Ausbildung  des  Hochschulwesens  entgegenstemmen.  Ein  Geist  un- 
mittelbarer Nützlichkeit  und  regionaler  Beschränktheit  werde  überall  fühl- 
bar. Nicht  einmal  die  Vertreter  der  neueren  Sprachen  würden  sich  in  dem 
ihnen  zugedachten  Rahmen  wohl  fühlen  könneu.  Mit  ganz  anderem  Ver- 
ständnis für  humanistische  Dinge  haben  die  Frankfurter  die  Universitäts- 
frage gelöst.] 


124  Verzeichnis  der  eingelaufeneu  Druckschriften 

Sachse,  ArnoUl,  Die  Kriegsiuaßnahnieu  der  proiißisclieu  Unterrichts- 
vervvaltung:  I.  Die  Erhaltung  der  Schulen;  IL  Sorge  für  die  Lehrer  und 
ihre  Zukunft;  III.  für  die  Familien  der  Lehrer;  IV.  Unterricht  und  Er- 
ziehung; V.  Benutzung  der  Schule;  VI.  Zukunft  der  Schüler;  VII.  Fort- 
setzung der  friedlichen  Tätigkeit.  (Internationale  Monatsschrift,  XI,  10. 
S.   1153—1196.)      Leipzig,  Teubner,   1917. 

Mitteilungen  des  Vereins  der  Freunde  des  humanistischen  Gymnasiums, 
hg.  vom  Vereins  vorstand,  redigiert  vom  Schriftführer  S.  Frankfurter. 
Wien,  Fromme,  1918.  Heft  18.  104  S.  [Das  Heft  beginnt  mit  einem  war- 
men Nachruf  auf  den  Grafen  Stürghk  als  früheren  Uiterrichtsminister 
Österreichs  und  ist  auch  mit  dessen  Bilde  geschmückt,  in  begreiflicher  Er- 
kenntlichkeit dafür,  daß  der  Graf  während  seiner  Amtstätigkeit  die  klas- 
sischen Studien  möglichst  gefördert  hat.  Dies  Verdienst  kann  auch  die 
Neusprachler  erfreuen.  Zu  bedauern  ist  nur,  daß  er  gleichzeitig  die  anglisti- 
schen Studien  beschränkte,  indem  er  eins  der  österreichischen  Ordinariate 
für  englische  Philologie  dauernd  zu  einem  Extraordinariat  zurückschraubte. 
—  Weiterer  Inhalt:  W.  Brecht,  Klassisches  Altertum  und  neueste  deutsche 
Dichtung,  S.  25 — 45.  —  L.  Mitteis,  Antike  Rechtsgeschichte  und  romanisches 
Studium,   S.   56 — 78.  — ■  Sitzungsberichte.  —  Zeitungsausschnitte]. 

Haberlandt,  M.,  Völkerkunde.  X.  Allgemeine  Völkerkunde.  Mit 
39  Abbildungen.     (Sammlung  Göschen,  73.)     Leipzig,  Göschen,  1917.    138  S. 

Sieben-Sprachen-Wörterbuch:  deutsch,  polnisch,  russisch,  weißruthenisch, 
litauisch,  lettisch,  jiddisch,  hg.  im  Auftrage  des  Oberbefehlshabers  Ost. 
Leipzig,  Spamer,  1918.  420  S.  [Unter  erschwerenden  Umständen  in  der 
Kriegszeit  entstanden,  als  Nebenarbeit  nach  der  laufenden  Beschäftigung 
der  Übersetzungsstelle,  ohne  wissenschaftliche  Hilfsmittel  und  ohne  die 
Möglichkeit,  Fachleute  zu  dauernder  Mitarbeit  heranzuziehen.  Die  Worte 
sind  aus  dem  täglichen  Gebrauch  des  Lagerlebens  geholt  und  dafür  be- 
stimmt. Beseheiden  erbittet  der  ungenannte  Verfasser  die  wohlwollende 
Nachhilfe  kundiger  Leser.] 

M  u  h  i  e  d  d  i  n  ,  Ahmed,  Türkischer  Sprachführer.  Taschenwörterbuch 
für  Eeise  und  Haus.    (Meyers  Sprachführer.)    Leipzig,  Bibl.  Institut.    267  S. 

Neuere  Sprachen. 

Schweizerisches  Archiv  für  Volkskunde.  (Vierteljahrsschrift  der  Schwei- 
zerischen Gseellschaft  für  Volkskunde,  hg.  von  E.  Hoffmann-Krayer  und 
A.  Rossat  t-)  XXII,  Bd.  1,  2.  Mit  12  Tafeln.  Straßburg,  Trübner,  1918. 
128  S.  Ausgegeben  1.  8.  1918  [L.  Rütimeyer,  Weitere  Beiträge  zur  Schweiz. 
Ur-Ethnographie  aus  den  Kantonen  Wallis,  Graubünden  und  Tessin.  Dazu 
Anhang:  F.  Fankhauser,  Zu  tessinisch  toria  'Speicher'.  —  A.  Rossat,  Les 
'loles'.  VIII.  —  S.  Meier,  Volkskundliches  aus  dem  Frei-  und  Kelleramt. 
II,  III.  —  Miszellen.   —  Bücheranzeigen.   —  Bibliographie   1917]. 

Beiträge  zur  Literatur-  und  Theatergeschichte,  Ludwig  Geiger  zum 
70.  Geburtstag  (5.  Juni  1918)  als  Festgabe  dargebracht.  Berlin,  B.  Bahr, 
1918.  XVI,  486  S.  [Auf  der  ersten  Seite  feiert  Fulda  den  Jubilar  als 
'redlichen  Sucher'  und  'redlichen  Finder'.  Dann  charakterisiert  ihn  der 
Herausgeber  Heinrich  Stümcke,  der  hierbei  im  Namen  der  Gesellschaft  für 
Theaterfreunde  auftritt,  als  beliebten  Hochschullehrer,  emsigen  Forscher, 
vielseitigen  Schriftsteller  und  Herausgeber.  Seinem  Wunsche,  dieser  Kriegs- 
band möge  dem  Vorkämpfer  der  Renaissance  und  Gegenwartsliteratur  (dem 
auch  das  Archiv  viele  Beiträge  verdankt),  eine  dauernde  Erinnerung  sein 
und  zugleich  von  Deutschlands  ungebrochener  Kraft  zeugen,  kann  man  sich 
nur  wärmstens  anschließen.  —  Die  Beiträge  sind  chronologisch  geordnet 
und  beginnen  mit  einer  Studie  von  G.  EUinger  über  Georg  Fabricius, 
der  an   der   sächsischen   Fürstenschule   zu   St.   Afra  in    Meißen   wirkte   und 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  125 

1545 — 52  drei  lateinische  Oden  drucken  ließ,  dazu  Reisegedichte  über  Italien 
und  Straßburg,  Hymnen  und  Engelslobgesänge.  Seine  reformatorische  Leb- 
haftigkeit, seine  Vorliebe  für  Vergleiche  aus  dem  Landleben,  seine  An- 
lehnungen an  Horaz  werden  hervorgehoben;  dann  auch  die  Eigenschaften 
seines  dichterischen  Freundes  Adam  Siber  (1516 — 84),  der  als  Rektor  der 
Fürstenschule  zu  Grimma  vorstand  und  sich  mehr  über  häusliche  und 
lokale  Vorkommnisse  verbreitete.  Der  individuelle  Ton  der  Goethezeit  soll 
von  derlei  neuliterarischen  Dichtern  ausgegangen  sein  (S.  12).  War  nicht 
schon  Walther  von  der  Vogelweide  individueller?  —  Am  meisten  habe  ick 
gelernt  aus  dem  zweiten  Beitrag,  worin  F.  Liebermann  die  Anschauungen 
Shakespeares  von  Staat,  Gesellschaft  und  Kirche  aus  dessen  'Heinrich  VIIL' 
herausschält.  Das  Stück  behandelte  Halbvergangenheit;  die  Kämpfe  lebten 
den  Leuten,  zwischen  denen  Shakespeare  aufwuchs,  noch  in  der  Erinnerung; 
die  Ergebnisse  hatten  seine  Lebensform  gemodelt:  da  ist  eine  besonders 
deutliche  Parteinahme  des  Dramatikers  zu  erwarten.  Liebermann  findet 
seine  Anschauung  von  der  Sittlichkeit  der  höheren  Gesellschaft  selbständig, 
tief  und  düster  (S.  14),  wie  sie  eben  ein  Menschenbeobachter  gewinnt,  der 
mit  mächtigen  Adligen  und  leitenden  Geistern  persönlich  verkehrt  hat. 
Shakespeare  hat  nicht  so  sehr  den  König  selbst,  sondern  vielmehr  die  zwei 
von  ihm  'schmählich  ins  Unglück  gestürzten  Personen',  Wolsey  und  Katha- 
rina, fein  porträtiert.  Die  Staatsangelegenheiten,  die  laut  Prolog  den  Haupt- 
inhalt bilden  sollten,  werden  im  Drama  nicht  entfernt  so  fühlbar  wie  etwa 
bei  Schiller.  Mehr  als  in  seineu  früheren  Königsdramen  hält  Shakespeare 
hier  die  hundert  kleinen  Einzelzüge  seiner  Quelle  fest,  viel  mehr  als  es  je- 
mals Goethe  getan  hat.  Anderseits  vermeidet  es  dieser  objektive  Künstler, 
seinen  Personen  'Ideen'  in  den  Mund  zu  legen;  er  bevorzugt  mit  der  Wirk- 
iichkeitstreue  eines  Modernen  'die  gemischten,  gebrochenen  Farben  der  Cha- 
raktere', hatte  wohl  auch  besondere  Rücksicht  auf  Hof  und  Beamte  unter 
seinen  Zuhörern  zu  üben.  Am  Charakter  des  Königs  hat  der  Dramatiker 
die  nach  englischer  Nationalsitte  bewährte  äußere  Form  bei  tyrannischer 
Handlungsweise,  also  die  'höfische  Falschheit'  festgehalten.  Manche  dunkle 
Flecken,  obwohl  sie  geschichtlich  beglaubigt  waren,  hat  er  fortgewischt: 
eheliche  Untreue,  Habgier,  Blutgerichte  aus  Religionsgründen.  Da  er  früher 
Richard  III.  und  Johann  Ohnelaud  nicht  schonte,  hat  er  wohl  auch  hier 
nicht  aus  Monarchismus  so  gehandelt,  sondern  eher  aus  Rücksicht  auf  den 
Begründer  der  anglikanischen  Kirche  und  den  Großvater  der  populären 
Königin  Elisabeth;  als  Cäsarist  hätte  er  Heinrich  weit  übermenschlicher 
hinstellen  müssen.  Staatsrechtliches  Denken  hätte  ihn  veranlassen  müssen, 
Heinrich  wegen  Mangels  eines  Erben  von  Katharina  abrücken  zu  lassen. 
Individuelles  Seelenleben  ging  ihm  vor.  An  Wolsey  dagegen  hat  Shake- 
speare mit  'genialem  Ahnen'  die  staatsmännische  Größe  erkannt  und  sie 
seinen  Tadlern  gegenüber  angedeutet;  er  sah  namentlich,  daß  Wolsey  das 
europäische  Gleichgewichtsspiel  mit  England  als  Zünglein  an  der  Wage 
begann.  Gutgläubig  übernahm  er  aus  seiner  Quelle  das  angebliche  Doppel- 
spiel Wolseys  mit  dem  Papste  als  Ursache  seines  Sturzes;  tatsächlich  ist 
dies  weder  erwiesen  noch  wahrscheinlich.  Cromwell  wird  nicht  wegen 
seiner  Förderung  der  Kronmacht  und  Verwaltung,  sondern  nur  als  kirch- 
licher Reformator  gefeiert;  Shakespeare  zeigt  sich  hier  ebenso  der  alten 
Kirche  abgeneigt  wie  in  'Heinrich  V.',  wo-er  die  Bischöfe  einen  Krieg  als 
Abhilfe  gegen  ein  antiklerikales  Parlament  anzetteln  läßt.  Daß  Thomas 
Morus  als  Blutzeuge  für  römischen  Katholizismus  starb,  wußte  um  1613 
jeder  Engländer;  Shakespeare  wünscht  ihm  Ruhm  übers  Grab  hinaus,  ver- 
schweigt aber  seine  Hinrichtung,  offenbar  um  den  König  oder  die  Angli- 
kaner  zu  schonen.  Den  Adel  bewundert  er  wegen  seiner  feinen  Form, 
seiner  Würde  im  Unglück,  seiner  Ritterlichkeit;  er  hat  keine  demokratische 
Ader;    die    'heilige    Königin'    empfiehlt    sterbend,    ihre   Hofdamen    nur    an 


126  Verzeichnis  der  eingelaufeneu  Druckschriften 

Adlige  zu  vermählen.  Dieser  Hofadel  der  Tudors  erstrebte  nicht  mehr 
mittelalterliche  Landeshoheit,  sondern  nur  Einfluß  auf  einen  starken  Mon- 
archen, was  Shakespeare  offenbar  besser  findet.  Shakespeare  weiß,  daß 
Suffolk  Schwager  des  Königs  war,  der  ihn  deshalb  beim  Vornamen  anredet: 
Kenntnis  höfischer  Etikette!  Die  Gier  des  Adels  nach  Klostergut  mußte 
er  auch  kennen  —  er  verschweigt  sie  aber  'in  adelsfreundlicher  Absicht' 
(S.  30).  Aber  er  läßt  den  ersten  Adligen  des  Reiches  an  unsittlichen  Hoch- 
verratsprozessen teilnehmen,  und  —  wohl  im  Hinblick  auf  Burghley  —  zieht 
er  für  höchste  Staatsämter  das  Talent  dem  Geblüt  vor.  Kein  Wort  für 
Parlamentsfreiheit!  Das  Volk  erscheint  ihm  als  Begaff  er  einer  Hof- 
zeremonie. Aber  das  Handwerk  zu  erhalten  ist  staatsnotwendig,  und  eine 
drückende  Steuer  für  das  Volk  hebt  Heinrich  auf  Bitten  der  Königin  auf. 
Völlig  fern  lag  es  Shakespeare,  die  Reformation  als  Ausfluß  völkischen  Tuns 
zu  betrachten.  Dagegen  erkennt  er  bereits  die  Macht  der  öffentlichen 
Meinung:  Heinrich  schmeichelt  den  Londonern  und  gibt  ihnen  trügerische 
Kunde  über  seine  Scheidung.  Buckingham  wünscht  dem  König  Volksliebe; 
Wolsey  erhielt  sie  durch  seine  Aktion  gegen  Buckingham.  —  Juristische 
Schulung  verrät  Shakespeare  nicht,  wohl  aber  Belesenheit  in  staatsmänni- 
schen Schriften;  sein  Heinrich  straft  sowenig  wie  der  historische  jemals 
mit  formloser  Willkür.  Ans  Köpfen  war  jene  Zeit  gewöhnt;  Anna  unter- 
hält ihren  Heinrich  damit  über  Mittag!  'Blutig  und  grausam'  läßt  er  nur 
den  Bischof  nennen,  der  unter  Maria  die  katholische  Gegenreformation 
'lenkte;  Marias  Hinrichtungen  wenigstens  hat  Shakespeare  deutlich  miß- 
billigt. Rechtskorruption  hat  Shakespeare  überhaupt  gut  durchschaut,  und 
zwar  selbständig,  mit  dem  gesunden  Gefühl  eines  Laien;  er  hat  auch  Hein- 
richs Schamlosigkeit  bei  Bestrafung  eines  Unrechts,  das  er  selbst  gewünscht 
hatte,  bloßgestellt.  Doch  fordert  er  nicht  bessere  Einrichtungen ;  ihm  genügt 
die  Gnade  des  Despoten;  er  war  kein  politischer  Reformator.  Kein  Haß 
oder  Hohn  gegen  die  katholische  Hierarchie  an  sich  und  das  Ehescheidungs- 
recht des  Papstes  wird  laut.  Er  verherrlicht  Katharina,  er  verherrlicht 
Elisabeth,  und  zwar  letztere  nicht  bloß  in  der  als  unecht  angezweifelten 
Weissagung  am  Schluß;  er  hat  namentlich  ihr  Geburtsjahr  anachronistisch 
nach  den  Tod  der  Katharina  verlegt,  um  ihre  Legitimität  absolut  sicher- 
zustellen. Selbst  die  Mutter  der  Elisabeth,  Anna,  nennt  er  —  im  Wider- 
spruch zur  Geschichte  —  sanft  und  allgemein  beliebt.  Daß  gerade  der 
vom  Dramatiker  verehrte  Cromwell  sie  vernichten  half,  ist  unterdrückt, 
ihre  historische  Koketterie  nur  schwach  angedeutet.  Cranmer,  von  katho- 
lischer Seite  als  'Lutherischer  Erzketzer'  geschmäht,  ist  ihm  Ideal  eines 
Bischofs,  trotzdem  ihm  in  Wirklichkeit  bedenkliche  Schwächen  anhafteten; 
vielleicht  schätzte  Shakespeare  sehr  hoch  seine  Verdienste  um  die  geistige 
Erziehung.  Im  ganzen  ist  das  Drama  eine  Studie  über  Falschheit;  aus 
Liebe  zu  England  ruft  dies  der  Dramatiker  selbst  den  höheren  Ständen 
seines  Landes  zu.  —  Selten  gewährt  ein  Quellenvergleich  so  tiefe  Einblicke 
in  die  Shakespearische  Seele.  —  Im  nächsten  Artikel  erzählt  P.  Expeditor 
Schmidt,  wie  der  lateinische  Schulmeister  Hartmann  im  Jahre  1602 
Hoftheaterdirektor  in  Dresden  werden  wollte;  ein  Kuriosum.  Es  folgt  Dr  oe- 
schers  Festrede  auf  den  200.  Geburtstag  Glucks,  an  dem  zumeist  die  Stil- 
fortschritte hervorgehoben  werden.  M  u  n  c  k  e  r  gibt  Nachträge  zu  seiner 
Ausgabe  von  Klopstocks  Oden  (1889);  Kl  aar  schildert  die  österreichische 
Uraufführung  von  Lessings  'Nathan',  die  zu  Preßburg  1785  stattfand  und, 
wie  es  scheint,  auch  der  erste  Nathan-Erfolg  war.  • — Anfänge  von  Maler  Mül- 
lers Berühmtheit  vorfolgt  L.  Franke  1.  Lauter  dankenswerte  Bausteine.  ■ — 
Mehrere  gute  Artikel  handeln  über  Goethe.  R  u  1 1  m  a  n  n  setzt  auseinander^, 
wie  sich  der  Weimarer  Geh.  Rat  zur  Reformationsfeier  auf  der  Wartburg  181  7 
stellte.  Goethe  bewunderte  die  Persönlichkeit  Luthers,  wünschte  aber  doch  di<' 
Feier   vom   22.   Oktober  auf   den   18.  verlegt,  als  auf  den  Tag  der   Schlacht 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  127 

bei  Leipzig,  denn  letzteres  Fest  sei,  weil  auf  alle  Deutschen  bezüglich,  doch 
ein  höheres  (S.  106).  Er  begann  selber  eine  Kantate  dafür  zu  dichten,  von 
der    wir    zwei    Strophen    besitzen,    die    allerdings    gar    nicht   konfessionell 

°      ■  Was  soll  all  der   Prunk  bedeuten? 

Regt  er  nicht  der   Seele  Spott? 
Wenn  wir  in  das  Freie  schreiten, 
Auf  den  Höhen,  da  ist  Gott. 

Auf  den  Höhen,  rein  umsäuselt, 
Wie  es  sich  auch  fügen  mag, 
Wenn  das  Lockenhaar  sich  kräuselt, 
Knaben,  Mädchen,   hier  ist  Tag. 

Als  dann  die  Freiheitsreden  der  Studenten  von  Preußen  und  Österreich  zu 
Vorstellungen  beim  liberalen  Großherzog  Karl  August  benutzt  wurden,  hat 
es  der  greise  Goethe  leider  unterlassen,  seinen  Fürsten  in  der  Öffentlichkeit 
zu  verteidigen.  Knebel  gegenüber  mißbilligt,e  er  'den  garstigen  Wartburger 
Feuerstank'.  Er  riet,  das  von  einem  der  Redner  herausgegebene  Oppositions- 
blatt 'Iris'  zu  verbieten,  worauf  jedoch  Karl  August  nicht  einging.  — 
J.  Landau  weist  nach,  daß  Goethe  bereits  an  eine  Wasserstraße  zwischen 
Donau  und  Rhein,  sowie  an  einen  von  den  Engländern  zu  erbauenden  Suez- 
kanal dacht«  (1827).  Etwas  wie  die  Sommerzeit  hat  er  1786  in  Italien 
erwogen,  die  Erörterung  von  Friedensbedingungen,  bevor  noch  der  Krieg 
beendet  ist,  als  Träumerei  bekämpft  (1810).  v.  W  esterholz  geht  dem 
wechselnden  Urteil  Goethes  über  Shakespeare  als  Bühnendichter  nach, 
Fritz  den  Erstaufführungen  des  'Faust'  an  rheinischen  Bühnen,  und 
E.  W  o  1  f  f  bringt  beachtenswerte  Gründe  dafür  vor,  daß  der  Plan  des 
Wilhelm  Meister,  den  'Hamlet'  für  das  Theater  zu  bearbeiten,  erst  nach- 
träglieh in  den  Meister-Roman  eingeschoben  wurde,  als  Reflex  von  Goethes 
späterer  Theaterleitung.  Goethe  und  Schiller  in  gegenseitiger  praktischer 
Beurteilung  erscheinen  im  Artikel  von  K  i  1  i  a  n  über  ihre  Bühnenbearbei- 
tungen des  'Egmont'.  Einen  Bericht  über  Goethes  Totenfeier  für  Schiller  in 
Lauchstädt  1805  teilt  Scheidemantel  mit,  und  zwar  aus  einer  Hs.  von 
A.  L.  Bucher  (dem  Vater  des  Bismarckischen  Bucher)  im  Weimarer  Schiller- 
haus 1859.  Schiller  allein  kommt  zum  Wort  in  einer  Skizze  von  Pctsch 
über  das  Verhältnis  des  'Teil'  zu  Shakespeares  'Julius  Cäsar'.  —  Die  weit- 
aus größere  Hälfte  des  Bandes  wäre  noch  zu  besprechen  übrig.  Sie  gilt 
überwiegend  der  modernen  Theatergeschichte:  Ifflands  Beziehungen  zur 
Stuttgarter  Hofbühne,  P.  A.  Wolff  und  Weimarer  Theaterzuständen,  Kotze- 
bue,  der  Volksbühne  am  Münchner  Isartor,  der  ältesten  deutschen  Schau- 
spieler-Pensionskasse, Bauernfeld  und  Saphir.  Haases  Anfängen  und  Shake- 
spearerollen, Gutzkow  und  der  Birch-Pfeiffer,  Brachvogel  und  Devrient, 
Hebbel.  Anzengruber,  auch  Ibsen.  Hervorgehoben  sei,  was  Stahl  über 
Kean  als  einen  tableaugewaltigen  Vorläufer  der  Meininger  berichtet;  in 
'Richard  IL'  hat  er  eine  ganze  Szene  vor  dem  4.  Akt  eingeschoben,  um  — 
nach  Andeutungen  Yorks  im  5.  Akt  —  den  Einzug  des  gestürzten  und 
des  aufstrebenden  neuen  Königs  vorzuführen  (S.  441).  Merkwürdig  ist 
endlich  die  Selbstkritik,  mit  der  sich  Dingelstadt,  von  dem  wir  bisher  un- 
gedruckt« Briefe  durch  O.  Francke  bekommen,  1875  über  seine  Wei- 
marer Aufführung  der  Königsdramen  aussprach:  'In  der  letzten  April- 
woche (23.  bis  30.)  hoffe  ich,  an  dem  dermalen  recht  hell  strahlenden  Himmel 
des  alten  Burgtheaters  das  Siebengestirn  der  Shakespearischen  Königs- 
dramen im  Zusammenhang  heraufzuführen:  das  Werk  meines  Le- 
bens, das  ich  zu  gutem  Teile  mein  eigen  nennen  darf 
(S.  419).  Den  tiefen  Eindruck,  den  er  mit  solcher  Erneuerung  seiner  Wei- 
marer Hauptarbeit  bei  den  Wienern  machte,  konnte  ich  1876  noch  selbst 
beobachten.  —  Wie  könnte  man  jede  Einzelheit  nennen,  ohne  zu  ermüden? 


128  Verzeichnis  der  eingelaufeneu  Druckschriften 

So  sei  nur  noch  bemerkt,  daß  Fontane  in  Briefen,  die  Pniower  mitteilt, 
über  Echtheit  und  Urform  von  Volksliedern  'höchst  ketzerische  Ansichten' 
verrät:  'die  bevviesensten  Formen  würden  noch  immer  keine  bindende  Kraft 
für  mich  haben'.  Er  findet  die  'sogenannten  Echtheitszüge  alter  Lieder  mit- 
unter sehr  schön',  aber  durchaus  nicht  immer.  Das  best«  Kriterium  sei 
'eine  feine  Zunge  für  derlei  Dinge'.  Im  allgemeinen  sei  ja  das  Ältere  auch 
das  Bessere.  Aber  wer  andere  als  wissenschaftliche  Zwecke  verfolge,  müsse 
es  doch  'vermeiden,  seinen  überfeinten  Geschmack  in  Widerspruch  mit  dem 
Geschmack  des  Publikums  zu  bringen'.  Er  selbst  zitiere  alles  'nur  um  Ton 
und  Stimmung  willen'  (S.  181).  So  geschrieben  in  Berlin  im  Jahre  187P, 
als  die  Nibelungenkritik  Lachmanns  und  die  Beowulfkritik  MüUenhoffs 
im  Mittelpunkt  der  germanistischen  Formung  standen.  Scherer  wußte  da- 
mals in  Gesprächen  den  dichterischen  Standpunkt  Fontanes  bereits  vollauf 
zu  würdigen;  Müllenhoflf  ließ  sich  durch  keine  dichterischen  Eigenempfin- 
dungen von  seinen  philologischen  Methoden  abbringen;  jeder  der  drei 
Männer  vertrat  in  seiner  Art  ein  berechtigtes  Prinzip,  und  wer  in  ihre 
Sphäre  hineingeriet,  konnte  für  die  Sache  viel  lernen.     A  Brandl.] 

B  r  a  n  d  i  s  ,  C.  G.,  Beiträge  aus  der  Universitätsbibliothek  zu  Jena  zur 
Geschichte  des  Tleformationsjahrhunderts.  (Zs.  des  Vereins  f.  thüringische 
Gesch.  u.  Altertumskunde.  Neue  Folge,  8.  Beiheft.)  Jena,  G.  Fischer,  1917. 
84  S.  M.  2.  [Für  Hamletforscher  ist  der  Artikel  über  den  Namen  Witten- 
berg bei  den  Humanisten,  S.  24 — 26,  von  Interesse;  um  den  Namen  voll- 
tönender zu  machen,  schrieb  man  ihn  auch  Wittenburg;  man  übersetzte  ihn 
mit  Leuc-oris,  Albi-oris,  Leucorium;  man  wollte  ihn  durchaus  von  einem 
mons  candens  herleiten,  der  in  die  Elbe  vorspringe.  Romanisten  werden 
den  Artikel  'Die  Pflege  des  Französischen  am  Hofe  der  sächsischen  Kur- 
fürsten Ernestinischen  Stammes'  gern  lesen.  Für  Deutschphilologen  sind 
Verse  auf  Friedrich  den  Weisen  und  die  Fürstenbilder  im  Schlosse  zu 
Wittenberg  abgedruckt.] 

Sigmann,  Luise,  Die  englische  Literatur  von  1800 — 1830  im  Spiegel 
dtr  zeitgenössischen  deutschen  Kritik.  (Anglistische  Forschungen,  hg.  von 
Hoops,  55.)  Heidelberg,  Winter,  1918.  318  S.  M.  12,50.  [Eine  nützliche 
Zusammenstellung,  allerdings  mit  einem  überwiegend  negativen  Ergebnis, 
denn  außer  Scott  und  Byron  haben  die  englischen  Poeten  der  untersuchten 
glänzenden  Periode  wenig  Gehör  in  deutschen  Landen  gefunden,  und  das 
vorwiegend  nur  bei  unproduktiven  Geistern.  In  England  war  man  um  die- 
selbe Zeit  umsichtiger.] 

Kindermann,  Heinz,  Hermann  Kurz  und  die  deutsche  Übersetzungs- 
kunst im  19.  Jahrhundert.  Literarhistorische  Untersuchung.  Suttgart, 
Strecker,  1918.  70  S.  M.  2.  [Von  den  anderen  deutschen  Übersetzern  des 
19.  Jahrhunderts  wird  zwar  nur  weniges  im  Vorbeigehen  bemerkt,  von  Kurz 
selber  jedoch  eine  recht  lesbare  Übersicht  gegeben.  Er  hat,  vielfach  vom 
finanziellen  Knüppel  getrieben,  aus  den  verschiedensten  Sprachen  übersetzt: 
Äschylos,  Shakespeare,  Ariost,  Lamartine,  Byron,  Cervantes,  Gottfried  von 
Straßburg;  von  einem  Eigenstil,  wie  z.  B.  Schlegel  in  der  Shakespeare- 
tlbertragung  nach  Goethe  ihn  schuf,  kann  man  da  nicht  reden.  Am  Grunde 
dieser  Tätigkeit  lagen  einige  Anregungen  von  Goethe  sowie  der  Trieb  der 
Eomantiker  zum  Erotischen,  die  Beweglichkeit  eines  süddeutschen  Geistes 
und  der  Einfluß  schwäbischer  Literaturkenner  wie  Rapp;  inwiefern  Kants 
Ästhetik  und  Hegels  Lehre  von  einer  Familiengemeinschaft  der  europäischen 
Völker  hereinspiegelten,  ist  nicht  ganz  klargelegt..  Für  die  Art  des  Über- 
tragens verwendet  Kindermann  Umschreibungen,  die  eine  lebhafte  Sehn- 
sucht nach  charakteristischen  Textproben  wecken.  Mehrfach  erwähnt  er 
auch  Handschriften,  ohne  jedoch  Proben  daraus  zu  geben.  Immerhin  gibt 
die  Schrift  eine  Ahnung  vom  Streben  unserer  Großväter,  aus  der  geistigen 
Enge    des    Biedermeiers    herauszuwachsen    zu    einem    freien    Umblick    über 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  129 

die  pochende  Gegenwartswelt.  Es  ist  auch  bezeichnend,  daß  Kurz  vom  Alt- 
griechischen ausging,  um  dazu  nie  mehr  zurückzukehren,  daß  er  auf  dem 
Gebiet  der  romanischen  Renaissance  sein  Bestes  leistete,  und  daß  er  nichts 
schwerer  fand,  als  mhd.   Verssprache  gut  zu  modernisieren.] 

Germanisch. 

Kau  ff  mann,  Friedrich,  Deutsche  Grammatik.  Kurzgefaßte  Laut- 
uud  Formenlehre  des  Gotischen,  Alt-,  Mittel-  und  Neuhochdeutschen. 
7.  Aufl.  Marburg,  Elwertsche  Verlagsbuchhandlung  (G.  Braun),  1917. 
VIII,   128   S.     Br.  M.   2,80,  geb.  M.   3,60. 

N  e  c  k  e  1,  Gr.,  Studien  zu  den  germ.  Dichtungen  vom  Weltuntergang. 
(Sitzungsberichte  der  Heidelberger  Akademie,  1918,  7.  Abh.)  Heidelberg, 
Winter,  1918.  52  S.  ['Sämtliche  Weltbrandmotive  des  nordischen  Ragnarök 
sind  fremder,  südöstlicher  Herkunft,  zur  Völkervvanderungszeit  durch  Goten 
entlehnt  .  .  .  Dagegen  fehlt  in  ihnen  der  Gedanke,  der  dem  germ.  Ragnarök 
die  Eigenart  gibt:  die  Überzeugung,  daß  man  gegen  die  vernichtenden 
Mächte  bis   zum   letzten   Blutstropfen  kämpfen  muß.'] 

S  i  e  v  e  r  s,  Eduard,  Die  altschwedischen  Upplandslagh  nebst  Proben 
formverwandter  germ.  Sagdichtung.  I:  Einleitung  (Sachs.  Ges.  d.  Wiss., 
Phil.-hist.  Klasse.  XXXV,  1.  VII,  262  S.  Mit  3  Fig.  im  Text.  4". 
Leipzig,  Teubner,  1918  [Vorbemerkungen.  —  A.  Zum  Gang  und  zur  Me- 
thode der  Untersuchung.  B.  Zur  Gebietsumschreibung  und  zur  Benennung. 
C.  Zur  Sprachform  und  Metrik.  I.  Sprachliches.  IL  Metrisches.  D.  Zu 
den  Texten.  Von  außerskandinavischen  Denkmälern  sind  benutzt  die  ags. 
Gesetze  des  Ine,  Alfred  und  Aepelred.  Eine  Klage  um  Land  aus  Lieber- 
manns 'Gesetzen',  Restitudinio,  2  Urkunden,  die  Annalen,  ^Ifric,  dessen 
eigene  Stimme  S.  211  beschrieben  wird,  und  Sprüche  des  Catos,  ferner 
einige  friesische  Stücke]. 

Dresdner,  Albert,  Nordische  Staats-  und  Kulturprobleme.  Deutsche 
Rundschau  44,  H.   3,   S.   302—328.     Berlin,   Paetel. 

Niederländisch. 

V.  Ziegesar,  Niederländischer  Sprachführer  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung der  flämischen  Mundart.  Taschenwörterbuch  für  Reise  und 
Haus.  Leipzig,  Bibl.  Institut,  1918.  VI,  277  S.  Geb.  M.  3.  [Das  Vor- 
wort betont,  daß  das  Niederländische,  auch  von  den  Flamen,  als  Schrift- 
sprache gebraucht  wird,  da  leider  das  Flämische  infolge  der  langen  Ver- 
nachlässigung nicht  den  Schliff  aufweise,  den  das  nördlichere  Niederländisch 
gewonnen  hat.  Der  deutsch-niederländische  Teil  des  Glossars  ist  ausführ- 
lich, der  niederländisch-deutsche  nur  ganz  kurz.  Beigaben,  Zahlwörter, 
Münzen  und  Gewichte,  Briefmuster,  geographische  Namen,  Speisen  und  Ge- 
tränke und  kurze   Flexionslehre.] 

Deutsch. 

Wasserzieher,  Ernst,  Woher ?  Etymologisches  Wörterbuch  der 
deutschen  Sprache.  Berlin,  Dümmler,  1918.  XXXII.  1.58  S.  [Der  Verf. 
liebt  unsere  Sprache,  bis  zur  Verachtung  des  Englischen,  das  er  als  einen 
bloßen  'Mischmasch'  bezeichnet;  aus  dem  Plattdeutschen,  speziell  aus  Reuter, 
hat  er  reichlich  zitiert.  Von  seinen  Lehrern  Kluge  und  Trautmann  hat  er 
eine  rechte  Freude  am  Etymologisieren  übernommen;  er  verzeichnet  nicht 
bloß  das  unmittelbare  Etymon,  sondern  bei  lieimisohen  Wörtern  auch  gern 
ags.  oder  an.  Parallelformen,  sogar  Verwandtschaft  mit  dem  Lateinischen, 
Griechischen,  Italienischen,  ferner  bei  geborgtem  Gut«  die  Zeit  des  Ein- 
dringens. Das  Buch  hat  wissenschaftlichen  Wert  und  linguistische  An- 
Archiv  f.  II.  .Spracben.     13^1.  9 


130  Verzeichuis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

regujigskraft.  Vorangestellt  sind  dem  Glossar  große  Listen  von  deutschem 
Erbgut,  von  Lehn-  und  Fremdwörtern,  die  überdies  nach  dem  Jahrhundert 
der  Aufnahme  gruppiert  sind,  von  rückgevvanderten  Wörtern,  wobei  z.  B. 
Halsberg  als  Verderbnis  von  ahd.  diu  halsherge  durch  französische  Zwi- 
schenstufe noch  angeführt  werden  konnte;  ferner  tautologische  Zusammen- 
setzungen wie  Bibelbuch,  Diebstahl;  Eigennamen,  die  zu  Gattungsnamen 
wurden  —  erg.  Baedeker;  gelungene  Verdeutschungen  und  Verdrängung 
deutscher  Wörter  durch  ausländische;  Volksetymologien;  ehrlicherweise 
auch  dunkle  Wörter.  Da  und  dort  mag  man  zweifeln,  wie  dies  bei  einem 
so  weiten  Stoff  natürlich  ist;    im  ganzen  ist  es  gute  Arbeit.] 

J  i  r  i  c  z  e  k,  Otto  L.,  Seifriedsburg  und  Seyfriedsage.  Eine  Sagen- 
studie in  Archiv  und  Gelände.  Archiv  des  bist.  Vereins  für  Unterf ranken 
und  Aschaffenburg,  LIX  (1917).  67  S.  [Unweit  der  Saale,  die  bei  Gemünden 
in  den  Main  fällt,  liegt  das  Dörfchen  Seyfriedsburg,  das  in  den  Urkunden 
zuerst  1057  auftaucht.  Zu  diesem  gehörte  im  15.  Jahrhundert  ein  'Hoff  zum 
Stuf  ritz',  dessen  Umwallungsreste  noch  heute  sichtbar  sind;  es  dürfte  sich 
um  ein  frühmittelalterliches  Kefugium,  eine  'Volksburg'  handeln,  die  man 
.später  als  Viehgehege  benutzte.  Eine  nahe  Wiese  unten  an  der  Saale  ist 
seit  1524  mit  dem  Namen  'Am  Lindwurm'  bezeugt.  Nun  wurde  der  Orts- 
name Seifriedsburg  auf  die  Fluchtburg  übertragen,  als  hätte  sie  einen 
Erbauer  namens  Seufritz  gehabt;  dieser  Name  wieder  veranlaßte  die  An- 
nahme, ein 'Sauhirt  namens  Fritz  habe  sie  einst  besessen;  und  jetzt  gesellte 
sich  das  Motiv  dazu  —  wohl  durch  Bänkelsang  oder  Siegfriedslieder  — ,  daß 
der  Hirt  durch  den  Fund  eines  Steins  sich  Unvtrwundbarkeit  errang,  so 
daß  er  im  Kriege  viele  Schätze  gewinnen  konnte,  sowie  daß  er  später  als 
Ritter  einen  Lindwurm  erlegt  habe.  Die  Anknüpfung  des  Liedes  an  den 
Flurnamen  erfolgte  zwischen  dem  15.  und  17.  Jahrhundert.  Aber  es  ist  auch 
mit  der  Möglichkeit  zu  rechnen,  daß  die  Flurnamen  'Seyfridsburg'  und 
'ländwurm'  selbst  aus  der  Sage  heraus  entsprungen  waren,  weil  die  Lage 
und  Beschaffenheit  der  Gegend  dazu  einlud.  Vorsichtig,  mit  Umsicht  jede 
Spur  in  Archiv,  Gelände  und  Sprachgeschichte  verfolgend,  ist  der  Verfasser 
dem  Problem  nachgegangen,  dessen  Bedeutung  weit  über  da,s  Lokale  hinaus- 
geht, denn  ährlich  wie  hier  mag  es  anderwärts  zugegangen  sein,  wo  Helden- 
sage an  Ortsnamen  haftete  und  später  durch  Sagenberichte  wieder  auf- 
gefrischt wurde,  z.  B.  bei  der  Heimesagv  in  Innsbruck- Willen,  auf  die  der 
Verf.  im  Vorwort  direkt  verweist.] 

Baesecke,  Georg,  Einführung  in  das  Althochdeutsche.  (Handbuch 
des  deutschen  Unterrichts  an  höheren  Schulen,  begr.  von  Adolf  Matthias. 
IL  Bd.,  1.  Teil,  2.  Abt.)  München,  Becksche  Verlagsbuchhandlung,  1918. 
XI,  285  S.     Geb.  M.   13,50. 

Dar  kloane  Catechismo  von  z'Beloseland,  vortraghet  in  z'gaprecht 
von  Siben  Kameün  un  a  viar  lialghe  gasang.  In  seminärien  von  Pädebe,  1842. 
(Manuldruck:  F.  Ullmann,  Zwickau,  Sa.)  39  S.  Verth  Kreuzer  T.  [Ende 
Juni  1915  veranlaßte  die  italienische  Heeresleitung  die  Räumung  der  deut- 
schen Sprachinsel  Sette  Communi  auf  dem  Hochplateau  von  Asiago.  Darauf 
ließ  die  Leipziger  Verlags-  und  Kommissions-Buchhandlung,  Leipzig-Reud- 
nitz,  Ranftsche  Gasse  10,  den  Faksimiledruck  des  sg.  Kloanen  Catechismo, 
als  das  letzte  Literaturdenkmal  der  Sprachinsel,  für  5  M.  —  statt  wie  bis- 
her um  20  M.  —  verkaufen.  Der  Text  liest  sich  wie  lebendiges  Althoch- 
deutsch.     Germanisten    sehr    zu   empfehlen.] 

S  u  c  h  i  e  r  ,  Wolfram,  Dr.  Christoph  Philipp  Hoester.  Ein  deutscher 
kaiserlich  gekrönter  Dichter  des  18.  Jahrhunderts.  Borna-Leipzig,  K.  Naske, 
1918.     112  S.     Geh.  M.  2. 

Briefe  von  und  an  Lenz,  ges.  und  hg.  von  Karl  Freye  und  Wolfgang 
Stammler.  Bd.  I  331  S.,  Bd.  II  312  S.  Leipzig.  Kurt  Wolff,  1918.  Geh. 
M.   18,  geb.  M.  24. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  131 

Tiieuhard,  F..  Einführung  in  Goethes  Faust.  (Wissenschaft  und  Bil- 
dung, 116.)  l^ipzig,  Quelle,  1918.  116  S.  [Die  1.  Aufl.  erschien  1912; 
jetzt  liegt  bereits  die  3.  vor.  Mit  Recht  freut  sich  Lienhard  im  Vorwort, 
daß  man  sich  mitten  im  Weltkrieg  mit  Goethes  Faust  noch  eingehend  be- 
sdiäftigt..  'Bewußter  als  zuvor  halten  wir  uns  eben  durch  den  Weltkrieg 
au  das,  was  wir  als  unser  im  tiefsten  und  trautesten  Sinne  des  Wort-es 
empfinden.'  Einen  Kommentar  wollte  er  nicht  bieten:  'meine  Einfühning 
legt,  den  Schwerpunkt  auf  den  Sinn  der  ganzen  Dichtung.'  Nicht  als  ein 
Philologe,  sondern  als  ein  Mitschriftsteller  plaudert  er  über  Goethe,  um 
gtbildete  Leser  mit  dessen  Lebenskern  vertraut  zu  machen.] 

Höniger,  R.,  Das  Deutschtum  im  Ausland  vor  dem  Weltkrieg.  2.  Aufl. 
(Aus  Natur  und  Geisteswelt,  402.)  Leipzig,  Teubner,  1918.  1,31  S.  [Der 
Sinn  ist  unberührt  geblieben,  die  Literaturangaben  jedoch  bereichert.  Das 
inhaltsreiche  Büchlein,  das  einen  der  notwendigsten  Bildungs-  und  Unter- 
richtsgegenstände für  jeden  Deutschen  behandelt,  und  zwar  mit  ausgedehn- 
testem Sachwissen   und   in   vornehmem   Stil,   verdient  breiteste  Beachtung.] 

Weiser,  Christian  F.,  Das  Auslanddeutschtum  und  das  Deutsche  Reich. 
Betrachtungen  und  Vorschläge.  Gotha,  Perthes,  1918.  72  S.  [Weiser,  be- 
kannt durch  eine  Studie  über  Shaftesbury,  hat  lange  in  Amerika  gelebt 
und  stallt  zunächst  vielen  deutschen  Unterlassungssünden  bei  der  Pflege 
unseres  Volkstums  die  Rührigkeit  der  angelsächsischen  Propaganda  gegen- 
über. Das  Ideal  der  deutschen  Persönlichkeit  sieht  er  in  der  Verbindung 
von  Einheit.  Freiheit  und  Walirhaftigkeit;  die  angelsäch.sische  Philasophie 
dagegen  sei  auf  das  Nützliche  und  den  Erfolg  eingestellt  und  führe  daher 
nicht  zu  wahrer  Freiheit.  Eingehend  wird  die  Tätigkeit  englischer  Mis- 
sionen S.  27/28  geschildert:  'Wir  haben  mit  Trauer  und  mit  Empörung 
erleben  müssen,  wie  englisch-amerikanische  Kirchen  und  Missionen  über  die 
ganze  Erde  hin  eben  jenen  Geist  christlicher  Liebe  und  Versöhnlichkeit, 
den  sie  zu  vertreten  vorgaben,  gröblichst  verletzten,  so  daß  die  Gesellschaft 
der  Quäker  sich  zu  einem  feierlichen  Protest  veranlaßt  sah.'  Für  die  Zu- 
kunft schlägt  Weiser  die  Gründung  zahlreicher  Stipendien  vor,  um  die  Aus- 
landdeutschen mit  dem  Mutterlande  in  engerem  Kontakt  zu  halten,  ferner 
eine  Organisation  der  Rückwanderung,  parlamentarische  Vertretung  für  die 
Auslanddeutschen  und  hierfür  sogar  ein  eigenes  'Reichsamt;  endlich  gründ- 
liche Erziehung  unseres  Volkes  zu  weit-  und  kulturgeschichtlichem  Denken 
durch  eine  besondere  Vortragseinrichtung  des  'Vereins  für  das  Deutschtum 
im  Auslande'.] 

Englisch.  1 

Anglia.  XLI,  Neue  Folgte  XXIX.  4.  Heft.  2.  Jan.  1918  [Keim,  H.  W.. 
Aepelwold  und  die  Mönchreform  in  England.  —  Westergaard,  E.,  A  few 
remarks  on  the  use  and  the  significations  of  the  prepositions  in  Lowland 
Scotch.  —  Holthausen.  F.,  Zu  me.  Romanzen:  V.  Amis  und  Amiloun. 
VI.   Ipomadon.    VII.   Le  bone  Florence  of  Rome]. 

Beiblatt  zur  Anglia.     XXVTII.  10.  Heft,  Okt.  1917   [Ta.  Ekwall :  Roberts. 

^  Der  Mentor-Verlag  wünscht  den  Abdruck  folgender  Berichtigung:  'Im 
Archiv  Band  1.37.  Heft  1/2,  S.  122/23  befinden  sich  in  der  Besprechung  von 
Holthausens  Etymologischem  Wörterbuch  Bemerkungen  über  das  Grieb- 
Schröersche  Wörterbuch,  die  geeignet  sind,  den  Mentorverlag,  G.  m.  b.  H., 
in  dessen  Verlag  das  Wörterbuch  seit  mehr  als  zehn  Jahren  erscheint,  aufs 
ärgste  zu  diskreditieren.  Ich  bedauere  diese  Angaben,  von  deren  Grund- 
losigkeit ich   mich  überzeugt  habe.     Der   Rezensent.' 

Die  Buchhandlung  Asher  &  Co.  berichtete  am  26.  Februar  1919:  'Grieb- 
Schröer  wird  neuerdings  von  Langeuscheidt  wieder  ausgeliefert,  2  Teile  zu 
je  12  M.' 


132  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

The  place  names  of  Sussex.  —  Liljegren:  Wood,  The  form  and  origin  of 
Milton's  antitrinitarian  conception.  —  Eichler:  Erzählungen  und  Essays 
von  William  Yeats.  Übertragen  und  eingeleitet  von  F.  Eckstein.  —  Görne- 
niann:  Salomon,  Der  britische  Imperialismus.  —  Liebermann:  Morsbach, 
England  und  die  englische  Gefahr.  Vortrag,  geh.  in  Göttingen  2.  3.  1917.  — 
I  b.  Liebermann,  Zur  Geschichte  des  englischen  Hasses  gegen  deutsches 
Wesen.  —  Björkman,  Wortgeschichtliche  Kleinigkeiten:  12.  ne.  jump.  13.  Zu 
Irish  'an  old  game  resembJing  backgammon.  14.  me.  crot,  crote  'a  particle, 
bit,  atom.  15.  ne.  skin.  —  Björkman,  Berichtigung.  —  llolthausen,  Zu 
Gorboduc.  IL  Karpf:  Die  neuphilologische  Lehrerbibliothek.  Zusammen- 
gestellt von  einem  bayrischen  Neuphilologen].  —  11,  November  [la.  Groth: 
Stahl,  L.  Tiecks  Shakespeare-Studien.  Zwei  Kapitel  zum  Thema:  L.  Tieck 
und  das  alte  englische  Theater.  Caro:  Mill,  On  liberty  and  the  subjection 
of  women.  —  Emerson,  English  traits.  —  Günther,  A  manual  of  English 
pronunciation  and  grammar  for  the  use  of  Dutch  students.  —  Ib.  Björk- 
man, Zur  Haveloksage.  —  Rooth.  Der  Name  Grendel  in  der  Beowulfsage.  — 
IL  Caro:  English  fairy  tales.  Selected  and  arranged  by  L.  Kellner.  — 
Nursery  rhymes.  Selected  and  arranged  by  L.  Kellner.  —  Meilin:  Aschauer, 
Neuer  Lehrgang  der  englischen  Sprache  für  Mittelschulen  und  verwandte 
Lehranstalten.  —  Trenite,  Drop  your  foreign  accent.  —  Dinkler,  Englische 
Gedichte  und  Lieder].  - —  12,  Dezember  [Eehr:  Fausler,  The  evolution  of 
techdic  in  Elizabetlian  tragedy.  —  Cohen,  The  ballade.  —  Björkman:  Kr  i- 
ger,  iSchwierigkeiten  des  Englischen.  —  Poutsma,  A  grammar  of  Late  Modern 
English.  —  Holthausen:  Liebermann,  Die  Gesetze  der  Angelsachsen.  — 
Ib.  Zachrisson,  Some  notes  on  early  English  nieknames].  —  XXIX,  1, 
Januar  1918  [la.  Hoops:  Liebermann,  Die  Gesetze  der  Angelsachsen.  — 
Fehr:  Brown,  Shakespeare  and  the  horse.  —  Liljegren:  M.  L.  Bailey,  Milton 
and  J.  Boehme,  a  study  of  German  mysticism  in  17th  Century  England. 
Chauvet,  La  religion  de  Milton.  —  Ib.  Fehr,  Die  Erforschung  des  modernen 
Englands  (1880 — 1914).  Praktische  Ratschläge  für  Auglisten.  IL  Mit- 
teilungen]. —  2,  Februar  [Ekwall:  Holthausen,  Etymologisches  Wörterbuch 
der  englischen  Sprache.  Schöffler,  Chauceriana.  Saue.  Graynes  de  Paris.  — 
Fehr,  Die  Erforschung  des  modernen  Englands  (Fortsetzung)].  —  3,  März 
[la.  Förster:  Geiriadur  Cymraeg  a  Saesneg.  Spurrell's  Welsh-English 
dictionary,  edited  by  J.  B.  Anwyl.  ■ —  Geiriadur  Saesneg  a  Cymraeg. 
Spurrell's  English-Welsh  dictionary,  edited  by  J.  B.  Anwyl.  —  Björk- 
man: Günther,  English  Synonyms,  explained  and  illustrated.  —  Ib.  Holt- 
hausen, Zum  englischen  Drama.  1.  Zu  King  Lear  I,  2,  162.  —  2.  Zu 
J.  Thomsons  'Edward  and  Eleonora'.  —  Ekwall,  A  note  on  i-  mutated  pri- 
mitive English  a  before  1  foUowed  by  a  consonant.  —  Fehr,  Die  Erforschung 
des  modernen  Englands  (Fortsetzung).  —  Fehr,  Eine  bisher  unbeachtete 
Funktion  der  progressiven  Form?  IL  Neue  Bücher.  III.  Mitteilungen: 
Liebermann,  Zum  uhi  sunt? -Motiv].  —  4,  April  [la.  Kellner:  Götz,  Die 
komischen  Bestandteile  von  Shakespeares  Tragödien  in  der  literarischen 
Kritik  Englands.  —  Eichler:  Wende,  Über  die  nachgestellten  Präpositionen 
im  Ags.  Ib.  Fehr,  Die  Erforschung  des  modernen  Englands  (Fortsetzung)]. 
—  5,  Mai  [la.  Vietor:  Morte  Arthure.  Mit  Einleitung,  Anmerkungen  und 
Glossar  hg.  von  E.  Björkman.  —  Lange:  Cummings,  The  indebtedness  of 
Chaucer's  works  to  the  Italian  works  of  Boccaccio.  —  Hörn :  Hutton,  W.  Ho- 
garth.  —  Hogarths  Aufzeichnungen:  seine  Abhandlung  Analyse  der  Schön- 
heit ergänzt  durch  Briefe  und  autobiographische  Erinnerungen,  übertragen 
und  hg.  von  M.  Leitner.  —  Ekwall:  Hilmer,  Schallnachahmung,  Wort- 
schöpfung und  Bedeutungswandel  auf  Grundlage  der  Wahrnehmungen  von 
Schlag,  Fall,  Bruch  und  derartigen  Vorgängen,  dargestellt  an  einigen  Laut- 
wurzeln der  deutschen  und  der  englischen  Sprache.  —  Eichler:  Casement, 
Gesammelte  Schriften,  2.  —  Schmitz,  Englands  politisches  Vermächtnis  an 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  133 

Deutschland  durch  B.  Disraeli,  Lord  Beaconsfield.  —  Ib.  Holthausen,  Zum 
ne.  Drama.     1.  Zu  der  Komödie  Patient  Grissill.     2.  Zu  Chettle's  Hoffman. 

—  Holthausen,  Zu  dem  me.  Gedicht  'De  arte  lacrimandi'.  I.  Zum  Text].  — 
G,  Juui  [Western:  Deutschbeiu,  System  der  ne.  Syntax.  —  Zachrisson; 
Stichel,  Die  englische  Aussprache  nach  den  Grammatiken  Peytons  (1756, 
1765).  —  Caro:  Cooper,  The  last  of  the  Mohicuns.  —  Ib.  Björkman,  Wort- 
geschichtliche Kleinigkeiten.  16.  ne.  sand-asp.  17.  sleac.  18.  me.  shamm 
'shame'.  —  Fehr,  Die  Erforschung  des  modernen  England.s  (Schluß).  — 
II.  Neue  Bücher]. 

Spräk  och  stil.  (Tidskrift  för  nysvensk  spräkforskniug.)  Sjuttonde 
ärgängen.      Förster   —   andra    haftet.      Uppsala,    Akademiska    Bokhandeln, 

1917.  95   S. 

Koch,  John,  Angelsachsen  und  Engländer.  Konservative  Monatshefte, 
Jahrg.  76,2,  S.  83 — 91.      [Ergebnis:    'So  sehen  wir  im  heutigen   Engländer 

—  vielleicht  mehr  noch  im  Nordamerikaner  —  eine  Wesensart  ausgeprägt, 
die  ihn  merklich  von  den  Angelsachsen  unterscheidet,  deren  Abkömmling 
er  sich  nur  mit  geringem  Rechte  nennt.'] 

Deutschbein,  Max,   Sprachpsychologische  Studien.   Köthen,  0.  Schulze, 

1918.  40  S. 

von  Gl  ahm,  Nikolaus,  Zur  Geschichte  des  grammatischen  Geschlechts 
im  Me.  vor  dem  völligen  Erlöschen  des  aus  dem  Ae.  ererbten  Zustandes. 
Mit  besonderer  Berücksichtigung  der  jüngeren  Teile  der  Peterborough 
Chronik  sowie  südöstl.  und  einiger  anderer  südl.  Denkmäler.  (Angl.  For- 
schungen, hg.  von  Joh.  Hoops.  lieft  53.)  Heidelberg,  C.  Winter,  1918. 
VIII,   104   S. 

Sir  Degrevant,  hg.  von  Karl  Luick.  (Wiener  Beitr.  47.)  Wien,  Brau- 
müller, 1917.  VII,  139.  [Die  eine  der  beiden  Handschriften,  Thornton, 
war  bisher  nicht  voll  gedruckt,  sie  ist  hier  samt  der  zweiten,  einem  Cam- 
bridge-Ms.,  synoptisch  wiedergegeben,  was  einem  bloßen  Lesartenverzeichnis 
entschieden  vorzuziehen  ist.  Beigaben:  Kurze  Beschreibung  der  Hand- 
schriften und  des  Inhalts;  Liste  der  Eigennamen  und  der  im  Ne.  fehlenden 
Wörter  mit  einfacher  Übersetzung.] 

Vetter  mann,  E.,  Die  Baien-Dichtungen  und  ihre  Quellen.  (Bei- 
heft« z.  Zs.  f.  rom.  Philol.  60.)  Halle,  Niemeyer,  1918.  X,  311  S.  M.  14, 
im  Abonn.  M.  12.  [Bis  S.  84  als  Leipziger  Diss.  1914  erschienen.  Die 
neuen  Kapitel  behandeln  die  Vorgeschichte  von  Malorys  Text,  der  wesentlich 
auf  der  Balaain-Erzählung  in  einem  Huth-Ms.  des  Brit.  Mus.  beruht.  Diese 
franz.  Quelle  stammt  selbst  wieder  aus  einer  dritten  Redaktion  der  Suite  de 
Merlin,  eines  angeblichen  Werkes  des  Robert  de  Boron;  genannte  Redaktion 
ist  wesentlich  in  einer  spanischen  Übersetzung  vorhanden,  genannt  De- 
manda  del  sancto  Grial.  Vettermann  versenkt  sich  dann  tief  in  die  kelti- 
schen und  die  altfrz.  Elemente,  aus  denen  der  Baien-Text  des  Pseudo-Robert 
zusammengesetzt  wurde.  Diese  Forschungen  machen  einen  soliden  Eindruck; 
um  die  Darstellung  zu  klären,  sind  zweimal  Zusammenfassungen  gemacht, 
S.  188  und  am  Ende.  Wir  haben  es  nicht  mit  originaler,  sondern  mit 
epigonenhafter  Dichtung  zu  tun,  die  dem  Unterhaltungsbedürfnis  der  Ritter- 
gesellschaft mit  sehr  wer  ig  Wirklichkeitssinn  nachkam.  Der  walisische 
Nationalstolz  des  Galfred  von  Monmouth  ist  darin  nicht  mehr  zu  spüren. 
Ein  englisches  Empfinden  ist  noch  nicht  bei  Malory  hineingekommen,  ob- 
wohl dieser  Lancaster-Vasall  mitten  in  der  Selbstmordzeit  des  englischen 
Feudaladels  schrieb,  sondern  erst  bei  Tennyson,  dem  angehenden  Imperia- 
listen, neben  dem  Swinburne  fast  wie  ein  bloßer  Ästhet  sich  ausnimmt.] 

Reschke,  Hedwig,  Die  Spenserstanze  im  19.  Jahrhundert.  (Anglist. 
Forschungen,  hg.  von  Hoops,  54.)  Heidelberg,  Winter.  1918.  VIII,  198  S. 
M.  8.  [Die  Einleitung  handelt  über  Entstehung  und  Wesen  der  Spenser- 
stanze  und   deutet   auf    die  Ergebnisse   voraus.      In   der    ersten    Hälfte   des 


134  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

19.  Ja h Thunder t-s  war  der  Gebrauch  der  Spensersüiuze  meist  mit  Nach- 
bildunjj  von  Spensers  Stil  verknüpft;  so  bei  Wordswortli,  Coleridge,  Southey, 
Tighe,  Hunt.  Keats,  Reynolds,  Hood,  Holm,  Tennyson.  Aber  Byron  im 
'Childe  Harold'  schlug  eine  freiere  Richtung  ein,  und  ihm  folgten  Shelley, 
Campbell,  Scott,  Hogg  u.a.  In  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  ist 
dann  die  Stanze  fast  aufgegeben  —  sie  war  ein  zart^'s  Kind  der  Romantik.] 

Reuning,  Karl,  Das  Altertümliche  im  Wortschatz  der  Spensernach- 
ahmungen  im  18.  Jahrhundert.  (Quellen  und  Forschungen  116.)  Straß- 
burg, Trübner,  1912.  [Die  Studie  ist  bei  Prof.  Hörn  (Gießen)  gearbeitet, 
und  zwar  nach  der  Liste  der  benutzten  Bücher  im  Eingang  noch  ohne 
Kenntnis  von  Traugott  Böhmes  Schrift  über  die  Spensernachahmungen, 
Palästra.  Sie  beginnt  mit  Prior,  1706,  und  reicht  bis  Thomas  Warton, 
1777.  Manche  Dichter,  wie  Mickel  und  Downman,  haben  Dutzende  von 
Wörtern  geborgt;  es  sind  nicht  die  bedeutendsten  Geister.  Pope  und  Aken- 
side  hielten  sich  origineller.  Auf  die  Beschreibung  der  borgenden  Autoren 
folgt  die  der  geborgten  Wörter;  eine  Tabelle  veranschaulicht  die  Zeit  und 
den  Grad  ihrer  Altertümlichkeit.  Als  Anhang  sind  zwei  einschlägige  Dich- 
tungen abgedruckt,  die  man  sonst  in  Deutschland  schwer  bekommt:  'An 
original  canto  of  Spenser',  171.3  von  einem  ungenannten  Verfasser,  und  'The 
seasons',   1751   von  Mendez.] 

Schott  n  er,  Adolf,  Über  die  mutmaßliche  stenographische  Entstehung 
der  ersten  Quarto  von  Shakespeares  'Romeo  und  Julia'.  Dissertation.  Leip- 
zig, Koehler,  1918.  VI,  S.  229—340.  (Erscheint  in  der  Zeitschrift  'Archiv 
für  Schriftkunde',  1.  Jahrg.,  6.  Heft.  Wegen  Personalmangels  in  der 
Druckerei  ist  die  Seitenzählung  der   Zeitschrift  beibehalten  worden.) 

Shakespeare  in  deutscher  Sprache,  hg.,  zum  Teil  neu  übersetzt  von  Fried- 
rich Gundol  f.  X.Band.  Berlin,  Bondi  (1918).  432  S.  [Trotz  der  Kriegs- 
nöte ist  Gundolfs  Übersetzung  jetzt  bis  auf  zwei  Bände  fertig  geworden, 
und  weder  die  an  die  Keimscott  Press  erinnernde  Schönheit  des  Druckes 
noch  die  poetische  Führung  des  Textes  hat  gelitten;  nur  der  Umschlag  ist 
nicht  mehr  in  Leinen  oder  Leder  ausgeführt,  sondern  durch  einen  Not- 
einband ersetzt,  auch  der  Preis  ist  etwas  erhöht  worden.  Perlen  von  Shake- 
speares Lustspielen  sind  in  diesem  10.  Bande  vereint:  Sommernachtstraum, 
Cymbelin,  Sturm,  Wintermärehen.  Als  Probe  sei  die  bekannte  Stelle  aus 
Sommern  ach  tstraum  V,  1  über  die  Phantasiegewalt  der  Poesie  mitgeteilt, 
links  nach   Schlegel,   rechts  nach  Gundolf: 

Ich  glaubte  nie  an  diese  Feenpossen  Ich  kann   nicht  glauben 

Und   Fabelei'n.      Verliebte  und   Ver-  An  solche  Ammen-mär  und  Elfenfabel. 

rückte  Verliebte  und  Verrückte  haben  Hirne 

Sind  beide  von  so  brausendem  Gehirn,  So  siedend,  Sinne  so  erfinderisch, 
So     bildungsreicher     Phantasie,     die  daß   sie 

wahrnimmt.  Mehr   sehen   als   der   kühle  Kopf  be- 
Was    nie    die    kühlere   Vernunft   be-  greift. 

greift.  Der    Narr,    der    Liebhaber    und    der 
Wahnwitzige,   Poeten    und   Verliebt«  Poet 

Bestehn    aus    Einbildung.      Der   eine  Sind  ganz   aus   Einbildung  gemacht. 

sieht  Der  sieht 

Mehr    Teufel,    als     die    weite    Hölle  Mehr  Teufel,  als  die  weite  Hölle  faßt: 

faßt:  Das   ist  der   Narr.     Liebhaber,   grad 
Der    Tolle    nämlich;      der     Verliebte  so  toll, 

sieht  Sehn  auf   der   Mohrenstirn  Helenens 
Nicht     minder     irr :     die     Schönheit  Reiz   .  .  . 

Helenas  Des  Dichters  Aug',  in  schönem  Wahn- 
Auf  einer   äthiopisch  braunen  Stirn.  sinn    rollend, 

Des  Dichters  Aug',  in  schönem  Wahn-  Blitzt   auf    zum   Himmel,   blitzt   zur 

sinn   rollend,  Erd    hinab. 


Verzeichuis  der  eingelaufeuen  Druckschriften  135 

Blitzt   aul:    zum    Himmel,    blitzt   zur      Und    wie    die    schwangre  Phantasie 

Erd'   hinab,  Gebilde 

Und    wie    die    schwangre    Phantasie      Von  unbekannten  Dingen  ausgebiert, 
Gebilde  Gestaltet   sie  des   Dichters  Kiel,   be- 

\'on  unbekannten  Dingen  ausgebiert,  nennt 

(Jest-altet  sie  des   Dichters   Kiel,   be-      Da«  luftige  Nichts  und  gibt  ihm  festen 

nennt  Wohnsitz. 

Da»s  luftige  Niohts  und  gibt  ihm  festen 

Wohnsitz. 
Es  tut  wohl,  daß  Guudolf,  so  sehr  er  in  den  einleitenden  Versen  seine  Ver- 
besserungiskunst  gebraucht  und  Shakespeare  mehr  in  die  Khetorik  der  Re- 
naissance umstimmt,  doch  Schonung  walten  läßt,  sobald  er  zum  klassisch 
gewordenen  Spruch  vom  schönen  Wahnsinn  gelangt,  durch  dessen  innere 
Pracht  allerdings  bereits  Schlegel  zu  einer  höheren  Tonart  gehoben  war. 
Solcher  Beispiele  ließen  sich  mehrere  anführen.  Glückauf  zur  baldigen 
Vollendung!] 

G  r  ü  n  e  w  a  1  d  ,  Wilhelm,  Der  Formenbau  der  englischen  Bibel  (authori- 
sed  Version  1611).  Diss.  Gießen  1917.  Mainz,  Philipp  von  Zabern.  X, 
37  S.  [Beschreibung  der  Formen  mit  Vei-gleich  derer  von  Chaucer  nach 
ten  Brink,  Caxton  nach  Eömstadt,  Spenser  nach  Liese  und  Boehm,  Shake- 
speare nach  Franz.] 

Spranger,  Eduard,  Shaftesbury  und  wir.  Internat.  Monatsschrift 
XII,  12.     1917.     S.   1477—1504.     Leipzig,  Teubner. 

Jacobson,  Anna,  Charles  Kingsleys  Beziehungen  zu  Deutschland. 
(Anglistische  Forschungen,  hg.  von  Joh.  Hoops.  Heft  52.)  Heidelberg, 
('.  Winter,  1917.     VIII,  100  S. 

Fischer,  Walther,  Die  persönlichen  Beziehungen  R.  M.  Milnes',  ersten 
Barons  Houghton,  zu  Deutschland,  unter  besonderer  Berücksichtigung  seiner 
Freundschaft  mit  Varnhagen  van  Ense.  Habilitationsschrift.  Würzburg, 
Triltsch,  1918.  IX,  92  S.  [Die  Gedichtsammlung  'Palm  leaves'  von  Milnes 
1840  war  keine  besondere  Leistung,  wie  Fischer  richtig  bemerkt;  mit  Grund 
hat  er  sie  auf  S.  6  ff.  mit  einigen  Proben  und  Werturteilen  abgetan.  Von 
den  Versen  'Plight  of  youth'  sagt  er,  daß  sie  an  Keats  gemahnen:  vielleicht 
auch  an  Shelleys  'Euganean  Hills'?  Was  Milnes  aus  dem  Deutschen,  be- 
sonders von  Platen,  Goethe  und  Heine,  übersetzt,  hat  wesentlich  stoffliche 
Bedeutung.  Am  interessantesten  ist  er  durch  seine  persönlichen  Beziehun- 
gen mit  hervorragenden  Schriftstellern  und  Politikern.  Fischer  hat  dafür 
neues  Material  beigebracht.  So  brachte  Milnes  1850  den  deutschböhmischen 
Freiheitskämpfer  Moritz  Hartmann  mit  Carlyle  zusammen,  über  den  dann 
Hartmanu  berichtet,  daß  er  einen  'Schatz  von  Humor,  Weisheit  und  Poesie' 
in  sich  trage,  daß  er  aber  von  der  Bewegung  von  1848  'gewaltig  erschrocken' 
sei,  als  wäre  er  'ein  nervenschwacher  detitscher  Professor  oder  Hofrat,  und 
sieht  Gott  und  die  Zivilisation  zugrunde  gehen,  wo  beide  sich  doch  nur 
offenbaren',  S.  63.  So  erhalten  wir  in  loser  Form  eine  Reihe  literarischer 
und  staatsmännischer  Einzelheiten.  Am  Schluß  kommt  Fischer  noch  auf  das 
berühmt  gewordene  Gespräch  zwischen  Kronprinz  Rudolf  und  Milnes  über 
österreich-LTngarns  Ausdehnung  nach  Saloniki   1880  zu  sprechen.] 

Aron  stein,  Ph.,  George  Meredith,   Tl.     { Internationale  Monatsschrift 
Xll.  4,  S.  40.3— 426;   III,  IV,  des.  5,  S.  487— 500.)      Leipzig,  Teubner,   1918. 
Tauchnitz  edition.     CoUection  of  British  and  American  authors.    Leipzig, 
B.  Tauchnitz.     Je  M.  2,50: 

\'6[.  4524.     Earl-  of   Chesterfield,    Letters    to  his    son. 
„     4525.     R.  W.  Emerson,  The  conduct  of  life. 
Fehr,   B.,   Erforschung   des   modernen    Englands    (1880 — 1914).      Prak- 
tische Ratschläge  für  Anglisten.      (Sonderabdruck  aus  'Beiblatt  zur  Anglia', 
Bd.  29.)     79  S.     Halle.  M.  Niemeyer,  1918. 


136  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

Yeats,  W.  B.,  Das  Land  der  Sehnsucht  (The  land  of  heart's  desire), 
ein  dramatisches  Märchen  in  einem  Aufzug,  aus  dem  Irischen  übertragen 
von  F.  Weekley  und  E.  L.  Stahl.  (Englisches  Theater  in  deutscher  Über- 
tragung, hg.  von  Stahl,  1.)  Düsseldorf,  Schrotsdorff,  1911."  18  S.  [Die 
Übersetzung  liest  sich  fließend.  Es  ist  ein  Verdienst,  dies  schöne  anglo- 
irische  Stück,  das  1913  englisch  bei  der  Weihnachtsfeier  des  Englischen 
Seminars  Berlin  aufgeführt  wurde,  unserem  Volke  nahegelegt  zu  haben. 
Ein  Schlußwort  von  anderthalb  Seiten  weist  hin  auf  den  Gesamtcharakter 
der  modernen  anglo-irischen  Dichtung,  die  bisher  leider  fast  nur  durch 
Shaw  bei  uns  bekannt  wurde.] 

D  i  b  e  1  i  u  s  ,  Wilhelm,  Die  Sinn  Feiner  in  Irland.  (Internat.  Monats- 
schrift XI,  12,  S.  1409—1424.)     Leipzig,  Teubner. 

Krüger,  Gustav,  Uneuglisches  Englisch.  Eine  Sammlung  der  üblich- 
sten Fehler,  welche  Deutsche  beim  Gebrauch  des  Englischen  machen.  2.  stark 
verm.  Aufl.  Dresden,  Koch,  1918.  XII,  246  S.  [Deutsche,  französische, 
lateinische  und  neuenglische  Ausdrücke  werden  in  alphabetischer  Ordnung 
durchgenommen  und  auf 'ihre  Verwendung  in  moderner  englischer  Sprache 
hin  erläutert:  manchmal  nur  in  Form  einfacher  Übersetzung,  meist  durch 
Aufzählung  idiomatischer  englischer  Phrasen.  Nicht  die  Fehler,  sondern 
das  Richtige  findet  man  im  allgemeinen  zusammengestellt,  auf  Grund  der 
Erfahrungen,  die  der  Verfasser  in  einem  25jährigen  Unterricht  gemacht  hat. 
Nicht  die  Anlage,  sondern  der  Umfang  hat  sich  bei  dieser  Neuauflage  ver- 
ändert;   er   will   nicht  korrigieren,   sondern   von  vornherein  warnen.] 

B  r  a  n  d  e  i  s,  A.,  und  R  e  i  1 1  e  r  e  r,  Th.,  A  first  Englisch  primer.  With 
a  diagram  showing  the  organs  of  speech,  and  a  table  of  the  English  coins. 
Mit  Erlaß  des  k.  k.  Ministeriums  für  Kultur  und  Unterricht  vom  20.  Juni 
1917  zum  Unterrichtsgebrauch  an  Realgymnasien  allgemein  zugelassen. 
2.  verb.  Aufl.  Wien  u.  Leipzig,  F.  Deuticke,  1917.  VII,  105  S.  Geb.  M.  2,40. 
[Mit  nursery  songs  beginnt  die  Aussprachlehre,  mit  Sätzchen  aus  dem  Schul- 
leben der  Flexionsunterricht.  Der  Anfänger  soll  bereits  den  Phrasenvorrat 
des  täglichen  Lebens  gewinnen,  so  daß  ihm  die  Fremdsprache  von  vorn- 
herein zur  Unterrichtssprache  werden  kann.  Mit  sorgsamer  Steigerung 
leitet  ihn  das  Buch  zu  eigener  englischer  Rede,  zu  einigem  Wortreichtum, 
zur  Kenntnis  von  England,  zu  Essays.  Es  ist  ein  mit  Liebe  und  Geschick- 
lichkeit hergestelltes  Elementarbuch,  das  dem  praktischen  Sinn  der  öster- 
reichischen Anglistik  Ehre  macht.] 

von  Loebell,  G.,  Englisch-deutsches  Militär  -  Taschenwörterbuch  zur 
Vorbereitung  für  militärische  Prüfungen.  Nach  der  englisch-französischen 
Ausgabe  von  Meyer-Griffith  deutsch  mit  Erweiterungen  bearbeitet.  Berlin- 
Schöneberg,  Langenscheidt.  137  S.  Preis  1  M.  [Der  Inhalt  beschränkt 
sich  naturgemäß  auf  militärische  Ausdrücke  und  Phrasen  und  ist  nach  den 
englischen   Hauptwörtern  alphabetisch   geordnet.] 

Englisches  Tornisterwörterbuch  mit  genauer  Angabe  der  Aussprache. 
4.  Aufl.  Berlin-Schöneberg,  Mentor.  198  S.  12".  [Inhalt:  Englische  Orts- 
namen, S.  6 — 7;  Kleine  Karten  von  England,  London  und  Londons  Um- 
gebung; Maße,  Gewichte  und  Münzen,  letztere  mit  Abbildungen,  Zahlwörter, 
Telegraphenschlüssel  für  Zimmerbestellungen  in  Gasthäusern;  Aussprache- 
zeichen, S.  25—27;  Das  Wichtigste  aus  der  Flexion,  S.  28—40;  Wörter- 
verzeichnis, geordnet  nach  dem  Deutschen  und  unter  Beifügung  von  Phrasen; 
Gespräche,  S.  155 — 187.  Offenbar  für  die  Bedürfnisse  des  vordringenden 
Soldaten  berechnet,  der  sich  deutlich  und  sehr  höflich  ausdrücken  will;  Ge- 
bote der  Gesundheitspflege  im  Felde.  Das  Büchlein  hat  gewiß  in  den  eng- 
lischen Gefangenenlagern  gute  Dienste  geleistet.  Etwas  genauere  Winke 
für  richtige  Aussprache  hätte  seine  Handlichkeit  kaum  beeinträchtigt.] 


Zu  Lessings  Aufsatz  Romulus  und  Rimicius. 

Matthias  Claudius  besprach  in  seinem  'Deutschen,  sonst  AVands- 
becker  Bothen'  1773  Lessings  ersten  Beitrag  'Zur  Geschichte 
und  Litteratur,  aus  den  Schätzen  der  Herzogl.  Bibliothek  zu 
Wolffenbüttel'.  Die  Anzeige  fehlt  in  den  gesammelten  Werken 
von  Claudius.^  Vollständige  Exemplare  der  Zeitschrift  sind  be- 
kanntlich sehr  selten,^  und  so  wird  eine  Wiedergabe  der  Be- 
sprechung, welche  ich  auf  der  Lübecker  Stadtbibliothek  mir  aus- 
geschrieben habe,  nicht  unmllkommen  sein.    Sie  lautet:" 

'Baco  sagt  irgendwo,  daß  es  den  Leuten,  die  Kopfs  genug  hätten,  selbst 
Systeme  zu  erfinden,  sehr  schwer  falle  dies  Talent  zu  verläugnen,  und 
blosse  Beobachter  des  Systems  der  Natur  zu  werden,  als  wozu  ein  minderes 
Talent  auch  gut  genug  wäre.  Als  Herr  Lessing  Bibliothekar  ward  konnte 
einem  so  etwas  ähnliches  einfallen,  was  wird  er,  der  selbst  so  gut  kann, 
sichs  eben  so  sauer  um  das  werden  lassen,  was  die  andern  gekonnt  haben? 
Herr  Lessing  hat  indess  durch  die  angezeigte  Schrifft  [sie!],  und  schon 
vorher  gewiesen,  dass  man  Unrecht  hatte,  wenn  man  sich  so  was  ähnliches 
einfallen  ließ,  und  daß  er  es  nicht  allein  verstehe,  seine  Gelehrsamkeit  ge- 
legentlich mit  zu  seinem  Privat-Nutzen  zu  gebrauchen,  wie  in  den  Briefen 
antiquarischen  Inhalts  etc.  sondern  daß  er  auch  genug  Freund  der  Litte- 
ratur sey,  um  sich  keine-  Mühe  und  keinen  Fleiss  verdriessen  zu  lassen, 
das  Wolfenbütteische  Hörn  des  Überflusses  recht  in  seine  Hand  zu  fassen, 
und  zum  Vortheil  der  Gelehrten  ohne  Ansehn  der  Persohn  und  der  Litte- 
ratur überhaupt  auszuschütten,  und  daß  die  Familie  der  Galosti's  ihn  daran 
nicht  hindre.'* 

'Was  von  Lessing  kommt  hat  allemal  einen  entschiedenen 
Werth',  schrieb  Zoega  am  16.  Dezember  1778,^  und  Lessings  Bio- 
graph Erich  Schmidt  sagt:  'Auf  Lessings  Vermächtnis  weisen 
die  besten  Männer  und  Gelehrten  mit  gehobener  Hand.'  ^  Lessings 
Verdienste  um  die  Geschichte  der  Fabel  haben  bisher  keine  Wür- 
digung erfahren,  seine  Arbeiten  sind  zum  Teil  der  Vergessenheit 
anheimgefallen,  Fortschritte  über  ihn  hinaus  in  manchen  Fragen, 
welche  ihn  beschäftigten,  nicht  gemacht,  zum  Teil  müssen  die 
neueren  Arbeiten  als  Rückschritte  bezeichnet  werden.'^ 


1  Vgl.   Wolfgang  Stammler,   Matthias   Claudius    (1915)    S.  54  A.  65. 

2  Auch  in  dem  Exemplar  der  Hamburger  Stadtbibliothek  fehlt  diese 
Anzeige. 

■«  177.?  Nr.  27.  Dienstags,  den  16.  Februar.  St.B.Lübeck,  Philol. 
ümm.  40,  .3310. 

*  Reiske  wünschte  Lessing  Glück,  wie  er  'den  entsetzlichen  Wirrwarr, 
den  der  verdammte  Franzose  . . .  gemacht  hatte,  so  meisterhaft  auseinander- 
gesetzt und  den  so  verfitzten  Knaul  so  behutsam  und  so  glücklich  ent- 
wickelt'.    Hempel  XX  2,  667,  vgl.  K.  Borinski,  Lessing  II    (1900)    S.  24. 

■^  Welcker,   Zoegas  Leben  I,  Klassiker  der  Archäologie  II    (1912)    S.  99. 

ß  E.   Schmidt,  Lessing  I^   (1884)    S.  2. 

^  So  die  Inhaltsangabe  Danzel-Guhrauers  über  Lessings  Aufsatz  'Ro- 
mulus und  Rimicius'.  (Gotthold  Ephraim  Lessing,  2.  Aufl.  von  W.  v.  Malt- 
/ahn  und   R.   Boxberger,  II    [1881]    S.  336)  :    'Romulus  und   Rimicius   haben 

Archiv  f.  n.  Sprachen.     139.  10 


138  Zu  Lessings  Aufsatz  Romulus  und  Rimicius 

So  wurde  1912  die  lateinische  Äsop-Übersetzung  des  Leonardo 
JJati  aus  dem  Codex  Ehedigeranus  60  herausgegeben.^  Daß  Les- 
sing diese  Handschrift  benutzt  hatte,  war  dem  Verfasser  un- 
bekannt geblieben.  Der  Codex  ist  deutlich  und  gut  geschrieben. 
Lessing  hat  meist  ihn  richtiger  gelesen  als  der  neue  Herausgeber, 
wie  folgende  Übersicht  erweist: 


Cod.  Rhedig.  60 

Lessing 

Tacke 

Praef.  12 

iubes 

iubes 

iube 

Epim.  4 

latina 

latina 

latine 

Epim.  6 

latina 

latina 

latino 

XXIII  4 

exalet 

exalet 

exalit 

Nur  das  Corrarum  der  Überschrift  —  corrai  steht  im  Rhedigera- 
nus  —  hat  Lessing  stillschweigend  in  Corrarium  geändert,  mit 
Recht,  denn  Dati  hat  seine  Fabeln  dem  Grregorio  Corraro  ge- 
widmet, der  auch  eine  —  noch  nicht  gedruckte  —  Sammlung  la- 
teinischer Fabeln  —  vermutlich  zwischen  Februar  1431  und  Ok- 
tober 1433  —  herausgab.^  —  Nachdem  Lessing  im  Dezember 
1763  in  Breslau  'griechische  und  lateinische  Handschriften  der 
Bibliothek  zu  St.  Elisabeth  ohne  nachweisbaren  Ertrag  studierte'  ^ 
—  freilich  sind  sie  für  uns  doch  nicht  ohne  nachweisbaren  Ertrag, 
wie  angedeutet,  geblieben,  und  es  erscheint  schwer  verständlich, 
wie  die  Hinweise  Lessings  dem  Breslauer  Herausgeber  ent- 
gingen — ,  hat  Lessing  in  Wolfenbüttel  sich  intensiv  mit  der 
Geschichte  der  äsopischen  Fabel  beschäftigt.  Freilich  ist  er  mit 
dieser  Geschichte  nach  seines  Bruders  Ausdruck  nicht  zustande 
gekommen.*  Aber  in  dem  Aufsatz  über  Romulus  und  Rimicius 
liegen  uns  doch  Ergebnisse  seiner  Forschungen  vor,  wie  sie  nur 
ein  Lessing  und  nur  in  Wolfenbüttel  liefern  konnte.  Diesem  Auf- 
satz gelten  die  folgenden  Bemerkungen,  welche  nur  dem  Ver- 
ständnis und  der  Erklärung  von  Lessings  Worten  dienen  sollen. 
Lessing  liefert  den  Nachweis,  daß  1.  Romulus  in  Steinhöwels 
Äsop,  welchen  der  Franzose  Nevelet  Rimicius  nannte,  ein  Ro- 
mulus sei,  2.  Rimicius  mit  Romulus  nichts  zu  tun  habe,  'daß  er 
weder  Romulus  ist,  noch  den  Romulus  auch  nur  herausgegeben'. 
Die  Verwechslung  von  Romulus  und  Rimicius  geht  auf  Nevelet ""' 
zurück.   Er  hat  Steinhöwels  Äsop  benutzt,  welcher  lateinisch  und 

beide  den  Äsop  aus  dem  Griechischen  in  lateinische  Prosa  übersetzt  und 
mehr  oder  weniger  verstümmelt.'  Romulus  als  Übersetzer  aus  dem  Griechi- 
schen? Da  seheint  Lessing  für  die  Lessingforscher  vergeblich  gearbeitet 
zu  haben.  In  der  Ausgabe  von  Boxberger  (Deutsche  National-Literatur, 
Bd.  68  I  S.  X)    erscheint  Romulus  als  Bearbeiter  äsopischer   Fabeln. 

1  0.  Tacke,  Rhein.  Mus.  LXVII    (1912),  S.  276— 301. 

2  Rhein.  Mus.  LXX   (1915)   S.  385—387. 

3  E.  Schmidt,  ■  Lessing  1^   (1884)    S.  451. 

*  Lessing,  Vermischte  Schriften  II  S.  XXXII. 
5  Mythologia  Aesopica  1610.     Vgl.  S.  142,  A.  2. 


Zu  Leasings  Aufsatz  Romulus  und  Rimicius  139 

deutsch  die  vier  Bücher  des  Romulus  enthält,  dann  Extravagantes, 
17  Fabeln  aus  der  Übersetzung  des  Rimicius,  27  aus  Avian  und 
—  wenn  man  will,  als  Anhang  —  23  Fabeln  des  Petrus  Alphonsi 
und  Poggius.^  Wenn  Nevelet  Deutsch  gekonnt  liätte,  wäre  die 'Ver- 
wechslung unmöglich  gewesen,  da  Steinhöwels  Vorrede  deutlich 
von  einem  'leben  des  hochberümten  Fabeldichters  Esopi  uß  kri- 
chischer  zungen  in  latin  durch  Rimicium  gemachet'  . . .  und  von 
'Fabeln,  die  etwan  Romulus  von  Athenis  synem  sun  Thiberino  uß 
kriechischer  zungen  in  latin  gebracht,  hatt  gesendet',  spricht.^ 
Auch  die  Schlußschriften,  welche  Steinhöwel  den  einzelnen  Samm- 
lungen hinzugefügt,^  hätten  Nevelet  über  den  wahren  Sachverhalt 
aufklären  können.  Trotzdem  geht  die  Verwechslung  des  Romulus 
und  Rimicius  weiter,  als  selbst  Lessing  gemerkt  hat. 

Es  handelt  sich  um  die  Fabel  von  dem  Fuchs  und  den 
Trauben.  Die  antiken  Fassungen  der  Fabel  ^  dürfen  für  unseren 
Zweck  unberücksichtigt  bleiben,  sie  stimmen  in  allem  Wesent- 
lichen miteinander  überein.  Dagegen  ist  die  Fassung  in  Stein- 
höwels .Sammlung  zu  vergleichen  mit  Romulus,  unter  dessen 
Fabeln  sie  Steinhöwel  am  Anfang  des  vierten  Buches  aufgenom- 
men hat,  und  mit  der  lateinischen  Übersetzung,  welche  Rimicius 
von  der  alten  äsopischen  Fabel  nach  einer  griechischen  Hand- 
schrift gemacht  hat.^ 

Der  Vergleich  auf  S.  140  lehrt,  daß  in  der  Tat  hier  unter  den 
Romulus-Fabeln  eine  Übersetzung  des  Rimicius  erscheint.  Ob 
eine  Verwechslung  Steinhöwels  vorliegt  oder  schon  früher  die 
Rimicius-Fabel  in  das  Romulus-Corpus  geriet,  können  wir  nicht 
mit  Sicherheit  entscheiden.  Die  Abweichungen  in  Auslassungen, 
Zusätzen  und  Umstellen  einzelner  Wörter  überschreiten  nicht  das 
Maß,  welches  wir  in  den  anderen  Rimicius-Fabeln  bei  Steinhöwel 
finden.^  Auffallend  ist,  daß  Steinhöwel  der  Fabel  kein  Promy- 
thion hinzugefügt  hat,  wie  er  es  bei  fast  allen  Rimicius-Fabeln 
getan  hat.  Unter  den  Romulus-Fabeln  haben  nur  Fab.  1  und  21, 
die  sich  an  das  Proömium  anschließen,  71  und  72,  wo  bei  Romu- 
lus die  Überschrift  fehlt,  aus  der  Steinhöwel  seine  Promythien  zu 

1  Vgl.  unten  S.  145—148. 

-  Vgl.  unten  S.  145. 

»  Vgl.  unten  S.  148,  A.  1,2. 

4  Aesop  f.  33  Halm,  33  b,  Babrius  19,  Phaedrus  IV  3,  Romulus  IV  1 
(Thiele  S.  50 — 53).  —  Nachweisungen  gibt  Robert,  Lafontaine  3,  11  und 
Kurz  zu  B.  Waldis  Esopus  III  73   (S.  133— 134). 

5  Rimicius  Fab.  85. 

8  Von  Rimicius  stammt  das  eigenartige  Morale  der  Fabel:  Fabula 
significat,  quod  prudentis  est  fingere  se  ea  nolle,  quae  consequi  non  posse 
cognoscit,  die  uns  bei  Lafontaine  wieder  begegnet  III  11:  Fit-il  pas  mieux 
qüe  de  se  plaindre.  Während  in  der  Fabel  Äsop  (F.  33  Halm)  und  Phae- 
drus  (IV  3)   übereinstinuiien,  weichen  sie  in  dem  Morale  voneinander  ab. 

10* 


140 


Zu  Leasings  Aufsatz  ßomulus  und  Rimicius 


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und  suoch 
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doch    die    tr 

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ze  eßen 
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Zu  Leesings  Aufsatz  Roniulus   und  Rimicius  141 

nehmen  pflegt,  und  —  auffallenderweise  —  77  kein  Proniythion. 
In  den  übrigen  Fabeln  hat  Steinhöwel  nur  zweimal  die  Über- 
schriften des  Romuliis  nicht  genau  wiedergegeben.^ 

So  ist  die  Verwechslung  von  Roniulus  und  Eimicius  nicht 
erst,  wie  Lessing  meinte,  durch  Nevelet  veranlaßt  worden. 

Als  Lessing  in  Wolfenbüttel  seine  Fabelstudien  wieder  auf- 
nahm, wandte  er  sich  zunächst  der  eigenhändigen  Abschrift  des 
Codex  Divonensis  durch  Gudius  zu.  Es  ist  der  Codex  Gud.  182 
quart.  der  Wolfenbütteler  Bibliothek.  Noch  einen  anderen  Codex 
des  Roniulus  besaß  Gudius,  den  ehemals  AVeißenburger,  aus  dem 
Kloster  St.  Peter  und  Paul  zu  AVeißenburg  im  Elsaß  stammend, 
jetzt  in  Wolfenbüttel,  cod.  Gud.  148.'"^  Gudius  nennt  ihn  "Soias- 
sianum  Rimicii  codicem.  Lessing  bekennt  seine  'Unwissenheit, 
warum  Sciassianum.  Mir  fällt  —  so  schreibt  er  —  weder  ein 
Ort  noch  ein  Gelehrter  ein,  nach  welchem  er  diese  Benennung 
führen  könnte'.  Wer  von  dem  Leben  des  Marquard  Gude  weiß, 
Avird  leicht  vermuten  können,  welcher  N^ame  sich  hinter  dem 
rätselhaften  Sciassianum  verbirgt:  Samuel  Schars,"*  der  reiche 
Holländer  aus  dem  Haag,  dem  Gude  sich  1659,  als  er  von  Frank- 
furt a.  M.  nach  Holland  kam.  angenehm  und  unentbehrlich  zu 
machen  wußte,  mit  dem  er  1660 — 1664  Frankreich  und  Italien 
auf  der  Suche  nach  Büchern  und  Handschriften  durchreiste,  mit 
dem  er  bis  1671  in  Holland  lebte,  der  ihm  1671  nach  Rendsburg 
folgte..  In  den  lateinischen  Briefen  der  Zeit  wird  Schars  Schas- 
sius  genannt,  seine  Bibliothek  mit  vielen  seltenen  Büchern  und 
Handschriften  vermachte  er  an  Gude.^  Also  wird  Gude  Schassia- 
num  Rimicii  codicem  geschrieben  haben. 

Ausgehend  von  den  Handschriften  des  Gudius.  weist  Lessing 
nach,  daß  der  Romulus  des  Steinhöwel.  den  N"evelet  und  seine 
Yaohfolger  Rimicius  genannt  hatten,  ein  Romulus  ist.  Der  zweite 

1  Steinhöwel  28,  vgl.  Eomukis  II  9.     Steinhöwel  39,  vgl.  Romulus  II  20. 

2  österley,  Romulus   (1870)    S.  XII  ff. 

'  Bursian,  Allg.  deutsche  Biogr.  X  88:  Beck,  Zeitschr.  d.  Ges.  f.  Schles- 
wig-Holsteinische  Geschichte  XXVI    (1896)    S.  165. 

»  Vgl.  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Schleswig-Holsteinische  Geschieht« 
XXVI  165  f.,  192,  III  16  f.;  Jahrbb.  I  26,  Archiv  f.  St.  u.  K.  G.  V  564. 
Über  das  Schassische  Stipendium  Provinzialberichte  1798  Heft  3,  268,  1811 
Heft  4,  379.  —  Diese  Zitate  verdanke  ich  Herrn  Professor  N.  A.  Schröder 
in  Hadersleben. 

5  Peter  Axen  schreibt  an  Christian  Daum  10.  Februar  1677:  'Ne  nescias. 
hie  über  est  es  Bibliotheca  nobilissimi  et  optimi  viri  Samuelis  Schassii, 
qui  ante  annum  aut  siquid  supra  est,  in  vicinia  arcis  Gottorpicae  mundo 
seculoque  digressus  est,  postquam  memoratum  Gudium,  fidissimum  Achatem 
Ruum,  testamento  ...  heredem  instituerat'  (Zeitschrift  der  Gesellschaft  für 
Schleswig-Holstein-Lauenburgische  Geschichte  Bd.  26  (1896)  S.  166  A.  7).  -- 
Der  literarische  Nachlaß  Gudes  befindet  sich  in  den  Bibliotheken  zu  Wolfen- 
büttel (Handschriften),  Kopenhagen  und  Rendsburg  (Bücher),  vgl.  Hermann 
Gidionsen,  Katalog  der  sog.  Gudeschen  Bilbiothek,  Rendsburg  1902,  S.  III. 


142  Zu  Lessings  Aufsatz  Romulus  und  Rimiciuß 

Teil  des  Aufsatzes  bringt  den  Nachweis,  daß  Rimicius  mit  Ro- 
mulus nichts  zu  tun  hatte.  Lessing  benutzt  den  sog.  Aesopus 
Dorpii,  eine  Fabelsammlung  aus  dem  Anfange  des  16.  Jahr- 
hunderts von  dem  holländischen  Theologen  Martin  Dorpe.^  Es 
sind  100  Fabeln,  welche  Rimicius  aus  einer  griechischen  Äsop- 
Handschrift  in  das  Lateinische  übersetzt  hat.  1610  gab  Nevelel 
148  Fabeln  in  seiner  Mythologia  Aesopica^  als  nunquam  hactenus 
editas  heraus.  Da  die  Übersetzung  des  Rimicius  damals  bereits 
sehr  oft  herausgegeben  war,  nahm  Lessing  an,  daß  die  Rimicius- 
Fabeln  nicht  zu  den  148  neuen  Nevelet-Fabeln  gehörten,  sondern 
alle  den  älteren,  sog.  plaundeischen  Fabeln  entnommen  seien. 
Lessing  erkannte  dann,  daß  'unter  den  hundert  Fabeln  des  Rir 
micius  mehr  denn  dreißig'  waren,  'welche  allein  unter  den  Ne- 
veletschen  vorkommen'.  Es  sind  35  Fabeln  des  Rimicius,  die  bei 
Nevelet  gedruckt  sind,  aber  noch  nicht  in  der  Accursiana^  vor- 
kommen. 


Rimicius: 

2 

17 

20 

24 

26 

27   31 

34 

38 

39 

Halm: 

8 

6 

31 

42 

76^ 

88  103 

311 

113 

316»' 

Rimicius: 

42 

43 

45 

47 

53 

54   57 

60 

62 

63 

Halm: 

128 

100 

200^ 

413 

353 

204  233 

262 

249 

240 

Rimicius: 

65 

70 

71 

72 

78 

82   84 

85 

86 

87 

Hnlm: 

274 

287^^ 

292 

304 

334 

16  W  63 

33 

350^ 

356 

Rimicius: 

88 

89 

95 

96 

97 

Halm : 

420^ 

123 

153 

366 

425 

Als  Bonus  Accursius  zuerst  daranging,  den  griechischen  Äsou 
—  non  doctorum  hominum  sed  rudium  ac  puerorum  gratia,^  wie 
es  in  der  Rrhlußschrift  heißt  —  herauszugeben,  hat  er  eine  andere 
Handschrift  benutzt  als  die,  welcher  Rimicius  sich  für  seine  Über- 
setzung bediente.  So  sind  diese  Fabeln  erst  viel  später  im  Urtext 
ediert  worden,  während  sie  in  der  ÜlDcrsetzung  längst  bekannt 


waren 


'Das  nunquam  hactenus  editae  des  Nevelet  —  fährt  Lessing 
fort  —  muß  also  nur  von  dem  griechischen  Texte  gelten.  Wenn 
es  auch  noch  von  diesem  gilt!  Doch  davon  anderswo.'  Lessing 
ist  hierauf  nicht  wieder  zurückgekommen.   Doch  es  läßt  sich  wohl 

1  Vgl.  8^143. 

2  Vgl.  S.  138,  A.  5.  Auf  dem  Titelblatt  spricht  Nevelet  nur  von  136  un- 
<dierten  Fabeln.    Es  sind  148   (Fab.  150—297.  p.  212—231). 

3  Bonus  Accursius,  vgl.  Bernhardy.  Bora.  Litgesch.  S.  113  Nr.  80,  Hübner, 
Corpus  inscriotionnm  Latinarum  IT  p.  VIT,  Gardthausen,  Hermes  VIT  168, 
I\.  Sudhpff,  Milteilung-pn  zur  Geschichte  der  Medizin  und  der  Naturwissen- 
schaften XVT  (1917)  Nr.  1.  Über  seine  erste  Äsop-Ausgabe  vgl.  Münch.  Mus. 
TT   (1914)   S.  260,  268. 

*  Hausrath,  Untersuchungen   ...    (1894)    S.  248  A.  1. 

5  Folgende  Fabeln  sind  bei  Valla  und  Rimicius  übersetzt,  fehlen  b^i 
Accursius:  Rim.  24  =  Valla  XT,  27  =  XIT,  31  r=  XTV,  .34  =  XVTI  (vgl. 
Münch.  Mus.  II  248  Anm.),  78  =  XXVII. 


Zu  Lessings   Aufsatz   Romulus   und  Rimicius  143 

mit  ziemlicher  Sicherheit  vermuten,  au  welchen  Druck  er  gedacht 
hat,  als  er  die  obig-en  Worte  schrieb:  die  Ausgabe  des  Robert 
Stephanus  von  1546.-^  Nicht  weniger  als  26  Fabeln  dieses  Druckes 
fehlen  nämlich  in  der  Accursiana: 


Steph.: 

22 

23   24 

25 

26 

28 

29 

30   31 

36 

Kalm: 

21 

61  403 

100 

56^ 

82 

85 

83   33 

88 

Steph.: 

37 

38   39 

48 

49 

50 

51 

53   58 

59 

Kalm : 

291 

77^  92 

113 

181 

159 

123 

366^271 

316'' 

Steph.: 

60 

61   62 

63 

64 

65 

Halm: 

128 

368  394 

12^^ 

103 

382^ 

Von  diesen  Fabeln  stehen  bei  Nevelet  unter  den  nunquam  hac- 
tenus  editae  z.  B.  Nr.  29,  30,  31,  36,  37,  60,  61,  64;  bei  Nevelet 
fehlt  Nr.  28;  neun  dieser  Fabeln  sind  von  Rimicius  übersetzt  und 
.'io  64  Jahre  vor  Nevelets  Mythologia  gedruckt  worden: 
Rimicius:      85       27       43  "  31       38  89       42       39       96 

Halm:  33       88     100     103     113  123     128     316^»  366 

Steph.:  31       36       25       64       48  51       60       59       53 

Lessing  hat  die  lateinische  Übersetzung  des  Rimicius  in  der 
Sammlung  des  Dorpius  benutzt.  Einen  Frankfurter  Druck  von 
1587  in  8"  hatte  er  vor  sich.  Für  die  Sammlung  des  Dorpius  sind 
grundlegend  die  Nachweise  von  W.  Braune,  die  Fabeln  des  Eras- 
mus  Alberus  (Neudrucke  104 — 107;  1892),  doch  irrt  er,  wenn  er 
den  Frankfurter  Druck  von  1587  als  die  letzte  nachweisbare  Aus- 
gabe bezeichnet.  Neun  spätere  Ausgaben  habe  ich  in  Paul  und 
Braunes  Beiträgen  Bd.  42  (1917)  S.  316  Anm.  1  aufgezählt,  auch 
der  Druck  Bassani  1775^  ist  ein  Aesopus  Dorp'ius;  die  letzte  Aus- 
gabe ist  1802  in  Madrid^  erschienen. 

Nevelet  kannte  den  Rimicius  aus  Steinhöwels  Sammlung. 
Dieser  hat  in  sein  Corpus  17  Fabeln  des  Rimicius  aufgenommen. 
Es  sind  nur  solche  Fabeln  aufgenommen,  welche  in  den  voran- 
gegangenen Sammlungen  des  Romulus  und  der  Extra vacr-intes 
nicht  enthalten  sind."*  Lessing  hat  diese  Fabeln  aufgezählt:  'Näm- 
lich die  2.,  3..  5.,  7.,  10.,  15.,  18.,  21.,  40.,  43.,  53.,  68.,  70.,  74., 
90..  97.  und  100.  nach  der  Ordnung  des  Rimicius.'  Lessing  folgt 
hierbei  nicht  der  Reihenfolge,  in  welcher  Steinhöwel  die  Fabeln 
gegeben  hat,  auch  die  Verweise  in  österleys  Ausgabe  von  Stein- 
höwels Aesop  sind  verwirrt.^    Es  entsprechen  sich: 

*  Vgl.  E.  Grawi.  Die  Fabel  vom  Baum  und  dem  Schilfrohr,  Diss.  phil. 
Rostock   (1911)   S..  5.3— 59. 

2  Fock,  Ant.  Katal.  340  S.  81  Nr.  2507. 

3  Lockwood,  Harvard  Studies  XXIV   (1913)   S.  68. 

*  Beiträge  zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache  42    (1917)    S.  318. 

5  Bibl.  d.  literar.  Vereins  CXVII,  Stuttgart  1873.  Er  nennt  Stein- 
höwel 104  =  Rimicius  18  (statt  21),  St.  105  =  R.  21  (statt  40),  St.  114 
=  Wendunmuth  1,  172..  wo  Rimicius  18  zu  nennen  war. 


Zu   Lessings  Aufsatz   Romulus  und  Riniicius 


Steinh.: 

98   99 

100 

101 

102 

103 

104 

105  106 

107 

Rim.: 

2   3 

5 

7 

10 

15 

21 

40   43 

53 

Halm: 

8   7 

45 

14 

32 

66 

27 

15  100 

353 

Steinh. : 

108  109 

110 

111 

112 

113 

114 

Rim.: 

68   70 

74 

90 

97 

100 

18 

Halm: 

296*»  287'' 

308 

351 

425 

56^ 

98 

Um  den  Irrtum  des  Nevelet  aufzudecken,  hat  Lessiug  eine 
genaue  Analj^se  von  Steinhöwels  Äsop  gegeben.  Üljer  den  ällr- 
sten  Druck  orientieren  jetzt  F.  Wegener,  Die  Zainer  in  Ulm,  ein 
Beitrag  zur  Geschichte  des  Buchdrucks  im  15.  Jahrhundert, 
Straßburg  1904  (~  Beiträge  zur  Bücherkunde  des  XV.  und 
XVI.  Jahrhunderts,  Bd.  I)  S.  40—41  Nr.  45  und  E.  Rosenthal, 
Die  Anfänge  der  Holzschnitt-Illustration  in  Ulm.  Diss.  phil. 
Halle  1912,  S.  39 — 69.  Lessing  bestimmt  die  Erscheinungszeit 
von  Steinhöwels  Äsop  auf  1476  bis  1484.  Zwischen  1474  und 
1484  hat  E.  Grawi,  Die  Fabel  vom  Baum  und  Schilfrohr,  Diss. 
Rostock  1911,  S.  98,  den  Druck  datiert,  'about  1475'  G.  Keidel, 
A  manual  of  Aesopic  fable  literature  (Baltimore  1896)  S.  11 
Nr.  17,  zwischen  1475  und  1480  Ph.  Strauch,  Allg.  deutsche  Bio- 
graphie XXXV  S.  733,  zwischen  1476  und  1480  H.  Österley,  Ro- 
mulus  (1870)  S.  X  und  W.  Braune.  Die  Fabeln  des  Erasmus 
Alberus  (1892)  S.  XXX.  —  1482  ist  ein  Nachdruck  von  Gerard 
Leen  (Keidel  S.  15  Nr.  56)  erschienen,  also  sind  alle  späteren 
Datierungen  hinfällig;  Steinhöwel  hat  seine  Sammlung  gewidmet 
'dem  durchlüchtigsten  fürsten  und  herren,  herren  Sigmunden, 
herczogen  zuo  österrich'.^  1477  wurde  dieser  Erzherzog,  also 
muß  der  Äsop  spätestens  in  diesem  Jahre  vollendet  sein.  Es  ist 
ausgeschlossen,  daß  in  der  Widmung  der  richtige  Titel  nicht  an- 
gegeben wurde,  und  die  Widmung  ist  der  Beweis  des  Abschlusses 
der  Arbeit,  bevor  die  Bücher  gedruckt  wurden,  sogar  das  Zeichen 
der  Edition.^ 

Den  Inhalt  des  Steinhöwelschen  Äsop  gibt  Lessing  'Stück  vor 
Stück  mit  aller  Genauigkeit'  an.  Auf  der  zweiten  Seite  beginnt 
Steinhöwels  Vorbericht,  dessen  Anfang  Lessing  ausschreibt.  Er 
ist  dabei  zum  Teil  genauer  zu  Werke  gegangen  als  selbst  Österley, 
der  Herausgeber  von  Steinhöwels  Äsop.^  Zeile  4 — 12  hat  auf 
meine  Bitte  hin  der  Münchener  Bibliothekar  Dr.  Rudolf  Pfeiffer 
aus  dem  Exemplar  der  Hof- und  Staatsbibliothek  •*  ausgeschrieben. 

1  Steinhöwel.  Äsop  S.  4  Österley. 

2  Rhein.  Mus.  LXX  fl915)  S.  387  A.  2,  Th.  Birt,  Kritik  und  Hermeneutik 
(1913)   S.  318f. 

3  Ich  sehe  hier  ab  von  den  Angaben,  die  Leopold  Hervieux  in  den 
Fabulistes  Latins  I  (1884)  S.  373  gegeben  hat;  in  anderem  Zusammenhange 
komme  ich  darauf  zurück. 

«  Signatur  2"  Inc.  s.  a.  7x.  Vgl.  Hain  330,  Eelchling  IV  101,  Keidel, 
Manual  ot  Aesopic  literature  (1896)   S.  30— 31  Kr.  17. 


Zu    I.essiugs  Aufsatz   Roiiiulus   und  Riuiicius 


14f) 


An  folgenden  Stellen  stimmt  Lessings   Angabe  mit  der  Kopit 
Pfeiffers  gegen  österleys  Ausgabe  überein: 


Zeile 

Lessiiig 

Österley 

Pfeiffer 

5 

m 

im 

in 

8 

romiilus  von  athenis  Komulus  von  Athen  is 

ronmlus  von  athenis 

10 

Aldefonsy 

Aldefonsii 

Aldefonsy 

10 

poggy 

Poggii 

poggy 

11 

mitt 

mit 

mitt 

11 

hainrico 

Hainrico 

hainrico 

n 

stainhöwel 

Stainhöwel 

stainhöwel 

An  anderen  Stellen  weist  Lessings  Abschrift  geringfügige 
Abweichungen^  von  dem  Druck  auf.^ 

Lessing  bespricht  dann  kurz  die  Äsop-Biographie,  dann  die 
vier  Bücher  des  Ronmlus  mit  den  hinzugefügten  Fabeln  des  An- 
onymus,^ die  er  mit  Recht  als  einen  versifizierten  Romulus  be- 
zeichnet. Die  von  ihm  zitierte  Deventer  Ausgabe  des  Esopus 
raoralisatus  enthält  den  Anonymus,  sie  ist  Nr.  103  in  Keidels 
Manual  (S.  20).  der  aber  ein  Wolfenbüttler  Exemplar  nicht 
kannte  (S.  44). 

Auf  den  Romulus  folgen  die  17  Extravagantes,  'so  wenig  in 
dem  Geschmacke  des  Äsopus,  y^n  so  abenteuerlicher  gotischer 
Erfindung,  daß  sie  auch  nicht  einmal  Äsopisch  heißen  können, 
geschweige  daß  sie  von  dem  Äsopus  selbst  sein  sollte'.  Damit 
sind  die  Fabeln  gut  charakterisiert,  was  um  so  mehr  anzuerkennen 
ist,  weil  Steinhöwel  selbst  den  äsopischen  Ursprung  dieser  Fabeln 
ausdrücklich  behauptete,'*  nur  ihr  Verhältnis  zu  dem  Romulus 
Monacensis  ist  Lessing  unbekannt  geblieben.  —  Es  folgen  die 
17  Fabeln  des  Rimicius,  von  denen  bereits  oben  die  Rede  war. 

*  Z.  5  gemacht  statt  gemachet,  Z.  7  dasselb  statt  das  selb,  Z.  7  etvan 
statt  etwan,  Z.  8  Thiberio  statt  Thiberino,  so  auch  die  von  österley  be- 
nutzten Romulus-Handschriften,  Z.  8  krichischer  statt  kriechischer,  Z.  9 
hett  statt  hatt,  Z.  11  Doctore  statt  doctore.  An  allen  diesen  Stellen  stimmt 
österleys  Druck  mit  Pfeiifers  Abschrift  überein. 

2  Bis  Z.  12  reicht  Pfeiffers  Abschrift,  im  folgenden  variieren  Lessing 
und   österlev: 


Zeile 

Lessing 

Österley 

Zeile 

Lossing 

Österley 

12 
13 
14 
15 
1.^) 

sondern 

dcss 

Durchlüehtigsten 

hertzogen 

zu 

sunder 

des 

dui-chlüchtigsten 

herczogen 

zuo 

lö 
Ifi 
16 
IH 
l(i 

-(isterrich 
crgetzlikait 

enpfahen 
och 

uutzlicli 

Österrich 
ergeczlikait 
enjjfachen 

ouch 
nuczlicli 

'  Hg.  von   Hans  Draheim,  Aesopus  Latinus.     Progr.  Berlin   1893. 

*  S.  192  österley:  Extravagantes  Esopi  antique  sequuntur,  S.  242  Re- 
gistrura  extravagantium  Esopo  ascripturum.  Die  Extravagantes  gehören 
zu  den  Esopi  fabule,  von  denen  die  Schlußschrift  des  Romulus  (S.  191 
österley)    spricht. 


146  Zu   Lessings  Aufsatz   Ronmlus   und   Rimicius 

Lessing  erkannte,  daß  Rimicius  aus  einer  vielfach  abweichenden 
Sammlung  äsopischer  Fabeln  übersetzte.  In  der  Tat  läßt  sich 
nachweisen,  daß  Rimicius'  Vorlage  am  nächsten  dem  Codex 
Vindobonensis  bist.  Graec.  130^  stand,  der  zur  Gruppe  des  sog. 
Casinensis  gehört.^  In  der  Anmerkung  weist  er  auf  einen  damals 
noch  unbekannten  Äsop-Codex  in  Augsburg^  hin.  Zuerst  hatte 
ihn  Heusinger  erwähnt,  nicht  in  seinen  Phaedrus-  und  Äsop- Aus- 
gaben,^ sondern  in  der  Vorrede  seiner  1736  erschienenen  Ausgabe 
von  Juliani  Caesares.  Herausgegeben  sind  diese  Fabeln  des 
Augustanus  von  E.  G.  Schneider  Saxo,  Breslau  1812;  er  benutzte 
dazu  die  Abschrift  des  Augsburger  Codex,  welche  Ernestine 
Reiske  1772  für  Lessing  angefertigt  hatte. ^ 

Den  Rest  des  alten  Ulmer  Druckes  hat  Lessing  'mit  ein  paar 
Worten  abgefertig-t'.  Und  doch  gibt  der  folgende  Satz  noch  Anlaß 
zu  zwei  Bemerkungen:  'Denn  alles,  was  er  noch  enthält,  siebzehn 
Fabeln  des  Avianus  und  dreiundzwanzig  Fabeln  oder  vielmehr 
Histörchen  aus  dem  Adelfonsus,  Doligamus  und  Poggius,  ins- 
gesamt mit  deutschen  Übersetzungen,  das  kann  zu  meinen  gegen- 
wärtigen Übersetzungen  nun  weiter  nichts  dienen.' 

1  Vgl.  Fedde,  Über  eine  noch  nicht  edierte  Sammlung  äsopischer  Fabeln, 
Gymn.-Progr.  Breslau  1877,  A,  Hausrath,  Untersuchungen  über  die  Über 
lieferung  äsopischer  Fabeln    (Leipzig  1894)   S.  284. 

*  Es  entsprechen  sich  nämlich: 

Rimicius  1 — 17  =  Vindobonensis  1 —  17 


18—26  = 

25—  33 

27—53  - 

38—  64 

54     r= 

66 

55—56  — 

68—  69 

57    = 

71 

58—61  = 

73—  76 

62    z= 

78 

63—64  = 

80—  81 

65—69  = 

83—  87 

70    = 

89 

71—72  = 

91—  92 

73—75  = 

94—  96 

76—77  — 

98—  99 

78—90  — 

101—113 

91    = 

115 

92—94  = 

117—119 

95—96  = 

121—122 

97—99  = 

128—130 

Rimicius  100   {■=.  Halm  56b)    ist  im  Vindobonensis  nicht  enthalten. 

'  Jetzt  Monacensis  564. 

*  So  Boxberger,  D.  N.  L.  68  I  S.  198.  Heusinger  erwähnt  den  Codex; 
nach  seiner  Ausgabe  der  Caesares  in  der  Dissertatio  de  Aesopi  fabulis  no.  4 
und  in  den  Neuausgaben  des  Hudsonschen  Äsop  1756  und  1776,  vgl.  Aesopi 
fabulae  ed.  Schneider  (1812)   S.  XI. 

5  Jetzt  sind  die  Fabeln  des  Augustanus  am  bequemsten  zugänglich  in 
C.  Halms  Ausgabe   (in  der  Bibliotheca  Teubneriana) ,  nur  hat  Halm  Varianten 


Zu  Lessings   Aufsatz   Romulus  und  Rimicius 


147 


Zunächst  spricht  Lessing  von  17  Fabeln  des  Avianus,  es  sind 
aber  27  in  Steinhöwels  Äsop  enthalten.^  Der  Irrtum  Lessings 
läßt  sich  leicht  erklären.  Unmittelbar  vor  den  Fabeln  Avians 
steht  in  Steinhöwels  Äsop  fol.  201*^  Registrum  earundem;  dieses 
Register  umfaßt  17  Fabeln,  und  daher  wird  Lessing  die  Zahl- 
angabe entnommen,  wobei  ihm  entging,  daß  es  sich  auf  die  vorher- 
gehenden Fabeln  des  Rimicius  bezieht,  während  das  Verzeichnis 
der  Avian-Fabeln  fol.  225^  226^ ^  f^jg^     Vollends  erklärt  sich 


allzu 

spärlich 

notiert.  Die 

Fabeln 

des  Augustanus  entsprechen 

folgenden 

Halmschen  Nummern: 

0 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 



5 

8 

7 

9 

11 

12 

16 

19 

45 

0 

39 

27 

42 

23 

43 

33 

14 

46 

28 

32 

1 

37 

24 

35 

22 

31 

29 

25 

47 

58 

59 

2 

300 

56 

48 

203  b 

49 

64 

55 

57 

70 

417 

3 

72 

38 

98  b 

74 

76 

79 

82 

348 

85 

83 

4 

88 

96 

95 

103 

214 

110 

112* 

107 

111 

86 

5 

90 

101 

97 

117 

221 

311 

301 

309 

144 

75 

6 

179  b**  67 

116 

289 

363 

128 

126 

129 

127 

(367) 

7 

15 

293 

44 

323 

194 

185 

115 

194 

343  b 

137 

8 

140 

147 

331 

217 

146 

166 

52 

145 

134 

2 

9 

155 

200  b 

138 

151 

173b 

154 

149 

150 

148 

161 

10 

160 

295 

167 

169 

171 

186 

184 

1^9 

191 

192 

11 

193 

195 

201 

204 

212 

199 

213 

207 

201b 

197 

12 

202 

226 

233 

231 

218 

229  b 

235 

237 

249 

248b 

13 

246 

262 

250 

251 

257 

247** 

254 

260 

256 

259 

14 

264 

268 

274  b 

276 

270 

275b 

271b 

284 

240 

273** 

15 

236 

287 

290 

291 

294 

296 

94  b 

306 

308 

316 

16 

313 

97  b 

130 

315 

115  b 

329 

322 

177b 

324 

321 

17 

377b 

319 

335 

334  b 

336 

327 

330 

326 

342 

340 

18 

100b 

180 

346 

345*.. 

347 

350 

351 

357 

358 

362 

19 

368 

369 

372 

370b 

378 

373 

353  b 

352 

382 

385 

20 

71b 

392 

393 

179c 

397 

366 

398 

183 

153  b 

397  b 

21 

408 

409  b 

407 

412b 

420 

418b 

421 

334  b 

415 

419 

22 

424* 

425 

23 

1  Steinhöwel  f.  115— 141  =  Avian  1—3,  5—9,  11,  13—15,  17—20,  22, 
25 — 29,  31,  33,  35,  41 — 42.  Einige  Fabeln  des  Aviau  hat  Steinhöwel  aus- 
gelassen, weil  er  schon  aus  dem  Romulus  dieselbe  Fabel  in  seine  Sammlung 
aufgenommen  hatte: 

Avian  16  de  qurcu  et  harundine  f.  Steinhöwel  80   (cf.  E.  Grawi  S.  100). 

Avian  24  de  venatore  et  leone  f.  Steinhöwel  75  =  Romulus  IV  17. 

Avian  34  de  cycada  et  formica  f.  Steinhöwel  77  =  Romulus  IV  19. 
Zu  dem  Auslassen   der  übrigen  Fabeln  müssen  andere  Gründe  den   Stein- 
höwel bestimmt  haben. 

2  S.  260  österley.  An  das  Register  schließen  sich  die  Fabeln  des  Avian 
(S.  261  österley)  :  Aviani  fabule  sequntur.  Es  ist  fol.  201b,  nicht  146b,  wie 
bei  österley  steht. 

»  S.  293   Österley. 


Bei  Halm  fälschlich  S.  46.        **  Bei  Halm  fehlt  der  Hinweis. 
Bei  Halm  fälschlich  als  S.  265,  es  ist  S.  193  =  Nevelet  265. 


148  Zu  Lessings  Aufsatz  Romulus   uud  Rimicius 

Lessiiigs  Irrtum  aus  der  Art,  wie  Steinhöwel  den  Romulus-Fabeln 
fol.  60%  82%  104%  130*1  die  Register  vor  angesetzt  liatte.^ 

Endlich  spricht  Lessing  von  23  Fabeln  des  Adelfonsus,  Doli- 
gamus^  und  Poggius.  Steinhöwel  hat  nach  dem  gekürzten  Aviau 
noch  23  Fabeln  seinem  Corpus  hinzugefügt;  davon  stammen  15 
dem  Petrus  Alphonsi,  8  dem  Poggius.^  Eine  Fabel  von  'Doliga- 
mus'  ist  nicht  dabei.  Den  ISTaraen  'Doligamus'  hat  Lessing  Stein- 
höwels  Vorrede  entnommen,  wo  die  Rede  ist  von  'mer  ettlich  der 
fabel  Aviani,  auch  Doligami,  Aldefonsii  und  schimpfreden  Poggii 
und  anderer'.^  Daß  keine  Fabel  des  'Doligamus'  bei  Steinhöwel 
stehe,  hat  Lessing,  dessen  Untersuchung  in  Wahrheit  schon  ihr 
Ende  gefunden  hatte,  nicht  bemerkt.  So  hat  er  sich  auch  nicht 
die  Frage  vorgelegt,  wer  hinter  diesem  rätselhaften  Worte  sich 
verberge.  Daß  es  sich  um  eine  Fabel  aus  der  Lamia  des  Angelo 
Poliziano  handle,^  nachzuweisen,  muß  einer  späteren  Gelegenheit 
vorbehalten  bleiben.'^ 


1  S.  77,  107,  137,  172  österley. 

2  Dagegen  bei  den  Extravagantes  folgt  das  Register  am  Schluß  (fol.  186h 
=;  S.  242  Österley),  wie  bei  Rimicius  und  Avian.  Die  Fabeln  des  Adelfonsus 
und  Poggius  sind  ohne  Register  geblieben. 

'  Dafür  'Deligamus'  der  Druck  von  1773. 

*  Vgl.  Beiträge  zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache  42  (1917)  S.  317 
A.  2. 

■'  S.  4  Österley.  —  Vgl.  S.  146. 

6  Vgl.  vorläufig  Berl.  philol.  Wochenschr.  1917,  Sp.  1376. 

^  Zu  Lessings  Beurteilung  des  Anonymus  Nilantiantiis  vgl.  E.  Grosse, 
Fleckeis.  Jahrbücher  Bd.  105   (1872)   S.  781. 

Kjelstrup -Victoriabad  (IsTordschleswig) .      T.  0.  Achelis. 


August  Wilhelm  Schlegel 

in  seinen  Beziehungen  zu  englischen  Dichtern 

und  Kritikern. 

Wenn  Schlegel  in  England  zu  Ansehen  und  Ruhm  gelangte, 
so  verdankt  er  dies  in  erster  Reihe  Frau  von  Stael,  die 
in  ihrem  berühmten  Buche  ihm  und  seinem  Bruder  Friedrich 
freigebig  Lob  gespendet  hatte  (Th.  II,  Kap.  31).  Aber  auch 
er  selbst  hat  das  seinige  dazu  getan,  um  jenseits  des  Kanals 
bekannt  zu  werden,  zunächst  durch  seine  wiederholten  Besuche 
in  London  und  seinen  Verkehr  mit  den  geistig  hochstehenden 
Schichten  der  Gesellschaft,  dann  aber  vor  allem  durch  seine 
literarischen  Leistungen.  Von  seiner  Shakespeare-Übersetzung 
konnten  freilich  nur  die  allerwenigsten  mit  Sachkunde  sprechen, 
so  sehr  sie  auch  gepriesen  wurde;  insbesondere  aber  waren  es 
seine  Vorlesungen  über  dramatische  Kunst  und  Literatur,  die 
seinen  Ruf  als  Kritiker  und  Literaturkenner  ersten  Ranges  be- 
gründeten. Das  englische  Publikum  lernte  sie  zuerst  aus  einer 
französischen  Übersetzung,  bald  danach  auch  aus  einer  eng- 
lischen (von  John  Black,  1815)  kennen.  In  späteren  Jahren 
führten  ihn  seine  indischen  Studien,  die  vnr  hier  beiseitelassen 
müssen,  wiederholt  nach  England  und  verbreiteten  sein  Ansehen 
in  den  Kreisen  der  Gelehrten. 

Daß  Schlegel  schon  während  seines  Aufenthalts  in  Göttingen 
mit  dort  studierenden  Engländern  in  Berührung  kommen  mußte, 
begreift  sich  leicht.  Indessen  ist  uns  nur  der  Name  eines  von  ihnen 
bezeugt.  Es  war  Josiah  Dornford,  der  dort  den  juristischen 
Doktorgrad  erwarb  und  dann  ein  Hauptwerk  des  Staatsrechts- 
lehrers Johann  Stephan  Pütter  (Historische  Entwicklung  der 
heutigen  Staatsverfassung  des  Deutschen  Reiches)  ins  Englische 
übersetzte.  Die  Verbindung  zwischen  ihm  und  Schlegel  wurde 
auch  später  noch  aufrechterhalten.  Am  22.  August  1790  schreibt 
Dornford  an  ihn :  ^  'I  often  regret  I  did  not  pass  the  young  years 
of  my  life  at  Goettingeu  instead  of  Oxford,  because  an  ambitious 
mind  is  gratified  there  by  being  reputed  studious,  whilst  with 
US  a  man  who  devotes  his  time  to  books  is  too  frequently  treated 
with  contempt.'  Sein  andauerndes  Interesse  an  den  Göttinger 
^^•rhältnissen  erweist  er  durch  seine  Fragen  nach  den  Profes- 
soren, bei  denen  er  verkehrt  hat:  Heyne,  Michaelis,  Schloezer, 
Lichtenberg.  Von  Bürgers  dritter  Heirat  hat  er  durch  einen 
Freund  gehört,  der  ihm  erzählte:  'That  one  of  his  (B.s)  po^ms 

^  Dieser  wie  die  mei-sten  folgenden  Briefe  liegen  ungedruckt  in  der 
öffentlichen  Bibliothek  zu  Dresden.  Für  die  Erleichterimg  bei  der  Be- 
nutzung bin  ich  der  Verwaltung  zu  Dank  verpflichtet. 


150  A.  W.  Schlegel  in  seinen  Beziehungen  zu  engl.  Dichtern  und  Kritikern 

proved  an  arrow  in  the  breast  of  his  present  Lady,  and  that  a 
similarity  of  genius  was  occasion  of  tlieir  union.'  Um  Neuigkeiten 
aus  Deutschland  zu  erfahren,  hält  er  Hamburger  Zeitungen; 
auch  bittet  er  Schlegel  um  Besorgung  verschiedener  Bücher,  wie 
Schillers  Geschichte  des  Dreißigjährigen  Krieges,  Büschings 
'Account  of  the  king  of  Prussia'  und  den  ersten  Band  von  Püt- 
ters Geschichte  der  Universität  Göttingen.  Ebenso  wünscht 
er  die  Göttinger  gelehrten  Anzeigen  allwöchentlich  zu  erhalten. 
Man  sieht,  Dornford  hätte  sich  nach  Maßgabe  seiner  Interessen 
wohl  geeignet,  ein  Mittler  zwischen  beiden  Nationen  zu  werden. 
Leider  starb  er  schon  in  jungen  Jahren  (1797). 

Interessanter  als  diese  Beziehungen  sind  diejenigen,  welche 
Schlegel  mit  Benjamin  Beresford  verbanden.  Beresf ord 
war  ein  Geistlicher,  der  sich  in  Berlin  niedergelassen  hatte,  wo  er 
Unterricht  in  seiner  Muttersprache  erteilte.  So  wurde  er  auch 
der  Lehrer  der  Königin  Luise  und  ist  es,  wie  aus  ihren  Auf- 
zeichnungen hervorgeht,  bis  zum  Jahre  1804  geblieben.^  Er 
scheint  sich  sehr  bald  mit  dem  Studium  der  deutschen  Literatur 
befaßt  zu  haben,  dessen  Ergebnis  in  fünf  Publikationen  vor- 
liegt: 1)  The  German  Erato,  or  a  collection  of  favourite  songs 
translated  into  English  with  their  original  music  (2.  Aufl.  1798). 
2)  The  German  Songster,  or  a  collection  of  favourite  airs  with 
their  original  music  (Berlin  1798).  3)  A  collection  of  German 
ballads  and  songs  with  their  original  music,  done  into  English  by 
the  translator  of  the  German  Erato  (Berlin  1799).  Dazu  kom- 
men noch  zwei  englische  Chrestomathien:  4)  Elegant  extracts  in 
prose  (1800)  und  5)  Elegant  extracts  in  verse  selected  from  the 
best  poets  (1801)  nebst  der  Übersetzung  einer  Erzählung  von 
J.  J.  Engel  (The  Goddesses,  1796).  Die  drei  erstgenannten  Über- 
setzungen stehen,  wie  man  sieht,  insofern  einzig  da,  als  sie  zu- 
gleich mit  der  dazugehörigen  Musik  erschienen  sind,  deren  Me- 
lodie Beresford  seine  Werke  angepaßt  hat.  Da  ihm  viel  daran 
liegen  mußte,  seine  Bücher  vom  Publikum  beachtet  zu  sehen, 
suchte  er  die  Bekanntschaft  mit  einem  der  angesehenen  Kritiker, 
wie  es  Schlegel  damals  schon  war,  und  traf  mit  ihm  in  Dresden 
(September  1798)  zusammen.  Bei  dieser  Gelegenheit  legte  er 
es  Schlegel  nahe,  über  die  obengenannten  Bücher  eine  Rezension 
zu  verfassen.  Dieser  erfüllte  seine  Bitte  und  besprach  die  beiden 
ersten  in  der  Jenaer  Literaturzeitung  1798  (Nr.  365),  die  2.  Auf- 
lage der  Erato  und  Nr.  3  ebenda  1799  (Nr.  217).^ 

Diese  Rezensionen  sind  so  anerkennend  wie  nur  möglich. 
Schlegel  ist  erfreut,  einige  Blüten  unserer  Poesie  mit  leichter 


^.  Vgl.  B.  Krieger,  Hohenzollernjahrbuch  XIV,  165. 

-  Wiederabgedruckt  in   seinen   Sämtlichen   Schriften  XI,   324,  403. 


A.  W.  Schlegel  in  seinen  Beziehungen  zu  engl.  Dichtern  und  Kritikern  151 

Hand  auf  englischen  Boden  verpflanzt  zu  sehen.  Der  Forde- 
rung, in  dasselbe  Silbenmaß  zu  übersetzen,  wofern  sich  die 
Sprache  demselben  nicht  ganz  weigert,  ist  Beresford  aus  eigenem 
Antrieb  nachgekommen,  worauf  er  sich  in  seinem  ersten  Briefe 
(11.  September  1798)  etwas  zugute  tut.  Er  hat  nach  Schlegels 
Ansicht  in  der  Überwindung  der  Schwierigkeiten  eine  seltene 
Leichtigkeit  und  ein  entschiedenes  Talent  gezeigt.  Es  muß  ihm 
hoch  angerechnet  werden,  daß  er  auch  die  weiblichen  Reime,  so- 
weit es  der  Bau  der  englischen  Sprache  zuließ,  wiedergegeben  hat. 
Freilich  kann  der  Kritiker  auch  mit  einem  leisen  Tadel  nicht 
zurückhalten,  indem  er  sagt:  'Jede  Sprache  hat  ihr  Konventionel- 
les, und  die  heutige  englische  Poesie  ist  gewiß  nicht  frei  davon. 
M.  B.  hat  aber  dergleichen  fremdartigen  Einmischungen  so  wenig 
Raum  gelassen,  daß  wir  ihn  selbst  zu  schweren  Unternehmungen 
nuffordern  möchten,  wie  die  Übertragung  ganz  einheimischer 
und  originaler  Romanzen,  z.  B.  Goethes  Fischer  und  die  Er- 
zählung vom  Harfner  in  Wilhelm  Meister.'  Dieser  Aufforderung 
ist  Beresford  in  seiner  dritten  Sammlung  nachgekommen.  Auch 
diesen  Liedern  gegenüber  kargt  Schlegel  nicht  mit  seinem  Lobe, 
äußert  aber  zugleich  wieder  einige  Bedenken,  die  mehr  in  der 
Sache  selbst  liegen:  'Wenn  es  nicht  möglich  war,  ihnen  ihre 
ganze  Schmucklosigkeit  und  Einfalt  zu  lassen,  weil  fast  jede 
veränderte  Wendung,  wozu  der  metrische  Zwang  nötigt,  schmük- 
kend  ausfällt,  um  das  Schwache  und  Prosaische  zu  vermeiden, 
so  zweifeln  wir  doch,  ob  an  den  meisten  Stellen  noch  mehr  Treue 
möglich  war.'  Diesen  Bedenken  werden  wir  uns  anschließen 
und  betonen  müssen,  daß  Beresford  sich  nur  allzu  oft  von  dem 
herkömmlichen  pseudoklassischen  Stil  der  damaligen  englischen 
Dichtung  beherrschen  läßt  und  daher  den  volksliedmäßigen  Ton 
verfehlt.  Es  sind  besonders  die  verblaßten  und  konventionellen 
Epitheta,  die  unseren  Anstoß  erregen.  So  entspricht  z.  B.  in 
Goethes  'Veilchen':  Auf  der  Wiese  —  in  the  lonely  mead;  an 
ihrem  Busen  —  on  her  virgin  bosom.  In  Mignons  Lied:  Es 
stürzt  der  Fels  und  über  ihm  die  Flut  —  broken  rocks  oppose  the 
headlong  flood.  Li  Claudius'  Rheinlied:  Am  Rhein,  am  Rhein, 
da  wachsen  unsre  Reben  —  on  Rhine's  fair  banks  the  envied 
Clusters  grow,  u.  a.  m.  War  in  diesen  Fällen  der  Übersetzer,  wie 
Schlegel  richtig  bemerkt,  dem  Zwang  des  Metrums  erlegen,  so 
ist  als  weitere  Schwierigkeit  zu  erwägen,  daß  er  seine  Worte,  wie 
oben  erwähnt,  der  schon  vorliegenden  Melodie  unterordnen  mußte; 
nur  in  ganz  wenigen  Fällen  ist  die  Komposition  später  als  die 
Übersetzung  (z.  B.  Reichardts  Musik  zur  Lenore).  Auch  in  der 
Auswahl  seiner  Vorlagen  ist  Beresford  nicht  immer  glücklich 
gewesen.  Neben  Goethe,  Schiller,  Voß,  Hölty,  Matthisson,  Stol- 
berg stehen  Namen  wie  Müchler,  Overbeck  und  Sander.     Auch 


In:?  A.  W.  Schlegel  in  seinen  Beziehungen  zu  engl.  Dichtern  und  Kritikern 

Anonj'ina  kommen  vor,  deren  Verfasser  sogar  Schlegel  unbekannt 
waren,  dabei  ein  Gedicht,  dessen  Übertragung  die  Königin  selbst 
gewünscht  hatte.  Wozu  endlich  Gedichte  von  Bouflers  und 
Alborghetti  in  eine  solche  Sammlung  aufgenommen  sind,  fragt 
man  vergeblich.  Sollen  vnr  unabhängig  von  Schlegels  Meinung 
kurz  unser  Urteil  formulieren,  so  werden  wir  sagen  müssen,  daß 
Beresford  zwar  eine  gründliche  Kenntnis  des  Deutschen  und  eine 
achtbare  metrische  Gewandtheit  verrät,  daß  er  aber  des  tieferen 
poetischen  Gefühls  ermangelt  und  daher  seiner  Vorlage  nur  selten 
nahekommt.  Immerhin  übertrifft  er  die  allermeisten  englischen 
Übersetzer  seiner  Zeit.  Das  einleuchtendste  Beispiel  hierfür  ist 
seine  Version  von  Bürgers  Lenore.  Auch  hier  folgt  er  genau 
dem  Metrum  des  Originals  (nur  daß  er  die  weiblichen  Reime 
fast  durchweg  durch  männliche  ersetzt),  und  schon  dadurch 
mußte  es  ihm  gelingen,  seinen  Landsleuten  Ton  und  Geist  der 
Ballade  näher  zu  bringen,  als  es  viel  berühmtere  Übersetzer,  wie 
William  Taylor  und  Walter  Scott,  erreicht  hatten,  um  von  an- 
deren zu  schweigen. 

Von  Beresfords  weiteren  Schicksalen  wissen  wir  so  gut  wie 
nichts.  Aus  seinen  Briefen  an  Schlegel  erfahren  wir  nur,  daß 
er  sich  in  Berlin  durchaus  nicht  wohl  fühlte  und  wiederholt, 
wenn  auch  ohne  Erfolg,  bemüht  war,  eine  andere  Stellung  zu 
erhalten.  So  schreibt  er  an  Schlegel  (29.  April  1800):  'As  I 
think  I  have  already  told  you,  I  get  money  enough  here,  and  if 
there  be  anj-  honour  in  teaching  roj^al  personages,  I  have  enough 
of  that  too.  —  But  royalty  is  not  very  generous  here,  and  altho' 
Berlin  abounds  in  enlightened  ])eople  among  the  middle  rank,  yet 
it  is  a  wretched  residence  on  account  of  its  environs  for  a  lover 
of  nature,  and  besides,  everything  here  gives  waj^  to  the  noble  art 
of  destroying  the  human  race,  for  learning  is  nothing  and  the 
army  every  thing.'  In  demselben  Briefe  spricht  er  noch  von 
einem  Vertrage,  den  er  mit  Kotzebue  abgeschlossen  hat,  wonach 
er  in  Zukunft  dessen  Stücke  übersetzen  sollte.  Wie  weit  dies  ge- 
diehen ist,  kann  ich  nicht  angeben.  Ich  weiß  nur  noch  von  einer 
Übersetzung  des  Lebens  des  Generals  von  Ziethen  von  Frau  von 
Blumenthal  (1804).  '      " 

Wir  gehen  mehr  als  ein  Dezennium  weiter,  das  in  Schlegels 
Leben  eine  sehr  bewegte  Epoche  darstellt.  In  diese  Jahre  fallen 
seine  Scheidung  von  Karoline,  seih  Eintritt  in  den  Dienst  der 
Erau  von  Stael,  seine  erste  italienische  Reise,  sein  Aufenthalt  in 
Paris,  endlich  seine  Verbannung  durch  Napoleon  und  die  Elucht 
mit  Erau  von  Stael  durch  Österreich  und  Rußland  nach  Schwe- 
den. Nun  erschien  er  nach  dem  Sturz  des  Korsen  zum  erstenmal 
in  London,  um  Frau  von  Stael  nach  Frankreich  zu  geleiten.  Er 
traf  hier  eine  glänzende  Gesellschaft.    Es  waren  da  Alexander  T. 


A.  W.  Schlegel  in  seinen  Beziehungen  zu  engl.  Dichtern  und  Kritikern  153 

und  Friedrich  Wilhelm  III.  mit  großem  Gefolge,  darunter  Har- 
denberg, Metternich,  Nesselrode,  Blücher  und  der  Kosakenhetman 
Platoff.  Die  Begeisterung  der  Londoner,  denen  doch  die  zahl- 
reichen Gäste  allmählich  zur  Last  fielen,  schildern  zeitgenös- 
sische Berichte  und  Memoiren  recht  anschaulich.  So  spricht 
auch  Byron  von  den  Fremden  in  einem  Briefe  an  Moore  (Letters 
and  Journals  III,  93)  und  spart  nicht  mit  satirischen  Bemerkun- 
gen. Ob  Schlegel  ihn  schon  damals  oder  erst  in  Coppet  kennen- 
gelernt hat,  läßt  sich  nicht  bestimmt  sagen,  da  von  seinen  Briefen 
aus  dieser  Zeit  nichts  erhalten  ist.  Wohl  aber  darf  man  an- 
nehmen, daß  er  nicht  verfehlt  hat,  Thomas  Campbell  auf- 
zusuchen, den  er  von  früher  her  kannte  und  der  wohl  der  einzige 
unter  seinen  dortigen  Bekannten  war,  mit  dem  er  in  ein  freund- 
schaftliches Verhältnis  getreten  ist.  Campbell  war  im  Jahre 
1800  in  Deutschland  gewesen,  und  sein  Biograph  Cyrus  Redding 
berichtet  darüber  (Memoir  of  Th.  C.  I,  54):  'In  Germany  he 
made  an  intimacy  with  Augustus  William  Schlegel.  On  the 
Visits  of  Schlegel  to  this  country  he  was  the  constant  guest  of 
the  poet,  who  had  a  very  high  idea  of  him  as  a  man.'  Allerdings 
setzt  er  hinzu:  'Never  were  two  men  more  dissimilar.  Schlegel 
was  talkative  enough  upon  every  subject  connected  with  literature 
and  showed  at  times  no  small  share  of  the  vanitj^  of  successful 
authorship.  His  friend  Campbell  was  the  very  reverse  of  this.' 
Nun  ist  es  aber  nicht  schwer,  zu  zeigen,  wie  viel  gemeinsame 
Interessen  die  beiden  Freunde  hatten.  Campbell  bewunderte 
gewiß  an  Schlegel  nicht  nur  die  Gewandtheit  des  erfahrenen 
Weltmannes,  sondern  auch  seine  gründliche  Gelehrsamkeit 
und  den  ausgeprägten  kritischen  Sinn;  beiden  war  die  Begeiste- 
rung für  die  englische  Literatur,  insbesondere  für  Shakespeare 
eigen. 

Über  Campbells  Reisen  in  Deutschland  ruht  ein  gewisses 
Dunkel.  Wir  wissen  zunächst  nichts  Genaues  über  den  Weg, 
den  er  von  Hamburg  nach  Regensburg  genommen  hat.  Über  den 
Rückweg  sagt  sein  zweiter  Biograph  Beattie  (Life  and  letters  of 
Th.  C.  I,  312),  daß  er  über  Amberg,  Nürnberg,  Baireuth,  Leipzig, 
Braunschweig,  Lüneburg  geführt  habe.  Freilich  widerspricht  er 
sich  bald  danach  (p.  342),  wo  er  sagt:  'Of  his  movements  between 
his  quitting  Ratisbon  and  that  of  his  arrival  at  Altona  (Oct. — 
Nov.)  no  distinct  traces  have  been  discovered.'  Ich  bin  geneigt 
zu  glauben,  daß  die  erste  Angabe  richtig  ist,  und  ferner,  daß 
Campbell  auf  seiner  Rückreise  Jena  berührt  und  dort  die  Brüder 
Schlegel  kennengelernt  hat.  Wie  würde  sich  sonst  die  Bemerkung 
Reddings  (I,  152)  erklären,  Campbell  sei  auf  seiner  zweiten 
Reise  nach  Deutschland  bis  Wien  gekommen,  'where  he  saw  for 
the  last  time,  after  an  interval  of  many  years.  his  friend  Frede- 

.\rchiT   f.  n.  Sprachen.     139.  11 


154   A.  W.  Schlegel  in  seinen  Beziehungen  zu  engl.  Dichtern  und  Kritikern 

rick  Schlegel?'  Daß  er  ihn  zuerst  in  Göttingen  gesehen  habe 
(p.  153),  ist  natürlich  ein  Irrtum.  Auf  der  Rückreise  von  Wien 
blieb  Campbell  eine  kurze  Zeit  auch  bei  August  Schlegel,  der  in- 
zwischen in  Bonn  Professor  geworden  war.  Bei  dieser  Gelegen- 
heit entstand  sein  Gedicht  'The  brave  Roland'  (ed.  Hill  S.  241) 
riach  einem  Ausflug,  den  er  mit  seinem  Freunde  auf  den  Drachen- 
fels gemacht  hatte.  Es  behandelt  die  bekannte  Sage  von  Nonnen- 
werth  und  ist  zweifellos  von  Schillers  Toggenburgballade  an- 
geregt. Übrigens  ist  der  Ursprung  einer  Reihe  von  Campbells 
Gedichten  auf  diese  deutschen  Reisen  zurückzuführen.  Ich  nenne 
hier  außer  dem  bekannten  'Hohenlinden':  The  Name  Unknown, 
in  Imitation  of  Klopstock  (1.  c.  302,  anscheinend  eine  Paraphrase 
der  Ode  'Die  künftige  Geliebte'):  The  Soldiers  Dream  (S.  142); 
Lines  on  leaving  or  scene  in  Bavaria  (S.  324);  Drinking  Song  of 
Munich  (S.  337);  Ode  to  the  Germans  (S.  349);  Lines  suggested 
by  the  statue  of  Arnold  von  Winkelried  (S.  419). 

Die  beiden  sind  dann  im  Jahre  1814  noch  einmal  in  Paris  zu- 
sammengewesen. Campbell  war  wie  so  viele  seiner  Landsleute 
bald  nach  dem  Friedensschluß  dahin  geeilt,  um  die  Reize  der 
französischen  Hauptstadt  zu  genießen.  Aus  den  Unterhaltungen, 
die  sie  damals  gepflogen,  erfahren  wir,  daß  Campbell  seinen  deut- 
schen Freund  zwar  für  ungemein  gelehrt  und  geistreich  erklärte, 
aber  auch  für  einen  Phantasten,  für  einen  Visionär  und  für  viel 
zu  mystisch.  Offenbar  hat  ihm  Schlegel  hier  das  Programm  der 
deutschen  Romantik  entwickelt,  für  das  Campbell  seiner  ganzen 
Geistesrichtung  nach  das  nötige  Verständnis  nicht  aufbringen 
konnte.  Auch  auf  philosophischem  Gebiet  konnten  sie  sich  nicht 
einigen,  da  Campbell  den  Standpunkt  der  schottischen  Philo- , 
Sophie  vertrat  und  über  Kant  nicht  hinausgelangt  war,  während 
Schlegel  von  Fichte  und  Schelling  beeinflußt  war. 

Schlegel  ist  später  noch  zweimal  in  England  gewesen,  1823 
und  1832.  Bei  der  ersten  Reise  handelte  es  sich  für  ihn  darum, 
die  finanzielle  Unterstützung  der  Ostindischen  Gesellschaft  bei 
der  Herausgabe  von  Sanskritwerken  zu  gewinnen.  Hierbei  hatte 
er  aber  nicht  viel  Glück,  da  die  Gesellschaft  sich  damit  begnügte, 
auf  zwölf  Exemplare  zu  subskribieren,  worüber  Schlegel  seinem 
Unmut  in  bitteren  Worten  Luft  machte.  Über  eine  Episode  dieses 
ersten  Besuchs  erhalten  wir  einen  interessanten  Bericht  aus  der 
Feder  des  obengenannten  Redding  (1.  c.  I,  230).  In  einer  Gesell- 
schaft im  Hause  von  Colburn  (dem  Verleger  des  New  Monthly 
Magazine,  das  von  Campbell  und  Redding  gemeinsam  redigiert 
wurde)  erwähnt  Schlegel  gesprächsvi^eise,  wie  England  ebenso  wie 
die  Waren  auch  die  Worte  aus  allen  Ländern  der  Welt  eingeführt 
habe.  Selbst  das  Hurra  der  Kosaken  sei  hier  eingebürgert  wor- 
den.   Campbell  bemerkt  hierauf,  hurrah  sei  ein  alter  englischer 


A.  W.  Schleg-el  in  seinen  Beziehungen  zu  engl.  Dichtern  und  Kritikern  155 

Ausruf,^  und  die  anderen  stimmen  ihm  bei.  Es  zeigt  sich  aber 
schließlich,  daß  Schlegel  recht  hatte.  Redding  fügt  hinzu:  'Schle- 
gel was  a  most  instructive  and  entertaining  companion  upon  lite- 
rary  topics,  of  which  the  extent  of  his  knowledge  and  accuracy 
were  surprising,  and  yet  he  showed  nothing  of  the  pedant,  but 
was  in  society  much  the  man  of  the  world.  Yet  there  was  conceit, 
a  little  self-consequence,  a  taint  of  vanity  about  M""«  de  Stael's  idoL' 

Über  Schlegels  letzten  Aufenthalt  in  London  (1832)  wissen 
wir  wenig.  Bemerkenswert  ist  hier  allenfalls  sein  Briefwechsel 
mit  Abraham  Hayward.  Dieser  bittet  ihn  um  Beihilfe  bei  den 
Noten  zu  seiner  Faust -Übersetzung,  ferner  um  einen  Nekrolog 
über  den  eben  verstorbenen  Goethe,  was  Schlegel  wegen  seiner 
unmittelbar  bevorstehenden  Abreise  und  wegen  der  ihn  zu  Hause 
erwartenden  Arbeitslast  ablehnt.  Er  verweist  Hayward  deswegen 
auf  Carlyle,  den  dieser  vorher  bei  ihm  eingeführt  hatte.  Er  scheint 
aber  auf  den  jungen  Schotten  keinen  tieferen  Eindruck  gemacht 
zu  haben,  denn  er  erwähnt  ihn  weder  in  seinen  Schriften  noch  in 
seinen  Briefen. 

Was  schließlich  noch  Campbell  betrifft,  so  war  er  zwar  1825 
noch  einmal  in  Bonn  gewesen,  indessen  hatten  sich  die  Beziehun- 
gen zwischen  beiden  Dichtern  allmählich  gelockert.  Als  Redding 
sich  im  Frühjahr  1836  nach  Schlegel  erkundigte,  beklagte  es 
Campbell,  daß  eine  Abkühlung  zwischen  ihnen  eingetreten  sei. 
Redding  hebt  noch  einen  Gegensatz  zwischen  ihnen  hervor,  der 
auf  politischem  Gebiet  lag  und  die  Entfremdung  erklären  könnte. 
'Campbell',  sagt  er  a.  a.  0.  S.  54,  'was  unconstrained  and  free  in 
his  political  sentiments.  Schlegel  had  mingled  too  much  among 
the  despotic  nobles  of  Germany  to  talk  of  politics  or  find  fault 
with  things  that  were.' 

Nicht  so  freundlich  wie  zu  Campbell  gestaltete  sich  Schlegels 
Verhältnis  zu  Byron.^  Wenn  nicht,  wie  früher  angedeutet,  in 
London,  so  trafen  sie  sich  jedenfalls  1816  in  Coppet  unter  dem 
gastlichen  Dache  der  Frau  von  Stael.  Byron  berichtet  in  einem 
Briefe  an  Rogers  vom  29.  Juli  1816  (Letters  and  Journals  III, 
341):  'Schlegel  is  in  high  force,  and  M™**  de  Stael  as  brilliant  as 
ever',  woraus  man  allenfalls  auf  eine  frühere  Bekanntschaft 
schließen  kann.  Man  versteht  es  ohne  weiteres,  daß  die  beiden 
Dichter  nicht  harmonieren  konnten,  wie  überhaupt  in  dem  dorti- 
gen Kreise  die  Zwistigkeiten  nicht  aufhörten;  Frau  von  Stael 
hatte  alle  Mühe,  das  'genus  irritabile  vatum'  richtig  zu  behandeln 
und  miteinander  zu  versöhnen.  Der  englische  Aristokrat,  der  auf 
seinen  Dichterruhm  mit  Recht  stolz  war,  wird  dem  Deutschen, 


Nach  dem  Oxford  Dictionary  ist  der  erste  TJeleg  von   1080 
Vgl.  hierzu  Eimer.  Angl.  36,  313  flF. 


156  A,  W.  Schlegel  in  seinen  Beziehungen  zu  engl.  Dichtern  und  Kritikern 

der  doch  auch  sehr  beachtenswerte  literarische  Leistungen  auf- 
zuweisen hatte,  nicht  immer  mit  der  Rücksicht  begegnet  sein,  die 
der  eitle  und  empfindliche  Schlegel  erwarten  durfte.  Seine  ab- 
hängige Stellung  im  Hofstaat  der  Frau  von  Stael  war  auch  nicht 
dazu  angetan,  ihm  Byrons  besondere  Achtung  zu  verschaffen. 
Dieser  äußert  selbst  später  in  einem  Briefe  an  Murray  (4.  August 
1821):  'He  took  a  dislike  to  me,  because  I  refused  to  flatter  him  in 
Switzerland,  though  M"^  de  Broglie  begged  me  to  do  so,  because 
he  is  so  fond  of  it.  Voilä  les  hommes.'  Daß  sie  sich  öfters  über 
literarische  Themata  unterhalten  haben,  ergibt  sich  aus  einer  an- 
deren Briefstelle  (L.  &  J.  V,  333) :  'I  remember  having  some  talk 
with  Schlegel  about  Alfieri,  whose  merit  he  denies.  He  was  also 
wroth  about  the  Edinburgh  Review  of  Goethe,^  which  was  sharp 
enough,  to  be  sure.  He  went  about  saying,  too,  of  the  French  — 
'I  meditate  a  terrible  vengeance  against  the  French  —  I  will  prove 
that  Moliere  is  no  poet'  (was  er  bereits  in  seinen  Wiener  Vor- 
lesungen zu  tun  versucht  hatte).  Auch  nachdem  sich  die  beiden 
getrennt  hatten,  um  sich  nicht  wiederzusehen,  fand  sich  Anlaß 
genug  zur  Verstimmung.  Da  war  im  Jahre  1818  in  Blackwood's 
Magazine  (Bd.  III,  227)  bei  Gelegenheit  einer  Besprechung  des 
4.  Gesanges  von  Childe  Harold  gesagt  worden,  Byron  könnte 
einige  Gedanken  darin  aus  Schlegels  Elegie  'Rom'  entlehnt  haben. 
Gegen  diese  Vermutung  wendet  sich  Byron  mit  aller  Schärfe  in 
dem  oben  zitierten  Briefe  an  Moore  vom  2.  August  1821  und  ver- 
sichert, er  habe  die  betreffende  Stelle  aus  der  Elegie  bei  Black- 
wood, wo  eine  Übersetzung  mitgeteilt  ist,  überhaupt  zum  ersten- 
mal gesehen;  außerdem  verstehe  er  ja  kein  Deutsch.  Nun  ist  es 
wirklich  unglaublich,  daß  Byron  je  eine  Anleihe  bei  Schlegel  ge- 
macht haben  sollte,  und  der  Kritiker  denkt  selbst  nur  an  ein  zu- 
fälliges Zusammentreffen  der  Gedanken.  Schlegels  Elegie  ist 
übrigens  kein  bedeutendes  Werk;  einem  neueren  Literarhistoriker 
gilt  sie  als  'eine  Dichtung  voll  gelehrter  Kälte  und  metrischer 
Künstelei'. 

Aber  es  sollte  noch  schlimmer  kommen.  Thomas  Moore  war 
im  Mai  1821  Schlegel  in  Paris  in  einer  Gesellschaft  beim  Herzog 
de  Broglie  begegnet  und  schrieb  über  sein  Gespräch  mit  ihm 
folgendes  in  sein  Tagebuch:  'Had  much  talk  wäth  Schlegel  in  the 
evening,  who  appears  to  me  füll  of  literary  coxcombry.  Is  evi- 
dently  not  well  inclined  towards  Lord  Byron;  thinks  he  will 
outlive  himself  and  get  out  of  date  long  before  he  dies.  Asked 
me  if  I  thought  a  regulär  critique  of  all  Lord  B.'s  work  and  the 
System  on  which  they  are  writteh.  would  succeed  in  England, 


1   Es    handelt   sich   um    eine   Kritik    von    'Wahrheit   und    Dichtung' 
12.  Bd.  der  Review. 


A.  W.  Schlegel  in  seinen  Beziehungen  zu  engl.  Dichtern  und  Kritikern  157 

and  seems  inclined  to  uudertake  it.'  (Journ.  &  Corresp.  III,  235.) 
Unzweifelhaft  hat  Moore  über  diese  Unterredung  an  Byron  be- 
richtet, und  dieser  schreibt  nun  voll  Zorn  an  Murray  (L.  &  J.  V. 
337):  'They  write  from  Paris  that  Schlegel  is  making  a  fierce 
book  against  me.  What  can  I  have  done  to  the  literary  Col- 
captain  of  late  Madame?  I,  who  am  neither  of  his  country  nor 
of  his  horde?  Does  this  Hundsfoth's  intention  appal  you? 
If  it  does,  say  so.  I  don't  me:  for  if  he  is  insolent,  I  will  go  to 
Paris  and  thank  him.  There  is  a  distinction  between  native  criti- 
cism,  because  it  belongs  to  the  Nation  to  judge  and  pronounce 
on  natives;  but  what  have  I  to  do  with  Germany  and  Germans, 
neither  any  subject  nor  any  language  having  anything  in  common 
with  that  country?'  In  einem  weiteren  Briefe  vom  7.  August 
Cibid.  S.  339)  kommt  er  noch  einmal  auf  Schlegel  zurück  und 
fragt  auch  später  bei  Moore  seinetwegen  an.  Da  aber  die  bewußte 
Kritik  nicht  erschien,  so  ist  die  unerquickliche  Angelegenheit  im 
Sande  verlaufen.  Schlegel  hat  sich  aber  doch  noch  in  unschöner 
Weise  an  Byrons  Andenken  vergangen,  indem  er  in  späteren 
Jahren  zwei  salz-  und  witzlose  Epigramme  gegen  ihn  losließ 
(Sämmtl.  Werke  II,  174.  215).  Übrigens  hat  auch  Byron  mit 
seinem  Spott  gegen  Schlegel  nicht  immer  zurückgehalten.  In 
einem  Briefe  an  Murray  (Lett.  &  Journ.  IV,  161)  flicht  er  die 
Verse  ein: 

'Some  say  she  [Mme  de  Stael]   died  a  Papist;   some 

Are  of  opinion   that's   a  hum. 

I  don't  know  that,  the  fellow  Schlegel 

Was  very  likely  to  inveigle 

A  dying  person  in  compunction 

To  try  the  extremity  of  unction.' 

Dabei  ist  aber  wohl  zu  beachten,  daß  diese  Äußerung  in  einem 
Privatschreiben  steht,  also  nicht  zur  Veröffentlichung  bestimmt 
war.  An  der  Behauptung  Byrons  ist  natürlich  kein  wahres  Wort. 
Was  Wordsworth  und  Coleridge  angeht,  so  ist  nur  von 
einer  einmaligen  kurzen  Begegnung  zu  berichten.  Die  beiden 
Dichter  hatten  im  Sommer  1828  eine  Reise  durch  Belgien  ge- 
macht^ und  waren  darauf  als  Gäste  im  Hause  des  Kaufmanns 
Aders  in  Godesberg  eingekehrt,  vermutlich  von  Crabb  Robinson 
empfohlen,  der  in  London  mit  der  Familie  Aders  viel  verkehrte. 
Die  Kunde  von  der  Anwesenheit  so  berühmter  Männer  drang  so- 
gleich nach  Bonn,  und  viele  Professoren  beeilten  sich,  sie  auf- 
zusuchen, unter  ihnen  ISTiebuhr  und  Schlegel.  Von  der  Unter- 
haltung, bei  der  Coleridge  nach  seiner  Gewohnheit  das  Wort 
führte,  während  Wordsworth  den  schweigenden  Zuhörer  abgab, 
wird  folgendes  berichtet:  'Schlegel  praised  Scott's  poetrj^,  Cole- 


Vgl.  Knight,  Life  of  Wordsworth  III,  137. 


158  A.  W.  Schlegel  in  seinen  Beziehungen  zu  engl.  Dichtern  und  Kritikern 

ridge  decried  it,  stating  that  no  poet  ever  lived  of  equal  eminence 
whose  writings  furnished  so  few  quotable  passages  [ein  etwas 
fadenscheiniges  Argument].  Schlegel  then  praised  Byron,  Cole- 
ridge  immediately  tried  to  depreciate  him.  Ah,  said  he,  Byron 
is  a  nieteor  which  will  but  blaze  and  rove  and  die,  Wordsworth 
there  is  a  star  luminous  and  fixed.'  Über  diese  Äußerungen  kann 
man  sich  nur  verwundern.  Bei  Schlegel  mag  der  Wunsch  vor- 
handen gewesen  sein,  den  Gästen  etwas  Freundliches  zu  sagen, 
was  (wenigstens  in  bezug  auf  Byron)  nicht  einmal  aufrichtig  zu 
sein  brauchte;  bei  Coleridge  hingegen  wäre  man  geneigt,  an  blo- 
ßen Neid  gegen  glücklichere  und  erfolgreichere  Dichtergenossen 
zu  glauben,  wenn  man  nicht  auch  berücksichtigen  müßte,  daß  er 
sich  in  seinem  ganzen  Wesen  und  Streben  scharf  von  ihnen  unter- 
schied. Es  mag  noch  erwähnt  werden,  daß  sich  in  der  Dresdner 
Sammlung  ein  inhaltlich  unbedeutender  Brief  von  Wordsworth 
an  Schlegel  befindet  (vom  2.  April  1834),  worin  er  ihm  einen 
jungen  Freund  empfiehlt  und  von  dem  besonderen  Vergnügen 
spricht,  das  ihm  der  nur  kurze  Verkehr  mit  Schlegel  gewährt  hat. 
Erfahren  wir  nun  auch  nicht,  wie  Wordsworth  und  Coleridge 
über  Schlegel  geurteilt  haben,  so  ist  ein  anderer  englischer  Dichter, 
Walter  Savage  Landor,  in  dieser  Hinsicht  desto  mitteil- 
samer. Schlegel  hatte  bereits  die  'Imaginary  Conversations' 
kennengelernt,  die  ihm  Julius  Hare  aus  Cambridge  am  14.  April 
1824  zugesandt  hatte.^  Nun  kam  Landor  selbst  im  Jahre  1832 
auf  der  Rückreise  nach  Italien  in  Gesellschaft  von  Hare  nach 
Bonn  und  besuchte  dort  Schlegel.  Was  er  dann  aber  über  ihn 
sagt,  ist  voll  von  Spott  und  tiefer  Enttäuschung.  Er  ist  erstaunt, 
einen  solchen  Mann  vor  sich  zu  sehen,  der  ihm  einen  so  tiefen 
Einblick  in  Shakespeares  Wesen  gewährt  hatte.  Nun  schreibt  er 
von  Frankfurt  aus  an  Crabb  Eobinson  (20.  Oktober  1832):  'At 
Bonn  I  met  Mr.  William  Schlegel.  He  resembles  a  little  pot 
bellied  pony  tricked  out  with  stars,  buckles  and  ribands,  looking 
askance  from  his  ring  and  kalter  in  the  market  for  an  apple  from 
one,  a  morsel  of  bread  from  another,  a  fig  of  ginger  from  a  third 
and  a  pat  from  every-body.  . . .  The  next  day  I  saw  the  honest 
Arndt,  who  settled  the  bile  this  coxcomb  of  the  bazaar  had 
encited.'  (Robinson,  Diary,  Remin.  and  Corresp.  II,  134.)  In  sei- 
nen Letters  and  unpublished  Writings  (S.  225)  berichtet  Landor 

^  Schlegel  muß  im  Jahre  1823  in  Cambridge  gewesen  sein,  wo  er  beson- 
ders im  Trinity  College  sehr  gefeiert  wurde.  Darauf  bezieht  sich  ein  Brief 
des  Rev.  Adam  Sidgwick  vom  10.  Januar  1845  (auch  dieser  in  der  Dresdner 
Sammlung  enthalten).  Darin  versichert  er  Schlegel:  'Every  member  of 
our  Society,  from  the  highest  to  the  lowest,  would  receive  with  honour  one 
who,  like  yourself,  has  done  so  much  honour  to  our  greatest  poet  and  to  our 
national  literature.' 


t 


A.  W.  Schlegel  in  seinen  Beziehungen  zu  engl.  Dichtern  und  Kritikern  159 

des  weiteren  über  den  schönen  Abend,  den  er  bei  Arndt  verbracht, 
und  über  die  Freude,  die  "es  ihm  und  dem  greisen  Dichter  bereitet 
habe,  als  Vorübergehende  ein  vaterländisches  Lied  von  ihm  san- 
gen, das  damals  schon  zum  Volkslied  geworden  war.  In  einem 
Gedicht  an  Schlegel,  das  dieser  gewiß  niemals  zu  sehen  bekommen 
hat,  drückt  er  nochmals  wie  oben  seine  Geringschätzung  für  ihn 
aus.  Man  würde  auch  zu  weit  gehen,  wenn  man  annähme,  daß 
sich  zwischen  dem  temperamentvollen  englischen  Landedelmann 
und  dem  gealterten  deutschen  Professor  irgendwelche  Harmonie 
hätte  herausbilden  können. 

Über  das  Verhältnis  Schlegels  zu  Sir  James  Mackin  tos  h, 
dem  bekannten  Essajästen  und  Parlamentarier,  können  wir  kür- 
zer hinweggehen.  Während  Frau  von  Staels  Aufenthalt  in  Lon- 
don war  Mackintosh  häufig  in  ihrer  Gesellschaft  und  ihr  ständiger 
Tischnachbar  ('I  am  generally  ordered  mth  her  to  dinner,  as  one 
Orders  beans  and  bacon',  äußerte  er  darüber  scherzhaft) .  Wir  wissen, 
daß  sie  große  Stücke  auf  ihn  hielt,  und  so  erklärt  es  sich,  daß  er 
bereits  im  September  1814  in  Coppet  erscheinen  durfte,  von  wo 
aus  er  mit  Schlegel  und  Sismondi  Voltaires  Landsitz  in  Ferney 
besuchte.  Aus  seiner  Korrespondenz  mit  Schlegel  ist  nur  ein  Brief 
bemerkenswert.  Campbell  hatte  ihm  zwei  Hefte  von  Schlegels 
'Indischer  Bibliothek'  gegeben,  und  nun  schreibt  er:  'I  have  now 
read  with  great  pleasure  your  remarks  together  with  Mr.  Bopp's 
comparison  of  the  Sanscrit  with  Greek  and  Teutonic.  They  leave 
me  no  doubt  of  an  opinion  I  have  long  entertained  that  these 
three  ancient'and  extensive  languages  flow  from  the  same  source.' 
So  war  wenigstens  an  einer  Stelle  das  richtige  Verständnis  für  die 
indogermanische  Sprachwissenschaft  angebahnt.  Einige  Jahre 
später  war  Schlegel  aufgefordert  worden,  in  London  Vorlesungen 
zu  halten,  sei  es  über  die  Geschichte  der  schönen  Künste,  sei  es 
über  das  alte  und  neue  Indien;  sie  sollten  dann  in  Buchform 
herauskommen.  Mackintosh  fiel  es  zu,  die  Sache  zu  vermitteln, 
aber  der  Plan  zerschlug  sich,  weil  kein  A^'erleger  sich  für  das  Buch 
finden  wollte  und  die  Zeitverhältnisse,  insbesondere  die  Agitation 
für  die  Reformbill,  hindernd  im  Wege  standen.  — 

Weiterhin  würde  es  sich  jetzt  darum  handeln,  den  Einfluß  zu 
bestimmen,  den  Schlegel  bei  den  englischen  Dichtern  und  Kri- 
tikern ausgeübt  hat.  Hier  ist  der  Umstand  hinderlich,  daß  es  an 
Vorarbeiten  fast  gänzlich  fehlt;  auch  wären  eine  Reihe  von  Zeit- 
schriften und  Büchern  einzusehen,  die  zur  Zeit  unzugänglich  sind. 
An  einer  wichtigen  Stelle  ist  allerdings  die  Arbeit  getan,  und 
zwar  gründlich.  Es  betrifft  dies  Coleridge  und  seine  öffent- 
lichen Vorträge,  speziell  über  Shakespeare.  In  bezug  auf  seine 
Abhängigkeit  von  Schlegel  sind  die  verschiedensten  Ansichten 
geäußert  worden.    Schon  gleich  nach  seinem  Tode  hat  Thomas  de 


160  A.  W.  Schlegel  in  seinen  Beziehungen  zu  engl.  Dichtern  und  Kritikern 

Quincey  (Werke  ed.  Masson  II,  140)  den  Vorwurf  des  Plagiats 
gegen  ihn  erhoben  —  freilich  zunächst  nur  wegen  seiner  Be- 
nutzung von  Schelling  — ,  und  nach  ihm  noch  verschiedene  andere, 
wogegen  ihm  auch  eine  Reihe  von  Verteidigern  erstanden  ist.  Zu 
diesen  gehört  vor  allem  Brandl  in  seiner  Biographie  Coleridges 
(p.  426),  der  vieles  mit  der  Nachlässigkeit  des  Dichters  sowie  mit 
der  Unstetigkeit  seines  äußeren  und  inneren  Lebens  zu  entschul- 
digen sucht.  Aber  auch  er  muß  zugestehen,  daß  mancher  Para- 
graph der  Biographia  Literaria  einfach  ein  Abklatsch  von  Maaß 
oder  Schelling  ohne  genaues  Zitat,  manches  Kapitel  seiner  ge- 
druckten Vorlesungen  ein  Abklatsch  von  Schlegel  ohne  jede 
Quellenangabe  ist,  abgesehen  von  den  schier  unzähligen  Ent- 
lehnungen freierer  Art.  Man  braucht  allerdings  die  Idee  von  sei- 
ner Abhängigkeit  von  anderen  nicht  zu  übertreiben;  ähnliche  Ge- 
danken können  gemeinsamer  Quelle  entstammen,  manches  auch 
dem  Geist  der  Zeit,  und  doch  kann  man  mit  Herford  zugeben, 
daß  Coleridge  in  seiner  Shakespearekritik  der  besser  gegliederten 
Formulierung  der  Gedanken  bei  seinem  deutschen  A^orgänger  ge- 
folgt ist,  daß  dieser,  kurz  gesagt,  sein  Meister  war. 

In  neuerer  Zeit  ist  die  ganze  Frage  noch  einmal  genau  unter- 
sucht worden  in  einer  Dissertation  der  University  of  Wisconsin 
(The  indebtedness  of  S.  T.  Coleridge  to  A.  W.  Schlegel  von  A.  A. 
Wehnholtz,  1907).  Die  Verfasserin  stellt  hier  wohl  zum  ersten- 
mal eine  große  Anzahl  von  einzelnen  Stellen  bei  beiden  Kritikern 
nebeneinander  zum  Vergleich,  zeigt  dann  Coleridges  Verfahren, 
wie  er  ganze  Kapitel  und  Abschnitte  in  einem  einzigen  Satz 
gleichsam  kondensiert,  und  wie  ein  ganz  neuer  Ton  in  seine  Vor- 
lesungen hineinkommt,  seitdem  er  das  Buch  von  Schlegel  kennen- 
gelernt hat.  Das  geschah  im  Januar  1812,  nachdem  er  schon  acht 
Vorlesungen  der  zweiten  Serie  hinter  sich  hatte.  Von  da  an  tritt 
Schlegels  Einwirkung  je  länger,  je  mehr  zutage. 

Bei  dem  Interesse,  das  Campbell  für  Schlegels  Person  wie  für 
seine  Leistungen  empfand,  wird  es  nicht  wundernehmen,  daß  er 
sich  auch  in  seinen  Schriften  gelegentlich  mit  ihm  beschäftigt. 
Dies  geschieht  in  dem  einleitenden  Essay  zu  seinen  'Specimens  of 
the  British  Poets'  (S.  153).  Dort  wendet  er  sich  gegen  Schlegels 
Behauptung,  Shakespeare  habe  in  seinem  Wirken  niemals  die  Ein- 
heiten verletzt,  wenn  man  sie  richtig  und  weitherzig  auffasse. 
Campbell  dagegen  meint,  es  kämen  in  ihnen  Dinge  vor,  die  sich 
mit  den  Grundsätzen  der  dramatischen  Kunst  nicht  mehr  ver- 
einigen lassen.  Wenn  z.  B.  im  'Wintermärchen'  Perdita  als  neu- 
geborenes. Kind  und  später  als  erwachsen  auf  die  Bühne  komme, 
so  könne  man  keine  Einheit  mehr  in  dem  Stück  erkennen  und 
müsse  zu  der  Annahme  seine  Zuflucht  nehmen,  daß  Shakespeare 
hier  die  Kunst  mit  Füßen  trete.    'When  I  am  left  to  infer'.  fährt 


A.  W.  Schlegel  in  seinen  Beziehungen  zu  engl.  Dichtern  und  Kritikern  161 

er  mit  leicht  erkennbarer  Ironie  fort,  'that  all  this  is  right  on 
romantic  principles,  I  confess  that  there  principles  become  too 
romantic  for  mj  conception.'  Campbells  Kritik  erseheint  hier 
etwas  flach.  Er  übersieht  ganz,  daß  das  Stück  ein  Märchendrama 
ist,  wodurch  dem  Dichter  schon  eine  größere  Freiheit  und  weiterer 
Spielraum  gelassen  wird.  Wichtig  ist  ferner,  daß  Perdita  zuerst 
gar  nicht  handelnd  auftritt,  so  daß  sie  im  weiteren  Verlauf  des 
Dramas  fast  wie  eine  neue  Person  betrachtet  werden  kann.  Auch 
muß  ohnehin  zwischen  dem  3.  und  4.  Akt  eine  längere  Frist  ver- 
streichen (die  Zeit  als  Chorus  vermittelt  hier  den  Übergang),  um 
Leontes'  Reue  und  Sinneswandlung  zu  motivieren.  Campbell 
steht  eben  noch  unter  dem  Druck  der  klassizistischen  Doktrin, 
den  er  nicht  abschütteln  kann,  und  ist  außerstande,  dem  Fluge 
des  Genius  zu  folgen. 

Wesentlich  polemisch  verhält  sich  auch  Hazlitt  Schlegel 
gegenüber.  Dieser  hatte  in  seinen  Vorlesungen  über  die  Oper  u.  a. 
gesagt  (Werke  V,  67  fF.):  'In  der  Oper  ist  die  Poesie  nur  Neben- 
sache: sie  wird  unter  ihren  Umgebungen  fast  ertränkt.  . . .  Diese 
Anarchie  der  Künste,  da  Musik,  Tanz  und  Dekoration  durch  Ver- 
schwendung ihrer  üppigsten  Reize  sich  gegenseitig  zu  überbieten 
suchen,  ist  das  eigentliche  Wesen  der  Oper  usw.'  Dazu  bemerkt 
Hazlitt  in  einer  Kritik  von  Mozarts  'Cosi  fan  tutte'  (abgedruckt 
in  'A  View  of  the  English  Stage',  p.  235):  'The  foregoing  remarks 
give  the  best  account  wo  have  seen  of  that  splendid  exhibition, 
the  Italian  opera.  These  Germ  an  critics  can  explain  everything. 
and  upon  any  occasion  make  the  worse  appear  the  better  reason. 
Their  theories  are  always  at  variance  with  common  sense,  and  we 
shall  not  in  the  present  instance  undertake  to  decide  between 
them.  There  is,  however,  one  thing  we  shall  venture  to  decide, 
which  is  that  the  feelings  of  the  English  people  must  undergo 
time  very  elaborate  process,  before  they  are  thoroughly  recouciled 
to  the  Union  of  different  elements  etc.'  Hazlitt  ist  nun  von  jeher 
ein  mürrischer  und  galliger  Charakter  gewesen,  und  hier  zeigt  er 
sich  in  seinem  wahren  Lichte.  Da  er  den  Deutschen  nicht  wider- 
legen kann,  so  räsoniert  er  über  ihn  und  schweift  dann  zu  einer 
geringschätzigen  Kritik  des  englischen  Publikums  ab.  Unlogisch 
ist  er  obendrein,  deiin  wenn  Schlegel  von  der  italienischen  Oper 
'the  best  account'  gegeben  hat.  so  können  die  Theorien  der  deut- 
schen Kritik  schwerlich  'at  variance  with  common  sense'  sein. 

Nicht  viel  anders  macht  er  es  in  einem  zweiten  Fall  bei  einer 
Kritik  über  Measure  for  Measure  (a.  a.  0.  S.  165).  Hier  sagt  er 
von  Schlegels  Beurteilung  des  Stückes:  'This  is  a  very  poor  criti- 
cism  of  a  very  fine  poetry.  but  we  are  not  in  a  humour  (even  if  we 
could)  to  write  a  better.'  Da  er  also  selbst  sein  Unvermögen 
gesteht,  so  ist  er  in  keinem  Fall  ernst  zu  nehmen. 


162  A.  W.  Schlegel  in  seinen  Beziehungen  zu  engl.  Dichtern  und  Kritikern 

Glücklicherweise  hat  es  in  England  noch  Schriftsteller  ge 
geben,  die  wohlwollender  und  gerechter  urteilten  als  Hazlitt. 
Richard  Hengist  Hörne,  ein  Kritiker  und  Dichter  von  Ruf,  der 
gerade  die  zweite  Ausgabe  von  Schlegels  Vorlesungen  besorgt 
hatte,  schreibt  an  ihn  am  16.  Juni  1840,  nachdem  er  von  der 
weiten  und  schnellen  Verbreitung  des  Werkes  und  vom  G-efühl  der 
Dankespflicht  des  englischen  Publikums  gesprochen,  folgendes: 
'I  enclose  a  copy  of  another  newspaper  (the  Atlas),  that  you  may 
see  the  Present  state  of  criticism  among  us,  with  reference  to 
contemporaries;  for  although  the  sympathizing  tone  of  this  paper 
is  not  at  all  a  fair  general  specimen  of  our  press  in  England; 
yet  in  absence  of  personalities  it  may  be  considered  such  —  the 
contrary  having  almost  always  been  the  case,  until  your  lectures 
gradually  taught  our  critics  to  assume  a  higher  and  more  abstract 
tone  of  disquisition.'  Dies  stimmt  im  großen  und  ganzen  zu  der 
Auffassung  von  der  Aufgabe  des  Kritikers,  wie  sie  Schlegel  (Ges. 
AVerke  VIT,  26)  gelegentlich  entwickelt  hat. 

Zusammenfassend  wird  man  etwa  sagen  können,  daß  Schlegel 
im  Grunde  mehr  auf  die  Gelehrten  und  Kritiker  (und  durch  sie 
mittelbar  auf  die  gebildeten  Kreise)  als  auf  die  Dichter  gewirkt 
hat.  Diese,  die  ihm  an  Fülle  der  Produktion  und  durch  ihr  poeti- 
sches Talent  überlegen  waren,  lehnten  seine  romantischen  Theo- 
rien ab.  Jene  dagegen  ließen  sich  durch  seine  umfassende  Gelehr- 
samkeit ebenso  bestechen  wie  durch  seine  gesellschaftliche  Ge- 
Avandtheit.  Jedenfalls  hat  er  zur  Mehrung  und  Festigung  des 
deutschen  Ansehens  in  England  erheblich  beigetragen. 

Berlin.  Georg  Herzfeld. 


John  Keats 
im  Lichte  der  neuesten  Forschung 

Wiederum  steht  John  Keats  im  Vordergruud.  unseres  literarischen  Inter- 
esses. Seine  Lebensgeschichte  ist  wiedererzählt  und  seine  Dichtung  aufs 
neue  gewürdigt  worden  in  einem  Buche,  das  selber  ein  Lebenswerk  ist.^ 
Schon  1887  hat  Sidney  Colvin  in  der  English  Men  of  Letters  Serics 
seine  kleine  Keatsbiographie  veröffentlicht.  Heute  liegt  sie  uns  als  dick- 
leibiges Buch  vor.  Große  Stücke  sind  sieh  wesentlich  gleich  geblieben  und 
nur  durch  ausgiebigeres  Zitieren  und  Einschieben  von  Zwischenbemerkungen 
erweitert  worden.  So  bieten  die  rein  biographischen  Kapitel  nicht  viel 
Neues.  Wir  hören  von  Keats'  feiner  Beobachtungsgabe,  von  seinem  sinn- 
lichen Entzücken  in  Berührung  mit  der  Natur,  wenn  wir  einen  Blick  in  die 
so  äußerst  wertvolle  Severnbiographie^  von  W.  Sharp  werfen:  eine  Wind- 
welle streicht  über  die  Gräser,  und  Keats  ersteigt  den  Zauntritt,  um  das 
Schauspiel  zu  betrachten,  und  ekstatisch  ruft  er  aus:  T)ie  Flut,  die  Flut!' 
Wir  erfahren  noch  mehr  über  Leigh  Hunt,  seine  literarische  Cockneymanier 
und  sein  Rimini,  die  Verwässerung  von  Dantes  Paolo  und  Francesca-Episode. 
Auch  das  Haydonprofil  wird  noch  etwas  schärfer  gezeichnet  als  in  dem 
kleineren  Buche.  .  Das  berühmte  immortal  dinner,  an  dem  der  betrunkene 
Lamb  den  würdevollen  Wordsworth  reizte  und  kränkte,  wird  breiter  und 
behaglicher  dargestellt.  Dankbar  sind  wir  für  einige  Auszüge  a.us  den  inter- 
essanten Winterbriefen  1817 — 1818,  die  Keats'  Dichtertheorie  eathüllen,  wo 
wir  z.  B.  die  Äußerung  finden,  die  Poesie  müsse  durch  feine  Übertreibung, 
nicht  durch  Eigenart  überraschen:  poetry  sliould  surprise  hy  a  fine  cxc'ess, 
and  not  ly  singularity.  Eingehend  wird  die  zeitgenössische  Kritik  des 
Endymion  wiedergegeben  und  Blackwood's  Magazine,  das  den  berüchtigten 
Artikel  gegen  Keats  brachte,  seinem  literarischen  Ton  und  seiner  ganzen 
Tendenz  nach  gewürdigt,  oder  richtiger  gegeißelt.  Das  Verhältnis  zu  Fanny 
Brawne  wird  ausführlich  dargestellt.  Es  gibt  wohl  kaum  eine  bemerkens- 
werte Einzeltatsache  in  diesem  kurzen  Dichterleben,  die  in  dieser  Bio- 
graphie nicht  berücksichtigt  worden  wäre. 

Doch  in  dem  biographischen  Element  lieg-t  —  für  uns  wenigstens  — 
nicht  der  Hauptwert  des  Buches.  Sidney  Colvin  hat  den  kritischen 
Teil  von  Grund  aus  umgearbeitet  und  gewaltig  bereichert,  und  der  Literar- 
historiker wird  sich  neugierig  diesen  Kapiteln  zuwenden,  um  zu  sehen,  was 
es  Kostbares  für  ihn  zu  ernten  gibt.  Er  wird  aber  auch  bei  der  reich- 
lichen Keatsliteratur  der  letzten  Jahre  wieder  Umschau  halten,  um  durch 
Vergleichen  und  eigene  Betrachtung  zu  einem  selbständigen  Urteil  über 
Keats  und  seine  Kunst  zu  gelangen. 

1.    Gedichte    18  17. 

Zunächst  ein  paar  Worte  über  die  Gedichte  des  Jahres  1817.  Sie  zer- 
fallen in  Sonette  und  Episteln.  Beide  zeigen  dieselbe  Grundnote : 
Entzücken  an  der  Schönheit  der  Natur,  Lebendigkeit  des  Empfindens. 
Freude  am  Fabuliere»  und  an  der  Kunst. 

^  Sidney  Colvin,  John  Keats.    Bis  life  and  Poeiry,  his  fricnds,  critics  and 
after-fame,  London,  Macmillan,   1917    (Neudruck  1918).     XX,  600   S. 
-  Life  and  Letters  of  Joseph  Severn  by  W.  Sharp,  1892. 


164  John  Keats  im  Lichte  der  neuesten  Forschung 

Die  Sonette  sind  ohne  hohe  Leidenschaft,  einfacher,  aufrichtiger  Aus- 
druck persönlicher  Gefühle,  der  nur  gelegentlich  vereinzelte  Taktgruppen 
herrlichster  Wortkunst  aufweist.  Eine  Ausnahme  bildet  das  Sonett  auf 
Chapman's  Ilomer,  ein  Meisterstück  der  Heiterkeit  und  Konzentration,  ein 
Bild  mit  weltenweitem  Ausblick,  das  das  literarische  Entzücken  an  Chap- 
man's Homer  in  der  historischen,  romantischen  Gestalt  des  Cortez  sichtbar 
macht,  der  neue  Weltteile  entdeckt,  dessen  Entdeckungsfreude  zurück  zum 
jugendlichen   Entzücken   am   homerischen   Epos   die   Brücke  schlägt. 

Die  Gedichtsammlung  enthielt  nicht  das  prächtige  Leandersonett, 
das  Keats  am  16.  März  1816  nach  James  Tassies  Pastellreproduktion  einer 
Gemme  dichtete.  Wie  früh  betätigt  sich  bei  ihm  die  bildende  Kunst  als 
Anreger!  Wie  prächtig  kompakt  ist  der  Schluß:  see  hotv  his  hody  dips 
Dead-heavy;  arms  and  Shoulders  gleam  awhile;  He's  gone:  up  htihiles  all 
his  amorous  hreath. 

Unter  den  Episteln  und  reflektierenden  Stücken,  die  im  zehusilbigen 
Reimpaar  geschrieben  sind,  steht  die  Sendung  an  Feiton  Mathew  vom 
November  1815  als  ein  metrisches  Erzeugnis  da,  das  ein  spontan  sich  ent- 
wickelndes Endglied  einer  längeren  Kette  ist,  die  bis  zu  den  Elisabethanern 
zurückreicht,  die  das  zehnsilbige  Reimpaar  auf  zweierlei  Weise  verwen- 
deten, entweder  nach  dem  geschlossenen  System,  wo  Reim-  und  Sinnschema 
sich  glatt  deckten  und  neben  epigrammatischer  Schärfe  sehr  leicht  Eintönig- 
keit sich  einstellen  konnte,  oder  nach  dem  verschobenen  System,  wo  Reim- 
und  Sinnsehema  sich  durchkreuzten  und  der  Vorteil  der  Freiheit  gelegentlich 
durch  den  Nachteil  rhythmischer  Schwäche  aufgehoben  wurde.  Marlowe 
und  Spenser  huldigten  dem  ersten,  Drayton,  Chapman,  Donne,  Ben  Jonson, 
William  Chamberlayne  dem  zweiten  System.  Eine  glückliche  Vereinigung 
beider  Arten  finden  wir  bei  William  Browne  und  George  Sandys,  dem 
Übersetzer  von  Ovids  Metamorphosen,  einem  Werke,  das  Keats  sehr  wohl 
kannte.  Später,  unter  der  Restauration,  galt  die  Regel,  wenigstens  die  Ein- 
heit des  Reimpaares  zu  achten,  d.  h.  den  Satz  am  Ende  des  zweiten  Verses 
abzuschließen,  während  Milton  immer  noch  die  gemischte  elisabethanische 
Anordnung  vorzog.  Die  geltende  Tiegel  befolgten:  Drummond  of  Haw- 
thornden,  Sir  John  Beaumont,  Marvell,  Waller,  Katherine  Philips.  Cowley 
brachte  Abwechslung  durch  gelegentliche  Einführung  des  Zwölfsilbners, 
Dryden  durch  Ausdehnung  des  Reimes  auf  drei  Verse.  Pope  streifte  alle 
diese  Variationen  wieder  ab  und  brachte  den  Grundsatz  der  strengen  Über- 
einstimmung von  Reim-  tmd  Satzschema  und  der  Regelmäßigkeit  der 
Zäsur  zu  einer  Herrschaft,  der  die  drei  folgenden  Dichtergeschlechter  sich 
beugten.  Gegner  des  Prinzips  erstanden  in  Joseph  und  Thomas  Warton, 
Thomas  Gray,  Chatterton,  Macpherson,  Blake.  Die  ernsthafte  Abkehr  vom 
Popeschen  Prinzip  kam  durch  Coleridge.  Wordsworth  und  später  durch 
Scott.  Das  heroische  Reimpaar  hielt  sich  aber  immer,  noch  in  der  Oppo- 
sition, bei  Rogers,  Crabbe,  Campbell,  bei  Byron  in  seinem  Corsair  und 
Lara,  während  Leigh  Hunt  den  Versuch  mächte,  durch  Vermischung  mit 
Triplet  und  Alexandriner  und  durch  die  Verwendung  der  elisabethanischen 
Doppeltendenz  das  heroische  Reimpaar  zu  verbessern. 

Da  kommt  Keats  und  schreibt  seine  Epistel  an  Feiton  Mathew. 
Er  greift  wieder  zurück  auf  William  Brownes  Britannia's  Pastorais. 
weil  er  dort  das  leichtfließende  Verspaar  mit  reichlichen  weiblichen  Reimen 
vorfand.      Seiner    Stimmung    nach    ist    das    Gedicht    Ovidisch    mythologisch 


John  Keats  im  Lichte  dej-  neuesten  Forschung  165 


W  romantisch.  Mathew  war  einst  eine  wilde  Blume  au  dem  Bache  der 
Poesie,  Diana  pflückte  ihn  und  warf  ihn  in  den  Fluß,  ihrem  Bruder 
Apollo  zum  Opfer,  der  ihn  in  einen  Stieglitz  verwandelte,  aus  dem  ein 
schwarzäugiger   Schwan  geworden   ist,  den  Naiaden  ernähren. 

In  demselben  Metrum  geschrieben  sind  das  durch  Hunts  Rimini  an- 
geregte Calidore  und  die  beiden  Stücke,  die  dem  ganzen  Bande  seinen  Wert 
verleihen:  Sleep  and  Poetry  und  As  I  stood  tiptoe,  Präludien  über  des  Dich- 
ters Bestrebungen.  Sleep  and  Poetry  zeigt  Keats'  Begabung,  aktive  Eigen- 
schaften in  die  Dinge  hineinzuschauen  und  die  passiven  Attribute  zu  ver- 
decken. Der  Wagenlenker,  dessen  wildtrabende  Rosse  über  Wolken  und 
Hügel  jagen  an  tausend  Visionen  vorbei,  ist  Sichtbarmachung  der  Phantasie. 
Die  Visionen  verschwinden,  wie  die  wahre  Dichtung  in  England  nach  Spenser 
und  lililton  schwand,  um  der  mathematischen  Poesie  des  18.  Jahrhunderts 
Platz  zu  machen,  gegen  die  sich  Keats  in  schroffen  Worten  wendet.  Wenn 
er  die  neue  Zeit  begrüßt,  so  kann  er  sich  aber  doch  nicht  mit  allen  ihren 
Erscheinungen  einverstanden  erklären.  Die  ugly  cluhs  sind  nach  Sidney 
Colvin  Byrons  orientalische  Verserzählungen. 

In  /  stood  tiptoe  werden  schöne  Naturbilder  als  symbolisch  verwandt  mit 
gewissen  dichterischen  Stilarten  erkannt.  Wie  Oliver  Elton  sagt,  ist  die 
Natur  selber  eine  Gedichtsammlung,  und  der  Mittsommernachtstraum  ist  ein 
unerforschter  Wald.  Jedes  Naturbild  entspricht  einer  bestimmten  Dich- 
tung und  jede  Dichtung  einem  bestimmten  Naturbild;  denn  was  im  Dichter 
dieselbe  Stimmung  erwecken  kann,  ob  Naturbild  oder  Gedicht,  ist  sich 
vvesensverwandt : 

»In   the  calm   graudeur   of    a   sober   Ime, 
We  see  the  waving  of  the  mountain  pine: 
And  when  a  tale  is  beautifully  staid, 
We  feel  the  safety  of  a,  hawthorn  glade. 

Ich  kann  mir  keine  tiefer  grabende,  dem  Dichter  näher  kommende  Erklä- 
rung dieses  Präludiums  vorstellen  als  die,  welche  uns  in  dem  aus  künstle- 
rischer Intuition  entstandenen  Aufsatz  der  Mary  Suddard^^  gegeben  wird, 
deren  wunderbare  Reife  auch  Sidney  Colvin  an  anderer  Stelle  anerkennt. 
Wo  wie  bei  diesem  Dichter  die  seelische  Identität  von  Natur  und  Dichtung 
—  oder  sagen  wir  Mythus  —  als  selbstverständlich  gefordert  wird,  wird 
der  Mythus  selber  zum  individuell  dichterischen  Erlebnis,  und  die  schon 
vorhandenen  alten  Mythen  müssen  sich  ihm  auf  gewisse  Naturstimmungen, 
die  er  selber  rekonstruieren  will,  einstellen.  So  reizt  es  ihn,  die  seelische 
Identität  von  Natur  und  Dichtung  herzustellen  in  jenen  alten  Fabeln  von 
Cupido  und  Psyche,  von  Pan  und  Syrinx,  von  Narcissus  und  Echo,  von 
Cynthia  und  Endymion,  und  so  malt  er  die  entsprechenden  Landschaften  mit 
ihren   Stimmungen.     Wie  reizend   ist  das  Narzissusnaturbildchen ! 

Der  Stil  weist  jetzt  schon  die  in  Endymion  so  häufig  auftretenden  ab- 
strakten Nomina  auf,  die  sinnenfällige  und  die  Phantasie  angenehm  er- 
regende Eigenschaften  bezeichnen :  qtiaint  mossiness  of  aged  roots  — 
piire,    deliciousne  s  s   —   pillowy   silkines  s    of   clouds. 

An  literarischen  Einflüssen  macht  sich  Wordsworth  bemerkbar  — 


^  Keat.s'  Preltide,  a  Study  of  the  Poems  of  Keats  up  to  Endymion  {Studies 
and  Essays,  Cambridge,  University  Press,  1912).  Ich  habe  das  Buch  im 
Beiblatt   zur  'Anglia'  26    (1915)    70 — 80   eingehend  besprochen. 


166  John  Keats  im  Lichte  der  neuesten  Forschung 

darauf  hat  zuerst  der  poeta  laureatus  Robert  Bridges  in  seiner  Einleitung 
zu  John  Keats'  Gedichten  in  der  Ausgabe  von  G.  Thorn  Drury  hingewiesen 
— ,  Wordsworth,  der  in  seinem  vierten  Buche  der  Excursion  sich  darüber 
klar  zu  werden  versucht,  wie  gewisse  Vorstellungen  griechischer  Mythologie 
entstanden  sein  mögen.  Gerade  jene  Stelle  Wordsworths  bespricht  Keats 
kurz  nachher  mit  einem  Freunde.  Übrigens  zeigt  auch  Sleej)  and  Poetry 
eine  innei-e  Verwandschaft  mit  einem  Wordsworthschen  Gedicht,  nämlich 
mit  Tintern  Ahhey.  Allerdings  erscheint  Keats  neben  dem  mehr  nach- 
denkenden und  erklärenden  Wordsworth  als  der  eigentlich  anregende, 
die  Phantasiebilder  mitteilende  Dichter. 

2.   Der   Theoretiker    der    Romantik. 

Im  Jahre  1817  beschäftigt  sich  Keats  mit  ästhetisch-philosophischen 
Fragen,  wie  ein  Brief  vom  22.  November  1817  uns  darlegt.  Keats  erklärt 
hier  den  Gegensatz  zwischen  Sensationen  (sensations)  und  Gedan- 
ken {tlioughts),  wobei  die  Sensationen  nicht  rein  körperlich,  sondern  geistig 
aufgefaßt  werden  als  intuitions  of  the  mind,  wie  S.  Colvin  sagt,  d.  h.  als 
unmittelbares  Erkennen  ohne  Denken.  Der  Dichter  ruft  aus:  Oh,  um  ^f 
ein  Leben  der  Intuition  viel  eher  als  des  Denkens!  (0/  for  a  Ufe  of  Sen- 
sations rather  tlian  of  Thoughtsl)  Mit  'Sensationen'  arbeitet  —  so  müssen 
wir  wohl  das  dazwischenliegende,  nicht  ausgedrückte  Gedankenglied  er- 
gänzen —  die  Imagination,  von  deren  Zuständigkeit  er  innerlidi 
überzeug-t  ist.  Und  was  sie  als  Schönheit  erfaßt,  muß  Wahrheit  sein.  Ein 
Gleichnis  macht  es  uns  klar.  Adam  träumte  —  nach  Miltons  Paradise  Lost 
VIII,  288 — 311!  —  und  fand  beim  Erwachen  den  Traum  bewahrheitet.  Er 
sah,  wie  die  glorreiche  Gestalt  Gottes  aus  seiner  eigenen  Rippe  ein  Ge- 
schöpf erschuf,  und  er  erwachte,  und  Eva,  die  Schönheit,  stand  neben  ihm. 

Man  wird  sich  daran  erinnern,  daß  die  Imagination,  die  Keats  hier 
verherrlicht,  ein  Schlagwort  jener  Tage  ist,  und  wird  wohl  sicher  gehen, 
wenn  man  annimmt,  daß  hier  unser  Dichter  auf  seine  Art  das  oft  erörterte 
literarkritische  Thema  Wordsworths  und  Coleridges,  Fancy  and  Imagi- 
nation, anfaßt.  Die  Fancy  hat  Keats  hier  fahren  gelassen.  Daß  ihn  aber 
jene  geistvolle  Tüftelei  —  und  etwas  Besseres  ist  jene  Erörterung  nach 
Saintsbury  in  seiner  History  of  Literary  Criticism.  nicht,  da  Saintsbury 
zwischen  Fancy  und  Imagination  keinen  Unterschied  sehen  kann  —  kurz 
vorher  auch  beschäftigt  hat,  zeigt  eine  Äußerung,  die  wir  einem  Briefe  aus 
dem  Frühjahr  1817  entnehmen  (bei  Sidney  Colvin  165),  wo  er  sagt,  Er- 
findung (invention)  sei  der  Polarstern  der  Poesie,  Einbildungs- 
kraft [fancy)  sein  Segel  und  Bildung'skraft  (imagination)  sein 
Steuer.  Dies  klingt  wie  ein  deutliches  Echo  der  Vorrede,  die  Words- 
worth zu  seiner  Gedichtsammlung  des  Jahres  1815  geschrieben  hatte, 
wo  er  für  den  Dichter  sechs  Hauptfähigkeiten  gefordert  und  unter 
Punkt  4  und  5  Imagination,  Fancy,  Invention  aufgezählt  hatte.  Die  viel 
feinere  Quelle,  aus  der  übrigens  auch  Wordsworth  für  seine  Begriffsunter- 
scheidung von  Imagination  und  Fancy  geschöpft,  nämlich  Coleridges 
Theorien,  die  vor  1815  gespräclisweise  in  literarischen  Kreisen  herum- 
geboten wurden  und  1817  in  dem  genialen  Durcheinander  der  Biographia 
I.iteraria  im  Druck  erschienen,  kannte  er  nicht.  Coleridge  hatte  die  Un- 
ter.scheidung  in  Jean  Paul  Richters  'Vorschule  der  Ästhetik'  gefunden  und 
von  dem  heute  vergessenen  G.  Maaß  in  dessen  'Versuch  über  die  Einbildungs 


John  Keats  im  Lichte  der  neuesten  Forschung  167 

kraft'  (1797)  den  Gedanken  der  Bildungskraft  als  Attribut  der  Genialität 
übernommen.  Dies  verschmolz  sich  jetzt  mit  der  bei  ihm  schon  längst  fer- 
tigen Vorstellung  von  Schellings  Ineinsbildung,  die  Coleridge  mit  seiner 
bekannton  Freude  an  griechischen  Neuprägungen  eisemplastiiclie  Fähigkeit 
nannte.  Keats  hat  Coleridge  nur  einmal  gesehen,  zwei  Jahre  vor  seinem 
Tode.  Nachdem  der  junge  Dichter  dem  alten  die  Hand  gedrückt  und  schon 
fürbaß  gegangen  war,  sagte  der  Philosoph  von  Highgate:  'In  dieser  Hand 
lag  der  Tod'  (bei  Sidney  Colvin  348).  Die  zerstreut  liegenden  philosophi- 
schen Äußerungen  Keats'  tragen  ganz  und  gar  die  Kennzeichen  des  jungen 
typischen  Romantikers  an  sich,  klingen  sie  doch  wie  die  Fragmente  Har- 
denbergs, wenn  sie  auch  jene  mystische  Tiefe  nicht  erreichen,  die  Novalis 
eignet.  Aber  das  philosophische  Fabulieren  scheint  in  England  ebensogut 
wie  in  Deutschland  die  Kranklieit  des  Romantikers  gewesen  zu  sein.  '[Sie] 
schwelgen  im  Genuß  eines  Symphilosophierens,  das  sich  meist  durch  bloße 
Anspielung  und  oft  mit  Uberspringung  vieler  Zwischenglieder  versteht,  wo- 
bei es  ziemlich  unwesentlich  erscheint,  ob  jeder  immer  ganz  präzis  anzri- 
geben  vermochte,  was  der  andere  meinte.  Da  sie  alle  dialektisch  äußerst 
begabt  sind,  das  Fernliegende  analogisch  verknüpfen,  gefühlte  Zusammen- 
hänge bildlich  oder  mit  den  Mitteln  eines  ganz  anderen  geistigen  Gebietes 
auszudrücken  sich  gewöhnt  haben,  so  entsteht  eine  Kunstsprache,  ein 
Jargon  wenn  man  will,  der  eigentlich  nur  ihnen  selbst  völlig  verständlich 
ist  und  in  dessen  Entfaltung  bis  in  die  paradoxesten  Konsequenzen  hinein 
>ie  sich  gefallen.'  ^  Man  wird  gut  tun,  diese  Worte  auch  bei  der  Beurtei- 
lung der  englischen  romantischen  Dichterphilosophen  zu  beherzigen.  Die 
Kantische  strafife  Systematik  dürfen   wir  bei   ihnen  nicht  suchen. 

3.  E  n  d  y  m  i  o  n. 
Die  hohe  Wesenheit,  die  Keats  wie  Coleridge  in  der  Imagination  er- 
blickt, spielt  nun  bei  der  Schaffung  seines  großen  Gedichtes  Endymion  eine 
wichtige  Rolle,  handelt  es  sich  doch  hier  darum,  eine  nackte  Tatsache  endlos 
zu  erweitern  und  mit  Poesie  zu  erfüllen.  Zwei  schaffende  Kräfte  sind  be- 
ständig an  der  Arbeit:  das  Entzücken  an  der  Natur  und  im  besonderen  das 
abnorme  Sympathieverhältnis  des  Dichters  zum  zauberhaften  Mondschein 
und  —  die  Freude  am  alten  Myt<hus  der  Cynthia  und  des  Endymion,  wie 
ihn  ältere  englische  Dichter  vermitteln  konnten.  (Hier  flössen  ja  über- 
haupt die  Quellen,  aus  denen  Keats  seine  Kenntnis  der  Antike  und  ihrer 
Mythologie  schöpfte,  was  Lemprieres  Classical  Dictionary,  T  o  o  k  e  s 
Pantheon  und  S  p  e  n  c  e  s  Polymetis  allein  ihm  niemals  zu  spenden  ver- 
mocht hätten.)  Unter  dem  Sympathieeinfluß  wird  der  Mond  schließlich  zum 
festen  Symbol  der  Schönheit,  jenem  Prinzip,  das  beziehungslose  Dinge  in 
göttlicher  Gemeinschaft  zu  verbinden  weiß.  Der  Endymionmythus  wird 
jetzt  zu  einem  Gleichnis,  das  uns  von  den  Abenteuern  der  Dichterseele 
erzählt,  die  sich  auf  die  Suche  macht  nach  dem  Geist  der  wesentlichen 
Schönheit.  Es  ist  der  Miltonsche  Adamstraum,  der  sich  bewahrheitet: 
denn  die  Schönheit  wird  zur  Wahrheit. 

^  Ich  entnehme  diese  Worte  der  soeben  erschienenen  Straßburger  Disser- 
tation eines  reifen,  hochbegabten  Menschen,  der  infolge  eines  schweren 
Leidens,  das  er  sich  als  Armierungssoldat  zuzog,  1916  starb:  S.  Elkuss,  'Zur 
Beurteilung  der  Romantik  und  zur  Kritik  ihrer  Erforschung',  München, 
Oldenbourg.  1918. 


168  .John  Keats  im  Lichte  der  neuesten  Forschung 

Koats  las  aufmerksam  Fletchers  Faithful  Sheperdess  und  Michael 
Draytons  Gedicht  TJie  Man  in  the  Moon,  in  dem  dieser  sein  älteres 
Stück  Endimion  and  Pkoeie  wieder  verwendet.  Das  Einsetzen  des  großen 
Epos  mit  dem  Panfest,  die  Reise  Endymions  durch  geheimnisvolle  Regionen 
auf  Erden  und  in  der  Luft,  durch  Flüsse  und  Meere  mit  Naiaden  und 
Nereiden  und  durch  Wiesen  mit  Hamadryaden,  dürfte  auf  Drayton  zurück- 
gehen, dessn  Cynthia  einen  Mantel  trägt,  dem  wohl  auch  Glaucus'  Zauber- 
mantel bei  Keats  nachgebildet  worden  ist. 

Der  Geist  des  Ganzen  ist  elisabethanisch.  Ein  Reichtum  an  neben- 
sächlichen Schönheitselementen  überflutet  diese  Phantasiewelt.  Der  Sinn 
für  strenge  Auswahl,  Klarheit  und  Einfachheit  fehlt.  Sandys  englischer 
Ovid  mit  seinem  üppigen  Kommentar  liefert  zahlreiche  mythologische  Par- 
allelismen und  damit  ebensoviel  Gelegenheiten  zum  Abschweifen.  Shelleys 
Alastor,  der  die  Fahrt  der  Dichterseele  im  Menschen  erzählt,  zeigt  Keats, 
wie  durch  das  Epos  der  symbolische  rote  Faden  zu  ziehen  ist,  den  zwei 
Lesergenerationen  unter  der  wuchernden  Blumenstickerei  aus  den  Augen  ver- 
loren haben.  Vergleichung  mit  früheren  Gedichten  und  mit  den  Briefen  hat 
es  den  Kritikern  ermöglicht,  den  Faden  wieder  einigermaßen  freizulegen. 
Hier  hat  E.  de  Sßlincourt  in  seiner  Einleitung  zu  John  Keats'  Ge- 
dichten (Muses  Library  Edition  XVIII — XXIX,  Methuen  and  Co.)  schön 
vorgearbeitet  und  den  Hauptgedanken  herauskristallisiert:  die  Dichterseele 
sucht  sich  die  ideale  Schönheit.  Dieses  allegorische  Hauptmotiv  begleitet 
das  ethische  Motiv,  daß  jene  Sehnsucht  nicht  in  selbstsüchtiger  Absonde- 
rung, sondern  nur  in  reinigender,  tätiger  Sympathie  mit  den  Leiden  anderer 
gestillt  werden  kann.  Damit  verbindet  sich  weiterhin  der  Glaube,  daß  die 
Leidenschaft  für  die  vielen  einzelnen  irdischen  Schönheitserscheinungen  im 
Grunde  genommen  eins  ist  mit  der  Sehnsucht  nach  der  transzendentalen 
wesentlichen  Schönheit.  Verwickelt  sich  also  der  Held  in  Liebesabenteuer, 
so  wird  er  seiner  hehren  Ritterpflicht  nicht  untreu. 

Im  ersten  Buch  merkt  man  sich  zur  Beleuchtung  der  symbolischen 
Erklärung  die  mystischen  Traumflüge  Endymions,  in  denen  ihm  das  Eins- 
werden mit  seiner  Göttin  beschieden  wird,  deren  nächste  Wirkung  aber  ist, 
daß  jede  andere  Lust  ihren  Geschmack  verliert  und  zu  Asche  wird. 

Das  zweite  Buch  wertet  alles  große  starke  Lieben,  das  wir  mit  den 
Namen  Julia,  Imogen,  Hero,  Pastorella  verbinden,  höher  als  das  Sterben  von 
Weltreichen.  Mit  Recht!  Ist  doch  jenes  große  Lieben  Abglanz  jener 
Liebe,  die  die  Sonne  und  die  anderen  Gestirne  bewegt.  Die  unterirdische 
Halle,  die  der  Dichter  betritt,  erinnert  an  Beckfords  Vathek.  Es  folgen 
Erscheinungen,  deren  symbolische  Bedeutung  im  größeren  Rahmen  der  ge- 
wählten Allegorie  nicht  zu  erkennen  ist:  Adonis'  Winterschlaf  und  Venus' 
Herabsteigen  zu  ihm,  die  Vision  der  Erdgöttin  Kybele,  der  Aufstieg  einem 
diamantenen  Geländer  entlang,  das  schließlich  in  Nichts  endet  —  hier 
schimmern  deutliche  Erinnerungen  an  den  im  18.  Jahrhundert  beliebten 
Voyage  d'Antenor  durch  — ,  der  Besuch  der  unerkannten  Cynthia  und  die 
Liebesnacht  in  der  Jasminlaube  —  von  gelegentlicher  sinnlicher  Unfeinheit,*^ 
die  Oscar  Wilde  in  seinem  Gedicht  Charmides  angeregt  hat.^ 

*•  Vgl.  dazu  auch  Sibylla  Geest,  'Der  Sen.sualismius  bei  J.  Keats'.  Dias. 
Freiburg  i.  B.,  1918. 

*  Vgl.  mein  Buch  über  Wilde  146—7. 


John  Keata  im  Lichte  der  neuesten  Forschung  169 

lui  d  r  i  1 1  e  u  Buche  erfassen  wir  leicht  den  durch  das  Labyrinth  füh- 
renden Ariadnefaden.  Die  Hauptgestalt  des  Glaucus  will  symbolisch  ver- 
t-tanden  sein.  Keats  nahm  sie  aus  Ovid  und  stellte  sie  in  eine  modifizierte 
Fausendundeine-Nacht-Welt  hinein.  Endymion  soll  den  von  Circe  zur  Strafe 
lür  seine  Sinnlichkeit  für  tausend  Jahre  in  die  Fesseln  des  Alters  ge- 
schlagenen Glaucus  befreien,  ihn,  der  einst  mitleidvoll  vergeblich  versuchte, 
einen  alten  Mann  zu  retten,  und  dem  nur  ein  Stab  und  eine  Pergament - 
rolle,  die  Worte  des  Trostes  und  der  Weisheit  enthielt,  in  der  Hand  zurück- 
blieb. Wird  er  alle  Geheimnisse  der  Natur  erforschen  und  alle  in  den 
Wellen  ertrunkenen  Liebenden  im  Heiligtum  beisetzen  —  so  las  er  in  der 
Kolle  — ,  so  soll  einst  ein  Erlöser  ihm  nahen.  Endymion  —  er  ist  der 
Retter  —  zieht  mit  ihm  zum  Heiligtum  der  Toten.  Glaucus'  Zaubermantel 
wird  ihm  umgelegt,  und  mit  dem  Stab  und  der  in  kleinste  Stücke  zer- 
rissenen EoUe  vollendet  er  den  Zauber.  Der  Tod  ist  überwunden.  Death 
Itil  a  u,eeping  in  his  chm nel-house.  Die  Toten  erwachen,  und  mit  ihnen 
die  Liebe,  und  schwellenden  Blumen  gleich  ertönt  süße  Musik.  Der  Zauber- 
ritus erinnert  an  gewisse  Erzählungen  in  Tauseudundeiner  Nacht.  Der  Bann 
wird  gebrochen  durch  Betröpfeln  mit  Wasser  und  Murmeln  von  Formeln. 
Im  tiefen  Meeresgrund  war  das  Betröpfeln  nicht  angängig;  Keats  ver- 
wandelt es  in  das  Bestreuen  mit  kleinen  Pergamentfetzen.  ErlösergescLich- 
ten  mit  zauberhaftem,  ethischem  Hintergrund  scheinen  mir  immer  ver- 
dächtig. Liegt  hier  nicht  auf  englischem  Boden  die  am  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts in  der  deutschen  Literatur  so  oft  beobachtete  Beeinflussung  durch 
die  Freimaurerei  vor? 

Und  nun  die  Lösung  des  symbolischen  Rätsels!  Die  Seele  des  Dichters 
—  die  die  Vereinigung  mit  der  Urschönheit  erstrebt  —  muß  sich  für  ihren 
hohen  Beruf  rein  machen  von  aller  Selbstsucht  durch  Mitgefühl  mit  mensch- 
lichem Lieben  und  Leiden  und  durch  Erwerbung  reichlicher  Erfahrung  und 
philosophischer  Weisheit.  Diese  Läuterung  beginnt  mit  Endymions  Be- 
gegnung mit  Glaucus,  dessen  Geschichte  ihm  offenbart,  wie  das  Aufgeben 
reiner  um  unreiner  Liebe  willen  und  sinnliche  Erniedrigung  schwer  bestraft 
wird.  Glaucus  Übermacht  Endymion  sein  ganzes  Erbe  —  sein  Mantel  fällt 
•  buchstäblich  auf  ihn  -r-,  Übermacht  ihm  sein  teuer  erkauftes  Wissen,  das 
ihn  befähigt,   den   toten   Liebenden  Unsterblichkeit  zu   verleihen. 

Ira  vierten  Buch  beginnt  der  Kampf  zwischen  göttlicher  und  irdischer 
Liebe  in  Endymions  Seele  sich  auszutoben.  Die  Klage,  des  verlassenen 
indischen  Mädchens  dringt  an  sein  Ohr.  Er  entbrennt  in  Liebe  zu  ihm 
und  weiß  nicht,  ob  er  seine  himmlische  Göttin  vergessen  darf.  Da  ver- 
kündigt Merkur  das  Ende  des  Widerstreites.  Zwei  schwarze  Rosse  —  die 
Rosse  der  Phantasie  —  entsteigen  der  Erde,  die  Merkur  berührt.  Mädchen 
und  Schäfer  reiten  empor  in  die  Region  des  Schlafes.  Wieder  entzückt  ihn 
ein  herrlicher  Traum,  der  sich  beim  Erwachen  bewahrheitet.  Diana  neigt 
sich  über  ihn,  neben  ihm  liegt  das  indische  Mädchen.  Wieder  zögert  er 
zwischen  beiden  und  fühlt  doch,  daß  er  beiden  treu  ist.  Diana  verschwand, 
und  der  Ritt  mit  dem  Mädchen  geht  weiter.  Sie  sinkt,  ihr  Pferd  stürzt 
erdenwärts,  und  er  reitet  allein,  verlassen  von  den  Verkörperungen  beider 
Leidenschaften,  reitet  ins  Land  der  Apathie.  In  höchster  Höhe  verklingt 
in  der  Ferne  der  Dianische  Festgesang.  Sein  Pferd  trabt  tiefer  zum  grünen 
Erdenhügel,  auf  dem  das  indische  Mädchen  ruht,  dem  er  jetzt  ewige  Treue 
schwört  in  Beteuerungen,  die  Ovids  Metamorphosen  XIII  810 — 840  als  An- 

.\rchiv  f.  u.  Sprachen.     139.  12 


170  .lohn  Keats  im  l.iehto  der  neuesten  Forschung 

reger  verrateu.  Sie  aber  verziclitet,  da  sie  weiß,  daß  Liebesfreude  ilir  nur 
bescliieden  sein  könnte  auf  Kosten  des  Todes  ihrer  beider  —  was  wohl 
heißen  soll,  daß  der  Sterbliche,  der  den  Geist  der  Poesie  und  dichterischen 
Schönheit  liebt,  sich  mit  bloßer  irdischer  Freude  nicht  zufriedengeben  darf. 

Schließlich  treffen  wir  Endymion  wieder  im  altea  Opferhain  der  Diana 
mit  seiner  Schwester  Peona  und  dem  indischen  Madchen.  Feierlich  ver- 
zichtet er  vor  ihnen  auf  irdische  Freude,  um  der  himmlischen  nicht  ver- 
lustig gehen  zu  müssen.  Da  erglänzt  beim  letzten  Lebewohl  das  Mädchen 
in  strahlender  himmlischer  Schönheit  als  Cynthia,  seine  göttliche  Geliebte. 
Die  Fahrt  ist  zu  Ende,  das  Geheimnis  gelöst.  Das  indische  Mädchen  war 
bloße  versteckte  Verkörperung  der  Cynthia.  Eudymions  irdische  Leiden- 
schaft, voll  menschlichen  Mitfühlens  und  Schmerzes,  war  immer  eins  mit 
der  himmlischen  Leidenschaft,  die  genährt  wurde  von  dichterischem  Streben 
und  seelischer  Sehnsucht  nach  dem  Schönen.  Beide  sind  in  ihrer  Steigerung 
unzertrennbar,  und  der  gekrönte  Dichter  und  der  gekrönte  Liebende  sind 
ein  und  dasselbe.  Diese  Erkenntnis  aber  bleibt  denen  verschlossen,  die  wie 
Peona  von   der   Poesie   nichts   wissen. 

WsLü  die  Technik  betrifft,  so  ist  der  elisabethanische  Einschlag  be- 
sonders groß.  Spenser,  William  Browne,  Drayton,  der  junge  Shakespeare, 
Fletcher,  der  pastorale  und  lyrische  Ben  Jonson,  der  Chapman  des  Homer 
und  der  Sandys  der  Metamorphosen  waren  die  hauptsächlichsten  Anreger. 
Das  Metrum  zeigt  die  doppelten  oder  weiblichen  Endungen  nicht  mehr  in 
dem  frühereu  Umfange,  das  geschlossene  Reimpaar  tritt  nicht  allzu  häufig 
auf.  Heim-  und  Satzschema  bewegen  sich  frei.  Chapmans  Fehler,  durch  die 
Reimechos  sachlich  fernliegende  Ideen  sich  hereinbefehlen  zu  lassen,  ver- 
meidet auch  Keats  nicht.     An   geistigen   Uufeinheiten   fehlt  es  nicht. 

Keats'  Stärke  liegt  in  der  Fähigkeit,  schöne  englische  Naturszenen 
in  noch  schönere  Bilder  des  antiken  Lebens  übergehen  zu  lassen.  Das 
18.  Jahrhundert  hatte  mit  einer  nicht  mehr  mitempfundenen  Mythologie 
gearbeitet  und  durch  seine  trockenen  Personifizierungen  die  Leblosigkeit 
der  Abstrakta  womöglich  noch  vertieft,  statt  das  Leben  ihnen  einzuhauchen. 
Es  glaubte  mit  bloßem  etikettierenden  Erwähnen  und  der  Anwendung 
großer  Anfangsbuchstaben  das  Geheimnis  der  Personifikation  ergründen 
zu  können.  Diesen  toten  Gestalten  mußte  die  Romantik  eine  lebendige 
Seele  schenken.     Dazu  hat  keiner  in  höherem  Maße  beigetragen  als  Keats. 

Die  beiden  Höhepunkte  der  Lyrik  sind  der  Pauhymnus  und  das 
Lied  des   indischen  Mädchens. 

Mit  dem  ersteren  wird  man  gern  Champmans  Übersetzung  des  Ho- 
merischen Hymnus  an  Pau  und  Ben  Jonsons  Hymnus  in  seiner  Masque 
Pan's  Anniversary  vergleichen.  Bei  den  Elisabethanern  entsprang  der  Sinn 
für  die  Hirtendichtung  der  dem  Engländer  angeborenen  Liebe  zum  länd- 
lichen Leben  mit  seinen  Freuden  und  dem  reuaissanceischen  Entzücken  an 
klassischer  Poesie.  Derselbe  Geist  lebt  in  Keats  neu  auf,  aber  in  dem 
romantischen  Gefühl  für  die  Segnungen  und  Tätigkeiten  der  Natur  und 
der  Ahnung  der  großen  Geheimnisse,  die  hinter  ihnen  verborgen  liegen, 
wunderbar  gesteigert. 

Das  Lied  des  indischen  Mädchens  ist  eigenartiger  als  der 
Hymnus,  phantasievoller,  musikalischer.  Indische  Romantik,  zauberhafte 
Wortassoziation,  griechische  Schönheitsvision  und  nordische  Wildheit  fin-  • 
den    sich   in   ihm    voreinigt,      ^lit   der   Besingung  des   Leides  — ■  das   ja  den  . 


Jolin  Keats  im  Lichte  der  neuesten  Forseliung  171 

-cliöuen  JJingeu  ihre  höchste  Wesenheitss teiger luig  verleihen  kann  —  fängt 
t'5.  an,  klingt  dann  in  den  Kubla-Khan-Ton  um,  der  nachher  in  die  laute 
Musik  des  Bacchantenzuges  übergelit  in  Form  eines  Wechselgesangs  zwi- 
schen dem  fragenden  indischen  Mädchen  und  den  chorisch  antwortenden 
ilänadeu  und  Satyrn. 

Die  Rubenssche  Üppigkeit  der  Formen  und  Farben,  die  Keats  bei  der 
Ausmalung  des  Zuges  verwendet,  erinnert,  den  Motiven  nach,  au  bildhafte 
Darstellung:  keuchender  Tiger  und  Leopard,  asiatische  Elefanten,  ge- 
streifte Zebras,  AUigatoi-en  und  schuppige  Krokodile  mit  lachenden  Kin- 
dern auf  ihrem  Rücken,  die  mit  spielzeugartigen  Rudern  und  Segeln  einlier- 
gleiten!  An  Titians  Bild  des  Bacchus  und  Ariadne  in  der  Nationalgalerie 
hat  man  schon  längst  als  Anreger  gedacht.  Aber  dort  fehlen  Tiger,  Leo- 
pard und  Elefanten.  Viel  eher  dürfte  hier  die  Reliefdarstellung  eines 
Bacchantenzuges  auf  einem  Sarkophag,  die  Haydons  Gönner,  der  Herzog 
von  Bedford,  aus  der  Villa  Aldobrandini  nach  seiner  Woburu  Gallery  brin- 
gen und  dort  aufstellen  ließ,  eine  visuelle  Wirkung  auf  Keats'  Sinne  aus- 
geübt haben.  (S.  Colvin  gibt  uns  eine  Wiedergabe  dieses  Reliefs.)  Hier 
sehen  wir  Leopard  und  Panther  und  einen  Elefanten,  der  einen  indischen 
Gefangenen  auf  seinem  Rücken  trägt.  Die  Kinder  aber  auf  dem  Krokodil- 
rücken sind  sicher  jenem  auf  dem  Krokodil  sitzenden  Pygmäen  nach- 
gebildet, der  auf  dem  Sockel  der  bekannten  vatikanischen  Gruppe  des 
ruhenden  Nils  spielt  - —  eine  Nachbildung  war  Keats  leicht  zugänglich  — ; 
Zwergruderer  sah  er  auf  gewissen  Reliefs  der  Townley-Sammlung  im  Briti- 
tischen  Museum.  Das  Ganze  ist  organisch-harmonische  Verbindung  von 
Eindrücken  verschiedener  Kunstformen.  —  Griechischer  Mythus,  persön- 
lich erlebt  und  künstlerisch  verwoben  mit  den  dem  Dichter  vertrauten 
Naturerscheinungen,  dem  blühenden  Bohnenfeld,  dem  vom  Purpurmohn 
durchleuchteten  Ährenmeer,  dem  von  Farnkraut  beschatteten  Bachesufer, 
dem  Wald  der  Eichen  und  Haselstauden,  der  Heide  mit  Ginster  und  Stech- 
palme, dem  Blumenland  des  Gänseblümchens  und  der  Seerose:  in  dieser 
Welt  steht  der  Keatssche  Bacchus. 

4.    Die    vollendeten    Gedichte    der    Jahre     181  8—1  9. 

Großes  bringen  uns  die  beiden  Jahre  der  Reife,  1818 — 1819,  und  hier 
empfiehlt  es  sich,  zwischen  den  fertigen  Gedichten  und  den  großen 
I"  r  a  g  m  e  n  t  e  n  zu  unterscheiden. 

Die   Ode   to   Fancy   verdankt   ihre   Anregung    einer    Verherrlichung    der 

Phantasie  durch  Füller  in  seinem  Holy  State,  die  Lamb  in  seinen  Spe- 

cimens  dieses  Schriftstellers  wiedergibt  und  die  Hunt  in  seinem  Reflector 

druckt.      Auf    diesem    gegebenen    Stickbodeu    flicht   Keats    seine    reizenden 

,  Blumenornamente  ein. 

Der  Pot  of  Basti  behandelt  die  Erzählung  Nr.  5  des  vierten  Tages  in 
Boccaccios  Decamerone,  und  zwar  in  der  Ottava  Rima,  deren  Technik 
Keats  nach  Edward  Fairfax'  Tassoübersetzung  Godfrey  of  Bulloigne 
erlernt.  (Ein  Exemplar  dieses  Buches  wurde  nach  Keats'  Tode  in  dessen 
Bibliothek  gefunden.)  Auf  Fairfax  greift  er  direkt  zurück,  ohne  sich  um 
Freres  und  Byrons  spätere  Experimente  zu  bekümmern.  Die  Geschichte 
des  Mädchens  ist  bekannt,  das  den  Leichnam  des  von  ihren  Brüdern  er- 
schlagenen Geliebten  im  Walde  wieder  ausgräbt,  das  Haupt  mitnimmt  und 

12* 


172  John  KeatSi  im  Lichte  der  neueston  Forsehuno: 

in  einem  Majoranblumentopf  verbirgt,  die  Blumen  mit  ihren  Tränen  be- 
netzt und,  nachdem  die  Brüder  ihr  den  Topf  entwendet  haben,  dahinsiecht 
und  stirbt.  Boccaccios  reizvolle  Prosaerzählung  hat  Keats  nach  dem  Vor- 
bild der  ihm  vertrauten  Geschichte  von  Chaucers  Troilus  and  Criseyde 
l)oetisch  verziert  und  romantisiert.  Wie  sein  mittelenglischer  Meister  unter- 
bricht er  die  Erzählung,  um  die  Liebe,  die  Musen  und  den  Leser  anzurufen. 
Ein  Praehtstück  ist  der  Spruch  an  die  Melancholie  in  seinen  drei  Varia- 
tionen. Das  abstoßende  Morbide,  das  Ausgraben  der  Leiche,  das  Hineintun 
des  Hauptes  in  den  Topf,  wird  zur  Schönheit  potenziert;  denn  Keats  kannte 
schon  die  Baudelairescl^  Theorie  der  qualitativen  Potenzierung  in  einer 
weniger  auffallenden  Gewandung:  The  excellence  of  every  art  is  its  inten- 
sity,  capahlc  of  making  all  disagreeablcs  evaporate  from  their  heing  in 
dose  relationship  wifh  icauiy  and  iruth  (bei  S.  Colvin  39.3,  der  leider  nicht 
angibt,  wo  Keats'  Ausspruch  steht).  Im  Pot  of  Basil  ist  ein  Element  hin- 
zugekommen, das  wir  in  Keats'  bisherigen  Dichtungen  vermissen,  das  Inter- 
esse an  seelischen  Vorgängen. 

Die  bezaubernde  Romanze  The  Eve  of  8t.  Agnes  stützt  sich  auf  die 
volkstümliche  Vorstellung,  daß  am  20.  Januar,  am  St.-Agnes-Abend,  ein 
Mädchen  seinen  zukünftigen  Liebhaber  sehen  kann,  wenn  es  fastend  und 
nie  rückwärtsblickend  zu  Bette  geht,  auf  dem  Rücken  schläft,  die  Hände 
über  seinem  Haiipt  auf  das  Ki.ssen  gelegt.  Ben  Jouson  spricht  davon  in 
seinem  Satyr  und  Robert  Burton  in  seiner  Anatomy  of  Melancholy. 
Auch  Brands  Populär  Antiquities  geben  darüber  einen  eingehenden  Bericht. 
Mit  dieser  abergläubischen  Sitte  hat  Keats  das  Montecchi-und-Capuletti- 
Motiv  verbunden.  Der  kühne  Freier  dringt  in  die  feindliche  Festeshalle  ein. 
Viele  Einzelheiten,  die  Keats  verwendet :  Versteck  unter  Mithilfe  der  alten 
Dienerin  im  Kabinett  neben  der  Jungfrau  Kammer,  Eindringen  in  ihr 
Zimmer  während  ihres  Schlafes,  Verschwebung  der  wirklichen  Rittererschei- 
nung in  das  Traumbild,  das  dem  einschlafenden  Mädchen  erscheint,  Liebes- 
glück und  Flucht  finden  wir  alle  beieinander  in  Boccaccios  früher  Novelle 
II  Filocolo,  einer  ungeschickten  Umarbeitung  des  altfranzösischen  Floire  et 
Blanchcflor.  Allerdings  bleibt  es  ein  Rätsel,  wie  der  des  Italienischen 
nicht  mächtige  Keats  von  dieser  Erzählung,  die  ihm  in  keiner  englischen 
t^bersetzung  zur   Verfügung  stehen   konnte,    Kenntnis   erhalten   haben   soll. 

Der  'St.-Agnes-Abend'  ist  die  Dichtung  des  Eindrucks  und  der  Stimmung 
par  excellence.  Ein  paar  Schlagworte  können  den  geheimnisvollen  Zauber, 
der  diese  Romanze  umwebt,  andeuten:  Wint«rnächtliche  Stille,  Schatten, 
Dunkelheit,  Mondschein,  Heimlichkeit,  Verzauberung,  Tasten,  Träumen, 
Flüstern!  Die  Grunduote  des  Ganzen  ist  webende  Stille,  pulsierende  Ruhe. 
Keats  hat  eine  neue  Stufe  seiner  Kunst  erreicht,  die  sich  in  einer  neuen 
Stilart  bekundet.  Eindrücke  werden  durch  den  geübten  Wortkünstler 
melodisch  besungen  und  geheimnisvoll  sichtbar  gemacht  und  durch  diskret 
mitklingende  Obertöne  bildlich  erweitert.  Aber  das  stilistische  Stadium 
der  punktierten  Linie  im  impressionistischen  Endymion  ist  über- 
wunden, und  eine  wohlgeführte  Handlung  verbindet  jetzt  die  Punkte  zum 
Ganzen.  Daneben  fühlen  wir,  daß  Keats  mit  einem  neuen  Problem  ringt, 
dem  der  Bewegung,  und  da  er,  im  Gegensatz '  zu  Shelley,  nicht  mo- 
torisch veranlagt  war,  so  erregt  seine  Lösung  unser  besonderes  Interesse. 
Wenn  wir  von  der  motivisch  gegebeneu  Handlungsbewegrmg  absehen,  so 
scheint   er   uns   der   Schwierigkeit   dadurcli    entgangen   zu   sein,    daß   er   an 


John  Keats  im  Lichte  der  oeuesfen  Forschung  173 

Stelle  der  Bewegung  etwas  A'erwandtes  gesetzt  hat.  Man  kann  von  seiner 
Dichtung  nicht  sagen:  Alles  bewegt  sich.i^  Man  kann  aber  wohl  sagen: 
Alles  lebt!  Genauer  betrachtet:  hier  ist  ein  Schwellen,  ein  Atmen!  Seine 
Welt  ist  visuell,  aber  ihr  Farbengewand  ist  ein  stets  errötender  und  er- 
bleichender lebendiger  Duft,  und  Farbe  und  Wohlgeruch  gehen  ineinander 
über.  Dies  wird  uns  beim  Lesen  der  24.  Strophe  klar  mit  ihren  bunten  Glas- 
malereien, die  Keats  mit  den  [duftigen]  Farbenflecken  eines  Nachtfalters 
vergleicht  {As  are  the  tigcr-tnoth's  deep-damask'd  wings)  und  mit  ihrem 
Wappenschilde,  der  errötet  vom  Blut  der  Königinnen  und  Könige 
(ffl  shieldcd  scutcheon  hlusK'd  with  hlood  of  queens  and  kings),  wodurch 
die  Farbe  zu  schwellen  und  zu  atmen  beginnt,  kommt  und  geht.  In  der 
.'56.  Strophe  geht  Porphyros  reale  Erscheinung  in  Madeleines  Traum  über, 
wie  die  Rose,  die  ihren  Duft  mit  dem  des  Veilchens  verschmelzt.  Ähnlich 
sind  auch  die  Juwelen  zu  beurteilen,  die  Madeleine  in  der  Eiitkleidungs- 
strophe  sich  abnimmt.  Der  Dichter  nennt  sie  'erwärmt'  —  im  Englischen 
noch  aktiver  in  dem  Ausdruck  her  warmed  jewels  —  und  verleiht  ihnen 
dadurch  das  Attribut  des  Lebens,  des  Erglühens.  Keats  wußte,  daß  Stim- 
unmg  alles  zur  Einheit  verschmelzen  muß  imd  daß  dieser  künstlerischen 
Wahrheit  die  Wahrheit  des  Konkreten  geopfert  werden  darf.  Seine  toten 
Gegenstände  beginnen  im  gewünschten  Stimmungstone  mitzuschwingen,  so 
daß  alle  Dinge  in  Harmonie  demselben  Gesang  erheben.  Die  starren  Stand- 
bilder der  Schloßkapelle  werden  durch  die  Gefühle  des  alten  betenden  from- 
men Mannes,  der  sie  in  kalter  Wintersnacht  schlotternd  in  die  Sinne  auf- 
nimmt, unserm  Empfinden  mitgeteilt. 

Eng  verknüpft  mit  dem  großen  Ereignis  seines  Seelenlebens,  seiner 
Leidenschaft  zu  Fanny  Brawn,  sind  die  beiden  Gedichte  La  Belle  Dame  sans 
Merci  und  Lamia.  Das  erstere,  motivisch  zur  Klasse  der  TJiomas-Rymir- 
Balladen  gehörend  —  die  Feenkönigin,  die  alle  zu  Sklaven  macht  — ,  bringt 
so  recht  die  peinigende  Gewalt  der  Geliebten  zum  Ausdruck.  Keats  hat  die 
Gestalt  der  kaltherzigen  Frau  im  paradiesischen  Garten,  deren  Erinnerung 
iüle  Liebhaber  melancholisch  macht,  in  den  Nouveaux  Contes  Orientaux  des 
Orafen  Caylus  gefunden.  'Wie  habe  ich  bei  dieser  Erzählung  an  Dich 
L'^dacht,  Liebste!'  schreibt  Keats  an  Fanny  Brawne.^ 

Damals,    als   er   die   süße  Bitterkeit   der   Liebe  kostete,   las   Keats   auch 

^  Dies  im  Gegensatz  zu  S  .Colvin,  der  399  sagt:  He  never  writes  for  the 
eye  merely,  iut  vivifies  everything  he  touches,  telling  even  of  dead  and 
aenseless  things  in  terms  of  life,  ni  o  v  em  e  n  t,  and  feeling.  Die  Be- 
tonung von  movement  ist  unglücklich.  Die  Ausdrücke  vivifies  und  feeling 
,  treffen  das  Richtige.  Colvin  hat  den  Satz  unverändert  aus  seinem  kleineren 
Buche  übernommen.  Im  Jahre  1887  aber  beschäftigte:  sich  der  Literar- 
historiker mit  derartigen  Problemen  noch  nicht  ernsthaft.  —  Ebenso  halte 
ich  es  nicht  für  glücklicli,  wenn  Colvin  S.  115  von  Keats'  Phantasie  spricht, 
die  immer  aktive  und  dynamische  Eigenschaften  in  den  Dingen  ent- 
decke. Das  Wort  'dynamisch'  könnte  leicht  mißverstanden  werden;  denn 
Keats  ist  nicht  motorisch.  —  Eine  unübertroffene  ästhetische  Beurteilung 
des  Eve  of  St.  Agnes  gibt  Mary  S  u  d  d  a  r  d  a.  a.  0.  57 — 85 :  Keats'  Style 
ds  exemjilified  in  the  Eve  of  St.  Agnes.  Die  obigen  Ausführungen  ver- 
danken ihr  viel. 

2  Sehr  schön  und  überzeugend  ausgeführt  von  L.  Schücking  in  der 
Festschrift  für  Vietor  (Marburg  1910),  289 — 295,  leider  gar  nicht  berück- 
sichtigt von  Colvin. 


174  .lolin  Keats  itti  Lichte  der  neuesten  Forschung: 

Burtons  Anatomy  of  Melancholy.  Die  Heilung  der  Liebesiuelaucholie 
zog  ihn  besonders  an.  Das  Heilmittel  konnte  er  dort  allerdings  nicht 
kennenlernen.  Wohl  aber  fand  er  dort  die  seine  eigene  Lage  sjTnbolisch 
beleuchtende  griechische  Geschichte  von  der  Schlangenfrau  Lamia,  die  mit 
dem  korinthischen  Jüngling  Lycius  glücklich  in  ihrem  Zauberschloß  dahin- 
lebt, bis  die  kalte  Weisheit  des  Apollonius  den  Zauber  bricht.  Schon  hier 
merken  wir,  wie  Keats  allmählich  den  Sensualismus  überwindet,  um  zu 
einer  Gedankenlyrik  vorzudringen,  nachdem  auch  sein  Intellekt  durch  die 
Ideen  der  Schönheit  und  Wahrheit  erwärmt  worden  war.^  Das  Studium 
Drydens  und  Miltons  mag  ihn  in  diese  Richtung  gewiesen  haben.  Den 
neuen  Weg  einzuschlagen  bedeutete  aber  für  ihn  eine  künstlerische  Über- 
windung; denn  für  ihn  handelte  es  sich  nicht  darum,  wie  für  Wordsworth, 
eine  ursprünglich  magere  Kunst  zu  bereichern,  sondern  mit  seinem  Reich- 
tum ökonomisch  zu  verfahren.  Die  Eindrücke  drangen  in  solcher  Üppigkeit 
auf  ihn  ein.  daß  er  über  ihnen  nicht  zur  Meditation  gelangen  konnte. 
Schließlich  aber  errang  er  sich  einen  Intellektualismus,  der  dem  Sinnlichen 
und  Emotionellen  immer  noch  genügend  Raum  übrigließ.  Die  Einleitung 
zu  Lamia  bedient  sich  eines  reinen,  bloß  erklärenden  Stiles.  Wer  aber  so 
schreiben  konnte,  hatte  nach  Mary  Suddard  das  Geheimnis  aller  Stilkunst 
gelöst. 

Jetzt  ist  Keats  auch  imstande,  medidative  Oden  zu  schreiben. 
Hier  sind  ihm  zwei  Meisterstücke  gelungen,  die  Ode  an  eine  griechische 
Urne  und  die  Ode  an  den  Herbst. 

In  der  Ode  to  a  Grecian  TJrn  verherrlicht  Keats  nicht  ein  bestimmtes 
Beispiel  griechischer  Vasenkunst,  sondern  eine  ideelle  Vase,  die  sein  Dichter- 
sinn aus  den  Eindrücken  von  mehreren  Kunstwerken  zur  Einheit  ver- 
woben hat.  Die  Opferszene  mit  dem  bacchischen  Tanz  deutet  auf  die  Sosi- 
biosvase,"  von  deren  Abdruck  in  dem  vierbändigen  Werke  Musee  Napoleon 
Keats  selber  eine  Nachzeichnung  entworfen  hatte,  die  noch  erhalten  •  ist. 
Der  hier  dargestellte  Tanz  ist  griechisch  heiter  und  feierlich.  Die  wilde 
Ekstase,  die  Flöten  und  Zymbeln,  die  rasende  Verfolgung  der  Keatsschen 
Urne  sind  Erinnerungen  nicht  an  die  Sosibiosvase,  sondern  an  Poussin- 
gemälde  und  an  Bacchisehe  Vasen  wie  die  der  Townley-Sammlung  des 
Britischen  Museums  und  der  Borghesischen  Vase  des  Louvre.  Der  zum 
Himmel  brüllende  bekränzte  Stier,  der  Festtagsmorgen  und  die  leere  Stadt, 
deren  Bewohner  alle  beim  Opferfeste  sind,  gehen  auf  Claude  Lorrains  Bild 
'Apollos  Opfer'  in  der  Leigh  Court  Collection  zurück.  Schon  im  Jahre  vor- 
her lag  Keats  dieses  Bild  vor  dem  inneren  Auge,  als  er  in  einem  Briefe  an 
Reynolds  sich  in  Versen  über  eine  'Titiansche'  Opferdarstellung  erging,  wo- 
bei er  Claude  mit  Titian  verwechselt  hatte  (Colvin  264).  Die  Eindrücke 
wurden  verstärkt  durch  Erinnerungen  an  die  Opferzüge  des  Parthenonschen 
Frieses. 

Der  Dichter  spekuliert  über  die  dargestellten  Personen  und  religiösen 
Sittenhandlungen  und  über  die  Beziehungen  der  bildenden  Kunst  zum 
Leben.  Schnell  durchgleitet  er  bildhafte  Gedankenreihen.  Frage  verfolgt 
Frage  in  ebenso  vielen  Bildern.     Im  Kernpunkt  steht  die  ästhetische  philo- 

i  Vgl.  Geest  a.  a.  0.  63  und  Selincourt  a.  a.  0.  XXXI. 
-  Vgl.    darüber    den   sehr    gelehrten   Aufsatz   von  Paul    Wolters,   Archiv 
CXX.   der  sich   auf   den   rein  archäologischen   Standpunkt   stellt. 


Jolin  Keats  im  Lichte  dor  neuesten  Forschung  17n 

sophische  Lehre,  daß  das  Leben  seine  Realität  mit  dem  Preis  des  Reif- 
werdens und  Verfallens  bezahlt,  während  die  Kunst  auf  die  Zeiterfüllunf; 
\-erzichtet  und  sich  damit  die  Schönheit  als  bleibendes  Gut  zu  eigen  macht. 
Sie  überwindet  das  Werden  und  erhebt  es  zum  Sein.  Grau  ist  somit  das 
L«ben,  grün  der  Kunst  g'oldner  Baum.  Schließlich  mündet  alles  aus  in  der 
ihm  durch  den  Miltonschen  Adamstraum  gewordenen  Erkenntnis,  daß  die 
von  der  Imagination  erfaßte  Schönheit  die  Wahrheit  ist  —  diesmal  künst- 
lerisch zusammengedrängt  in  der  metabolischen  Gleichung:  Beauty  is  truth, 
truth  heauty.  Das  Thema  dieser  Keatsschen  Ode  ist  in  der  englischen 
Literatur  später  noch  einmal  angefaßt  worden  von  Oscar  Wilde,  der 
sieh  in  seiner  Themabearbeitung  im  Critic  ns  Artist  zur  klangreichsten  Me- 
lodie emporschwingt,  deren  er  fähig  war.  Er  flicht  das  Keatsthema  als 
schönen  IMittelsatz  in  eine  längere  Sonate  ein.  zu  der  die  Dekadenz  ihm 
die  Motive  geliefert  hatte. 

Im  September  1819  weilt  Keats  in  Winchester.  Da  dringt  ihm  —  er 
gesteht  uns  das  brieflich  —  die  'Wärme'  des  herbstlichen  Stoppelfeldes  in 
die  Sinne,  und  von  den  Sinnen  geht  der  Weg  zu  den  Worten  der  Herbst- 
o  d  e.  die  nun  ihrer  Entstehung  gcTnäß  wieder  viel  sensualistischer  und 
weniger  meditativ  ist  als  die  anderen  Oden.  Es  ist  wieder  das  geheimnis- 
volle Schwellen  und  Atmen  des  St.-Agnes-Abends,  das  um  Ausdruck  ringt, 
allerdings  nicht  in  Dunkel  und  Kälte,  sondern  in  farbiger  Üppigkeit  und 
Wärme.  Dazu  teilt  sich  uns  das  menschliche  Nahesein  einer  Gestalt  mit. 
des  Herbstes.  Hier  liegt,  ein  ganz  eigenartiger  Fall  der  Personifikation  vor. 
Colvin  nennt  die  Ode  —  wohl  im  Hinblick  auf  diese  Personifikation  —  ein 
durch  und  durch  griechisches  Stück,  also  ein  Beispiel  Keatsscher  Mythus- 
neubildung. Keat.s  verläßt  aber  hier  den  gewöhnlichen  Weg,  die  englische 
Landschaftserscheinung  in  schon  fertige,  stark  menschliche  Mythusgestalten 
übergehen  zu  lassen.  Er  schafft  eine  neue  Gestalt;  schafft  sie  nach  zum  Teil 
ganz  primitiver  Methode.  Wenn  sein  Herbst,  einem  Ährenleser  gleich, 
sein  schwerbeladenes  Haupt  über  den  Bach  neigt,  so  wird  einfach  das  Sicht- 
bare der  Natur  durch  Ähnlichkeit  der  Form  —  hinüberbeugender  Ast  gleicht 
dem  gebückten  Manne  —  als  menschlich  aufgefaßt  und  personifiziert.  Hier 
ist  der  Herbst  wenigstens  sichtbare  —  allerdings  nicht  stark  mensch- 
liche —  Gestalt.  In  den  anderen  Verkörperungen  entzieht  er  sich  eigent- 
lich ganz  unserem  Blick.  Nur  auf  dem  Scheunenboden  verfestigt  er  sich 
einen  Augenblick  zu  schwachen  Umrissen.  Seine  Haare  heben  sich  sanft  im 
Wind  der  Kornschwinge.  vSonst  sehen  wir  nichts  von  ihm.  Er  ist  uns  stets 
nah,  aber  wir  erkennen  und  berühren  ihn  nicht.  Darin  liegt  geradezu  der 
Reiz  dieser  Ode.  die  uns  in  warmes  Fühlen  mit  einem  Wesen  bringt,  dem 
geheimnisvollen,  stillen  Reifen  und  Schwellen  am  Abend  des  Jahres.  Aber 
ein  Beispiel  griechischer  Mythusbildung  ist  sie  eben  nicht,  und  von  'pla.sti- 
scher'  Personifikation  kann  hier  keine  Rede  sein.^  Plastisch  ist  die  dar- 
gestellte Natur,  nicht  aber  die  daraus  erdachte  Gestalt.  Keats  verharrt 
in  der  Wiedergabe  einer  Naturstimmung,  die  ein  gewisser  Mythus  verlangt, 
wie  er  es  so  hübsch  in  seinem  Präludium  für  die  Narzissus-  und  Echofabel 
gezeigt  hat.  wo  ganz  einfach  die  einsame  Blume  über  den  Bach  sich  neigt. 
Das  Ganze  bleibt  aber  Blume,  und  wir  sehen  den  Narzissus  nicht.     Keats 

1  Geest,  a.  a.  0.  57,  erwähnt  den  Herbst  in  ihrem  Kapitel  'Plastische 
Personifikationen'. 


176  .lohn  Keats  im  Lichte  der  neuesten  Forschung 

erdenkt  nicht  schöpferisch  neue  interessante  Personifikationen  wie  sein 
Zeitgenosse  Shelley,  der  im  Alastor  'Schweigen'  und  'Dämmerlicht'  als 
Zwillingsschwestern  in  einsamem  Tale  Mittagswache  halten  läßt.  Hier 
liegt  der  Akzent  auf  dem  Menschlichen.  Plastisch  allerdings  konnte 
auch  Shelley  nicht  sein.  Die  plastische  schöpferische  Personifikation 
kommt  erst  mit  D.  G.  Rossetti.^ 

5.  Die  großen  Fragmente  der  Jahre  1818  — 19. 

Dieselbe  Auffassung  beherrscht  auch  das  große  Fragment  Hyperion,  ein 
mythologisches  Kolossalfries.  Keats  faßte  den  großen  Plan,  den  Sturz 
des  Hyperion  durch  Apollo,  des  Oceanus  durch  Neptun,  des  Saturn  durch 
Jupiter,  den  Kampf  der  Giganten  zur  Wiederherstellung  von  Saturns  Herr- 
schaft und  andere,  von  den  alten  Dichtern  nur  schwach  angedeutete  mytho- 
logische Ereignisse  darzustellen.  Als  nächste  Quelle  kommt  in  Betracht 
die  Ode  R  o  n  s  a  r  d  s  an  feeinen  Freund  Michel  de  l'Hopital  (Ronsards 
Werke  gingen  nachweislich  durch  Keats'  Hände).  Die  Ode,  die  sich  zum  Teil 
auf  Hesiod  und  Horaz  stützt,  in  höherem  Maße  aber  Ronsards  eigene  Er- 
findung ist,  erzählt  die  Geburt  der  Musen,  ihre  Erziehung  durch  Memoria, 
ihren  Wunsch,  Jupiter  zu  sehen,  ihrer  Mutter  Zusage,  ihre  unterseeische 
Reise  nach  dem  Palast  des  Oceanus,  wo  Jupiter  beim  Feste  thront,  ihren 
Gesang  vor  ihm  über  den  Streit  des  Neptun  und  der  Pallas  um  den  Boden 
Attikas  und  über  den  Kampf  der  Götter  und  Riesen. 

Dem  ganzen  Epos  unterschob  Keats  symbolische  Bedeutung:  die  Ver- 
drängung einer  älteren  roheren  Kultur  durch  eine  feinere,  menschlichere, 
die  künstlerische  und  ethische  Kräfte  höher  schätzt  als  rohe  Naturgewalt. 
Für  die  epische  Behandlung  des  großen  Themas  leuchtete  ihm  ein  Vor- 
bild, Miltons  'Verlorenes  Paradies'  mit  seinem  Pathos  besiegter  Götter. 
Wie  Milton,  so  erweckt  auch  Keats  unser  Mitgefühl  auf  der  'falschen' 
Spite  des  Hyperion  (der  Miltons  Satan  entspricht),  und  nun  mußte  er  den 
sympathischen  Hyperion  stürzen  gemäß  dem  Naturgesetz,  das  er  in  dem 
symbolischen  ethischen  Nebenmotiv  verteidigt,  daß  die  besten  und  höchsten 
Wesen  noch  besseren  und  höheren  Wesen  weichen  müssen.  Wie  konnte 
Keats  da  weiterfahren,  nachdem  er  schon  auf  die  Darstellung  des  heroischen 
Themas,  des  Sturzes  der  alten  Götter  —  mit  Ausnahme  des  Hyperion  — , 
verzichtet  hatte!  Denn  sein  Epos  fängt  mitten  in  der  Handlung  an.  Konnte 
er  Hyperion  stürzen  und  dann  den  weniger  interessanten  höheren  Apollo 
vorführen?     Keats  fühlte  sich  nicht  dazu  fähig  und  brach  ab. 

In  diesem  Stück  wuchtigster  Kunst,  das  er  jemals  gemeißelt  hat.  bleiben 
die  geschaffenen  Gestalten,  was  sie  vorher  bei  ihm  auch  waren,  Erschei- 
nung dieses  Lebens,  nicht  das  Leben  selber  der  Dinge.  Wohl  be- 
strebte er  sich,  das  Einssein  der  alten  Götter  mit  den  großen  Naturgewalten 
darzustellen,  aber  es  ist  auffallend,  daß  er  die  volle  Identität  selten  erreicht, 
sondern  mit  der  bloßen  Vergleichung  arbeitet.  Wie  spricht  Saturns 
Tochter?  Keats  vergleicht  ihr  Sprechen  mit  einer  Woge  flutender 
Luft,  die  hohe,  ehrwürdige  Eichen  in  sommerlicher  Sternennacht  durch- 
rauscht, die  —  Saturns  Aufnahme  ihrer  Worte  soll  jetzt  gezeichnet  werden 
—  ewig  nur  träumen  können.     Die  Worte  des  Enceladxis  dröhnen  gleich 

1  Vgl.  meine  'Entwicklungsgeschichte  des  Swinburneschen  Symbolismus' 
in  meinem  Buch  über  Wilde  84 — 92. 


Jülin   Keafs  im  Iviolite  der  neuesten  ForschuniE:  177 

schwermütigen  Wellen  in  Felsenhöhlen.  Dem  'Herbst'  gleich  —  aber  noch 
mehr  verflüchtigt  —  ist  Coelus,  unpersönlich  und  doch  seiend,  eine  Stimme 
bloß,  die  Wesenheit  der  Winde  und  Fluten.  Hier  ist  Identität  erreicht, 
aber  die  Verkörperung  ist  aufgegeben.  Plastisch  und  menschlich  gestaltet 
sind  nur  die  von  der  griechischen  Kunst  schon  längst  gemodelten  neuen  be- 
kannten Götter,  also  Apollo,  der  in  der  Morgenröte  einherschwebt,  den 
Weidenbäumen  eines  Flüßleins  entlang,  bis  zu  den  Knöcheln  in  den  Lilien 
des  Tales  watend. 

Die  Miltonsche  Grandezza  ist  Keats  am  besten  im  zweiten  Teile  gelungen, 
wo  die  gefallenen  Götter  in  ihrer  Verbannungshöhle  in  ohnmächtiger  Raserei 
majestätisch  toben,  den  Engelrebellen  gleich  in  Miltons  'Verlorenem  Para- 
dies'. Der  Höhepunkt  wird  erreicht  in  der  Eede  des  Oceanus.  Auch  der 
Eingang  des  Epos  ist  echt  miltonisch:  Saturnus  im  traurigen,  schattigen, 
tiefen  Tale,  das  wohl  eine  Erinnerung  an  die  Fingals-Höhle  auf  der  Insel 
Jona  mit  ihren  purpurschwarzen  Basaltsäulen  ist,  die  Keats  auf  seiner 
schottischen  Reise  besichtigt  hatte.  Miltons  Manieriertheiten  —  lateinische 
Inversionen  und  anderes  (darüber  vgl.  S6lineourt)  —  werden  übernommen, 
aber  allmählich  flaut  der  Miltonsche  Kraftstil  ab,  und  Keats  gleitet  in  den 
Stil  der  JaJ^obitischen  Dichter  und  in  seine  frühere  Manier  über.  Er 
scheint  das  schmerzlich  empfunden  zu  haben,  und  auch  aus  diesem  Grunde 
gibt  er  das  Epos  auf  und  schreibt  noch  einmal  im  Evc-of -St.- Agnes-Ton  ein 
kleines  Romanzenfragment:  The  Eve  of  St.  Mark,  eine  metrische  Anempfin- 
dung  an  Chaucers  Rosenroman  und  Haus  der  Fama,  das  die  Keime  zu 
jenem  Stil  treiben  läßt,  den  William  Morris  später  in  The  Man  hörn 
to  he  King  und  The  Land  East  of  the  Sun  zur  Reife  bringen  wird.  Die 
Präraffaeliten  sahen  in  diesem  Gedicht  das  vereinigt,  was  sie  suchten: 
frische  Naturbeschreibung  und  —  ebenso  wie  in  La  Belle  Dame  Sans  Merci, 
Rossettis  Lieblingsstück  —  Verjüngung  mittelalterlicher  Kunst,  die  im 
Markusabend  gar  nicht  zu  finden  ist,  denn  der  hier  geschilderte  Sonntag- 
abend will  vielleicht  mittelalterlich  sein,  ist  aber  von  typisch  modern-eng- 
lischer  Sonntäglichkeit. 

Als  ob  er  mit  dem  Dichter  des  Don  Juan  die  Wette  aufnehmen  wollte, 
schrieb  Keats  in  der  Ottava  'Rima  das  Fragment  Cap  and  Beils  or  the 
Jealousies,  eine  soziale  Satire,  zu  der  ihm  Sothebys  Übersetzung  des  Wie- 
landschen  Oberon  einige  witzige  Abenteuer  geliefert  haben  mag.  Die  Ein- 
sicht, daß  er  hier  eine  seinem  Wesen  nicht  entsprechende  Tendenz  verfolgte, 
ließ  Keats  mit  dem  Gedicht  nicht  zu  Ende  kommen. 

Immer  noch  plagt  ihn  der  Hyperionentwurf,  und  noch  einmal  fängt  er 
üii,  den  Stoff  zu  gestalten.  Er  ändert  den  Text  in  so  unglücklicher  Weise 
um,  daß  man  lange  glaubte,  Hyperion  II  .sei  ein  erster  Versuch  zu  dem 
größeren  schon  besprochenen  Fragment.  Er  schickt  dem  Ganzen  eine  sym- 
bolische Vision  voraus,  die  den  Einfluß  von  Dantes  Purgatorio  —  in  Garys 
Übersetzung  zugänglich  —  verrät.  Moneta  (Mnemonsyne)  weiht  den  Dich- 
ter in  die  Lebensgeheimnisse  ein:  er  erklimmt  eine  Stiege,  um  der  Reini- 
gung entgegenzugehen,  hört  Weisheit  und  zeigt  Ergebenheit.  Symbolisch 
betrachtet,  schreitet  der  Dichter  vorwärts  und  aufwärts  von  einfacher 
Weltlust  —  in  den  Sommerfrüchten  verkörpert  —  zur  geistigen  Vision 
der  Natur.  Ein  Altar  steht  vor  ihm,  und  eine  Stimme  ruft  ihm  zu,  zur 
Höhe  emporzusteigen.  In  Schmerzen  tut  er  es  und  lernt,  daß  nur  der 
Sterbliche,    der    sich    der    menschlichen    Leiden    beständig   bewußt    ist    und 


17S  .lolin  Koats  im   Lichte  der  neuesten  Forschnnjj 

Wfislieif.  sucht,  den  Gipfel  der  Vollendung  erreichen  kann.  Rätjselhafte 
Andeutungen  folgen.  Moueta  erklärt  dem  Dichter,  daß  der  Naturtempel 
ein  Überbleibsel  der  alten  Götterwelt  ist,  und  hebt  an,  ihm  als  Vision  den 
Sturz  der  alten  Götter  zu  erzählen,  was  Keats  schon  als  Epos  in  Hyperion  ^ 
dargestellt  hat.  Aber  auch  jetzt  verläßt  den  Dichter  die  Kraft  und  die 
Lust,  weiterzufahren,  und  er  bricht  ab.  Es  ist  die  Ahnung  des  Todes,  in 
dessen  Hauch  die  Farbenpracht  der  Lebensdichtung  erblaßt  und  eines  nur 
zurückläßt —  symbolisch  — :  die  Heiligkeit  des  Schmerzes.  Der  bedrückte 
Keats  wird  gegen  sich  selber  ungereclit  und  desavouiert  seine  eigene  jüngere 
prächtig  sensualistische  Dichtung. 

Zurzeit  Basel.  Bern  h  a  r  d    Feh  r. 


Goethes  'Braut  von  Corinth'  in  Frankreich. 

Der  Stoff,  der  der  'Braut  von  Corinth'  zugrunde  liegt,  geht  auf 
eine  der  Wundergeschichten  zurück,  die  Phlegon  aus  Thralles 
in  Lydien.  ein  Freigelassener  Hadrians,  für  diesen  Kaiser,  den 
Tertullian  curiositatum  omnium  explorator  nennt,  im  2.  Jahrhun- 
dert n.  Chr.  aufgezeichnet  hat.  Der  Anfang  der  Geschichte  fehlt, 
doch  ist  er  leicht  zu  ergänzen:^  Philinnion,  die  Tochter  des  Demo- 
stratos  und  der  Charito.  die  schon  in  kühler  Erde  ruht,  gesellt 
sieh  in  Liebe  dem  Grast  ihrer  Eltern,  Machates.  Die  Amme  über- 
i-ascht  sie.  Sie  teilt  ihre  Entdeckung  der  Herrin  mit.  die  aber  am 
nächsten  Morgen  niemanden  mehr  bei  Machates  findet.  Auf  ihr 
dringendes  Flehen  gesteht  ihr  M.,  daß  ihre  Tochter  bei  ihm  ge- 
wesen sei.  und  verspricht,  sie  in  der  nächsten  Nacht  rufen  zu 
lassen,  wenn  sie  wieder  erschiene;  so  finden  die  Eltern  ihre  Toch- 
ter bei  ihm.  Unter  den  bitteren  Klagen,  daß  die  Eltern  ihr  nicht 
drei  Nächte  gegönnt  hätten,  stirbt  sie  zum  zweitenmal.  Die  Be- 
wohner des  Städtchens  finden  in  dem  geöffneten  Sarg  einen  Ring 
und  die  goldene  Schale,  die  ihr  Machates  in  der  ersten  Nacht  ge- 
schenkt hatte.  Auf  die  Anordnung  des  Wahrsagers  wird  der 
Leichnam  nicht  wieder  in  die  alte  Erde  gelegt,  sondern  außerhalb 
der  Stadt  beerdigt.  Machates  gibt  sich  vor  Schmerz  selbst 
den  Tod. 

Goethe  lernte  diesen  Stoff  aus  einem  der  zahlreichen  Sammel- 
werke kennen,  in  denen  diese  wunderbare  Mär  nacherzählt  wurde, 
nämlich  in  dem  1668  erschienenen  Anthropodemus  Plutomciis, 
(1.  i.  Eine  neue  WeUheschreihnnf/.  von  allerlei/  Wunderharen 
Menschen  von  Johannes  Praeforius,  wo  das  7.  Kapitel  Von  ge- 
storbenen Leuten  handelt  und  Philinnions  Geschichte  enthält  (vgl. 
Erich  Schmidt.  'Goethe-Jahrbuch'  TX). 

Der  aufmerksame  Leser  der  Goetheschen  Dichtung  sieht 
leicht,  worin  die  Änderungen  hauptsächlich  bestehen,  die  mit  dem 
rohen  Stoff  vorgenommen  sind.  Sie  sind  zunächst  technischer 
Natur:  mit  straffer  Konzentrierung  ^vird  das  Literesse  nur  auf 
ilrei  Personen  gelenkt:  die  Mutter,  die  Tochter,  den  Gastfreund: 
und  die  Begebenheit  spielt  sich  in  einer  Nacht  ab,  nicht  wie  bei 
Phlegon  und  Praetorius  in  zwei  aufeinanderfolgenden.  Vor 
allem  aber  hat  Goethe  den  Stoff  gedanklich  erweitert  und  ver- 
tieft: er  hat  einen  Gegensatz  hineingebracht,  der  nicht  ursprüng- 
lich in  ihm  lag:  in  das  Schicksal  der  beiden  Liebenden  läßt  er  den 
Kampf  zweier  Weltanschauungen    eingreifen:    das    Christentum 

1  Vgl.  Tlheinisches  Museum'  .32,  329  (Rohde)  ;  'Blätter  für  literar.  Unter- 
haltung' 1892,  609  f.  (Tmmisch). 


180  Goethes  'Braut   von  Corinth'  in  Frankreich 

mit  seiueui  Verzicht  auf  die  Befriedigung  der  Wünsche  des  Her- 
zeus hat  das  den  Sinnen  freudig  zugewandte  Heidentum  zu  unter- 
jochen gesucht,  die  Macht  der  Liebe  aber  überwindet  selbst  im 
Tode  allen  Widerstand. 

In  Frankreich  scheint  man  zunächst  in  der  Dichtung  eine 
gegen  die  Kirche  gerichtete  Tendenz  gesehen  zu  haben.  Deshalb 
wohl  möchte  selbst  M™®  de  Stael,  wie  sie  in  ihrem  Buche  de  l'Älle- 
magne  (Ausgabe  Paris,  Fermin-Didot,  S.  *I74)  sagt,  weder  den 
Zweck  des  Gedichtes  noch  das  Gediclit  an  sich  verteidigen,  wenn 
ihr  auch  die  darin  waltende  Phantasie  ungeheuren  Eindruck 
macht:  die  Mischung  von  Liebe  und  Grausen,  die  furchtbare  Ver- 
bindung von  Tod  und  Leben.  II  y  a  comme  une  voliqüe  funehre 
dans  ce  tableau,  oii  Vamour  fait  alliance  avec  la  tombe,  oü  la 
beaiite  menie  ne  scnihle  quune  apparition  effrayante.  Und  wenn 
sie  auch  die  Kunst  bewundert,  mit  der  in  der  Liebesszene  jedes 
Wort  einen  stets  stärker  werdenden  Schrecken  einflößt  und  das 
fürchterliche  Wunder  andeutet,  ohne  es  gänzlich  zu  erklären, 
kommt  sie  doch  zu  dem  Schluß,  daß  ein  reiner  und  strenger  Ge- 
schmack vieles  in  dieser  Dichtung  tadeln  müsse,  imd  daß  von  den 
kleineren  Werken  der  berühmten  deutschen  Autoren  dies  das 
einzige  wäre,  gegen  das  der  französische  Leser  Einwendungen  zu 
machen  hätte. 

Noch  deutlicher  drückt  sich  ein  Jalirzehnt  später  ein  eifriger 
Katholik,  der  Baron  von  Eckstein,  in  den  sehr  streng  konserva- 
tiven 'Annales  de  la  litterature  et  des  arts'  vom  Jahre  1824  aus 
(XVI,  55).  Er  sagt  da  von  der  'Braut  von  Corinth':  Ballade  pleine 
de  beautes  poetiqiies,  mais  d'iine  profonde  immoralite  . . .  Le  poete 
y  peint  le  paganisme  ä  son  declin,  sous  les  couleurs  les  plus  inte- 
ressantes, et  fait  de  la  naissance  du  christianisme  le  tableau  le  plus 
remhruni:  quelle  que  snit  la  licence  poetique,  eile  ne  va  pas 
jusque-lä. 

Aber  es  war  anderseits  etwas  in  der  Ballade,  was  sie  dem 
Kreis  der  Romantiker  höchst  anziehend  machen  mußte.  Goethe 
hatte  die  Dichtung  in  seinem  Tagebuche  1797  (6.-9.  Juni)  meh- 
rere Male  als  'das  Vampyrische  Gedicht'  bezeichnet.  Stefan  Hock 
hat  es  in  .^inem  Buche  Die  Vawpyrsagen  und  ihre  Verwertung  in 
der  deutschen  Literatur  (Berlin  1900)  sogar  wahrscheinlich  ge- 
macht, daß  es  dieses  Motiv  des  A^ampirischen  war.  was  sich  ihm, 
wie  er  sagte,  vierzig  bis  fünfzig  Jahre  lebendig  und  inrlsam  im 
Innern'^  erhalten  hatte,  und  daß  man  auf  falscher  Fährte  ist,  wenn 
man  annimmt,  daß  er  damit  die  Geschichte  von  Machates  und 
Philinnion  gemeint  habe.    Es  ist  wohl  einleuchtend,  daß  sich  der 

1  Hempelsche  Ausgabe  XXVI,  1.  352  in  dem  Aufsatz  'Bedeutende  For- 
dernis  durch    ein   einziges  geistreiches   Wort',  aus  dem  Jahre   1822. 


Goethes  'Braut  von  Corinth'  iu  Frankreich  •     181 

in  früher  Jugend  vernommene  Bericht  von  den  Vampiren  ver- 
bunden hat  mit  der  Gespenstergeschichte  des  Phlegon,  und  daß  so 
auch  Goethes  Worte  zu  verstehen  sind,  daß  sich  'die  Bilder  (seines 
Innern)  immer  umgestalteten,  doch  ohne  sich  zu  verändern,  einer 
reineren  Form,  einer  entschiedeneren  Darstellung  entgegen- 
leiften'. 

Gerade  dies  Schauerlich-Gespensterhafte,  das  M^'-stisch-Wuu- 
derbare,  das  somit  die  Keimzelle  der  Goetheschen  Dichtung  bil- 
det, war  das,  was  die  Männer  um  Victor  Hugo  lockte  und  zog. 
Ein  Stoff  wie  der  der  'Braut  von  Corinth',  der  Liebe  und  Tod  in 
Verbindung  brachte,  mußte  von  Führern  und  Gefolgsleuten  der 
Romantik  als  ein  Stoff  nach  ihrem  Herzen  betrachtet  werden, 
denn  er  brachte  auch  die  Lehre  des  Meisters  zur  Geltung,  daß 
die  wahre  Poesie  in  dem  Einklang  der  Gegensätze  zu  suchen  sei. 

In  der  vorderen  Reihe  dieser  Modernen  stand  zum  mindesten 
im  Anfang  der  Bewegung  Emile  Deschamps  (geb.  1791  in  Bourg, 
gest.  April  1871  in  Versailles).  Er  war  1823  einer  der  Begrün- 
der ihrer  Zeitschrift,  der  'Muse  fran(?aise',  und  ließ  1828  ein 
Werk,  'ßtudes  franpaises  et  etrangeres',  erscheinen,  dessen  fünf 
schnell  aufeinanderfolgende  Auflagen  seinen  Erfolg  erwiesen. 
Es  enthielt  eine  wichtige  Vorrede,  die  neben  der  zu  Victor  Hugos 
"Cromweir  als  Manifest  der  neuen  Richtung  betrachtet  werden 
kann.  Denen,  die  in  einem  Einfluß  ausländischer  Literatur  auf- 
die  heimische  eine  böse  vaterlandslose  Gesinnung  sehen,  ruft  er 
hier  die  beherzigenswerten  Worte  zu:  Quant  aux  vieilles  indi- 
finations  nationales,  a  ces  gothiques  haines  de  Vetranger,  a  qin 
pretendrait-on  imposer  aujourd'hui  avec  toute  cette  patrioterie 
JHteraire?  La  France  est  trop  forte  et  trop  riche  ponr  etre  jalouse 
rt  injuste.  Unter  den  Gedichten  aus  dem  Deutschen  befindet  sich 
dort  neben  Schillers  'Glocke'  und  dem  'König  von  Thule'  die  erste 
Übersetzung  der  'Braut  von  Corinth'  in  französischen  Versen.  — 
Wir  werden  sie  später  genauer  betrachten.  — 

Das  Interesse  an  der  'Braut  von  Corinth'  erhält  sich  auch  nach 
der  Zeit  der  Romantik,  nui;  der  Blickpunkt  wird  ein  anderer. 
Nicht  mehr  das  Phantastisch-nSchauerliche  fesselt  die  Zeit  nach 
der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  und  die  Dichter,  die  ihr  dienen, 
man  wendet  sich  eher  allgemeinen  Ideen  zu  als  individuellen  Emp- 
findungen, und  so  wird  der  Konflikt  der  beiden  Religionen  als 
das  Wichtigste  in  der  Ballade  angesehen.  Hatte  doch  Leconte 
de  Lisle,  um  den  sich  eine  Gruppe  junger  Dichter  scharte  —  die 
sogenannten  Parnassiens  — .  in  seinen  Poewes  antiques  und 
Poem  es  harbares  eine  Mu^erung  aller  Religionen,  aller  Götter- 
legenden in  wunderbar  vollendeten  Versen  abgehalten;  bei  ihm 
kann  man  alle  Formen  finden,  in  denen  die  Menschheit  ihr  Ideal, 
des  Lebens  Zweck  und  Ziel  zu  finden  glaubte,  und  in  denen  sie 


182  Goethes  'Braut   von  Corinth'  in  Frankreicli 

sich  über  die  Kürze  des  Daseins  und  die  Trostlosigkeit  des  Zwei- 
fels hinwegzutäuschen  suchte.  Im  rein  Gedanklichen,  in  der 
Gegenüberstellung  von  Christentum  und  Heidentum,  berühren  sich 
einige  Gedichte  Leconte  de  Lisles  mit  dem  Stoff  der  'Braut  von 
Corinth',  wenn  ich  auch  nicht  an  einen  direkten  Einfluß  der 
deutschen  Ballade  auf  diese  Dichtungen  glaube.  Unzweifelhaft 
(weil  er  es  selbst  ausgesprochen  hat)  ist  jedenfalls  Anatole 
France  in  seinem  dramatischen  Gedicht  Les  Noces  Corinthiennes 
von  Goethe  angeregt.  Er  nennt  das  Gedicht  rührend,  geheimnis- 
voll und  tief  und  sagt  dann:  J'ai  repris  ä  mon  tour  et  developpe 
cette  vieille  histoire,  car  je  nai  rien  trouve  qui  peignit  mieux  Je 
declin  des  Dieiix  antiques  et  Vauhe  chretienne  dans  tm  coin  de  la 
Grece. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  ist  auch  die  französische  Lite- 
raturwissenschaft an  die  Dichtung  herangetreten.  Ernst  Lich- 
tenberger hat  in  seinen  Poesies  lyriqnes  de  Goethe  das  Rem- 
brandtsche  Halbdunkel,  in  das  Goethe  die  Gestalt  der  Braut  hüllt, 
und  das  den  Leser  ebenso  wie  den  jungen  Athener  im  ungewissen 
darüber  läßt,  ob  er  es  mit  einem  Gespenst  oder  einer  Lebenden 
zu  tun  hat,  damit  erklärt,  daß  mit  absichtlicher  Symbolik  das 
Kloster  dem  Grabe  gleichgesetzt  sei,  um  recht  eindringlich  dar- 
zutun, wie  die  Rechte  der  Jugend  und  der  Liebe  von  den  Ge- 
lübden, die  Priester  und  Nonnen  ablegten,  a^ erletzt  würden,  ^lle 
confond  sans  cesse  dans  ses  paroles  et  dans  sa  pensee  le  moment 
de  sa  consecration  et  celni  de  son  trepas.  porce  qn'en  effet  c'a  efe 
pour  eile  le  meme  instant. 

Daß  dies  richtig  ist,  glaube  ich  nicht.  Wie  erklärte  es  sich 
dann,  daß  die  Geliebte  nichts  vom  Weizenbrot  nimmt,  wenn  wir 
das  nicht  als  symbolisch  dafür  annehmen  sollten,  daß  sie  nicht 
mehr  den  Lebenden  angehört?  Vor  allem,  wie  Avürde  sonst  das 
Bild  des  Vampirischen  in  die  Erscheinung  treten,  daß  der  Ge- 
liebte dem  Tode  geweiht  ist.  da  er  sie  berührt  und  da  sie  ihm 
Lebensblut  entzogen  hat?  Das  charakteristische  Merkmal  für  die 
Vampire  ist  es  ja,  daß  sie  Tote  sind,  die  zur  iSTachtzeit  aus  ihrem 
Grabe  steigen,  um  das  Blut  der  Lebenden  zu  saugen.  Für  das 
Erfassen  des  wesentlichen  Gedankens  der  Dichtung  aber  scheint 
es  mir  gar  nicht  von  großer  Bedeutung  zu  sein,  ob  wir  uns,  wie 
Lichtenberger,  die  Braut  als  lebend  und  nur  symbolisch  tot,  oder, 
wie  wohl  alle  deutschen  Erklärer,  als  tatsächlich  aus  dem  Grabe 
steigend  zu  denken  haben.  Goethe  hat  absichtlich  einen  Schleier 
darübergeworfen,  aus  dem  die  Idee  des  Gegensatzes  zwischen 
den  Ansprüchen  der  Natur  und  den  eingebildeten  Satzungen  der 
Menschen,  des  Kampfes  zwischen  den  selbstsüchtigen  Beweggrün- 
den des  Einzelnen  und  der  alles  überwindenden  Liebe  deutlich 
hindurchschimmert. 


Goethes  'Braut  von  Corinth"  in  Frankreich  188 

Dieses  Wesentliche  hat  Lichtenberger  richtig  gesehen,  wenn 
\\ir  auch  Bedenken  erheben  müssen  in  einer  Einzelheit,  die  er 
vielleicht  für  wichtiger  nimmt,  als  sie  mir  in  Wirklichkeit  zu 
sein  scheint. 

Auch  Übersetzungen  sind  Erklärungen;  wer  übersetzt,  inter- 
pretiert zugleich.  Sehen  wir  uns  einige  dieser  französischen  Über- 
setzungen an.  Mir  lagen  drei  in  Prosa  und  eine  in  Versen  vor. 
Von  diesen  ist  wohl  die  wichtigste  die  letztere,  die  Emile  Des- 
champs  in  seinen  schon  erwähnten  ^tudes  frangaises  et  etrangeres 
1828  herausgab.  Unter  dem  14.  März  1830  berichtet  Ecker- 
mann, Goethe  habe  einiges  in  den  ihm  zugesandten  Studien  von 
Emile  Deschamps  gelesen,  und  er  fügt  hinzu:  Die  Übersetzung 
der  'Braut  von  Corinth'  lohte  er  als  treu  und  sehr  gelungen.  Wer 
darauf  genauer  die  Übersetzung  nachprüft,  muß  sich  über  die 
Anspruchslosigkeit  Goethes  verwundern  und  kann  sich  die  Milde 
der  Beurteilung  nur  daraus  erklären,  daß  die  Huldiginig  der  jun- 
gen Dichter  Frankreichs  (wie  wir  aus  Eckermann  und  anderen 
Quellen  wissen)  Goethe  innerlichst  beglückte,  daß  ihn  die  Ver- 
ehrung und  Liebe,  mit  der  sie  ihn  als  ihr  geistiges  Oberhaupt  er- 
klärten, nachsichtig  gegen  ihre  Schwächen  machte.  Die  Sendung 
von  Gedichten  war  von  einem  Briefe  begleitet,  der,  wie  Ecker- 
mann sagt,  mit  liebens\^airdiger,  herzlicher  Freiheit  geschrieben 
war  und  Goethe  zu  dem  Ausspruch  veranlaßt:  Man  blickt  in  den 
Frühling  eines  schönen  Gemüts. 

Deschamps  hat  Strophen  von  sechs  Alexandrinern  mit  dem 
Reimschema  abbacc  gewählt;  daß  er  mit  der  Biegsamkeit  des 
Originals  in  der  Form  nicht  wetteifern  wollte,  war  nicht  unklug. 
—  Wir  können  aber  nicht  vorübergehen  an  inhaltlich  schiefen 
Wendungen,  die  dem  Leser  eine  ganz  andere  Vorstellung  geben 
als  die  Goetheschen  Verse.  Dazu  hat  den  Übersetzer  zuweilen 
die  Not  des  Reimes  und  nicht  selten  der  Wunsch  verführt,  was 
ihm  im  Original  vorlag,  deutlicher  zu  machen.  So  gibt  Deschamps 
in  höchst  ungeeigneter  Weise  der  zweiten  Schwester  eine  Oha- 
ra kt^ri.=;ierung.  von   der  Goethe   nichts  hat.     Bei   ihm   heißt  es: 

Mich    erhälfst    du   nicht,  du  gute   Seele! 
Meiner  zweiten   Schtoester  gönnt  man  dich. 
Wen7i  ich   mich  in  stiller  Klause  quäle. 
Ach,  in   ihren   Armen  denk'  an   ynich. 

Daraus  macht  Daschamps: 

Oh  hon  ange,  jamais  tu  ne  m'approcheras! 
A  ma  seconde  smur,  au  coeur  simple  et  crSdule, 
On  te  marie,  et  moi,  dans  ma  froide  cellule, 
Je'  dois  languir  .  .  .  Ami,  pense  ä  moi  dans  ses  hras. 

Man  sieht   hier:    die  Erfindung  einer  leichtgläubigen   Schwester 
ist  durch  den  Reim  von  credule  auf  cellule  herbeigerufen  worden. 


184  Goethes  'Braut  von  Coriuth"  iu  Frankreich 

Eine  noch  stärkere  Verheerung  des  Sinnes  hat  die  Reimnot  in 
der  vorletzten  Strophe  angerichtet,  wo  sich  Deschamps  den  an 
dieser  Stelle  ganz  unsinnigen  Ausruf  //  m'nime!  leistet;  man 
vergleiche  nur:  die  Braut  sagt  bei  Goethe: 

Schöner  Jüngling,   kannst   nicht   länger   leben ! 

Du  versiechest  nun  an  diesem  Ort. 

Meine  Kette  haV  ich  dir  gegeben, 

Deine  Locke  neJi7n'   ich    mit    mir  fort. 

Sieh  sie  an  genau. 

Morgen  bist  du  grau, 

und  nur  braun  erscheinst  du  tcieder  dort. 

Dafür  heißt  es  in  der  von  Goethe  so  gerühmten  Übersetzung  von 
Deschamps : 

Jeune  Orec,  tu  ne  peux  vivre  longtemps  encore, 
Tu  vas  languir  ici:  je  t'ai  donn4  ma  chaine; 
Et  f  empörte  avec  moi  dans  ma  prison  de  chine; 
Ta  boucle  de  chevenx,   tardif  et  vain  tr^sor! 
Regarde-lä-Demain    iu    blanchiras,    et    meme 
Tu  ne  reparattras  brnn  que  lä-bas  .  .  .  II  m'aime! 

Neue  Strophe:  II  pälit. 

Man  hat  häufig  den  Eindruck,  daß  die  zarteste  poetische  An- 
deutung des  deutschen  Verses  gar  nicht  in  eine  einigermaßen 
gleichartige  französische  Fassung  gebracht  v^^erden  kann.  Liegt 
es  an  der  zu  starken  Neigung  zum  Rhetorischen,  die  in  der  fran- 
zösischen Seele  herrscht,  oder  an  dem  Streben  nach  allzu  deut- 
licher Klarheit,  die  jeder  Unbestimmtheit  widerstrebt?  Nietzsche, 
der  ja  ein  sehr  feines  Stilgefühl  hat,  scheint  auch  die  Empfindung 
gehabt  zu  haben,  daß  die  lyrischen  Töne  der  französischen  Sprache 
nicht  liegen.  So  schreibt  er  an  Gersdorf  am  21.  Juli  1875:  Hast 
Du  Schures  'Le  drame  musicaV  gelesen?  . . .  Für  mein  Gefühl  ist 
alles  Französische  su  beredt  und,  bei  Behandlung  solcher  Dinge 
wie  der  Musih,  etwas  su  lärmend  und  öffentlich.  Zwei  oder  drei 
Beispiele  mögen  dies  deutlich  machen. 

Und  sie  kommt  und  wirft  sich  zu  ihm  nieder: 
Ach,  tcie  ungern  seh  ich  dich  gequält! 
Aber  ach!   berührst  du  meine  Glieder, 
Fühlst  du  schaudernd,  was  icli  dir  verhehlt. 

Und  nun  die  Übersetzung: 

Elle  y  vint  prds  de  lui.     Mon  Dieu,  que  fai  regret, 
Dit-elle,  d'attrister  ainsi  tes  fiangailles. 
Mais  helas!  touche  un  peu  mes  membres  ...  tu  tressailles ! 
Tu  connais   mnintenant  mon  funeste  secret. 

Wirkt  dieser  Imperativ  touche  un  peu  mes  membres  nicht  wie  die 
erkältendste  Prosa  und  hier  geradezu  komisch? 

Oder  man  .stelle  der  meisterhaften  Knappheit,  mit  der  Goethe 


Goethes  "Braut  von  Corintlr   in  Frankreich  185 

die  innigste  Umarmung  in  drei  Worten  malt,  die  Weitschweifig- 
keit des  Übersetzers  in  dem  Sehhiß  der  Strophe  gegenüber,  in  der 
es  bei  Goethe  heißt: 

Heftig  faßt  er  sie  mit  starken  Armen, 

Von  der  Liebe  Jugendkraft  durchmannt  : 

Hoffe  doch,  bei  mir  noch  zu  erwarmen, 

Wärst  du  selbst  mir  aus  dem  Grab  gesandt! 

Wechselhauch  und  Kuß! 

Liebesüberfluß! 

Brennst  du  nicht  und  fühlest   mich  entbrannt? 

Bei  Deschamps: 

II  l'enlive  et  la  serre  entre  ses  bras  nerveux, 

Avec  toute  Vardetir  de  la  male  jeunesse, 

'II  faut  sous  mes  baisers  que  la  chaleur  renaisse, 

Fusses-tu  de  la  tombc  envoy6  ä  mes  feux! 

Brülez,  torrens  d'amour!  douce  et  cuisante  extase. 

Tiens,  tiens,  ne  sens-fu  pas  tout  mon  corps  qui  s'embrasef 

Was  wird  erst  aus  der  keuschen  Schilderung  dessen,  was  die 
Mutter  an  der  Tür  erlauscht,  bei  dem  überdeutlichen  Franzosen! 
Bei  Goethe: 

Horchet  an  der  Tür  und  horchet  lange, 

Welch  ein  sonderbarer  Ton  es  sei: 

Klag'  und  Wonnelaut 

Brmitigams  und  Braut 

Und  des  Liebesstammeins  Raserei. 

Bei  Deschamps: 

Elle  ecoute  longtemps  un  murmure  de  plainte, 

De  rires  effr4nes  et  de  vagues  refus, 

Et  ces  mots  inconnus  et  ces  accents  etranges, 

Ces  cris  que  Vhomme  emprunte  aux  voluptes  des  anges! 

Auch  die  Prosaübersetzungen  zeigen  diese  Mängel:  das  Rhe- 
torische wandelt  den  dichterischen  Ausdruck  in  etwas  Hausbacke- 
nes um,  und  die  Neigung,  recht  deutlich  und  klar  zu  sein,  bringt 
Zusätze,  die  dem  Charakter  der  Dichtung  widerstreben,  und  weist 
auch  —  besonders  in  den  älteren,  noch  zu  Goethes  Lebzeiten  er- 
schienenen Übersetzungen  —  Auslassungen  auf  bei  Stellen,  die 
der  Franzose  seinem  Landsmann  nahezubringen  wohl  verzwei- 
felte. 1825  kam  ein  Bändchen  in  dem  bekannten  Verlage 
Panckoucke  heraus:  Poesies  de  Goethe,  traduites  pour  la  premiere 
fois  de  VaUemand  jKir  i¥*"c-  jj  'Panclwuche.  Querard  schreibt  aller- 
dings in  seinen  Supercheries  litteraires  devoilees  (2.  Aufl.  1870 
III,  24)  den  liebenswürdigen  Gästen  des  Hauses  Panckoucke  die 
Arbeit  an  diesem  Bändchen  zu.  Aubert  de  Vitry  (1765 — 1849) 
und  namentlich  dem  geschickten  Loeve-Veimars   (1801 — 1854). 

Eduard  von  der  Hellen  stellt  es  als  wahrscheinlich  hin,  daß 
das  Goethesche  Gedicht  'Ein  Gleichnis'  (aus  dem  Jahre  1828)  in 
der   Abteilung   'Parabolisch'   von   dieser   Panckouckschen   Über- 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    13'J.  13 


186  Goethes  'Braut  von  Corintli'  in  Frankreich 

Setzung  veranlaßt  sei.  Ich  erinnere  an  diese  Verse,  weil  sie  aucl^ 
(xoethes  Freude  an  Übersetzungen  seiner  Werke  und  ein  Lob  er- 
klären, das  nicht  immer  gerechtfertigt  erscheint. 

Jüngst   pflückt   ich   einen    Wiesenstrauß, 

Trug  ihn  gedankenvoll  nach  Haus; 

Da  hatten  von  der  warmen  Hand 

Die  Kronen  sich  alle  zur  Erde  gewandt. 

Ich  setzte  sie  in  frisches  Glas, 

Und  welch   ein   Wunder    aar    mir   das! 

Die  Köpfchen  hohen  sich  ,cmpor, 

Die  Blätterstengel  im  grünt  n   Flor; 

Und  allzusammen  so  gesund, 

Als  stünden  sie  noch  auf  Muttergrinid. 

So  war  mir's,  als  ich  wundersam 

Mein  Lied  in  fremder  Sprache   vernahm. 

Wie  die  poetische  Einfachheit  des  Dichterwortes  hier  in  ver- 
ständnisloser Rhetorik  erstickt  wird,  dafür  diene  nur  ein  kleines 
Beispiel:  Bleibe,  schönes  Mädchen  gibt  M'"*"  Panckoucke  -wieder 
durch  Ne  t'eloigne  pas,  femme  Celeste.  Treue  der  Übersetzung 
dürfen  wir  hier  nicht  suchen.  Wer  würde  wohl  die  Verse  Aber 
bei  dem  tüohlbestellten  Essen  Wird  die  Lust  der  Speise  nicht 
erregt  wiederfinden  in  den  Worten:  Ces  soins  affectueux  ne  peu- 
vent  triompher  des  vagues  inquietudes  dont  l'äme  du  jeune  Jiomnte 
est  agitee.  —  In  dem  Streben,  den  Leser  immer  über  den  Zusam- 
menhang aufzuklären,  fühlt  sich  dieser  Übersetzer  —  traduttore, 
traditore  —  genötigt,  dem  Jüngling  schon  in  der  ersten  Erwide- 
rung auf  die  Worte  des  Mädchens  die  Ahnung  aussprechen  zu 
lassen,  daß  er  es  mit  der  ihm  bestimmten  Gattin  zu  tun  habe. 
Bei  Goethe  heißt  es  bekanntlich: 

Hier  ist- Ceres',  hier  ist  Bacchus'  Gahe, 

Und  du  hringst  den  A^nor.  liches  Kind! 

Bist   vor  Schrecken  Haß, 

Liehe,  komm  und  laß. 

Laß  uns  sehn,  wie  froh  die  Götter  sind. 

Daraus  macht  die  unter  dem  Namen  M"'*'  Panckoucke  geliondc 
("Übersetzung: 

Daigne  partager  avec  moi  les  dons  de  CSres  et  de  Bacchus;  1a  viic  ins- 
pire  l'amour!  Pourquoi  pälir  ainsi  d'effroi?  ne  serais-tu  pas 
l'  ep  ouse,  que  le  ciel  m'  a  de  s  tinee?  Viens,  6  m  a  lien  aimer ! 
reste  pr^s  de  moi,  fais  moi  goüter  la  felicite  des  dieux. 

Mancher  Zusatz  läßt  sich  sogar  quellenmäßig  belegen:  so 
w^enn  M™^  Panckoucke  oder  ihr  Gewährsmann  bei  der  Wieder- 
gabe der  Verse  Gierig  schlürfte  sie  mit  blassem  Munde  Nun  den 
dunkel  blutgefärbten  Wein  übersetzt:  Elle  porte  avec  avidite  ä 
ses  levres  päles  le  vin,  que  goütent  les  ombres,  un  vin 
couleur  de  sang.  Ein  Jahrzehnt  vorher  hatte  schon  M™<^  de  Stael 
bei  der  umschreibenden  Darstellung  unserer  Dichtung  (die  nur 


Goethes  'Braut  von  Corinth'  in  Frankreich  187 

teilweise  zur  wörtlichen  Übersetzung  wird)  hierbei  diese  Hinzu- 
fügung gemacht.  Es  heißt  dort  {De  V Allemagne  2,  13):  eile  holt 
avidement  d'un  vin  couleur  de  sang,  semblable  ä  celui  que  pre- 
naient  les  ombres,  dans  V Odyssee,  pour  se  retracer  leurs 
Souvenirs. 

Die  modernen  Prosaübersetzungen,  die  ich  gesehen  habe,  er- 
lauben sich  allerdings  nicht  solche  Freiheiten;  die  von  Camille 
Benoit,  die  Anatole  France  im  Anfang  seiner  Noces  Corinthiennes 
mitteilt,  ist  als  'treu'  zu  bezeichnen.  Aber  auch  hier  scheint  mir 
die  Wahrnehmung  nicht  uninteressant  zu  sein,  wie  selbst  in  Klei- 
nigkeiten die  französische  Anschauungsweise  allem  Unbestimm- 
ten auszuweichen  sucht.  Goethe  hatte  V.  152  f.  nur  gesägt:  Wie 
mit  Geists  Getvalt  Hebet  die  Gestalt  Lang  und  langsam  sich  im 
Bett  empor.  Alle  französischen  Übersetzungen  bringen  das 
Deckengew^ölbe  hinein,  bis  zu  dem  sich  die  Gestalt  hebt,  als  ob  die 
Phantasie  für  dieses  Steigen  der  Gestalt  eine  Stütze  brauchte;  so 
heißt  es  schon  bei  M™^  de  Stael:  la  jeune  fille  grandit  jusqu'ä  la 
voüte  comme  nne  ombre.  bei  M"^^  Panckoucke:  eile  grandit  lente- 
ment  jusqu'ä  la  voüte,  bei  Deschamps:  Longtemps  et  lentement 
grandit  jusquä  la  voüte,  und  bei  Benoit:  sa  statue  s'eleve  long- 
temps et  lentement  du  lit  ä  la  voüte. 

Auch  in  der  Wiedergabe  der  Verse  162  und  163  findet  man 
sich  einer  communis  opinio  gegenüber.    Es  heißt  dort  bei  Goethe: 

Aber  aus  der  schwertedeckten  Enge 
Treibet  mich  ein  eigenes  Gericht. 
Euer  Priester  summende  Gesänge 
Und  ihr  Segen  haben  kein  Gewicht. 

Die  Worte  'ein  eigenes  Gericht'  glaubte  ich  immer  so  auf- 
fassen zu  müssen,  daß  sie  selbst  sich  das  Recht  zuschreibe,  die 
'bange  Klause'  zu  verlassen,  wozu  dann  der  Gegensatz  die  Nich- 
tigkeit dessen  wäre,  was  die  Priester  anordneten.  In  allen  Über- 
setzungen aber  wird  'das  eigene  Gericht'  als  eigentümlicher,  son- 
derbarer Urteilsspruch  verstanden,  was  ja  dem  deutschen  Sprach- 
gebrauch auch  gemäß  wäre;  so  heißt  es  bei  M™®  de  Stael:  Une 
maladie  funeste  tna  poussee  hors  de  nia  froide  demeure;  bei 
Panckoucke:  La  justice  divine  nia  fait  sortir  du  cercueil;  bei 
Deschamps:  Mais  un  arret  fatal  de  ma  sombre  demeure  me  tire; 
Lichtenberger  umschreibt  diese  Stelle:  Four  avoir  viole  malgre 
eile  les  lois  de  la  natiire,  eile  est  condamnee  ä  sortir  de  sa  tombe 
ä  eher  eher  le  fiance  et  ä  sucer  le  sang  de  son  cceur;  und  auch  bei 
Benoit:  Mais  je  suis  poussee  par  un  arret  singulier  hors  de  mon 
etroite  demeure. 

Nach  einer  längeren  Beschäftigung  mit  dem  Gedicht  glaube 
ich  nicht  mehr  an  die  Richtigkeit  meiner  bisherigen  Auffassung. 
Was  mich  dazu  bestimmt,  ist  nicht  der  Umstand,  daß  die  fran- 

13* 


188  Goethes  'Braut  von  Corinth'  iu  Frankreich 

zösisclien  Übersetzungen  untereinander  und  auch  mit  drei  engli- 
schen, die  ich  verglichen  habe,  übereinstimmen.^  Auch  daß  das 
Grimmsche  Wörterbuch  unter  'Gericht'  unsere  Stelle  für  die 
Bedeutung  'Verhängnis,  Fügung  der  Götter'  in  Anspruch  nimmt, 
machte  mich  zwar  schwankend,  konnte  mich  aber  nicht  überzeu- 
gen, weil  es  im  Wörterbuch  als  einziger  Beleg  für  diese  Be- 
deutung angeführt  war.  Zwei  Momente  aber  scheinen  mir  die 
Auffassung,  der  ich  früher  widerstrebte,  zu  stützen:  die  Worte 
bei  Phlegon,  wo  das  Mädchen  sagt:  Ot^  yäo  äi'tv  deki^  fiooA))oto)c 
t^AÜ'ov  eig  vavva;  und  vor  allem  das  Wesen  des  Vampirs,  wie 
es  in  dem  Volksglauben  lebte.  Das  Verhängnis  zwingt  ihn, 
gerade  die  der  Vernichtung  zu  weihen,  die  er  am  meisten  liebt, 
seine  Angehörigen  auf  Erden.  So  erfüllt  die  Braut  von  Corinth 
willenlos  das  Gebot  der  Götter.  So  heißt  es  auch  in  Byrons 
'Giaour' : 

Biit  first,  071  earth  as  vampirc  sent, 

Thy  corse  shall  from  its  tomh  he  renf  : 

Then  ghastly  haunt  thy  native  'place. 

And  suck  the  hlood  of  all  thy  racc. 

In  der  (Übersetzung  Wohlbrücks  lauten  die  Verse: 

Nun   gehst    du,    ein    grausiger    Leichnam,    einher,     > 
Bestimmt,  dich  vom  Bltite  derer  zu  nähren, 
Die  dich  am  meisten  liehen  und  ehren. 

Wer  als  Deutscher  die  französischen  und  englischen  Über- 
setzungen der  'Braut  von  Corinth'  miteinander  vergleicht,  der 
wird  sich  des  Eindrucks  nicht  erwehren  können,  daß  der  Unter- 
schied mit  den  Worten  'wesensfremd'  und  'verwandt'  zu  bezeich- 
nen wäre.  Di^e  Stärke  der  französischen  Sprache  liegt  auf  einem 
anderen  Gebiete,  und  die  Kunst,  die  poetischen  Schöpfungen 
anderer  Kulturvölker  sich  zu  eigen  zu  machen,  steht  bei  weitem 
nicht  so  hoch  wie  bei  uns.  Die  festgefügte  Tradition  der  Lebens- 
weise mag  wohl  auch  in  die  französische  Sprache  zuviel  konven- 
tionellen Charakter  hineingelegt  haben,  der  auf  die  tiefere  Emp- 
findung störend  wirkt.  Muß  doch  selbst  ein  Goethescher  Lyrik 
so  verständnisvoll  gegenüberstehender  Mann  wie  Ernest  Lichten- 
berger den  Vers  des  Mailiedes  0  Mädchen,  Mädchen,  wie  lieh' 
ich  dich  wiedergeben  mit:  0  jeune  fille,  jeune  fille,  que  je 
t'aime,  und  für  die  Zeilen  aus  dem  Fischer:  ans  dem  heivegten 
Wasser  rauscht   ein   feuchtes   Weih   hervor    die    Übersetzung 

1  1)  Paul  Dyrsen,  'Goethe's  Poems'  (London  1878) :  Froin  its  (the  grave) 
cold  and  darkness  am  I  Coming  Back  to  life  and  light,  that  is  my  fate! 
—  2)  Edgar  Alfred  Bowring,  'The  Poems  of  Goethe'  (New  York  1881):  Bat 
from  out  my  coffin's  prison-bounds  By  a  woudrous  fate  I'm  forced  to 
rove.  —  3)  W.  Edmondstowne  and  SirTheodore  Martin,  'Poems  and  ballads 
of  Goethe',  .3e  edition  (Edinburgh  and  London  1907)  :  Fearful  is  t  li  o  \v  o  i  r  d 
(hat   forc'd    mc  hither    From  the  dark-heap'd  Chamber   \\  liero  T   lay. 


Gofthos  'Braut  von  Corinth'  in  Frankreich  189 

i,'eben:  du  sein  de  l'onde  cmue,  une  femme  humide  sott  avec 
hruit.    Klar  und  deutlich,  aber  wie  wenig  poetiseli! 

Indes,  wir  tun  vielleicht  nicht  recht,  französische  Übersetzun- 
gen mit  Philologenaugen  zu  lesen;  und  Goethe  hat  wohl  von  einem 
anderen  Standpunkt  aus  die  Taust'-Übersetzung  von  Gerard  de 
Nerval  und  die  der  'Braut  von  Corinth'  von  Emile  Deschamps 
gelobt:  er  hat  als  Franzose,  nicht  als  Deutscher  gelesen  —  rühmt 
er  doch  schon  von  Stapfers  Übersetzung  des  Faust,  daß  sich  dieses 
Gedicht  in  der  französischen,  edles  erheiternden,  der  Betrach- 
iung,  dem  Verstände  entgegenhommenden  Sprache  schon  um 
rieles  klarer  und  ahsichtlicher  ausnehme. 

Höher  zu  veranschlagen  als  Übersetzungen  einer  Dichtung  ist 
der  Einfluß,  der  durch  selbständige  Werke  im  fremden  Lande  be- 
zeugt wird. 

Xoch  in  die  Zeit  der  Hochflut  der  Romantik  versetzt  uns  eine 
Novelle  von  Theophile  Gautier,  La  Morte  amoureuse,  auf  die 
Yovanovitch  in  seinem  Buche  La  Gnzla  de  Prosper  Merimee 
(Paris  1911)  S.  319  hinweist.  Es  ist  kein  Kunstwerk,  diese 
vampirische  Novelle,  wenn  sich  auch  hier,  wie  sonst,  dieses  Dich- 
ters eigentümliche  Begabung  nicht  verleugnet,  malerische  Wir- 
kungen durch  die  Sprache  zu  erzielen. 

Die  Furcht  vor  dem  Banalen  und  der  Wunsch,  den  Philister 
in  Staunen  zu  versetzen,  hat  wohl  hier  Gautiers  Feder  geführt;  so 
herrscht  in  dieser  Novelle  wilde  Phantastik  statt  dichterischer 
Phantasie,  mühsam  gekünstelte  Erregung  statt  wahrer  Empfin- 
dung. —  Die  Rollen  der  beiden  Liebenden  sind  vertauscht,  wenn 
wir  mit  Yovanovitch  einen  Einfluß  der  'Braut  von  Corinth'  an- 
nehmen, die  Geliebte  ist  Gottesleugnerin.  er  ein  Priester,  der  im 
Augenblick,  wo  er  die  Weihen  erhält,  die  Buhlerin  Clarimonde 
zum  erstenmal  erblickt,  und  der  von  nun  an  den  Gedanken  an  sie 
in  alle  heiligen  Handlungen  verwebt,  die  ihm  sein  Amt  in  einem 
entlegenen  Dorfe  auferlegt.  Da  wird  er  eines  Nachts  zu  einer 
Sterbenden  auf  abenteuerlichste  Weise  geholt,  es  ist  natürlich  die 
Geliebte.  Wie  er  noch  die  Sterbegebete  sagt,  da  verwirrt  ihn  die 
Schönheit  der  Toten,  und  er  drückt  einen  Kuß  auf  ihren  Mund. 
Er  erweckt  sie  dadurch  für  einen  Augenblick  zum  Leben,  wäh- 
rend ihm  die  Sinne  schwinden.  Er  verfällt  in  eine  längere 
Krankheit.  Nach  seiner  Gesundung  nimmt  er  sein  Amt  wieder 
auf  und  glaubt  schon  vor  jedem  Eingriff  in  sein  persönliches 
Leben  sicher  zu  sein,  da  erscheint  ihm  Clarimonde  in  all  ihrer 
Schönheit  und  reißt  ihn  wieder  in  den  Strudel  der  Empfindungen. 
Ich  habe  lange  auf  mich  warten  lassen,  so  spricht  sie  zu  ihm, 
und  du  hast  glauben  müssen,  ich  hätte  dich  vergessen.  Aber  ich 
komme  aus  rveiter  Ferne  und  ans  einem,  Ort,  von  dem  noch  nie- 
mand zurück  gehehrt  ist;  es  ist  iveder  Mond  noch  Sonne  in  dem 


190  Goethes  'Braut  von  Coriuth'  in  Frankreich 

Lande,  aus  dem  ich  hin,  iveder  Raum  noch  Schatten,  weder  Weg 
noch  Steg,  kein  Boden  für  die  Füße,  keine  Luft  für  Flügel,  und 
doch  bin  ich  hier,  denn  die  Liehe  ist  stärker  als  der  Tod,  und  sie 
wird  ihn  schließlich  ühertvinden.  Sie  möchte  ganz  ihm  angehö- 
ren und  ist  auf  Gott  eifersüchtig,  dem  seine  Liebe  mehr  gehöre 
als  ihr.  Da  läßt  er  sich  hinreißen,  sie  mit  der  Versicherung  zu 
trösten,  daß  er  sie  ebenso  liebe  wie  Gott.  Er  wolle  sie  begleiten 
als  ihr  erklärter  Liebhaber,  wohin  sie  ihn  führen  wolle.  Von 
dieser  Nacht  an  beginnt  für  ihn  ein  phantastisches  Doppelleben, 
das  eines  Priesters  und  das  eines  Lebemannes,  ohne  daß  er  weiß, 
wo  die  Wirklichkeit  anfinge  und  wo  der  Traum  endige.^  Drei 
Jahre  führt  er  dieses  Leben,  da  entdeckt  er  Clarimondes  Ge- 
heimnis, als  er  einst  den  Schlaftrunk,  den  sie  ihm  täglich  reicht, 
unbemerkt  verschüttet  hat.  Er  sieht,  während  sie  ihn  schlafend 
wähnt,  wie  sie  seinen  Arm  entblößt,  eine  Nadel  hineinstößt  und 
einen  Tropfen  Blut  aus  ihm  saugt,  indem  sie  leise  murmelt: 
'Schlafe,  mein  einziges  Glück.  Da  du  mich  noch  liebst,  darf  ich 
nicht  sterben;  ich  werde  dir  nicht  wehe  tun,  ich  werde  von  deinem 
Leben  nur  so  viel  nehmen,  als  ich  brauche,  um  das  meine  nicht 
verlöschen  zu  lassen.'  Nun  peinigen  ihn  noch  mehr  die  Qualen, 
die  sein  priesterliches  Gewissen  ihm  bereitet.  Ein  Amtsbruder 
rettet  ihn.  Er  führt  ihn  an  das  Grab  Clarimondes:  sie  öffnen  den 
Sarg  und  finden  die  Leiche  noch  unverwest.  Als  aber  der  Körper 
mit  Weihwasser  besprengt  ist,  zerfällt  er  in  Staub.  Jetzt  endlich 
ist  der  Priester  in  ihm  von  dem  Zusammenleben  mit  dem  vornehmen 
Edelmann  und  Geliebten  befreit.  Aber  der  Friede  seiner  Seele 
ist  teuer  erkauft:  noch  immer  sehnt  er  sich  nach  Clarimonde. 

Wenn  bei  dieser  phantastisch-wirren  Dichtung  Gautier  auch 
möglicherweise  von  Goethes  Balladenstoff  beeinflußt  worden  ist. 
so  muß  man  doch  die  Behauptung  desselben  Forschers  Yovano- 
vitch  (eines  Serben,  der  lange  in  Frankreich  gelebt  hat)  durch- 
aus ablehnen,  daß  diese  Einwirkung  auch  in  den  Versen  zu  spüren 
sei,  die  Les  Taches  jaunes  betitelt  sind.  In  diesem  lyrischen  Ge- 
dicht \väll  der  Dichter  nur  eines  toten  Liebchens  gedenken:  und 
indem  er  in  der  Nacht  auf  seinem  Körper  gelbliche  Flecken  beob- 
achtet, erinnert  er  sich  des  Volksglaubens  an  Vampire  und  fragt 
sich,  ob  die  jung  Verstorbene  ihm  etr^'-a  die  Küsse  erstattet  habe, 
die  sie  ihm  noch  schulde. 

Soulevant  de  ta  main  freie 

Lc  couverclc  du  cerciieü, 

Est-ce  toi,  dis,  pmivre  teile, 

Qui  la  nuit,  franchis  mon  seuil? 

1  ]\Ian  wird  an  Novalis  'Hymnen  an  die  Nacht'  erinnert: 
Ich  lebe  bei  Tage  Voll  Glauben  und  Mut 
Und  sterbe  die  Nächte        In  heiliger  Glut. 


Goethes  'Braut  von  Corinth'  in  Frankreich  191 

0  nio7i  amour  la  plus   iendre. 
De  ce  ciel  oü  je  te  crois, 
Reviendrais-tu  pour  me  rendre 
Les  haisers  que  tti  me  doisf 

Für  die  nachromantische  Zeit  gibt  Baldensperger  in  seinem 
Buche  'Goethe  en  France  (1904)  und  in  einer  Bibliographie  de 
Goethe  en  France  (1907)  an.  daß  ein  Gedicht  von  Leconte  de 
Lisle  Hypatie  et  Cyrille  aus  dem  Poemes  antiques  v.  J.  1852  und 
Julie  et  Trehor  von  Andre  Lefevre  aus  einer  Gedichtsammlung 
La  Flute  de  Fan  v.  J.  1863  von  Goethes  'Braut  von  Corinth'  an- 
geregt seien,  ohne,  wenigstens  von  der  letztgenannten  Dichtung, 
mehr  als  in  einem  Satz  darüber  zu  sagen,  daß  der  Konflikt  der 
beiden  Religionen  doi-t  entwickelt  werde.  Baldensperger  lenkt 
leider  mit  dieser  Literaturangabe  auf  e^ne  falsche  Fährte,  denn 
in  der  Sammlung  La  Flute  de  Pan,  die  mir  in  dankenswerter 
Weise  von  der  Straßburger  UniA-ersitäts-  und  Landesbibliothek 
(Cd  YII^)  geliehen  A^nirde,  findet  sich  kein  Gedicht,  das  den  Titel 
■Julie  et  Trebor'  führte.  Es  ist  ein  Dichter  (geb.  1834),  der,  wie 
alle  Parnassiens,  Goethe  kennt  und  zitiert,  der  auf  Griechenland 
als  unsere  Mutter  hinweist  und  das  Christentum  als  etwas  Poesie- 
feindliches und  Düsteres  anklagt.  Zur  'Braut  von  Corinth'  aber 
im  Speziellen  konnte  ich  keine  Beziehungen  unter  den  Dichtun- 
gen der  'Flute  de  Pan'  entdecken.^  Es  gibt  noch  eine  Gedicht- 
sammlung von  Andre  Lefevre:  La  Lyre  intime  (Paris  1864). 
Diese  habe  ich  bisher  noch  nicht  auftreiben  können. 

Ebensowenig  glaube  ich,  daß  Leconte  de  Lisles  Gedichte,  die 
den  HypatiastofP  behandeln,  aus  einer  Anregung  durch  die  Goethe- 
>che  Ballade  hervorgegangen  sei.  Die  Sammlung  der  Poemes 
(intiques  erschien  übrigens  in  demselben  Jahr,  in  dem  jenseits 
des  Kanals  Charles  Kingsley  mit  seinem  Roman  Hypatia  das 
Alexandria  des  5.  Jahrhunderts  mederauf leben  ließ  mit  der  neu-- 
platonischen  Philosophin  ITy]intia  als  der  Vertreterin  des  abster- 
benden griechischen  Heidentums  und  mit  dem  Bischof  Cyrillus. 
auf  dessen  Anstiften  die  fanatisierten  Massen  die  edle  Verkün- 
derin  der  alten  Götter  ermorden.  In  den  wundervoll  ziselierten 
Versen  des  Gedichts,  das  Hypatie  betitelt  ist,  7)rei.st  der  Dichter 
diese  Heldin,  deren  großes  Herz  das  Schicksal  der  besiegten  Göt- 

*  Im  Stoff  berührt  sich  mit  dem  Motiv  des  Vampirischen  Le  Lac 
Enchanfc  fS.  223—226).  Eine  Jungfrau  der  Luft  ist  zu  den  Söhnen  Kains 
herabgestiegen,  gesellt  sich  zu  den  Jünglingen,  um  selbst  einen  Körper  zu 
erhalten.  Vergeblich.  Sie  zerfließt  immer  in  Luft.  Da  sucht  sie  ein  Erz- 
gießer, von  Begierde  erfüllt,  in  eine  Form  zu  gießen,  an  Stelle  einer  Frau 
entsteht  eine  Göttin.  Die  Menschen,  die  ihr  opfern,  werden  von  unersätt- 
licher Begier  gepackt:  La  rage  les  dechire  et  non  pas  le  remords;  d'un  ceil 
fascinatcur  eile  guettc  sa  proie.  Dans  tont  lionime  qui  passe  eile  espdre  un 
amant.  Elle  sourit  ä  sa  victime  et  Ventratne  au  fond  de  Vabime  pour 
l'aimer  iternellement. 


192  Goethes  'Braut  von  Corintb'  iu  Frankreich 

ter  teilen  wollte  und  sie  vor  Schniäliungen  schützte,  die,  als  das 
Unwetter  die  Welt  des  Glaubens  ihrer  Ahnen  zum  Wanken 
brachte,  den  hehren  Olympbewohnern  in  die  Verbannung  folgte 
wie  Antigone  dem  ödipus,  um  sie  mit  ewiger  Liebe  zu  umhüllen: 
im  Herzen  des  Poeten  solle  sie  weiterleben  und  den  Hymnus  der 
heiligen  Schönheit  singen. 

L'homvie  en  son  cours  fotigueux  t'a  frappee  et   maudite, 

Mais  tu  tomlas  plus  grande!  Et  maintenant  helas! 

Le  Souffle  de  Piaton  et  Ic  corps  d' Aphrodite 

Sont  partis   ä   jamais  pour  les   heaux  cieux  d' Hellas! 

Dors,  6  blanche  victime,  en  notre  äme  profondc, 

Dans  ton  linceul  de  vierge  et  ceinte  de  lotos; 

Dors!    l'impure  luideur  est  la  reine  du  monde, 

Et  nous  avons  perdu  le  chemin  de  Faros. 

Der  Dichter  hat  den  Stoff  noch  einmal  aufgenommen  in  einem 
dramatischen  Gespräch  Hypatie  et  Cyrille.  Die  Szene  spielt  un- 
mittelbar vor  der  Ermordung  Hypatias,  und  Cyrillus  will  sie 
retten,  indem  er  sie  bekehrt.  Beide  Anschauungen  werden  mit 
den  glänzendsten  Waffen  des  Geistes  verteidigt.  Den  sieges- 
gewissen Worten  des  Bischofs,  daß  ihre  Götter  im  Staube  vor 
dem  siegreichen  Christentum  lägen,  antwortet  sie  stolz  beschei- 
den: 'In  meinem  Herzen  leben  sie.' 

Tes  Dieux  sont  en  poussiere  aux  pieds  du  Christ  iminqueur! 

Ne  le  crois  pas,  Cyrille!     II  vivent  dans  mon  ccßur  . . . 

Tels  sont  mes  Dieux!    Qu'tm  si^cle  ingrat  s'ecarte  d'eux. 

Je  ne  les  puis  trahir  puisqu'ils  sont  malheureüx. 

Die  Gesinnung  in  beiden  Gedichten  ist  sicherlich  dem  Ideen- 
kreis verwandt,  der  in  der  Goetheschen  Ballade  mächtig  ist.  Aber 
Leconte  de  Lisle  hat  sie  auch  sonst  häufig  ausgesprochen,  nicht 
selten  in  weit  schärferer  Tonart  und  weit  radikaler,  als  es  wohl 
Goethe  genehm  gewesen  wäre.  So  sagt  er  in  der  Vorrede  zu 
seinen  Poemes  et  Poesies  1855:  C'est  dans  ses  creations  intellec- 
tuelles  et  morales  quil  faut  constater  la  puissance  de  la  poesie 
grecque.  Or  les  deux  epopees  ioniennes,  le  Promethee,  VCEdipe, 
V Antigone,  la  Phedre,  contiennent  ä  mon  sens,  ce  qui  sera  eter- 
nellement  donnc  ä  Vesprit  humain  de  sentir  et  de  rendre  . . .  Les 
figures  ideales,  typiqiies,  que  celui-ci  a  congues,  ne  seront  jamais 
ni  surpassees  ni  oubliees.  Elle  ne  pourront  qiietre  reproduites 
avec  des  attenuations  necessaires.    Depuis  il  ny  a  rien  d'egal. 

Um  von  'Hypatia'  zu  der  'Braut  von  Corinth'  eine  Brücke  zu 
schlagen,  genügte  doch  wohl  nicht  das  Motiv  des  tragischen  Ge- 
gensatzes zwischen  dem  absterbenden  Heidentum  und  dem  auf- 
kommenden Christentum  und  die  Parteinahme  für  die  Besiegten. 
Es  müßte  dann  noch  mindestens  hinzukommen,  daß  dieser  Kon- 
trast in  die  Erscheinung  bei  zwei  Liebenden  tritt,  die  in  die  Tra,gik 
des  Konflikts  hineingerissen  werden. 


Goethes  'Braut  von  Coriiith'  in  Frankreich  193 

Dies  aber  ist  der  Fall  bei  einem  bedeutenden  Kunstwerk,  das 
unzweifelhaft  unter  der  Anregung  von  Goethes  Ballade  entstan- 
den ist,  dem  dramatischen  Gedicht  von  Anatole  France  Les 
Xoces  Corinthiennes}  Diese  Dichtung  ist  1876  entstanden,  also 
zu  einer  Zeit,  wo  sich  der  etwa  30jährige  Dichter  Anatole  France 
als  Bewunderer  Leconte  de  Lisles  und  Verehrer  der  Schönheit  des 
plastischen  Verses  unter  die  Parnassiens  eingereiht  hatte,  und  zu 
einer  Zeit,  wo  Ernest  Renan  schon  den  größten  Teil  seiner  Ori- 
gines  du  christianisme  hatte  erscheinen  lassen. 

Das,  w^as  Goethe  in  den  Stoff  hineingebracht  hatte,  nämlich 
den  Kampf  zweier  Weltanschauungen,  der  heidnischen  Sinnen- 
freude und  des  christlichen  Jenseitsgedankens  oder  im  weiteren 
Sinne  den  Zusammenstoß  der  berechtigten  Ansprüche  der  iSTatur 
mit  den  beschränkten  Satzungen  der  Menschen,  das  war  hier  bei 
dem  Franzosen  auf  ein  fruchtbares  Erdreich  gefallen  und  hat' 
eine  schöne  Blüte  hervorgebracht.  Was  indes  Goethe  in  dem 
Stoffe  vorfand,  das  Phantastisch-Schauerliche,  das  Geheimnis- 
voll-Vampirische, w^ar  nicht  zum  Keimen  gekommen.  Ein  schar- 
fer Wind,  der  aus  lateinischer  Richtung  blies,  scheint  dieses 
Samenkorn  weggeweht  zu  haben. 

Bei  der  großen  Ausdehnung,  die  Anatole  France  seinem  Werke 
gab  —  es  sind  drei  Akte  eines  Dramas  — ,  konnt-e  er  die  Vor- 
geschichte der  Goetheschen  Ballade  in  einer  Handlung  vorführen 
und  viele  Einzelheiten  motivieren,  wo  der  deutsche  Dichter  dem 
Balladencharakter  gemäß  der  Phantasie  des  Lesers  die  Erklä- 
rung überlassen  hat.  Eine  kurze  Inhaltsangabe  möge  dies  ver- 
anschaulichen. 

Daphne.  die  Tochter  des  braven  Winzers  Hermas  von  Co- 
rinth.  ist  unter  dem  Einfluß  ihrer  Mutter  und  des  edlen  Bischofs 
Theognis  Christin  geworden,  aber  ihrem  Geliebten  Hippias,  trotz- 
dem dieser  dem  alten  Götterglauben  anhängt,  treu  geblieben.  Eben 
als  er  auf  eiliger  Fahrt  durch  Corinth  gekommen  ist  und  gelobt  hat. 
sie  spät-er  als  Gattin  heimzuführen,  hat  sie  ihm  noch  den  Schwur 
twiger  Liebe  erneuert.  Da  eröffnet  ihr  Kallista.  die  Mutter,  die 
seit  langem  krank  ist  und  auf  einer  Bahre  hereingetragen  wird, 
den  Entschluß,  sie  Christus  als  Xonne  zu  weihen,  wenn  das  Wun- 
der der  Heilung  sich  an  ihr  vollzöge.  Trotz  der  rührendsten  Ein- 
wendungen der  Tochter  tut  sie  das  Gelübde,  ja,  sie  gerät  über 
diesen  Widersp'ruch  in  solche  Aufregung,  daß  sie  wie  tot  zu 
Boden  sinkt.  Voll  Angst  um  das  Leben  der  Mutter  unterwirft 
sich  Daphne  dem  Verlangen,  allem  Tridischen   zu  entsagen.     So 

^  Ein  anderes  Drama  desselben  Stoffkreises.  La  Fiahcee  de  Corinthe  von 
E.  Mikhael  und  B.  Lazare  (Paris,  1888),  auf  da.s  mich  Max  Herrmann  auf- 
merksam machte,  ist  im  Buchhandel  vergfriffen  und  war  auf  keiner  deut- 
schen Bibliothek  aufzutreiben. 


194  Goethes  'Braut  von  Corinth'  in  Frankreich 

weit  führt  uns  der  erste  Akt;  der  zweite  bringt  Hippias  wieder 
nach  Corinth,  von  wo  er  unter  dem  Schutze  von  Artemis  und 
Aphrodite  die  Greliebte  nach  der  Heimat  führen  will.  Freudig 
heißt  Hermas  ihn  als  seinen  zukünftigen  Eidam  willkommen; 
sieht  er  in  ihm  doch  einen  verständigen,  tatkräftigen  Jüngling, 
der  auch  die  alten  Bräuche  ehrt.  Er  verheimlicht  ihm  indes  nicht 
die  Veränderung,  die  mit  seiner  Braut  geschehen  ist:  sie  scheine 
ihm  von  einem  Dämon  geschüttelt  und  stehe  unter  dem  Einfluß 
des  galiläischen,  den  Gatten  und  Hochzeitsgesängen  feindseligen 
Gottes.  Der  Jüngling  begibt  sich  zur  Ruhe  und  tröstet  sich  vor 
dem  Einschlafen  mit  dem  Gedanken,  daß  der  galiläische  Gott, 
dem  er  doch  nichts  zuleide  getan  habe,  ihn  auch  nicht  hassen 
könne.  Während  seines  Schlafes  erscheint  Daphue,  die,  bevor 
sie  für  immer  die  Klosterzelle  betritt,  in  der  Stille  der  Nacht  die 
alten  geliebten  Stätten  ihrer  Jugend  aufsuchen  will.  Hippias 
erwacht  und  glaubt,  sie  sei  von  einem  Gott  ihm  gesandt.  Daphne 
kämpft  mit  sich,  bittet  ihn,  sie  zu  meiden:  er  aber  versteht  ihre 
Angst  nicht  und  hört  erst  jetzt  von  dem  Gelübde,  dem  die  Ge- 
liebte sich  opfern  will.  Vor  seinen  glühenden  Worten  kann  sie 
sich  nicht  retten,  die  Wogen  ihrer  Empfindung  schlagen  über  ihr 
zusammen,  und  sie  ist  bereit,  ihm  in  seine  Heimat  zu  folgen;  sie 
wollen  sich  der  Mutter  zu  Füßen  werfen  und  ihr  Mitleid  erregen. 
Da  tritt  Kallista  mit  einer  Lampe  herein,  in  dem  Glauben,  eine 
Sklavin  im  Zimmer  des  heidnischen  Gastes  zu  finden:  unter 
Verwünschungen  jagt  sie  ihn  aus  dem  Hause. 

Aber  Daphne  trägt  der  Amme  auf,  ihm  nachzueilen  und  ihm 
zu  sagen,  er  solle  sich  bei  Einbruch  der  nächsten  Nacht  im  Grab- 
gewölbe ihrer  Ahnen  einfinden.  Dort  trifi^t  sie  ihn  —  das  ist  der 
dritte  Teil  des  Dramas.  Er  will  sie  gleich  auf  ein  Schiff  mit- 
nehmen, fügt  sich  aber  ihrem  Wunsche,  erst  von  dem  mitgebrach- 
ten Brot,  Salz  und  Wein,  dem  Hochzeitsmahl,  zu  genießen.  In 
ihren  Wein  hat  sie  Gift  gegossen,  da  sie  weder  dem  Gott  noch 
dem  Freund  untreu  werden  will.  Sie  stirbt  in  seinen  Armen,  da  der 
edle  Bischof  Theognis  zu  spät  kommt,  um  das  Gelübde  der  Mutter 
zu  lösen.  Hippias  aber  will  zusammen  mit  der  Leiche  der  Ge- 
liebten auf  einen  Scheiterhaufen  zu  den  alten  Göttern  auffliegen.' 

Man  sieht,  nicht  nur  die  andere  Form,  die  dramatische,  hat 
das  Gespenstische  aus  dem  Stoff  hinausgewiesen,  sondern  auch 
der  anders  gerichtete  Geist,  der  ihn  aufgenommen  hat.  So  ist 
OS  kein  Problem  mehr,  ob  man  es  mit  einem  Lebenden  oder  einer 
Toten  zu  tun  hat.  ausdrücklich  ist  das  Kloster  dem  Grabe  gleich- 
gesetzt: Daphne  motiviert  ihr  Erscheinen  im  Schlafgemach  des 
Hippins  in  einem  Monolog  mit  den  Worten: 

Puisqu'ü  me  faut  vivante  abandonner  la  vie, 
Je  saluerai  ce  monde  ä  qui  je  suis  ravie. 


Goethes  'Braut  von  Corinth'  in  Frankreich  195 

Diese  lateinische  Klarheit  geht  unserem  Empfinden  für  Poesie 
sogar  zu  weit,  wenn  der  Dichter  die  sterbende  Daphne  in  der  letz- 
ten Szene  sagen  läßt: 

Sachez  par  moi  comhien  l'amour  a  du  pouvoir, 
Retenez  ce  qu'helas!    je  vous  donne  de  voir, 
Et  contez  mon  malheur  pour  que  jamais  les  meres 
*       N'ohligent  leurs  enfants  ä  des  noces  am^res. 

Ebensowenig  wird  einem  aufmerksamen  Leser  die  eigentümliche 
Verschiedenheit  des  Standpunktes  entgehen,  den  Goethe  und  Ana- 
tole  France  gegenüber  den  streitenden  Weltanschauungen  des 
Götter-  und  Christenglaubens  einnehmen.  Daß  der  deutsche  Dich- 
ter ganz  entschieden  auf  der  Seite  des  antiken  Heidentums  steht, 
ist  unzweifelhaft.  Bei  dem  Franzosen  ist  zwar  die  Teilnahme  an  ' 
dem  Geschick  der  Liebenden,  das  ihnen  der  Fanatismus  des  neuen 
Glaubens  bereitet,  durchaus  fühlbar,  aber  doch  ist  seine  nachsich- 
tige Liebe  auch  den  Anschauungen  der  Christen  in  seinem  Drama 
gewidmet.  Der  Bischof  Theognis  ist  als  ein  milder  und  weit- 
herziger Mann  dargestellt,  der  Daphne  zur  Braut  Christi  nur 
segnen  will,  wenn  sie  sich  freudig  hingibt,  und  der  das  Gelübde 
der  Mutter  löst  und  sie  dem  Geliebten  antraut,  als  er  wahrnimmt, 
daß  eine  irdische  Leidenschaft  in  ihrem  Herzen  wohnt.  Ja,  selbst 
Kallista  ist  von  einem  alles  A^erstehenden  und  somit  alles  ver- 
zeihenden Dichter  gezeichnet.  Hir  Fanatismus  hat  sie  blind  ge- 
macht, aber  ihr  Glaube  hebt  sie  sittlich.  So  läßt  der  Dichter  sie 
in  der  letzten  Szene  ihre  fromme  Ergebenheit,  die  doch  auch  etwas 
Großes  hat,  bezeugen: 

Je  suis  m^re,  et  mon  coBur  est  percS  d'une  epee. 

£claire-moi,  mon  Bleu,  si  je  me  suis  trompee; 

Punis-moi,  mon  Seigneur,  si  j'ai  failli  . .  . 

Tu  m'as  pris  mon  enfant:  que  ta  main  soit  Mnie. 

Die  Seele  des  Dichters  ist  heidnisch  und  christlich  zugleich  oder, 
wenn  man  will,  weder  das  eine  noch  das  andere.  So  ist  es  viel- 
leicht schon  zuviel  gesagt,  wenn  man  das  Wort  'Teilnahme'  ge- 
braucht. Dieser  Dichter  ist  weniger  mit  seinem  Gemüte  als  mit 
seinem  philosophischen  Denken  bei  der  Betrachtung  der  Leiden- 
schaften, die  uns  Glück  und  Leid  bringen,  beteiligt.  So  ist  er  ohne 
Zorn  und  ohne  Feindschaft.  —  Die  Eigentümlichkeit  seiner 
Skepsis  besteht  darin,  daß  er  alles  glaubt,  weil  er  nichts  glaubt, 
oder  weil  er  alles  für  möglich  hält.  Daher  ist  es  wohl  charakte- 
ristisch für  den  Dichter,  wenn  er  den  Heiden  Hippias  sagen 
läßt  a  3): 

Et  je  crois,  aar  mon  coeur  est  ni  leger  ni  vain, 
Qu'en  Jesus,  roi  des  Juifs,  qtielque  chose  est  divin. 

Wie  prägt  sich  die  kindlich«  Sicherheit  derer  aus,  die  in  ihrer  Ge- 
wöhnung, die  Natur  ringsumher  mit  Gottheiten  zu  bevölkern,  in 
Christus  weiter  nichts  als  einen  jungen  Rivalen  der  alten  im  Be- 


UH)  Goethes  'Braut  von  Coriuth"  in  Frankreich 

?^itz  befindlichen  Götter  sehen!  So  tröstet  sich  Hippias,  als  ihni 
die  Gefahr  droht,  das  Mädchen  zu  verlieren,  mit  dem  Gedanken, 
daß  er  jenem  jungen  Unsterblichen  doch  nie  etwas  zuleide  getan 
habe:  11  ne  peut  me  hau:  je  ne  le  comiais  pas  (II,  7).  Bei  Goethe 
kommt  es  nie  dazu,  daß  der  der  alten  Religion  noch  treue  Jüng- 
ling über  die  neuen  Vorstellungen,  die  das  Christentum  in  die 
Welt  gebracht  hat,  seine  YerwTinderung  ausspräche.  Er  redet  als 
Hellene  von  Bacchus,  Ceres,  Amor,  von  den  frohen  Göttern,  aber 
er  hat  in  der  Ballade  nicht  die  Gelegenheit,  seine  Stellung  gegen- 
über den  Xazarenern,  um  mich  eines  heidnischen  Ausdrucks  zu 
bedienen,  darzutun;  das  wäre  ja  auch  unkünstlerisch  gewesen.  In 
dem  dramatischen  Gedicht  ^les  Franzosen  legen  sich  die  Heiden 
Hermes  und  Hippias  jede  Abweichung  von  ihrer  frohen  Lebens- 
anschauung in  naivster  Weise  so  aus,  daß  ein  Gott  oder  ein  Dämon 
in  der  Seele  des  anderen  mächtig  sei,  der  ihren  Verstand  verwirre. 
So  behauptet  bald  der  eine,  bald  der  andere  von  Daphiie  oder  von 
Kallista: 

Peut-itre  nn  Dietc  agite  et  trouble  ta  raison  (II.  4) , 

oder  es  klagt  Hermas  von  seiner  Tochter: 

Un  demon  est  en  eile  et  dompte  son  eher  ccBur  (II,  6). 

Und  Hippias  kann  sich  ihr  verändertes  Wesen  nicht  anders  erklä- 
ren, als  daß  er  meint: 

Certes,  un  Dieu  faveugle  ä  qui  ta  main  n'offrit 
Ni  vin  pur,  ni  gateaux  de  miel  et  de  farine  (II,  7). 

So  ergibt  sich  in  dem  französischen  Drama  mannigfach  eine 
Vermischung  heidnischer  und  christlicher  Vorstellungen,  wie  sie 
der  Dichter  später  noch  virtuoser  in  seinem  Roman  'Thai's',  na- 
mentlich in  der  Darstellung  des  Banketts  vorgeführt  hat.  Schon 
im  ersten  Akt,  wo  Hippias  die  Geliebte  bittet,  sie  solle  Hesperos 
anrufen,  daß  er  ihm  eine  glückliche  Fahrt  gewähre.  Sie  aber,  die 
Christin,  deren  Phantasie  indes  noch  angefüllt  ist  mit  den  alten 
Göttern,  antwortet,  sie  werde  Jesus  anrufen,  der  auf  dem  Meere 
wandelte,  worauf  er  etwas  erschreckt  mahnt: 

Ma  DapJin4,  gardons  nous  des  paroles  Ug^res, 
N'invoguons  point  les  Dieux  des  races  Mrang^res, 
Gar  la  terre  natale  et  nos  hois  et  nos  cieux 
Sont  encore  palpitants  du  souffle  de  nos  Dieüx. 
Wegen  seines  Todes  setzt  er  den  neuen  Gott  dem  Adonis  gleich, 
den  Aphrodite  beweint,  oder  er  nennt  ihn  Hermes: 

parce  qu'il  a  conduit 
Le  peuple  vain  des  morts  par  les  champs  de  la  Nuit. 
Wie  sehr  indes  trotz  dieser  Nuancen  in  der  Auffassung  des 
Ganzen  Anatole  France  unter  dem  Banne  des  Goetheschen  Kunst- 
werkes gestanden  hat,  das  beweisen  nicht  wenige  Entlehnungen 
einzelner  Ausdrücke  und  Wendungen  oder  Motive,  von  denen 
die  ursprüngliche  Quelle  nichts  hat.     Wir  beschränken  uns  nur 


Goethes  'Braut  von  Corinth"  in  Frankreich  197 

'    auf  wenige  Zeugnisse:  'der  alten  Götter  bunt  Gewimmel'  finden 
wir  wieder  in  der  Zeile 

S'ü  est  vrai  qu'ä  la  voix  l'essaim  des  Dicux  s'envole, 

\    wir  vernehmen  ein  Echo  der  Verse  61 — 63: 

Opfer  fallen  hier       Weder  Lamm  noch  Stier, 
Aber  Mcnsclienopfer  unerhört 

in  den  Worten  Kallistas  (I,  4) ; 

Je  ne  lui  promets  pas  de  sanglante  victime, 
Tu  recevras,  ö  Christ,  mon  holocauste  intime. 

Was  die  Braut  bei  Goethe  sagt  (171/73): 
Doch  kein  Gott  erhört, 
Wejiji  die  Mutter  schwört, 
Zu  versagen  ihrer  Tochter  Hand 

ist  hier  dem  das  Mädchen  tröstenden  Hippias  in  den  Mund  ge- 
legt (IL  2): 

Non,  Daphne,  les  Dieux  hons  n'ecoutent  pas  la  mdre 

Qui  defend  que  sa  fille  ä  l'epoux  sovhaifS 

Apporte  le  tresor  de  sa  virginite. 

Und  ebenso  muß  hier  Hippias  die  Worte  sprechen,  die  ganz  an  die 
Bitte,  die  bei  Goethe  die  Tochter  an  die  Mutter  richtet,  anklingen, 
und  mit  denen  beide  Dichtungen  sehließen.  In  der  deutschen  Bal- 
lade heißt  es: 

Einen  Scheiterhaufen  schichte  du! 

öffne  meine  hange,  kleine  Hütte, 

Bring'  in  Flammen  Liebende  zur  Ruh.' 

Wenn  der  Funke  sprüht, 

Wenn  die  Asche  glüht, 

Eilen  wir  den  alten  Göttern  zu. 

Bei  Anatole  France  gelobt  Hippias: 

J'aiattrai  les  grands  pins  et  les  chenes  des  bois, 
Afin  qti'un  seul  bücher  nous  consume  ä  la  fois; 
Et  confies  tous  deux  ä  la  flamme  brillante 
Dans  un  nieme  reseau  de  fidMe  amia7ite 
Nous  nous  envolerons,  loin  d'un  monde  odieux, 
Sur  Vetincelle  auguste,  au  sein  profond  des  Dieux. 

Goethe  hat  nicht  selten  und,  wie  es  scheint,  auch  gern  darauf 
hingewiesen,  daß  er  den  Franzosen  'einen  großen  Teil  seiner  eige- 
nen Bildung  verdanke'  (Eckermann  14.  März  1830;  24.  iSTovember 
1824:  1.  Juni  1826).  Er  hat  es  ihnen  reichlich  zurückgezahlt. 
Die  Wirkung,  die  von  ihm  auf  Frankreich  ausging,  ist  noch  bei 
weitem  nachhaltiger  und  stärker  gewesen.  Hier,  iii  den  'Noces 
'  orinthiennes',  haben  wir  es  mit  einem  Dichter  zu  tun,  der  sich 
Ireudig  und  aufrichtig  auf  einen  Meister  beruft,  der  aber  die  ur- 
sprüngliche Bestimmtheit  seines  Ichs  und  seiner  nationalen  Tradi- 
tion wohl  zu  bewahren  weiß. 

Berlin-Lichterfelde.  Felix  Rosenberg. 


Zur 
Interpretation  von  I.  Creangä's  Harap  Alb. 

(Schluß.) 

Seite  44.  8  fehlt  §i:  'selbst'.  —  9  fäcind  a§a  de  frumn§eh 
'was  für  schöne  Gesichter  er  macht'?  ('es',  wie  W.  übersetzt, 
müßte  wohl  durch  o  ausgedrückt  sein)  vgl,  a  face  urtt  Gl.  s.  v. 
strop^esc  ('ein  unfreundliches  Gesicht  machen'?).  —  13  m'a  fi 
n§teptind:  richtig  47  lo  (auch  Gr  §  112,  1).   —    16  vomice\  s.  oben 

10  28.  —  20  v'a  w.^it  un  sfint  din  gui'ä:  passender  'ihr  habt  da 
ein  goldenes  Wort  gesprochen'.  —  25  gene:  'Augenwimpern';  übri- 
gens hat  ja  Ochilä  ein  einziges  Auge!  —  32  tata  flämtnzüor: 
warum  nicht  'Vater  der  Hungrigen'?  vgl.  Gr  Übung  56.  —  33 
cä:  wohl  'daß'.  —  Seite  45.  4  impäräfie:  s.  oben  15  22.  —  6  din 
jjartea  mea:  vgl.  oben  632.  —  9  s'a  hotärft:  meine  Gewährsmänner 
beziehen  es  zum  Subjekt  Luminarea  Sa  (vgl.  44  is).!  —  Ebenda 
rndeseascä:  passender  'fleißig  {des  'häufig')  servieren  zu  lassen'.  — 

11  dfi-T  cu  ciristea:  es  handelt  sich  nicht  um  das  den  bewirteten 
'Leuten'  gemachte  Präsent;  dä-i  ist  das  von  Tiktin  I  501b  oben 
verzeichnete  allgemeine  Adhortativum,  'los  darauf  (neugriech.  66c, 
tov:  n'epLElg  6.  t.  yiloia  'et  nous  de  rire'),  also  hier  etwa  'frisch 
gezecht';  der  zwischen  cinste  und  rm^ine  in  anderer  Bedeutung 
('Ehre'  —  'Schmach')  obwaltende  Gegensatz  dient  als  Wortwitz.  — 
17  v'aü  mas  .^oarecü  in  pintece:  feststehende  Redensart  der  Bedeu- 
tung 'Wolfshunger  haben'  (Tiktin  II  986  a-b,  G.  II  97  8,  id.  Pm  43 15, 
Gl  s.  V.  masul).  —  18  u.  21:  der  Parallelismus  der  beiden  numat  de 
hätte  gewahrt  werden  können.  —  23  cu  mine:  ist  nicht  ausgedrückt 
('werdet  ihr  mit  mir  Unannehmlichkeitenhaben',vgl.EG  669; 'schlecht 
ankommen'  Gar.  Mom.  24Sii).  —  30  las'  dacä:  hätte  etwa  einer  An- 
merkung bedm-ft,  =  'warte  nur  [ruhig]  zu,  ob';  andere  Belege  Cr 
87  3,  100  23  f.,  154 1,  156  24.  —  33  tnghifea  noduri:  'ärgerte  sich  im 
stillen',  wo  das  bei  verhaltener  Gemütserregung  reflexiv  eintretende 
gewaltsame  Schlucken  gemeint  ist  (Cr  127  29,  171 10,  268  5;  vgl.  AI. 
556,  G.  in  146  26,  MnT  68 is);  davon  ist  merklich  verschieden  'eine 
Pille  verschlucken'  =  'eine  bestimmte  Unbill  schweigend  ertragen', 
was  a  inghiti  gälu.fca  (Cr  116 19,  AI.  1079  oben,  Mor.  473)  oder  gu- 
tma  (mit  Artikel!)  heißt.  —  31  nu  ne  prea  pimem:  der  Konstruktion 
mit  cu  dürfte  eine  Bedeutung  wie  'wetteifern'  entsprechen,  vgl.  Tiktin 
III  1280  a  sub  b  'sich  auf  e.  Kampf,  Disput  einlassen'  (cf.  AI.  499, 
1532,  Sad.  Dur.  15223).  —  Seite  46.  2  In  casä:  'ins  Haus' (verschieden 
acasn\).  —  3  fehlt  tn  sftrsit:  vgl.  oben  26  7.  —  4  mlov/fe:  speziell 

'  Gauz  derselbe  Fall  Cr  19729. 


Zur  Interpretation  von  I.  Creangä's  Harap  Alb  199 

'Färsen'.  —  5  cum:  'so  wie,  wenn'.  —  6  steclesc:  stecU  (sti-)  ist  ganz 
allgemein  {nh.  stmluci)  der  eigentliche  Terminus  für  'glänzen',  objektiv 
'erglänzen  lassen',  z.  B.  banii  intre  degete,  ochÜ  ('mit  den  Augen 
blitzen');  von  Augen  heißt  reflexives  stidi  'sich  heften'  {catre  )imlul 
drept  cd  vdl celei  Odohescu,  Op.  compl.  ed.  'Minerva'  1906,  I  90  unt.), 
dementsprechend  (ockif)  sticliM  (z.  B.  pe  cer,  la  steh  Ispir.  Leg. 
359  3o)  'starr  geheftet';  sonst  'starr'  vom  BHck  (in  Leidenschaft, 
schwerem  Rausch,  Wahnsinn,  Tod)  =  sticlos  (in  der  Bedeutung  'glän- 
zend' bei  EG.  47  6,  662)  oder  ca  de  sticla.  —  7  bolborosi:  'un- 
deutlich oder  verworren  sprechen',  vgl.  Cr  74.5,  AI.  179,  Nuv. 
um.  60  21  ('radebrechen':  mühsam  und  fehlerhaft),  horhorosealä  Mor. 
75  21.  —  8  fehlt  mOcar:  'auch  nur'.  —  11  sä  nu  vä  pioiefi  mi)i- 
tea  usw.:  Erklärungen  der  Redensart  geben  Tiktin  II  988 b,  Zanne 
VII  No.  16173,  indessen  genügt  keine  der  Gesamtheit  der  Be- 
lege: vielleicht  etwa  'jmd,  etwas  anhaben,  zusetzen,  sich  mitjmd.  ein- 
lassen, sich  über  jmd.  hermachen'?  S.  (außer  00.  cc.)  Cr  44  17,  122  9, 
223  10',  Ispir.  Leg.  382 11,  MnT  300  17,  Sima  in  BTr  VII2  9i6,  wohl 
iileichbedeutend  a-i}i  prinde  m.  cu  cn.  Märg.  in  BTr  XXXI  159.  — 
\'2  al  vosU'U  fe  dracul:  enthält  nichts  von  einer  (ironischen)  Besorgnis; 
es  droht  mit  Tätlichkeiten,  etwa  nur  'es  ergeht  euch  schlecht'  (Be- 
lege Cr  109  23,  Adam  77  25).  —  16  fehlt  doar:  'ja  doch'.  —  Ebenda 
tm  sagd:  schon  ganz  verblaßt,  etwa  nur  'wahi'haftig',  vgl.  Cr  237  9; 
ebenso  /in  glumd  Cr  6630.  —  Ebenda  de:  besser  'halt'.  —  19  crtmpo- 
fit:  sowohl  nach  Gl  als  auch  nach  Tiktin  entspricht  'zerfetzt',  eigentl. 
'zerfleischt',,  vgl.  noch  Cr  167  4!  —  23  infulicat:  'verschluckt'  würde 
mit  dem  folgenden  forfdcat  'zerkaut'  (s.  hier  unter  24)  ein  vateQov 
jTodreooi^  bilden;  indessen  kann  sich  das  vielleicht  auch  anders  ver- 
halten, da  infulica  nicht  gerade  nur  'verschlucken'  bedeuten  muß, 
vgl.  Adam  72  20  Bäietanu  . . .  bifulicn  in  sjnnare  le.^id  capreT,  Grig. 
D.  h.  66  2i  cdpifa  de  fhi,  pp  eure  o  i/if/dicase  supt  coviltirul  ara- 
balet  ('aufladen'?).  —  24  forfdcat:  eigentlich  'mit  der  Schere  schnei- 
den', fig.  'nagen,  kauen',  vgl.  Cr  268  8.  —  26  sorbitiird:  'Schluck' 
(weniger  als  ein  'Zug',  der  doch  auch  lang  und  ausgiebig  sein  kann). 
—  Seite  47.  1  tocmrd:  hier  'bis',  wie  es  auch  zeitlich  'erst'  bzw. 
'bereits',  'noch'  zu  bedeuten  pflegt;  bei  dieser  Bedeutung  ergibt  sich 
ungezwungen  die  richtige  Beziehung  zu  auxind  (nach  der  Über- 
setzung zu  wse\)\  Beispiele  a)  lokal:  Cr  42  26,  253  20,  AI.  1576,  Grig. 
D.h.  185  16  se  intorceav  de  departe,  t.  din  Tarigrad,  195  10  venead 
credincwsi'T  t.  din  fundiil  färn  muscdlesii\  G.  Zt.  143  se  auxea  f.  la 
noi\  b)  temporal:  Cr  230  8,  AI.  1578  Cit  te-am  a^teptat!  De  ce 
n'a%  venit  . . .  t.  de  alaltmeri?  Grig.  D.  h.  173  is  t.  peste  alft  ctftva 
am  ...  am  puhd  sä  urmäresc  firul  povesteJi,  G.  III  47  27  t.  la 
urmn  'erst  ganz  zuletzt',  ibd.  51 15  Vom  fncepe  ceva  mat  de  departe, 
f.  ('noch')  de  pe  cdnd  aveam  virsta  de  sase  am  usw.  —  4  pe  capid 
tmeä:  richtig  (hier  noch  viel  notwendiger)  nach  der  Anm.  49  le.  — 


200  Zur  Interpretation  von  T.  Croangä's  Harap  Alb 

6  fehlt  si  'auch'.  —  7  fehlt  lar:  'wieder'.  —  9  treaba:  vgl.  oben 
40  32.  —  12  vomice:  vgl.  oben  10  28.  —  13  cam:  'ziemlich';  jedenfalls 
ist  mit  jumätate  nicht  das  Maß  des  Unwillens  angegeben,  s.  Anm. 
(dieselbe  Redensart  schon  9  20  f.).  —  13  fa:  s.  Kap.  II  unter  I20.  — 
Ebenda  fehlt  mai:  'noch'.  —  14  s'o  hiafi:  muß  genau  mit  2.  Plur. 
und  konsekutiv  übersetzt  werden,  'daß  ihr  sie  ...  nehmen  solltet'. 
^ —  15  fehlt  m:  'wohlan'.  —  18  .fi  (fehlt)  ceva  treaba:  'auch  einige 
Arbeit  (zu  leisten)',  in  aus-  und  nachdrücklichem  Gegensatz  zu 
mincat,  baut.  —  21  fehlt  fir  de  fir:  'ein  Körnchen  nach  dem  an- 
dern, jedes  K.  für  sich'.  —  21  f.  Nu  cumva:  'daß  ich  nicht  etwa'. 

—  26  intrebuinfat:  warum  nicht  'angewendet'?  —  28  t?'eaba:  vgl. 
oben  40  32.  —  29  cum  vor  §ti:  seil,  a  §i-l  bäte!  vgl.  Cr  135  9, 
205  27,  217  2G.  —  34  mäcar  cä  te:  siehe  oben  21 9.  —  Seite  48. 
1  firele:  'die  Körner';  Ochilä  spricht  von  den  Körnern,  wie  er  sie 
tatsächhch  vor  sich  sieht,  nicht  von  einer  theoretischen  Möghchkeit 
(die  entsprechende  Übersetzung  des  Nebensatzes  ist  eben  auch 
falsch).  —  2  fehlt  numa^:  'geradezu,  rein',  vgl.  Cr  220 13.  —  8  avea 
strtnsä:  siehe  Kap.  II.  —  12  pe  sub  pämfint:  'auf  unterirdischen 
Wegen'  ('aus  dem  Boden  heraus'  würde  de  s.  p.  lauten);  das 
Vb.  regens  ist  curge  Z.  10,  'kamen'  also  zuviel.  —  13  fehlt  d£: 
'so  daß'.  —  20  nu  alt-ceva:  s.  Kap.  LI.  —  21  cu  nepus  in 
masä:  s.  Kap.  II.  —  26  pafcä:  'schienen'  ist  hier  geradezu  wider- 
sinnig; 'als  ob'  (wie  4624),  'gleichsam'.  —  30  ma^  ^tiü  ie^?  'kann 
ich  es  etwa  wissen?  was  weiß  ich?'  —  32  m:  'wohlan'.  —  34 
se  duce:  'hingeht'  (nicht  'kommt'!).  —  Seite  49.  1  indeplinise 
...  porunca:  'Befehl  erfüllt'.  —  Ebenda  .sf  umple:   s.  unten  548. 

—  2  pricinä:  'Prozeßgrund',  a  cäuta  p.  c?iwa  'benörgeln',  cher- 
cher  quereile:  auch  Cr  62  25,  122  is,  377  u.  —  13  7tu-i  impärfi: 
s.  Kap.  n.  —  Ebenda  afv.  'habt  ihr'.  —  14  sä  träiit  (auch 
schon  47  8):  eine  schon  wesentlich  verblaßte  Höflichkeitsformel  ver- 
schiedenster Verwendung,  zum  Gmß,  zum  Dank,  zur  Belobung,  be- 
sonders aber  von  selten  Niedergestellter  (beim  Militär,  z.  B.  Beld. 
Ch.  19 15,  24 12:  t.  'zu  Befehl');  'zu  dienen'  (so  etwa  hier),  'mit' 
Verlaub',  'melde  gehorsamst'.  —  15  mai  multä:  hat  vollen  kom- 
parativen Sinn.  —  16  urgie:  hier  ganz  bestimmt  'Unheil',  vgl.  Cr 
112  5,  163  19.  —  20  fehlt  mäcar  'selbst',  cf.  21  28.  —  21  xmintifi: 
richtiger  'aufregt'  (wie  11 17).  —  22  v'a^X  dus  pe  copcä:  der  Kaiser 
könnte  kaum  verhöhnend  von  Falle  sprechen,  solange  sich  sein  Plan 
noch  nicht  bewährt  hat;  das  'Eisloch'  bezeichnet  eher  das  unheilbare 
Verderben,  dem  H.  A.  und  Genossen  im  Falle  eines  Mißerfolges 
verfallen;  zur  Rechtfertigung  des  Präteritums  von  zukünftiger  Hand- 
lung vgl.  40  22  (Gr  §  123,  2).  —  24  incurca^t:  besser  -verlegen 
(vgl.  523),  in  der  Klemme'.  —  25  fehlt  tncä:  'wieder  (auch)'.  — 
Ebenda  un:  'ein'.  —  26  ba  incä:  vgl.  oben  41 3.  —  27  sägeata 
de   noapte   si  drariil   rel   de  aymnxä'Kv.    eine   —   in    erster   Hälfte 


Zur  Interpretation  von  I.  Creangä's  Harap  Alb  201 

adaptierte  1  —  Reminiszenz  aus  Ps.  91  (90),  5-6.  —  28  nu:  'nicht 
mehr'  würde  allenfalls  auf  den  Kaiser  passen,  hier  ist  indessen 
dracul  Subjekt.  —  Seite  50.  3  a  draculm:  'die  verflixte',  als  Attribut. 

—  7  f.  la  iirma  let  kann  wohl  überhaupt  nicht  'nach  ihrer  Spur' 
heißen;  es  scheint  aber,  entsprechend  seiner  Stellung  zu  achice  allein 
bezogen,  eine  vernünftige  Deutung  zuzulassen:  'auf  den  von  ihrer 
Fußstapfe  bezeichneten  Fleck,  auf  ihren  ursprünglichen  Standort, 
(nach  Hause)  zurück'.  Vgl.  G.  II  84  (zweimal)  a  se  intoarce  la 
u.  sa.  —  10  str'imhi:  'umdrehen'  ('zudrücken'  hieße  strtngi).  — 
10  f.  sä  se  tnvefe  ea  de  altä  data:  wörtlich  —  wie  ich  glaube,  als 
Ironie  unmittelbar  verständlich  —  'daß  sie  es  lerne  (recte:  verlerne) 
ein  anderes  Mal  (Belege  von  de  a.  d.  s.  Rezension  S.  224  Anm.  2, 
auch  G.  II  12  3o)'  usw.  —  14  tn  dosid  pämtntului.  Da  mich 
W.s  Übersetzung  nicht  befriedigen  konnte,  erhielt  ich  von  Herrn 
T.  Pamfile  folgende  Erklärung:  Denkt  man  sich  die  Erde  (volks- 
tümlich) als  eine  auf  Wasser  (Weltmeer)  schwebende  Masse  (Scheibe), 
so  wäre  die  Ortslage  an  dem  gegen  das  Wasser  hinabfallenden 
Erdenrande  'hinter  der  Erde'.  —  Ebenda  siibt  timbtri  upureha: 
'unter  dem  Schatten  des  (nicht:  eines!)  Hüsen'  mag  schwerhch 
jemanden  so  völlig  befriedigen;  umbra  tepureha  wird  hier  — 
wie  die  weitere  Beziehung  auf  toate  buruTenele  Z.  11  noch  er- 
härtet —  ein  Pflanzenname  sein,  der  einer  Asparagusart  (s.  Z.  C. 
Pan^,  Plantele  cunosc.  pop.  Rom.,  1906).  —  18  xbr:  Interjektionen 
dieser  Art  (die  vorliegende  speziell  an  zbura  angelehnt),  die  eine 
Bewegung  symbolisieren,  ersetzen  gegebenenfalls  auch  schon  ein 
verbales  Prädikat  (vgl.  in  beiderlei  Hinsicht  xbr  usw.  Z.  23  f.);  daher 
war  einerseits  die  Ergänzung  eines  solchen  unnötig  (desgleichen  'flog 
sie'  Z.  23),  ist  anderseits  in  specie  unrichtig  ('war'  statt  'flog'  o.  ä.). 

—  24  fehlt  (erstes)  .fi:  'auch'.   —   Ebenda  toonat:  vgl.  oben  47  i. 

—  26  cäci:  war  in  der  weniger  üblichen  Bedeutung  (noch  Cr  51 22) 
besonders  zu  kommentieren;  vgl.  Tiktin  s.  v,  II,  DAc.  s.  v.  I  2").  — 
29  gäbine.^te:  'ergreift'  ist  zu  wenig,  wesentlich  ist  dabei  auch  das 
Finden;  also  etwa  'erwischt'  (vgl.  21 10,  Cr  7  i9,  43  8,  193  1).  —  33 
und  34  fehlt  uiilä:  'Gnade'.  —  34  wraT  sä  ?ie  dänm§ti:  'wollen' 
gehört  nicht  zum  eigentlichen  Inhalt  des  Ausdrucks  iera{)n)  sä,  der 
entweder  'es  war  bestimmt,  ich  sollte'  u.  dgl.  oder  'es  war  daran, 
daß'  besagt;  in  letzterer  Bedeutung  kann  er  okkasionell  mit  'ich 
wollte  gerade'  übersetzt  werden,  hier  genügt  einfaches  'du  hättest 
uns  . .  .  beschenkt'  (vgl.  51 12  'wäre  gewesen').  —  Seite  51.  2  ce 
le^ti:  wie  14  26  (Anm.).  —  Ebenda  am:  lieber  plurahsch,  da  Ochila 
seines  Gefährten,  der  die  Prinzessin  eben  erst  ergriffen,  nicht  ver- 
gessen dürfte.  —  3  {fräs  0)  durdwä:  besser  'geschwitzt'  —  vor 
Mühe  und  Sorge  (v.  Gl).  —  Ebenda  m ...  hat:  ersteres  wieder  nur 

1  Bei  Gaster,  Chrestom.  roum.  (1891)  I  286:  myaia  ce  xboarä  lixua. 

Archiv   f.  n.  Sprachen.     13y.  J4 


202  Zur  Interpretation  von  I.  Creangä's  Harap  Alb 

allgemein  auffordernd,  'wohlan',  während  erst  hat  die  Aufforderung 
als  auf  eine  Bewegung  abzielend  spezifiziert  ('nun  aber  lieber  vor- 
wärts' usw.);  dieses  möchte  ich  übrigens  als  einen  Befehl  an  die 
Prinzessin  auffassen  entsprechend  dem  Umstände,  daß  die  ganze 
Rede  eine  Auseinandersetzung  mit  ihr  ist  und  gerade  ihre  recht- 
zeitige Repatriierung  das  einzige  und  brennende  Interesse  des  Augen- 
blicks darstellt.  —  11  prisose-fte:  'in  Überfluß  vorhanden  ist'.  — 
12  amai'-.  mag  der  Wortfigur  zuliebe  mit  'unangenehm'  übersetzt 
sein;  indessen  soll  man  wissen,  daß  es  eigentlich  mit  va%  'wehe' 
synonym  ist  (daher  auch  va%  §i  a.).  —  18  sä-§i  %a  f.  pe  samä: 
'auf  sein  Konto,  in  Empfang  nehmen'.   —   21  fehlt  lar:  'wieder'. 

—  23  treaba:  s.  oben  4032.  —  26  tot:  'genau'  ist  zu  stark;  t.  un 
heißt  ohne  besonderen  Nachdruck  'derselbe'  (eigentlich  'immer  der 
eine'),  'gleich',  vgl.  totodatä  'zugleich'.  —  29  de  jje  capul  mieü: 
bezeichnet  Entfernung  aus  der  Lage  pe  c.  m.,  letztere  verstanden 
im  Sinne  von  47  4  (vgl.  auch  G.  Zt  116  unt,  id.  ni  114  8,  MnT 
270  unt),  also  —  stilistisch  trivialer  —  'mir  vom  Halse  weg';  ganz 
analog  stellt  sich  auch  der  andere  mir  bekannte  Fall  Cr  190  23 
i^a-l  de  pe  c.  m.).^   —    30   mcä  {ma  duc):  'siehe',  '(ich  gehe)  da'. 

—  31  dupä  mine:  mit  Rücksicht  auf  die  Situation  nicht  'hinter  mir 
her',  sondern  '(komme  dann)  mir  nach'.  —  ferice  ...  va  fi\  'wird 
dir  wohl  sein'  (gleich  subjektlos,  vgl.  z.B.  Cr  16 19).  —  Seite  52. 
3  in  tncurcalä:  'diese'  ist  da  zuviel.  —  5  fehlt  7nat:  'noch  weiter'. 

—  Ebenda  tulhiirat:  'erregt,  innerlich  bewegt'  (vgl.  Cr  45  6,  100  19, 
115  23,  245  22,  Negr.  444,  58 12,  Beld.  Ch.  106 10,  Vlah.  Nuv.  175  4). 

—  16  fehlt  §i:  'selbst'.  —  26  fehlt  odaiä:  'sofort'.  —  33  ovüit 
§i  sarbäd:  'matt  und  blaß'.  —  Seite  53.  10  fehlt  stäi:  'halte  an, 
warte  doch'.  —  13  f.  unde  se  bat  tniintn  usw.:  s.  weiter  unter 
Z.  ?A  t  —  21  pe  sus  ...  pe  jos:  instruktiv  AI.  486  {pe  Jos  'in 
geringer  Höhe').  —  23  fehlt  (das  erste)  mai:  Komparativ!  —  24  f. 
de  seodihjieaü  usw.:  'und  die  B.  auf  e.  einzigen  A.  ruhten'; 
W.s  Übersetzung  —  mit  dem  präsentischen  'zu  ruhen  scheinen  (!)' 

—  sieht  ganz  wie  eine  allgemein  gemeinte  Beobachtung  über  die 
'Mittagsruhe  der  Natur'  aus;  dahingegen  handelt  es  sich  ganz  offen- 
kundig (auch  schon  Z.  13  f.)  um  die  auch  sonst  (z.  B.  Ispir.  Leg.  126  f., 
Sb.  26 12,  56 12,  6435, 101 28)  den  Zugang  zum  Lebenswasser  u.dgl.  be- 
wachenden 'Symplegaden'.  —  25  se  i'epede:  'stürzt  sich  dazwischen' 
(nicht  'darauf').  —  29  0  m:. 'tritt  ihr  entgegen',  frz.  aborder  (mit 
Angabe  der  Behandlung:  cu  binele,  cu  bini§orul  Cr  7  26,  562,11, 
59  25,  cu  räul  Cr  56  10,  ck  mägulele  auch  Cr  74 19),  eigentlich  'her- 

1  Dahingegen  verdient  wohl  die  Angabe  Phil.  SL.  84  (!:;  15  des  III.  Kap.), 
es  hieße  'um  Gottes  willen'  (etwa  analog  zum  franz.  beteuernden  par  mon 
chefl),  mit  Rücksicht  auf  die  Umstände,  unter  denen  sie  gemacht  wurde  (in 
Polemik,  also  vielleicht  improvisierend,  in  gewisser  Hinsicht  unter  Suggestion 
der  widersprochcnen  Meinung),  keinen  unbedingten  Glauben. 


Zur  Interpretation  von  I.  Creangä's  Harap  Alb  203 

nehmen,  packen'.  —  30  adä:  verdiente  besondere  Anmerkung  als 
Imperativ  zu  da  (desgleichen  noch  Cr  46  2,  87  5),  vgl.  DAc.  I/l  49b; 
wohl  scheint  es  auf  solche  Fälle  beschränkt  zu  sein,  wo  eine  gebende 
Bewegung,  ein   'Hergeben'  vorliegt.   —   33   fehlt  hai:   Vohlan'. 

—  33  f.  nu  mal  sta  la  indoialä:  'zögere  doch  nicht'.  —  34  are 
sä  fie  bine:  'es  wird  wohl  stehen  (um  usw.)'  —  nämlich  deutlich 
subjektlos  (ganz  wie  vai  usw.  87,  15  32)  Tiktin  I  188b  sub  r}.  — 
Seite  54.  1  stäptnä  ta:  reiht  sich  bezüglich  des  artikellosen  Ver- 
haltens den  Gr  §  38  Anm.  1  angegebenen  Fällen  an.  —  3  n'are 
sä  fie  bine;  s.  oben  53  34.  —  6  cu  hapca:  nur  'mit  Gewalt'  (Sez. 
V  97,  Sad.  Instig.  103  le,  104 22).  —  8  s'a  umplut  {de  b.):  'erfüllte 
sich  (mit  Fr.)'.  —  9  ce-fi  ie  bunä?  Subjekt  ist  tm'tiaica;  es  ist 
nicht  notwendig,  bunä,  das  sonst  allerdings  mehrfach  neutral  ge- 
braucht wird  (vgl.  Tiktin  I  240  sub  IIb),  auf  ein  'es'  zu  beziehen; 
gleiche  Redensart  Cr  9  24,  41  21.  —  10  alei:  besser  '0  weh',  vgl. 
Phil.  SL  49  (§  55).    —    Ebenda  ce-mz  ie.ftt:   vgl.  die  Anm.  1425. 

—  vtndut:  'verraten';  vinde  ist  der  eigentliche  Terminus  für  den 
Begriff  (vgl.  madj.  el-ärulni),  für  den  sich  träda  als  Neologismus 
eingebürgert  hat:  vgl.  Negr.  17  25, 31,  3633,  408,  109  29,  Ispir.  Leg. 
2142,  Sad.  Instig'.  139i2,  id.  Ist.  20922,  G.  Zt  151  V.  14;  in  einer 
Kriegskorrespondenz  des  arader  'Romänul'  vom  12/25.  September 
1914:  Foc  a  face  ie  oprit,  cäci  ...  focul  ne  ar  vinde  ascunsul 
nostru.  —  20  fehlt  §i  tel:  'ebenfalls'.  —  23  ctt:  besser  'wie 
lange'.  —  25  näxdrävanul:  s.  oben  39  33.  —  27  fehlt  cän:  'denn'. 

—  27  f.  prinde  bine  la  ceva:  genauer  'kommt  für  etwas  zustatten, 
ist  zu  etwas  gut',  vgl.  10 15.  —  30  m:  s.  oben  20 15.  —  33  ctt 
mai  merg;  s.  oben  11 2.  —  Seite  55.  2  vi?iä  'ncoace:  'Anmut' 
(z.  B.  Ispir.  U.  Sf.  91  unten  Afi^odiia  0  tmpresurä  de  nuri  §i  de 
vino'ncoace;  118 le  avea  ...  §i  pe  vmo'ncoa;  Volkslied  bei  G.  II 
141:  Nici-o  V.  n'are).  —  5  mar.  s.  oben  13  9.  —  7  intü:  An- 
fänger, die  das  Wort  z.  B,  nur  nach  Gr  89  kennen  (wo  d'intttü 
zu  streichen  sein  wird:  aus  de  in-  wird  diu-  über  de'fi),  werden 
sich  mit  der  Form  nicht  zu  helfen  wissen ;  vgl,  Tiktin  I  69  b.  — 
9  fehlt  mai:  '(sonst)  noch',  la  noi:  'bei  uns'.  —  12  nu-i  vorbä: 
besser  etwa  'allerdings'.  —  14  fehlt  poate:  'vielleicht'.  —  15  mai: 
'fast';  venea:  'mochte'  —  18  mai  §tiü  ieü:  vgl.  oben  48  30.  —  27 
dinainte  s'ar  päxi:  s.  Kap.  IL  —  30  cä  vine  .^i  (fehlt)  H.  A.: 
*daß  auch  H.A.  kommt'  ('kommt'  =  'ist  untferwegs');  vgl.  drumul 
0  fi  fost  . . .  lu?ig  .^i  ostenidos  si  de  cind  vine,  0  ß  fläminxit 
MnR86  9.  —  Seite  56.    1  icnea:  richtiger  (vgl.  die  Anm.)  'schnaubte'. 

—  2  numai:  'nur';  'noch'  ist  zuviel  (entspräche  richtig  einem  nu  se 
mai  g.  decit  la  r.).  —  4  ^i  iei:  'auch  sie'.  —  IQ  de  ceea  ce  usw.: 
'über  dem,  was'.  —  21  fehlt  indatä:  'sofort',  §i  iel:  'gleichfalls'.  — 
25  dtndu-i  drumul:  'läßt  ihn  los'.  —  Ebenda  fehlt  de  acolo:  'von 
dort'.  —  34  miilt  .s*  bine:  formelhaft  (also  nicht  h.  'tief'),  vgl.  G.  LH 

14* 


204  Zur  Interpretation  von  T.  Creangä's  Harap  Alb 

152  21  ar  fl  diis  ?n.  si  b.  dorrd  ademenitidui  und  den  Beleg  bei 
Tiktin  I  187  b  Z  14  ('so  viel,  als  man  mag').  —  Seite  57.  2  fehlt 
mj-:  'wieder'  (mit  Rücksicht  auf  15 11-13).  —  5  totodatä\  'zugleich'. 
—  6  §i  apoi  da  Doamne  bine:  'und  nun  ging  es  los'  (vgl.  den 
Beleg  bei  Tiktin  II  499b  oben,  auch  I  188a  sub  7a,  Cr  0  29,  Adam 
212ii,  ferner  MnT  18 12,  208  2,  346  23;  sä  dea  Dumnexeü  bine 
G.  Zt.  40  4,  id.  Pm  61 11,  207  12).  —  8  le:  'ihnen  zu'.  —  13  in  samä 
bägafi:  'geachtete'.  —  14  buximar:  'Tasche'  ('Beutel'  =  pungä). 


Kap.  II:   Zu  Weigands  'Anmerkungen'. 

li:  Zwischen  {d)xice  cd  und  ci-cä  muß  man,  wenn  auch  der 
Stamm  gic-  belegt  ist,  nicht  unbedingt  gice-cä  postulieren;  auch 
genügt  es,  die  ursprüngliche  Formel  mit  einfachem  xice  statt  des 
reflexiven  anzusetzen,  vgl.  oben  unter  37  13  (persönliches  ci-cä  30  u). 

—  I9:  Nach  der  Auffassung  des  DAc.  I/l  283b  12  wäre  «.?«  nicht 
zurückweisend-konklusiv,  sondern  korrelativ  mit  de\  leni  tmpi'eju- 
rarea:  'es  traf  sich  (so)',  wörtlich  'die  Umstände  entwickelten  sich 
(so)',  vgl.  oben  3829.  —  1 20:  la  ist  hier  nicht  =  'schau'  (wie  etwa  4?, 
vgl.  oben!),  sondern  allgemeines  Adhortativum,  =  'wohlan,  nun,  . . . 
doch',  eventuell  gar  nicht  zu  übersetzen;  ähnlich  bei  Jussiv  1.  Sing. 
48  32,  Plur.  24 13,  31 25,  4.5  34,  47  1.3,  noch  öfter  ebenso  bei  Imperativ, 
z.  B.  4121,26  (cf.  Tiktin  II  746  a  sub  2").  Ebenso  bulgarisch,  z.  b! 
A.  Konstantinov,  Baj  Ganju  (ed.  Weigand,  Leipzig  1908)  1628,29, 
253,5,9.  Vorbä:  'Rede'.  —  2i:  .^i  ist  hier  ebensogut  'addierend'  wie 
etwa  in  der  Wortgruppe  impäraiid  Verde,  fraie-m.  si  m.  v.,  nur 
gehört  naturgemäß  —  wohl  auch  im  Rumänischen  —  dieser  Typus 
der  Verknüpfung  mehr  in  Apposition  und  Prädikat  (ebenso 
Sb  137  39  Sofia  mea  §i  sora  ta).  Eine  'explikative'  Verwendung 
in  der  Bedeutung  'nämlich'  gibt  es  schlechtweg  nicht;  über  die  Anm. 
22  23  vgl.  unten  —  2  24 :  Man  merke  wohl,  daß  ctt  pe  ce  durch  die 
Übersetzung  'wie  viel  ...  daran'  nicht  aufgeklärt  ist;  pe  ce  heißt 
ja  gar  nicht  'daran'  (auch  nicht  'zu  dem',  Anm.  20 1)^;  im  übrigen 
würde  tera,  wenn  es  ausgedrückt  wäre,  entweder  vor  dt  (so  Cr  755, 
84?)  oder  nach  ce  (so  9  2,  25  32,  Cr  35  22,  135  le,  142  24)  stehen. 

—  35:  vtrit:  'hineingesteckt'  ('gezogen'  =  tirit\).  —  3  8  1.  (le).  — 
3 14:  Für  mila  Domnuhu  machen  sonstige  Belege  aus  Cr  (neben 
95?  sowie  348 15  namentlich  394?,  auch  MnT  165 12)  die  Bedeutung 
'Gott  sei  Dank'  wahrscheinlich,  wo  der  Kontext  jedesmal  von  Über- 
fluß, Ausreichen,  Wohlergehen  spricht;  Bedeutungswandel  wie  bei  ■ 
franz.  merci  (Dieu).  —  3  20:  täta  'abschneiden',  refl.  'gewaltsam,  vor- 
zeitig zu  Ende  kommen';  es  soll  nicht  an  Kreuzweg  gedacht  werden;,' 


I 


'  Statt  cit  pe  ce  ist  auch  {cit)  p'aci  üblich  (z.  B.  G.  II  81 3,  Car.  Mom.  247  80, 
26198,4047). 


^  Zur  Interpretation  von  I.  Creangä's  Harap  Alb  205 

F    vgl.  a  ie§it  hattet  de  eint  clela  m.  d.  c.  si  i-a  täiat  drumul  Im  coate- 
goale,  Caragiale,  0  noapte  furtun.  I  1  (gegen  Ende).  —  4i6:  'denn' 
ist  verschiieben  statt  'daß';  —  bezüglich  mai  vgl.  Kap.  I  unter  145.  — 
4i7:  'Eschlein'  heißt  —  von  der  Ähnlichkeit  der  Blätter  —  der  Dip- 
tam ('fraxinella'  auch  mehrfach  bei  den  Botanikern  des  Westens).  — 
421(24):  soll  natürlich  nicht  verstanden  werden,  daß  r ä. xboiü  ^Kr'ieg' 
an  sich  modern  wäre,  sondern  die  Umdeutung  nur  speziell  in  dem 
Sprichwort.    —    Über  7  2  sctr^ha,    7 13  se'ngädide  vgl.  Kap.  I.    — 
8 7  f.:  Hierher  gehörte  die  Anm.  über  jmcatul  21  31;  are  sä  fe  ist 
eine   auch   sonst  (z.  B.  6  6, 11  f.,  53  34)  geläufige   Futurform,    das 
Ganze    aber    nicht    so   sehr    als   Verwünschung   wie    vielmehr    als 
Drohung   gemeint,    deren  Ausführung    der   Sprechende   auf   sich 
nimmt.  —  8  20 :  pedesirii  ist  tatsächlich  altrumänisch  (möglicherweise 
also  dialektischer  Archaismus?).  — -,9  10, 13:  in  Z.  10  liegt  Dativ  vor. 
Uli:  W.  selbst  setzt  in  der  Übersetzung  'von  klein  auf  hinzu 
(vgl.  m'am  trexit  de  mic  Sblöl  4);  tatsächlich  wn'rd  a  se  trexi  der  Sinn 
von  'Bewußtsein  erlangen,  als  Kind  aufwachsen'  zugrunde  liegen,  es 
ist  hier  nicht  (wie  3  22)  einfach  mit  a  se  pomeni  52  s  synonym,  vgl. 
G.  III  2920  De  cum  m'am  trexit  ('soweit  meine  Erinnerungen  zurück- 
reichen'); EG.  21 3:  S'a  tr.  in  cmnpiile  tntüise  usw.  =  'Er  wurde  ge- 
boren''; Mor.  79 15  gol  .fi särac  cum  se  trexise  pe  liimea  asta\  MnT23l2 
ni§te  pästori  simpli  carii  de  cum  s'aü  trexit,   tot  pe  liyigä  vite 
an  petrecut  'von  Geburt  auf  (im  übrigen  auch  pomem  in  diesem 
Sinne:  Se  pomenise  la  moarä,  crescuse  la  moarxt  usw.  Slav. P.  35 13 
—  acht  Zeilen  vorher:  lel  se  trexise  la  moara  lui  B.,  unde-l  läsase 
maicä-sa).  —  11  is  säü:  genau 'Talg'  {^Fqü'' =  gräsime).  —  124: 
räü  {cu^,  /am-)  ist  wohl  neutral.   —   13  4:  Ein  Beleg  wie  tn'arn 
tngrijat  .fam  dus  vergile  hn  bietid  iiärinte  0.,  c'o  da  de  suguhinä 
Vlah.  III  63  2  f.  lehrt  mit  aller  wünschenswerten  Deutlichkeit,  daß 
duc  1.  Sing,  sein  muß;  die  Bedeutung  der  Eedensart  gibt  Zanne 
(von  dem  sonst  die  W.sche  Anm.  inspiriert  scheint)  I  No.  1226  mit 
*a-i  purta  grija'  an,  was  zu  unseren  Belegen  bestens  paßt  (Dame 
s.  V.  vargä  übersetzt  'je  te  plains').   —   14 13 :    Der  Bedeutung  'un- 
erfahren'  wird   'Gänschen,  Entlein'   (so  30  2)   zugrunde   liegen.   — 
15  32 :  zu  are  sä  fie  vgl.  oben  unter  8  7  f.   —  16 19 :  wörtlich  'was 
mir  widerfahi-en  ist'.  —  17 19:   Die  vernunftmäßige  Erklärung  des 
Ausdrucks  pmtra  seacä  erübrigt  sioh  durch  Vergleichung  der  Stelle 
;   MnT  336  8  sä-l  caute  pretutindem,  de  ar  fi  [bärbatu-säü]  chiar  ^i 
\  'n  pmt7-ä[\]  seacä.  —  18 5:  inainte  nach  de  mit  Zeitbestimmung  heißt 
j  'weiterhin'  (richtig  übersetzt  1433,  15  14).  —  19 17:  Daß  das  Verhältnis 
der  beiden  cum-^'ö.izQ  zueinander  als  parataktisch  zu  denken  sei, 
glaube  ich  nicht,  der  erste  wird  vielmehr  dem  andern  untergeordnet 
(temporal)   sein;   gleichgeartete   Fälle   belegt   Tiktin  I  324b  sub  4, 
[  vgl.  noch  Sad.  Ist.  152  9,  id.  Morm.  10  21  f.,  244 19,  id.  La  noi  58  is, 
!  188  17  f.,  id.  P.  s.  62  1.-,.  -  -    20 1:  genügte  auf  Anm.  224  hinzuweisen. 


206  Zur  Interpretation  von  I.  Creangä's  Harap  Alb 

21  22 :  direkt  'ärgere  dich  nicht'  (Jussiv  nach  Gr  114  f.).  —  22  5  f.: 
tot  'doch';  der  Smn  ist  sonst:  errettet  mich  mein  Stern  diesmal,  wo 
alles  auf  mein  Verderben  zusammenzuspielen  scheint,  nachher  wäre 
ich  betreffs  meines  weiteren  Lebens  {xile,  in  Gegensatz  zu  Tod,  vgl. 
Kap.  I  unter  31 5)  desto  mehr  beruhigt,  als  ich  eben  darin  ein  Zeichen 
besonderer  Fürsorge  des  Schicksals  erblicken  müßte.  —  22  8:  Ich 
glaube  nicht,  daß  wir  Anlaß  (und  Recht)  hätten,  in  die  stehende 
Redensart  curg  gtrlä  einen  Nebensinn  (vom  Vergehen  des  Stro- 
mes) hineinzulegen,  der  ihr  sonst  nicht  zukommt;  es  soll  wohl  tat- 
sächlich nur  das  massenhafte  Heranströmen  (vgl.  Cr  235  15,  Beld. 
MM  28  21  f.,  Sad.  Dur.  21 19,  G.  III  210  22  Rimele  u  c.  g.,  Mor. 
90 19;  gleichbedeutend  c.  fuior  Mor.  80 17)  der  Unbilden  ausgedrückt 
werden.  Daß  dieser  in  Wirklichkeit  nicht  erfreuliche  Gedanke  an 
Stelle  und  in  der  Form  einer  Beruhigung  (wie  etwa:  'dann  wird 
alles  gut  enden')  vorgebracht  wird,i  ist  wieder  als  Ironie  zu  verstehen 
(vgl.  im  I.  Kap.  dar  23  24);  übrigens  dürfte  der  ganze  Spruch  von 
capul  ab  der  Volksüberlieferung  angehören,  vgl.  Adam  76  12  f.,  G.  Zt 
2404  f.,  Mor.  23 1  (Zanne  kann  ich  nicht  mehr  einsehen).  —  22 13: 
Für  face  pe  obrax  liefert  mir  H.  T.  Pamfile  das  Beispiel:  Mä  cleve- 
te§ti?  Am  sä  fi-o  fac  pe  0.  {am  sä  te  clevetesc  §i  leü  de  0  pildä) 

—  und  paraphrasiert  unsere  Stelle  mit  i-a§  /?  fäcut  dupä  obraxul 
lui  ('gemäß,  entsprechend  seinem  Gesichte,  Gebaren');  eine  ähnhche 
Bedeutung  nimmt  auch  Tiktin  an,  da  er  (II  1073  a)  die  Stelle  4228 
übersetzt  'wie  ihr's  verdient';  um  'Heimzahlung'  handelt  es  sich 
auch  in  den  Belegen  Cr  156  5,  166  4.  —  22  23:  Über  das  'expli- 
kative' §i  vgl.  das  oben  zur  Anm.  2  1  Bemerkte;  diesmal  heißt  es 
'auch',  während  das  eigentlich  Eigentümhche  in  der  Vorausnahme 
des  Subjekts  mittels  ule  besteht,  die  natürlich  von  .^i  unabhängig 
ist.2  Die  Bedeutung  der  Ausdrucksweise  gibt  Tiktin  s.  v.  el  (3)  — 
für  die  meisten  Fälle  passend  —  mit  'schon'  an;  insgemein  er- 
scheint das  Prädikatsverb  lebhaft  hervorgehoben;  weitere  Belege: 
2623,  3827,  44i7,  46 1,  47 12,  mit  präsentischem  Vb.  267,  548,  Cr  37 13, 
81 27,  94 14,  264  9,  269 12,  395  8,  bei  Präteritum  HA  40  i4,  Cr  264 11, 
272  23,  bei  Gerundium  Cr  229  20.  —  233:  Cr  184  28  erscheinen 
mehrere  luceferi  zugleich  (in  einem  gewissen  Gegensatz  zu  den 
stele)  an  demselben  Abendhimmel,  ähnlich  in  Eminescus  IV.  Satire, 
V.  75;  es  handelt  sich  etwa  um  andere  Planeten,  wohl  aucli  Fixsterne, 
die  zeitweilig  zugleich  mit  der  Venus  sichtbar  werden  bzw.  bleiben. 

—  23  17:  Über  'uämhch'  als  angebliche  Bedeutung  von  §i  (die  hier 
übrigens  schlechtweg  nichts  erklären  könnte)  vgl.  wieder  das  zur 
Anm.  2i  Bemerkte.  Die  hl.  Sonntag  drückt  mit  vai  de  mine  ('um 
Gottes  willen';  vgl.  Sad.  Morm.  182 19,  Isph\  Leg.  85  22)  nur  ihren- 


1  In  stilist-grammat.  Hinsicht  vgl.  3  15. 

2  Die  falsche  Formulierung  schon  auch  Gr  175  Anm.  2. 


Zur  Interpretation  von  T.  Crt-angä's  Harap  Alb  207 

eigenen  Affekt  unmittelbar  aus,  will  nicht  —  was  eigentlich  erst 
'Spott'  wäre  —  die  Seufzer  Harap  Albs  parodieren.  —  30  i6. 
Tiktin  s.  v.  versteht  jmngä  als  Vokativ  (tatsächlich  müßte  man  als 
Objekt  —  zu  einem  fehlenden  scoate  o.  dgl.  —  die  artikulierte 
Form  erwarten).  Der  Sinn,  in  dem  das  Sprichwort  hier  steht,  wird 
dadurch  immer  noch  nicht  klar.  Nach  Zanne  V  No.  12604  hat  es 
neben  anderen  auch  die  Bedeutung:  Fa  singur  daca  po^T;  das  hieße: 
Möge  es  der  Bartlose  nur  selbst  versuchen!  Mit  Eücksicht  auf 
den  Nachdruck,  mit  dem  Harap  Alb  die  "Worte  de  unde  .^tii  aus 
Z.  8  wörtlich  zitiert  (augenblicklich  bildet  denn  auch  dieses  'Wissen' 
seine  nächste  Sorge),  läge  es  nahe,  das  Sprichwort  mit  spezieller 
Beziehung  auf  dieselben  zu  deuten,  etwa  so:  Die  Zumutung,  ich 
solle  wissen,  wo  die  Prinzessin  zu  suchen  sei,  erinnert  an  die  lächer- 
hch  empörende  Klausel,  mit  der  an  den  gewissen  Pungä  (unter 
diesem  Namen  wird  wohl  sonst  —  worauf  es  aber  hier  nicht  an- 
kommt —  der  personifizierte  Geldbeutel,  der  Mensch  nach  seiner 
Zahlungsfähigkeit  verstanden  werden)  die  Einladung  zu  Tische  er- 
gangen war:  dacä  p-ai  a.  de-a.:  wie  hier  Sache  des  Gastgebers, 
so  wäre  es  dort  diejenige  des  Bartlosen,  die  erste  Voraussetzung 
seiner  Einladung  (das  Mahl)  bzw.  seines  Auftrages  (Kenntnis  der 
Adresse)  selbst  zu  schaffen,  ich  bin  es  ebensowenig  wie  der  Pungä 
imstande.! 

31 7  fä:  'gebäre'  (der  eigentliche  Ausdruck  für  den  Begriff).  — 
323:  Parömiologische  Metaphern  sind  auf  konkrete  Fälle  nur  ihrem 
Gesamtinhalt,  nicht  ihren  Einzelheiten  nach  anzuwenden;  so  kommt 
es  hier  nicht  darauf  an,  Harap  Alb  dem  Teufel  gleich,  sein  Pferd 
aber  als  ein  Höllenwerk  hinzustellen,  sondern  einzig  auf  das  Zu- 
sammentreffen einer  konzentrierten  Anstrengung  [cetatea,  Intrigen 
des  Bartlosen)  und  besonderer  Verwicklungen  [räxboiul  dracuhd), 
die  ihr  entgegentreten.  Was  W.  weiter  zwischen  Klammern  an- 
führt, ist  in  dem  Sprichwort  auch  nicht  angedeutet.  —  32  it:  cela 
ist  (auch  schon  nach  der  Übersetzung!)  nicht  einfach  synonym  mit 
acel,  vgl.  Tiktin  I  9:i  sub  4  (und  zu  Gr  75  Anm.  2  die  Korrektur 
bei  Phil.  SL  49.  §  59!);  ceea  liime  Cr  210 1,  cela  rind  201  ii.  — 
3432:  Wie  die  Übersetzung  7  it  beweist,  kann  'es  scheint'  auch  ent- 
sprechen, da  ja  alle  diese  Ausdrücke  verblaßt  sind;  sonst  bezeichnet 
]^e  semne  einen  motivierten  Anschein,  iiafcd  ein  individuelles  Dün- 
ken; es  gibt  Fälle,  wo  sich  beides  berührt.  —  8621:  Die  Verwen- 


'  Ein  Korrespondent,  dem  ich  auf  dem  Gebiete  der  Creangä-Intcrpretation 
besondere  Autorität  beilegen  mußte,  hatte  die  Stelle  folgendermaßen  ver- 
standen: 'Pofthn  etc.  —  erheiternd,  (/acä  etc.  —  betrübend;  da  sich  Harap 
Alb,  aus  einer  Gefahr  errettet,  wie  über  eine  Einladung  freute,  hop!  wirft 
ihn  des  Bartlosen  neuer  Auftrag  in  Trauer  zurück,  gerade  als  ob  ihm  gesagt 
würde:  Dacä  etc.'  Ich  führe  diese  Interpretation,  die  durch  den  Satz  Z.  23  f. 
suggeriert  sein  wird,  nur  als  Dokument  an. 


208  Zur  Interpretation  von  I.  Creangä's  Harap  Alb 

duug  des  Ausdrucks  bof.  erinnert  an  b.  cu  ochi  Cr  56  is,  57  7,  die 
Figur  b.  chüimbot  an  leü-paraleü  (HA  51  is),  fät-logofät  (Ispir. 
Leg.  62  17,  Tiktin  II  611a,  DAc.  II/l  74b  sub  3),  an  mär-didumär 
Sb  30  12,  lenDie-odolemne  ibd.  320  22,  auch  in  BTr  XVI^  Rätsel  47 
[Dreschflegel]  und  49  [Leiter],  {purcel)  lins  prelins  Sb  26 10,  {mrea- 
nä)  alba  codalbä  ('weiß  geschwänzt')  ibd.  118 14;  die  angenommene 
Herleitung  von  madj.  kiilön  wäre  aber  erst  durch  den  Nachweis 
ungarischer  Zusammensetzungen  gleicher  Art  zu  stützen,  die  zu 
fehlen  scheinen  (an  rumänisch  chilin  <  külön  läßt  sich  wohl 
nicht  anknüpfen);  botit:  'zusammengekauert,  geknüllt'.  —  36  26: 
Tiktin  II  662b  übersetzt  'nie  und  nimmer'  ('ja,  Kuchen');  zur  Er- 
klärung vgl.  auch  Zanne  VI  No.  13809  (13654,  13937:  adicä  de 
unde  nu-i);  bei  Adam  127  9:  Ai  fost  tu  la  Plevina,  mm  präpä- 
ditule?  —  dhi  gard.  —  889:  Ob  giird,  das  wohl  die  Bedeutung 
'Schreien,  Geschrei'  u.  ä.  (s.  Tiktin  s.v.  sub  4°,  Cr  259 14)  anzu- 
nehmen pflegt,  auch  (wie  etwa  madj.  ajak)  'Sprechweise,  Sprache' 
heißen  könne,  wäre  erst  zu  erweisen.  Daß  Schlangen  in  großer 
Dürre  schreien,  mag  vielleicht  im  Volke  geglaubt  werden;  die  An- 
gabe ^;^  gura  broa^tei  wäre  eine  Anspielung  auf  die  Redensart  (z.  B. 
Adam  1211  f.)  a  fipa  {striga)  ca  broasca  in  gura  §arpelui,  und 
zwar  scherzhafte  Umkehrung  wie  z.  B.  Cr  140  2  (die  'Emendation' 
bei  Zanne  I  No.  1365  ist  natürlich  ein  Irrtum).  —  40  7  de  nu  i-ar 
muri  Tnid^i  inainie:  wörtlich  'mögen  nicht  viele  vor  ihm  sterben', 
sondern  er  vor  anderen,  d.  h.  ehestens  (wie  weiter  spezifiziert  wird); 
ein  volkstümlicher  Scherz,  den  Creangä  noch  sonst  anbringt:  Cr 
133 19,  13630.  —  40 29  ac  de  cojoc:  eigentlich  wohl  'das  jeweil 
Passende,  das  richtige  Mittel';  vgl.  G.  H  67  4  am  wü  ac  de  c._,fi 
pentru  aceasta!  Mor.  91  unt.  am  wü  ac  de  cojocul  tau;  am 
ieü  ac  de  c.  lor  [sc.  al  ^oarecilor]  . . .  ^i  sloboxl  mifa  priu  casä 
Mold.  in  BTr  XXX  611;  «r  fi  gäsit  tel  ac  pentru  cojocul  sätenilor 
('hätte  sich  mit  ihnen  zu  helfen,  an  ihnen  zu  rächen  gewußt')  Slav. 
in  BTr  XXVIII  42. 

41 30.  Nu  irebuie  wird  man  gemäß  den  zwischen  'notwendig' 
und  'zweckdienlich'  obwaltenden  begrifflichen  Beziehungen  =  'nutzt 
(hilft)  nichts'  halten  dürfen.  (Von  der  Bedeutung  'von  keinem 
Nutzen  sein'  aus  entwickelt  sich  auch  die  'keinen  Wert  für  jmd. 
haben,  nicht  lieb  sein',  s.  J-B  d.  75  2,  99  5,  5106,  s.  218  8;  ferner  etwa 
[von  einem  unglücklich  Liebenden]  Din  inimä  se  'nti-ista,  Nimica 
nu-i  trebuia  ['freute'],  Nice  bea  nice  minca  Trimb.  2O3;  de  cumva 
nu  le  ar  trebui  ['sie  möchten']  femeie  in  fruntea  fern,  ie  gata  a 
se  cobort  de  pe  tron  de  bunä  voie  Märg.  in  BTr  XXXII  33  le; 
dann  auich:  cä  lei  moarte  11  trebuie,  dar  pe  altul  ...  ba  ['eher  den 
Tod  als  einen  andern  zum  Gemahl']  I.  T.  Mera  in  BTr  XIX  19 10  [die 
nämliche  2>e-Konstruktion  ibd.  19 1:  cä  lei  nu-i  t.  p>e  altul\.  —  Tiga}> 
de  Laie  hat  nichts  mit  laiu  'schwarz'  zu  tun;   laie  Sbst.  =  'Horde 


Zur  Interpretation  von  I.  Creangä's  Harap  Alb  209 

nomadisierender  Zigeuner'  (Tiktin).  —  42 -i:  ergänze  'von  dir'  (im 
Text  -p).  —  47  27 :  zu  beachten,  daß  Creangä  jjatima  als  de-Oh- 
jekt  nach  vedea^  noch  zweimal  (Cr  81 8,  260 20)  verwendet,  sonst 
aber  kein  anderes  Wort,  gleichsam  als  wäre  die  Konstruktion  eben 
nur  mit  diesem  erstarrt;  oder  ließe  sich  möglicherweise  eine  eventuell 
individuelle  Reminiszenz  aus  religiöser  Lektüre  annehmen?  —  488: 
nicht  nur  wie  ein  Adj.  behandelt,  sondern  auch  in  adjektivischer 
(prädik.)  Funktion  [area  'hielt',  vgl.  52  7  'trug'),  speziell  in  diesem 
einen  Ausdrucke  noch  Cr  149?,  210  i»,  255 17;  ähnlich  au  . . .  adu- 
nap  600  de  lei  Sad.  Instig.  109  12,  ...  adunate  citeva  parale  1126. 

—  48 14:  entgegen  der  angedeuteten  Herleitung  von  \bucatä  aus 
einem  Vb.  *buc  ist  erstens  die  -ATA-Bildung  nicht  spezifisch  ru- 
mänisch, und  auch  das  gem.-roman.  BUCCATA  setzt  nicht  not- 
wendig ein  BUCCARE  voraus.  —  4820:  nu  altceva  (auch  mi 
altä)  heißt  schon  geradezu  'förmlich,  nur  so'  (Tiktin  s.v.  (dt  I  2b: 
geradezu,  rein,  völlig).  —  4821  1.  nepusä,  allerdings  auch  cii  ne- 
prisa'n  masä  MnT  18 11,  22  23  {nepusä),  123 19,  187 12,  Grig.  P.  r. 
166  27.  Die  Bedeutung  hier  vielleicht  am  ehesten  'nolens  volens' 
wie  Cr  212  6,  26821,  MnR  4  5  Inffdcd  cu  n.  'n  in.  (auf  Befehl, 
nach  einigem  Weigern)  räldarea  in.  spate  (sonst  'mit  Gewalt',  'rück- 
sichtslos', vielleicht  wohl  auch  'plötzlich'  MnT  187  12).  —  49  13:  in 
erster  Linie,  weil  es  nicht  übertragbar  ist,  vgl.  Cr  110  28  f.  mi  fi-o 
lua  nime  din  spate  usw.;  MnT  294 14  cu  nime  nu  putea  sä  im- 
pärpascä,  ibd.  305  17  nar  fi  piitut  i.  cu  nime. 

51 29:  zu  duceti-vä  war  auf  Gr  113  (Anm.  sub  4)  hinzuweisen.  — 
55 16:  acolea  vielfach  von  gebürtigen  Rumänen  (auch  Moldauern) 
als  Synonym  mit  acolo  gedeutet  (was  es  sonst  auch  ist,  vgl.  etwa 
Sb.  7839  de-a  särl  cu  fei  pind  in  nouri  .s^  de  s'a  isbi  de  acolea 
Jos),  wie  ja  der  Sprach'  selbst  auch  mit  acolo  tradiert  wird  (Mor. 
22  5,  G.  II  8;  V.  Alecsandri  Poesii  pop.  ale  Romänilor  1866,  339: 
Fttgf  incolo  ['weg'];  an  unserer  Stelle  OJ  acole  mit  mold.  e  st.  ea)\ 
daß  es  tatsächlich  'hier'  bedeuten  bzw.  nächste  Nähe  angeben  kann, 
lehren  Belege  wie  J-B.  d.  400  Bibi,  bade,  de  acolea  (nahezu-  'Rühr' 
mich  nicht  au!');  Sb  162  10  (beim  Begegnen)  cme  te  aü  adus  pe  a.'i' 
Gr.  I.  Alexandrescu  in  B  31 15 :  In  cerdac?  D'apoi  ce  sä  vedeti  de  a.  ? 
(während  die  Unterredung  gerade   in  cerdac   stattfindet,  s.  30  le). 

—  55  27  dinainte  s'ar  päzi:  'würde  sich  im  voraus  (cf.  5 17,  627) 
in  acht  nehmen':  dasselbe  Sprichw^ort  Cr  167  23  f.  =  Gr  163.  — 
56 12:  1.  Impt. 

'  R.  venea  Dela  stinä  fite  odafä  Sä-?i  nun  vadä  ('besuchen')  de  cd  säv 
tatä  Si  de  mä-sa  Trimb.  13 12. 

Brunn.  H.  .Tarnik. 


Kleinere  Mitteilungen. 

Tiecks  Shakespeare-Buch:  ein  neuer  Fund. 

Ludwig  Tiecks  nie  vollendetes  Buch  über  Shakespeare,  der 
größte  Plan  und  die  kläglichste  Enttäuschung  seines  Lebens, 
reicht  in  seiner  Konzeption  in  die  früheste  Zeit  des  Dichters 
zurück,  da  er  als  Göttinger  Student  Friedrich  Nicolai,  den  Buch- 
händler und  Freund  Lessings,  kennen  lernte.  Tieck  hatte,  wie 
er  fünfzig  Jahre  später  berichtet,  mit  größtem  Eifer  Shakespeare 
und  die  dramatische  Dichtung  seiner  Zeit  studiert,  und  das  Er- 
gebnis dieser  Arbeiten  erbot  sich  Nicolai,  dessen  Geschäft  neue 
Verlagsartikel  dringend  nötig  hatte,  zu  verlegen.  Im  Jahre  1796 
kündigt  daher  Tieck  im  Anhang  zu  seiner  Bearbeitung  des  Sturms 
sein  Werk  an,  das  erste  jener  langen  Reihe  von  Ankündigungen, 
die  bis  zuletzt  unerfüllt  blieben.  Alles,  was  Köpke  in  den  nach- 
gelassenen Schriften  veröffentlichen  konnte,  waren  ein  paar  Ka- 
pitel der  Einleitung,  einige  ganz  skizzenhafte  Entwürfe,  ein  paar 
Brief  stellen  und  ein  Stück  aus  einem  alten  undatierten  Kommen- 
tar: im  ganzen  63  Druckseiten.  Dies  und  ein  Wust  von  Kollek- 
taneen,  Abschriften  und  zerstreuten  Notizen  auf  der  königlichen 
Bibliothek  in  Berlin  blieben  die  einzigen  Zeugnisse  von  Tiecks 
Arbeit. 

Dieser  Bestand  kann  nun  in  nicht  unbeträchtlicher  Weise  er- 
gänzt werden  durch  ein  Manuskript  in  Tiecks  Hand,  das  sich  auf 
der  Berliner  Stadtbibliothek  befindet,  und  auf  dessen  Vorhanden- 
sein Herr  Max  Herz  in  Berlin  mich  im  Jahre  1914  aufmerksam 
machte. 

Der  Shakespeare-Übersetzer  Eschenburg  hatte  in  seinem  Er- 
gänzungswerke 'Über  Shakspeare'  1787  seine  Unzulänglichkeit 
dem  großen  Gegenstande  gegenüber  zugegeben  und  gesagt,  um 
Shakespeares  Genie  hinreichend  darzustellen,  'wäre  nun  freylich 
ein,  bloß  aus  dem  Gesichtspunkte  des  Geschmacks  gefaßter,  Kom- 
mentar über  alle  seine  Schauspiele  und  über  deren  einzelne  Stellen 
nöthig'.  Der  junge  Tieck  fühlte  sich  der  Aufgabe  gewachsen 
und  beschritt  den  gewiesenen  Weg:  die  neu  gefundene  Hand- 
schrift ist  ein  solcher  Kommentar,  auf  313  eng  beschriebenen 
Seiten  Klein-8^  mit  19  Seiten  Nachtrag.  Das  Ganze  ist  in  einen 
braunen  Lederband  gebunden.  Die  Datierung  ergibt  sich  aus 
mehreren  Umständen.  Ein  Brief  Tiecks  an  Bernhardi  aus  dem 
Herbst  1793  fordert  den  Freund  zu  einem  Briefwechsel  über 
Shakespeares  Dramen  in  der  Reihenfolge  ihrer  Entstehung  auf. 
Der  Brief  ist  auf  demselben  Papier  geschrieben  wie  der  Kom- 
mentar. Bei  der  Besprechung  des  Hamlet  sind  Tieck  die  Aus- 
führungen Wilhelm  Meisters  noch  nicht  bekannt.     Das  Bruch- 


Kleinere  Mitteilungen  211 

stück  des  Kommentars,  das  Köpke  im  Nachlaß  vorfand,  setzt  er 
in  das  Jahr  1795,  und  das  wird  als  Grenze  nach  vorn  anzu- 
nehmen sein. 

Die  äußere  Gestalt  des  Buches  verrät  schon,  daß  es  kein  von 
Anfang  an  planmäßig  angelegtes  und  konsequent  durchgeführtes 
Werk  ist.  Vielmehr  zeigt  die  Zahl  der  den  Bemerkungen  zu- 
grunde liegenden  Texte,  daß  Tieck  zu  verschiedenen  Zeiten,  mehr 
oder  weniger  unregelmäßig  und  wohl  je  nach  Gelegenheit  und 
Laune  an  seine  Arbeit  ging.  Von  den  21  Stücken,  die  der  Kom- 
mentar bespricht,  sind  12  nach  der  Ausgabe  von  Eschenburg, 
4  nach  dem  Nachdruck  dieser  Ausgabe,  die,  von  Prof.  Eckert 
herausgegeben,  1780  in  Mannheim  zu  erscheinen  begann,  4  nach 
dem  englischen  Texte  der  Ausgabe  von  Steevens,  die  1785  in 
dritter  Auflage  erschienen  war,  während  das  letzte  im  Kom- 
mentar nur  bis  zu  einer  Einleitung  gediehen  ist,  aus  der  sich  kein 
Text  feststellen  läßt.  Bei  allen  Stücken  hatte  Tieck  die  Steevens- 
sche  Ausgabe  zur  Hand.  Das  Moment,  das  die  Gestalt  des  Kom- 
mentars bestimmt  zu  haben  scheint,  ist  die  Anordnung  der  Stücke, 
welche  in  chronologischer  Reihe  aufeinander  folgen.  Die  Chrono- 
logie ist  die,  welche  Edmund  Malone  in  einem  Aufsatz  aufgestellt 
hatte,  den  Steevens  im  ersten  Bande  seiner  Ausgabe  von  1785  ab- 
druckte, und  der  Eschenburg  für  einen  gleichen  Aufsatz  im 
Buche  über  Shakespeare  als  Quelle  gedient  hatt-e.^  Zweifelhafte 
Stücke,  darunter  auch  'Titus  Andronicus',  die  Malone  in  seiner 
Tabelle  mit  aufgenommen  hatte,  zeichnet  Eschenburg  in  seinem 
Buche  durch  fetten  Druck  aus.  Tieck  hat  sie  in  dem  Kommentar 
fortgelassen,  so  daß  die  von  Tieck  besprochenen  Dramen  in  fol- 
gender Reihenfolge  stehen: 

S.  1         Verlorene   Liebesmüh.  84—106  Kichard  II. 

1_4     Heinrieh  VT.,  1.  Teil.  106—1.33  Eichard  III. 

4—7     Heinrich  VI.,  2.  Teil.  13.3—146  Heinrich  IV.,  1.  Teil. 

8 — 9     Heinrich  VI.,  3.  Teil.  147 — 172  Der  Kaufmann  von  Venedig. 

9 — 11  Die   beiden   edlen  Veroneser.  172 — 198  Ende  gut.  alles  gut. 

11—22  Ein  Wintermärchen.  198—229  Heinrich  IV..  2.  Teil. 

22—27  Ein   Sommernachtstraum.  229—267  Heinrich  V. 

27 — 44  Romeo  und  Julie.  267—292  Viel  Lärm  um  nichts. 

44 — 45  Die  Irrungen.  292 — 312  Wie  es  Euch  gefällt. 

4.5 — 72  Hamlet.  313  Die  lustigen  Weiber  von 
72 — 84  König  Johann.  Windsor. 

1—19  Nachträge. 

Bei  den  ersten  Stücken  ist  der  Kommentar  knapp  gehalten 
und  beschränkt  sich  auf  kurze  Bemerkungen  über  Text  und  Cha- 
raktere.   'Liebesmüh'.  'Heinrich  VT.'  und  die  'Veroneser'  sind  so 


*  An  Attempt  to  Ascertain  tho  Order  in  which  the  plavs  attributed  to 
Shakspeare  were  written.  Zuerst  in  Steevens'  Ausgabe  1778:  Eschenburg, 
Über  Shakspeare,  S.  247. 


212  Kleinere  Mitteilungen 

behandelt.  Das  'Wintermärchen'  und  der  'Sommernachtstraum' 
geben  schon  Anlaß  zu  weitläufigeren  Anmerkungen,  und  von 
'Romeo  und  Julia'  ab  sind  alle  Stücke  ausführlich  besprochen. 
Nur  die  'Irrungen'  sind  sehr  knapp  behandelt,  während  von  den 
'Lustigen  Weibern'  nur  eine  Einleitung  da  ist.  Die  ersten  Stücke 
werden  ohne  Plan  kommentiert;  bei  den  letzten  ist  eine  bewußte 
Einteilung  der  Besprechung  nach  Akten  und  Szenen  bemerkbar, 
und  bei  den  'Lustigen  Weibern'  deutet  die  Überschrift  'Ein- 
leitung' auf  eine  beabsichtigte  noch  durchgreifendere  Disposition 
der  folgenden  Ausführungen  hin.  Diese  im  Laufe  der  Arbeit 
wachsende  formale  Durchbildung  scheint  die  zum  Drucke  not- 
wendige nochmalige  Umarbeitung  des  Ganzen  anzukündigen. 
Darauf  deuten  auch  der  unvermittelte  Anfang  der  Handschrift 
sowie  die  Bemerkungen  im  Nachtrag,  die  an  verschiedenen  Stel- 
len dem  Hauptteil  eingefügt  werden  sollten. 

Tieck  beginnt  meist  mit  einigen  einleitenden  Bemerkungen 
über  die  Datierung  des  Stückes  und  seine  Quellen.  Die  Cha- 
raktere werden  besprochen,  so  wie  sie  im  Verlaufe  der  Handlung 
erscheinen.  Dazwischen  folgen  Bemerkungen  philologischer  und 
ästhetischer  Art,  die  zum  Teil  spontan,  sehr  oft  aber  durch  die 
Anmerkungen  hervorgerufen  sind,  die  Johnson  und  die  übrigen 
englischen  Kommentatoren  dem  englischen  Texte  beigefügt 
haben.  Am  Schluß  erfolgt  dann  eine  allgemeine  Betrachtung  und 
ein  Hinweis  auf  etwaige  spätere  Bearbeitungen  oder  Übersetzun- 
gen des  Stückes.  Diese  ISTormalform  im  Verfahren  des  Kom- 
mentators wird  aber  häufig  durchbrochen  durch  längere  Exkurse 
über  theoretische  Fragen  und  sonstige  Gegenstände,  welche  der 
Text  oder  die  Anmerkungen  anregen.  Li  diesen  Exkursen  sind 
die  Keime  enthalten,  aus  denen  wohl  die  Aufsätze  hervorgehen 
sollten,  die  Tieck  im  Anhang  der  'Sturm'-Bearbeitung  versprach. 
So  wird  beim  'Wintermärchen'  einiges  über  die  Mischung  des 
Komischen  und  Ernsthaften  im  Schauspiel  gesagt  und  eine 
Theorie  der  Leidenschaften  und  besonders  des  Komischen  ent- 
Avickelt.  'Romeo  und  Julia'  gibt  den  Anlaß,  über  Leidenschaft 
und  Charakterzeichnung  in  Haupt-  und  Nebenpersonen  zu  spre- 
chen. Beim  'Hamlet'  werden  Wahnsinn  und  Verrücktheit  defi- 
niert. 'König  Johann'  veranlaßt  einen  Exkurs  über  das  historische 
Schauspiel  und  Ausführungen  über  das  Verhältnis  der  Leiden- 
schaft zum  Charakter.  'Richard  HT.'  bietet  Gelegenheit,  sich 
über  Hlusion  und  die  Darstellung  von  Bösewich t^ern  im  Drama 
sowie  über  Weißes  Trauerspiel  auszulassen.  In  die  Besprechung 
des  'Kaufmanns  von  Venedig'  ist  eine  Übersicht  über  die  Ge- 
schichte des  Theaters  in  Europa  und  besonders  in  England  sowie 
ein  Diskurs  über  die  Einheiten  eingeschaltet.  Unter  'Ende  gut. 
alles  gut'  entwickelt  Tieck  seine  eigene  Ansicht  über  die  chrono- 


Kleinere  Mitteilungen  213 

logische  Anordnung  der  Shakespeareschen  Stücke,  und  schließ- 
lich vergleicht  er  bei  Gelegenheit  von  'Wie  es  euch  gefällt'  die 
moderne  mit  der  alten  englischen  Komödie.  Dabei  ist  es  aber 
immer  bei  kurzen  Skizzen  aus  dem  Stegreif  geblieben,  ohne  daß 
ein  Thema  konsequent  durchgearbeitet  wäre. 

Tiecks  kritischer  Standpunkt  ist  bedingt  durch  die  Forde- 
rungen der  lebendigen  Bühne  und  beruht  auf  den  Errungen- 
schaften der  'Hamburgischen  Dramaturgie'.  Wenn  man  von  der 
großen  Menge  der  philologischen  Bemerkungen  absieht,  so  kann 
man  Tiecks  Unternehmen  als  eine  Dramaturgie  des  Shakespeare 
bezeichnen.  Wo  Lessing  stehen  blieb,  wollte  Tieck  einsetzen. 
Durch  Lob  und  Tadel,  manchmal  mit  unerschrockenster  Offen- 
heit vorgetragen,  durch  Vergleichen  der  Stücke  untereinander 
und  mit  den  Dramen  Goethes  und  Schillers,  durch  Kontrastierung 
mit  den  Zugstücken  der  deutschen  Bühne  und  nicht  zuletzt  durch 
Herbeiziehen  von  Shakespeares  Zeitgenossen  werden  die  starken 
und  schwachen  Seiten  des  großen  Dramatikers  hervorgehoben. 
Daß  dabei  das  Hauptgewicht  auf  das  Technische  gelegt  ist,  daß 
die  Illusion  und  die  Mittel  zur  Wirkung  auf  das  Publikum  eine 
große  Rolle  spielen,  ist  nicht  zu  verwundern,  und  Herdersche  Er- 
kenntnisse konnten  da  wenig  Platz  finden.  Über  die  Ästhetik  der 
englischen  Klassizistik  war  der  junge  Tieck  zwar  schon  hinaus; 
mit  heftigem  Spott  weist  er  Johnsons  Bemerkungen  zornig  zurück. 
Daß  aber  an  ihm  selber  noch  Stücke  seiner  Berliner  Schale  haf- 
ten, ist  nicht  zu  verkennen.  Immerhin,  wie  sein  Buch  iu  der 
Shakespeare-Philologie  der  erste  selbständige  deutsche  Versuch 
seiner  Art  darstellt  und  als  solcher  über  die  nur  vermittelnde 
Arbeit  Eschenburgs  ein  gewaltiger  Schritt  vorwärts  war,  so  zeigt 
auch  sein  Streben  über  die  Grenzen  des  Rationalismus  hinaus, 
daß  auch  er  ein  Erbe  der  Zukunft  war. 

H.  Lüdeke. 

An   Proi.    Frederic   J.   Carpenter,    Barrington,   Illinois. 
Herr  Kollege! 

Als  Ihnen  das  jüngste  Jahrbuch  der  Deutschen  Shakespeare-Gesellschaft 
als  einem  Mitgliede  ordnungsmäßig  zuging,  haben  Sie  es  am  15.  Sept.  d.  J. 
nicht  bloß  zurückgewiesen,  sondern  brieflich  dazu  erklärt:  'Americans  desire 
HO  further  traffic  with  an  unrepentant  and  unreconstructed  Germany.' 

Hat  Ihnen  der  'Friede'  noch  nicht  klargemacht,  welche  Raub-  und  Er- 
oberungssucht gegen  Deutschland,  das  seit  seiner  Gründung  den  Frieden 
Europas  gehütet  hatte,  diesen  Krieg  herbeiführte?  Im  Namen  der  Freiheit 
und  Selbstbestimmung  werden  Millionen  Deutsche  ungefragt,  'wie  Schafe' 
—  ich  zitiere  heilige  Versicherungen  Ihres  Präsidenten  — ,  unter  Fremd- 
herrschaft gezwungen.    Und  da  sollen  wir  bereuen,  daß  wir  uns  wehrten? 

Niedergerungen  durch  vier  Fünftel  der  Welt,  mußten  wir  sogar  die 
Handelsschiffe    und    Werftanlagen    ausliefern,    nach     dem    Waffenstillstand 


214  Kleinere  Mitteilungen 

noch  eine  lange  Hungerblockade  nach  der  anderen  aushalten,  auf  viele  der 
eigenen  Bodenschätze  verzichten  und  durch  nie  erhörte  Finanzmaßregeln 
auch  die  Zufuhr  fremder  Kohstoife  verlieren.  Wenn  wir  aber  nach  alledem 
uns  nicht  augenblicklich  rekonstruieren,  so  geben  Sie  uns  einen  Fußtritt. 

Herr  Kollege,  das  Kriegsglück  hat  gegen  uns  entschieden,  aber  wir  sind 
Männer,  und  wenn  man  uns  im  Unglück  noch  derart  beleidigt,  so 
sprechen  wir   rückhaltlos! 

Sie  durften  am  wenigsten  gegen  Deutsche  so  losziehen.  Als  Sie  vor  sech- 
zehn Jahren  das  Magdalenenspiel  von  Wager  herausgaben,  war  Ihnen  das 
Unglück  passiert,  daß  Ihnen  ein  paar  hundert  Verse  verschlüpften.  Ich  hatte 
vorher  eine  Abschrift  des  Originals  im  Britischen  Museum  genommen,  fand 
beim  Nachlesen  den  Mangel  heraus  und  hätte  die  Sache  triumphierend  an 
die  große  Glocke  hängen  können.  Statt  dessen  schrieb  ich  Ihnen  im  stillen 
eine  Karte,  so  daß  Sie  selbst  durch  einen  Neudruck  den  Fehler  ausbessern 
konnten.  Damals  haben  Sie  nicht  auf  'traffic'  mit  uns  verzichtet.  Herr 
Kollege,  Ihr  Gedächtnis  ist  kurz. 

Noch  gibt  es  eine  Geschichte,  hoch  über  aller  Weltmacht  der  Entente, 
und  vor  ihrem  Forum  soll  dieses  Beispiel  festgehalten  werden,  bis  zu 
welchem  Grade  ein  Mann  der  Wissenschaft  politische  Leidenschaft  in  den 
Tempelhain  rein  humaner  Arbeit  hereinstürmen  läßt.     0  Saulus! 

A.  Brandl. 

Byroniana  III. 
Der  Yerfasser  des  Uriel. 

Schon  in  meiner  Dissertation  ^  habe  ich  bemerkt,  eine  eingehende  Ver- 
gleichung  des  Uriel  2  mit  Henry  John  Urquharts  Poems  Sacred  and  Classical^ 
habe  es  mir  wahrscheinlich  gemacht,  daß  Urquhart  auch  der  Verfasser  des 
Uriel  sei  Leider  ist  meine  Hoffnung,  über  Urquhart,  der  in  den  gewöhn- 
lichen Nachschlagewerken  nicht  verzeichnet  ist,  außer  den  auf  Seite  78  mei- 
ner Dissertation  angeführten  Notizen  noch  weitere  beibringen  zu  können, 
unerfüllt  geblieben,  da  noch  vor  dem  Kriege  mehrere  Briefe  an  den  Vikar 
nach  Fleet  unbeantwortet  geblieben  sind  und  später  durch  den  Krieg  wei- 
tere Nachforschungen  auf  englischem  Boden  unmöglich  waren.  Vielleicht  ist 
die  Vermutung  am  Platze,  daß  Henry  John  Urquhart  ein  Bruder  des  be- 
kannten Schriftstellers  und  Politikers  David  Urquhart  ist.  Der  Zeit  nach 
wäre  dies  möglich:  Henry  John  ist  1798  geboren,  David  1805.  Beide  stu- 
dierten ferner  zu  Oxford.  Zudem  trägt  der  Politiker  den  gleichen  Vor- 
namen, David,  wie  der  Vater  Henry  Johns.  Der  gewiß  nicht  alltägliche 
Vorname  David  ließe  auf  Verwandtschaft  schließen. 


1  Lord  Byron  im  Spiegel  der  zeitgenössischen  englischen  Dichtung.  Er- 
langen 1915. 

2  Uriel,  a  Poetical  Address  to  Lord  Byron,  written  on  the  continent: 
With  notes,  containing  strictures  on  the  spirit  of  infidelity  maintained  in  his 
works.  An  examination  into  his  assertion,  that  'If  Cain  is  blasphemous, 
Paradise  Lost  is  blasphemous'.  And  Several  other  Poems.  London:  Printed 
for  the  author,  By  R.  Clay,  Devonshire  Street,  Bishopsgate;  and  sold  by 
Hatchard  and  Son,  Piccadilly ;  and  Burton  &  Smith,  Leadenhall  Sü-eet.   1822. 

3  London  1845, 


Kleinere  Mitteilungen  215 

Nun  vergleiche  man  folgende  Gegenüberstellung: 

Uriel.  Poems  sacred  and  classical, 

Uriel.  Urqwhart. 

Lines  written  on   Lord  Byron, 
in  early  youth,  S.  123—126. 
Beide  haben  die  Gegenüberstellung: 
What  fiend  could  urge  you  on,  what       What  Demon  pronipts,  —  tvhat  angei 
muse  ihe  song  begin?  tunes  thy  laij? 

S.  10,  Str.  XVIII,  Z.  9.  's.  123,  Z.  10. 

Beiden  ist  die  Erde  ein  Tränental,  das  Byron  noch  mehr  verdüstert: 
Has  not  vice  played  füll  Jutvoc  u-ith       And,  oh!  if  deep-sicorn  hatred's  dark 
our  b/iss?  Crusade 

S.  15,  Str.  XXIX,  Z.  3.  To  little  havoc  of  our  peace  has  made. 

S.  125,  Z.  2. 
Beide   bezeichnen   sich   in   ihrem   Kampf   gegen  Byron   als   namenlose,   un- 
berühmte Jünglinge: 
His  [sc.  the  author's]  name  can  add      A  nameless  stripling  deign  to  heed  or 
nothing  . .     etc.  hear. 

Preface,  S.  IX,  X.  S.  123,  Z.  17. 

Beide  gebrauchen  den  beliebten  Vergleich  mit  dem  Kometen,  und  zwar  nicht 
wie  alle  übrigen  als  den  der  glänzenden  Lichterscheinung,  also  in  rühmendem 
Sinne,  sondern  im  Sinne  eines  unheimlichen,  verderbenbringenden  Elementes: 
[The  meteor]    darted  forth  destructivr       .  .  .  meteor-fire  froni  Hell. 

light.  S.  124,  Z.  18. 

(S.  62,  aus  dem  Gedicht  The  Star 
of  the  Legion  of  Honour.)    Vgl.  über- 
dies Uriel,  S.  18,  Str.  XXXIV;  S.  3, 
Str.  IV. 
Beide   bitten  Byron,   sein   höhnisches   Lächeln   einen  Augenblick   zu   lassen 

und  ihnen  Aufmerksamkeit  zu  schenken: 

Pause   and  exatnine-spurn  not  with       Byron!  one  hour  tvithout  thy  wither- 

a  sneer.  ing  sneer. 

S.  5,  Str.  IX,  Z.  5.  S.  123,  Z.  16. 

Beide  beklagen  den  Mangel  seiner  Vaterlandsliebe : 
Wky  is  yovr  muse  thus  dcad  to  pa-       . . .  drcad  foe  to  Britain's  injur'd  isle. 

triotic  worthY  S.  125,  Z.  9. 

Have  you  forsicotm  ihe  region  of  yoiir 
hirth? 

S.  9,  Str.  XVII. 
Beide  sind  in  ihrer  Jugend  und  nur  in  dieser  Verehrer  Byrons: 
/  rieued  your  early  ynountings   with       To   thee  . . .   though    early   lov'd  and 
deliyht.  long. 

S.  3,  Str.  V,  Z.  7.  S.  124,  Z.  3. 

Als  Zeitpunkt  dieser  jugendlichen  Schwärmerei  für  Byron  lassen  sich  beide- 
mal die  Jahre  kurz  vor  1819  ausmitteln: 
Der  Verfasser   des    Uriel    schreibt  Urquhart  schreibt  seine  Lines  nach 

seine  Epistel  1822.  Da  er  Byron  be-  1819.  Auch  er  hat  sich  um  diese 
kehren  will,  hat  er  sich  von  blinder  Zeit  bereits  von  Byron  losgesagt.  Da 
Schwärmerei  für  B.  sicher  schon  einige  er  1798  geboren  ist.  hat  sein  Alter 
'Jahre  losgesagt.  bei  der  Abfassung  mindestens  21  Jahre 

betragen  (early  youth). 


216  Kleinere  Mitteilungen 

Bei   beiden   scheint  Cain  den  Anlaß   gegeben   zu  haben,  daß  ihr  religiöses 
Empfinden  verletzt  wurde: 
Der  Verfasser   des   üriel   schreibt  In  Urquharts  Lines  lassen  sich  die 

seine  Epistel  gegen  Cain.  Verse,   die   den   Grund   seiner   Ent- 

fremdung von  Byron  angeben,  sehr 
gut  auf  Cain  deuten: 
Our  fetters  loosen,  irhen  thy  scornful 

iine 
Breathes  gay   derision  on   the   ward 
divine. 

S.  126,  Z.  5-6. 
Bei  beiden  läßt  sich  aber  noch  nach  dieser  Entfremdung  Interesse  für  Byrons 
Poesie  nachweisen,  und   zwar  in   der   speziellen   Form    von    Variationen 
Byronscher  Erzeugnisse : 
Der  Verfasser  des  Uriel  dichtet  im  Vgl.  folgendes  bei  Urquhart:  From 

gleichen  Bande  mit  der  Epistel  Uriel       the  play  of  the  Corsair,  set  to  Music, 
eine  Variation,  betitelt:  The  Star  of      S.  128;    Variaiion    of   the    Corsair, 
the  Legion  of  Honour,  S.  61.    Byrons       S.   129;    Extract   from    the    Corsair, 
gleichnamiges    Gedicht    s.    Coleridge      S.  132;  Medora's  Sony,  S.  102. 
III,  436. 

Beide  sind  tiefreligiöse  Gemüter.   Ihr  religiöses  Empfinden  und  Denken  ist  in 
allen  Nuancen  genau  das  gleiche.   Beide  loben  Gott  mit  Vorliebe  in  Hymnen : 
Morning    and   evening,    in   the  Hymn  on  awaking,  S.  34;  Hymri 

icatches  of  night,   and  in  the  revol-       on    going    to    bed,    S.  33;    Hymn, 
ring  hours  of  each  succeeding  day,  let       S.  79,   146.     Vgl.   auch   die   Prayers 
him  join  all  nnture  in  the  hymn  of      S.  104,  121,  142,  144,  155,  158. 
praise.     Preface,   S.  VI.     Vgl.    auch 
den  zahlreichen  Gebrauch  der  Worte 
hyrmi  und  prayer. 

Beide  sind  Verfasser  von  Dichtungen  religiösen  Charakters: 
Vgl.  die  ofher  poems.  Vgl.  die  sac7-ed  poems. 

Auf  den  völlig  gleichartigen  Geist,  wie  er  aus  diesen  Gedichten  weht, 
möchte  ich  besonders  hinweisen.  Ich  kann  denselben  an  dieser  Stelle  nicht 
genauer  analysieren;  überdies  wird  nur  die  Lektüre  der  rein  lyrischen  Stim- 
mungen, wie  sie  in  den  Gedichten  zum  Ausdruck  kommen,  einen  absolut 
überzeugenden  Eindruck  hinterlassen.  Ich  möchte  hier  nur  die  allerhäufig- 
sten,  immer  wiederkehrenden  Gedanken  berühren. 

Der  Gedanke  an  das  Weltgericht: 
Vgl.   z.  B. :    Summon   him   at  his       Th£  Lord  icho   saved  ond  sumnion'd 
judg^nent   bar    t'appear,    S.   19,    Str.  tJiee.  S.  94. 

XXXVII,Z.8.  Vgl.S.39,Str.LXXVII,       And  ronseienee  half  forgets  her  Judge 
6;    S.  14,   Str.  XXVI,  9  und  andere.  on  high. 

S.  124,  Z.  14. 
Der  Tod  als  Heimgang  des  Menschen: 
Vgl.  S.  15,  XXIX,  9;   S.  72,  Z.  1;  S.  237:  Man  goeth  to  his  long  home. 

S.  70  und  andere.  S.  94:    The  courts  of  praise  are  noir 

the  home  above  und  andere. 
Beide  besitzen  eine   ausgesprochene   Vorliebe  für  das  Alte  Testament: 
Vgl.  die  Zitate  aus  den  Propheten      Vgl.:  The  Prophet  Bards  of  Qod  dis- 
des  Alten  Testaments,  Preface,  S.  VI ;  perse 

desgl.  die  zahlreichen  Stellen  S.  109.       Our  dark  idolatry  of  Byron's  verst. 
Vgl.  die  Strophen  39—41,  48—54.  S.  126,  Z.  7—8.  Vgl.  S.  237,  239,  170. 


Kleinere  Mitteilungen  L>17 

Bei  beiden  gipfelt  diese  Vorliebe  im  l'ropheten  Isaias: 
Isa/'ah's  fiarp  liad  erhoed  to  tkt/  oirn  eto.       Our  .spirif  turns  to  rapt  Isaiah' s  iijre. 
S.  40,  Str.  LX'XVIII.  S.  126,  Z.  9. 

Vgl.    die    Zitate    Preface,    S.  VI;  Vffl.  S.  ISO. 

S.  110.    Vgl.  überdies  S.  59,  60,  61, 
67,  68. 

Beide  behandeln  dichterisch  Themata  aus  der  Leidensgeschichte  Christi: 
The  CriH-ifixinn.     S  63.  On  the  nativity  of  Christ.    S.  1. 

Tli  e  Resurreciion  of  Christ.  S.  48. 
Weitere  gemeinsame,  oft  wiederholte  Gedanken  sind:  das  Schuldbewußt- 
sein des  Sünders  (Urquli.  S.  19,  151  u.  a.,  Uriel  S.  63),  die  Heiterkeit  und 
Ruhe  des  iu  Gott  starken  Chiisten,  der  Gedanke  an  den  Tod,  das  Weltende; 
das  Ausklingeu  ihrer  Dichtungen  auf  Verzeihung,  Erlösung.  Beide  sind  auch 
gute  Kenner  des  Neuen  Testaments,  aber  die  Neigung  zum  Zitieren  aus  dem 
Alten  herrscht  vor. 

Beide  gebrauchen  dieselben  Lieblings wörter: 
Z.  B.   To   i,i/d  S.  40,   Str.  LXXIX,  To  qild  S.  102,  Z.  3;    S.  125,  Z.  3: 

Z.  8;  S.  7,  Str.  XIII,  Z.  S  u.  oftmals.       S.  125,  Z.  12. 

Kl>enso:    to  f)Iaxc,   melt,    (/isprl,    rrhnson.    iritJier,    Calrari/,    Saviour.    Chmih, 
Eden.  Strnph  {sot/y,  choir)  (bis  zur  Ermüdung  oft!). 
Beide  sind  Verehrer  der  griechischen  Antike: 
Vgl.  Strophe  VI,  S.  4.  ^  Nach    einer  Notiz   in  The   Geutle- 

man's    Magazine,    Bd.    LXXXIX,    I, 
S.  355  erhält  Urquhart  den  Sir  Roger 
Newdigate's  Prize  für  The  Iphigenia 
of  Timanthes  (abgedruckt  S.  198). 
Endlich   scheint  mir  auch  der  Name  Uriel  (vgl.  Miltons  Poetical  Works, 
Globe  edition,   III.  Buch;   Buch   Henoch,   20.  Kapitel)    eine   versteckte  An- 
spielung auf  den  Namen  Urquhart  zu  enthalten. 

Die  Annahme,  daß  Urquhart  der  Verfasser  des  Uriel  ist,  hat  nach  vor- 
stehender Gegenüberstellung  viel  für  sich ;  ein  absolut  sicherer  Beweis  wäre 
erbracht,  wenn  sich  nachweisen  ließe,  daß  Urquhart  um  1822  auf  dem  Kon- 
tinent weilte  (vgl.  die  Bemerkung  im  Titel  des  Uriel:  irritten  on  the  con- 
tincnt);  dieser  Nachweis  war  mir  bisher  ans  äußeren  Hindernissen  nicht 
möglich;  indessen  gewinnt  er  gerade  durch  die  Vermutung,  daß  Henry  John 
ein  Bruder  des  Politikers  gewesen  sei,  sehr  viel  an  Wahrscheinlichkeit,  da 
auch  der  Politiker  wiederholt  langausgedehntc  Reisen  auf  den  Kontinent 
unternommen  hat. 

Fraukenthal.  Fr.  BadtM-. 

Hiiracaii  yon  der  Hell. 

Im  Viertzehenden  Buch  der  rechten  Historien  vom  Amadiß  auß  Frauck- 
reich'  (1590)  wird  im  11.  Kapitel  eins  der  in  den  Ritterbüchern  üblichen 
Abenteuer  erzählt.  Auf  einer  Insel  sind  Agesillan  und  Arlanges  gegen- 
über einer  Übermacht  von  mehr  als  40  Rittern  und  6  Riesen  in  schwerste 
Bedrängnis  geraten,  aus  der  sie  aber  durch  die  zufällige  Notlandung  der 
Helden  Florisel,  Rogel,  Falangis  und  Anaxartes  befreit  werden.  Nachdem 
die  Ritter  noch  zwanzig  bewaffnete  Bauern  getötet  haben,  wurden  sie  'einer 
alten  Riesin  /  so  zwey  kleine  junge  Kinder  vnter  jhren  Armen  trüge  /  vnd 

Archiv  f.  n.  SpiacLen.    Vi'i.  ]5 


218  Kleinere  Mitteilungen 

auü  einem  Saal  gienge  innen  /  Welche  kein  einig  wort  redet  /  sondern 
bchrye  vnd  heulet  jämmerlich  /  gienge  demnach  zu  allerhöchst  in  das 
Schloß  /  auf  f  einem  Gange  /  vnd  stürtzt  sich  selbsten  herunter  zu  todt  .  . .' 
Es  wird  des  weiteren  von  diesen  Riesenkindern  erzählt:  'Vnd  ob  sie  gleich- 
wol  noch  keines  Jahrs  alt  /  wahren  sie  doch  so  groß  /  daß  man  jhnen  wohl 
zehen  hette  zurechen  mögen.  Diese  Kinder  nun  befahlen  sie  einer  Riesin  / 
so  inn  der  Insel  wäre  /  sie  zu  ernehren  vnd  zu  aufferziehen.  Es  were  aber 
viel  besser  gewesen  /  sie  hetten  die  getödt:  Dann  als  sie  zu  jhren  Tagen 
kamen  /  vnd  starck  wurden  /  haben  sie  den  Griechischen  Printzen  vnseglieh 
viel  schaden  zugefügt  . .  .'  ^ 

Diese  unbestimmte  Andeutung  späterer  Ereignisse  hat  dem  Fortsetzer 
Gelegenheit  geboten,  anzuknüpfen.  Das  ist  geschehen  im  22.  Buche  des 
Amadis,  im  18.  und  19.  Kapitel.  Hier  tauchen  diese  beiden  Riesen  auf  der 
Insel  des  Unglücks  wieder  auf,  wohin  der  Herzog  von  Lancaster  und  der 
Graf  von  Suffort,  die  nach  Trapezunt  wollen,  verschlagen  worden  sind.  Die 
Ankömmlinge  werden  von  den  beiden  Riesen  als  Kinder  der  Mörder  ihrer 
Eltern  erkannt,  es  kommt  zu  Kämpfen,  die  ungefähr  parallel  zu  denen  in 
Buch  14,  Kap.  11  verlaufen:  d.  h.  Erfolge  der  Gelandeten,  schließlich  Not 
infolge  Übermacht,  unerwartete  Landung  von  Waffengefährten,  Sieg,  Sturz 
der  überlebenden  Riesinmutter  in  den  Schloßgraben.^ 

Von  Interesse  ist  der  Name,  den  der  eine  der  Riesen  in  diesem  Aben- 
teuer des  22.  Buches  hat:  er  heißt  Huracan  von  der  Hell,  sein  Bru- 
der Dagobaradan.  Die  Jahreszahl,  die  das  22.  Buch  des  Amadis  trägt,  ist 
1594.  Damit  ist  ein  um  mehrere  Jahrzehnte  älterer  Beleg  für  das  Bekannt- 
werden des  span.  huracan  in  Deutschland  gegeben  als  der  bisher  älteste, 
aus  Hofmannswaldau  nachgewiesene. 

Bevor  der  Name  des  Riesen  genannt  wird,  berichtet  der  Anfang  des 
18.  Kapitels  folgendes  von  der  Ausfahrt  der  beiden  Helden,  des  'Hertzogs 
von  Lancastre'  und  des  'G  raffen  von  Suff  ort':  'Nach  dem  /  vnnd  wie  sie  nun 
von  dem  alten  König  Amadis  erlaubuuß  erlanget  /  vnnd  nach  abgelößten 
Schiffen  jhn  das  hohe  Meer  sich  gelassen  /  hat  es  nicht  lang  angestanden  / 
daß  ein  solches  vngestüm  schrecklich  gewitter  sich  erhaben  /  daß  auch  selber 
jre  Schiffpatrouen  /  Meerleut  vnd  Piloten  /  jhres  lebens  vnd  aller  wolfart 
verzweiffeiten  /  vnd  des  gentzlichen  vndergangs  sich  versahen  /  dan  in 
veder  Segel  /  Mastbaum  /  rüder  /  noch  regierung  gantz  geblieben  /  sondern 
alles  ward  zurissen  /  zerbrochen  /  verführt  vnd  zu  grund  gericht  /  also  daß 
sie  in  die  dritte  wochen  /  ohne  einige  hoffnung  zuentrinnen  /  auff  solchem 
wütenden  Meer  /  nach  des  Winds  vn  der  wasserwogen  gefallen  /  sind  hin 
vnnd  wider  geworffen  vnnd  zerstreuet  worden:  biß  auß  souder  Gottes 
Schickung  dz  Schiff  /  dariüen  der  Hertzog  von  Lancastre  vnd  Graff  vö  Suf- 
fort Vorhände  /  gleich  mit  de  tag  morges  frühe  /  au  einer  lustige  jnsel 
(welche  alsbaldt  von  den  Schiffleuten  /  die  jnsel  des  vnglücks  /  darinen  der 
grausamste  Rieß  vnnd  Tyrann  Huracan  von  der  Hell  /  sampt  sei- 
nem Bruder  Dagobaradan  /  herschete  /  zu  sein  /  erkandt  ward)  eingelassen 
vnd  ankommen.' 3 

Nun  ist  Unwetter  und  Sturm  ein  immer  wieder  gern  angewendetes  Mittel 
im  Ritterbuche,  um  die  Handlung  bequem  mit  unerwarteten  —  nur  allzu 
erwarteten!  —  Abenteuern  anfüllen  zu  können.    Gerade  der  Kapiteleingang 


A.  a.  0.  p.  108  und  109.      2  a.  a.  0.  p.  899  ff.     3  a.  a.  O.  p.  400  f. 


Kleinere  Mitteilungen  219 

ist  der  Lieblingsplatz  für  eine  Meerfahrt  mit  Hindernissen.  Gleichwohl  er- 
scheint nach  dieser  ünwetterschilderung,  die  im  22.  Buche  jedenfalls  die 
ausführlichste  ist  und  besonders  heftige  Einzelheiten  ausmalt,  das  plötz- 
liche Auftreten  des  Namens  Huracan  nicht  zufällig,  d.  h.  ohne  Beziehung 
auf  das  Vorhergehende.  Der  Autor  kannte  nicht  nur  das  Wort,  sondern 
auch  die  damit  bezeichnete  Sache.  An  dieser  Überzeugung  darf  auch  die 
Ähnlichkeit  anderer  ßiesennamen  im  gleichen  Buche  nicht  irremachen,  wie 
Horruon  (Kap.  10),  Horradin  (Kap.  42),  Haramatan  (Kap.  47),  ebensowenig 
die  anklingenden  Namen  des  Schlosses  Huracker  (Kap.  54)  und  des  Grafen 
Urquian  (Kap.  7).  Das  in  großer  Menge  benötigte  Namenmaterial  schaffen 
sich  die  Verfasser  der  Amadisbücher  —  jedenfalls  der  letzten  — ,  wenn 
ihnen  gerade  keine  klassische  Eeminiszenz  einfällt,  fast  so  skrupellos  wie 
ein  moderner  Fabrikant,  der  lateinische  oder  griechische  Wortstämme  mit 
den  Endungen  -ol,  -in,  -gen  usw.  versieht  und  seine  Waren  damit  bezeichnet. 
Natürlich  werden  auch  im  Amadis  bedeutungsvolle  Stammsilben  ausgenutzt, 
an  welche  dann  stereotype  Endungen  treten.  So  gibt  es  (nach  Gargantua 
gebildet)  Gargasan,  Gargorox,  (nach  Uterpandragon)  Bandragon,  Dondra- 
gon  usw.  In  Horruon,  Horradin  steckt  sicher  der  Stamm  von  honiaus. 
Die  Endung  von  Horradin  erinnert  an  Konradin  oder  Saladin.  Huracker 
ist  als  Zusammensetzung  ohne  weiteres  deutlich.  Haramatan,  Urquian  wie 
Dagobaradan  und  Safiraman  mögen  mit  ihrer  Endung  weniger  spanisch  als 
vielmehr  orientalisch  (persisch)  erscheinen  sollen,  bei  Dagobaradan  (wie  der 
Bruder  Huracans  heißt)  hat  sicher  der  Name  Dagobert,  den  die  letzten 
Amadisbücher  einem  der  Prinzen  gegeben  haben,  Pate  gestanden.  —  Eine 
derartige  phantastische  Neubildung,  deren  Zufallsergebnis  Huracan  ge- 
wesen wäre,  darf  man  dagegen  nicht  annehmen. 

Vielmehr  haben  wir  Huracan  in  jenen  Kreis  spanischer  und  amerikani- 
scher Namen  hineinzubeziehen,  zu  dem  es  gehört.  Spanische  und  alte  hi- 
spanisierte  Namenformen  sind  der  Hi-imat  des  Amadisromaus  entspiecliend 
auch  den  letzten  Büchern  nie  ganz  fremd  geworden,  wenngleich  'klassische* 
Namen,  eventuell  aus  französischem  Material  hergestellte  Namen  antiken 
oder  spanischen  Aussehens  (Plaisantina),  vorherrschen.  Eine  besondere 
Gruppe  bilden  jene  spanischen  Namen,  die  sich  auf  amerikanische  Verhält- 
nisse oder  auf  die  Zeit  der  Entdeckungen  beziehen.  Das  23.  Buch  verlegt 
einen  Teil  der  Abenteuer  in  die  unbekannte  India  und  handelt  vom  peruani- 
schen König  Artabaliba,  von  der  Königin  Zarzaparilla,  von  Guacanarillo, 
von  Cuscon.  Auch  das  22.  Buch  nennt  Bermuda  (Kap.  62) ,  den  Herzog  von 
Panama  (Kap.  46),  ein  Pferd  aus  Nicaragua  (Kap.  49),  und  es  taucht  darin 
ein  Prinz  Magellan  (Kap.  53)  auf,  natürlich  eine  Erinnerung  an  den  be- 
rühmten Weltumsegier  (f  1521).  Eine  genauere  Sichtung  des  Namen- 
materials ergibt  vielleicht  noch  manches  mehr. 

Diesem  spanisch-amerikanischen  Namehschatz  des  E.  B.  D.  J.,  der  sich 
allerdings  bekanntlich  nur  als  'Übersetzer'  des  22.  und  23.  Amadisbuches 
ausgibt,!  muß  man  den  Namen  Huracan  zuschreiben.  Man  ist  dazu  be- 
rechtigt, weil  in  den  Berichten  der  Reisenden,  wie  es  scheint,  seit  der  Mitte 
des  16.  Jahrhunderts,  das  neue  Wort  auftritt:  zuerst  in  Spanien  (Oviedo, 
Hist.   de   las   Indias   soll   auf   den   karibischen    Ursprung  des   Wortes   hin- 

!  Über  seine  und  die  übereinstimmende  Angabe  des  24.  Buches  an  an- 
derem Orte  bald  Näheres. 

15* 


220  Ivleiuere  Mitteilungen 

weisen)/  seit  1555  als  spauiscli-portiigiesische  Vokabel  bei  eleu  britisciieu 
kSeemacütrivalen  nachweisbar  (Eden,  Decades  21),-  vielleicht  gleichzeitig 
auch  bei  den  Franzosen  gebraucht,^  nach  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts 
erst  bei  den  Holländern  und  in  Deutschland  zu  belegen.*  Ob  der  Ursprung 
karibi-sch^  oder  sonst  ein  anderer  sei  —  jedenfalls  gehört  huracun  dem  Zeil- 
alter der  Entdeckungen  an  und  damit  dem  überwiegend  spanisch-portugiesi- 
schen Kulturkreise  jenes  Zeitalters. 

Der  Name  unseres  Riesen  aus  dem  22.  deutschen  Amadisbuche  heißt 
vollständig:  lluracan  von  der  Hell."  Wir  müssen  uns  wieder  in  den 
letzten  Amadisbüchern  umsehen,  ob  sich  ähnliche  Namen  sonst  darin  finden. 
Gelodan  von  Moldanien,  Roldan  von  Paris,  Noromit  von  Galinde  sind  an- 
derer Art,  ebenso  die  Pseudonyme:  feuriger  Ritter,  grüner  Ritter  u.  dgl. 
Näher  schon  steht  ein  Riesenname  wie  Rustan  der  Starck  (Buch  22,  47) 
oder  Sandix  der  schwartz  (Buch  22,  48).  Und  ganz  nahe  stehen  ihrem  for- 
malen Charakter  nach:  Florian  von  der  Brücken  und  die  bekannten  Namen 
Amanio  und  Hercules  vom  Gestirn.  Immerhin  liegt  in  der  Benennung 
Huracan  von  der  Hell  (also:  von  der  Hölle)  eine  seltenere  Prägungsart  vor. 
Willkür  des  Romanschreibers  bleibt  dabei  nicht  völlig 
ausgeschlossen.  Indessen  mag  recht  wohl  denkbar  sein,  daß  die 
Zeiten  der  Entdeckungen  zuerst  in  größerem,  eindrucksvollerem  Umfang 
den  Schiffsmann  die  schweren  Unwetter  des  Atlantischen  Ozeans,  insbeson- 
dere etwa  Wirbelstürme  uud  Wasserhosen,  kennen  und  fürchten  gelehrt 
haben.  Enger  Vertrautheit  mit  Tier,  Natur,  Naturerscheinung  u.  dgl.  ent- 
springt leicht  personifizierende,  mythosartige  Anschauung.  Kurz  und  gut, 
wenn  Hatzfeld-Darmest.,  Dict.  gen.  als  ältesten  französischen  Beleg:  aus 
dem  16.  Jahrhundert  'Les  haurachans?  et  borrasques  du  diable'  (P.  de  Loyer 
in  Delboulle  Rec.)  anführt  —  eine  Stelle,  die  ich  leider  so  wenig  wie  die 
späteren,  kaum  noch  hergehörigen  Zitate  (uracan,  uragan)  selbst  in  ihrem 
Zusammenhang  kontrollieren  konnte"^  — ,  wenn  1605  bei  Shakespeare  Im 
King  Lear  III,  2,  V.  2  'Rage,  blow,  You  cataracts  and  Hyrricano's,  sjxiut'" 

'  Vgl.  Littr6  unter  ouragan,  wo  die  frz.  Übersetzung  (1556)  zitiert  ist. 
Das  span.  Original  ist  zuerst  1526,  dann  1535  u.  ö.  vermehrt  und  verändert 
erschienen  (nach  Brunet,  Manuel  du  Libraire  t.  IV,  Paris  1863).  —  Das 
Dicc.  de  la  lengua  cast.  t.  IV  (1734)  zitiert  unter  huracan  nur  den  Herrera 
(Hist.  Ind.  2,  lib.  6,  cp.  13),  der  jünger  ist. 

■^  Vgl.  Murray,  N.  E.  Dict.  V  unter  hvrricanc  und  hurrica/no. 

3  Hatzf.-Darmest.,   Dict.  G6n.  gibt  an:    'XVIe  siöcle'. 

^  De  Vries  en  Kluyver,  Wordenboek  d.  Nederl.  Taal  XI  (1910)  gibt  für 
orkaan'  den  ältesten "^ Beleg  aus  dem  Jahre  1657.  —  Uhlenbecks  Annahme 
(Paul  u.  Braunes  Beitr.  20,  41  ff.),  Brandts  'Leven  van  de  Ruyter'  (1687) 
schöpfe  'orkaan'  aus  Rocheforts  'Hist.  nat.  et  mor.  des  Isles  Antilles'  (1658) 
—  die  durch  H.  Bullaer t  1662  übrigens  auch  ins  Niederl.  übersetzt  war  — , 
verliert  durch  die  älteren  Belege  bei  De  Vries  en  Kluyver  einen  Teil  von 
ihrem  Werte. 

5  Kolumbus  entdeckte  die  Kariben  auf   seiner   zweiten  Reise,   1495. 

6  Die  frajizösische  Ausgabe  des  22.  Amadisbuches  (1615)  bietet  S.  281  ff. 
diese  Episode.     Doch  lautet  der  Name  stets  Huracan  ohne  Zusatz. 

'  Siehe  ähnliche  Formen  fürs  Englische  bei  Skeat,  Et.  Dict.  (1910), 
p.  282  und  besonders  bei  Murray,  N.  E.  D. 

«  DelbouUes  Recueil  ist  —  jedenfalls  bis  1913  —  noch  nicht  erschienen. 
■'  Quarte  1  und  Q.  2    (1008):   You  catt^rickes,  &  H  i  r  c  a  n  i  0  s    spout    ...; 


Kleinere  Mitteihingen  221 

lind  lüOö  iu  Tioilus  and  Cressida  V,  2,  V.  172:  'Not  tlie  dreadfiil  ^pout 
■WTiich  shipmen  do  t  h  c  Hurricano  call  .  .  .'  '  begegnet,  und  nun  1594  das 
22.  deiitsche  Amadisbuch  den  Eiesen  Huracan  von  der  Hell  bringt, 
so  könnte  man  nach  diesen  nördlichen  Belegen  der  drei  Länder  urteilen,  es 
habe  im  ausgehenden  16.  und  im  beginnenden  17.  Jahrhundert  bei  weiteren 
Kreisen  und  besonders  bei  den  Amerikafahrern  selbst  die  Neigung  bestan- 
den, sich  den  huracan  wie  einen  teuflischen  Meeresdämou,  jedenfalls  als 
eine  Ausgeburt  der  Hölle  vorzustellen.  Da  ältere  Beispiele  (s.  besonders 
Belege  bei  Murray)  das  span.  /i>n-a cm/  sachlich  gebrauchen,  mag  in  der  Wen- 
dung zu  mehr  persönlichem  Gebrauch  eine  jüngere  Entwicklung  vorliegen, 
die  vielleicht  spezifisch  nordwesteuropäisch  (britisch?)  ist. 2  indem  hier  das 
Wort  deutlicher  als  im  Iberoromanischen  als  fremdes  gefühlt  wurde  und  im 
Verein  damit  die  entsprechende  Vorstellung  als  'Unikum'  stärkere  sinnliche 
Eigenschaften  entfalten  mochte.  —  Nicht  lange  danach  begegnen  freilich  im 
17.  -Tahrh.  derartige  Belege  für  ein^  lobhafte  Vorstellungsweise  nicht  mehr. 

Als  dann  von  neuem  und  mit  größerem  Erfolg  als  durch  den  Amadis 
der  ///irar-ou  =  'Orkan'  über  das  Niederländische  in  die  deutsche  Sprache 
dringt-,  liegt,  wenn  man  dem  Fingerzeig  des  Grimmschen  Wörterbuches 
folgt,  eine  solche  lebendigere,  personifizierende  Anschauung  beim  Gebrauch 
des  Wortes  ebenfalls  anfänglich  weniger  vor  als  in  einer  späteren  Zeit,  in 
der  größere,  neuer  Mythenbildung  fähige  Dichter,  namentlich  Jean  Paul 
und  Lenau,  es  in  einer  Weise  zu  verwenden  verstehen,  als  handle  es  sich 
um  eine  Erscheinung,  die  sich  das  Volk  fast  so  leibhaftig  vorstelle  wie  die 
Fata  Morgana  oder  die  Mesnie  Hellequin.  Man  könnte  ähnlich  an  eine 
besondere  Leistung  Shakespeares  denken  (zumal  da  er  gegenüber  sonstigem 
Gebrauch  des  Wortes  —  wie  auch  Drayton  an  einer  Stelle  —  bei  Imrru-inin 
die  Wasserhose  und  nicht  den  Wirbelsturm  an  sich  im  Sinne  hat.  Aber  er 
beruft  sich  auf  die  shipmen.  Vielleicht  würde  auch  das  nicht  allzu  schwer 
wiegen,  böte  nicht  in  den  beiden  anderen  angeführten  Belegen  der  gleichen 
Zeit  der  Anschluß  an  den  kirchlichen  Vorstellungskreis  (Hölle,  diablel 
mehr  Gewähr  für  eine  verbreitete  Anschauung.  —  Etwas  Derartiges  fehlt 
der  reinliterarischen  Entwicklung  des  deutschen  'Orkan'  durchaus.  —  Für 
eine  volkstümlich  verbreitete  Anschauung  ist  eine  weitere  Stütze  die  bei 
aller  Phantastik  doch  recht  geringe  Orginalität  des  Verfassers  des  22.  Ama- 
disbuches.  der  schwerlich  anders  als  unter  dem  Eindruck  irgendeiner  ihm 
von  außen  her  zugekommenen  Vorstellung  gerade  für  den  Biesen  Huracan 
und  sonst  keinen  anderen  den  Zusatz  'von  der  Hell'''  gewählt  hat. 

Halle  n.d.  S.  W.  M  u  1  e  rt  t. 

,Q.  3:  Hercantos;  Folio  1:  Hyrricano's;  F.  2— 4:  Hurricano 's. 
—  The  Cambr.  Shakesp.  VIII,  p.  97  (1895)  und  sonstige  moderne  Ausgaben 
schreiben    h  u  r  r  i  c  a  n  o  e  s. 

'  Erstes   Quarto    (1609):   Wich    Shipmen   do  the   hurricano   call   ... 

-  Die  deut.sche  Form  Htirnrnn}  die  dem  span.  l>>/rc'fn}i  völlig  entspricht, 
läßt  sich  lautlich  nicht  durch  die  englischen  (s.  Murray),  höchstens  durch 
die  französischen  Formen  vermittelt  denken   (vgl.  Dict.  G6n.). 

^  Der  volle  Na.me  erscheint  nur  bei  der  ersten  Nennung,  sonst  stets 
Huracan  schlechthin.  —  Wort  und  Begriff  'Hölle'  ist  in  den  letzten  Amadis- 
büchern  trotz  deren.  Ausdehnung  selten.  Ich  entsinne  mich  nur,  in  Buch  24, 
Kap.  77  und  82  —  auch  für  Eiesen  und  für  Kampf  mit  Eiesen  —  die  Aus- 
drücke 'Hellische  Geyster'  und  'Hellische  metzig'  gelesen   zu  haben. 


222  Kleinere  Mitteilungen 

Ein  provenzalisches  Sprichwort. 

Die  beiden  letzten  Verse  der  von  Hs.  P  überlieferten  und  im  'Archiv' 
50,  274  abgedruckten  Cobla  Nuls  homs  non  deu  (Gr.  461,  181)  lauten; 

Mas  ses  acho  dis  lo  -proverhis  plans: 
Qe  fai  son  fron  non  ereza  sas  mans. 

Kolsen,  'Zwei  provenzalische  Sirventese  nebst  einer  Anzahl  Einzelstrophen' 
(Halle  1919)  bemerkt  dazu  S.  22  Nr.  22,  daß  Cnyrim,  'Sprichwörter'  S.  35 
no  364  non  ereza  sos  mans  schreibt,  fragt  mit  Recht,  wie  dies  zu  verstehen 
sei,  und  schreibt  seinerseits:  Qi  fai  son  pron  no-n  negrejan  sas  mans  'Wenn 
einer  einen  Schnitt  macht,  werden  seine  Hände  davon  nicht  schmutzig'.  Die 
Änderung  in  der  zweiten  Hälfte  des  Verses  ist  sehr  gewaltsam.'  Zwar  be- 
legt Eaynouard  einmal  negrejar  aus  dem  Elucidari,  aber  es  kann  nicht  zwei- 
felhaft sein,  daß  man  nur  eine  leichte  Änderung  vorzunehmen,  nämlich  oreza 
für  ereza  zu  lesen  hat,  falls  nicht  vielleicht  oreza  schon  in  der  Hs.  steht. 
Aber  auch  in  dem  ersten  Teile  des  Verses  braucht  für  Qe  nicht  Qi  gesetzt  zu 
werden,  wenn  die  Hs.  wirklich  qe  aufweist,  denn  beziehungsloses  que  für 
qni  begegnet  auch  sonst,  s.  'Zs.  f.  rom.  Phil.'  XXVII,  599,  Anm.  1  und 
'Archiv'  136,  333.  Der  ganze  Vers  muß  daher  lauten:  Qe  fai  son  pron,  no'n 
oreza  sas  mans  'Wer  das  tut,  was  ihm  Vorteil  bringt,  beschmutzt  deshalb 
seine  Hände  nicht'.  Das  Sprichwort  selber  ist  mir  sonst  im  Provenzali sehen 
nicht  begegnet,  dagegen  trifft  man  es  im  Norden  an  in  den  'Proverbes  au 
vilain'  ed.  Tobler  Nr.  11,  V.  7  in  der  Form  qui  fait  son  prou,  ne  cuit  sa 
main,  während  die  Fassung  in  den  Hss.  Fi9  mit  ne  congie  sa  main  und  die- 
jenige in  einer  lateinischen  Predigt  mit  ne  solle  ses  mains  (s.  die  Anmer- 
kung von  Tobler)  genau  zu  der  provenzalischen  stimmt. 

Jena.  0.  S  c  h  u  1 1  z  -  G  o  r  a. 

Cleomades-Fraffmentp. 

Die  Geringschätzung,  der  die  Literatur  des  Mittelalters  im  Zeitalter 
der  Renaissance  und  des  Humanismus  verfiel,  hat  einen  weit  größeren  Ver- 
lust mittelalterlicher  Handschriften  verschuldet  als  die  folgenden  Jahr- 
hunderte, in  denen  die  alten  Kodizes  Gegenstand  des  bibliophilen  oder  anti- 
quarischen Interesses,  später  der  gelehrten  Forschung  wurden.  Zeugen  dafür 
sind  die  zahlreichen  Einbände  von  Drucken  der  Inkunabelzeit  und  des 
16.  Jahrhunderts,  zu  denen  Teile  von  zerschnittenen  Pergamenthandschriften 
als  Umschläge,  Schutzblätter,  Falzen,  von  Papierhandschriften  als  Pappen 
der  Deckel  Verwendung  gefunden  haben.  In  die  erste  Hälfte  des  16.  Jahr- 
hunderts ist  denn  auch  der  Untergang  einer  wertvollen  Pergamenthand- 
schrift von  Adenets  Cleomades  zu  setzen,  von  der  ich  jüngst  in  der  Preußi- 
schen Staatsbibliothek  in  Berlin  spärliche  Bruchstücke  in  dem  Einband  der 
1530  in  Paris  gedruckten  Reden  und  Briefe  des  Juristen  und  Philologen 
Christophe  de  Longueil  2  (1488 — 1522)  gefunden  habe.   Dem  Drucke 

1  Auch  die  Änderungen,  die  K.  in  den  schlecht  überlieferten  Versen  4 
und  6  der  Strophe  angebracht  hat,  sind  recht  starke,  ohne  daß  sich  ein 
zufriedenstellender  Sinn  ergibt. 

2  Christophori  Longolii  Orationes  ...  Eiusdem  Epistolarum  libri  qua-- 
tuor  . .  .  Accuratione,  typis  et  impensis  Jodoci  Badii  Ascensii,  in  inclyta 
Parrhisiorum  Academia  1530.  Standnummer  des  Berliner  Exemplars: 
Xh  2451. 


Kleinere  Mitteilungen  223 

gleichzeitig  ist  BO\rohl  der  Ledereinband,  dessen  blinde  Deckelpressung  von 
mehrfachen,  ein  freies,  mit  wenigen  Lilienstempeln  geziertes  Mittelfeld  um- 
rahmenden Borden  in  typischer  Tlenaissanceornamentik  gebildet  wird,  als 
auch  die  zweimalige  Eintragung  Langloys  auf  dem  Titelblatt,  in  der  wir 
wohl  die  Hand  des  ersten  Eigentümers  erkennen  dürfen.  In  den  Besitz  der 
ehemaligen  König-lichen  Bibliothek  gelangte  der  Druck  durch  den  Kauf  der 
Spanheimschen  Sammlung  (1701).  Ezechiel  Spanheim  hat  als  bran- 
denburgischer Gesandter  in  Paris  (1680 — 89,  1698 — 1701)  einen  sicher  nicht 
geringen  Teil  seiner  bedeutenden  Bücherschätze  gesammelt;  man  darf  ver- 
muten, daß  er  damals  auch  die  Orationes  des  Longolius  erworben  hat.i 

Die  Fragmente  der  Handschrift  bestehen  aus  zwei  Pergamentstreifen 
(16,3X6,1  cm),  die  zur  Befestigung  der  Heftfäden  zwischen  Deckeln  und 
Buch  eingefalzt  waren.  Der  eine  Streifen,  dem  Blattrand  der  sehr  breit- 
randigfen  Handschrift  entstammend,  ist  völlig  unbeschrieben.  Die  seitlichen 
Bänder  und  Ecken  des  anderen  sind  beschnitten,  da.s  Schriftfeld  aber,  der 
obere  Teil  eines  zweispaltig  beschriebenen  Blattes,  ist  in  .seiner  ganzen 
Breite  (14  cm)  erhalten,  und  zwar  von  jeder  Spalte  die  ersten  acht,  zusam- 
men also  32  Verse.  Sie  entsprechen  den  Versen  5271—5278,  5299—5306. 
5327 — 5334,  5355 — 5362  der  Ausgabe  von  van  Hasselt.  2  Die  Übereinstim- 
mung der  verlorenen  Handschrift  mit  der  Arsenalhandschrift  in  der  Vers- 
zahl,  die  durch  die  gleichmäßigen  Lücken  von  je  20  Versen  in  dem  Fragment 
wahrscheinlich  ist,  vorausgesetzt,  ergibt  sich  als  Gesamtzeilenzahl  der  ur- 
sprünglichen Spalte  28.  als  die  Höhe  des  Schriftfeldes  14  cm.  Die  mittel- 
große, kräftige  Buchschrift  zeigt  die  Hand  eines  Schreibers,  dem  die  Klar- 
heit des  Schriftbildes  genügte,  der  aber  keine  Eegelmäßigkeit  und  schöne 
Gestaltung  der  Züere  erstrebte.  Die  Verse  sind  absresetzt,  ihre  Anfangs- 
buchstaben jrlpichmäßijr  vorgerückt,  die  größeren  Abschnitte  beginnen  mit 
nbwpchselnd  roten  und  blauen  Initialen  von  doppelter  Zeilenhöhe,  die  durch 
kallicrraphische.    auf    dem   Band   sich    verlaufende  Schnörkel   verziert   sind  ^ 

Der  Cleomades-Boman  liegt  in  einer  guten  Überlieferung  vor.  Mehrere 
Handschriften  srehen  noch  in  das  13.  Jahrhundert  zurück  und  dürfen  so  als 
annähernd  gleichzeitig  mit  der  Entstehung  des  Gedichtes*  gewertet  werden. 

1  s.  F.  Wilken,  'Geschichte  der  Königlichen  Bibliothek  zu  Berlin',  Berlin 
1828,  S.  54  ff.,  185.  —  Aus  Spanheims  Besitz  stammt  auch  das  von  Marie 
de  Gournay,  der  Freundin  und  Verehrerin  Montaismes,  handschriftlich 
durchkorrigierte  Exemplar  der  Folioausgabe  seiner  Essavs  (Paris  1635). 
welches  H.  Morf  kürzlich  als  Eisrentum  der  Berliner  Bibliothek  wieder- 
erkannt hat;    s.   Sitzungsbericht  der  Berliner   Akademie.   Jg.   1917,   S.   517. 

2  Li  Boumans  de  Clöomad&s  par  AdenSs  li  Bois.  Public  par  A.  van  Has- 
selt. Bruxelles  1865. 

5  Die  Pergamentstreifen  sind  nun  von  dem  Druck  sretrennt  und  als  Ms. 
Gall.   8"  34  der  Handschriftenabteilunsf  der  Staatsbibliothek  inventarisiert. 

4  Letztes  Viertel  des  13.  Jahrhunderts,  nach  1280  und  wohl  bereiis  vor 
der  Ernennung  Boberts  IT..  des  Grafen  von  Artois,  zum  Besrenten  von  Si- 
zilien (1285)  und  dem  Tode  König  Philipps  des  Kühnen  (1285).  s.  A.  Bovy. 
Annales  de  la  Sociötö  d'archeoloQ-ie  de  Bruxelles  T.  X  (18961  S.  458.  Gröber 
im  Grundriß  der  romanischen  Philologie  TT.  1.  S.  780,  beide  indes  in  den 
chronolofrischen  Angaben  nicht  völlicr  zutreflFend.  —  Die  Hand.schriften  sind 
in  zeitlicher  Folsre,  die  auf  die  Angaben  der  Kataloge  sich  stützt:  13.  JI1. 
Arsenal  3142,  Bibl.  Nat.  24  404  —  13.-14.  .Ih.  Bibl.  Nat.  24  430  —  14.  -Jh. 
Bibl.   Nat.   1456  —  14.— 15.    Jh.   Bibl.   "NTat.   24  405   —   15.   Jh.   Bibl.   Nat. 


22-1  Kleinere  Mitteilungi'u 

Die  Eandschrift  der  Arsenalbibliothek  gilt  seit  P.  Paris  als  wahrschein- 
lich unter  den  Augen  des  Dichters  entstanden.)  Die  treffliche  Wiedergabe 
der  in  ihr  enthalteneu  Miniatur,  welche  Adenet  vor  seinen  Gönnerinnen 
kniend  darstellt,  und  der  sie  begleitenden  Verse  in  H.  Suchiers  Geschichte 
der  altfranzösischen  Literatur  (2.  Aufl.  1913,  S.  211)  gestattet  einen  be- 
quemen Vergleich  des  Schriftcharakters  beider  Handschriften.  Das  paläo- 
graphische  Bild  der  Berliner  Fragmente  (B)  ist  zweifellos  das  altertüm- 
lichere. Nicht  nur  herrscht,  um  nur  die  für  die  zeitliche  Bestimmung  wich- 
tigeren Buchsta.ben  zu  vergleichen,  in  B  durchaus  das  alte  a  mit  dem  über- 
ragenden, oben  nach  links  gekrümmten  Schaft  vor,  neben  dem  nur  ganz  ver- 
einzelt die  späteren  Formen  sich  finden:  das  doppelstöckige  a  und  das 
Sack-a,  bei  dem  die  Ausbuchtung  die  Höhe  des  Schaftes  erreicht  und  sich 
mit  ihm  vereinigt  hat,  auch  bei  t  überschreitet  der  Schaft  nie  die  Linie 
des  auch  nach  links  kräftig  ausladenden  und  so  t  von  c  deutlich  trennenden 
Querbalkens,  im  Wort-  und  Versauslaut  erseheint  nur  das  lange  J,  der 
i-Strich  findet  sich  nur,  wenn  der  Buchstabe  neben  n  oder  u  steht.  Die 
Arsenalhandschrift  dagegen  kennt  nur  das  doppelstöckige  a,  der  Schaft 
des  t  ist  regulär  über  den  Querbalken  erhöht,  neben  dem  langen  /  findet 
sich  auch  das  runde  im  Auslaut,  in  der  Kennzeichnung  des  i  durch  den 
Strich  ist  der  Schreiber  viel  weniger  sparsam  —  alles  Merkmale,  die  an  sich 
auf  eine  jüngere  Hand  deuten  und  aus  denen  man  eine  frühere  Datierung 
von  B  ableiten  möchte,  wenn  nicht,  wie  immer  bei  der  Anwendung  paläo- 
graphischer  Kriterien,  die  Rücksicht  auf  individuelle  .und  lokale  Eigenart 
des  Schreibers  und  der  Schule,  die  Möglichkeit  einer  archaisierenden  Schrei- 
bung infolge  minder  starker  Neigung,  der  neuen  Schriftmode  zu  folgen, 
Vorsicht  geböten.  Jedenfalls  liegt  in  B  das  Fragment  einer  Handschrift  des 
13.  Jahrhunderts  vor,  vielleicht  der  ältesten  Cleomades-Handschrift  über- 
haupt. 

Die  neuen  Bruchstücke  geben  Anlaß,  den  Text  van  Hasselts  an  zwei 
Stellen  zu  bessern:  5273  au  roi  Carmant  und  5357  saisist  Voreillier',  die 
einzige  fehlerhafte  Lesart  von  B  der  Arsenalhs.  gegenüber  —  5357  8i  une  — 
ist  von  dem  Rubrikator  durch  Wahl  der  falschen  Initiale  verschuldet.  Alle 
übrigen  Varianten,  die  ich  in  den  Anmerkungen  genau  verzeichne,  sind 
rein  sprachlicher  Art.  Trotz  der  Kürze  der  Fragmente  läßt  sich  nicht  ver- 
kennen, daß  nichtfranzische  Eigentümlichkeiten,  die  auch  für  die  Sprache 
Adenets  gesichert  sind, 2  stärker  hervortreten  als  in  der  Arsenalhs.:  in  der 
fast  regelmäßigen  Verwendung  von  s  für  ausl.  z,  die  auf  den  pikardischen 
Schwund  des  Dentals  in  der  Verbindung  ts  hinweist,  wohl  auch  in  du  5274) 
und  in  der  Bevorzugung  von  o,  gegenüber  z,  dou^  und  ou  (eu)  der  Arsenalhs. 


19  165,  Bern  238.  Die  von  Gröber  a.  a.  0.  noch  angeführte  Hs.  Bibl.  Nat. 
12  561  (15.  Jh.)  ist  dagegen,  wie  dem- Katalog  zu  entnehmen  ist,  nicht 
Adenets  Gedicht,  sondern  eine  der-  Prosaauflösungen,  die  P.  Paris,  Histoire 
litteraire  de  la  France  T.  XX   (1842)   S.  718,  erwähnt. 

1  P.  Paris  a.  a.  O.  S.  710;  Hasselt  a.  a.  0.  S.  XXVII;  A.  Scheler  in  der 
Ausgabe  der  Enfances  Ogier  (Bruxelles  1874)  S.  VIII;  H.  Suchier  a.  a.  O. 
S.  211. 

2  Vgl.  Bovy  1.  c.  XII  (1898)  23  ff.;  F.  Ab6e,  Laut-  und  Formenlehre  zu 
den  Werken  des  Adenet  le  Roi.  Dissertation,  Halle  1905. 

3  Zu  du,  dou  vgl.  G.  Rydberg,  Kritischer  Jahresbericht  der  roman.  Philo- 
logie VI,  1,  225. 


Kleinere  Mitteilungen  225 

lu  dem  Ulm  folgenden  Abdruck  sind  die  Auflösungen  der   Abkürzungen 
ilureh  kursive  Schrift,  Ergänzungen  durch  eckige  Klammern  gekennzeichnet. 
Ra: 
5271     'Car  ainz  par  lui  ne  viwt  nul  ior 

Fors  que  tout  bien  ertoute  honor." 

Aiwsi   au   roi   Carman.t  parloient 

Du  meillor   conioit  gu'il  sauoienL 
5275     Mais  eil  confors  sambloit  petis 

Au  roi.    Lors  s'est  de  lä  partis; 

[Ca]r  11  n'ert  pas  aseürös 

[Que  eil  confojrs  fust  ve/ites. ' 
Rb: 

Bicn  Vit  que  il  n'estoit  pas  lies; 
5300     Lors  cuida  q;*'il  fust  deshaitiez. 

'Qw'est  ce,  Sire,  fait  il,  k'aucz? 

Yous  nie  sambles  touz  esfre^s. 

Ai-nz  mais  en  tel  point  ne  vous  vi; 

Mowlt  en  ai   le  euer  esmari.' 
5305     nist  li  rois:   'Mal  aues  gardße 

[Clarm]  ondine.    Mar  la  ui   nee.' 
Va: 
5327     C'ommunaumetit  dedens  e-ntrerent. 

Les  trois  damoiseles  trouuerent; 

Q«i  dormoient,  ce  leur  sambloit; 
5330     Et  quawt  le  lit  sa  fille  voit 

Li  rois,  et  pas  ne  l'i  trouua, 

Seur  le  lit  de  duel  se  pasma. 

(^«ant  les  damoiseles  ce  uire?it, 

Ew  plorawt  mo?*lt  tost  se  uestirerd. 
Vb: 
5355     Aussi   qw'eles   fusse«t  deruees, 

Se  sont  seur  le  lit  adentöes. 

Si  une  sp,isist  l'orelier 

Et  le  prewt  fort  ä  enbracier 

Et  l'autre  le  oueurechief  prent 
5360     Et  le  baise  piteusemcTit ; 

La  tierce  aert  le  couuert  [or] . 

Lä  demenoient  tel    [dolor]   .  .  . 
Ausgabe  von  van  Hasselt:  5271  ajns,  jour  —  5272  honnour  —  5273  ä  roi 
—  5274  Dou  meilleur  —  5277  asseürez  —  5278  veritez  —  5299  liez  —  5302 
samblez  tous  e£fr6ez  —  5303  Ainc  —  5305  avez  —  5327  dendenz  —  5357  Li 
une  saisi  l'oreillier  —  5358  embracier. 

Berlin.  Karl   Christ. 

Zum  Planch  dos  Bertran  Cartooiiel. 

Es  versteht  sich,  daß  das  Verfahren  von  C.  Fahre,  in  dem  Klagelied  des 
B.  Carbonel  S'ieu  anc  nulh  temps  von  den  beiden  Namensinitialen  p  G  der 
Hs.  (R)  das  p  einfach  zu  streichen  und  für  G  ein  C  einzusetzen,  das  nun- 
mehr =  Cardinal  sein  soll,  ein  ganz  willkürliches  ist,  aber  auch  Bertoni 
ist  kürzlich  im  'Archivum  romanicum'  II,  252  ff.  sehr  in  die  Irre  geganj^en. 

•  Die  in  Klammern  stehenden  Buchstaben  sind  völlig,  von  den  übrigen 
der  letzten  Zeile  die  unteren  Hälften  dem  Beschneiden  zum  Opfer  gefallen. 
Das  gleiche  gilt  auch  von  den  letzten   Zeilen  der  übrigen  Abschnitte. 


226  Kleinere  Mitteihiiigt>n 

wenn  er  mit  Bestimmtheit  behauptet,  in  der  Hs.  stünde  gar  nicht  ö,  sondern 
s,  und  wenn  er  ein  vermeintliches  p  s  auf  Pons  Santolb  (de  Tolosa),  den 
Schwager  des  G.  de  Montanhagol  deutet.  Einmal  wird  der  Name  Pons  nicht 
mit  p  abgekürzt,  und  noch  viel  weniger  der  seltene  Name  Santoih  mit  s, 
dann  aber  ist  der  Umstand  außer  acht  gelassen  worden,  daß  bei  B.  Carbonel 
auch  Gr.  82,  9,  V.  49,  54"  (Appel,  Ined.  S.  78)  Peire  Guülems  begegnet,  sowie 
daß  auch  Gr.  82,  18  die  Anfangsbuchstaben  P.  O.  er  scheinen  ^^  (Appel,  Ined. 
S.  82),  und  drittens  ist  es  nicht  richtig,  daß  in  der  Hs.  ein  s  steht.  Bertoni 
hat  nicht  genau  zugesehen,  sonst  hätte  er  schon  auf  der  photographischen 
Wiedergabe,  die  er  von  der  Stelle  beibringt,  bemerken  müssen,  daß  andere 
krause  s  der  Hs.  wesentlich  anders  aussehen  als  sein  in  Frage  kommendes, 
und  daß  überdies  der  Schreiber  am  Anfang  der  Wörter  ein  langes  s  zur  An- 
wendung bringt.  Die  Sache  liegt  einfach  so,  daß  von  einem  Stück  des  linken 
Bogens  des  G  (die  Druckerei  besitzt  keine  Letter  für  die  Form  des  großen 
Buchstabens,  wie  sie  in  den  Hss.  erscheint)  die  Tinte  verschwunden  ist,  wahr- 
scheinlich infolge  von  Herüberwischen  mit  den  Fingern  von  Seiten  der  Benutzer 
der  Hs.  Ergänzt  man  die  Lücke  des  Bogens,  so  erscheint  sofort  das  o  ,  das  be- 
kanntlich im  Süden  wie  im  Norden  diegewöhnliche  Abkürzung  für  Ouillem,  Guil- 
laume  ist.  Vermutlich  war  zur  Zeit  Haynouards,  der  ohne  weiteres  G  las 
(Choix  V,  99),  der  Buchstabe  noch  ganz  intakt.  2  Es  ist  mithin  klar,  daß  es 
beim  alten  zu  bleiben  hat,  nur  daß  man  wegen  des  Versmaßes  das  p  nicht 
in  peire,  sondern  in  peir  (also  en  Peir  Giiille^n)  aufzulösen  hat,  welche  Form, 
wie  das  schon  Springer  bemerkt  hat,  auch  sonst  bei  den  Trobadors  begegnet. 
Auch  in  der  Wissenschaft  gibt  es  eine  Geschäftigkeit,  die  hysterisch  an- 
mutet, und  die  nur  vom  Übel  sein  kann. 

Jena.  0.  Schultz-Gora. 

Italienisches  zum  Tartuffe. 

In  Band  134  dieser  Zeitschrift  habe  ich  darauf  hingewiesen,  daß  tartuffo 
schon  vor  MoliSre  in  Italien  in  der  Bedeutung  von  Betrüger  gebraucht 
wurde.  Daneben  gab  es  eine  weibliche  Form  tartu-ffa,  von  der  keines  der  mir 
zugänglichen  italienischen  Lexika  Notiz  nimmt.  In  dem  Petrarchista  des 
Ercole  Giovannini,  zum  erstenmal  gedruckt  Venedig  1623,  wohl  aber  wesent- 
lich früher  verfaßt,  heißt  es  auf  S.  142:  Non  dite  nulla,  che  rassemira  U 
pensieri,  afti,  c  parole  d'amorc  alle  Turtuffe.  Die  inhaltliche  Erklärung  der 
Stelle,  die  einem  angeblichen  Traum  Petrarcas  entstammt,  würde  zu  weit 
führen;  es  genügt,  hier,  daß  amorc  alle  Tnrtuffe  eine  auf  materiellem  Inter- 
esse beruhende  Liebe  bedeutet.  Der  Zusammenhang  sowie  das  am  Hand  ver- 
merkte Stichwort  Tartuffe  beweisen,  daß  es  sich  um  einen  damals  bekannten 
und  gebräuchlichen  Ausdruck  handelt. 

Tartufife  selbst  steht  in  enger  Verbindung  mit  dem  Pedante,  von  dem 
Gabriello  Simeoni  in  seinen  'Satire  aUa  berniesca'   (Torino   1.540'i   sasrt : 


1  Ob  der  hier  geschmähte  P.  G.  mit  dem  p  G  des  Planch  identisch  sei,  ist 
ein  kleines  Problem  für  sich,  über  das  sich  Springer,  'Klagelied'  S.  63  ver- 
breitet hat. 

2  Man  vergleiche  damit  die  Tatsache,  daß  in  den  Briefen  Eambauts  Tobler 
vor  Jahren  verschiedene  Stellen  ganz  anstandslos  hat  lesen  können,  die  jetzt 
auch  mit  der  Lupe  nicht  mehr  zu  erkennen  sind;  dies  gehört  in  das  Kapitel 
der  sorglosen,  weil  nicht  genügend  beaufsichtigten  Behandlung  von  Manu- 
skripten durch  die  Benutzer  von  Hss.  der  Nationalbibliothek. 


Kleinere  Mitteilungen  227 

Di  natura  ö   il   pedante  aspro  e  villano, 
implacabile,  avaro,  e  discortese, 
crudel,  superbo,  sospettoso,  e  vano. 
Prima  s'acconcia  in  casa  per  le  spese, 
poi  quel  Margxitte  ognun   si  caccia  sotto, 
,  e  del  tutto  ö  padrone  in  men  d'un  mese. 

In  Gene  II,  7  des  Grazzini  (Lasca)  wird  der  Pedant  in  ähnlicher  Weise  wie 
der  Held  der  Moliöreschen  Komödie  in  die  Falle  gelockt,  und  Cene  II,  8 
erzählt  von  einem  Priester,  il  piü  tristo  e  maggiore  ipocrita,  der  aus  der 
Bloßstellung  seiner  Liebespläne  durch  List  und  Geistesgegenwart  als  mezzo 
Santo  hervorgeht.  Die  Cene,  verfaßt  um  1560,  wurden  erst  1743  zum  ersten 
Male  gedruckt,  sie  kommen  also  als  Quelle  MoliSres  kaum  in  Betracht,  sie 
beweisen  jedoch,  daß  er  mit  Bausteinen  arbeitete,  die  in  Italien  längst  vor- 
handen waren.  Zum  Verständnis  des  Tartuffe  ist  es  von  Wichtigkeit,  daß 
der  italienische  Pedante  im  Laufe  des  16.  Jahrhunderts  aus  einer  komischen 
imd  belachten  Persönlichkeit  zu  einer  gefürchteten  und  gehaßten  geworden 
war,  die,  wie  schon  aus  der  Schilderung  Simeonis  hervorgeht,  mehr  aus 
Herrschsucht  als  aus  Lüsternheit  handelt. 

Berlin.  Max  J.  Wol  f  f. 

Ton  Goethe  über  Heine  zu  Yictor  Hugo. 

In  einem  Paralipomenon  zur  'Campagne  in  Frankreich  1792'  hat 
Goethe  sich  notiert:  'Marseiller  Marsch  Te  Deum  der  Franzosen';  diesen 
Einfall  benutzte  er  in  der  an  die  'Campagne'  anschließenden  'Belagerung 
von  Mainz',  wo  er  (Weimar.  Ausg.  33,  308;  Jub.-Ausg.  28,  246)  von  der 
Marseillaise  als  dem  'revolutionären  Te  Deum'  spricht;  vgl.  G.  Eoethe, 
Goethes  Campagne  in  Frankreich  1792,  Berlin  1919,  S.  228,-  Anm.  1.  Offen- 
bar gefiel  dies  Wort  und  der  darin  enthaltene  Vergleich  Heine;  er  ver- 
tauschte behend  die  beiden  Glieder  und  charakterisierte  in  seinen  Aufsätzen 
'Zur  Geschichte  der  Religion  und  Philosophie  in  Deutschland'  Luthers  'Ein 
feste  Burg  ist  unser  Gott'  als  'die  Marseiller  Hymne  der  Reformation' 
(Elster  4,  200).  Diese  Aufsätze  waren  bekanntlich  ursprünglich  für  ein 
französisches  Publikum  bestimmt  und  zuerst  in  der  Revue  des  deux  mondes 
1834  erschienen.  Hier  wird  sie  vermutlich  auch  Victor  Hugo  gelesen 
haben;  denn  mehr  als  dreißig  Jahre  später  lesen  wir  in  seinem  Buch  über 
Shakespeare  (Edit.  Hetzet  in  16  0^  p.  73):  Le  Choral  de  Luther  est  un  peu 
ttno  marseillaise. 

Berlin-Halensee.  Erich  Loewenthal. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Friedrich  Gundolf,  Goethe,   3..  unveränd.  Aufl.  ßerhn,  Bondi,  1917. 
VIII,  795  S. 

Odi  profanum  vulgus  et  arceo  —  Horazens  Vers  steht  zwar  nicht  Wort 
für  Wort,  aber  immerhin  recht  deutlich  am  Eingang  von  Gundolfs  Goethe- 
Averk:  er  wird  umschrieben  durch  die  Worte,  mit  denen  der  Verfasser  Art 
und  Ziel  seines  Buches  darlegt.  Keine  Biographie  im  gewöhnlichen  Sinne 
will  er  geben;  nur  insofern  er  sich  im  Kunstwerk  ausdrücke,  habe  ja  der 
Künstler,  wolle  er  als  solcher  zu  Recht  seinen  Namen  tragen,  Dasein;  außer- 
halb seiner  Kunst  gebe  es  nicht  nur  kein  wissenschaftliches  Recht,  sondern 
nicht  einmal  eine  wissenschaftliche  Möglichkeit,  sein  Leben  zu  erfassen.  So 
ganz  anderer  Art  sei  nämlich  das  Erleben  des  Künstlers  als  dasjenige  des 
'unkünstlerischen  Menschen  (in  unserer  Welt  also  des  Bürgers  aller  Stände), 
daß  sein  Erleben  und  der  Ausdruck  seines  Erlebens  (beides  ist  wesentlich 
eines)  von  diesem  nie  verstanden  werden'  können.  Eigentlich  sollte  mau 
erwarten,  daß  so  mancher,  der  diese  Begrüßung  auf  S.  2  liest,  auf  die  übrigen 
fast  800  Seiten  verzichtet,  weil  sie  ja  doch  über  seinen  Gesichtskreis  hinaus- 
gehen müssen;  zum  Glück  bezeichnet  aber  'Bürger'  im  hier  angewandten 
Sinne  etwas,  was  heute  um  Gottes  willen  niemand  mehr  sein  will;  jedenfalls 
ist  als  erfreuliche  Tatsache  festzustellen,  daß  von  dem  1916  erschienenen 
Buche  im  folgenden  Jahre  schon  eine  dritte  Auflage  (5.  und  6.  Tausend) 
vorlag  und  daß  nach  Zeitungsberichten  1918  auch  diese  schon  Avieder  ver- 
griffen war.  Nun,  wir  AvoUen  nicht  darüber  spekulieren,  ob  die  Zahl  der 
Goetheverehrer  jenseits  des  Bürgertums  schon  so  groß  ist,  um  aus  sich 
heraus  einen  solchen  Erfolg  zu  tragen,  oder  ob  dieser  nicht  etwa  gerade 
durch  den  verachteten  Bürger  zustande  gebracht  worden  ist,  der  es  trotz 
aller  harten  Worte  nun  einmal  nicht  lassen  kann,  sich  als  'Bildungsträger' 
zn  betätigen.  Wenn  wir  uns  schon  erlauben,  die  priesterlich  wegweisende 
Gebärde  des  Verfassers  nicht  gerade  an  ihrem  Orte  zu  finden  an  der  Schwelle 
eines  Buches,  das  sich  doch  einmal  an  die  Öffentlichkeit  wendet,  so  ist  der 
Erfolg,  den  es  trotzdem  gefunden  hat,  jedenfalls  verdient. 

Was  Gundolf  Avill,  läßt  sich  nicht  besser  sagen,  als  es  auf  seinem  Titel- 
blatt in  einem  Worte  zu  lesen  ist;  es  handelt  sich  für  ihn  darum,  darzustellen, 
Avas  'Goethe'  ist.  Das  ist  ein  viel  ehrgeizigeres  Ziel,  als  sich  der  Biograph 
steckt,  der  'Leben  und  Werke'  seines  Helden  zu  erzählen  und  zu  ei'klären 
verheißt:  der  hat  den  Faden  des  Lebens,  und,  Perlen  gleich,  folgt  an  ihm 
ein  Werk  dem  anderen.  Nach  Gundolf  kann  man  so  nicht  hoffen,  einem 
Künstler  in  seinem  Wesen  nahezukommen;  die  Vorfälle  seines  Lebens  können 
uns  nur  insofern  angehen,  als  in  ihueu  und  durch  sie  sich  etwas  von  seinem 
eigentlichen  Sein  offenbart  —  im  übrigen  aber  sind  die  eigentliche  Offen- 
barung seines  Wesens  seine  Werke.  In  ihnen  lebt  er,  in  ihnen  allen,  wenn 
auch  nicht  in  jedem  in  gleicher  Weise,  am  meisten  dort,  avo  seine  Kunst 
sich  die  vollkommenste  Form  geschaffen  hat.  So  gilt  es  denn  überall,  Zu- 
fälliges vom  NotAvendigen  zu  scheiden,  zum  eigentlichen  Kraftzentrum  vor- 
zudringen; ungemein  anziehend  sind  da  die  methodischen  Ausführungen  (S.  9 
bis  28),  die  der  eigentlichen  Darstellung  vorausgeschickt  Averden,  au  sich  und 
in  ihrem  Gegensatz  zu  dem,  Avas  man  gemeinhin  Goethephilologie  nennt.  All 
die  Freude  des  Philologen  am  Unedierten,  an  der  Frage  der  Quellen,  an  der 
Durchleuchtung  der  Unnvelt  ist  für  Gundolf  etAvas  von  der  Sache  Ablenken- 
des; Aver  Goethe  erkennen  Avill,  hat  seine  Gespräche,  seine  Briefe,  seine 
Werke,  und  unter  diesen  sind  die  unmittelbarsten  Zeugen  seines  Ichs  die 
Werke,  Aveil  und  insofern  sie  der  reinste  Ausdruck  des  Künstlers  Goethe 
sind.    Das  mag  hier  fast  selbstverständlich  klingen,  Aveil  der  Berichterstatter 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  220 

küiTieu  und  zusammendrängen  muß ;  wer  den  ganzen  Gegensatz  dieses  Werkes 
zur  philologischen  Goethebiographie  ermessen  will,  lese  die  Ausführungen 
seihst  nach  —  hier  genüge  es,  um  den  Unterschied  wenigstens  anzudeuten, 
darauf  hinzuweisen,  wie  sorglich  die  Biographen  die  Entstehungsgeschichte 
jedes  einzelnen  Werkes  darzulegen  pflegen,  Gundolf  dagegen  drängt  hin  zum 
fertigen  Werk  als  dem  vollendeten  Ausdruck  des  künstlerischen  Wolleus, 
frühere  Stufen  ziehen  ihn  eigentlich  nur  an,  wenn  sie  als  in  sich  bestehende  . 
Werke  aufzufassen  sind  {Urfaiist,  Theatralische  Sendung),  und  als  solche 
werden  sie  dann  besprochen,  nicht  um  ihrer  selbst  willen,  sondern  insofern 
sie  Aufschluß  geben  über  das  innere  Leben  dessen,  der  hinter  ihnen  steht, 
des  Künstlers  Goethe. 

Jeder  bisherige  Biograph  hätte  wohl  gesagt,  daß  das  auch  sein  Ziel  sei; 
Gundolf  wird  nicht  müde,  in  immer  neuen  Wendungen  zu  betonen,  daß,  wer 
Goethes  'Leben  und  Werke',  sein  'Leben  und  Schaffen'  darzustellen  unter- 
nehme, schon  durch  die  Art,  wie  er  sich  sein  Thema  stelle,  sich  selbst  und 
andere  in  bester  Absicht  irreführe.  Werke  und  Schaffen  sind  ja  das  Leben. 
Wie  wir  die  Pflanze  nur  in  ihren  Lebensäußerungen,  in  ihrem  Grünen, 
Blühen,  Früchtetragen  und  Verwelken  haben,  so  den  Dichter  nur  in  dem, 
was  wir  als  sein  Wirken  besitzeu;  nur  von  diesem  aus  können  wir  uns  ihm 
also  nähern,  nur  als  Schaffender  geht  er  uns  an,  alles  andere  ist  als  gleich- 
gültig zu  betrachten.  Kann  man  es  deutlicher  sagen  als  mit  der  scharfen 
Gegenüberstellung  dieses  Satzes:  'Goethe  hat  nicht  die  Friederikeulieder  ge- 
dichtet, weil  ihm  Friederike  begegnet  ist,  sondern  weil  Friederikenlieder  in 
ihm  schwangen,  hat  er  die  Friederike  gesehen'?  Gundolfs  Einfühlungskunst, 
sein  ästhetisches  Empfinden,  all  sein  Wissen  um  Goethe  wird  nun  in  den 
Dienst  der  einen  Aufgabe  gestellt,  Goetiics  Dichtungen  als  den  Ausdruck 
seines  Seelenzustandes,  seines  Wesens  und  Trachtens  zu  verstehen  und  ver- 
stehen zu  lehren  —  soviel  man  also  bei  ihm  von  dem  nicht  findet,  was  man 
sonst  in  Biographien  sucht,  so  ehrgeizig  ist  doch  sein  Bestreben,  den  ganzen, 
den  vollen  Goethe  zu  geben;  von  den  ersten  Äußerungen  erwachenden 
Selbstbewußtseins  bis  zum  letzten  Hauch  des  Oh-mpiers.  Als  Biographie 
haben  wir  also  dennoch  sein  Werk  anzusprechen,  freilich  als  Biographie  be- 
sonderer Art:  über  Vorgänge  von  "Goethes  äußerem  Dasein  wird  sich  hier 
niemand  Rats  erholen  können,  niemand  wird  hier  auch  auf  seine  Rechnung 
kommen,  der  sich  erst  eiuführen  lassen  will  in  die  Kenntnis  seiner  Werke, 
aber  mit  allem  Nachdruck,  aller  Ausführlichkeit  wird  gezeigt,  wie  sich  der 
einzige  Deutsche,  in  dem  'eigenes  Schicksal,  eigene  Schiipferkraft,  eigene 
Gestalt'  zu  völliger  Harmonie  gelangt  sind,  in  seinen  Werken  offenbart. 

So  hätte  Gundolf  denn  gar  nicht  zu  betonen  brauchen,  daß  er  für  einen 
engeren  Kreis  schreibt.  Wenn  derjenige,  der  die  Punkte  fassen  will,  an 
denen  Goethe  am  meisten  seine  Gestalt  gibt,  den  Dichter  als.  Ganzes  erlebt 
haben  muß,  so  muß  auch  derjenige,  der  einer  solchen  Darstellung  folgen 
will,  schon  das  seine  getan  haben,  muß  sich  mit  der  dichterischen  Persön- 
lichkeit Goethes  vertraut  gemacht  haben.  Hier  ist  denn  der  Punkt,  wo  ein 
Wort  einzulegen  ist  für  die  Goethephilologie.  Von  vornherein:  Gundolf  ist 
keiner  von  denen,  die  ihr  Böses  nachsagen,  aber  sie  ist  ihm  einigermaßen 
gleichgültig  als  eine  Betrachtungsart,  die  möglich,  ja  notwendig  nur  dann 
ist,  wenn  man  die  Kunst  als  individuelle,  willkürliche  Beschäftigung  be- 
trachtet —  für  ihn  ist  sie  freilich  nichts  weniger  als  das,  sondern  ursprüng- 
licher Zustand  des  Menschentums,  ihre  Werke  sind  nicht  Auslösungen,  Ab- 
bildungen, Erläuterungen  eines  individuellen  Lebens,  sondern  Ausdruck, 
Gestalt,  Form  der  Künstlerpersönlichkeit.  Recht  und  Notwendigkeit  seiner 
Betrachtungsweise  ergibt  sich  aus  dieser  Anschauung,  das  ganze  Buch  legt 
überdies  Zeugnis  dafür  ab,  daß  Gundolf  der  Mann  seiner  Aufgabe  ist,  und 
jeder  MMrd  ihm  dankbar  sein  für  das  Werk,  das  er  dem  Volke  Goethes  dar- 
bringt.    .Vber   trotzdem    -     wäre   diese  Aufgabe  lösbar  gewesen   ohne    die 


230  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

lange,  hingebende  Arbeit  der  Goethephilologie  mit  ihren  Ausgaben,  Bio- 
graphien, Erklärungen,  ohne  die  Durchleuchtung  der  gesamten  Umwelt 
Goethes?  Gundolf  redet  keiner  schöngeistigen  Schwärmerei  das  Wort:  'Die 
Exaktheit  und  Reinlichkeit  ist  selbstverständliche  Voraussetzung  jeder  wissen- 
schaftlichen Beschäftigung  mit  dem  Werke  des  Genius'  —  vergessen  wir 
nicht,  daß  die  Göethephilologie  auch  für  Gundolf  einen  beträchtlichen  Teil 
des  Materials  bereitgestellt  hat,  auf  Grund  dessen  er  nun  seine  Betrachtungs- 
weise durchführt.  Und  ebenso  hat  sie  auch  Gundolfs  Leser  vorgeschult, 
mag  das  auch  einem  guten  Teil  von  ihnen  unbewußt  sein,  aber  die  Sache 
ist  doch  die,  daß  von  diesen  Lesern  nur  gar  wenige  ihr  Verhältnis  zu  Goethe 
ausschließlich  auf  der  Lektüre  der  Ausgabe  letzter  Hand  aufgebaut  haben. 
Wenn  nun  Gundolf  ohne  die  Goethephilologie  sein  Buch  kaum  zu  schreiben 
vermocht  hätte,  so  geht  er  doch  nicht  Wege,  die  diese  ihn  hätte  weisen 
können;  seine  Arbeit  beruht  auf  liebevollem  Einfühlen  in  Goethes  Dichtung 
und  darüber  hinaus  in  die  Bedingungen  hoher  Künstlerschaft.  Hinter  Goethe 
erscheinen  die  Gestalten  Dantes  und  Shakespeares,  denen  er  an  Genie  eben- 
bürtig ist,  die  aber  unter  ganz  anderen,  wesentlich  günstigeren'Bedingungen 
schüfen  als  er:  noch  gab  es  zu  ihrer  Zeit  keine  Bildungswelt,  die  sich 
zwischen  Künstler  und  sinnlich  unmittelbare  Welt  trennend  einschob,  noch 
war  also  nicht  zu  scheiden  wie  bei  Goethe  zwischen  Ur-  und  Bildungs- 
erlebnis. Für  die  Erkenntnis  des  schaffenden  Dichters  ist  also  wesentlich, 
ob  sein  Werk  Gestaltung  eines  Urerlebnisses  ist,  ob  und  wieweit  Bildungs- 
elemente im  Feuer  seiner  Kunst  umgeschmolzen  und  mit  dem  Urerlebnis 
eins  geworden  sind  oder  aber  ihrerseits  deij  Charakter  des  Werkes  teilweise, 
vielleicht  auch  vorwiegend  bestimmen.  Neben  die  stofflichen  Kategorien 
treten  formale:  der  Künstler  findet  sich  lyrisch,  symbolisch  oder  allegorisch 
mit  seinem  Stoff  ab,  was  mit  der  Einteilung  in  Dichtungsgattungen  nichts 
zu  tun  hat.  Dies  ist  das  Schema,  das  sich  Gundolf  für  seine  Betrachtungsart 
geschaffen  hat,  und  Vorbedingung  des  Gelingens  ist,  daß  dies  neue  Schema 
neue  Erkenntnis  übersichtlich  macht.  Das  Ziel  ist  erreicht;  Gundolf  darf 
sich  rühmen,  daß  er  seine  Leser  auf  seinem  Wege  in  den  innersten  Bezirk 
Goethes  führt  —  man  wird  anderswo  eingehendere  Würdigungen  der  Werke 
als  Einzelerscheinungen  in  literargeschichtlicher  oder  ästhetischer  Hinsicht 
finden,  nirgends  ist  aber  der  Gesichtspunkt,  sie  als  notwendige  Erzeugnisse 
Goethes,  als  Ausdruck  seines  jeweiligen  Seins  zu  erkennen  und  erkennen 
zu  lehren,  so  folgerichtig  und  erfolgreich  durchgeführt.  Wieder  darf  man 
dabei  nicht  bibliographische  Vollständigkeit  verlangen:  es  ist  leicht  begreif- 
lich, daß  jene  Erzeugnisse,  die  mit  Goethes  Innerem  kaum  etwas  zu  tun 
haben,  die  Gundolf  glücklich  als  einen  Teil  seiner  höfischen  Amtspflichten 
bezeichnet  (Festspiele,  Maskenzüge,  Gelegenheitsverse),  nur  gerade  gestreift 
werden;  nicht  viel  mehr  bleibt  übrig  für  jene  Dichtungen,  die  nicht  aus  der 
Fülle  des  Ichs  geflossen  sind,  sondern  sich  als  bewußte  Versuche  darstellen, 
einer  bestimmten  Form  Herr  zu  werden  (Achilleis,  die  Episteln),  oder  aber 
als  Gegenwirkungen  auf  Avichtige  Zeitereignisse  und  damit  als  Mittel  zu  be- 
stimmten Zwecken  (die  Revolutionsdiclitungen,  Des  Epimenides  Erwachen). 
Aber  selbst  Hauptwerke  wie  Eymont,  Hennann  und  Dorothea,  ja  auch  Oötx 
von  Berlichingen  müssen  sich  mit  verhältnismäßig  geringerem  Raum  begnügen, 
wenn  und  weil  in  ihnen  Bildungs-  und  Urerlebnis  nicht  zu  vollkommener 
Einheit  verschmolzen  sind  —  dabei  ist  denn  die  Art,  wie  Gundolf  in  jedem 
einzelnen  Fall  das  Verhältnis  erörtert,  ungemein  anziehend  und  reizvoll. 
Umgekehrt  spielt  bei  anderen  Werken,  die  sich  als  reine  Erzeugnisse  Goethi- 
schen  Erlebens  darstellen,  Umfang,  selbst  ästhetische  Vollendung  keine  be- 
stimmende Rolle:  die  Wichtigkeit  der  physiognomischeu  Fragmente,  von 
denen  mau  sonst  kaum  hört,  wird  erkannt  und  überzeugend  dargelegt,  die 
Wanderjahre,  die  Alterslyrik  bieten  nicht  geringeren  Aufschluß  zur  Erkennt- 
nis des  Goethischen  Seins  als  Iphigenie  oder  Tasso. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  231 

Gundolfs  Buch  ist  ein  Werk  aus  einem  Gusse;  man  braucht  natürlich 
nicht  jede  Einzelheit  anzunehmen,  aber  nicht  auf  sie  kommt  es  an,  sondern 
auf  die  Betrachtungsart,  und  diese  zwingt  dazu,  dem  Verfasser  von  seinem 
einmal  angenommenen  Standpunkt  aus  zu  folgen.  Kann  man  seinen  Stand- 
punkt aber  ablehnen?  Dazu  sehe  ich  keine  Möglichkeit  —  wir  werden  frei- 
lich nicht  sagen,  daß  dies  Buch  nun  das  Muster  sämtlicher  künftiger  Dichter- 
biographien zu  sein  habe.  Ein  solches  Buch  kann  als  notwendig  gelten, 
aber  es  wird  es  nur  sein  können  auf  Grund  einer  reichen  vorangegangenen 
Entwicklung  des  Dichterstudiums;  Avie  es  vorliegt,  erscheint  es  jedenfalls  als 
ein  Triumph  scharf  durchdachter,  wissenschaftlicher  Methode:  kein  Kapitel 
ist  wegzunehmen,  ich  wüßte  keins  hinzuzufügen,  ohne  den  stolzen  Bau  in 
seinen  einheitlichen  Linien  zu  gefährden.  Wohl  aber  wird  man  auf  einige 
Stellen  hinweisen  dürfen,  an  denen  Gundolfs  Art  als  besonders  fruchtbar 
geworden  erscheint. 

Wenn  mit  Goethe  etwas  Neues,  Einzigartiges  in  unsere  Literatur  seinen 
Einzug  hielt,  so  muß  das  sich  von  vornherein  bei  den  Schöpfungen  zeigen, 
die  als  der  erste  Ausdruck  seines  eigentlichen  Seins  zu  gelten  haben;  ein 
neues  Erlebnis  muß  sich  in  ihnen  offenbaren,  und  da  neuer  Wein  nicht  in 
alte  Schläuche  gegossen  werden  kann,  muß  dies  neue  Erlebnis  auch  in 
Sprache  und  Rhythmik  neuen  Ausdruck  finden:  diese  Verbindung  macht 
Gundolf  schier  greifbar  anschaulich,  wie  er  überhaupt  für  die  Charakteristik 
von  Art  und  Entwicklung  der  Goethischen  Lj'rik  im  engeren  Sinne  auf  allen 
Stufen  von  der  ersten  Regung  neuen  Gefülils  im  Leipziger  Liederbuch  bis 
zur  erschütternden  Tragik  der  Marienbader  Elegie  die  fruchtbarsten  Gesichts- 
punkte gibt.  Als  Probe  auf  das  Exempel  muß  es  sodann  für  ein  Werk  wie 
dasjenige  Gundolfs  gelten,  ob  es  die  Einheit  des  Goethischen  Wesens,  ein 
notwendiges  Werden  und  Wachsen  auch  da  nachAveist,  w^o  man  nur  allzuoft 
von  einem  Bruch  der  Entwicklung  geredet  hat.  Natürlich  ist  die  Theorie 
von  dem  Goethe  'diesseits  von  Weimar'  als  dem  eigentlichen,  dem  deutschen 
Goethe  nicht  erat  von  Gundolf  widerlegt  worden,  natürlich  hat  schon  vor 
ihm  das  beste  Bemühen  der  Biographen  der  Aufgabe  gegolten,  seine  Haltung 
gegenüber  den  großen  geschichtlichen  Ereignissen  und  Erscheinungen  seiner 
Zeit  verständlich  zu  machen.  Trotzdem  darf  man  sagen,  daß  gerade  diese 
Abschnitte  Gundolfs  geeignet  sind,  in  alledem  ein  für  allemal  eine  tiefe  Not- 
wendigkeit aufzuzeigen,  ein  Verhalten,  das  mit  dem  innersten  Wesen  Goethes 
zusammenhängt,  das  nicht  anders  gedacht  werden  kann,  Avenn  Goethe  Goethe 
bleiben  soll.  Eine  NotAvendigkeit  mußte  es  ferner  sein,  Avenn  alles  aus- 
geschieden wurde,  was  als  äußeres  Erlebnis  oder  äußere  Beziehung  kein 
Verhältnis  zum  Kern  Goethischen  Wesens  erlangte,  dafür  um  so  anschaulicher 
Ereignisse  und  Personen  zu  beleuchten,  die  schicksalsvoll  für  ihn  wurden. 
Hier  dürfen  Avir  eine  künstlerische  Meisterschaft  Gundolfs  bewundern:  er  weiß 
Charaktere  mit  wenigen  Strichen  lebendig  vor  Augen  zu  stellen,  er  versteht 
die  Wendepunkte,  die  bedeutsamen  Erlebnisse  in  seiner  Auffassung  ein- 
drucksvoll herauszustellen:  Herder  und  Lavater,  Frau  von  Stein  und  Chri- 
stiane, Karl  August  und  Napoleon,  um  nur  einiges  herauszugreifen,  sehen 
A\ir  in  ihrer  Bedeutung  für  Goethe,  lernen  sie  erkennen  als  Teile  seines 
Schicksals. 

Die  Eigenheit  des  Buches  prägt  sich  auch  in  seiner  Sprache  aus.  Ein 
starker  FormAville  beherrscht  sie:  sie  soll  den  Gedanken  des  Verfassers  bis 
ins  letzte  ausdrücken,  und  dazu  muß  sie  hergeben,  was  sie  an  sinnverwandten 
Ausdrücken  hat,  damit  in  ihrer  Summe  sicher  der  vollständige  Begriff  ent- 
halten sei.  Er  liäuft  gern  die  Adjektiva,  um  den  Inhalt  des  Substantivums 
auszuschöpfen,  er  liebt  die  Antithese,  den  veranschaulichenden  Vergleich; 
selbst  das  einzelne  Wort  muß  dazu  dienen,  indem  er  gern  durch  de  Trennung 
der  Bestandteile  (vgl.  S.  61  Be-griffe,  112  um-schaut)  die  zugrunde  liegende 
Anschauung  hervortreten  läßt.    Bis  auf  die  Zeichensetzung  erstreckt  sich  in 


■_*82  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Weglasöung  uud  Neueinführung  dies  Streben  -  das  Ergebnis  ist  eine  Sprache, 
die  gewiß  nicht  immer  einfach  ist,  die  vielleicht  auch  hier  und  da  einen 
preziösen  Auflug  hat,  die  aber  wirkt  wie  ziseliert.  An  edlen  Stoff  ist  feine 
und  feinste  Arbeit  gewandt  —  \\ie  immer  gehört  Verständnis,  ja  einige 
Kennerschaft  dazu,  sie  ganz  zu  würdigen.  Wer  davon  aber  etwas  mitbringt, 
der  wird  Gundolf  für  sein  Goethebuch  danken. 

Berlin-Lichtenberg.  Albert   Ludwig. 

W.  J.  Keller,  Goethe's ,  estimate  of  the  Greek  and  Latin  writers 
as  revealed  by  bis  works,  letters,  diaries,  and  conversations. 
(Bulletin  of  tbe  üniversity  of  Wisconsin  —  Philology  and 
Literature  Series  vol.  (i,  no.  1.)  Madison  (Wisconsin)  191 H. 
191  S.    40  Cents. 

Um  der  Arbeit  gerecht  zu  werden,  muß  mau  hervorheben,  was  sie  will: 
uämlich  bequem  und  vollkommen  sachlich  alle  wichtigeren  Äußerungen  Goethes 
über  die  antiken  Literaturen  und  ihre  Autoren  sammeln  und  zusammenstellen. 
Es  handelt  sich  also  nicht  um  ein  Seitenstück  zu  dem  Buche  von  Maaß 
(Qoethe  und  die  Antike),  sondern  um  ein  zweifellos  recht  mühsames,  reichlich 
Geduld  forderndes  Unternehmen,  das  sich  aber  mit  einem  verhältnismäßig 
recht  bescheidenen  Ziele  begnügt.  Der  Verfasser  hat  Goethes  Werke  in 
ihrem  ganzen  Umfang  gelesen,  hat  sich  jede  Stelle,  avo  von  griechischer  und 
lateinischer  Literatur  oder  von  einem  griechischen  oder  lateinischen  Autor 
dieKede  ist,  ausgezogen,  hat  seinen  Zettelvorrat  dann  geordnet  (I  Griechische, 
II  Lateinische  Literatur,  la  Epische  Dichtung,  Ib  Frühe  lyrische  Dichtung 
usAV.)  und  führt  dann  in  den  einzelnen  Abschnitten  in  zeitlicher  Keihenfolge 
tue  betreffenden  Schriftsteller  mit  dem,  was  Goethe  von  ihnen  zu  sagen 
hatte,  vor.  Auf  bloße  Erwähnungen  wird  in  Anmerkungen  verwiesen,  be- 
nutzt ist  die  Weimarer  Ausgabe;  eine  chronologische  Übersicht,  die  zeigen 
soll,  an  welchen  antiken  Schriftstellern  Goethe  zu  den  verschiedenen  Zeiten 
seines  Lebens  besonderen  Anteil  nahm,  ist  hinzugefügt,  ebenso  ein  natürlich 
luientbehrliches  und  die  Arbeit  erst  brauchbar  machendes  Namensverzeichnis. 

In  der  Tat,  dies  Namensverzeichnis  ist  die  Hauptsache,  und  es  wä»e  zu 
\\  ünschen  gewesen,  daß  in  ihm  nicht  nur  die  Seite  verzeichnet  wäre,  die  dem 
betreffenden  Autor  gewidmet  ist,  sondern  daß  Jede  Seite  angegeben  wäre, 
wo  er  überhaupt  erwähnt  wird,  denn  Goethe  nennt  manchmal  raelwere  Namen 
gleichzeitig,  und  so  hat  auch  Keller  Wiederholungen  nicht  vermeiden  können. 
Aber  auch  wie  es  ist,  ermöglicht  das  Verzeichnis,  Goethes  Äußerungen  über 
einen  beliebigen  Dichter,  Philosophen,  Geschichtschreiber  nachzuschlagen  und 
festzustellen,  wann  und  bei  welcher  Gelegenheit  er  ihn  erwähnt.  Das  ist 
freilich  auch  alles.  Gewiß  sind  \'iele  dieser  Goethischeu  Urteile  anziehend 
und  bedeutend,  gewiß  sind  auch  an  und  für  sich  manche  nicht  unwesent- 
lichen Feststellungen  zu  machen,  so  über  den  Einfluß  zeitgenössischer  Über- 
setzungen auf  Goethes  Anteilnahme  an  bestimmten  Schriftstellern,  über  die 
geringe  Rolle,  welche  die  Historiker  (abgesehen  aou  Plutarch)  und  die  Redner 
spielen,  aber  all  das  geht  ziemlich  wirkungslos  vorüber,  weil  eben  ein  Klas- 
siker nach  dem  anderen  aufmarschiert  und. über  der  langen  Reihe  mit  ihren 
teilweise  einförmigen  Charakteristiken  die  Übersicht  verlorengeht. 

Nun,  diese  Dinge  hängen  damit  zusammen,  daß  Keller  eben  nicht  ein 
Buch  zum  Lesen,  sondern  zum  Nachschlagen  gibt,  und  in  einem  solchen 
mußte  Vollständigkeit  erste  Rücksicht  sein.  Was  er  als  Ziel  sich  gesteckt 
hat,  ist  erreicht,  und  als  Ergänzung  zu  dem  erwähnten  Werke  von  Maaß 
soll  uns  seine  Arbeit  recht  sein.  Freilich  nur  als  Ergänzung;  .lusschließlich 
wird  man  aus  dem,  was  man  bei  Keller  liest,  ein  Urteil  über  Goethes  Stel- 
lung gerade  zu   den   wichtigsten  antiken   Autoren  nie  aufbauen  dürfen   - 


Beurteilungen  und  kiirze  Anzeigen  23S 

dafür  ist  eine  Darstellung  des  Einflusses,  den  die  Antike  im  ganzen,  einzelne 
Schriftsteller  im  besonderen  auf  seine  Dichtung  ausgeübt  haben,  unerläßlich. 
Oder  ist  denn,  um  nur  eins  herauszugreifen,  die  Tatsache  der ,, Römisc/ie^i 
Ele(/ien  nicht  ganz  anders  bedeutsam  als  die  ganz  nichtssagenden  Äußerungen 
über  TibuU  (S.  1H9)  und  die,  abgesehen  von  der  einen  durch  Knebels  Über- 
setzung, also  zufällig,  hervorgenifenen,  nicht  viel  bedeutenderen  überProperz? 
Sogar  über  die  Zeit,  in  der  dieser  oder  jener  Autor  im  Vordergrunde  stand 
oder  vernachlässigt  wurde,  läßt  sich  nach  den  von  Keller  herangezogenen 
Quellen  nicht  abschließend  urteilen.  So  heißt  es  z.  B.  (S.  26),  daß  Homer 
zeitweilig  in  den  Hintergrund  getreten  sei;  nur  zwei  Tassostellen,  die  wahr- 
haftig über  Goethes  Beschäftigung  mit  dem  großen  Epiker  nichts  sagen, 
sollen  das  Schweigen  brechen,  erst  gegen  Ende  des  Jahres  1793  erwache- 
wieder  das  Interesse  an  ihm.  Dazu  ist  doch  zu  sagen  —  und  das  gilt 
ziemlich  allgemein  für  ähnliche  Feststellungen  — ,  daß  man  wohl  nur  be- 
haupten kann,  zu  anderen  Zeiten  habe  Homer  tätigere  Teilnahme  bei  Goethe 
gefunden,  mit  seiner  Schätzung  hat  das  aber  nichts  zu  tun.  Soundso  oft 
wissen  wir-  von  Goethes  Beschäftigung  mit  einem  antiken  Schriftsteller  zu 
dieser  oder  jener  Zeit  ja  nur  durch  eine  zufällige  briefliche  oder  mündliche 
Äußerung;  wäre  diese  Äußerung  nicht  getan  oder  uns  nicht  überliefert 
worden,  so  hätte  es  dann  sehr  nahe  gelegen,  Folgerungen  zu  ziehen,  die 
doch  unberechtigt  wären.  Was  die  Behauptung  anlangt,  daß  erst  gegen 
Ende  1793  Goethe  wieder  Teilnahme  für  Homer  zeige,  so  darf  man  daran 
erinnern,  daß  im  ersten  Vierteljahr  1793  Reineke  Fuchs  geschrieben  wurde, 
dessen  'homerischen  Ton'  Schiller  (Brief  an  Körner  vom  12.  6. 1794)  hervorhob. 
Also:  aus  Kellers  Zusammenstellungen  ist  es  wohl  erlaubt,  positive  Folge- 
rungen zu  ziehen,  negative  setzen  große  Vorsicht  voraus  und  bedürfen 
genauer  Nachprüfung. 

Berlin-Lichtenberg.  Albert  Ludwig. 

II  Codice  Vercellese  con  omelie  e  poesie  in  lingua  anglosassone, 
per  concessione  del  ven.  Capitolo  Metropolitano  di  Vercelli, 
la  prima  volta  interamente  riprodotto  in  fototipia,  a  cura  della 
Bibliotheca  Vaticana,  con  introduzione  del  Prof.  Dott.  Massi- 
miliano  Foerster  delF  Universitä  di  Lipsia.  Roma,  Danesi, 
1913.     [60  L] 

Es  ist  kein  Produkt  des  Völker  trennen  den  Krieges,  sondern  ein  Werk, 
das  im  letzten  Friedensjahr  noch  ein  deutscher  Forscher  in  Verbindung  mit 
einem  italienischen  Domkapitel  und  mit  der  päpstlichen  Bibliotheksver- 
waltung geschaffen  hat  zur  Förderung  des  Studiums  der  ältesten  Literatur 
der  Engländer:  also  ein  internationales  Werk  im  besten  Sinne  des  Wortes. 
Man  sieht  nur  eben  bei  diesem  internationalen  Charakter,  der  durch  das 
päpstliche  Wappen  auf  dem  Einband  symbolisiert  wird,  nicht  ein,  warum 
der  deutsche  Professor,  wenn  er  im  Auftrag  der  päpstlichen  Bibliothek  ein 
Werk  herausgibt,  italienisch  schreiben  muß.  Es  ist  doch  am  allerwenigsten 
für  Italiener  bestimmt,  sondern  fast  ausschließlich  für  Deutsche,  Engländer 
und  die  kleineren  germanischen  Völker;  nur  diese  beschäftigen  sich  mit 
angelsächsischer  Literatur.  Warum  hat  also  der  deutsche  Bibliothekar  der 
vatikanischen  Bibliothek  nicht  erreicht,  daß  der  deutsche  Professor  seine 
Arbeit,  die  hauptsächlich  für  Deutsche  bestimmt  ist,  auch  deutsch  drucken 
lassen  darf?  Das  ist  die  peinliche  Frage,  die  sich  jedem 'unparteiischen 
Leser  aufdrängen  wird.  Das  internationale  Latein  als  Sprache  des  Papstes 
hätte  man  doch  eher  erwartet  als  das  beschränkt  nationale  Italienisch. 

Und  dieser  Schönheitsfehler  wird   noch   vorstärkt  durch   die   in   italieni- 

.\ichiT    f.  u.   sprachen.     l:W.  1(J 


234  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

sehen  Publikationen  ja  nicht  seltene  Unart  der  Übersetzung  der  Eigen- 
namen: daß  auf  dem  Titel  statt  Max  Förster  ein  Massimiliano  Foerster 
erscheint,  hätte  vielleicht  doch  verhindert  werden  können.  Aber  diese  üble 
Gewohnheit  führt  dann, zu  ärgster  Inkonsequenz  im  Buche  selbst:  neben 
dem  Massimiliano  steht  fröhlich  S.  55,  56,  57  Max  Förster,  neben  Giacomo 
Grimm  S.  11  steht  Jacopo  Grimm  S.  53;  nebeneinander  stehen  Giorgio 
l'ilippo  Krapp  und  Carl  Kichter  auf  derselben  Seite.  Ich  selbst  muß  mich 
als  Volfango  Keller  S.  11  wiederfinden.  Vielleicht  ist  in  dieser  Hinsicht 
unser  Geschmack  durch  den  Krieg  erzogen  worden;  jedenfalls  glaube  ich 
nicht,  daß  in  Zukunft  der  deutsche  Gelehrte  so  leicht  auf  seinen  deutschen 
Mamen  verzichten  wird. 

Es  tut  mir  leid,  daß  ich  mit  diesem  Protest  die  Besprechung  des  präch- 
tigen Werkes  beginnen  mußte:  er  betrifft  aber  ja  nur  das  äußere  Kleid, 
über  das  Werk  selbst  dürfen  wir  uns  ohne  Einschränkung  freuen.  Wir 
hatten  ja  schon  ein  Faksimile  der  wertvolleren  Teile  des  berühmten  Codex, 
da  Wülker  1894  die  poetischen  Texte  in  photographischer  Wiedergabe  ver- 
öffentlichte. Diesmal  bekommen  wir  außerdem  auch  die  Predigten,  die  das 
Manuskript  enthält.  Leider  ist  aber  auch  diesmal  nur  ein  auf  die  Hälfte 
verkleinertes  Faksimile  zustande  gekommen,  die  stolze  Größe  des  Original- 
bandes können  wir  nur  aus  einer  Probeseite  erkennen.  Das  ist  auch  aus 
paläographischen  Gründen  zu  bedauern,  aber  die  Kosten  wären  natürlich 
viel  höher  gewesen,  und  so  wollen  wir  dankbar  sein  für  das,  was  uns  hier 
geboten  wird.  Es  ist  die  erste  altenglische  Sammelhandschrift,  die  voll- 
ständig faksimiliert  vorliegt.  Und  das  Faksimile  ist  vorzüglich  gelungen 
und,  abgesehen  natüilich  von  einigen  im  Original  verwischten  Stellen, 
äußerst  scharf. 

Die  Einleitung  ist  ja  von  Max  Förster  schon  vorher  in  deutscher  Sprache 
in  der  Festschrift  für  Lorenz  Morsbach,  Halle  1913,  abgedruckt  worden,  die 
Änderungen  sind  ganz  geringfügig,  und  zumeist  wird  man  in  der  deutschen 
Fassung  den  authentischen  Text  sehen  dürfen.  Sie  ist  auch  von  einer 
besseren  Druckerei  hergestellt  als  die  durch  viele  Druckfehler  verunzierte 
italienische  Form.  Man  wundert  sich,  daß  für  ein  solches  Monumentalwerk 
die  Typen  p  und  d  nicht  zu  beschaffen  waren,  so  daß  sie  durch  th  und  dh 
aufgelöst  werden  müssen.  Das  führt  auf  S.  17  direkt  zu  einer  grotesken 
Wiedergabe:  David  ist  im  Manuskript  abgekürzt  als  dd  mit  einem  Ab- 
kürzungsstrich darüber;  bei  Hochbuchstaben  wird  dieser  regelmäßig  durch 
die  Hochstriche  hindurchgezogen,  so  daß  auch  die  Reproduktion  in  der  deut- 
schen Fassung  als  dd  nicht  korrekt  ist;  hier  aber  wird  daraus  dhdhl  Das 
soll  die  Kontraktion  (Synkope)  von  David  sein?  In  diesem  Abschnitt  der 
Abkürzungen  hat  der  italienische  Drucker  sonst  überall  die  Abkürzungs- 
striche  einfach  weggelassen.   — 

Das  erste  Kapitel  behandelt  das  Äußere  des  Manuskripts,  das  zweite 
das  Datum  und  den  Schriftcharakter.  Natürlich  hat  Max  Förster  recht, 
wenn  er  gegen  meine  Datierung  (Keallexikon  der  germ.  Altertumskunde 
s.  V.  Angelsächs.  Schrift)  'etwa  970  bis  980'  einwendet,  daß  eine  so  genaue 
Zeitbestimmung  aus  dem  Schriftcharakter  unmöglich  sei.  Die  Schrift  wech- 
selt nicht  mit  den  Jahren,  sondern  mit  den  Generationen.  Und  doch  wird 
man  sagen  können,  daß  im  einen  Jahrzehnt  jene,  im  nächsten  diese  Schrift 
herrscht.  Mehr  kann  eine  solche  Datierung  daher  auch  nicht  bedeuten,  als 
daß  der  Schriftcharakter  dem  im  genannten  Dezennium  herrschenden  ent- 
spreche. Und  wenn  ich  für  die  ae.  Sammelhandschriften  die  Reihenfolge 
1.  Exeter-Ms.,  2.  Vercelli-Ms.,  3.  Ciedmon-Ms.,  4.  Beowulf-Ms.  aufgestellt 
habe,  so  kann  das  gewiß  auch  die  Chronologie  der  Schreibschulen,  nicht  der 
Handschriften  selbst,  bedeuten.  Immerhin  war  es  nötig,  einmal  eine  so 
genaue  Unterscheidung  der  Schriftzüge  zu  versuchen:  wenn  das  Resultai 
durch  andere  Mittel   korrigiert   werden   kann,  um   so  besser.   —   Was   den 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  235 

Abkürzungsstrich,  für  Nasale  betrifft,  so  ist  die  Angabe  S.  17  etwas  un- 
genau: 'oceorre  in  fine  di  parola,  ma  s'incontra  anche  nel  mezzo'  ('ge- 
legentlich auch  im  Wortinnern') ;  in  Wirklichkeit  begegnet  er  nur  am 
Siibenschluß,  nie  am  Silbenanfang:  die  Silbe,  nicht  das  Wort,  ist  dabei  maß- 
gebend. —  Die  Kopula  wird  fast  immer  durch  die  tironische  Note  aus- 
gedrückt; 'wo  sie  ausgeschrieben  ist,  erscheint  sie  bald  als  ond,  bald  als 
und'.  Auch  das  ist  wohl,  soweit  sich  nach  den  angeführten  Beispielen  ur- 
teilen läßt,  nicht  genau.  Vielmehr  steht  ond  im  Andreas  (7  mal),  in  der 
Elene  (.3  mal)  und  in  den  Homilien  2  (2  mal),  5  (2  mal)  und  23;  and  da- 
gegen in  den  Homilien  6  (2  mal),  7  (2  mal),  8,  9  (4 mal),  14  und  21.  Daa 
sieht  also  so  aus,  als  ob  die  Unterscheidung  aus  den  Vorlagen  stammte. 
Oder  sollte  der  Schreiber  —  Förster  erkennt  mit  Napier  nur  einen  einzigen 
Schreiber  an  —  vielleicht  zuerst  ond  (fol.  10 — 52),  dann  and  (fol.  54 — 112), 
endlich  wieder  ond  (fol.  130 — 135)  geschrieben  haben?  Man  wird  auch  dies 
nicht  von  vornherein  für  unmöglich  erklären  wollen.  —  Weiterhin  ist  der 
Satz  'La  lunghezza  d'una  vocale  e  indicata  a  quando  per  mezzo  d'un  apice 
a  punta'  doch  nach  meiner  Untersuchung  der  Akzente  in  den  angelsächsi- 
schen Handschriften  (Prager  Deutsche  Studien  1908)  nicht  mehr  haltbar. 
Ein  Verweis  auf  diese  Arbeit  ist  im  italienischen  Text  wohl  aus  Kaum- 
mangel  weggelasen  worden.  In  solchen  Wörtern  wie  im  Andreas,  on-ärn, 
clrm,  6cg,  göd  (deus)  —  das  11  mal  so  vorkommt  — ,  hösp,  hygd,  Is  (est), 
l6f,  6rd,  vf&g,  ün-fyrn,  ün-hwilen,  w6ll,  wine,  ge-wit,  oder  in  der  Elene,  äc 
(sed),  löf,  kann  der  Akzent  doch  keine  Länge  bedeuten. 

Die  Sprache  des  Manuskriptes,  die  das  3.  Kapitel  behandelt,  stimmt 
mit  der  des  Worcesterer  Schreibers  Wulfgeat  überein,  wie  sie  Dunkhase  in 
seiner  Jenenser  Dissertation  (1906)  sehr  genau  untersucht  hat.  Aber 
Förster  hat  wohl  recht,  wenn  er  vermutet,  daß  dieser  Mischdialekt,  west- 
sächsisch mit  mercischer  Beimischung  und  einzelnen  kentischen  Formen, 
die  Schriftsprache  der  Klöster  auf  mittelländischem  Boden  überhaupt  sein 
werde.  Immerhin  meint  er,  daß  die  Sammlung  sehr  wohl  unter  Bischof 
Oswald  von  Woreester  geschrieben  sein  könne.  Aus  Worcester  sei  das  Ms. 
dann  vermutlich  im  11.  Jahrhundert  entweder  direkt  oder  auf  dem  Wego 
über  Würzburg  oder  Fulda  nach  Vercelli  gekommen.  Die  Hypothese,  daß 
Kardinal  Guala  im  17.  Jahrhundert  die  Hs.  nach  Italien  gebracht  habe, 
wird  mit  Recht  zurückgewiesen.  Auf  das  5.  Kapitel,  Notizie  e  publicazioni 
del  ms.,  folgt  endlich  als  6.  die  ausführliche  Inhaltsangabe,  die  eine  Anzahl 
interessanter  Bemerkungen  zu  den  23  Predigten  und  6  Dichtungen  der 
Sammlung  enthält. 

Es  ist  eine  gediegene  Ausgabe,  und  wir  möchten  nur  wünschen,  daß  uns 
die  anderen  altenglischen  Sammelhandschriften  bald  in  ähnlicher  Weise 
zugänglich  gemacht  würden. 

Münster  i.  W.  Wolf  gang  Keller. 

Richard  Rolle's  Meditatio  de  passione  Domini  according  to  ms. 
Uppsala  C  494  edited  with  introduetion  and  notes  by  Harald 
Lindkvist  (Ph.  D.,  Uppsala).  Uppsala,  Akad.  Bokh.;  Leipzig. 
Harrassowitz.  A.  u.  d.  T.  Skrifter  utgifna  af  K.  Humanistiska 
Vetenskaps-Samfundet  i  Uppsala.  [Band]  19:3.  [1917.] 
78  S. 

Die  zur  Andacht  während  der  Passionswoche  bestimmte  mittelenglische 
Schrift  des  1349  zu  Hampole  bei  Doncaster  verstorbenen  Einsiedlers  war 
bisher  aus  Ulimanns  und  Horstmanns  Drucken  nach  Cambridger,  in  süd- 
liehen Dialekt  umgearbeiteten  Handschriften  veröffentlicht.  Lindkvist 
druckt  den  schwedischen  Kodex  unter  Vergleiohung  jener  Editionen  zuerst; 

16* 


2Ö6  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

er  hat  ihn  erst  bestimmen  müssen,  da  diesem  das  erste  Blatt,  vermutlich 
mit  Verfassernamen,  fortgerissen  ist.  Er  nennt  den  Dialekt  der  Hs.  ost- 
mittelländisch, dem  Suffolkisch  Bokenams  nahe,  jedoch  mit  Spuren  des 
reinen  Nordenglisch,  das  der  Verfasser  schrieb,  und  setzt  die  Schreibung 
der  Hs.  um  1405.  Sie  wanderte  nach  Schweden  durch  den  Diplomaten  und 
königlichen  Büchersammler  Sparfwenfeldt  (den  Erwerber  des  Angelsächsi- 
schen Evangeliars  Codex  aureus),  1655 — 1727,  zeigt  aber  auf  S.  1  den  Vor- 
besitzer: Christiani  Ravii  Berlinatis.  Dieser  1613  geborene  Berliner  Kaue 
war  Oxforder,  dann  Uppsalaer  Professor  und  starb  als  Orientalist  zu  Frank- 
furt a.  d.  0.  1677.  —  Richards  Text  gewinnt  durch  den  Neudruck  inhalt- 
lich wenig;  aber  für  die  Sprachgeschichte  ist  dieser  wichtig,  wie  L.s  An- 
merkungen und  die  Einleitung  'über  Dialekt  und  Beziehung  der  3  Hss.' 
zeigen.  So  führt  z.  B.  die  Variante  statt  fanding  späteres  temptacioun 
ein,  statt  hold  (Feste,  Kerker)  hous,  statt  atwynne  (Nordischem  entlehnt) 
usundir. 

Richards  Verfasserschaft,  durch  die  Cambridger  Hss.  bezeugt,  scheint 
nicht  zu  bezweifeln.  Freilich  klingt  hier  ein  ekstatischTmystischer  Ton, 
anders  als  in  Richards  mehr  verstandesmäßigen  Werken.  Und  L.  hält  Ull- 
manns  Beweis  der  Echtheit  für  nicht  bündig.  Dieser  stützt  sich  nämlich 
darauf,  daß  Dialekt,  Stil  und  Geist  in  dem  sicher  Richard  gehörigen  Prick 
of  conscience  übereinstimme  mit  denen  im  langen  Gedicht  Speculum  vitae, 
das  in  der  einen  Cambridger  Hs.  der  Meditation  voraufgeht  und  ebenfalls 
Richards  Namen  trägt.  Madden  und  Horstmann  legen  nun  aber  Speculum, 
gemäß  anderen  Hss.,  vielmehr  Wilhelm  von  Nassington  bei.  Und  selbst 
wenn  jene  Rubrik  fürs  Speculum  richtig  ist,  folgt  daraus  die  Richtigkeit 
nicht  auch  für  die  Meditatio.  —  Hor.stmanu  und  L.  sehen  keinen  Grund 
zum  Zweifel,  obwohl  manche  Schrift  Richard  falsch  beigelegt  worden  ist. 
Die  Einzelbeschreibung  der  Heilandsleiden  in  der  Meditation  erinnert 
an  Vreisun  und  Wohunge,  ed.  Morris  Old  Engl,  homilies.  Die  Abfassungs- 
zeit  setzt  L.  wie  Horstmann  an;  er  fürchtet,  daß  dieser  bloß  aufs  Kriterium 
nördlichen  Dialekts  hin  Richard  zu  viele  Schriften  und  überhaupt  eine  zu 
wichtige  literarische  Rolle  zuschreibe. 

Als  Richards  -Muster  nennt  L.  des  (vielleicht  nur  sog.)  Bonaventura 
Meditationes  vitae  Christi,  die  Horstmann  in  einem  anonymen  Lincolner 
Kodex  ins  Englische  übersetzt  fand.  Diese  Übersetzung  stimmt  nach  L.  in 
Stil  und  Charakter  mit  Richards  Meditation,  der  jenes  Original  gekannt 
hat  und  selbst  der  Englische  Bonaventura  benannt  worden  ist.  L.  findet, 
Richard  entlehnte  den  Titel  Pricke  of  conscience  aus  Bona.venturas  Worten 
Stimulus  conscientiae,  in  dessen  Incendium  amoris.  —  Die  Biographie 
Richards  und  Bibliographie  seiner  Werke  allgemein  wird,  zumeist  aus 
Horstmann,  überblickt  und  manches  ergänzt,  so  z.  B.  daß  die  Meditation 
noch   1905/06   ins   heutige   Englisch   modernisiert  erschien. 

Von  eigenem  Werte  sind  die  Seiten  19 — 23  über  Schwedens  Mystik  im 
Mittelalter,  besonders  die  lateinischen  Hss.  des  Birgittenklosters  zu  Vad- 
stena,  für  das  Clemens  Maydeston  im  Tochterstift  Syon  in  Middlesex  den 
jetzt  Uppsalaer  Kodex  von  Walter  Hiltons  Scala  perfectionis  abschrieb; 
Hilton  zählt  zu  Richards  berühmtesten  Jüngern.  [Dieses  Werk  steht  mn 
1510  im  Catalogue  of  the  Uhr.  of  Syon  mon.  ed.  Bateson,  wo  auch  Wichtiges 
über  diese  schwedische  Kolonie.]  Alle  6  jetzt  in  Schweden  liegenden  Hss. 
von  Werken  Richards  —  außer  der  hiermit  edierten  —  lauten  lateinisch, 
stammen  aus  Vad.s;tena  und  gehören  jetzt  Uppsala.  Eine  enthält  auch 
Mag.  Joh.  Berton  Confutatio  Lollardorum.  Bereits  im  14.  Jahrhundert 
Hard  Richard  in  Schweden  gelesen. 

Im  Anhang  steht  Officium  de  s.  Ricardo,  das  bisher  nur  aus  englischen 
Hss.  gedruckt  war,  aus  einem  Uppsalaer  Kodex.  Lies  S.  76  Z.  ?,  v.  n.  pre- 
paratoria:    letzte  Z.  articulis. 


Beurteiluugen  uud  kurze  Auzeigen  237 

Der  Herausgeber  verdient  den  Dank  nicht  bloß  der  Erforscher  des  Mittel- 
euglischen,  sondern  auch  der  Kirchen-  und  Literarhistoriker  für  den  sorg- 
fältigen Druck  und  die  umsichtige  Einleitung. 

Berlin.  F.  Liebermann 


Bernhard  Fehr,  Studien  zu  Oskar  Wildes  Gedichten.     (Palästra 
100.)     Berlin,  Mayer  &  Müller,  1918. 

Die  vorliegende  Schrift  i.st  gedacht  als  eine  Art  Einleitung  zu  einem 
größeren  Werke,  das  die  Prosaschriften  und  Dramen  von  W.  behandeln  und 
seine  Kunsttheorie  und  Stellung  zur  Weltliteratur  kritisch  beleuchten  soll. 
Schon  in  einer  Eeihe  von  kleineren  Aufsätzen,  die  als  Späne  von  der 
Werkstatt  abfielen,  hatte  der  Verfasser  seine  große  Belesenheit  in  der  mo- 
dernen englischen  und  französischen  Literatur  bewiesen,  so  daß  man  von 
vornherein  wertvolle  Ergebnisse  erwarten  durfte.  Das  Thema  war  dankbar 
insofern,  als  wissenschaftliche  Untersuchungen  über  Wilde  bisher  nur  spär- 
lich vorlagen,  auf  der  anderen  Seite  aber  ein  vortreffliches  Hilfsmittel  1914 
erschienen  war  in  der  Bibliography  of  Oscar  Wilde  von  Stuart  Mason. 
Eine  ganze  Reihe  von  Feststellungen,  zu  denen  Fehr  gelangt,  waren  nur  mög- 
lich auf  Grund  der  von  Mason  mitgeteilten  früheren  Fassungen  der  Gedichte. 
Einige  wichtige  Fingerzeige  bot  auch  die  Schrift  von  Turquet-Milnes :  The 
Influence  of  Baudelaire  in  France  and  England  (London  1913).  Aus  eigener 
Anschauung  darf  ich  wohl  sagen,  daß  man  in  englischen  wie  deutschen 
Schriftatellerkreisen  besser  über  Wilde  Bescheid  wußte  als  bei  den  Ver- 
tretern der  Wissenschaft.  Die  größere  Vertrautheit  jener  Kreise  mit 
neuerer  Literatur,  vor  allem  französischer,  bewirkte,  daß  man  sich  dort  über 
den  Grad  der  Originalität  von  Wilde  und  die  Herkunft  seiner  Ideen  im 
großen  und  ganzen  im  klaren  war.  Es  genügt  vielleicht,  in  diesem  Zu- 
sammenhang auf  das  Urteil  von  Symons  (Studies  in  Verse  and  Prose  1904, 
S.  127)  und  von  Watts  Dunton  zu  verweisen,  von  denen  der  letztere  bereit^s 
erklärte,  daß  die  Gedichte  Wildes  with  all  their  cleverness,  were  almosf 
entircly  imitative  and  derivative  verses;  Watts  Dunton  wies  auch  bereits 
auf  die  Nachahmung  von  Milton,  Wordsworth,  Keats,  Rossetti  und  Swin- 
burne  hin  und  stellte  fest,  daß  in  den  Essays  jeder  Gedanke  von  einem 
früheren  französischen  oder  englischen  Schriftsteller  herstamme  (vgl.  Hake 
and  Compton-Rickett:  Life  and  Letters  of  Theodore  Watts-Dunton,  1916). 
Aber  noch  fehlte  das  zuverlässige  Bild,  das  nur  der  wissenschaftliche  Nach- 
weis im  einzelnen  bringen  kann.  Zeigen  doch  gerade-  die  vorliegenden 
Untersuchungen  von  Fehr  in  lehrreicher  Weise,  wie  wenig  oft  die  Angaben 
auch  der  nächsten  Freunde  von  Wilde,  z.  B.  die  von  Roß,  der  objektiven 
Kritik  standzuhalten  vermögen. 

Fehrs  Schrift  nennt  sich  'Studien  zu  OskfCr  Wildes  Gedichten',  womit 
der  Verfasser  offenbar  andeuten  will,  daß  er  ein  allseitig  abgerundetes  Bild 
von  dem  Dichter  Wilde  nicht  zu  geben  beabsichtigt.  In  der  Tat  würde  ein 
solches  auch  eine  andere  Methode  voraussetzen.  Fehr  geht  zwar  chrono- 
logisch vor,  so  daß  er  die  Entwicklung  des  Dichters  im  Auge  behält,  aber  er 
legt  das  Schwergewicht  nicht  auf  die  Person  und  Eigenart  von  W.,  sondern 
auf  die  Frage  nach  den  literarischen  Einflüssen.  Das  hat  gewisse  Nachteile 
im  Gefolge.  Geht  man  von  der  bloßen  Tatsache  der  Entlehnung  aus  und 
vermeidet  man  die  Fragestellung  nach  den  Gründen,  warum  der  Dichter 
sich  gerade  diesen  Vorlagen  zuwandte,  so  wird  man  ihn  ganz  unwillkürlich 
mehr  oder  weniger  in  das  Licht  eines  wahllosen  Plagiators  rücken,  auch 
wenn  man  im  Punkte  des  Plagiats  recht  weitherzig  ist.  Um  diese  Klippe 
ist  auch  F.  nicht  herumgekommen.  Er  sieht  z.  B.  ganz  richtig,  daß  wir  von 
Anfang  an   in  dem   dekorativen   Stil   die  Eigenart  Wildes   zu   sehen   haben 


238  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

und  daß  alles  andere  doch  nur  periodische  Zutat  ist,  aber  er  verliert  diese 
Tatsache  immer  wieder  aus  den  Augen  und  macht  sie  nicht  zum  Ausgangs- 
punkt bei  der  Frage  nach  dem  Charakter  der  Entlehnungen.  Wir  erfahren 
wohl,  was  Wilde  den  Präraphaeliten  oder  Baudelaire  verdankt,  aber  nicht, 
warum  er  gerade  diese  Dichter  sich  zum  Vorbild  nimmt  und  warum  er 
gerade  diesen  oder  jenen   Zug  übernimmt. 

Unter  diesem  Gesichtspunkt  wird  uns  die  Tatsache,  daß  schon  in  den 
frühesten  Arbeiten  von  W.  sich  der  Ästhet  kundgibt,  wichtiger  erscheinen 
als  die  dort  zutage  tretenden  Entlehnungen.  Schon  an  seiner  jugendlichen 
Übertragung  aus  Aristophanes  läßt  sich  feststellen,  daß  es  die  zierenden 
Bilder  und  die  Beiworte  sind,  die  ihn  anziehen;  zum  Teil  verfolgen  sie  ihn 
sein  ganzes  weiteres  Leben  hindurch.  Auch  bei  seiner  jugendlichen  Schwär- 
merei für  den  Ritus  der  katholischen  Kirche  wird  man  wohl  mehr  Gewicht 
auf  W.s  ästhetische  Veranlagung  legen  müssen  als  auf  die  Eindrücke,  die 
er  durch  den  Übertritt  eines  Studiengenossen  und  seine  Reise  nach  Italien 
empfing.  Ebenso  läge  es  nahe,  aus  der  wichtigen  Feststellung,  daß  schon 
vor  der  Beeinflussung  durch  die  Franzosen  in  dem  Schluß  von  San  Miniato 
(1875),  eine  eigenartige  Verbindung  zwischen  seelischer  Mystik  und  sinn- 
licher Sünde  sichtbar  wird,  weitgehende  Schlüsse  für  den  späteren  W.  zu 
ziehen. 

Die  einschneidenden  Einflüsse  beginnen  in  dem  Augenblick,  wo  W.  in 
den  Bannkreis  der  Präraphaeliten  gerät.  Wir  möchten  vermuten,  daß  F.s 
Darlegung  dieser  verschiedenartigen,  aufeinanderfolgenden  Einflüsse  für  so 
gut  wie  erschöpfend  gelten  darf.  Selten  wird  man  bei  einer  literar- 
historischen Untersuchung  in  so  hohem  Grade  das  Gefühl  haben,  daß  das 
Gebäude  eines  Dichters  so  bis  auf  die  kleinsten  Bausteine  und  das  gesamte 
Handwerkszeug  bloßgelegt  wird.  Um  so  erstaunter  sind  wir  aber,  zu  sehen, 
wie  eng  im  Grunde  der  Kreis  ist,  innerhalb  dessen  sich  Wilde  bev/egt.  Setzt 
er  sich  doch  fast  nur  zusammen  aus  den  bekanntesten  Lyrikern  und  Schrift- 
stellern des  19.  Jahrb.,  die  der  ästhetisierenden  Richtung  angehören:  von 
Engländern  Keats,  Elisabeth  Barrett  Browning,  Tennyson,  Rossetti,  Mat- 
thew Arnold,  Fitzgerald,  Pater  und  Swinburne,  von  Franzosen  Gautier, 
Baudelaire  und  Flaubert.  Das  waren  in  den  siebziger  und  achtziger  Jahren 
in  der  Schriftstellerwelt  so  allgemein  bekannte  Namen,  daß  wir  uns  keinen 
Augenblick  darüber  wundern,  wenn  die  Zeitgenossen  sich  von  dem  offen- 
kundigen Nachahmer  abwandten.  Am  stärksten  kommt  dies  auf  selten  der 
Präraphaeliten  und  Swinburnes  zum  Ausdruck,  die  Wilde  einfach  als  ihren 
Affen  empfanden.  Wie  F.  richtig  herausfühlt,  ist  es  W.  nicht  gelungen, 
diese  verschiedenartigen  Einflüsse  fugendicht  zu  verschmelzen.  Da  es  sich 
dabei  fast  ausschließlich  vim  solche  Werke  handelt,  die  einen  ausgesprochen 
ästhetisierenden  Anstrich  zeigen,  möchte  ich  im  Gegensatz  zu  Fehr  glauben, 
daß  eine  solche  Verschmelzung  einem  leichter  schaffenden  Dichter  als  W. 
ohne  weiteres  hätte  gelingen  können. 

Aus  den  vielen  überzeugenden  Ausführungen  kann  im  folgenden  nur 
weniges  hervorgehoben  und  besprochen  werden.  Mit  sicherem  Gefühl  weiß 
Fehr  den  Spuren  von  Rossetti,  Morris,  Tennyson  und  Hood  bis  1879  nach- 
zugehen. Die  Anklänge  an  Rossetti,  die  auch  noch  in  späten  Dichtungen 
auftauchen,  ließen  sich  wohl  noch  vermehren.  So  möchte  ich  auf  die  Sym- 
plwny  in  Yellow  hinweisen,  wo  der  Reim  tridge  :  midge  in  ganz  ähnlicher 
Gedankenverbindung  wiederkehrt  wie  in  der  6.  Strophe  der  Blesscd  Damozel. 
Der  Einfluß  Swinburnes  beginnt  vielleicht  schon  früher,  als  F.  ihn  anzu- 
setzen sich  getraut.  So  möchte  ich  nicht  nur  mit  F.  eine  Einwirkung  von 
Swinburnes  Ballade  Tlie  King's  DougJiter  auf  Wildes  Dole  of  the  King's 
Doughter  annehmen,  sondern  auch  eine  Einwirkung  von  Sw.s  Gedicht  Ma- 
donna mia,  das  in  den  Poems  and  Ballads  dem  obengenannten  Gedichte  un- 
mittelbar vorausgeht,  auf  W.s  La  Bella  Donna  Della  Mia  Mentc. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  239 

In  überzeugender  Weise  wird  nachgewiesen,  wie  Wilde  des  künstlerischen 
Eindrucks  willen  die  Daten  seiner  Gedichte  ändert,  unter  anderem  etwa 
vorgibt,  ein  in  England  entstandenes  Gedicht  in  Italien  verfaßt  zu  haben. 
Das  ist  ein  Zug  von  Künstlereitelkeit,  wie  er  sich  ähnlich  bei  Pope  oder 
Victor  Hugo  findet,  ein  Zug,  den  man  nicht  allzu  tragisch  nehmen  darf. 
F.,  der  seinem  Autor  gegenüber  nicht  frei  ist  von  ironischer  oder  selbst 
feindseliger  Stellungnahme  (vgl.  besonders  die  Bemerkung  über  den  'dicken 
Wilde'  auf  S.  125),  geht  hier  in  seinen  Schlußfolgerungen  wohl  etwas  zu 
weit.  Wenn  der  Dichter  in  der  Impression  de  Voyage  die  ursprünglich  ge- 
brauchten Worte  sweet  honied  Eotirs  einige  Jahre  später  verwandelt  in 
those  dear  BeUenic  hours,  so  tut  er  das  kaum,  um  vorzuspiegeln,  daß  schon 
1877  der  Hellenismus  sein  Christentum  zu  unterwerfen  begonnen  habe  (was 
niemanden  interessiert  hätte),  sondern  er  trifft  die  Änderung  einfach  aus 
der  Stimmung  heraus,  die  ihn  1880  nach  der  griechischen  Reise  beherrschte. 
Ebensowenig  möchte  ich  ohne  weiteres  auf  TVIache'  schließen,  wenn  der 
Dichter  im  Jahre  1877  als  seine  großen  Meister  Browning,  Keats,  Marlow, 
Dante  und  Milton  hinstellt.  Wenn  F.  an  der  Nennung  von  Browning, 
Marlow  und  Milton  Anstoß  nimmt,  so  ist  einmal  dagegen  einzuwenden,  daß 
Gedichte  von  Wilde  aus  jener  Zeit  existiert  haben  mögen,  die  uns  nicht  er- 
halten sind,  zum  anderen  auch,  daß  Wilde  von  diesen  Dichtern  Einwirkun- 
gen erfahren  haben  kann,  die  sich  bei  ihm  nicht  dichterisch  umsetzten.  Es 
ist  schlechterdings  nicht  einzusehen,  welche  Vorteile  ihm  die  Nennung 
gerade  dieser  Namen  bringen  konnte.  Daß  ein  Werk  wie  Marlows  Edicnrd 
thc  Secnnd  mit  seinen  Anspielungen  auf  Hylas,  Ganymed,  Heph-.iestion, 
Patroclus  inid  Alkibiades  ihn  schon  damals  stark  beeindrucken  muß'.^r,  ist 
angesichts  eines  Gedichtes  wie  Wasted  Days  mehr  als  wi-hrscheinlich. 
Ebenso  können  wir  uns  ohne  weiteres  vor.stellen,  daß  die  hinreißenden 
Worte,  die  Marlows  Faust  an  Helena  richtet,  ihn  bei  seinem  Interesse  für 
diese  Figur  gefesselt  haben.  Man  vergleiche  dazu  die  Helenastrophe  im 
Garden  of  Itys.  Dazu  käme  noch  Marlows  dekorativer  Stil,  vor  alleni  in 
Eero  and  Leander.  Als  Beleg  dafür,  daß  W.  um  diese  Zeit  tatsächlich  unter 
dem  Bann  von  Milton  steht,  möchte  ich  den  evening  star  am  Schluß  von 
Ravenna  anführen,  der  {doth  gleam  afar)  and  hid  tJie  sJiepJierd  bring  his 
flock  to  fold;  das  ist  ein  Echo  des  Star  that  Mds  the  SJiepherd  fold  in  Mil- 
tons  Comus  (v.  93). 

Zwischen  1877  und  1879  erfolgt  bei  Wilde  der  Übergang  von  der  christ- 
lichen Romantik  zur  hellenistischen  Sinnlichkeit.  Ein  ausführlicher 
Exkurs  orientiert  den  Leser  über  die  Eigenart  des  jungen  Swinburne, 
der  für  eine  Reihe  von  Jahren  für  Wilde  zum  beherrschenden  Vorbild  wird. 
Hervorgehoben  seien  besonders  die  Ausführungen  über  die  vSapphischen 
Motive  bei  Swinburne  und  über  sein  Verhältnis  zu  Baudelaire.  Ob  es  die 
Einwirkung  von  Victor  Hugo  war,  die  Swinburne  zum  Freiheitskämpfer 
machte,  möchte  ich  dahingestellt  sein  lassen  angesichts  der  starken  hei- 
mischen Tradition,  die  so  viele  englische  Dichter  des  19.  Jahrhunderts  sich 
für  die  Freiheit  unterdrückter  Völker,  wie  der  Griechen,  Polen,  Italiener 
und  Armenier,  begeistern  ließ.  Von  feinem  Stilempfinden  zeugen  F.s  Aus- 
führungen über  den  Gebrauch  des  Symbols,  das  von  der  einfachen  Personi- 
fikation sich  durch  die  plastischen  Attribute  scheidet.  Die  große  Rolle, 
welche  die  Personifikation  bei  Sw.  und  seinen  Nachahmern  spielt,  recht- 
fertigt F.s  eingehende  Untersuchung  gerade  dieser  Frage,  die  er  schon  in 
seinem  inhaltsreichen  Aufsatz  über  Oskar  Wildes  "The  Harlot's  House" 
(Archiv  f.  n.  Spr.  1.34)  angeschnitten  hatte.  Bezweifeln  möchte  ich  allerdings 
die  Richtigkeit  der  bisher  vorhandenen  Ansichten  über  die  Entwicklungs- 
geschichte dieses  Symbolismus,  die  zumeist  Dante  und  Shakespeare  als  Aus- 
gangspunkt nehmen.  Bedeutsamer  noch  scheint  mir  die  Rolle  zu  sein,  die  Pe- 
trarca und   seine  italienischen   und   englischen   Nachahmer   gespielt  haben. 


240  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Die  Dichter  dei-  englischen  Renaissance  sind  voll  von  Personifikationen  jeg- 
licher, auch  plastischer  Art,^  und  an  sie  eher  als  an  Dante  scheint  mir  die 
ganze  Tradition,  innerhalb  deren  auch  Swinburne  steht,  anzuknüpfen.  Auch 
das  Vorbild  von  Keats  dürfte  für  die  Dichter  des  19.  Jahrhunderts  stark  in 
Betracht  kommen,  wie  die  SteUe  im  Endymion  (II,  335  ff.)  veranschau- 
lichen mag: 

Obstinate  silence  came   heavily  again, 
Feeling  about  for  its  cold  couch  of  space 
And  airy  cradle. 

Doch  bedarf  das  ganze  Problem  der  Personifikation  in  der  modernen  Dich- 
tung noch  genauerer  Untersuchung.  Als  Erbe  Sw.s  übernimmt  W.  einmal 
inhaltlich  ein  christenfeindliches  Demokratentum,  zum  anderen  formal  die 
Personifikation,  wobei  es  bei  seiner  ganz  anders  gearteten  visuellen  Ver- 
anlagung zu  den  seltsamsten  Verrenkungen  kommt.  Nebenher  geht  von  An- 
fang an  der  mit  starken  Farben  auftragende  dekorative  Stil,  der  in  späterer 
Zeit  gern  mit  verfeinerten,  seltenen  Farbenattributen  arbeitet,  über  deren 
Stammbaum  sich  manches  Interessante  sagen  ließe.  Über  amher  als  Farben- 
bezeichnung möchte  ich  an  anderer  Stelle  ini  Zusammenhang  handeln;  hier 
sei  nur  bemerkt,  daß  der  starke  Gebrauch  von  amher,  silk,  silken,  rieh  und 
honied  auf  Keats  zurückgehen  dürfte;  pomegranate,  das  Byron  bereits  ge- 
legentlich zur  Schilderung  der  Hautfarbe  verwendet,  hat  Wilde  in  seiner 
Anwendung  auf  den  Mund  offenbar  von  Gautier  übernommen  (vgl.  Mad.  de 
Maupin:  le  sultan  caresse  sa  favorite  en  sa  pr4senee,  et  la  iaisse  sur  la 
iouche  de  grenade).  Durchaus  überzeugend  wirkt  die  Ansicht  (S.  106),  daß 
Ave  Tmperatrix  Swinburnes  Gedanken  von  der  republikanischen  Welt- 
mission Englands  widerspiegelt;  um  so  mehr  glavibe  ich,  daß  man  von  einer 
Beeinflussung  durch  Polybius  absehen  darf. 

Bedeutsam  für  die  Entwicklung  W.s  als  Künstler  ist  der  Nachweis,  wie 
er  unter  dem  Einfluß  von  Gautier  und  Baudelaire  lernt,  das  Große  in  der 
Natur   in  kleine  Gegensätze  der  Kunst  umzusetzen: 

The  moon  is  like  a  yellow  seal 
XJpon  a  dark  blue  envelope. 

Von  Keats  und  Gautier  lernt  er  (S.  109),  an  äußere  Gegenstände,  vor  allem 
Natureindrücke,  weitabliegeude  Visionen  anzuknüpfen.  Überaus  sorgfältig 
ist  die  Analyse  der  größeren  Gedichte.  Schon  das  erste  von  ihnen,  The 
Bürden  of  Itys,  zeigt  ein  Nebeneinander  der  mannigfaltigsten  Einflüsse,  so 
durch  Matthew  Arnold,  Swinburne,  Elizabeth  Barrett  Browning  und  Mere- 
dith.  Nur  seheint  es  uns  ein  Unrecht  gegenüber  dem  Dichter  zu  sein,  wenn 
man  auf  diesen  Analysen  das  ästhetische  Urteil  aufbaut.  Das  fällt  mir 
besonders  auf  bei  einem  Gedicht  wie  The  Garden  of  Eros,  wo  gewiß  ein 
Widerspruch  vorhanden  ist  zwischen  dem  durch  die  erste  und  letzte  Strophe 
gebildeten  Rahmen,  der  eine  Juninacht  vorführt,  und  der  dazwischenliegen- 
den Blumenpoesie,  deren  Einzelheiten  sich  nicht  immer  mit  der  Jahreszeit 
des  Sommers  und  der  Nachtstunde  in  Einklang  setzen  lassen.  Aber  deshalb 
darf  man  doch  die  Schilderung  der  Blumenschar  nicht  eine  bloße  Künstelei 

1  Genaueres  in  meiner  Abhandlung  über  'Umfang  und  Ursprung  der 
poetischen  Beseelung  in  der  englischen  Renaissance  bis  zu  Philip  Siduey' 
in  Engl.  Stud.  50.  Eine  Personifikation  wie  die  folgende  bei  Sidney  reicht 
in  ihrer  Versinnlichung  d(>s  Abstrakten  bereits  an  Rossetti,  Swinburne  und 
Wilde  heran:  Btit  lühile  all  men  made  the  joy  of  their  cyes  speake  for  their 
hearts  totcards  Daiphantus:  Fortune  fthat  helike  wa^  hid  to  that  hankef, 
and  ment  fhen  to  plny  the  good  fellow)  hrought  a  pleasant  adventure  among 
them. 


Beurteilungen  und  kurfe  Anzeigen  241 

nennen,  so  wenig  wie  einen  der  wundervollen  Blumenkataloge  bei  Spenser, 
wo  auch  dem  relativen  Empfinden  keine  Rechnung  getragen  wird.  Worauf 
es  allein  ankommt,  ist  die  Stimmung,  in  die  der  Leser  durch  die  Fülle  des 
Schönen  und  Seltsamen  versetzt  werden  soll.  Ob  diese  Blumen  geschaut 
sind,  ist  gleichgültig  gegenüber  der  suggestiven  Kraft,  die  von  ihrer  üppigen 
Schilderung  ausgeht.  Den  zwischen  Tränen  lachenden  April  brauchen  wir 
kaum  als  Pater-Hegelschen  Nachklang  aufzufassen;  das  Lachen  zwischen 
Tränen  ist  seit  Homer  nicht  wieder  aus  der  Literatur  verschwunden. 

Tn  einem  einzigen  Gedicht«  wie  Panthea  werden  Einflüsse  von  Fitz- 
gerald, Pater,  Swinburne,  Shakespeare  und  Tennyson  {Lotuseaters)  nach- 
gewiesen. Ob  wir  an  Gautiersche  persische  Farbensvmphonie  zu  denken 
liaben,  wenn  der  rot«  Mund  der  Geliebten  sich  zu  einer  Hose  wandelt,  die 
blauen  Augen  zu  taubeperlten  Glockenblumen  usw..  ist  mir  zweifelhaft;  es 
läge  vielleicht  näher,  an  Ovidische  Klänge  oder  Nachklänge  zu  denken. 
Eumanitad  entpuppt  sich  als  eine  Synthese  von  Matthew  Arnold,  Shelley, 
Pater,  Swinburne.  Morris  und  Baudelaire;  Charmides  steht  in  erster  Linie 
unter  dem  Zeichen  von  Keats'  Endymion.  —  Bei  Wildes  Auffassung  der 
Helena  wäre  vielleicht  auf  Huysmans'  recht  ähnliche  Auffassung  hinzu- 
weisen (vgl.  die  von  Walter  Fischer  in  Engl.  Stud.  51,  S.  46  zitierte  Stelle). 

Weniger  überzeugend  als  die  Nachweise  moderner  Einflüsse  wirken  die 
Hinweise  auf  elisabethanische  Literatur.  So  vermag  ich  aus  dem  Gedicht 
TJnder  the  Balcony  'keinerlei  elisabethanische  Klänge  herauszuhören  (S.  155), 
ebenso  keinen  Sonettenton,  sondern  nur  das  auch  von  F.  hervorgehobene 
balladenha.fte  Element.  Daß  Shakespeare  in  'Venus  und  Adonis'  ein  wirk- 
liches Gemälde  beschreibt   (S.   172).  ist  trotz  Sarrazin  wenig-  glaubhaft. 

Gut  gelungen  ist  auch  die  Darlegung  der  farbenmelodischen  Gedichte 
der  achtziger  Jahre,  die  unter  dem  Einfluß  der  Eindruckskunst  von  ^^Tiist- 
1er  entstanden.  Eecht  aufschlußreich  ist  die  Analyse  von  TJie  Harlofs  Bouse. 
Zweifelhaft  ist  mir  allerdings,  ob  es  zweckmäßig  ist,  dieses  Gedicht,  das 
ganz  auf  Bewegung  und  Stimmung  eingestellt  ist.  mit  den  malerischen 
Dichtungen  in  engen  Zusammenhang  zu  bringen;  stehen  doch  die  Farben- 
töne darin  lediglich  im  Dienst  der  durch  andere  Faktoren  erzeugten  Stim- 
mung. Merkwürdigerweise  wird  trotz  der  dichterischen  Farbensymphonien 
die  Frage  nach  einer  etwaigen  synästhetischen  Veranlagung  W.s  nicht  an- 
geschnitten. Das  ist  um  so  auffallender,  als  wir  in  dem  ersten  Zitat  aus 
Kipling,  das  Fehr  S.  175  als  Probe  von  dichterischem  Impressionismus  an- 
führt, einen  deutlichen  Fall  von  Synästhesie  vor  uns  haben:  'Die  Sonne 
traf  das  Wasser  mit  ihrem  Licht  so  heftig,  daß  man  glaubte,  das  Meer  müsse 
jetzt  wie  ein  poliertes  chinesisches  Trommelbecken  ertönen'.  Das  erinnert 
sofort,  an  das  bekannte,  wohl  auch  synästhetisch  empfundene  Bild  Kiplings 
von  der  Sonne,  die  sich  wie  Donner  erhebt.  —  Ob  in  dem  kleinen  Gedicht 
Jardin  des  Tmleries  der  schwarze,  laublose  Baum  im  Winter,  der  nicht 
Blüten  treiben  will,  wenn  lebensprühende  Kinder  ilin  erklettern,  etwas  mit 
dem  grünenden  Stabe  Tannhäusers  zu  tun  hat.  ist  mir  zweifelhaft. 

Trotzdem  der  starke  Einfluß,  den  Huysmans  und  Flaubert  auf  W.  aus- 
geübt haben,  längst  bekannt  war,  gelingt-  es  Fehr  doch,  auch  auf  diesem 
Gebiete  einige  hübsche  Entdeckungen  zu  machen,  indem  er  nachweist,  daß 
für  die  Situation  in  W.s  Sphtiix  eine  Szene  in  Huysmans'  A  Rehours  den 
Ausschlag  gab,  und  daß  eine  Menge  von  Einzelheiten  den  Traumgesichten 
des  heiligen  Antonius  bei  Flaubert  entstammen.  Den  Einfluß  von  Poes 
Raven  auf  den  Aufbau  des  Gedichts,  besonders  den  Eingang  und  den  Schluß 
möchte  ich  höher  veranschlagen,  als  F.  mir  dies  zu  tun  scheint.  Ich  halte 
es  auch  für  nicht  unwahrscheinlich,  daß  W.  sich  unt-er  dem  Einfluß  von 
Poes  Langzeile  dazu  entschloß,  die  ursprünglichen  Kurzzeilenpaare  als 
Langzeilen  zu  drucken:  für  mein  Gefiihl  liegt  hier  nicht  nur  eine  bloß 
graphische,  sondern  auch  eine  rhjrthmische  Änderung  vor.     Bei  Febrs  Wer- 


242  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

tung  der  Sphinx  macht  sich  meines  Erachtens  wiederum  die  Tatsache  gel- 
tend, daß  nicht  die  Eigenart  und  die  Absichten  des  Dichters  zum  Ausgangs- 
punkt gewählt  werden.  W.  gehört  von  Anfang  an  zu  den  Ästheten,  auf  die 
der  Klang  des  Wortes  stark  suggestiv  wirkt,  und  ist  deshalb  von  vornherein 
auf  seltsame  und  melodische  Worte  aus,  besonders  fremdländisch,  orien- 
talisch oder  griechisch  klingende.  In  dem  Gedicht  Ave  Imperatrix  stehen 
nahe  beieinander,  einmal  im  Reim:  Kandahar,  Samarkand,  Ispahan,  Cabool; 
dann  außerhalb  des  Reims:  Pathan,  Afghan,  Marri,  Himalayan,  Bokhara, 
Oxus.  So  mußte  W.  bei  der  Fülle  farbenprächtiger  und  seltsam  klingender 
orientalischer  Gelehrsamkeit,  die  ihm  bei  Flaubert  entgegentrat,  der  Ver- 
suchung unterliegen,  den  Suggestionsgehalt  dieser  Worte  in  seiner  Poesie 
auszunutzen  und  zu  steigern.  Es  scheint  mir  ungerecht  gegen  den  Dichter, 
wenn  man  von  der  Tatsache  der  Entlehnung  ausgehend  die  Sache  so  wendet, 
daß  W.  durch  Übernahme  Flaubertscher  Bilder  'im  ahnungslosen  Leser  den 
Eindruck  einer  geradezu  erdrückenden  Gelehrsamkeit  erweckt'.  Auch  wenn 
W.  sich  eine  Reihe  seltener  Worte  aus  Flaubert  als  Reimworte  notiert, 
möchte  ich  darin  für  jemanden,  der  so  viel  Gewicht  auf  Suggestion  durch 
Klang  legt  wie  W.,  nicht  eine  besonders  berechnende  künstliche  Filigran- 
arbeit erblicken.  Wüßten  wir  mehr  über  die  rein  technischen  Hilfsmittel 
der  einzelnen  Dichter,  so  würden  wir  wohl  manchen  parallelen  Fall  an- 
führen können.  Vollauf  befriedigend  wirkt  endlich  auch  die  Analyse  der 
Zuchthausballade  und  das  sorgsame  Abwägen  zwischen  Erlebnis  und  Re- 
miniszenzen an  Baudelaire,  Gautier,  Hood,  Fitzgerald  und  Longfellow.  So 
bietet  alles  in  allem  die  vorliegende  Schrift  eine  ganz  erstaunliehe  Fülle 
von  positiven  Ergebnissen  über  Motive  und  Stileigentümlichkeiten  der  Ge- 
dichte von  W.,  die  zu  schönen  Hoffnungen  über  die  weiteren  in  Aussicht 
gestellten  Wilde-Studien  berechtigen.  —  Zum  Schluß  noch  eine  Bemerkung, 
die  uns  der  Verfasser  hoffentlich  nicht  verübelt!  Bedeutet  sie  doch  auch 
mehr  eine  Anerkennung  als  eine  Ausstellung.  Betrachtet  man  die  vielen 
feinen  Bemerkungen,  die  im  Verlaufe  der  Arbeit  über  die  Präraphaeliten, 
Swinburne  oder  Meredith  fallen,  und  erwägt  man,  wie  wenig  wirklich  Wert- 
volles bis  jetzt  über  diese  Dichter  geschrieben  worden  ist,  so  wird  man  sich 
eines  leisen  Bedauerns  nicht  erwehren  können,  daß  F.  seine  große  Belesen- 
heit und  seine  Gabe  des  poetischen  Nachfühlens  nicht  in  den  Dienst  einer 
höheren  Aufgabe  gestellt  hat  als  der  einer  Untersuchung  der  Gedichte  von 
W.,  in  dem  er  mit  Recht  einen  Nachempfinder  und  ein  mühseliges  Form- 
talent erblickt.  Da  ist  die  Mahnung  von  der  Kürze  des  Lebens  und  der 
Länge  der  Kunst  vielleicht  nicht  unangebracht. 

Freiburg   i.   B.  Friedrich   Brie. 

Karl  Arnholdt,  Die  Stellung  des  attributiven  Adjektivs  im  Italie- 
nischen   und    Spanischen.     (Romanisches    Museum,   hg.    von 
Dr.  Gustav  Thurau,  IX.  Heft.)     Greifswald  1916.     166  S. 
Nicht  nur  an  Sitz-,  sondern  auch  an  Denkfleiß,  an  Umsicht  und  Selb- 
ständigkeit des.  Urteils,  an  äußerlicher  Sorgfalt,  die  sich  unter  anderem  in 
dem  wohlgegliederten  Aufbau  und  der   genauen  Überwachung  des   Druckes 
kundgibt,    überragt    die    Abhandlung    (von    der    ein    Teil    als    Greifswalder 
Dissertation   erschien)    den   Durchschnitt   solcher   Arbeiten.     Es   tut   einem 
leid,  wenn  man  sie  trotzdem  nicht  une*ingeschränkt  gutheißen  kann. 

Zunächst  ist  es  zweifellos  verdienstvoll,  wenn  das  für  das  Französische 
so  oft  behandelte  Thema  einmal  an  italienischen  und  spanischen  Beispielen 
beleuchtet  wird.  Doch  der  Titel  verspricht  mehr,  als  nachher  gehalten  wird: 
denn  vom  neueren  Italienisch  sind  lediglich  einige  Bände  Carducci  und 
d'Annunzio,  vom  älteren  nur  Dantes  'Vita  Nova'  und  der  Trattato  Primo 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  243 

des.  'Convito',  Boccaccio  und  die  Text«  in  B.  Wieses  Ait.  Elementarbuch, 
und  für  das  Spanische  lediglich  der  'Don  Quijote'  herangezogen  worden. 
Demgemäß  zerfällt  die  Abhandlung  in  drei  Hauptteile:  Die  Stellung  des 
attributiven  Adjektivs  I.  im  Neuitalienischen  (77  S.),  II.  im  älteren  Italie- 
nisch (nur  21  S.)  und  III.  im  'Don  Quijote'  (nur  23  S.) ;  vorangeht  eine 
Einleitung  von  11  Seiten,  und  am  Schluß  folgen  S^/o  Seiten  'Ergebnisse', 
ferner  ein  Verzeichnis  der  zitierten  Autoren  und  Linguisten  und  ein  sehr 
sorgfältiges  der  behandelten  Wörter  (15  S.),  sodann  Berichtigungen  und 
Inhaltsübersicht. 

Doch  diese  Beschränkung  im  Extensiven  wäre  kein  Fehler,  wenn  sie 
dem  Intensiven  zugute  gekommen  wäre.  Gilt  doch  von  unserem  Then)a 
etwas  Ähnliches,  wie  Johann  Stöcklein  es  in  seinen  "Jntorsucliungen  zur 
Bedeutungslehre'  (Münchener  Dissertation  1897)  ausgesprochen  hat:  Ein 
einziger  Autor  oder  auch  nur  ein  einziges  Werk  eines  Autors  gründlich 
untersucht,  wäre  ein  größerer  Gewinn  als  eine  noch  so  umfangreiche 
Sammlung  von  Beispielen  aus  ganzen  Epochen  oder  ganzen   Sprachen. 

Indessen  ist  die  Erkenntnis,  daß  es  sich  hier  um  ein  stilistisches 
Problem  handelt  und  nicht  um  ein  syntaktisches,  dem  Verfasser  nur 
sehr  von  fern  aufgegangen:  wohl  findet  man  bei  ihm  einen  Absatz:  'Indi- 
viduelle Stellungen  bei  Carducci'  (S.  62  ff.)  und  einen  anderen:  'Individuelle 
Stellungen  bei  Cervantes'  (S.  127  f.)  —  leider  aber  beschränkt  sich  der 
erste  auf  8^/2,  der  zweite  gar  auf  eine  einzige  Seite.  Eine  stilistische  Unter- 
suchung kann  nun  aber  nur  in  der  Weise  geschehen,  daß  man  sich  zunächst 
in  den  Geist  eines  bestimmten  Einzelautors  hineinversetzt,  d.  h.  als  Mono- 
graphie, als  fortlaufender  Kommentar;  will  man  dann  vergleichen,  um  zu 
allgemeineren  Ergebnissen  zu  gelangen,  so  muß  dieses  Vergleichen,  wenn 
es  von  Nutzen  sein  soll,  mit  denkbar  größter  Vorsicht  und  Umsicht  vor- 
genommen werden  —  zumal  bei  zeitlich  und  örtlich  so  verschiedenen  Autoren 
wie  Carducci  und  Dante  oder  Carducci  und  Cervantes;  denn  das  gleiche 
sprachliche  Ausdrucksmittel  kann  aus  den  verschiedensten,  ja  aus  entgegen- 
gesetzten Motiven    heraus   gewählt   worden   sein. 

Was  nun  unser  Problem  betrifft,  so  stellt  sich  das  Grundsätzliche,  das 
der  Verfasser  nicht  betrachtet  hat,  etwa  folgendermaßen  dar.  Das  Attribut 
eines  Substantivs  ist  'nichts  anderes  als  ein  degradiertes 
Prädikat,  welches  nicht  um  seiner  selbst  willen  ausgesprochen  wird, 
sondern  nur,  damit  dem  Subjekt  (Objekt)  nun  ein  weiteres  Prädikat  bei- 
gelegt werden  kann.'  (Paul,  'Prinzipien  der  Sprachgeschichte',  1909*. 
S.  139.)  J'ai  vu  nn  pauvre  homme  müssen  wir  uns  entstanden  denken  aus: 
1.  J'ai  vu  nn  homme  qui  ^tait  pauvre  oder  2.  J'ai  vu  un  homme  4tait  pauvre 
>  3.  J'ai  vu  un  homme,  pauvre  >  4.  J'ai  vu  un  homme  pauvre  >  5.  J'ai 
vu  un  pauvre  homme.  (2.  ist  nicht  etwa  aus  1.  durch  Ausfall  des  Belativs 
zu  erklären,  sondern  als  Konstruktion  i<-in  ynirn7\  die  Kopula  bleibt  dann 
sehr  leicht  fort;  Beispiele  wie  3.,  in  denen  der  prädikative  Wert  des  Ad- 
jektivs und  die  dadurch  bedingte  Pause  durch  ein  Komma  angedeutet  ist, 
finden  sich  noch  heute;  das  Fehlen  der  Pause  und  des  Kommas  ist  dann  ein 
Sympton  des  Überganges  von  prädikativer  zu  attributiver  Konzeption, 
welche  bei  Voranstellung  deutlich  vorliegt.)  Geahnt,  wenn  auch  nicht  klar 
erkannt,  hat  Verfasser  diese  Entwicklung  an  einzelnen  Stellen,  zum  Bei- 
spiel S.  51:  'Jedesmal  wirkt  die  Nachstellung  gleich  einem  Kelativ.satze : 
"welche  groß  ist"',  anlässig  von  Beispielen  wie:  la  Francia  non  d  la  gran 
nazionc,  ma  d  nazione  grande  (Carducci)  oder  den  cnerpos  de  libros  grande.<i 
(Cervantes).  Nur  hätte  er,  da  er  laut  Titel  von  'attributiven  Adjek- 
tiven' handelt,  besonders  hervorheben  müssen,  daß  solche  einem  Relativsatz 
gleichwertige  Adjektive  nicht  attributiv,   sondern   prädikativ  sind. 

Was  ist  nun  das  Natürliche  und  Normale:  Voranstellung  oder  Nach- 
stellung? —  Beides  und  keins.     Nachstellung,  insofern  das  attributive  Ad- 


244  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

jektiv  eigentlich  ein  Prädikat  ist;  Voranstelluug,  insofern  es  bloß  ein 
degradiertes,  'herabgedrücktes'  Prädikat  ist.  Wenn  die  germanischen 
Sprachen  das  Adjektiv  so  gut  wie  immer  voranstellen  (so  daß  man  selbst 
ein  deutlich  prädikatives  Beispiel  mit  adjektivischem  Partizip  wie  Mau- 
passants  Sa  femmc,  prise  sans  doi,  s'-indignait  sans  cesse  attributiv  mit 
'seine  oline  Mitgift  geheiratete  Frau  . . .'  übersetzen  würde),  so  ist  das 
durchaus  natürlich;  wenn  die  romanischen  Sprachen,  und  besonders  das 
Französische,  es  ebenso  gern  nach-  wie  vorstellen,  so  ist  das  nicht  minder 
natürlich.  An  sich  wäre  ja  gewiß  stets  Nachstellung  zu  erwarten,  weil  es 
an  sich  natürlicher  ist,  zunächst  den  Gegenstand  zu  nennen,  von  dem 
man  etwas  aussagt,  und  dann  erst  das,  was  man  von  ihm  aussagt,  also 
c'est  un  komme  pauvre  --  ebenso  wie  es  natürlich  ist,  erst  das  Subjekt  aus- 
zusprechen und  dann  das  Prädikat  (denn  Substantiv  und  adjektivische  Be- 
stimmung verhalten  sich  zueinander  genau  wie  Subjekt  und  Prädikat). 
Nun  ist  es  aber  etwas  durchaus  Gewöhnliches,  daß  man  zuerst  das  aus- 
spricht, was  man  aussagt  (das  Prädikat),  und  dann  erst  das,  von  dem  man 
das  aussagt  (das  Subjekt),  nicht  nur  bei  Vorangehen  einer  adverbialen-  Be- 
.stimmung  (z.  B.  'Gestern  begegnete  mir  mein  Freund'),  sondern  auch  ohne 
eine  solche  (z.  B.  'Es  braust  ein  Ruf  wie  Donnerhall'),  und  ebenso  im  Fran- 
zösischen: il  arrive  des  itrangers  —  Derridre  lui  marchaient  les  deux  ser- 
vants  (Maupassant,  6d.  Conard  III  32)  ;  autour  d'eux  causaient  des  nies- 
sieurs  en  redingote  (ib.  XIII  375) ;  sous  l'omljrelle  nous  attendait  la  petite 
hlanchisseuse  (ib.  XXVIII  260) :  au  milieu  de  Valcöve,  souriait,  dans  un 
cadre  de  palissandre,  le  visage  de  Beranger!  (Flaubert,  fiduc.  sentim.,  6d. 
Conard  p.  376)  usw.,  wo  sogar  folgendes  möglich  ist:  il  crut  sentir  . . .  un 
intiret  plus  chercheur  que  ne  se  donnent  la  peine  d'en  avoir  ordinairement 
les  jolies  dames  ...  (Maup.  XXV  20).  Eine  Grenze  ist  dieser  Wortstellung 
bekanntlich  nur  dadurch  gezogen,  daß  sie  nicht  statthaft  ist,  wenn  das 
Verbum  ein  substantivisches  Objekt  bei  sich  hat;  im  übrigen  ist  es  dem 
Schriftsteller  vollkommen  freigestellt,  zu  sagen:  Alors,  le  domestique  parut 
oder:  Alors  parut  le  domestique  (beides  könnt«  ich  hundertfach  belegen), 
und  ob  er  das  eine  wählt  oder  das  andere,  wird  davon  abhängen,  ob  er  den 
Ton  auf  parut  legen  will  oder  auf  le  domestique.  Genau  das  gleiche  ist  also 
zu  erwarten  für  die  Stellung  von  Substantiv — Adjektiv  oder  Adjektiv — Sub- 
stantiv. Für  die  Reihenfolge,  die  er  wählt,  wird  zunächst  maßgebend  sein 
die  Reihenfolge,  in  der  ihm  die  betreffenden  Vorstellungen  kommen.  Im 
allgemeinen  zwar  besitzt  der  Sprechende  (oder  Schreibende)  im  Augenblick 
des  Sprechens  bereits  eine  Gosamtvorstellung,  die  er  zum  Zweck 
der  Mitteilung  sprachlich  zerlegt  und  gliedert:  wenn  er  zum  Beispiel  sagt 
Alors  parut  le  domestique,  so  ist  es  undenkbar,  daß  er  im  Augenblick,  da 
er  parut  sagt,  nicht  schon  wenigstens  annähernd  die  Vorstellung  dessen  be- 
säße, der  da  erschien  (des  Dieners)  —  denn  sonst  wüßte  er  ja  nicht,  ob  er 
parut  in  den  Singular  oder  in  den  Plural,  in  die  erste,  zweite  oder  dritte 
Person  zu  setzen  hat.  Und  das  gleiche  gilt  auch  für  die  Wortgruppe  inner- 
halb des  Satzes,  dem  sprachlichen  Niederschlag  einer  Vorstellungsgruppe 
innerhalb  der  Gesamtvorstellung;  sage  ich  z.  B.  auf  einem  Spaziergang  zu 
meinem  Begleiter:  Lä-has,  je  vois  une  magnifique  femme,  so  könnte  man 
meinen,  ich  habe  die  Voranstellung  von  magnifique  deshalb  gewählt,  weil 
ich  zunächst  nur  etwas  Prächtiges  gesehen  habe,  noch  bevor  ich  unter- 
scheide, was  eigentlich  dieses  Prächtige  ist,  weil  ich  im  Augenblick  des 
Aussprechens  von  magnifique  noch  gar  nicht  weiß,  ob  es  eine  Frau  oder  ein 
Mann  ist,  und  das  femme  erst  während  meiner  Rede  apperzipiere  und  aus- 
drücke; das  würde  dann  der  H.  Paulschen  Definition  des  Satzes  als  einer 
Verbindung  mehrerer  Vorstellungen  entsprechen  (Princ.^  110)  —  aber 
diese  Vermutung  wird  sofort  dadurch  widerlegt,  daß  ich  ja  noch  vor 
magnifique   das   Wort   une  ausgesprochen   habe:    also   muß    mir    bereits   im. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  245 

Augenblick  des  Aussprechens  von  magnifique  klar  gewesen  sein,  daß  es  sich 
um  ein  weibliches  Wesen  handelt.  Insofern  muß  ich  also  Wundt  zustimmen, 
der  den  Satz  (oder  die  Satzgruppe)  nicht  durch  die  Verbindung  von  Einzel- 
vorstellungen, sondern  durch  die  Zerlegung  einer  Gesamtvorstellung  zu- 
stande kommen  läßt.  Oder  auf  unser  Problem  angewandt:  wenn  das  Ad- 
jektiv voransteht,  so  ist  das  an.  sich  noch  kein  Beweis  dafür,  daß  dem 
Sprechenden  zunächst  die  Eigenschafts  vor  Stellung  gekommen  sei  und  dann 
erst  die  Dingvorstellung  (und  umgekehrt).  Nun  scheinen  mir  aber  die 
Panische  'Verbindung'  und  die  Wundtsche  'Zerlegung'  einander  durchaus 
nicht  auszuschließen  (wie  man  allgemein  annimmf).  Denn  bevor  ich  etwas 
zerlege,  muß  ich  etwas  zusammengefügt  haben :  gewiß  habe  ich 
im  Augenblick  des  Sprechens  zumeist  schon  eine  Gesamtvorstellung  —  aber 
diese  Gesamtvorstellung  muß  ich  mir  erst  gebildet  haben.  Paul  führt 
in  der  4.  Auflage  folgendes  Beispiel  ins  Feld:  ich  bin  in  der  Wüste  und 
höre  zunächst  ein  Brüllen;  erst  dann  denke  ich  bei  mir:  'Das  muß  wohl  ein 
Löwe  sein'  (den  ich  gar  nicht  sehe),  und  wenn  ich  nun  sage:  'Ein  Löwe 
brüllt'  oder  'Es  brüllt  ein  Löwe'  oder  'Da  brüllt  ein  Löwe',  so  habe  ich  offen- 
bar zwei  Vorstellungen  zusammengefügt.  —  Mir  scheint,  Paul  ist 
vollkommen  im  Recht,  und  ich  kann  sein  künstlich  erdachtes  und  etwaa 
exotisches  Beispiel  durch  eine  Reihe  von  Fällen  aus  Schriftstellern  belegen. 
Am  überzeugendsten  scheint  mir  folgendes:  Maupassant  (IX  266)  erzählt 
von  jemand,  der  geduldig  beim  Angeln  gesessen  hatte:  et  il  apergut,  decri- 
vant  dans  le  ciel  une  courbe  de  meteore,  et  accroch4  ä  Vun  de  ses  hamegonn, 
un  magnifique  cliapemi  .  . .  Maßgebend  für  die  Vorstellung  war  hier  offen- 
bar die  Reihenfolge,  in  der  sie  kamen:  der  Angler  bemerkt  zunächst  nur, 
daß  ein  unbestimmtes  Etwas  einen  Bogen  beschreibt  und  an  seiner  Angel 
hängt  —  und  erst  hinterdrein  erkennt  er  zu  seiner  Überraschung,  daß  es 
ein  Hut  ist  (nebenbei  wird  durch  die  Verlegung  des  chapeau  in  die  Ton- 
stelle das  Verblüffende  seiner  Entdeckung  noch  besonders  hervorgehoben: 
durch  die  dazwischengestellten  Bestimmungen  wird  der  Leser  gleichsam  in 
Spannung  gehalten,  und  der  Satz  endet  mit  einem  Knalleffekt).  Vergleiche 
noch:  .  . .  et  fapergus,  alignees  contre  le  mur  par  rang  de  taille,  six  petites 
filles  (Maup.  IX  266)  ;  ils  apergurent,  pareü  ä  un  enorme  Champignon,  le 
chapeau  dii  ptre  Clovis  (ib.  XVII  169);  et  fapergus,  tremilant,  ouvrant  sur 
moi  des  yeux  effar4s  et  brillantes,  un  pauvre  petit  gargon  (XI  158)  ;  faper- 
gus, dehout,  ä  dix  pas  de  moi,  enveloppe  dans  son  immense  manteau  jaunätre, 
coiffe  d'nn  bonnet  de  lainc,  et  tricotant  totijours  un  bas,  comme  fönt  les 
bergers  ches  nous,  le  pätrc  .  .  .  (XV  209) ;  j'apergus,  prenant  un  bain,  se 
croyant  bien  seiilc  ä  cette  hewe  brülante,  une  grande  fille  nue  . .  .  (IV  67) ; 
Alors,  tout  lä-bas,  et  venant  vers  liii,  il  vit  une  yole  mince  et  longue  (XXIX 
61);  devant  un  des  troi-s  comptoirs  oü,  trönaient,  fardees  et  defraichies,  trois 
inarchandes  de  boissons  et  d'amour  (XIII  19)  usw.  usw.  Wohlgemerkt:  man 
darf  nicht  behaupten,  die  Voranstellung  sei  ein  Zeichen  dafür,  daß  der 
Schriftsteller  in  dem  Augenblick,  wo  er  das  Ausgesagte  hinschreibt,  den 
Gegenstand  der  Aussage  noch  nicht  deutlich  vor  sich  sieht  (denn  wie  könnte 
er  sonst  alignees,  pareil,  enveloppe,  seule,  fardees  usw.  in  die  maskuline 
oder  feminine  Form  setzen?)  : —  wohl  aber  darf  man  vermuten,  daß  Mau- 
passant als  Künstler  (im  besonderen  als  Impressionist!)  die  Vorstel- 
lungen in  der  Reihenfolge  gibt,  in  der  sie  bei  ihm  oder  bei  seinen  Geschöpfen 
aufgetaucht  sind  (und  nicht  in  der  Reihenfolge  Aussage — Ausgesagtes,  wie 
es  die  Logik  erforderte).  Betrachtet  man  z.  B.  den  Satz:  .  .  .  autotir  de  nou^, 
accroupies  au  sommet  des  murailles,  perchees  sur  toutes  les  saillies,  une 
assemblee  de  betes  . . .  nous  tirait  la  langue  .  .  .  (IX  265),  so  hat  er  accrou- 
pies und  perch4es  auf  betes  bezogen.,  muß  also  schon  bei  der  Niederschrift 
dieser  Wörter  gewußt  haben,  daß  er  nachher  das  feminine  betes  wählen 
würde  und   nicht  etwa  das  maskuline  animanx    (vorausgesetzt,   daß   er  sich 


246  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

nicht  etwa  während  der  Formulierung  oder  der  Niederschrift  seines  Ge- 
dankens verbessert  hat  —  worüber  im  letzten  Falle  das  Manuskript  Aus- 
kunft gäbe,  was  jedoch  in  Anbetracht  der  verschiedenen  Bedeutung  von  bete 
und  animal  wenig  wahrscheinlich  ist)  —  wenn  er  dieses  hetes  gleichwohl 
ans  Ende  stellt,  so  hat  er  seine  guten  Gründe.  Aus  den  gleichen  Gründen 
erklärt  sich  die  Stellung  in  dem  Satze  aus  Thomas  Mann,  'Buddenbrooks' 
(S.  10) :  'An  der  anderen  Wand  aber  knisterte,  in  einer  halbkreisförmigen 
Nische  und  hinter  einer  kunstvoll  durchbrochenen  Tür  aus  blankem 
Schmiedeeisen,  der  Ofen':  wenn  man  das  Zimmer  betrat,  so  hörte  man  zu- 
nächst ein  Knistern;  ging  man  diesem  Knistern  nach,  so  sah  man  die  Nische 
und  dann  die  Tür;  daß  der  Satz  mit  der  adverbialen  Bestimmung  'an  der 
anderen  Wand'  beginnt,  ist  keine  genügende  Erklärung  für  die  gewählte 
Wortstellung,  denn  unter  denselben  Umständen  hätte  es  ja  auch  heißen 
können :  'An  der  anderen  Wand  aber  knisterte  der  Ofen  in  einer  . . . 
Nische  .  . .'  oder  gar:  'An  der  anderen  Wand  aber  stand  der  Ofen,  der  in 
einer  . . .  Nische  . . .  knisterte',  was  einem  anderen,  mehr  geordneten  Vor- 
stellungsablauf entspräche  und  weit  weniger  künstlerisch  wirkte.  Und  die 
Voranstellung  kann  auch  aus  anderen  Motiven  heraus  erfolgen  als  aus  dem, 
den  impressionistischen  Vorstellungsablauf  widerzuspiegeln:  in  Boileaus 
'iipitaphe  du  docteur  Arnauld':  Au  pied  de  cet  autel  de  structure  grassiere 
Git  Sans  pompe,  enferme  dans  une  vile  hi^re,  Le  plus  savant  mortel  qui 
jamais  ait  ecrit  . . .  erscheint  sans  pompe  und  enfermö  dans  une  vile  bidre 
dadurch  emphatisch  unterstrichen,  und  in  Maupassants  (V  283)  :  guettant 
la  route  par  oü  allait  revcnir  morte,  ou  mourante,  ou  peut-etre  estropiee, 
d6figuree  ä  jamais,  celle  qu'il  aimait  encore  d'une  passion  sauvage  versetzt 
sich  der  Dichter  mitfühlend  in  die  Seele  seines  Helden,  der  aufgeregt  bei 
sich  denkt:  'Vielleicht  ist  sie  tot,  oder  im  Sterben,  oder  vielleicht  verstüm- 
melt und  für  immer  entstellt'  (wie  das  peut-etre  beweist). 

Um  aber  bei  der  impressionistischen  Wortstellung  zu  bleiben:  wenn  man 
in  dieser  Weise  Partizipien  usw.  voranstellen  kann,  so  natürlich  auch  Ad- 
jektiva:  et  lä-haut,  sur  ma  tete,  s'italait,  pleine  et  large,  une  grande  lune  . . . 
(Maup.  III  194) ;  et  au  milieu  de  cette  immense  baie  jaune  . . .  s'4levait 
sombre  et  pointu  un  mont  etrange  (XVIII  10).  Nun  sind  aber  solche  vom 
Substantiv  isolierten  Adjektiva,  die  noch  vor  den  Artikel  gestellt  oder  sogar 
durch  Kommata  abgetrennt  sind,  deutlich  prädikativ.  Diese  Beispiele 
lehren  uns  also,  daß  das  prädikative  Adjektiv  keineswegs  immer  nach- 
gestellt zu  sein  braucht,  und  da  die  Adjektiva  des  zweiten  Beispiels  sich 
durch  den  Fortfall  der  Kommata  attributiver  Geltung  nähern,  ohne  doch 
ausgesprochen  attributiv  gebraucht  zu  sein,  so  sehen  wir  ferner,  daß  'prä- 
dikativ' und  'attributiv'  keine  absoluten  Gegensätze  sind,  sondern  Grenz- 
begriffe, zwischen  denen  es  Übergänge  gibt.  Das  Adjektiv  kann  sich  sogar 
noch  weiter  dem  Substantiv  nähern  (il  ouvre  un  large  bec,  Lafontaine,  Le 
corbau  et  le  renard),  es  kann  aussehen  wie  ein  richtiges  Attribut  —  und 
dennoch  prädikative  Geltung  haben:  denn  was  sollte  obiger  Satz  anders  be- 
deuten als:  'einen  Schnabel,  welcher  weit  war'?  'Weit'  ist  ja  keineswegs  eine 
Eigenschaft,  die  dem  Schnabel  dauernd  zukäme,  wie  es  sich  für  ein  richtig- 
gehendes Attribut  gehört,  sondern  nur  eine  vorübergehende,  momentane, 
prädikative,  zu  vergleichen  mit  dem  von  Paul  (128  3)  analysierten  'er  kam 
gesund  an'  oder  'der  Knabe  kam  gesund  an',  wofür  man  keineswegs  sagen 
könnte:  'der  gesunde  Knabe  kam  an';  man  bezeichnet  das  'gesund'  usw. 
nach  Paul  gewöhnlich  als  'prädikatives  Attribut'  —  man  könnte  es  ebenso- 
gut ein  'attributives  Prädikat'  nennen.  (Jedenfalls  hat  der  Verf.  unserer 
Untersuchung  es  verabsäumt,  sich  das  -Verhältnis  von  'prädikativ'  und 
'attributiv'  einmal  klarzumachen,  bevor  er  es  unternahm,  eine  Abhandlung 
über  die  'Stellung  des  attributiven  Adjektivs'  zu  schreiben.)  Wenn  nun 
Lafontaine  in  obigem  Beispiel  das  large  voranstellt,  obwohl  es  prädikative 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  247 

Geltung  hat,  so  scheint  mir,  daß  er  (schon  er!)  sich  damit  als  Impressionist 
erweist:   jemand,  der  dem  Kaben  zugesehen  hätte,  hätte  zunächst  gesehen, 
daß  er  etwas  Breites  öffnet,  etwas  Riesenhaftes,  einen  Rachen,  und  erst  dann 
hätte  er  bei  sich  gedacht:   'Aha,  das   ist  ja  sein  Schnabel!'    Oder  genauer 
gesagt:   'ein  Schnabel',  denn  auch  das  ist  ganz  impressionistisch  gedacht: 
es   wird   nur   gemalt,   was   man   sieht,  die   logische  Beziehung   des   Besitzes 
kommt  absichtlich  nicht  zum  Ausdruck.    Derartige  Ausdrücke  scheinen  mir 
gerade  in  der  Zeit  des  Impressionismus  besonders  häufig  zu  werden:  il  exa- 
tnina  d'un  oeil  sowpgonneux  l'envcloppe:   Anat.   France,  Jocaste,  6d.  Nelson 
p.   161;   eile  ouvrit  des  yetix  surpris;    [II]   ouvrait  sur  sa  femnie  des  yeux 
enormes;  il  contemplait  avec  des  yeux  stupides  ...;  il  le  regardait  avec  des 
yeux  eperdus;   il  roulait  des  yeux  inquiets;    le  soldat  roulait  des  yeux  m4- 
chants;  L'homme  roulait  des  yeux  epouvantes;  Elle  regarda  d'un  oeil  mouilM 
de  larmes  ...;  Le  fou  nous  regardait  d'un  ceil  fixe  ...;   il  contemplait  d'un 
wil  triste  . . .;  Elle  descendait  d'un  pied  presse ;  Ses  parents  levant  des  bras 
indignes;    qua  te  tend  des  hras  desesperes  usw.,  sämtlich  aus  Maupassänt, 
größtenteils  zitiert  bei  Anna  Pietrkowski,  Bemerkungen  zur   Syntajc  Mau- 
passants,  Greifsw.  Diss.   1913,   S.  28.    Hier  steht  das  prädikative  Adjektiv, 
wie  zu  erwarten  ist,  nach.    Hingegen  heißt  es  bei  demselben  Maupassant: 
il  ouvrit  de  grands  yeux  und  Le  petit  ...  ouvrait  de  grands  yeux  etonnes; 
wenn  hier  das  grand  vorangestellt  ist   (besonders  auffällig  im  zweiten  Bei- 
spiel, wo  es  mit  nachgestelltem  etonne  kombiniert  ist),  so  möchte  man  das 
freilich  zunächst  einfach  aus  der  Regel  erklären,  welche  die  Voranstellung 
des  grand  verlangt:    bei   grand   ist   die   Freiheit   der   Stellung   aufgehoben, 
ßrawd -|- Substantiv    ist   eine   syntaktische   Erstarrung,   und   diese   Er- 
starrung zeigt  sich  nicht  nur  da  wirksam,  wo  sie  eigentlich  berechtigt  ist, 
sondern  auch  da,  wo  man  der  prädikativen  Geltung  wegen  Nachstellung  er- 
warten sollte.   Aber  diese  Erklärung  wäre  oberflächlich:  denn  wie  sehr  man 
den  Geist  auch  durch  'Regeln'  in  Banden  zu  schlagen  sucht  —  er  bleibt  den- 
noch frei,  er  findet  immer  einen  Ausweg,  eine  Möglichkeit,  auszudrücken,  was 
ihm  vorschwebt:   in  unserem  Falle  die  Ersetzung  des  grand  durch  enorme, 
für  das  eine  solche  Beschränkung  nicht  besteht  und  das  Maupassant  ja  in 
einem  der  obigen  Beispiele  auch  angewandt  hat.   Wenn  er  sich  also  bei  grand 
der  Regel  fügt   (und  nicht  etwa  schreibt:    *il  ouvrait  des  yeux  grands),  so 
tut  er's,  weil  ihn  die  Regel  hier  nicht  stört,  weil  sie  seinen  künstlerischen 
Intentionen  nicht  zuwiderläuft,  sondern  mit  ihnen  übereinstimmt:   er  will 
nämlich  etwa  ausdrücken:    er   öffnete  die  Augen  dermaßen  groß,  daß  man 
zunächst  nur  den  Eindruck  von  etwas  Großem  hatte  oder  daß  dieser  Ein- 
druck jedenfalls  dermaßen  auffallend  war,  daß  die  Vorstellung  'Augen'  da- 
neben ganz  zurücktrat.    Bei  den  anderen  Qualifikationen,  die  er  den  Augen 
beilegt   [surpris,  stupide,  eperdu,  inquiet,  epouvante,  triste,  fixe,  mechant), 
ist  es  dagegen  weniger  wahrscheinlich,  daß  einem  zuerst  die  Qualität  auf- 
fällt und  dann  erst  das  Qualifizierte:  weil  eben  grand  eine  rein  körper- 
liche Eigenschaft  ist,  die  man  auf  den  ersten  Blick  sieht,  jene  abstrakten 
Eigenschaften  dagegen  schwerlich  früher  wahrgenommen  werden  als  das  rein 
körperliche  yeux.    Damit  haben  wir  zugleich  den  Grund,  warum  die  'Regel' 
besteht,  und  den  Grund,  warum  sie  innegehalten  wird:  Wenn  wir  sie  kritisch 
prüfen,  so  müssen  wir  sagen,  sie  ist  berechtigt  —  und  wäre  sie  das  nicht, 
wäre  sie  von  einem  verständnislosen  Grammatiker  künstlich  aufgezwungen 
und  stünde  mit  dem  Sprachgefühl  der  Besten  in  Widerspruch,  so  könnte  sie 
sich  nicht  halten.  Man  könnte  höchstens  noch  fragen:  Ja,  warum  dann  aber 
il  ouvrit  des  yeux  enormes  und  nicht  *il  ouvrit  d'enormes  yeuxl   —  Ant- 
wort:   Vielleicht   weil   der   Schriftsteller   in   diesem   speziellen    Falle   zuerst 
yeux  apperzipiert  hat  und  dann  erst  enormes.    Denn  er  kann  wohl  zuerst 
das  konkrete  Qualifikativum  apperzipieren  —  aber  er  m  u  ß  es  nicht.    (Viel- 
leicht auch  aus  einem  anderen  Grunde.)    Worauf  es  mir  ankommt,  ist  der 


248  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Nachweis,  daß  die  schließliche  Entscheidung  für  Vor-  oder  NsLchstellung 
erst  nach  einem  höchst  verwickelten  Prozeß  des  Schwankens  zustande  kommt 
oder  doch  zustande  kommen  kann;  ehe  Maupassant  schrieb:  ü  ouvrit  de 
grands  yeux,  können  sich  in  seinem  Gehirn  eine  Reihe  von  unbewußten 
Überlegungen  abgespielt  haben,  die,  wenn  sie  bewußt  geworden  wären, 
etwa  folgendermaßen  gelautet  hätten:  Ich  schreibe  de  grands  yeux,  denn 
die  Voraustellung  von  grand  ist  ja  das  Übliche  —  doch  nein:  ich  schreibe 
des  yeux  grands,  denn  das  grand  hat  ja  hier  einen  ganz  besonderen  Wert 
('prädikativen'  könnte  er  nur  denken,  wenn  er  Grammatiker  wäre;  wohl 
aber  könnte  die  Stellung  des  yeux  tristes  assoziativ,  analogisierend  mit- 
wirken) —  doch  nein,  ich  bleibe  bei  de  grands  yeux,  denn  grand  ist  ja  das, 
was  früher  auffällt  als  yeux.  Und  der  Prozeß  kann  noch  komplizierter  ver- 
laufen: statt,  wie  hier,  von  ai  über  bi  zu  aa  zurückzukehren  und  dort  stehen- 
zubleiben, kann  der  Schriftsteller  von  aa  über  ba  zu  a^  zurückkehren  oder 
erst  bei  ae  oder  b?  stehenbleiben:  wenn  es  überhaupt  statthaft  ist,  das  un- 
übersehbar reiche  Getriebe  in  einem  menschlichen  Gehirn,  'wo  Ein  Schlag 
tausend  Verbindungen  schlägt',  in  der  Form  eines  mechanistischen  Bildes 
zu  sehen,  so  möchte  ich  die  psychischen  Prozesse,  die  zur  Entscheidung  für 
Vor-  oder  Nachstellung  führen,  mit  dem  Kreisen  einer  Roulette  vergleichen, 
die  sich  blitzschnell  über  einer  Folge  von  Zahlen  dreht  und  dabei  immer 
von  einer  geraden  zu  einer  ungeraden  schwirrt,  um  schließlich  ganz  all- 
mählich zur  Ruhe  zu  kommen  und  über  irgendeiner  geraden  oder  einer  un- 
geraden stehenzubleiben.  Da  ist  es  denn  freilich  kein  Wunder,  wenn  die 
Syntaktiker  bisher  den  Stein  der  Weisen,  die  eine  Stellungsregel,  die  für 
alle  Fälle  paßt,  noch  nicht  gefunden  haben,  und  wenn  auch  der  Verf.  nicht 
zur  Klarheit  gelangt  ist.  Solange  man  ein  stilistisches  Problem  syntaktisch 
erfassen  will,  ist  man  auf  dem  Holzwege.  Wo  Freiheit  besteht,  kann  aus 
den  verschiedensten  Motiven  heraus  Voraustellung  erfolgt  sein  und  aus 
ebenso  vielen  Nachstellung;  wenn  ich  zwei  vorangestellte  Adjektive  aus 
verschiedenen  Schriftstellern  (oder  sogar  aus  demselben  Schriftsteller,  aus 
demselben  Text)  wegen  ihrer  Voranstellung  ohne  weiteres  miteinander  ver- 
gleiche, so  tue  ich  etwa  dasselbe  Avie  jemand,  der  den  'Faust'  mit  einer  be- 
liebigen Anekdote  aus  den  'Fliegenden  Blättern'  vergleichen  wollte,  unter 
dem  Gesichtspunkt,  daß  beide  in  Versen  abgefaßt  sind  und  nicht  in  Prosa. 
Es  gilt  vielmehr,  zunächst  die  mannigfachen  Motive  zu  rekonstruieren,  die 
hier  und  da  die  Wahl  des  Verses  veranlaßt  haben,  und  das  ist  nur  möglich 
unter  sorgsamster  Prüfung  der  geistigen  Zusammenhänge  des  einen  wie  des 
anderen  Werkes. 

Nehme  ich  z.  B.  aus  demselben  Text,  dem  wir  ü  ouvre  un  large  bec  ent- 
nommen haben,  das  unmittelbar  vorangehende  pour  montrcr  sa  'belle  voix, 
so  scheinen  diese  Beispiele  zunächst  durchaus  komparabel:  denn  wenn  das 
erste  bedeutet:  'er  öffnet  einen  Schnabel,  der  weit  war',  so  heißt  das  zweite: 
um  seine  Stimme  zu  zeigen,,  die  schön  war  (oder  wäre)'  —  hier  wie  dort 
hat  das  Adjektiv  prädikativen  Wert,  und  hier  wie  dort  ist  es  (wider 
Erwarten)  vorangestellt,  und  doch  sind  sie  nicht  komparabel.  Denn,  wie 
schon  Voßler  in  seiner  glänzenden  Analyse  dieser  Fabel  gezeigt  hat  ('Ein 
Beispiel  ästhetischer  Stilanalyse'  in  'Sprache  als  Schöpfung  und  Entwick- 
lung. Eine  theoretische  Untersuchung  mit  praktischen  Beispielen',  Heidel- 
berg 1905,  S.  83  ff.),  ist  die  Voranstellung,  die  das  eine  Mal  impressionistiscü 
war,  diesmal  durch  den  A  f  f  ek  t  veranlaßt.  'Das  richtige  innere  Be- 
ziehungsverhältnis wäre  etwa:  pour  montrer  combien  il  avait  la  voix  helle. 
Der  Rabe  in  seiner  freudigen  Aufregung  hat  aber  weder  Zeit  noch  Verstand 
genug,  sich  über  diese  Sachlage  klar  zu  werden,  weshalb  der  Dichter  die 
Absicht  des  Tieres  in  affektvoller  Synthese:  so  belle  voix  darstellt.'  Wieder 
ist  die  Tatsache,  daß  die  Voranstellung  von  beau  geradezu  Regel  ist,  keine 
genügende  Motivierung  —  aber  man  denke  daran,  daß  man  im  Affekt  nicht 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  249 

sagen  würde:  Ma  voix  est  belle,  sondern:  Belle  est  ma  voix,  und  der  Dichter 
hat  sich  hier  wie  sonst  ganz  in  die  Seele  seines  Geschöpfes  hineinversetzt. 
—  Fragt,  man  nun  aber  nach  dem  Grund,  warum  boi  affektischer  Rede  das 
Adjektiv  (oder  allgemein  das  Prädikat)  nach  vorn  gleitet,  so  ist  die  Ant- 
wort: weil  bei  affektischer  Rede  die  PrädikatsvorsteJlung  im  Bewußtsein 
dominiert.  In  unserem  Falle:  der  Rabe  (in  den  sich  Lafontaine  eingefühlt 
hat)  denkt  freudig  überrascht  über  das  Lob  des  Fuchses :  Ja,  schön  ist  sie 
(nämlich  meine  Stimme).  Aber  der  Affekt  genügt  nicht,  um  die  Voran- 
stellung zu  erklären.  Denn  die  Form'  {que)  ma  voix  est  belle!  kann  ich 
genau  so  affektvoll  aussprechen  wie:  belle  est  ma  voix!  Der  Affekt  be- 
einflußt notwendig  die  Intensität,  mit  der  ich  die  einzelnen  Worte  hervor- 
stoße (es  scheint  mir  das  psychologische  Gesetz  zu  bestehen :  je  stärker 
ich  ein  Wort  innerhalb  des  Satzes  betone,  um  so  stär- 
ker habe  ich  die  zugehörige  Vorstellung  apperzipiert, 
oder:  die  Energie,  mit  der  ich  ein  Wort  hervorbringe,  bildet  einen  Maß- 
stab [oder  mindestens  einen  Anhaltspunkt]  für  die  Energie,  mit  der  sich 
die  zugehörige  Vorstellung  meinem  Bewußtsein  dargeboten  hat,  und  diese 
Energie  ist  um  so  größer,  je  stärker  mein  Affekt  bei  dieser  Vorstellung 
beteiligt  ist)  —  aber  der  Affekt  beeinflußt  nicht  notwendig  die  Stellung 
der  Worte  im  Satz.  Er  kann,  aber  er  m  u  ß  nicht.  Affektisch  sind  beide 
Ausdrucksweisen:  die  mit  Vor-  und  die  mit  Nachstellung  des  Prädikats 
(oder  des  prädikativen  Adjektivs:  *poitr  montrer  sa  voix  belle  kann  genau 
so  affektisch  sein  wie  pour  montrer  sa  belle  voix).  Beide  sind  affektisch, 
\\eil  es  eine  vollkommen  affektlose  Rede  überhaupt  nicht  gibt  —  sowenig 
wie  eine  vollkommen  unverstandesmäßige  oder  unlogische.  Mit  Recht  sagt 
Voßler  ('Positivismus  und  Idealismus  in  der  Sprachwissenschaft.  Eine 
sprachphilosophische  Untersuchung.'  Heidelberg"  1904,  S.  37)  :  'Denn  auch 
die  Begriffe  "verstandesmäßig'  Ciebhaft')  und  'affektisch'  in  dem  Sinne, 
den  ihnen  Gröber  verleiht,  sind  relativ.  Was  verstandesmäßig  ist,  braucht 
darum  nicht  unaffektisch,  was  affektisch  ist,  nicht  unverstandesmäßig  oder 
unlogisch  zu  sein.  Eine  unaffektische  oder  affektisch  gänzlich  indifferente 
Gemütslage  gibt  es  nicht.  Stillstand  des  Affektlebens  ist  Tod;  Stillstand 
des  Intellektlebens  ist  Blödsinn.  Die  beiden  Begriffe  schließen  sich  also 
nicht  aus,  sondern  stellen  nur  Teilbegriffe  oder  Gradunterschiede  dar.  Die 
absolute  Einheit,  von  der  sie  beide  die  relativen  Teileinheiten  ausmachen, 
ist  die  Sprache  oder  das  Sprachvermögen  des  Individuums,"  und  ähnlich 
sagt  jetzt  Haas  ('Französische  Syntax',  Halle  1916,  S.  25)  :  'Daß  der  Affekt 
auf  die  Sprachgestaltung  von  Einfluß  sein  kann,  leugnet  niemand.  Aber 
Affekt  und  Verstand  schließen  sich  nicht  aus,  sondern  nur  \tenige  Affekt- 
lagen von  besonders  großer  Intensität  schließen  die  ruhige  Überlegung  aus; 
alsdann   wird    auch    die   Rede   gehemmt.' 

Ergo  ist  der  Affekt  keine  Erklärung  für  die  Voranstellung  des  belle; 
.sie  muß  einen  anderen  Grund  haben.  Um  ihn  zu  finden,  betrachten  wir  noch 
einmal  die  beiden  Gestaltungen  desselben  Gedankens :  ma  voix  est  belle  und 
belle  est  ma  voix.  Die  dominierende  Vorstellung  ist  offenbar  belle  —  denn 
die  eigene  Stimme  ist  für  den  Raben  etwas  völlig  Vertrautes  und  Selbst- 
verständliches, und  auch  der  Fuchs  hat  ja  mit  dem  Wort  ramage  schon  auf 
sie  angespielt;  ob  sie  aber  schön  ist,  ebenso  schön  wie  sein  Gefieder,  das 
hat  er  nicht  als  gewiß  hingestellt,  das  hat  er  in  die  Form  eines  Wenn- 
Satzes  gekleidet.  Also  beherrscht  den  Raben  ganz  die  Vorstellung:  'Ja. 
schön  ist  sie,  nämlich  meine  Stimme',  oder:  'Ja,  gewiß  ist  sie  schön!' 
Er  kann  nun  diese  dominierende  Vor.stellung  ganz  an  das  Ende  stellen :  Ma 
voix  est  belle!:  dann  ist  sie  das  Letzte,  was  der  Fuchs  hört,  gewissermaßen 
das  Echo-Wort,  das  in  seiner  Seele  nachklingen  soll  —  la  voix  dagegen, 
diejenige  Vorstellung,  über  die  die  beiden  sich  einig  sind,  wird  vorn  hin- 
gestellt, in  den  akzentlosen  Teil  des  Satzes,  und  ist  gewissermaßen  nur  der 

Archiv  f.  n.   Syiniclien.     IS'.i.  17 


250  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Anlauf,  den  der  Rabe  zu  dem  Sprung,  zu  dem  stark  akzentuierten  belle 
nimmt.  Außerdem  ist  diese  Art  des  Ausdrucks  sozusagen  die  pädagogische: 
man  geht  von  dem  aus,  was  der  Hörer  bereits  weiß,  und  erst  dann  bringt 
man  das  Neue,  das  man  ihm  beibringen  will.  Das  ist  die  normale  fran- 
zösische Wortstellung,  und  sie  ist  nicht  affoktloser  als  die  andere.  Sagt  er 
aber:  belle  est  ma  voix,  so  schmettert  er  zuerst  die  dominierende,  die  ihn 
ganz  beherrschende  Vorstellung  heraus:  er  kann  gewissermaßen  die  Zeit 
nicht  erwarten,  sie  loszuwerden,  dem  Fuchs  begreiflich  zu  machen,  wie 
schön  sie  ist.  Der  Akzent  rückt  nach  vorn,  und  das  Vertraute,  der  Gegen- 
stand der  Aussage,  das  Subjekt,  klappt  nach.  Man  denke  sich  einen  Ge- 
folterten, der  sieh  im  letzten  Augenblick  entschließt,  seinen  Komplizen  zu 
nennen :  er  wird  nicht  sagen :  'Er  heißt  H  u  b  e  r'  —  denn  bei  dem  'heißt' 
wird  er  noch  gequält  und  es  könnte  schon  zu  spät  sein  — ,  sondern :  'H  u  b  e  r 
heißt  er!'  Und  wenn  man  ihn  nun  losläßt,  so  sagt  er  vermutlich  nicht: 
'Ich  bin  gerettet!',  sondern  mit  einem  Seufzer  der  Erleichterung:  'Ge- 
rettet bin  ich!'  oder  auch  bloß:  'Gerettet!'  —  Denn  'Gerettet'  ist  die 
dominierende  Vorstellung,  sie  beherrscht  ihn  dermaßen,  daß  sie  die  anderen 
sonst  noch  vorhandenen  ganz  oder  fast  ganz  unterdrückt.  —  So  verhalten 
sich  nun  auch  *pour  montrer  sa  voix  belle  und  pour  montrer  sa  belle  voix. 
Stellt  man  die  dominierende  Vorstellung  ans  Ende,  so  hat  man  trotz  seines 
Affekts  noch  Zeit  gefunden,  an  den  Hörer  zu  denken,  in  dem  ja  das  letzte, 
das  wichtigste  Wort  nachhallen  soll;  stellt  man  sie  nach  vorn,  so  hat  man 
vorzugsweise  an  sich  selbst  gedacht,  an  die  eigene  Nötigung,  die  äußerst 
vehemente  Vorstellung  herausplatzen  zu  lassen  —  obwohl  man  durch  das 
noch  Folgende  ihren  Eindruck  abschwächt.  Die  eine  Art  ist  höflicher,  die 
andere  fällt  mit  der  Tür  ins  Haus;  die  eine  ist  das,  was  die  Franzosen 
social  nennen  (und  wofür  wir  bezeichnenderweise  keinen  völlig  adäquaten 
Ausdruck  besitzen),  die  andere  individualistisch;  die  eine  ist  zivilisiert,  die 
andere  barbarisch;  die  eine  ist  klassisch,  die  andere  romantisch,  die  eine 
ist  episch,  die  andere  dramatisch  —  das  sind  hier  nur  verschiedene  Aus- 
drücke für  dieselbe  Sache.  Genau  so  verhalten  sich  modernes  il  a  ete  en 
Espagne  pendant  sept  ans  gegenüber  altem  Set  anz  tuz  pleins  ad  ested  en 
Espaigne;  modernes  il  a  conquis  la  terre  jusqu'a  la  mer  gegen  Tres  qu'en 
la  mer  cunquist  la  tere  altaigne;  il  n'est  restec  ni  mur  ni  eile  neben  Mur 
ne  citet  n'i  est  remes  a  fraindre,  (cette  ville)  est  tenu  par  le  roi  Marsilie 
gegen  Li  reis  Marsilie  la  tient;  Je  ne  le  fcrai  pas  ^^egen  Non  ferai  usw.  usw. 
Überall  zeigt  sich  das  eine  Mal  der  Gesittete,  der  Diplomat,  der  den  Knall- 
effekt bis  zuletzt  aufspart  —  und  das  andere  Mal  der  Barbar,  der  damit 
herausplatzt.  Und  es  ist  ungemein  bezeichnend,  daß  diese  barbarischen 
Voranstellungen  gerade  im  klassischen  Jahrhundert,  dem  Jahrhundert  der 
Disziplinierung  und  Zivilisierung,  dem  'sozialen'  Jahrhundert,  bis  auf  ge- 
ringe Reste  der  disziplinierten,  zivilisierten,  sozialen  Nachstellung  weichen. 
Wer  diesen  langsamen  Prozeß  der  Disziplinierung,  der  Entindividualisierung 
an  der  Geschichte  der  französischen  Wortstellung  nachwiese,  hätte  einen 
wichtigen  Beitrag  zur  Geschichte  des  französischen  Geistes  geliefert.  — 
Und  wenn  man  im  Deutschen  sagt.:  'Ich  habe  meinen  Freund  gesehen' 
gegenüber  französisch:  j'ai  vu  mon  ami,  so  zeigt  sich  in  diesem  scheinbar 
belanglosen  Unterschied  in  der  Wortstellung  der  ganze  Unterschied  zwischen 
den  beiden  Völkern:  zwischen  dem  mehr  individualistischen  Deutschen  und 
dem  mehr   sozialen  Franzosen. 

Bezeichnet  man,  wie  es  häufig  geschieht,  die  eine  Wortstellung  als  mehr 
affektisch  und  die  andere  als  mehr  verstandesmäßig,  so  heißt  das,  soweit 
es  richtig  ist,  nur  konstatieren,  aber  nicht  erklären.  Wenn  im  neueren 
Französisch  die  Endstellung  des  Dominierenden  zunimmt,  so  bedeutet  das 
nicht  eine  Zunahme  an  Logik  und  Abnahme  an  Affekt,  sondern  eine  Zu- 
nahme an  Höflichkeit  und  eine  Abnahme  an  Unmittelbarkeit;    die  größere 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  251 

Logik  (los  modernen  Französisch  ist  nicht  eine  Ursache,  sondern  eine  Wir- 
kung. 

Die  so  gewonnene  Erkenntnis  wird  nun  auch  durch  die  Geschichte  der 
Stellung  des  Adjektivs  bestätigt:  im  Altfranzösischen  steht  es  überwiegend 
vorn,  im  Neufranzösischen  überwiegend  hinten.  (Wobei  aber  Vor-  wie 
Nachstellung  auch  andere  Gründe  haben  kann  als  die  Nichtrücksicht  oder 
Rücksicht  auf  den  Hörer.)  Und  wenn  man  im  neuesten  Französisch,  etwa 
seit  der  Romantik,  wieder  eine  größere  Neigung  zur  Voranstellung  kon- 
statiert, so  ist  sie  sicherlich  ein  Symptom  der  wachsenden  Neigung,  sich 
wieder  mehr  unmittelbar,  mehr  impulsiv  auszudrücken,  ohne  die  vordem 
geforderte  unbedingte   Rücksichtnahme  auf   den    Hörer. 

So  haben  wir  für  die  Voranstellung  des  Adjektivs  in  il  ouvrc  nn  larye 
hcc  und  pojir  montrer  sa  helle  voix  bei  demselben  Dichter  zwei  wesentlich 
verschiedene  Motive  aufgezeigt.  Haben  wir  die  eine  als  'impressio- 
nistisch' bezeichnet,  so  könnte  man  die  andere  wohl  als  'impulsiv' 
kennzeichnen.  Beide  Beispiele  sprechen  für  Wundt,  denn  in  beiden  er- 
scheint offenbar  eine  in  ihre  Bestandteile  zerlegte  Gesamtvorstellung:  als 
Lafontaine  large  schrieb,  muß  er  die  Vorstellung  hec  schon  besessen  haben, 
denn  sonst  hätte  er  nicht  gewußt,  ob  er  un  oder  une  zu  schreiben  hätte; 
und  als  er  helle  schrieb,  muß  er  die  Vorstellung  voix  schon  besessen  haben, 
denn  sonst  hätte  er  vermutlich  heau  geschrieben  — ■  und  ein  Satz  wie  helle 
est  ma  voix  beweist  vollends,  daß  ich  am  Anfang  schon  weiß,  was  ich  am 
Ende  sagen  will.  Steht  das  nun  aber  nicht  in  einem  unlösbaren  Wider- 
spruch zu  der  früheren  Behauptung,  il  ouvre  un  large  hee  sei  eine  im- 
pressionistische Stellung,  die  Worte  seien  hier  in  der  Reihenfolge  gesetzt, 
wie  die  betreffenden  Vorstellungen  aufgetaucht  sind,  und  so  sei  eine  solche 
Stellung  fein  Beweis  für  die  Richtigkeit  der  Panischen  Theorie  vom  Satz 
als  der  Verbindung  mehrerer  Vorstellungen?  Die  Lösung  dieses  Wider- 
spruches kann  nur  die  folgende  sein:  gewiß  haben  wir  beim  Sprechen  immer 
bereits  eine  Gesamtvorstellung  —  aber  wir  haben  auch  das  Bewußtsein  von 
der  Reihenfolge,  in  der  uns  die  Einzelvorstellungen  gekommen  sind,  und 
wir  bringen  die  zugehörigen  Worte  zuweilen  in  eben  dieser  Reihenfolge  zum 
Ausdruck.  Das  ist  die  durch  die  Analyse  des  sprachlichen 
Niederschlages  geforderte  Synthese  zwischen  den  Theorien 
Pauls  und  Wundts.  Eine  Synthese,  die  ich  nicht  aus  irgendeinem  psycholo- 
gischen System  gewinne,  sondern  aus  den  sprachlichen  Tatsachen  bzw.  aus 
ihrer  ästhetischen  Interpretation.  Denn  mir  scheint,  die  Psychologie  kann 
von  der  Sprachwissenschaft  sehr  viel  lernen,  die  Sprachwissenschaft  aber 
nur  sehr  wenig  aus  der  Psychologie.  Oder,  wie  Voßler  ('Sprache  als  Schöp- 
fung usw.',  S.  23)  es  ausdrückt:  wenn  die  Psychologie  'schon  bei  uns  bet- 
teln geht,  so  soll  sie  nicht  den  Anschein  geben,  als  schenkte  sie  uns 
etwas,   oder   als   stände  sie  im  Tauschhandel  mit  uns.' 

Übrigens  zeigt  sich  gerade  beim  Adjektiv,  daß  die  Wundtsche  Theorie 
die  Panische  keineswegs  ausschließt,  daß,  obwohl  wir  im  Augenblick  des 
Spröchens  schon  eine  Gesamtvorstellung  besitzen,  noch  während  des 
Sprechens  neue  Vorstellungen  in  uns  auftauchen  können,  die  wir  erst  nach- 
träglich mit  dem  bereits  vorhandenen  Ganzen  verbinden  :  wer  sich 
beim  Reden  oder  Schreiben  selbst  beobachtet,  der  weiß  sehr  gut,  daß  ihm 
nicht  selten  noch  nachträglich  ein  Adjektiv  einfällt;  beim  Reden  entstehen 
alsdann  Wiederholungen  wie  'Ein  Mann  trat  ein,  ein  ziemlich  großer 
Mann',  und  beim  Schreiben  würden  wir  in  diesem  Falle  einfach  in  das  be- 
reits vorhandene  'Ein  Mann  trat  ein'  die  Worte  'ziemlich  großer'  einflicken. 
Die  Romanen  mit  ihrer  Möglichkeit,  das  Adjektiv  nachzustellen,  haben  es 
in  dieser  Hinsicht  viel  leichter;  wenn  es  bei  V.  Hugo  in  den  Szenenangaben 
zu  'Hernani'  heißt:  Enlre  dona  Sol,  en  hlanc  (I,  I)  und  Entre  dona  Sol,  en 
partire   (ITI,  II),   so  ist  es  wenigstens  möglich,  daß  die  Qualifikationen   en 

17" 


2Ö2  Beurteiluagen  und  kurze  Anzeigen 

hlayic  und  en  parure  dem  Verfasser  erst  eingefallen  sind,  als  die  abgeschlos- 
sene Gesamtvorstellung  'Donna  Sol  tritt  ein'  schon  vorhanden  war.  Sicher- 
lich scheint  mir  das  vorzuliegen  in  dem  Satz  aus  Maupassant  (V  312) :  die 
sentit  qu'entre  cette  femme  et  eile  une  lutte  commengait  acharnee  —  denn 
hätte  Maupassant  das  acharnee  von  vornherein  apperzipiert  gehabt,  so  hätte 
er  vermutlich  geschrieben:  une  lutte  acharnee  commencait  oder  ...  com- 
mengait une  lutte  acharnee.  Also:  die  Nachstellung  eines  Adjektivs 
im  Romanischen  kann  ihren  Grund  darin  haben,  daß  dem  Redenden  die  be- 
treffende Vorstellung  als  nachträglich .  eingefallen  ist  (was  sich  durch  ein 
Komma  verraten  kann,  aber  nicht  verraten  muß).  Das  gleiche  kann  sich 
natürlich  auch  im  Verhältnis  von  Subjekt  und  Prädikat  ereignen:  Ich  will, 
beispielsweise  eine  Novelle  schreiben.  Nehmen  wir  an,  ich  lasse  sie  in  der 
Mittagshitzc  spielen.  Ich  will  also  etwas  von  der  Sonne  sagen.  Es  kann 
nun  sein,  daß  ich,  als  ungeübter  Dilettant,  zunächst  einmal  auf  gut  Glück 
hinschreibe  'Die  Bonne  . . .',  noch  ohne  daß  ich  wüßte,  wie  es  eigentlich 
gehen  soll,  ob  mit  '.  .  .  schien',  oder  '.  . .  strahlte',  oder  '. .  .  brannte  her- 
Glieder',  oder  '. . .  warf  ihre  Strahlen'  usw.  —  Ist  das  nicht  deutlieh  die  'Ver- 
bindung mehrerer  Vorstellungen'? 

Doch  bleiben  wir  bei  der  Voraussetzung  einer  bereits  abgeschlossenen 
Gesamtvorstellung,  in  der  auch  die  Adjektiv  vor  Stellung  schon  enthalten  ist, 
und  nehmen  wir  weiter  an,  es  liege  auch  nicht  der  Fall  vor,  daß  die  domi- 
nierende Vorstellung  sich  impulsiv  nach  vorn  drängt.  Alsdann  kommt  der 
Unterschied  in  Frage,  ob  das  Adjektiv  etwas  Neues  einführt  oder  etwas 
bereits  Bekanntes  ausdrückt.  Man  wird  nämlich  sagen :  J'ai  vu  un 
^lephant  enorme,  dann  aber  fortfahren:  Cet  enorme  elephant  buvait  de  l'eau 
—  weil  da.s  erstemal  eine  allgemeine  Gattungsvorstellung  vorliegt  (ele- 
phant), die  dann  durch  enornie  erst  näher  bestimmt,  erst  spezialisiert  wird, 
das  zweitemal  aber  eine  bereits  vollkommen  bestimmte:  es  wäre  also  bei 
indefinitem  Artikel  im  allgemeinen  Nachstellung,  beim  definiteu  Voran- 
stellung  zu  erwarten.  Im  ersten  Fall  ist  das  Adjektiv  mehr  prädikativ  (es 
ließe  sich  durch  einen  Relativsatz  umschreiben:  'welcher  enorm  war'),  im 
zweiten  mehr  attributiv  (man  könnte  einfügen :  'wie  gesagt' ;  das  Epitheton 
ornans  wird  deshalb  immer  voranstehen).  Auch  das  hat  der  Verf.  unserer 
Abhandlung  beobachtet  (S.  52):  encima  del  carro  venia  hecho  un  .asiento 
alto  (Don  Qu.).  'Bei  erneutem  Vorkommen,  wo  der  Nachdruck  vom  bereits 
eingeführten  Beiwort  gewichen  ist,  wird  daraus  ein  alto  asiento'  —  hat  es 
aber  unterlassen,  sich  nun  bei  jedem  Beispiel  zu  fragen,  ob  die  Vor-  oder 
Nachstellung  etwa  mit  der  Neuheit  oder  Bekanntheit  der  Adjektivvorstel- 
lung, mit  dem  dabeistehenden  Indefinitum  oder  Definitum  zusammenhänge. 

Etwas  Ähnliches  wie  'Neues  nach',  'Bekanntes  vor'  hat  übrigens  Haas 
behauptet  (Rom.  Forsch.  XX  2,  S.  538  ff.)  :  'Das  Adjektiv,  das  vor  das  Sub- 
stantiv gestellt  wird,  ist  das  Korrelat  für  eine  mit  der  Gegenstandsvorstel- 
lung in  einem  Apperzeptionsakt  apperzipierte  Eigenschaftsvorstellung. 
Das  Adjektiv,  das  nachgestellt  ist,  ist  das  Korrelat  für  eine  von  der  Gegen- 
standsvorstellung in  einem  besonderen  Bewußtseinsvorgang  apperzipierte 
Eigenschaftsvorstellung.'  Nur  daß  ich  nicht  in  der  Ausdrucksv^^eise  einer 
naturwissenschaftlich-mechanistisch  orientierten  Psychologie  in  absoluter 
Weise  von  'eins'  und  'zwei'  sprechen  möchte,  sondern  von  'neu'  und  'bekannt', 
was  relative  Begriffe  sind,  wie  sie  einer  geistigen  Tätigkeit  wie  dem 
Sprechen  eher  ziemen  —  daß  ich  ferner  entwickle  und  erkläre  (neu  =  prä- 
dikativ, bekannt  rr  attributiv  —  gleichfalls  relative  Begriffe  — ),  was  Haas, 
wie  er  selbst  zugibt,  nur  behauptet,  olme  es  bindend  beweisen  zu  können  — , 
und  daß  ich  hier  vor  allem  nur  einen  Fall  unter  vielen  sehe,  wo  Haas  die 
unerschöpfliche  Mannigfaltigkeit  des  geistigen  Lebens  auf  eine  einzige  arm- 
selige Formel  zwängen  möchte.  Zudem  aber  scheint  mir  seine  Hypothese  ^ 
auch  vom  Standpunkt  seiner  eigenen  Psychologie  aus  anfechtbar.    Ich  halte 


Bpiirtfilungpn   und   kurze  Anzeigen  25B 

PS  nicht  für  möglich,  eiue  Gegenstandsvorstellung  und  eine  Eigenschafts- 
Vorstellung  in  einem  Bewußtseinsakt  zu  apperzipieren.  Das  wäre  etwa  so 
(wenn  ein  Bild  aus  der  Mechanik  überhaupt  statthaft  ist),  als  ob  ich  auf 
einer  Schreibmaschine  zwei  Tasten  auf  einmal  anschlüge:  alsdann  gibt  es 
ein  Malheur,  eine  'Verhedderung',  und  in  der  Sprache  würde  sie  sich  durch 
f'in  Sichversprechen  äußern;  ich  würde  statt  cet  enorme  elepJiant  etwa 
sagen:  *cet  enophant.  Man  kann  auf  der  Schreibmaschine  noch  so  schnell 
tippen,  aber  man  kann  die  Schnelligkeit  nicht  ohne  Schaden  so  weit  treiben, 
daß  die  Buchstaben  gleichzeitig  angeschlagen  werden;  der  Vorstellungs- 
ablauf mag  noch  so  rapid  sein,  gleichzeitig  aber  können  die  Vor- 
stellungen nicht  werden  (oder  nicht  ohne  Schaden).  Wieder  zeigt  sich,  daß 
erst  die  Synthese  der  Paulschen  und  der  Wundtschen  Theorie  der  Wirklich- 
keit nahekommt:  gewiß  habe  ich  Gegenstands-  und  Eigenschaftsvorstellung 
als  eine  Einheit  (und  nicht  nur  bei  vorangestelltem,  d.  h.  mehr  attributivem 
Adjektiv,  sondern  auch  bei  nachgestelltem,  d.  h.  mehr  prädikativem  Adjektiv, 
wenn  auch  die  Verknüpftheit  im  ersteren  Fa\\  eine  engere  zu  sein  scheint 
als  im  zweiten  —  nicht  nur  Gegenstands-  und  Eigenschaftsvorstellung,  son- 
dern den  ganzen  Satzinhalt)  —  aber  diese  Einheit,  diese  Verknüpftheit  ist 
erst  das  Ergebnis  einer  Verknüpfung,  d.  h.  einer  Verbindung  von  Gegen- 
stands- und  Eigenschaftsvorstellung,  und  wenn  die  beiden  auch  verknüpft 
sind,  so  bleiben  sie  nichtsdestoweniger  gesondert  und  werden  nun  in  der 
sprachlichen  Äußerung  zwar  verbunden,  aber  doch  wiederum  gesondert 
wiedergegeben.  Es  ist  wie  ein  Ensemblespiel  auf  der  Bühne:  die  Einheitlich- 
keit, das  Zusammenspiel  war  nicht  von  vornherein  da,  sondern  mußte  erst 
geschaffen  werden,  und  wenn  es  nun  zwar  da  ist,  so  bleibt  doch  jeder  ein- 
zelne Schauspieler  ein  von  den  anderen  zu  unterscheidender  Faktor.  Der 
sprechende  Mensch  ist  der  Regisseur;  die  Vorstellungen  (bzw.  die  Worte) 
sind  seine  Schauspieler;  wie  der  Regisseur  zunächst  solche  Schauspieler  aus- 
wählt, die  für  die  darzustellende  Rolle  geeignet  sind,  so  wählt  der  Sprechende 
die  zur  Darstellung  der  ihm  vorschwebenden  Vorstellungen  geeignetsten 
Worte,  so  gut  oder  so  schlecht  er  eben  kann;  dann  aber  muß  er  zwischen 
ihnen  ein  Zusammenspiel  herstellen  (und  das  ist  beim  Sprechen  die  syn- 
taktische Tätigkeit  par  excellence) ;  wie  der  Regisseur  die  Schauspieler,  so 
gruppiert  der  Sprechende  die  Worte,  er  stellt  das  eine  hier-  und  das  andere 
dorthin;  und  wie  auf  dem  Theater  für  die  Wirkung  des  Stückes  viel  vom 
richtigen  Zusammenspiel  und  richtiger  Gruppierung  abhängt,  so  hängt  auch 
hier  von  der  zweckmäßigen  Verknüpfung  und  Gruppierung  viel  für  die 
Schönheit  und  Wirksamkeit  der  Rede  ab.  Immer  aber  werde  ich  von  der 
Anzahl  der  gewählten  Worte  auf  die  Anzahl  der  aufgetauchten  Vorstel- 
lungen schließen  können  (mögen  manche  auch  noch  so  belanglose  Rollen 
innerhalb  des  Ganzen  spielen)  —  und  wenn  ich  das  nicht  aus  den  vorhan- 
denen Worten  könnte,  so  wüßte  ich  nicht,  woraus  ich  es  sonst  schließen 
könnte,  da  wir  ja  doch  in  da,s  Innere  einer  Psyche  nicht  hineinsehen  können, 
da  wir  ja  doch  auf  den  sprachlichen  Niederschlag  als  auf  die  einzige  Er- 
kenntnisquelle angewiesen  sind. 

Wenn  Haas  nun  von  zwei  Vorstellungen  (einer  Gegenstands-  und  einer 
Eigenschaftsvorstellung)  in  einem  'Bewußtseinsakt'  spricht,  so  kann  ich 
mir  darunter  nichts  anderes  denken  als:  'zwei  Vorstellungen  in  einer" 
(denn  unter  'Bewiißtseinsakt'  kann  ich  mir  nichts  anderes  vorstellen  als 
den  eben  besprochenen  ^  Prozeß  der  Verknüpfung,  der  aber  den  einzelnen 
Vorstellungen  ihre  Sonderexi.stenz  beläßt).  Eben  daran  aber,  an  die  zwei 
Vorstellungen  in  einer,  vermag  ich  nicht  zu  glauben.  Man  könnte  ja  an 
Fälle  denken  wie  petit  ch eval  =: 'Vfevdchen' :  hier  scheint  den  zwei  Vor- 
stellungen im  Französischen  (Gegenstands-  und  Eigenschaftsvorstellung) 
im  Deutschen  nur  eine  zu  entsprechen,  und  so  könnte  man  allerdings 
meinen,  in  petit  cheval   (mit  stets  vorangestelltem  petit)   hätten  wir  in  der 


254  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Tat  zwei  Vorstellungen  in  einer  (oder  iu  einem  'Bewußtsfinsakt').  Aber  es. 
scheint  nur  so.  Denn  in  Wahrheit  hat  man  eben  beim  Aussprechen  von 
petit  cheval  genau  so  gut  nur  eine  Vorstellung  wie  beim  Aussprechen 
von  'Pferdchen',  und  diese  eine  Vorstellung  ist  nicht  erst  durch  Syn- 
these von  zweien  gewonnen,  sondern  war  von  Anfang  an  nur  eine.  Mit 
demselben  Recht  könnte  man  ja  behaupten,  auch  fenime  oder  'Frau'  ent- 
spräche einer  Gegenstands-  -|-  einer  Merkmalsvorstellung  in  einem  Be- 
wußtseinsakt, nämlich  'weiblicher  Mensch'.  Analysieren  wir  einmal,  was  in 
einem  Menschen  vorgegangen  ist,  der  auf  der  Straße  eine  Frau  sieht  und 
zu  seinem  Freunde  sagt:  Quelle  jolie  femme!  Würde  man  ihn  fragen: 
Woran  hast  du  eigentlich,  in  dem  Augenblick  des  Vorübergehens,  gemerkt, 
daß  es  eine  Frau  war:  an  den  Kleidern,  am  Hut,  an  der  Gestalt,  an  den 
Haaren,  an  dem  Fehlen  eines  Bartes,  an  der  Hautfarbe,  an  der  Gesichts- 
bildung?, so  wird  er  diese  Frage  kaum  immer  so  genau  beantworten  können 
—  jedenfalls  aber  hat  sein  Vorstellen  niemals  den  Umweg  gemacht:  'Mensch, 
weiblicher',  sondern  er  hat  sofort  den  allgeTieinen  Eindruck  femme  gehabt, 
oder:  der  Anblick  der  Betreffenden  hat  in  ihm  auf  der  Stelle  die  Vorstel- 
lung femme  ausgelöst:  er  hat  nämlich  ein  gewisses  Erinnerungsbild 
besessen,  und  in  dieses  Erinnerungsbild  hat  die  Erscheinung  eben  hinein- 
gepaßt. Ein  solches  Erinnerungsbild  muß  man  freilich  besitzen,  wenn  sofort 
die  betreffende  Vorstellung  ausgelöst  werden  soll.  Ein  Bauer  kann,  wenn  er 
über  Land  geht,  sofort  ausrufen:  Das  ist  Weisen!  —  ein  Städter,  der  das 
Erinnerungsbild  eines  Weizenfeldes  nicht  besitzt,  muß  das  Korn  erst  in  der 
Nähe  betrachten  und  untersuchen,  um  mühselig  (wenn  überhaupt)  zu  dem 
Schluß  zu  kommen:  Das  ist  Weizen,  und  bei  ihm  kann  sich  die  Vorstellung 
allerdings  in  der  Weise  bilden,  daß  er  zunächst  denkt:  Korn,  und  dann  erst: 
Weizenkorn.  —  Wie  nun  der  Anblick  einer  Frau  sofort  die  Vorstellung 
femme  auslöst,  weil  eben  ein  Erinnerungsbild  da  ist,  so  kann  der  Anblick 
eines  'Pferdchens'  sofort  die  Vorstellung  petit  cheval  auslösen,  ohne  daß  erst 
der  Umweg  beschritten  würde:  cheval,  petit  (oder  petit,  cheval).  Oder  mit 
anderen  Worten:  petit  cheval  sieht  dann  nur  in  der  Schrift  so  aus,  als  ob 
es  zwei  Worte  wären  und  zwei  Vorstellungen  entspräche,  die  in  einem 
Bewußtseinsakt  apperzipiert  worden  wären  —  in  Wahrheit  ist  es  nur  e  i  n 
Wort,  das  nur  einer  Vorstellung  entspricht,  vermittelt  durch  e  i  n  Er- 
innerungsbild ;  man  müßte  es  dann  eigentlich  auch  in  einem  Worte 
schreiben  oder  mindestens  mit  einem  Bindestrich;  denn  es  ist  ein  festes 
Kompositum,  genau  wie  'Pferdchen'  eins  ist.  Oder :  petit  ist  ein  Ver- 
kleinerungs-Präfix, wie  -chen  ein  Verkleinerungs-Suffix  ist.  Petit  cheval 
kann  aber  in  anderen  Fällen  auch  zwei  Vorstellungen  entsprechen,  wenn 
es  nämlich  auf  dem  Umweg  cheval,  petit  oder  petit  cheval  entstanden  ist; 
petit  cheval  heißt  also  1.  'Pferdchen',  2.  'kleines  Pferd'.  Im  Deutschen  verrät 
uns  die  Anwendung  von  'kleines  Pferd'  bzw.  von  'Pferdchen',  ob  der  Spre- 
chende zwei  Vorst-ellungen  gehabt  hat  oder  nur  eine.  Jemand  kann  etwa 
anfangen:  Ich  sah  ein  kleines  Pferd,  und  dann  fortfahren:  Das  Pferdchen 
tummelte  sich  auf  einer  Wiese.  Das  zweitemal  hat  er  bereits  ein  Vor- 
stellungsbild, das  er  das  erstemal  noch  nicht  hatte.  Dem  entspricht  also 
im  Französischen  j'ai  vu  un  eUphant  Enorme  und  Cet  Enorme  4Uphant  lu- 
vait  de  l'eau,  oder  das  vom  Verf.  aus  dem  Don  Qu.  zitierte  Beispiel  —  petit 
aber  würde  in  beiden  Fällen  vorangestellt,  in  der  Bedeutung  'kleines  Pferd' 
wie  als  'Pferdchen'.  Haben  wir  hier  nun  keine  Möglichkeit,  zu  erkennen, 
ob  es  einer  oder  zwei  Vorstellungen  entspricht?  —  Doch :  den  Tonfall 
und  die  Schnelligkeit  der  Artikulation.  Sehen  kann  man  es  nicht,  auf  dem 
Papier  schaut  beides  gleich  aus  —  aber  hören  kann  man  es,  und  der  Syn- 
taktiker  darf  eben  nicht  bloß  sehen,  er  muß  auch  hören.  —  Und  wie  nun 
petit  in  petit  cheval  nur  ein  Verkleinerungspräfix  ist  oder  sein  kann,  so 
kann   auch   grand   in   grand  cheval  nur    ein   Vergrößerungspräfix   sein,   je 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  255 

nachdem  es  eben  einem  fertigen  Erinnerungsbild  entspricht  oder  einer  erst 
gewonnenen  Verknüpfung;  daß  es  im  Deutschen  zufällig  ein  Verkleinerurigs- 
suffix  gibt,  nicht  aber  auch  ein  Vergrößerungssuffix,  tut  natürlich  nichts 
zur  Sache.  Und  ebenso  wie  petit  chcval  1.  'kleines  Pferd'  und  2.  Tf erdchen' 
heißt,  so  heißt  vieille  femme  1.  'alte  Frau',  2.  'Greisin',  jeune  komme  1.  'jun- 
ger Mann',  2.  'Jüngling'.  (Dagegen  heißt  vieil  komme  immer  nur  'alter 
Mann';  'Greis'  aber  vieillard.  —  Um  einen  Begriff  von  der  Mannigfaltigkeit 
der  Gründe  zu  bekommen,  aus  denen  das  Adjektiv  im  Romanischen  bald 
vor-  und  bald  nachgestellt  wird,  vergleiche  man  einmal  die  mannigfaltigen 
Gründe,  aus  denen  im  Deutschen  bald  'Greis'  und  bald  'alter  Mann'  gesagt 
wird.  In  dem  Vers  'Auf  dem  Dache  sitzt  ein  Greis,  der  sich  nicht  zu  helfen 
weiß'  trägt  es  sicherlich  zur  Erhöhung  der  Komik  bei:  'Greis'  zaubert  uns 
mit  einem  Schlage  das  Bild  eines  hilflosen  Tapergreises  vor  Augen; 
'alter  Mann'  würde  hier  viel  schwächer  wirken,  eben  weil  es  nicht  aus 
einem  Stück  ist,  sondern  zusammengesetzt.  Wegen  der  komischen  Wir- 
kung, die  'Greis'  haben  kann,  sagt  man  nun,  wenn  man  in  ehrendem  Tone 
sprechen  will,  lieber  'der  alte  Mann'.  Will  man  nun  aber  besonders  ehr- 
furchtsvoll von  jemand  reden,  etwa  vom  alten  Goethe,  so  kann  man  wieder 
nur  'der  Greis'  sagen  —  mit  wesentlich  anderer  Betonung  als  in  dem  ko- 
mischen Beispiel  — ,  und  jetzt  zaubert  uns  das  Wort  mit  einem  Schlage 
das  Bild  eines  Weisen  und  Verklärten  vor;  'alter  Mann'  würde  wieder  viel 
zu  schwach  wirken,  eben  weil  es  nicht  aus  einem  Stücke  ist.  Und  weil 
nun  'Greis'  eine  so  hohe  Bedeutung  haben  kann,  so  kann  man  wiederum 
nicht  geringschätzig  äußern:  'Ach,  was  kann  der  Greis  denn  leisten?',  son- 
dern muß  sagen:  'der  alte  Mann'  ilsw.  Also:  sowohl  'Greis'  wie  'alter 
Mann'  können  zu  einer  komischen  wie  zu  einer  erhabenen  Wirkung  benutzt 
werden,  können  mitleidig  oder  verächtlich  klingen,  und  man  nimmt  ja 
gerade  das  eine,  weil  das  andere  die  gewünschte  Wirkung  nicht  hervor- 
brächte, und  umgekehrt.  Es  kommt  eben  immer  —  man  kann  das  gar  nicht 
genug  betonen  —  auf   den   Zusammenhang  an.^^) 

Wenn  nun  grand  und  petit,  jeune  und  vieux  im  Französischen  so  gut  wie 
i  m  m  e  r  vorangestellt  werden,  so  wird  es  daran  liegen,  daß  die  Fälle,  in 
denen  sie  mit  dem  Substantiv  ein  Kompositum  bilden,  das  nur  einer  Vor- 
stellung entspricht,  bei  weitem  zahlreicher  gewesen  sind  als  jene,  in  denen 
sie  einer  besonderen  Eigenschaftsvorstellung  entsprechen:  es  muß  hier  die 
Macht  der  Analogie  gewirkt  haben,  denn  im  zweiten  Falle  wäre  ja  an  sich 
(soweit  nicht  andere  Gründe  vorliegen)  Nach  Stellung  zu  erwarten.  Und 
das  ist  durchaus  verständlich:  das  Erinnerungsbild  eines  großen  oder  klei- 
nen, eines  jungen  oder  alten  Wesens  besitzt  eben  so  gut  wie  jeder;  wes- 
wegen man  die  Voranstellung  mit  Recht  aus  der  Allgemeinheit  dieser 
Adjektiva  erklärt  hat.  Bei  ton  und  mauvais,  heau,  m4ckant,  joli  usw. 
kommt  hinzu,  daß  sie  besonders  häufig  impulsiv  vorangestellt  werden; 
es  wirken  dann  also  zwei  verschiedene  Motive  in  derselben  Richtung.  Ja, 
man  könnte  wohl  geradezu  die  'Regel  aufstellen:  je  allgemeiner  ein  Adjektiv 
ist,  d.  h.  je  größer  die  Anzahl  der  Individuen  ist,  in  deren  Wortschatz  es 
sich  befindet,  desto  größer  ist  seine  Neigung  zur  Voranstellung,  und  je  indi- 
vidueller es  ist,  je  seltener  es  gebraucht  wird,  zur  Nachstellung.  Das  ist 
aber,  wie  gleich  betont  sei,  nur  eine  Regel  unter  vielen,  die  fortwährend 
von  anderen  'Regeln'  durchkreuzt  werden  kann.  Sie  erklärt  sich  folgender- 
maßen: die  Häufigkeit  des  Gebrauchs  ist  nur  ein  Symptom  dafür,  wie  eng 
es  mit  dem  Substantiv  assoziiert  ist,  wie  ausgefahren  die  Vorstellungsgleise 

1  Daß  das  keine  Binsenwahrheit  ist,  beweist  Haas,  der,  ungestört 
durch  meine  Rezension  seiner  'Grundlagen  der  französischen  Syntax'  (1912), 
in  seiner  'Französischen  Syntax'  (1917)  abermals  schreibt:  'Man  braucht  .  .  . 
nicht  über  den   Satz  hinauszugehen'    (S.  9). 


256  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

schon  sind,  wie  fest,  es  sich  mit  dem  Substantiv  zu  einem  Kompositum  ver- 
schmolzen  hat. 

Vieles  wäre  noch  zu  sagen  —  doch  es  mag  genug  sein:  ich  nmß  ohnehin 
um  Nachsicht  bitten  wegen  der  Länge  dieser  Rezension.  Und  so  viel 
glaube  ich  gezeigt  zu  haben:  auf  welchen  Ozean  von  Problemen  der  Verfasser 
sich  begeben  hat,  ohne  es  zu  merken.  Er  hat  nur  Küsteuschiffahrt  ge- 
trieben. 

München.  Eugen  Lerch. 

R.  E.  Curtius,  Die  literarischen  Wegbereiter  des  neuen  Frank- 
reich.    Potsdam,  Grustav  Kiepenheuer,  1918.     277  S.  8  ". 

Der  akademischen  Literaturwissenschaft  wird  oft  vorgeworfen,  die 
jüngste  Vergangenheit  zu  vernachlässigen.  Auf  dem  Gebiete  der  französi- 
schen Literatur  ist  unsere  wissenschaftliche  Betrachtung  bisher  kaum  über 
den  Naturalismus  Zolas  und  den  feinen  Skeptizismus  Anatole  Frances  vor- 
gedrungen. R.  E.  Curtius  sucht  diesem  Mangel  gründlich  abzuhelfen;  sein 
Buch,  das  aus  Vorlesungen  des  Bonner  Sommersemesters  1914  hervorgegan- 
gen ist,  gilt  den  allerneuesten  Wegen  der  französischen  Literatur.  Der 
Verfasser  geht  nicht  ohne  sehr  starkes  Selbstbewußtsein  an  seine  Aufgabe. 
Er  meint,  es  seien  bisher,  bis  auf  ihn  nämlich,  nur  Bierbank-  und  Kaffee- 
hausurteile über  das  moderne  Frankreich  verbreitet  gewesen,  man  habe 
gegen  französische  Dekadenz  geeifert  oder  sich  an  französischem  Ästheten- 
tum,  an  französischer  Erotik  delektiert.  Und  er  übernimmt  es  nun,  in  fünf 
monographischen  Studien  und  zwei  Zusammenfassungen,  der  Einleitung 
und  dem  7.  Kapitel  'Zum  Bilde  Frankreichs',  'Das  neue  . .  .  das  wirkliche, 
das  ewige  Frankreich'  zu  verkünden.  Ein  trockenerer  Ausdruck  als  'verkün- 
den' ist  nicht  am  Platze;  denn  Curtius  fühlt  sich  durchaus  als  Prophet.  Und 
er  war  nun  offenbar  der  Ansicht,  daß  es  eines  Propheten  unwürdig  sei,  klar 
und  einfach  zu  sprechen,  wie  es  die  Wissenschaft  tun  soll,  und  ganz  beson- 
ders dann  soll,  wenn  es  sich  um  die  Aufklärung  dunkler  Objekte  handelt. 
Vielmehr  befleißigt  sich  Curtius,  um  es  hart,  aber  deutlich  zu  sagen,  der 
manierierten  Ausdrucksweise  eines  modernsten  literarischen  Klüngels,  die 
heute  schon  abgegriffen  ist,  nachdem  sie  wenige  Jahre  von  einigen  wenigen 
gebraucht  wurde.  Die  'Schau',  womit  wohl  Intuition  verdeutscht  werden 
soll,  obwohl  es  arg  an  Barnumsche  Zirkusschau  erinnert,  ist  ein  besonders 
beliebter  Ausdruck  dieser  Manier,  'Ausfaltung',  'geistliche  Gerichtetheit', 
'unentfliehbar'  gebe  ich  als  weitere,  sehr  karg  bemessene  Vokabelproben  des 
Jargons.  Da  nun  ein  übergroßer  Teil  des  Buches  aus  bloßen  Übersetzungen 
besteht,  so  wird  der  Leser,  der  sich  die  Verdeutschung  nicht  aus  dem  Origi- 
nal erklären  kann,  manchmal  vor  Rätseln  stehen  und  oft  ein  schiefes  Bild 
empfangen.  Aber  dieser  Formfehler  des  Buches,  so  sehr  er  auch  bis  ins 
Innerste  schädigend  wirkt,  ist  nicht  der  schlimmste.  Sehr  viel  bedenklicher 
erscheint  mir  ein  anderes  Moment.  Curtius,  der  mit  so  stolzen  Worten 
unsere  bisherige  Kenntnis  des  französischen  Wesens  verneint,  ist  sich  selber 
über  ein  Wesentliches  im  unklaren:  er  weiß  nicht,  wie  verwirrend  beim 
Franzosen  Spiel  und  Ernst,  Maske  und  Antlitz,  Heldentum  und  Pose,  Fröm- 
migkeit und  Koketterie,  Geist  und  Esprit,  Leidenschaft  und  Kühle  inein- 
anderzufließen vermögen.  Curtius  nimmt  mit  einer  Treuherzigkeit,  die  mit 
seinem  übermodernen  Stil  fast  komisch  kontrastiert,  alle  Äußerungen  seiner 
mehr  angeschwärmten  als  ruhig  aufgefaßten  Franzosen  gleich  ernst.  Wenn 
er  aus  Päguys  Kampf  gegen  die  Kantische  Philosophie  zitiert:  Le  Kantisme 
a  les  mains  pures,  mais  ü  n'a  pas  de  mains,  um  hierin  nur  das  tatsächliche 
Ringen  nach  'Wirklichkeitsatem'  zu  sehen,  und  ohne  zu  merken,  daß  die 
Pöguysche  Phrase  mindestens  zu  einem  Bruchteil  aus  der  Sucht  nach  Zu- 
spitzung entstanden,  zu  einem  Bruchteil  also  Spiel  ist,  so  hat  er  Pöguy  um 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  257 

eben  diesen  Bruchteil  zu  ernst  genommen  und  mißverstanden.  Und  solch  teil- 
weises Zuernstnehmen  und  Mißverstehen  widerfährt  Curtius  immer  wieder 
den  schöngeschmückten  Frömmigkeiten  und  Begeisterungen  seiner  Helden 
gegenüber.  Wenn  mir  aber  als  ganz  ewig  und  ganz  wahr  angepriesen  wird, 
worin  ich  den  Bruchteil  des  Vergänglichen  und  Lügnerischen  deutlich  er- 
kenne, dann  werde  ich  leicht  auch  an  den  wirklichen  Vorzügen  des  Gelobten 
irra  Und  endlich  muß  noch  etwas,  das  nach  Curtius'  Absicht  für  die  'Weg- 
bereiter' erwärmen  soll,  den  kritischen  Leser  skeptisch  stimmen:  der  Verf. 
sieht  in  der  Kunst  seiner  Autoren  das  ganz  Neue,  das  ganz  Wurzellose, 
läßt  diese  Kunst  gewissermaßen  vom  Himmel  in  die  französische  Welt 
fallen,  statt  aus  dem  alten  französischen  Boden  hervorwachsen.  Mit  ihrem 
Glauben,  ihrer  Schwärmerei,  ihrer  Lebensbejahung,  ihrem  Patriotismus  stellt 
er  die  Wegbereiter  den  Skeptikern,  den  Pessimisten,  den  Dekadenten,  den 
Internationalisten  gegenüber.  Das  ist  aber  nichts  Neues  für  Frankreich. 
Immer  hat  der  französische  Boden  die  beiden  Fruchtarten  des  Glaubens 
und  des  Unglaubens  getragen,  und  sieht  man  genauer  hin,  so  erkennt  man 
deutlich  die  Verwandtschaft  der  scheinbar  so  gegensätzlichen  Produkte.  Als 
die  Französische  Revolution  die  Religion  abschaffte,  erfand  sie  die  Göttin 
der  Vernunft,  und  im  katholischsten  Katholizismus  der  Franzosen,  mag  er 
sich  noch  so  schwärmerisch,  noch  so  vernunftfeindlich  gebärden,  ist  doch 
immer  mehr  oder  weniger  von  der  Göttin  der  Vernunft  anzutreffen.  Des- 
cartes  und  Pascal  sind  zuengst  verwandt.  Und  die  stärkste  französische 
Skepsis  ist  irdischer  Kulturarbeit  gegenüber  immer  positiv  und  leidenschaft- 
lich bejahend  gewesen,  und  der  vaterlandsloseste  französische  Internationa- 
lismus ist  immer  überzeugt  gewesen  von  Frankreichs  überwältigender  Ein- 
zigartigkeit, von  Frankreichs  geistiger  Auserwähltheit.  Curtius'  Weg- 
bereiter sind  Fortsetzer  der  tausendjährigen  französischen  Literatur,  sie 
sind  nach  Form  und  Inhalt  als  Fortführer  und  also  aiich  Neuerer  zu  erklä- 
ren, nicht  als  Meteore  himmlischer  Herkunft  mit  dunklen  Worten  anzu- 
beten. Übrigens  wäre  es  für  den  Literarhistoriker  lohnend,  dem  nachzu- 
spüren, wie  sich  in  ihren  unmittelbaren  Vorgängern  (etwa  in  der  Legende 
des  Liedes,  aber  auch,  so  seltsam  es  klingen  mag,  bei  Zola,  z.  B.  im  Reve 
alles  anbahnte,  was  die  Wegbereiter  entwickelt  haben  . . . 

Wenn  ich  somit  dem  Curtiusschen  Buche  eine  ungeeignete  manierierte 
Form,  mangelnde  Unterscheidungskraft  dem  Ernst  und  der  Pose  gegenüber 
und  das  Fehlen  der  literarhistorischen  Verknüpfung  entschieden  vorwerfen 
muß,  so  will  ich  darüber  manches  Wertvolle  der  aufrichtig  ernst  gemeinten 
Arbeit  nicht  verkennen.  In  der  Einleitung  tritt  sehr  deutlich  hervor,  wie  die 
Dreyfus-Affäre  in  mannigfacher  Hinsicht  am  Umschwung  der  Volksstim- 
mung und  der  Umbiegung  des  literarischen  Systems  mitgewirkt  hat.  We- 
niger gelungen  scheint  mir  die  Skizzierung  der  Bergsonschen  Philosophie, 
die  Curtius  an  sich  wahrscheinlich  überschätzt,  für  äie  jüngste  französische 
Literatur  aber  gewiß  nicht  zu  hoch  bewertet,  die  er  jedoch  einem  unvor- 
bereiteten Leser  keineswegs  klarlegen  und  nahebringen  dürfte.  Als  die 
eigentlichen  Wegbereiter  zeichnet  er  in  besonderen  Studien  Gide,  Rol- 
land, Claudel,  Suar§s  und  Peguy.  Gide  ist  ihm  der  Vermittler  zwischen  den 
Älteren  und  den  Modernsten,  und  hier  ist  wenigstens  der  Versuch  literarhistori- 
schen Verknüpfens  gemacht.  Einige  Analysen  der  Werke  Gides  und  Rol- 
lands  zeichnen  sich  durch  Klarheit  aus,  während  in  der  Claudel-Studie  viel 
Überschwang  und  pretiöser  Wortschwall  herrscht.  Überall  stößt  man  auf 
mehr  teils  französisch,  teils  deutsch  gegebene  Zitate  als  auf  eigentliche 
Charakteristik.  Bei  dem  besonders  als  Kritiker  gefeierten  Suarös  wird 
man  stutzig,  wenn  man  ihn  im  Text  als  den  umfassenden,  alle  Enge,  alle 
Parteien  ablehnenden,  von  Gott  und  Welt  erfüllten  Geist  gepriesen  sieht,  und 
in  einer  Anmerkung  erfährt,  daß  er  im  Kriege  doch  auch  'der  Hysterie  des 
Hasses'  erlegen  sei  ... 


258  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Im  ganzen  hat  sich  Curtius  ehrlich  um  das  Pöguysche  Ziel  bemüht: 
dccouvrir  ce  pays  de  France  sur  les  routes  de  France.  Nur  eben  vielleicht 
zu  ehrlich.  Indem  er  alles,  was  von  drüben  kam,  ganz  ernst,  in  deutscher 
Weise  ernst  nahm  und  den  französischen  Einschlag  des  Spiels  nicht  in 
Rechnung  setzte.  Sein  Buch  kann  zur  Einführung  und  Orientierung  in  die 
französische  Moderne  nur  dem  dienen,  der  genug  vom  französischen  Wesen 
weiß,  um  sich  nicht  in  die  Irre  führen  zu  lassen. 

München.  V.  K  1  e  m  p  e  r  e  r. 

Helene  Burkhardt,  Studien  zu  Paul  Hervieu  als  Romancier  und 
als  Dramatiker.  Zürich,  Art.  Institut  Orell  Füssli,  1917. 
244S.gr.  8  •>    6  Fr. 

Die  Verfasserin  dieser  Studie  besitzt  zweifellos  eine  große  schriftstelle- 
rische Gewandtheit  und  verfügt  über  eine  ausgedehnte  Kenntnis  der  neueren 
französischen  Literatur,  aber  sie  tritt  an  ihren  Stoff  mit  einer  Gebundenheit 
des  Urteils  heran,  die  sich  bis  zur  Selbstgefälligkeit  steigert  und  infolge  der 
Bestimmtheit,  mit  der  sie  stark  persönliche  Ansichten  vorträgt,  sich  mit 
Objektivität  nicht  immer  leicht  vereinigen  läßt.  Im  Gegensatz  zu  der  von 
Brunetiere  und  Hervieus  Biographen  Malherbe  vertretenen  Hochschätzung 
Hervieus  möchte  sie  seinen  literarischen  Ruhm  wesentlich  niedriger  hängen. 
Statt  Hervieu  aus  Hervieu  heraus  gerecht  zu  werden,  gefällt  sie  sich  darin, 
ihrem  unglücklichen  Opfer  in  gewandter  Dialektik  Verfehlungen  aller  Art 
und  Schwere  vorzurechnen.  Überall  weiß  sie  genau  zu  sagen,  nicht  bloß  wo 
Hervieu  irrt,  sondern  auch,  wie  er  hätte  verfahren  müssen,  um  sich  zu  lite- 
rarischer Vollkommenheit  emporzuarbeiten.  Was  sie  sagt,  ist  manchmal 
recht  geistreich,  öfters  recht  anfechtbar;  immer  aber  sind  es  Dinge,  die 
Hervieu  gerade  so  gut  hätte  finden  können,  wenn  er  sie  hätte  finden  wollen. 
Nicht  das,  was  Hervieu  gewollt  und  getan  hat,  sondern  das,  was  er  nach 
Helene  Burkhardts  Rezept  hätte  tun  müssen,  ist  für  sie  die  Hauptsache. 
Es  ist  natürlich  leicht,  bei  dieser  Art  von  Kritik  gegen  einen  Dramatiker 
wie  Hervieu,  der  manche  offensichtliche  Schwäche  hat,  alles  mögliche  ins 
Treffen  zu  führen,  und  der  stilistisch  gewandten  Verfasserin  fällt  es  nicht 
allzu  schwer,  an  dem  dankbaren  Stoff  die  Künste  ihrer  Dialektik  zu  üben. 
Aber  das  Wichtigste,  die  historische  Wertung  von  Hervieus  Werk,  kommt 
dabei  entschieden  zu  kurz.  Anfänge  dazu  sind  wohl  vorhanden,  doch  sie 
reichen  bei  weitem  nicht  hin,  um  den  Grundfehler  des  ganzen  Standpunktes 
wieder  gutzumachen  und  eine  objektive  Vorstellung  von  der  Sache  zu  geben. 
Man  wende  nicht  ein,  daß  gegenüber  einem  Dichter,  der  seine  dramatischen 
Hauptwerke  in  den  JgAren  1895 — 1912  hat  erscheinen  lassen  und  erst  1915 
gestorben  ist,  die  ästhetische  Wertung  den  Ausschlag  zu  geben  hat.  Kann 
man  es  nicht  zur  historischen  Einschätzung  bringen,  so  lasse  man  lieber 
zunächst  die  Hände  davon. 

Marburg  i.  H.  ,  K  u  r  t  G 1  a  s  e  r. 

Walther  Kücliler,  Romain  Rolland,  Henri  Barbusse,  Fritz  von 

Unruh.    Würzburg.  Verlagsdruckerei,  1919. 

In  vier  Vorträgen  behandelt  der  Würzburger  Romanist  folgende  Werke 
der  drei  Schriftsteller:  'Jean  Christophe',  'Le  Feu',  'Clart^',  'Ein  Geschlecht' 
und  'Opfergang'.  Die  Wahl  erscheint  etwas  zufällig;  'Jean  Christophe'  ist 
ja  nicht  das  letzte  Werk  von  Rolland;  als  Küchler  das  Vorwort  schrieb,  war 
ein  neues,  ganz  anders  geartetes  Werk  von  Rolland  schon  einen  Monat  bei 
Ollendorf  herausgekommen,  nämlich  'Colas  Brugnon';  auch  Unruhs  'Vor  der 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  259 

Entscheidung'  gehörte  hierher.  Trotzdem  kann  die  Auswahl  bestehen,  sie 
ist  geeint  durch  die  Beziehung  zu  Deutschland  und  zur  Gegenwart.  Zuerst 
behandelt  K.  ausführlich  und  eindringlich  'Jean  Christophe',  er  zeigt  die 
überragende  Bedeutung  dieses  Riesenbuches,  das  Unkomponierte,  manchmal 
fast  Fragmenthafte  des  Aufbaues,  das  aber  den  künstlerischen  Wert  durch- 
aus nicht  schmälert.  Er  geht  sorgfältig  den  'Quellen'  nach,  stellt  fest,  wie 
Elemente  aus  dem  Leben  Wagners,  vor  allem  aber  von  Beethoven  und  Hugo 
Wolf  benutzt  sind.  Er  hätte  erwähnen  können,  daß  der  'angesehenste 
deutsche  Komponist'  die  nicht  immer  freundlich  gesehenen  Züge  von  Richard 
Strauß  trägt.  K.  setzt  sich  auch  breit  mit  der  Frage  auseinander,  ob  Rol- 
land Deutschland  gerecht  wird  oder  nicht;  vielleicht  zu  breit,  denn  wichtiger 
bleibt  doch  immer,  wie  der  Künstler  sieht  und  schreibt,  als  das  Was.  Das 
Was  ist  uns  eben  jetzt  so  wichtig  geworden,  vielleicht  zu  wichtig  geworden 
—  durch  den  Krieg.  Diesen  Krieg  schildert  das  zweite  Werk,  'Le  Feu'  von 
Barbusse,  dieses  große  Kunstwerk  trotz  seiner,  ich  möchte  in  diesem  Aus- 
nahmefall fast  sagen,  mit  seiner  Tendenz.  So  unkünstlerisch  a  priori  jede 
Tendenz  ist,  bei  Barbusse  durchtränkt  sie  nicht  die  Schilderung,  sondern  die 
objektive,  brutale  Schilderung  zwingt  die  Tendenz  hervor.  Im  Wichtigen 
begegnen  sich  K.s  Ansichten  mit  meinen,  die  ich  in  einer  Besprechung  vom 
'Feu'  in  der  'Internationalen  Monatsschrift'  1918  niedergelegt  habe. 

Dann  Fritz  von  Unruh,  der  'Opfergang',  der  bezeichnenderweise  erst 
'Verdun'  hieß,  deutsche  Soldaten  vor  dieser  blutgetränkten  Festung.  Als 
'document  humain'  dem  'Feu'  sichtlich  unterlegen,  denn'  Barbusse  gibt  den 
Soldaten,  den  Typ  Soldat  1914/15,  während  Unruh  eine  Reihe  gut  gesehener 
Einzelpersonen  und  Einzelerlebnisse  zeigt.  Er  zeigt  einige  hervorragende 
Vertreter,  er  zeigt  das  hell  beleuchtete  Individuum,  Barbusse  die  kompakte, 
dunkle  Masse. 

Das  Trauerspiel  'Ein  Geschlecht^  widersteht  fast  der  Analyse,  es  ist  chao- 
tisch, schwer  um  Ausdruck  ringend  bis  zum  Unverständlichen.  Allerdings 
scheint  die  Äußerungsform  des  Dichters  nicht  der  einzige  Grund  davon  zu 
sein;  denn  wie  ich  aus  dem  Kriegspresseamt  erfuhr,  soll  der  Stift  des  Zen- 
sors verheerend  in  dem  Drama  gewütet  haben. 

'Clartß'  ist  wieder  ein  Durchschnittsschicksal,  wie  ein  französischer 
Spießer  den  Krieg  dumpf  und  stumpf  miterlebt  und  nach  seiner  schweren 
Verwundung  sich  plötzlich  zur  'Klarheit'  durchringt. 

Drei  Dichter  hat  uns  K.  vorgeführt,  der  Deutsche  der  schwächste,  aber 
jeder  eigenartig  und  jeder  charakteristisch,  jeder  ausblickend  nach  fernen, 
besseren  kommenden  Dingen.  In  diese  drei  Männer  führt  K.  bestens  ein 
in  mühsamer  Philologenarbeit,  die  man  gar  nicht  merkt  —  bei  den  'Mo- 
dellen' zum  'Jean  Christophe'  —  und  zugleich  im  weiten  Rahmen  der  zeit- 
genössischen Ideengeschichte. 

Noch  eines:  K.  bringt  ausführliche  Inhaltsangaben,  die  ganz  vorzüglich 
sind;  und  das  ist  ein  sehr  schweres  Ding,  man  denke  an  die  Inhaltsangaben 
der  Durchschnittsliteraturgeschichten.  K.s  Buch  ist  ein  wissenschaftliches 
Buch  in  gutem  und  —  ich  scheue  nicht  vor  dem  Wort  —  modernem  Stile, 
was  es  in  Deutschland  nicht  allzu  häufig  gibt. 

Jena.  F.  G  e  1  z  e  r. 

Paul  Lehmann,  Aufgaben  und  Anregungen  der  lateinischen  Philo- 
logie des  Mittelalters.  Vorgetragen  am  6.  Juli  1918.  (Sit- 
zungsber.  Payr.  Akad.  d.  Wiss.,  Philos.  Kl.  1918,  VIII.  Abh.) 
München  1918.    60  S. 

Philologie  umspannt  für  Lehmann  —  wie  einst  für  Boeckh  —  ein  weites 
Feld:   neben  Sprache  und  Literatur  auch  Paläographie,  Buchwesen,  Biblio- 


260  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

theksgeschichte.  Dieses  Auswachsen  zur  Geistesgeschiclite  scheint  mir  mit 
(h^r  Beschränkung  auf  die  Spraehform  des  Mittellateins  nur  für  früheste 
Jahrhunderte  und  für  nicht  alle  Länder  vereinbar.  Denn  neben  dem  Latein 
gibt  z.  B.  in  England  bereits  vor  700  die  Volkssprache  den  Ausdruck  für 
Dichtung  und  Gesetz,  bald  nachher  auch  für  Urkunde,  Geschichtschreibung, 
Predigt  und  Wissenschaft.     Doch  what's  in  a  name? 

Ein  für  die  Erforschung  der  mittelalterlichen  Seele  begeisterter  und 
durch  Traube  und  W.  Meyer  bestgeschulter  Gelehrter  zeigt  Ziele  und  Wege 
teilweise  neu,  überall  anregend  und  zuerst  systematisch,  so  daß  er  schon 
aus  Gründen  dieser  Methodik  jedes  Mediävisten  Gehör  verdient.  Dem 
Anglisten  insbesondere  aber  willkommen  erscheinen  hier  reiche  Nachweise 
ausgewählter  Literatur  zur  Geschichte  der  Geisteskultur,  namentlich  der  Er- 
haltung antiker  Literatur,  unter  Kelten  und  Anglolateinern  um  600 — 1000, 
auch,  ja  namentlich,  den  aufs  Festland  übersiedelten  Geistlichen.  Durch 
neueste  und  eigene  Forschung  verlängert,  stehen  hier  Verzeichnisse  jener 
Stifter  Frankreichs  und  Deutschlands,  deren  Handschriften  Scoten  oder 
Angelsachsen  als  Schreiber  oder  als  deren  Lehrer  in  Schriftform  oder 
Orthographie  verraten.  Irische  Orthographie  schreibt  nämlich  oft  a  statt 
0,  vertauscht  häufig  e  mit  i  und  s  mit  ss  und  führt  bisweilen  u  vor  u  oder 
e  ein.  Des  Iren  Latein  liebt  Gräzismen,  ohne  daß  man  die  Kenntnis  von 
griechischer  Sprache  etwa  deshalb  sich  groß  vorstellen  darf.  Auch  bei  den 
Angelsachsen  lieben  Dichter  samt  Rhetorikern  —  und  (möchte  ich  zufügen) 
Urkunden  —  seltenen  und  griechischen  Wortschatz.  —  Der  Prosa  der 
Angelsachsen,  besonders  Bedas,  rühmt  der  Verfasser  nach,  daß  sie  sich 
strenger  als  die  anderer  Völker  an  antike  Grammatik  hält.  Die  Urkunden 
erwähnt  er  gar  nicht;  und  doch  bieten  sie  für  die  Datierung  von  Schriftart, 
Orthographie  und  Stil  oft  allein  ein  bestimmtes  Jahr.  —  Die  Herkunft  eines 
Kodex  vermerkt  manch  alter  Handschriftenkatalog  gar  nicht  und  mancher 
neue  nur  ohne  im  Index  die  Ursprungsorte  zu  sammeln;  ich  möchte  hier 
aufmerksam  machen,  daß  der  handschriftliche  Class  catalogue  des  Manu- 
script  room  im  British  Museum  eine  alphabetische  Liste  der  Vorbesitzer 
enthält.  —  Unter  den  Aufgaben,  die  der  Verfasser  stellt,  ist  auch  die  einer 
Geschichte  des  Anglolateins.  Ich  möchte  dafür  zunächst  nur  das  Latein 
Canterburys,  Yorks  und  der  Scotenschüler  setzen,  mit  elftem  Jahrhundert 
aber  dessen  in  sich  zusammenhängende  Insularität,  da  das  Gallolatein,  be- 
sonders von  Le  Bec,  eingeführt  wird,  enden  lassen;  auszunehmen  wäre 
allein  Britanniens  Rechts-  und  Staatssprache:  nur  deren  Latein  in  dem 
halben  Jahrtausend  nach  1070  erlaubt  nämlich,  da  es  vom  Rechte  der  Kirche 
und  des  alten  Rom  wohl  äußere  Einflüsse,  doch  keine  innere  Umwälzung  er- 
fährt, wohl  eine  eigene  Entwicklungsgeschichte.  Es  hält  sich  bewußt  an  die 
Sprache  landsmännischer  Überlieferung,  was  man  beim  Stile  der  anglolatei- 
nischen  Theologen,  Philosophen,  Moralisten,  Satiriker  nach  1100  nicht 
wird  nachweisen  können.  Daß  in  der  Historiographie  der  Stil  eines  großen 
Geschichtschreibers  ein  paar  Jahre  nach  dessen  Tode  auf  Stiftsbrüder  ab- 
färbte, erhellt  bei  manchem  Fortsetzer,  z.  B.  bei  dem  des  Matheus  Paris; 
s.   Einleitungen  zu  Mon.   Germ,  liist.  27.  28. 

Deutsche  Fraktur-Fanatiker  mögen  auch  hier  nachlesen,  wie  die  so- 
genannt« gotische  Schrift  langsam,  zuerst  in  Italien,  der  Antiqua  wich,  und 
diese  trotz  des  Namens  zurückgeht  auf  das  lO./ll.  Jahrhundert.  Leicht 
lassen  sich  dem  hier  Zitierten  Kodizes  und  Urkunden  Südenglands  um 
1075  hinzufügen,  die  eine  wahre  Augenweide  an  Deutlichkeit  und  Formen- 
schönheit der  Antiqua-Muster  bilden.  —  Verfasser  schlägt  mit  Recht  vor, 
alle  Literaturnotizen  aus  großen  Chroniken  des  Mittelalters  einmal  syste- 
matisch zu  sammeln;  er  nennt  von  Insularen  und  Normannen  nur  Marian, 
Orderic  und  Robert  von  Torigni;  ich  füge  z.  B.  Malmesbury,  Diceto,  Ma- 
theus Paris,  Trivet  hinzu.     Aber  wieviel  derart  bergen  auch  Map,   Girald, 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  261 

Bacon  und  vor  allem  Johann  von  Salisbury!  Von  letzterem  bemerkt  Verf. 
S.  56  1  den  Einfluß  auf  Helinand;  und  daß  derselbe  eine  lateinische  Odyssee- 
Übersetzung  gekajint  habe,  enthüllt  er  als  einen  Irrtum  durch  Verkennung 
seines  Horaz-Zitats.  —  Zu  Joseph  von  Exeters  Troia  vermerkt  er,  der 
Pariser  Kodex  biete  kein  Autograph,  sondern  die  Abschrift  durch  einen 
Romanen,  zu  Trivet  und  Holkot,  daß  auch  noch  diese  späten  Theologen  heid- 
nische Lateiner  moralisch  verwenden.  —  Auch  solcher  Einzelheiten  wegen 
verdient  diese  geistvolle  Abhandlung  die  Beachtung  der  Anglisten. 
Berlin.  F.  Liebermann. 

Carl  Reinholdt,  Die  Wundergeschichteu  des  Cod.  Pal.  germ.   118. 
Diss.     Greifswald  1913.     128  S. 

Diese  gewissenhafte  Arbeit,  die  die  Wundergeschichten  des  Cod.  Pal. 
germ.  118  (nunmehr  in  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek)  sprachlich 
wie  inhaltlich  beleuchtet,  ist  ein  wertvoller  Beitrag  zur  Kenntnis  des  Predigt- 
m.ärleins.  Eine  Sammlung  dieses  interessanten  Erzählungsniaterials  in  Form 
eines  Corpus  cxemplorum  medii  aevi  bleibt  eine  nicht  zu  unterschätzende 
Aufgabe  künftiger  literarischer  Forschung,  die  bisher  nur  durch  wenige 
Namen,  wüe  Crane,  Greven,  Herbert,  Klapper,  Pfeiffer,  Schönbach,  Ward,  um  ■ 
nur  die  wichtigsten  zu  nennen,  vertreten  ist.  Der  Verfasser  hat  im  Anhang 
'Beiträge  zur  Quellenkunde  der  Wundergeschichten'  das  Quellenmaterial  ein- 
gehend behandelt  und  ist  auch  auf  die  Stoffvarianten  eingegangen,  z.  B.  'Ein- 
siedler und  Engel'  (Nr.  11),  'Reuner  Relationen'  (Nr.  XIII),  'Jüngling  will 
Maria  nicht  verleugnen'  (Nr.  XIX),  wobei  ihm  die  lat.  Geschichten  einer 
Greifswalder  Hs.  zustatten  gekommen  sind.  Manche  dieser  Erzählungen 
stammen  natürlich  auch  aus  den  Vitaspatrum,  der  Mehrzahl  nach  aber  aus 
Caesarms  von  Heisterbach.  Da  jedoch  Reinholdt  sich  noch  immer  auf  die 
in  ihrer  ganzen  Anlage  verfehlte  Ausgabe  der  Lihri  miraculorinn  von 
A.  Meister  berufen  mußte,  den  die  Bonner  Hs.  zur  Ansetzung  von  drei  Büchern 
dieses  Werkes  veranlaßte  und,  was  noch  bedauerlicher  ist,  zu  einer  falschen 
Anordnung  der  einzelnen  Geschichten,  so  ist  manches  Caesarius  abzusprechen, 
was  bei  einer  kritischen  Nachprüfung  lediglich  als  Zusatz  des  Kompilators 
des  Bonner  Codex  sich  erweist.  Näheres  bringt  meine  bereits  abgeschlossene 
Neuausgabe  der  Lihri  duo  exemploriim-  Caesarii  Heisterbaeensis.  Demnach 
ist  Caesarius  nicht  die  Quelle  bzw.  Variante  zu  Nr.  X,  XIV,  XIX  (nur  Dial. 
mir.),  XXIX,  XXX,  XXXIV.  Über  die  Herkunft  von  Nr.  VII  wird  nichts 
gesagt;  wir  finden  den  gleichen  Stoff  im  Viaticum  narrationum,  vgl.  ferner 
Germ.  IX  284:  Herbert,  'Cat.  of  romances,'  vol.  III,  S.  590;  Klapper,  'Er- 
zählungen des  Mittelalters,'  Breslau  1914,  S.  325.  —  Die  eigentümliche  Form 
der  Geschichte  von  den  beiden  Schülern  der  Schwarzkunst  (Nr.  XIII),  mit 
der  sich  der  Verfasser  ausführlich  beschäftigt,  ist  eine  Abart  der  alten,  von 
Schönbach  in  seinen 'Reuner  Relationen'  untersuchten  Legende,  die  in 
des  Caesarius  Dial.  mir.  I  33  verkürzt  erscheint,  aber  in  ganz  ähnlicher 
Form  von  mir  in  zwei  Hss.  des  Dial.  mir.  gelesen  wurde.  Bei  der  Wichtig- 
keit dieses  Motivs  teile  ich  diese  nach  Hs.  Leipzig,  Lniv.-Bibl.  445  (s.  XV), 
Bl.  13^a  mit: 

In  arte  nigromancie  cuius  titulus  'Mors  anime  scribitur  duo  iuveues  Stu- 
diosi sicut  didici  leccione,  non  relacione  apud  civitatem  Tholetum  stude- 
bant,  discipuli  hactenus  et  iam'  proficicntes  in  magistros.  Accidit  ut  unus 
illorum  usque  ad  mortem  infirmaretur,  et  iam  tempus  instabat  et  hora  ut 
morcretur.  Desperatus  a  medicis  et  spem  in  Deum  non  habuit,  sed  et  illam 
sine  qua  nemo  salvatur  voluntatem  amiserat  ecclesie  celestis.  Sic  moritur, 
vitam  hanc  amittens  nee  admissus  ad  illam.  Positus  in  extremis  ad  mortem 
tendit,  vitam  non  sentit  et  socius  in  eo  temptat  primum  quod  nigromancia 
promittit,  nam  statum  mortuorum  scire  volentibus  ip^a  pollicetur.    Ait  enim 


262  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

10  nigroniantice  ut  die  septima  redeat  et  se  revelet  sibi,  locum  tempusque  de- 
signat  Moritur  ille  corpore,  sed  et  titulo  artis  sue,  nisi  quod  titulus  in  eo 
completus  est  prius,  nam  antea  fuit  in  anima  quam  in  corpore  mortuus.  Venit 
dies  designatus  et  ad  locum  designatum  ut  refert  Inquisitor  alibi  socius, 
spectans  et  ipse,  cuccurrit  ille,  an  sit  ipse  socius  eius  cum  admiracione  per- 

15  quirit.  'Ego  sum'  inquid  'nee  me  alium  suspiceris'.  'Quomodo'  ait  'circa  te 
agitur'?  'Male'  inquit  'nee  aliter  quam  ai*s  niichi  promittit'.  Et  ille:  'übi 
habitas?'  'In  iuferno';  inquit  'etai  hie  videar,  infernus  michi  tamen  nusquam 
deest  cui  nunquara  et  nusquam  bene  est.  Id  de  me  senti:  ubicumque  sum, 
torqueor  et  crucior  in  hac  flanima.'    'Qua?'  inquit.    'In  qua  dives  ille  torque- 

20  batur.  Ut  clibanus  ardeo  et  ab  igne  non  deseror;  ignis  enim  et  massa  ego 
sum'.  'Quomodo'  ait  'est  illud,  cum  ego  id  non  video?'  Erat  autem  in- 
dutus  cappa  nigra  que  scripta  erat  per  totum  intus  et  foris.  Et  mortuus: 
'Vis  videre  incendium  meum  quo  ego  crucior?'  'Libenter'  inquit.  lactansque 
oram  cappe  levavit  abante:  inde  scintilla  resiliens  viventis  manum  tetigit  et 

25  voravit  atque  perforavit.  Dolet,  clamat,  ipse  ferre  non  sustinens.  Cui  socius : 
'Si  tarn  durum  tibi  est  ferre  scintillam,  quid  sentire  me  putas  qui  totus  sie 
ardeo?  Et  miserius  [est]  hoc  quod  non  levior  sit  michi  pena  nee  finis  in 
pena.'  Exclamat  ille:  'Heu  quod  nascimur,  quod  intramus  vitam  istam,  sed 
[quid]   si  transimus  ad  illam  post  vitam?'     At  ille:  'Qui  vita  beate  utuntur 

30  et  recte,  et  melius  et  beacius  vivunt,  nam  vita  data  est  hominibus,  ut  in  ea 
vite  melioris  beatitudinem  mereantur;  sed  qui  negligunt  ipsius  indultum, 
similes  mei  erunt  et  sicut  ego  semper  ardeo,  ita  et  ipsi  semper  ardebunt  nee 
cessabunt.'  Horror  invadit  iuvenem;  ut  fomacem  ferrarii  desub  cappa  videt 
illum  fumigantem  atque  flammantem  et  querit  ab  illo:  'Quid  hec  scriptura 

35  significat  in  cappa,'  nam  intus  et  foris  videbatur  scripta  'quid  cappa  ipsa 
qua  indueris  nigra  et  sordida?'  'Cappa'  inquid  'totum  me  eapiens  totam 
vitam  nieam  significat  qua  in  seculo  male  vixi  et  sordide,  quod  et  color  eius 
exponit.  Scriptura  eius  exterior  exteriores  actus  meos  et  hominibus  mani- 
festos  siguificat,  interior  vero  archana  mea  significat,  prava  utique  que  nunc 

40  luo  omnia  et  reddo  uaque  ad  novissimum  quadrantem.'  Ad  quem  socius 
cum  longo  suspirio:  'Ego'  inquit  'novi  te  intus  et  in  cute  similiter  et  te 
ampliora  comraisi.  Quid  ergo  erit  michi?'  'Eadem'  inquit  'pacieris  que  et 
ego  pacior.  Si  sustinueris  ad  hoc,  potes  ad  meliora  converti,  donec  spacium 
habes  et  copiam  promerendi.     Hie  quamdiu  viges  sensu  et  libero   arbitrio 

45  uteris,  nierendi  locus  est.  Post  exitum  anime  iam  non  est  meritum,  sed 
meritis  frui.'  'Quo  ergo  me  vertam?'  ait  alter.  'Converti  volo,  renunciare 
seculo  et  vacare  Deo,  sed  in  quo  ordine  nescio.'  Ad  hec  mortuus:  'Que  Dei 
sunt,  iam  michi  scire  non  licebit,  quia  cum  licuerit,  non  curavi.'  Cui  ille: 
'Vel  que  in  inferno  sunt  nosti?'    'Novi'  ait  'et  bene  novi  ipsaque  noticia  pena 

50  quam  maxima  est  michi.'  'Estne'  inquit  'ibi  cognicio  personarum,  distinccio 
graduura,  distinccio  professionum?'  'Est,'  ait  'sunt  ibi  ordines  sine  ordine 
cum  turbine  et  confusione  penarum  eos  involvente,  cognicione  tamen  singu- 
lorum  vel  de  merito  integro  permanente.'  'Quorum'  inquit  'ordinum  animas 
plus  vel  minus  habet  infernus?'     'NuUus'  ait  'ordo,   nulla  professio  immunis 

55  est  hinc,  sed  monachorum  quos  griseos  vocant  minus  habet.  Hos  pastorum 
suorum  cura  conservat,  nam  alii  maxime  rectorum  negliencia  pereunt.  Iam 
ad  locum  unde  veni  revertar,  manere  ultra  non  licet.'  'Unum'  ait  socius  'die 
michi:  an  iuvari  possis?'  'Non  possum.'  inquit  'perditus  sum  et  pro  me 
orare  non  licet.'    Quo  diclo  mox  evanuit  ab  oculis  eius.    Ille  vero  monachus 

60  fit  in  ordine  nostro,  manum  habens  hodie  qüoque  perforatam,  si  vivit,  vivens 
ita  de  cetero  ut  mortem  evaderet  anime  et  evadendi  aliis  exempla  preberet. 
Nr.  XIV  ist  wie  Anhang  Nr.  1,  S.  208  ff.  in  der  Meisterschen  Ausgabe 
der  Libri  mir.  des  Caes.  eine  Verstümmelung  der  bekannten  Visio  s.  Pauli 
(hg.  von  H.  Brandes,  Halle  1885).  Reinholdt  hat  S.  111,  Anm.  mit  Recht 
auf  die  Lücke  in  Meisters  Text  hingewiesen,  wo  es  heißt:   ab  eo  (dracone) 


Beurteilungea  und  kurze  Anzeigen  263 

procedunt  omnes  serpentes  et  omnia  genera  vermium  |  et  mali  ministratores 
=  dt.:  unde  von  sj'me  stänke  kommen  alle  vor  giftige  slangen  unde  worme. 
In  synen  munt  werden  geworffin  alle  fogede,  czolnere,  czysenseczer 
rechtsprechir  unde  kreter.  Dies  entspricht  bei  Brandes  (Fassung  I,  S.  65,  17): 
Ab  eo  procedunt  copic  ranarum  et  omnia  genera  vermium.  In  ore  eius 
mittuntur  satrape  omnes,  qui  iniquitatem  faciunt  in  terra  cum  principibus. 
—  Zu  Nr.  XXIII  ist  keine  Parallele  angegeben;  vgl.  Ward,  Cat.  of  romances, 
vol.  II,  S.  668.  Die  Geschichte  findet  sich  auch  in  der  Hs.  Leipzig,  üniv.- 
Bibl.  445,  El.  264va  (De  heretico  et  monacho).  —  Nr.  XXVIII  mit  der  Be- 
kehrung des  Wucherers  kann  nicht  auf  Caes.  dial.  mir.  II  32  zurückgehen, 
sondern  auf  eine  Erzählung  verwandten  Inhalts  in  derselben  Leipziger  Hs., 
deren  Schluß  übrigens  dasselbe  unbußfertige  Verhalten  des  Wucherers  auf- 
Aveist  wie  in  der  Predigt  des  Bruders  Berthold  (Germ.  III,  S.  407  ff.).  Auch 
diese  Fassung  sei  hier  abgedruckt: 

Beatus  Petrus,  primum  monachus  nostri  ordinis,  post  abbas,  postremum 
episcopus  Tharentinus  fuit,  pluris  tarnen  habens  monachatum  quam  episco- 
,  patum,  cucullam  quam  infulam.  Monachus  sibi,  plebi  episcopus  prefuit, 
perfectus  in  utroque,  duo  hec  officia  competenter  implevit.  Hie  sanctus  dum 
mira  faceret,  vera  predicaret,  magna  promitteret,  venit  vir  ad  eum  qui  non  6 
posuit  Deum  adiutorem  suum,  sed  speravit  in  multitudine  diviciarum  suarum 
et  prevaluit  in  vanitate  sua.  'Heu  tu,'  inquit,  'vir  bone,  bona  multa  sunt 
michi,  que  tamen  non  bene  acquisivi,  lucris  et  usuris  congesta  sunt.  Scire 
velim  quid  velit  Dens  super  hiis  l'ieri.'  Ad  quem  sanctus:  'Si  queris'  ai*- 
'consilium,  bene  consulo:  Frumentum  habes  ex  fenore?'  'Eciam'  inquit  'et  lO 
multum'.  Item  episcopus:  'Voca  viduam  pauperem  et  da  illi  modios  duos, 
datos  ab  ea  redime  et  in  scrinio  seorsum  pone.'  Letus  ille  quasi  pro  re- 
demptore  anime  sue  abiit  et  fecit  sie,  iussus  ab  eo  scrinium  claudere  et 
sequenti  raaue  contemplari.  Et  factum  est  ita.  Aperuit  et  ecce  reptilia  quorum 
non  erat  numerus,  serpentes  et  rane  quas  bufones  vocant,  sed  et  onme  15 
genus  horridum  visu,  pavendum  auditu;  versa  in  hec  fuit  elemosina  illa.  Tot 
erant  bestie  quot  grana  frumenti,  que  omnia  versa  in  sibilos  capita  proten- 
debant  et  inclusorem  suum  devorare  gestiebant.  Exanimis  ille  claudit  denuo, 
currit  et  irruit  ad  episcopum,  refert  factum,  querit  consilium.  Et  sanctus: 
'En'  inquit  'ostendit  tibi  Deus  quid  lucra  tua  mereantur  et  in  qualem  ma-  20 
teriam  post  hanc  vitam  convertantur.  Si  vis  modo  acquiescere  michi,  con- 
silium capies  et  in  brevi  etemos  illos  vermes  et  morsus  eorum  infinitos  ipse 
non  finiendos  evades.'  '0  quam  libenter'  exclamat  ille,  non  facturus  tamen 
quod  cousuleret  episcopus  'Vade'  inquit  'et  in  medio  illorum  te  proice,  securus 
et  certus  quod  in  crastinum  illesus  exibis  et  vulnus  aut  macula  non  erit  in  25 
te.'  Eeclamat  miser  in  fide  deficiens,  iussa  non  faciens:  '0  episcope,  si  vi- 
disses  horrorem,  si  audisses  sibilos  eorum  et  stridorem,  linguarum  atten- 
disses  extensionem,  caudarum  comminacionem,  non  me  velles  eorum  cohabi- 
tatorem.  lube  aliud  quod  vis;  in  hoc  non  acquiesco  tibi.'  Cui  episcopus: 
'Si  una  nocte  cum  hiis  esse  ita  durum,  quos  tamen  crastino  sanus  evaderes,  30 
quid  facies  in  extremum  mansurus  cum  eis  et  rodendus  ab  eis?'  —  Sic  vani 
filii  hominum  et  sibi  de  vanitate  mencientes  et  se  in  idipsum  decipientes, 
dum  presencia  quam  futura  pluris  estiniant,  appetuut  suavia,  dura  refugiunt, 
volunt  hie  divites  fieri  et  incidere  in  temptacionem  et  laqueum  dyaboli  de 
quo  non  facilis  copia  sit  denuo  exeundi.  Ita  factum  est  et  huic  qui  meritum  36 
suum  in  episcopi  virtute  cognovit,  non  tamen  ad  salutem,  quia  bonum  audire 
noluit  consulem. 

Zu  Nr.  XXX  vgl.  Klapper  a.  a.  0.  S.  325  (vgl.  Odo  de  Ceritona). 

Greifswald.  Alfons  Hilka. 


Verzeichnis 
der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Neuere  Sprachen. 

Die  neueren  Sprachen,  hg.  von  W.  K  ü  c  h  1  e  r  und  T  h.  Zeiger.  XXVI, 
7/8  Dezember— Januar  1919  [F.  Dörr,  W.  Vietor  f.  Zum  Gedächtnis.  —  K. 
Eckermann,  Die  Umformung  als  Hilfsmittel  für  Vertiefung  des  Sprachunter- 
richtes. —  L.  Spitzer,  Über  syntaktische  Methoden  auf  romanischem  Gebiet. 
—  Anna  Brunnemann,  Baudelaire  und  sein  Übersetzer  Stefan  George.  — 
Vermischtes.  —  Anzeiger].  XXVI,  9/10  Februar — März  1919  [A.  Schröer, 
Wilhelm  Vietors  sprachwissenschaftl.  Bedeutung.  —  Th.  Speidel,  Zur  Phonetik 
der  Vokale.  —  Gertrud  Jahrmann,  'Syr  Gawayne  and  the  Grene  Knyght' 
und  Stuckens  'Gawän'.  —  M.  Kuttner,  Pro  domo.  —  K.  Richter,  Wie  treibt 
man  in  der  Schule  praktische  Literaturgeschichte?  —  Vermischtes.  —  An- 
zeiger]. XXVII,  1/2  April— Mai  1919  [W.  Küchler,  Ernest  Renans  Jugend- 
werk 'L'Avenir  de  la  Science'.  —  M.  Freund,  Die  Nationalhymnen  der  Ir- 
länder.  —  Th.  Schöningh,  Zum  Kampfe  gegen  den  neusprachlichen  Unter- 
richt. —  Vermischtes.  —  Anzeiger].  XXVII,  3/4  Juni— Juli  1919  [H.  Mutsch- 
mann,  Sarah  Austin  und  die  deutsche  Literatur.  —  H.  Schmidt,  Beiträge  zur 
französischen  Syntax  (XII) .  —  Eug.  Lerch,  Die  zwei  Arten  des  französischen 
Konjunktivs.  —  Vermischtes.  —  Anzeiger]. 

Romanisch. 

Zeitschrift  für  romanische  Philologie,  hg.  von  E.  H  ö  p  f  f  n  e  r.  XXXIX,  6. 
1919  [A.  Stimming,  Über  Haplologie  im  Französischen.  — >  E.  Höpflfner,  Die 
Berner  und  die  Oxforder  'Folie  Tristan'  (Schluß).  —  F.  Settegast,  Über 
einige  Fälle  von  Wortmischung  im  Romanischen.  —  Vermischtes:  H.  Schu- 
chardt,  Mallork.  aguinar  'wiehern',  sp.  escoUmoso,  escolimado  'störrisch', 
'kränklich'  usw.,  katal.  cuM  'hohl',  katal.  poll  'Laus',  katal.  blastomar.  —  G. 
Baist,  Zu  den  Kasseler  Glossen.  —  W.  Meyer-Lübke,  Frz.  Bas-Rhin,  Seine- 
Infgrieure.  —  M.  L.  Wagner,  Südital.  sihlda,  sa.Td..ifss/<t/dr/.  ital.  sulla,  span. 
sulla,  zulla,  napol.  rente,  renza.  —  E.  Richter,  Das  Scheinsubjekt  'es'  in  den 
romanischen  Sprachen.  —  K.  v.  Ettmayer,  Zur  Rolle  der  Musik  in  der  Metrik 
der  afrz.  und  aprov.  Lyrik.  —  Besprechungen]. 

Romanische  Forschungen,  hg.  von  K.  V  o  1 1  ni  ö  1 1  e  r,  XVIII,  1 ;  ausgege- 
ben im  Mai  1919  [C.  Decurtins,  Rätoromanische  Chrestomathie,  XII.  Band, 
hg.  von  Chr.  Caminada  und  Maria  Decurtins]. 

Archivum  Romanicum,  hg.  von  G.  Bertoni.  Vol.  II  No.  1,  Gennaio^ — 
Marzo  1918  [P.  de  Labriolle,  Pompa  diaboli.  —  J.  Vising,  La  repr6sentation 
f rangaise  des  groupes  initiaux  sl,_  sm,  sn.  —  G.  Bertoni,  Notizie  sugli  amanu- 
ensi  degli  Estensi  nel  quattrocento.  —  Varietä  e  Aneddoti:  G.  Bertoni, 
Quattro  discussioni  etimologiche.  —  Note  etimologiche  e  lessicali  provenzali 
e  franco-provenzali.  —  Tre  voci  giuridiche  in  antico  friulano.  —  Nuove 
ricerche  su  Matteo  Maria  Boiardo  e  sulle  sue  relazioni  con  i  Signori  di  Fer- 
rara.  —  Una  'putina  de  legno'  di  Lucrezia  Borgia.  —  Bibliografia.  - — 
Cronäca  bibliografica  e  critica].  —  No.  2,  Aprile — Giugno  [E.  Platz,  Re- 
cherches  sur  la  formation  du  genre  et  la  superposition  verbale  d'aprös  l'Atlas 
linguistique  de  la  France.  —  L.  Frati,  Ginnte  agli  'Inizii  di  antiche  poesie 
italiaue  religiöse  e  morali'  a  cura  di  A.  Tenneroni  (continua).  —  Varietä  e 
Aneddoti:  G.  Bertoni,  Etimologie  varie.  —  Ant.  lomb.  'frasata'  e  tergest. 
'belisis'.  —  R.  Gatti,  Appunti  di  toponomastica  iesina.  —  T.  Sorbelli,  Imi- 


Verzeichnis  der  eiagdaufenen  Druckschriften  265 

tazioni  e  traduzioni  in  latino  della  canzone  'Chiare,  fresche  e  dolci  acque' 
del  Petrarca.  —  Bibliografia.  —  Cronaca  bibliografica  e  critica].  —  No.  3, 
Luglio — öettembre  [Camilla  Conigliani,  L'amore  e  l'avventura  nei  'Lais'  di 
Maria  di  Francia.  —  A.  Jeanroy  et  A.  Längfors,  Chansons  infidites  tir§es 
du  manuscrit  frangais  846  de  la  Bibliothöque  nationale  (ä  suivrej.  —  L.  Frati, 
liunte  agli  "Inizii  di  antiche  poesie  religiöse  e  morali"  a  cura  di  A.  Tenne- 
roni  (continua).  —  G.  Bertoni,  Un  nuovo  giuoco  di  societä  alla  corte  estense 
neir  etä  del  Rinascimento.  —  Varietä  e  Aneddoti:  G.  Bertoni,  Etimologie. 
—  J.  Niquille,  Anc.  frang.  'conrei'  nourriture,  repas.  —  L.  Clädat,  Les  pro- 
noms  Italiens  ne,  vi,  ci,  ce.  —  G.  Bertoni,  Un  nuovo  poeta  italiano  delle  ori- 
gini].  —  No.  4,  Ottobre — Dicembre  [Varietä  e  Aneddoti:  Blanche  Sutorius, 
Le  doctrinal  de  Raimon  de  Castelnou  (ßeproduction  diplomatique  du  ms. 
Libri  105).  —  T.  Sorbelli,  Fantasmi  poetici  nella  canzone:  'Chiare,  fresche  e 
dolci  acque'.  —  Ambrosina  Eini,  Noterelle  di  morfologia  bormina.  —  G.  Ber- 
toni, Una  lettera  di  Guido  Postumo  Silvestri  a  Lodovico  Ariosto.  —  Nuovi 
canti  di  uccelli  in  dialetti  alto-italiani.  —  Bibliografia].  —  Vol.  III,  No.  1, 
Gennaio — Marzo  1919  [A.  Jeanroy  et  A.  Längfors,  Chansons  iuMites  tir<5es 
du  maniscrit  frangais  846  de  la  Bibliothöque  nationale  (ä  suivre).  —  C.  Fahre, 
Un  poöme  inßdit  de  Peire  Cardinal.  —  G.  Bertoni,  Nota  alto  studio  prece- 
dente.  —  G.  Bertoni,  Le  tenzoni  del  frammento  francese  di  Berna  A.  95.  — 
L.  Frati,  Giunte  agli  'Inizii.  di  antiche  poesie  religiöse  a  cura  di  A.  Tenne- 
roni'  (fine).  —  Varietä  e  Aneddoti:  M.  Mörner,  Le  'terminus  a  quo'  du 
Chevalier  au  liou.  —  G.  Bertoni,  Etimologie  italiane,  francesi  e  franco-pro- 
venzali.  —  Bibliografia]. 

V.  Wartburg,  W.,  Zur  Benennung  des  Schafs  in,  den  romanischen 
Sprachen.  Ein  Beitrag  zur  Frage  der  provinziellen  Differenzierung  des  spä- 
teren Lateins.  Mit  zwei  Ivarten.  Aus  den  'Abhandlungen  der  Preußischen 
Akademie  der  Wissenschaften',  Jahrgang  1918.  Phil. -bist.  Kl.  Nr.  10.  Berlin 
1918.  36  S.  [Gründlicher  und  lehrreicher  Aufsatz,  der  zwischen  lat.  ovis, 
aries,  vervex  und  den  vielen  romanischen  Bezeichnungen  im  ganzen  mit 
Erfolg  die  historische  Verbindung  herstellt.  Besonders  anziehend  ist  der  Ab- 
schnitt über  vervex  und  die  Bedeutungsverschiebung,  die  es  in  Nordfrank- 
reich erfahren  hat.  Was  S.  17  unten  gesagt  wird,  bedurfte  zum  mindesten 
einer  Quellenangabe.  Daß  suisannare  nur  im  Spanischen  fortlebe  (S.  7), 
kann  trotz  der  Herleitung  von  afrz.  seoner  durch  Jud  nicht  als  sicher  gelten, 
vgl.  REW.  Nr.  8392.] 

Ettmayer,  Karl  Ritter  v.,  Vademecum  für  Studierende  der  romani- 
schen Philologie.  Heidelberg,  C.  Winter,  1919.  VIII,  187  S.  4,80  M.  [Viel- 
leicht sind  noch  nie  höhere  Ansprüche  an  zum  'Mitgehn'  eingeladene  Stu- 
dierende gestellt  worden,  als  es  hier  geschieht;  ein  Titel  'Gespräche  mit 
Fachgenossen'  wäre  dem  Inhalte  entsprechender,  und  das  gilt  auch  von  der 
syntaktischen  Analyse  der  Straßburger  Eide  und  der  literarhistorischen 
»Interpretation  des  Ritmo  Cassinese.  Am  ehesten  faßlich  für  den  Studieren- 
den wild  noch  •  das  über  die  Ausgaben  der  literarhistorischen  Forschung 
Vorgetragene  sein.  Recht  eigenartig  ist  die  Sicherheit,  mit  der  Methoden-, 
Definitions-,  Einteilungs-  und  Abgrenzungsfragen  behandelt  werden,  als  ob 
da  nicht  vieles  teils  an  sich  problematisch,  teils  eine  andere  Auffassung  zu- 
lassend, teils  überhaupt  mangels  Vorarbeiten  ungeklärt  wäre,  z.  B.  wenn  die 
gesamte  Dialektkunde  in  das  Gebiet  der  Stilistik  verwiesen  und  der  Dialekt 
als  Stilgattung  bezeichnet  wird.  Auch  sonst  fehlt  es  nicht  an  neuartigen 
Aufstellungen  und  Behauptungen,  die  Bedenken  erregen  und  zum  Wider- 
spruch herausfordern,  so  das  über  den  altfranzösischen  Stil  gegenüber  dem 
neufranzösischen  Geäußerte,  so  wenn  der  'Aucassin'  als  ein  Versuch  dar- 
gestellt wird,  'dem  Siege.slauf,  den  die  Artuslegende  seit  Crestien  in  der  höfi- 
schen Literatur  durchschritten  hatte,  ein  Paroli  zu  bieten',  oder  wenn  der 
aordfranzösischen  Lyrik  von  Anfang  an  selbständige  Züge  zuerkannt  werden. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.     139.  18 


!^66  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

Aber  daneben  steht  glücklicherweise  auch  viel  mit  berechtigter  Originalität 
(ieschautes,  mancherlei  sorgsam  Durchdachtes  und  fein  Abgewogenes,  das 
sehr  anregend  wirkt  und  zum  Teil  als  wirklicher  Gewinn  gebucht  werden 
kann.  Auf  Einzelheiten  einzugehen  ist  hier  nicht  der  Ort,  doch  kann  ich 
nicht  umhin,  zu  bemerken,  daß  schon  wegen  des  folgenden  Konjunktivs  nicht 
begreiflich  ist,  wie  das  com  in  der  Eulalia  19  temporale  Bedeutung  haben 
sollte  (S.  70),  daß  die  Deutung  des  altresi  in  den  Eiden  gewiß  nicht  das 
Richtige  trifft  (S.  71)  und  daß  die  Behauptung,  wir  hätten,  'Gott  sei  Dank, 
so  inhaltsreiche,  so  geistvolle,  so  wohlgeordnete  Literaturgeschichten  . . .' 
(S,  138),  ungemein  überrascht.] 

B  a  r  w  i  c  k  ,  K.,  Die  sogenannte  Appendix  Probi.  S.-A.  aus  'Hermes" 
54.  Bd.  1919.  S.  409 — 22.  [Es  wird  der  Nachweis  unternommen,  daß  die 
Appendix  Probi,  deren  maßgebende  Hs.  (Vind.  17)  unmittelbar  auf  die  In- 
stituta  artium  folgt,  ein  Rest  aus  den  verlorenen  und  in  den  Instituta  artimn 
zitierten  Teilen  eines  grammatischen  Werkes  ist.] 

Richter,  Elise,  Fremdwortkunde.  Aus  Natur  und  Geisteswelt  Nr.  570. 
Leipzig  und  Berlin,  Teubner,  1919.  138  S.  [Ein  lehrreiches,  klar  und  an- 
ziehend geschriebenes  Buch,  das  den  Romanisten  nicht  weniger  als  den  Ger- 
manisten interessieren  muß.  In  guter  Stoffanordnung  behandelt  die  gelehrte 
Verfasserin  zuerst  die  Abwanderung  der  Wörter  mit  den  Unterabteilungen 
Teilkultur,  Allgemeine  Kultur,  Politische  Verhältnisse,  dann  die  Aufnahme 
der  Wörter  (1.  Warum  werden  die  Wörter  aufgenommen?  2.  Was  wird  auf- 
genommen? 3.  Wie  wird  aufgenommen?),  weiterhin  die  internationalen  Bil- 
dungen sowie  die  Wanderwörter  und  schließlich  den  Kampf  wider  das  Fremd- 
wort (1.  Die  Entwöhnung  vom  Fremdwort;  2.  Der  Ersatz  des  Fremdwortes). 
In  manchen  Punkten  kann  und  muß  man  widersprechen,  so  wenn  es  heißt, 
daß  'das  deutsche  Wort  nicht  gleich  zur  Hand  war'.  Der  Grund  für  letzteres 
liegt  trotz  allem  S.  52  Vorgebrachten  doch  letzten  Endes  in  der  Ausland- 
verehrung des  Deutschen,  seinem  Mangel  an  völkischem  Sinn,  der  ihm  von 
Anbeginn  eigen  ist  und  keineswegs  erst  im  18.  Jahrhundert  erwacht,  wie 
S.  47  behauptet  wird,  während  es  S.  60  wieder  richtig  heißt,  daß  die  Fran- 
zosen es  immer  als  etwas  Selbstverständliches  angesehen  haben,  ohne  deutsche 
Wörter  auszukommen.  Zu  S.  89 — 91,  wo  man  übrigens  die  sonstige  Klarheit 
der  Darstellung  bzw.  Anschauung  vermißt,  ist  zu  bemerken,  daß  Deutsch- 
land im  16.  Jahrhundert  kulturell  nicht  weniger  entwickelt  war  als  Frank- 
reich. Der  Satz  'Die  weltbürgerliche  Gesinnung,  der  Sehönheitstraum  frü- 
herer Zeiten,  wird  politisch  geforderte  Wahrheit  der  nächsten  Zukunft' 
(S.  103)  muß  mit  aller  Entschiedenheit  abgelehnt  werden,  und  wenn  es 
weiterhin  heißt,  daß  'weltbürgerliche  und  weltmännische  Vorurteilslosigkeit 
weit  entfernt  ist  von  läppischer  Auslanddienerei,  daß  da  eine  scharfe  Schei- 
dung not  tut',  so  ist  dagegen  einzuwenden,  daß  eine  solche  Scheidung  wohl 
ein  hochentwickeltes  Individuum  vornehmen  kann,  aber  nicht  ein  Volk,  am 
allerwenigsten  das  deutsche.  Ist  es  richtig,  daß  der  Kampf  wider  das  Fremd- ' 
wort  gar  keine  rein  sprachliche  Frage  ist,  sondern  eine  völkische  (S.  136)  ? 
Vielleicht  wird  man  sich  nur  auf  den  Wunsch  beschränken  müssen,  daß  dem 
.  so  wäre.  —  Gern  hätte  man  es  gesehen,  wenn  Verf.  mehr  Beispiele  von 
gut  zu  verdeutschenden  Wörtern  gegeben  hätte,  z.  B.  'konsequent'  =  'folge- 
richtig', wobei  denn  etwas  gegen  die  'Verdeutschungswörterbücher'  gesagt 
werden  konnte  —  ich  denke  z.  B.  an  das  von  Fr.  Düsel  (1915)  — ,  die  eigent- 
lich nur  Fremdwörterbücher  sind,  'da  sie  für  ein  Wort  vielfach  eine  große 
Zahl  von  Ausdrücken  bringen,  von  denen  kein  einziger  einen  Ersatz  dar- 
stellt. Auch  würde  es  sich  empfohlen  haben,  Wörter  wie  'perfide'  und  'bor- 
niert' als  Fälle  für  Unersetzbarkeit  anzuführen,  weil  sich  unser  'treulos'  und 
'beschränkt'  weder  dem  Umfang  noch  dem  Stärkegrade  nach  damit  decken. 
'Anschrift'  für  'Adresse'  wird  sich  übrigens  trotz  des  an  sich  nicht  unberech- 
tigten Einspruches  der  Verfasserin,  wie  es  scheint,  doch  durchsetzen.  —  Die 


Verzek-bnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  267 

S.  21  fT.  gebotene  Zusammenstellung  germanischer  Etyma  ist  dankenswert, 
bedarf  aber  etwelcher  Überprüfung.  Es  fehlt  z.  B.  afrz.  espoit  <  ahd.  speht 
(wie  auch  bei  Meyer-Lübke,  REW.) ,  prov.  esclau  neben  afrz.  esclou.  Alerion 
<  adala7-o  ist  doch  recht  fraglich.  Ein  fränk.  hestr  bedarf  zum  wenigsten 
eines  Sternchens.  S.  21  muß  es  anstatt  prov.  hiaunie  heißen :  prov.  elm,  afrz. 
hiaume.  S.  62  wird  frz.  Arnaud  als  Gattungsname  'Feigling*  aufgeführt, 
aber  Sachs.  Suppl.  verzeichnet  nur  arnau  aus  der  Gaunersprache.  Daß  -ittus 
germanischer  Herkunft  sein  soll  (S.  61),  beruht  wohl  nur  auf  einem  Ver- 
sehen; Ezz(elino)  gehört  nicht  in  den  dortigen  Zusammenhang.  Nehmena 
und  gehena  (S.  135 — '36)  sind  mit  Rücksicht  auf  das  kurz  vorher  Bemerkte 
nicht  verständlich.] 

L  e  r  c  h  ,  Eug.,  Die  Verwendung  des  romani.sehen  Futurums  als  Ausdruck 
eines  sittlichen  Sollens.  Gekrönte  Preisarbeit  der  Samson-Stiftung  bei  der 
Bayr.  Akademie  der  Wissenschaften.  Leipzig,  Reisland,  1919.  VIII,  427  S. 
[Nur  selten  wird  einer  sprachlichen  Erscheinung  eine  so  gründliche  Unter- 
suchung zuteil,  wie  es  hier  geschehen  ist.  Auf  eine  übersichtlich  gehaltene 
Einleitung,  die  die  vorhandene  Literatur  kritisch  beleuchtet,  folgt  ein  syste- 
matischer Teil,  dessen  Ergebnis,  daß  'sowohl  die  kategorische  wie  die  sug- 
gestive Gebrauchswei.se  des  Futurums  aus  der  rein  prophetischen  bezw.  Po- 
tentialen, auf  alle  Fälle  aber  rein  ansagenden  oder  rein  indikativischen  Ge- 
brauchsweise entspringen',  man  als  gesichert  ansehen  kann.  Es  fehlt  nicht 
an  geistvollen  und  feinsinnigen  Einzelbemerkungen,  und  groß  ist  die  Be- 
lesenheit des  Autors.  Sie  tut  sich  in  langen  Reihen  von  Belegstellen  dar, 
unter  denen  die  französischen  durchaus  im  Mittelpunkte  stehen.  Die  Häu- 
fung der  Beispiele  erklärt  sich  wohl  daraus,  daß  L.  hat  zeigen  wollen,  wie 
verhältnismäßig  gering  an  Zahl  dagegen  die  deutschen  und  englischen  Stellen 
sind,  die  er  gleichfalls  vorführt  (s.  auch  S.  424 — 26),  und  daß  das  Heische- 
futurum für  das  Französische  besonders  charakteristisch  sei;  ja,  in  dem 
'Historischen  Teil',  in  dem  es  sich  nur  um  das  Französische  handelt,  wird 
letzteres  sogar  als  Tatsache  hingestellt  ('das  Heischefuturum  ist  etwas  spe- 
zifisch Französisches').  Dieser  Nachweis  kann  nicht  ohne  weiteres  als  er- 
bracht gelten,  denn  einmal  fragt  es  sich  doch,  ob  L.  dem  Deutschen  und  Eng- 
lischen die  gleiche  Aufmerksamkeit  geschenkt  haben  kann  (im  gesprochenen 
Deutsch  begegnet  es  ieden  falls  garnicht  so  selten),  und  dann  muß  die  Erklä- 
rung aus  der  'Impulsivität'  der  Franzosen  als  einigermaßen  problematisch 
erscheinen.  Letzteres  scheint  L.  denn  auch  gefühlt  zu  haben,  denn  er 
schwächt  gleich  seine  These  dahin  ab,  daß  er  sagt:  'es  scheint  im  Fran- 
zösischen vergleichsweise  häufiger  zu  sein'.  Wenn  aber  nur  dies  das  Er- 
gebnis sein  soll,  wozu  dann  eine  so  lange  Betrachtung  wie  die  von  S.  286 
bis  S.  321?  Die  zweite  These  des  Historischen  Teils  'Das  Heischefuturum 
ist  im  Französischen  vermutlich  kein  Latinismus'  ist 'vielleicht  richtig,  in- 
dessen etwas  wohlfeil  gegenüber  der  Tatsache,  daß  es  im  Lateinischen  doch 
schon  existiert  hat.  Dagegen  kann  man  wieder  den  Ausführungen  zur  3.  und 
4.  These  zustimmen  ('Das  H.-F.  ist  populär'  und  'Die  kategorische  Form  des 
H.-F.  ist  eine  Ausdrucksweise  des  Affekts'),  nur  ist  wohl  nicht  genug  berück- 
sichtigt, daß  es,  abgesehen  vom  Temperament,  beim  Gebildeten  doch  nicht 
wonig  darauf  ankommt,  zu  wem  er  spricht  und  sprechen  muß.  also  auf  die 
äußeren  Bedingungen.  —  Was  als  historischer  Teil  bezeichnet  wird,  wäre 
V)esser  psychologischer  genannt  worden,  und  die  historische  Übersicht 
(S.  347  ff.)  durfte  um  so  mehr  dem  1.  Teil  angeschlossen  werden,  als  man  ja 
aus  den  im  letzteren  gebotenen  Beispielen  schon  einigermaßen  auf  die  chro- 
nologische Verteilung  schließen  konnte.  —  Noch  einige  Bemerkungen  im 
einzelnen:  Was  Engländer  in  seiner  Dissertation  vorträgt,  trifft  im  ganzen 
das  Richtige  (S.  25) ;  für  ursprünglich  fragendes  oz  spricht  u.  a.  das  häufige 
aus  tu  in  den  ältesten  provenzalischen  Urkunden,  vgl.  auch  Romania  XXXI, 
131.    Übrigens  wird  irrtümlich  behauptet,  daß  Meyer-Lübke,  Gr.  TT  §   151, 

18* 


268  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

welche  Stelle  überdies  in  falschem  Zusammenhang  aufgeführt  ist,  als  audi 
erklärt.  An  der  S.  85  aus  R.  de  Vaqueiras  angeführten  Stelle  liegt  sicher 
suggestives  Futurum  vor.  Das  S.  140  genannte  provenzalische  Gedicht  ist 
nicht  nur  ziemlich,  sondern  (wegen  der  vielen  Anspielungen)  sehr  un- 
klar, s.  Archiv  138,  282.  Mar  +  Futurum  kann  nicht  als  kategorisch  gelten 
(S.  88),  vielmehr  ist  die  gleich  im  folgenden  vorgenommene  Deutung  als 
konditionell  gewiß  richtig;  ein  Etymon  malo  augurio  verbietet  sich  schon 
wegen  des  prov.  mala.  Die  Erklärung  von  mar  -\-  Konj.  kann  nicht  befrie- 
digen; die  Anmerkung  zu  meinen  zwei  altfrz.  Dichtungen  II.  235 — 37  scheint 
L.  entgangen  zu  sein.  Das  im  ersten  Abschnitt  von  S.  91  Vorgetragene  ist 
sehr  unwahrscheinlich;  streiche  a>if  S.  92  das  mar  ferez.  TJol.  1709  kann 
füglich  nur  als  konditional  aufgefaßt  werden  (S.  195).  Schon  in  Mme  Bovary 
heißt  es:  quoiqu'il  lui  faudra  pourtant  suivre  Ics  autres  (zu  S.  229  unten). 
Daß  man  den  Dichtern  höfischer  Eomane  einen  gewissen  Anteil  an  der  Ent- 
wicklung milderer  Sitten  zuzuerkennen  habe  (S.  372),  ist  doch  nur  eine 
Hypothese,  ingleichen  daß  zwischen  vilain  und  Herrn  das  Gefühl  der  Sym- 
pathie geherrscht  habe  (S.  375)  ;  wie  kommt  es  denn,  daß  die  allermeisten 
Dichtungen  von  Verachtung  gegen  den  vilain  voll  sind?  Die  Authentizität 
der  Keuschheitsgürtel  (S.  373)  kann  nicht  bestritten  werden,  s.  A.  Schultz, 
Höf.  Leben  I,  595.  Erst  müßte  nachgewiesen  werden,  daß  sich  das  Pronomen 
in  der  2.  Person  am  frühesten  durchgesetzt  hat,  ehe  das  S.  397  Anm.  Gesagte 
halbwegs  auf  Richtigkeit  Anspruch  machen  kann.  Was  S.  399 — 400  steht, 
wäre  besser  fortgeblieben,  da  hier  die  Zuständigkeit  des  Autors  fraglich  er- 
scheinen muß.  Irrtum  vorbehaltlich,  sind  die  Stellen  nicht  näher  ins  Auge 
gefaßt,  an  denen  Imperativ  und  Futurum  sieh  unmittelbar  nebeneinander 
finden,  so  z.  B.  Folque  de  Candie  4919,  7271,  7810,  so  auch  in  den  Makka- 
bäern,  vgl.  Lerch  S.  125.  —  Hier  und  da  trifft  man  auf  Spuren  der  Eile: 
S.  3  Anm.  1  fehlt  die  Stellenangabe  bei  Diez  [Gr.  III,  282  Anm.].  Streiche 
im  Beispiel  aus  Racine  das  erste  vous  (S.  121).  Ponrrait  ist  gesperrt  zu 
drucken,  nicht  serait  (S.  229).  S.  232  1.  Doon  de  Maience  p.  197  statt  195 
und  schreibe  mousterrai.  Ein  Fablel  unter  dem  Titel  'la  male  dame'  steht 
nicht  in  der  Sammlung  von  Montaiglon-Raynaud  (S.  387) ;  etwas  weiter  ist 
der  Text  ganz  in  Unordnung  geraten.  Schreibe  M.-R.  III,  158  statt  74,  I,  111 
statt  6  (S.  388) ;  auch  steht  nicht  hattez-leur  im  Text.  —  Das  Anführen  von 
Stellen  aus  Voßlers  Buch,  dem  es  bekanntlich  an  Subjektivität  nicht  fehlt, 
überschreitet  in  den  letzten  Abschnitten  denn  doch  jedes  Maß.  Wenn  in 
einem  'Nachwort'  von  Toblers  und  Voßlers  Schule  geredet  wird,  so  muß  gegen 
diese  Gegenüberstellung  Einspruch  erhoben  werden.  Auch  Toblers  Unter- 
suchungen gebricht  es  nicht  an  der  psychologischen  Note,  nur  freilich,  daß 
er  sehr  vorsichtig  zu  Werke  geht  und  so  geartete  Deutungen  nur  bei  ganz 
sicheren  Unterlagen  vornimmt.] 

Pauli,  J.,  'Enfant',  'gartjon',  'fille'  dans  les  langues  romanes.  Lund, 
Lindstedt.  1919.     426  S. 

Französisch. 

Zeitschrift  für  französische  Sprache  und  Literatur,  hg.  von  D.  Behrens. 
XLV,  4  und  5  [Abhandlungen:  K.  Glaser,  Beiträge  zur  Geschichte  der  poli- 
tischen Literatur  Frankreichs  in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts. 
Dritter  Teil.  —  K.  von  Ettmayer,  Satzobjekte  und  ObjektoTde  im  Französi- 
schen. —  E.  Gamillscheg,  Beiträge  zur  französischen  Lautgeschichte.  I.  Zur 
M-ti-Frage.  —  W.  Meyer-Lübke,  Zur  «-w-Frage.  —  L.  Spitzer,  Frz.  hahiller 

prov.  avol  —  frz.  hillet  —  span.  dihujar  'zeichnen'  —  frz.  dehoissier.  — 

Referate  und  Rezensionen:  A.  Schulze,  Zwei  altfranzösische  Dichtungen,  hg. 
von  0.  Schultz-Gora  (3.  Aufl.).  —  H.  Heiß,  P.  Martino,  Le  roman  r^aliste 
soTis  le  second  empire.  —  W.  Martini,  Aug.  Dupuy,  France  et  AUemagne. 
Litteratures  comparöes.  —  W.  Martini,  P.  Soblik,  Werther  und  Ren6]. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  269 

V  o  ß  1  e  r  ,  K.,  Französische  Philologie,  in  'Wissenschaftliche  Forschungs- 
gebiete', hg.-  von  K.  Hönn.    I.     Gotha,  Perthes,  1919.     68  S.  M.  4. 

Sneyders  de  Vogel,  K.,  Syutaxe  historique  du  f rangais,  in  der 
'Neophilologischen  Bibliothek'.    Groningue,  la  Haye,  1919.    VIII,  389  S. 

Seifert,  Eva,  Zur  Entwicklung  der  Proparoxytoua  auf  'ite,  'ita,  'itu 
im  Galloromanischen.    Berliner  Diss.,  1919.    121   S. 

Fuchs,  Ph.,  Das  altfranzösische  Verbum  errer  mit  seinen  Stammes- 
verwandten und  das  Aussterben  dieses  Wortes.   Münchener  Diss.,  1919.    61  S. 

Repetitorien  zum  Studium  altfranzösischer  Literaturdenkmäler,  hg.  von 
K.  V.  Ettmayer.  Nr.  2:  E.  Winkler,  Das  Rolandslied.  Heidelberg, 
C.  Winter,  1919.  40  S.  [Praktische  und  den  Bedürfnissen  wohlangepaßte 
Zusammenstellung  des  Wichtigsten.  Die  Elision  des  i  im  Singular  des  männ- 
lichen Artikels  ist  kein  Alterskriterium  (S.  28) ;  wenn  Meyer-Lübke,  Gr.  II, 
126  sagt,  daß  li  sein  i  nur  in  der  älteren  Zeit  verliere,  so  ist  das  unrichtig, 
s.  Zs.  f.  rom.  Phil.  XXXIV,  98.  Der  Deutung  von  terre  d'Elire  durch  Ta- 
vernier  (so  Tavernier  und  Stengel  für  tcrre  de  Bire)  auf  Epirus,  sowie  von 
Imphe  auf  Urfa,  Irfa  (=:  Orfa  rz:  Edessa)  gegenüber  (S.  29)  wäre  ein  viel 
lebhafterer  Zweifel  am  Platze  gewesen.  Es  kann  sich  nicht  'fragen,  ob  über- 
haupt ein  Satzgefüge  vorliegt,  oder  bloß  nebengeordnete  Hauptsätze'  (S.  12) ; 
wir  haben  es  wirklich  mit  parataktischen  Hauptsätzen  zu  tun.] 

Schultz-Gora,  0.,  Zwei  altfranzösische  Dichtungen.  Neu  heraus- 
gegeben mit  Einleitungen,  Anmerkungen  und  Glossar.  Vierte  Auflage.  Halle, 
Niemeyer,  1919.    XIV,  226  S.    M.  4,50. 

Krämer,  Ph.,  Das  Meer  in  der  altfranzösischen  Literatur.  Gießener 
Diss.,  1919.    95  S. 

Leitzmaun,  A.,  Die  Kitzinger  Bruchstücke  der  Schlacht  von  Ali- 
schanz.    S.-A.  aus  'Zeitschrift  für  deutsche  Philologie'  Bd.  48. 

W  i  n  k  1  e  r  ,  E.,  Französische  Dichter  des  Mittelalters  IL  Marie  de 
France.  Sitzungsberichte  der  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien,  Phil.- 
hist.  KL,  188.  Bd.,  .3.  Abt.     Wien,  Holder,  1918.     130  S. 

Le  r  ch  ,  Eug.,  Die  Bedeutung  der  Modi  im  Französischen.  Leipzig,  Reis- 
land, 1919.    VIII,  111  S. 

Platz,  E.,  Les  noms  frangais  ä  double  genre.  Luxemburg,  Worr6-Mer- 
tens,  1919.  62  S.  [Der  Titel  des  nicht  unnützlichen  Büchleins  entspricht 
nicht  recht  dem  Inhalte.  Es  handelt  sich  um  eine  Zusammenstellung  nur 
einer  Anzahl  von  Substantiven,  und  dann  sind  es  nicht  nur  solche,  deren 
Geschlecht  heute  schwankt,  sondern  deren  Geschlecht  früher  schwankte. 
Latour  ist  ein  Verbalsubstantiv  zu  labourer.  Doute  ist  im  Altfranzösischen 
nicht  ausschließlich  weiblichen  Geschlechts  (vgl.  das  prov.  dopte).  Amour  m. 
ist  gewiß  auf  Personifikation  zurückzuführen.  Afrz.  gens  'etwas'  kommt 
natürlich  nicht  von  gentes,  sondern  von  genus.] 

Deutsch-französisches  Satzlexikon  für  Praxis  und  Unterricht.  Nach 
Sammlungen  von  Charles  R  r  e  f  f  e  1  ergänzt  und  umgearbeitet  von  H.  Rabe. 
Stuttgart  und  Berlin,  Deutsche  Verlagsanstalt,  1919.    661  S.    M.  26,40. 

C.  Cury,  0.  Boerner,  Histoire  de  la  litt^rature  frangaise.  Troisiöme 
Edition  revue  par  J.  V  e  r  n  a  y.  Leipzig  et  Berlin,  Teubner,  1918.  XTII, 
381  S.    Geb.  M.  6. 

B  u  s  s  e ,  B.,  Das  Drama  I.  Von  der  Antike  bis  zum  französischen  Klassi- 
zismus.' Zweite  Aufl.,  hg.  von  Niedlich,  Imelmann  und  Glaser 
(Aus  'Natur  und  Geistesweit'  Nr.  287).  Leipzig  und  Berlin,  Teubner,  1918. 
132  S.  Geb.  M.  1,90.  —  IL  Von  Voltaire  zu  Lessing.  Zweit«  Aufl.,  hg.  von 
Ludwig  und  Glaser   (Nr.  288).    115  S.  Geb.  M.  1,90. 

Weddigen,  E.,  Volkstümliche  Rede  und  Lebensweisheit  bei  Moliöre. 
Marburger  Diss.,  1918.    70  S. 

Wechßler.  E.,  Der  Neuphilologe  zu  Felde.  Marburg.  Elwert,  1918. 
22  S. 


270  Verzeichnis  der  eingelaufeneu  Druckschriften 

C  u  r  t  i  u  s  ,  E.  E.,  Die  literarischen  Wegboreiter  des  neuen  Frankreich. 
Potsdam,  Kiepenheuer.    275  S.  M.   16,50. 

Küchler,  W.,  Romain  Rolland,  Henri  Barbusse,  Fritz  von  XJnrah. 
Vier  Vorträge.    Würzburg,  Verlagsdruckerei,   1919.    86  S. 

Z  ü  n  d  -  B  u  rgu  et,  A.,  Exeicices  prauques  et  mßthodiques  de  pronou- 
ciation  frangaise.  Deuxiöme  Edition  revue  et  corrigöe  par  H.  Wen  gl  er. 
:\Iarburg,  Ehvert,  1919.  IV,  127  S.  M.  3,50.  [Die  Bezeichnung  einer  zweiten 
Auflage  ist  nicht  gerechtfertigt,  denn  was  hier  vorliegt,,  ist  etwas  anderes 
als  das  im  Jahre  1901  unter  dem  Titel  'Praktische  Übungen  zur  Aussprache 
des  Französischen  in  methodischer  Anordnung*  erschienene  Buch.  Der  Grund- 
charakter (Einübung  zahlloser  Wörter  und  Sätze)  ist  zwar  der  gleiche,  aber 
Anordnung  und  Inhalt  sind  ganz  verschieden.  Viel  besser  hätte  Z.-B.  daran 
getan,  seine  längst  vergriffene  Schrift  'Methode  pratique,  physiologique  et 
compar6e  de  prononciation  frangaise,  accompagnße  d'un  livret  d'illustrations', 
Paris  1902,  neu  auflegen  zu  lassen  (vgl.  meine  Anzeige  davon  im  Archiv, 
Bd.  111,  S.  465  f.),  denn  diese  ist  wirklich  theoretisch  wie  praktisch  sehr 
brauchbar  und  besonders  wertvoll  durch  die  vorzüglichen  Lippenbilder  einer 
die  verschiedenen  Laute  artikulierenden  Pariserin.] 

Engelke,  K.,  Französisch-deutsche  Wörtersammlung,  geordnet  nach 
Bildern  aus  Natur  und  Menschenleben.  Zweite  Auflage.  Gotha,  Perthes, 
1919.     61   S. 

Velhagen  und  Klasings  Sammlung  französischer  und  englischer  Schul- 
ausgaben.   Prosateurs  frangais: 

212,  B.     Fahre,  J.-H.,  Souvenirs  entomologiques.  hg.  von  W.  Vi  ölet. 
130  S.     M.  1,20. 

213,  B.     Mme   J.   Malassez,   Jacques   et  Juliette.   hg.   von   Fr.    Faß- 
binder.    83  S.     M.   1,20. 

F  r  a  n  c  i  1 1  o  n  ,  C,  Französisch-deutsches  Gesprächsbüchlein.  Zweite 
Aufl.   Berlin  und  Leipzig,  Göschen,  1919.   Sammlung  Göschen.   145  S.  M.  1,80. 

Krebs,  E.,  Praktische  Anleitung  zum  englischen  und  französischen 
Lautkursus.    Paderborn,  Schöuingh,  1919.    29  S.  M.  1,20. 

G  e  b  h  a  r  d  t ,  J.,  Fremdsprachliches  Unterrichtswerk  zum  Schulgebrauch 
und  Selbstunterricht.  IL  Teil:  Der  Franzose  II  von  K.  Seiler.  Leipzig, 
Liebisch,   1913.    Geb.  M.  2,40. 

Strohmeyer:  Französisches  Unterrichtswerk.  F.  Strohmeyer, 
Franz.  Schulgrammatik.  Zweite  Auflage.  Leipzig  und  Berlin,  Teubner,  1919. 
VII,  254  S.  ' 

Strohmeyer,  Franz.  Unterrichtswerk  B  2 :  Elementarbuch  2,  hg.  von 
H.  Strohmeyer  und  Fr.  S  t  r  o  h  m  e  y  e  r.  Zweite  Auflage.  Leipzig  und 
Berlin,  Teubner,  1919.     IX,  269  S. 

Provenzalisch. 

K  Olsen,  A.,  Zwei  provenzalischc  Sirveutese  nebst  einer  Anzahl  Einzel- 
strophen. Halle,  Niemeyer,  1919.  31  S.  [Die  beiden  Sirventese  sind  Gr.  335, 
33  (P.  Cardinal)  und  641,  61  anonym).  Nur  ein  paar  Bemerkungen  hierzu 
wie  zu  den  folgenden  Einzelstrophen :  Die  Schreibung  von  Appel  bei  B.  von 
Vendatorn  33,  18  kann  trotz  des  S.  4  Aum.  Vorgeschlagenen  bestehen  bleiben. 
Auch  hi,  i  von  JM  (I,  33)  war  zu  belassen,  denn  der  Aussagesatz  ist  ja  ein 
Nachsatz,  und  i  und  en  können  diesen  ebenso  beginnen  wie  ein  tonloses  Pro- 
nomen, wenn  es  auch  solcher  Beispiele  nicht  viele  gibt.  In  4,  3  ist  cn  Blacatz 
keine  Anrede,  und  Soltau  wird  mit  Unrecht  getadelt.  11,  9—10  war  bei  den 
Hss.  zu  bleiben:  die  rechte  Deutung  gibt  Zenker  zu  F.  de  Romans  Nr.  VII; 
die  Strophe  ist  nämlich  keine  cohla  esparsa,  sondern  Str.  4  des  Gedichtes 
Quan  cug  chantar  des  F.  de  Romans,  das  Bartsch,  Gr.  zweimal  als  156,  11 
und  156,  13  aufgeführt  hat.  In  12,  6  ist  das  in  der  Anmerkung  Vorgetragene 
unannehmbar;   übrigens  sind  die  Worte  a  so   qe-s  defsj  nnübersetzt.    Die 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  271 

letzte  Zeile  von  Nr.  17  gehört  nicht  zu  der  betreffenden  Strophe  und  gibt  ja 
auch  im  Hinblick  auf  den  Zusammenhang  gar  keinen  Sinn,  vielmehr  ist  sie 
der  Anfangsvers  des  bekannten  Gedichtes  von  F.  de  Marselha  Si  tot  mi  sui 
(I.  tart  aperceubutz  (Gr.  461,  21),  der  durch  ein  Versehen  des  Kopisten  an 
diese  Stelle  geraten  ist;  wir  haben  es  also  nur  mit  einer  achtzeiligen  Strophe 
zu  tun,  und  der  Vers  ist  mitsamt  dem  eingeführten  fort  zu  streichen.  Für 
Xr.  22  s.  dieses  Archivheft,  'Ein  provenzalisehes  Sprichwort". 

Italienisch. 

Schurr,  Fr.,  Komaguoiische  Dialektstudien  I :  Lautlehre  alter  Texte. 
Sitzungsberichte  der  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien.  Phil.-hist.  Kl. 
187.  Bd.,  4.  Abt.    Wien,  Holder,  1918.    150  S. 

Vangensteu,  Ove  C.  L.,  Leonardo  da  Vinci's  Sprog.  En  stilistisk- 
sproglig  Undersegelse.    Christiania,  Dybwads  forlag,  1917.    XI,  238   S. 

Spitzer,  L.,  Ital.  lazzaretto  —  ital.  ghetto.  S.-A.  aus  'Wörter  und 
Sachen'  Bd.  VI,  Heft  2.  [Die  Herleitung  von  lazzaretto  ist  geistvoll  und 
überzeugend.]  —  D  e  r  s..  Zu  Römisch  'buggcro'  termine  generico  eome 'coso', 
'negozio'.    S.-A.  aus  'Wörter  und  Sachen'  Bd.  VI,  Heft  2. 

S  p  ö  r  r  i,  T.,  II  dialetto  della  Valsesia.  Berner  Diss.  Milano,  Hoepli, 
1918.  Estratto  del  'Reale  istituto  lombardo  di  scienze  e  lettere',  vol.  I,  1, 
S.  391—409  und  683—752. 

Spanisch. 

Boletiu  de  la  Biblioteca  Menendez  y  Pelayo.  Enero-Febrero  1919.  San- 
t  ander.     56  S.         • 

Spanische  Bücherei,  hg.  von  A.  Haas  und  E.  D.  R  o  d  i  n  o.  Erster  Band: 
Pio  Baroja,  Der  Majoratsherr  von  Labraz.  München,  G.  Müller,  1918. 
301  S.  M.  9.  —  Zweiter  Band :  Jacinto  Benavente,  Der  tugendhafte 
Glücksritter  —  Die  frohe  Stadt  des  Leichtsinns  —  Das  letzte  Menuett. 
München,  G.  Müller,  1919.    314  S.    M.  9. 

Spitzer,  L.,  Katalanische  Etymologien.  S.-A.  aus  dem  'Jahrbuch  der 
Hamburgischen  Wissenschaftlichen  Anstalten'.  6.  Beiheft.  Bd.  XXXV.  1917. 
Hamburg  1918.  35  S.  [Wertvolle  kleine  Studien  zur  Herkunft  und  Be- 
deutung einer  größeren  Zahl  von  katalanischen  Wörtern  und  Wendungen. 
Die  Herleitung  von  solcir  ist  nicht  einleuchtend;  ein  Hinweis  auf  Diez,  EW 
S.  682  und  776  hätt  immerhin  nicht  geschadet.] 

Portugiesisch. 

E  i  1  e  r  s,  G.,  Ligöes  portuguezas.  Kurze  praktische  Anleitung  zum 
raschen  Erlernen  der  portugiesischen  Sprache.  Leipzig  u.  Berlin,  Teubner, 
1919.     VI,  196  S. 

Varia. 

I  m  a  g  o,  Zeitschrift  für  Anwendung  der  Psychoanalyse  auf  die  Geistes- 
wissenschaften, hg.  von  S.  Freud.  V.  Jahrgang,  Heft  4.  Leipzig  und 
Wien,  1919. 

Seidel,  A.,  Türkische  Chrestomathie.  Wien  u.  Leipzig,  Hartleben. 
190  S.    Geb.  M.  2,40. 

Hassan,  Oghlu  Bei,  Türkisch-deutsche  Gespräche.  Wien  u.  Leipzig, 
Hartleben.     190  S.     Geb.  M.  2,40. 

Philipp,  K.,  Wörterbuch  der  deutschen  und  türkischen  Sprache. 
Wien  u.  Leipzig,  Hartleben.     309  S.     Geb.  2,40. 

P  e  r  o  c  h,  S.,  Grammatica  tedesca  per  lo  studio  autodidattico.  Terza 
edizione.     Wien  u.  Leipzig,  Hartleben.     182  S.     M.  2,40. 

S  t  o  c  k  i  n  g  e  r,  J.,  Ungarische  Sprichwörter  in  deutscher  Sprache.  Wien 
u.  Leipzig,  Hartleben.     36  S.     M.  1,20. 


272  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

Birnbaum,  §.,  Praktische  Grammatik  der  Jiddischen  Sprache.  Wien 
u.  Leipzig,  Hartleben.     188  S.     Geb.  M.  2,40. 

Graf,  A.,  Los  vom  Philologismus.     Nürnberg,  Burgverlag,  1919.     69  S. 

S  a  m  t  e  r,  E.,  Kulturunterricht.  Erfahrungen  und  Vorschläge.  Berlin, 
Weidmann,  1918.    204  S.    Geb.  M.  7. 

H  o  r  u,  Ew.,  Das  höhere  Mädcheuschulweseu  in  Deutschland.  Eine  ver- 
gleichende Übersicht  mit  besonderer  Berücksichtigung  de:  Stundenpläne. 
Berlin,  Weidmann,  1919.     156  S.     M.  7. 

H  i  r  z  e  1,  R.,  Der  Name.  Ein  Beitrag  zu  seiner  Geschichte  im  Altertum 
und  besonders  bei  deu  Grieclieu.  Abhandl.  der  philol.-hist.  Klasse  der  säch- 
sischen Gesellschaft  der  Wissenschaften  XXXVI,  Nr.  2.     Leipzig,  Teubuer, 

1918.  108  S.     M.  4,80.      [Der  Personenname  Paris  kommt  von  Patri- 
c  i  u  s  und  hat  nichts  mit  dem  Namen  der  Stadt  Paris  zu  tun  (S.  59).] 

Otto,  E.,  Zur  Grundlegung  der  Sprachwissenschaft.  Bielefeld  u.  Leipzig, 
Velhagen  &  Klasing,  1919.     VII,  153  S. 

Fulda,  Fr.  W.,  Zum  Beruf  geboren.  Grundsätzliches  zur  Berufsfrage. 
Jena,  Diederichs,  1919.    44  S.    Tat-Flugschriften  33. 

Mockrauer,  Fr.,  Grundlagen  des  Moralunterrichts.  Praktische  Vor- 
schläge für  unsere  Schulen.  Jena,  Diederichs,  1919.  62  S.  Tat-Flugschrif- 
ten 34. 

P  o  k  o  r  n  y,  J.,  Die  Stellung  des  Tocharischen  im  Kreise  der  indogerma- 
nischen Sprachen.  S.-A.  aus  den  Berichten  des  Forschungs-Tnstitutes  für 
Osten  und  Orient  in  Wien  III,  1—30.    1919. 

Braun,  A.,  Zeitungs-Fremdwörter  und  politische  Schlagwörter,  vm- 
deutscht  und  erläutert.     Sechste  Auflage.     Berlin,  Buchhandlung  Vorwärts, 

1919.  68  S. 


ARCHIV 

FÜR  DAS  STUDIUM  DER  NEUEREN 
SPRACHEN  UND  LITERATUREN 

BEGRÜNDET  VON  LUDWIG  HERRIG 

HERAUSGEGEBEN  VON 

ALOIS  BRANDL  UND  OSKAR  SCHULTZ-GORA 


^\ 


74.  JAHRGANG,   140.  BAND  . 

DER  NEUEN  SERIE  40.  BAND  ^\       \}> 


BRAUNSCHWEIG   UND  BERLIN 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  G  E  0  RG  WE  STERM  AN  N 

1920 


Inhalts -Verzeichnis  des  140.  Bandes 

der  neuen  Serie  40.  Bandes 

Abhandlungen  g^^^ 

Albert  Malte  Waguer,  Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  aus  dem  Nachlaß  Heinrich 

Wilhelm  von  Gerstenbergs.    (Fortsetzung) 1 

Walther  Fischer,  Ferdinand  Freiligrath  und  Amely  Bölte  (1847—48) 25 

AJfons  Hilka,  Zur  Katharinenlegende  :  Die  Quelle  der  Jugendgeschichte  Katharinas,  ins- 
besondere in  der  mittelniederdeutschen  Dichtung  und  in  der  mittelniederläudischen  Prosa  171 

Arthur  Weber,  Aus  dem  Lager  der  Berliner  Romantik 185 

F.  Holthausen,  Ein  mittelenglischer  Hymnus  auf  Maria  und  Christus  und  seine  kym- 

rische  Umschrift 33 

Fritz  Fiedler,  Dickens'  Belesenheit 43 

Karl  Brunner,  Die  Eeimsprache  der  sog.  kentischen  Fassung  der 'Sieben  weisen  Meister'  199 

Ludwig  Pfandl,  Der  Didlogo  de  Mugeres  von  1544  und  seine  Bedeutung  für  die  Castillejo- 

Forschung 72 

G.  Cohn,  Bemerkungen  zu  'Adolf  Toblers  Altfranzösischem  Wörterbuch',  Lieferung  1  u.  2. 

(Fortsetzung) S4 

Max  J.  Wolff,  Ariosts  Satiren 206 

Heinrich  Geizer,  Maupassant  und  Flaubert 222 

Max  Leopold  Wagner,  Das  Sardische  im  Romanischen  etymologischen  Wörterbuch  von 

Meyer-Lübke  (Lieferung  9  u.  10) 240 

Kleinere  Mitteilungen 

über  die  Echtheit  des  Sesenheimer  Liedes  'Bälde  seh  ich  Rickgen  wieder'.    Von  Rudolf 

Ballof 247 

Neue  kritische  Bemerkmigen  zu  Uhlands  Briefwechsel   und  Tagebuch.     Von  Wilhelm 

Moestue 251 

Der  erste  Psalm  in  niederländischer  Dichtung  vom  Jahre  1740.    Von  C.  Th.  Lion  .     .     .  252 

Vom  Pradler  Bauern theater.    Von  Kaspar  Schwarz 254 

Zur  altenglischen  Wortgeschichte.    Von  WilhelmHorn 106 

Note  on  the  Anglo-Saxon  Indicia  monasterialia.    Von  A.  E.  H.  Swaen 106 

Bibliographisches  zu  John  Forbes'  Songs  and  Fancies.    Von  HansHecht lOS 

Zum  Balladenrhythmus.     Von  Karl  Brunner 259 

Zu  Thomas  Occleve.     Von  F.  Liebermann 261 

Zu  Chaucers  Stellung  in  Hofämtern.    Von  F.  Liebermann 261 

Zu  Liedrefrain  und  Tanz  im  englischen  Mittelalter.     Von  F.  Lieber  mann 261 

Zwischenspiele  für  Edward  II.    Von  F.  Liebermann 262 

Skute  meng\.:  'Lastschiff'.    Von  F.  Liebermann 263 

Zu  Giulio  Bertoni,  'I  Trovatori  d'ltalia',  Modena  1915.    Von  E.  Levy  (f) 109 

Zum  Verhältnis  von  Sprachwissenschaft  und  Völkerpsychologie.   Von  Victor  Klemperer  125 

Zu  'Goufre  de  Satenie'.     Von  Alfons  Hilka 130 

Zu  Pong  von  Capduelh.     Von  KurtLewent , 263 

Ahz.  Bourghes,  Oh).  Bourghet.     Von  O.  Schul tz-Gora 264 

Nochmals  ital.  ghetto.     Von  Leo  Spitzer 265 

Zu  'fils  de  char'.     Von  Wal ter  Benary 266 

Sitzungsberichte  der  Gesellschaft  für  das  Studium  der  neueren  Sprachen  für  das  Jahr  1919  136 
Verzeichnis  der  Mitglieder  der  Berliner  Gesellschaft  für  das  Studium  der  neueren  Sprachen, 

Januar  1920 141 

Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Gertrud  Bäumer,  Goethes  Freundinnen.    Briefe  zu  ihrer  Charakteristik,  ausgewählt  und 

eingeleitet  von  G.  B.    2.  Aufl.    (H.  Beyer) 268 

Walther  Brecht,  Conrad  Ferdinand  Meyer  und  das  Kunstwerk  seiner  Gedichtsammlung. 

(H.  Beyer) 147 

Albert  Leitzmann,   Wilhelm  von  Humboldt.    Charakteristik  und  Lebensbild.    (Albert 

Ludwig) 267 

Literaturgeschichte  der  deutschen  Schweiz  im  Mittelalter.   Ein  Vortrag  mit  anschließenden 

Ausführungen  und  Erläutenmgen  von  Dr.  Samuel  Singer.    (Hermann  Schneider)      .  146 


ni 

Seite 
Wolfram    Suchier,   Dr.  Christoph   Philipp  Hoester:   Ein  deutscher  kaiserlich  gekrönter 

Dichter  des  18.  Jahrhunderts.     (Heinz  Kindermann) 145 

Arnold  Bennet,  The  Truth  about  an  Author.    (Albert  Ludwig) 276 

Maria  Born,  Die  englischen  Ereignisse  der  Jahre  1685—1690  im  Lichte  der  gleichzeitigen 

Flugschriftenliteratur  Deutschlands.     (F.  Liebermauu) 271 

Anna  Jacobson,  Charles  Kingsleys  Beziehungen  zu  Deutschland.     (Karl  Brunner)       .     .  273 

John  Maynard  Keynes,  The  economic  consequences  of  the  Peace.     (F.  Liebermann)  .     .  148 

Paul  Lthmann,  Wert  und  Echtheit  einer  Beda  abgesprochenen  Schrift.    (F.  Liebermann)  269 

Theodore  Roosevelt,  History  as  literature,  and  other  essays.     (A.  Brandl) 274 

H.  Thiemke,  Die  me.  Thomas  Beket-Legende  des  Gloucesterlegendars.  Kritisch  heraus- 
gegeben mit  Einleitung.    (Karl  Bnmner) 270 

H.  B.  Marriott  Watson,  The  Excelsior.     (Albert  Ludwig) 275 

C.  N.  and  A.  M.  William  son,  The  Wedding  Day.    (Albert  Ludwig)      .......  275 

Der  Trobador  Cadenet,  hg.  von  Carl  AppeL    (O.  Schultz-Gora) 288 

Alexandre  Eckhardt,  Remy  Belleau.    Sa  vie.  Sa 'Bergerie'.   Etüde  historique  et  critique. 

(H.  Heiß) 292 

Vicente  Garcia  de  Diego,  Elementes  de  gramätica  hist<5rica  castellana.  (Fritz  Krüger)  159 
Margot  Henschel ,  Zur  Sprachgeographie  Südwestgalliens.  (W.  v.  Wartburg)  ....  155 
A.  Lombard  ,  La  correspondance  de  l'abbö  Du  Bos.  —  Ders.,  L'abbö  Du  Bos.    Un  iuitiateur 

de  la  peusee  moderne  (1670—1742).    (H.  Heiß) 165 

Dr.  Fritz  Neubert,  Die  literarische  Kritik  Guy  de  Manpassants.  —  Derselbe,  Die  kri- 
tischen Essays  Guy  de  Maupassants  (mit  Ausschluß  der  literarischen  Kritik).  (Hein- 
rich Geizer) 295 

Ludwig  Pf  and  1,  Robert  Southey  und  Spanien.  Leben  und  Dichtung  eines  englischen 
Romantikers    unter   dem  Einilusse  seiner  Beziehungen  zur  Pyrenäischen  Halbinsel. 

(Adalbert  Hämel) 163 

Eva  Seifert ,  Zur  Entwicklung  der  Proparoxytona  auf  -He,  -ita,  -itu  im  Galloromanischen. 

(0.  Schultz-Gora) 164 

Leo   Spitzer,   Über  einige  Wörter  der  Liebessprache.     Vier  Aufsätze.   —  Ders.,   Anti- 
Chamberlain.     Betrachtungen    eines  Lingiiisten  über  Houston   Stewart  Chamberlains 
'Kriegsaufsätze'  und  die  Sprachbewertung  im  allgemeinen.  —  Ders.,  Fremd wörterhatz 
und  Fremd  Völkerhaß.     Eine  Streitschrift  gegen  die  Sprachreinigung.     (Eugen  Lerch)  .     167 
Leo  Spitzer,  Aufsätze  zur  romanischen  Syntax  und  Stilistik.    (Eugen  Lerch)     ....    282 

K.  Vossler,  La  Fontaine  und  sein  Fabelwerk.    (O.  Schultz-Gora) 294 

Emil  Winkler,  Marie  de  France.    (Heinrich  Geizer) 279 

Verzeichnis  der  bei  der  Redaktion  eingelaufenen  Druckschriften, 
mit  folgenden  kurzen  Anzeigen: 

Neuere  Sprachen 

W.  Creizenach,  Geschichte  des  neueren  Dramas,  II.  Bd.:  Renaissance  und  Reformation. 

1.  Teil.    2.  verm.  u.  verb.  Aufl 302 

Germanisch 

Eduard  Sievers,  Metrische  Studien,  IV:  Die  altschwedischen  Upplandslagh  nebst  Proben 

formverwandter  germanischer  Sagdichtung.    2.  Teil :  Texte 302 

Deutsch 

Das  Nibelungenlied,   Übersetzimg  von   Simrock  mit  gegenübergestelltem  Urtext,  hg.  von 

"W.  Frege 304 

A.  Henrich,  Die  lyrischen  Dichtungen  Jakob  Baldes.  (Hermann  Schneider)  ....  304 
Max  Scherrer,   Kampf  imd  Krieg   im  deutschen  Drama  von  Gottsched  bis  Kleist.     Zur 

Form-  und  Sachgeschichte  der  dramatischen  Dichtung.  (Wolfgang  Stammler)  ,  ,  .  305 
F.  Griilparzer,  König  Ottokars  Glück  und  Ende,  Trauerspiel  in  fünf  Aufzügen,  hg.  von 

Woldemar  Haynel 306 

Leopold  von  Ranke,  Auswahl  aus  seinen  Werken,  hg.  von  Otto  Bauer 306 

Die  Quellen  zu  Gottfried  Kellers   Legenden.     Nebst  einem  kritischen  Text  der  'Sieben 

Legenden'  und  einem  Anhang  hg.  von  Albert  Leitzmann.  (Wolfgang  Stammler)  .  307 
F.  Beyel,  Zum  Stil  des  Grünen  Heinrich.     (Hermann  Schneider) 307 

Englisch 

Otto  Jespersen,   Growth   and  structure   of  the  English  language.    Awarded  the  Volney 

prize  of  the  Institut  de  France  1906.    Third  ed.  revised 311 

M.  Trautmann,  Die  ae.  Rätsel  des  Exeterbuchs.     (A.  Brandl) 312 

Erna  Hacken berg,  Die  Stammtafeln  der  ags.  Königreiche 313 

LawTcnce  Mas on,  Genesis  A,  translated  from  the  Old  English.  (Kari  Brunner)  ...  313 
<5.  Rubens,  Parataxe  und  Hypotaxe  in  dem  ältesten  Teil  der  Sachsenchronik  (Parker-Hs. 

bis  zum  Jahre  891).     (Kari  Brunner) 313 

The   recluse,   a  fourteenth  Century  version  of  the  Ancren  riwle,  critically  edited  by  Joel 

Pahlsson .......;..    314 


IV 

Seit« 
Chaucer-Handbuch  für  Studierende,  ausgewählte  Texte  mit  Einleitungen,  einem  Abriß  Ton 

Chaucers  Versbau  und   Sprache  nebst  einem  Wörterverzeichnis,   hg.  von  M.  Kaluza  314 

Karl  Arns,  Der  religiöse  britische  Imperialismus 315 

R.  E.  Zachrisson,  Engelska  stilarter 316 

B.  Münz,  Shakespeare  als  Philosoph 316 

A.  Eichler,  Anti-Baconiaens,  Shakespeare-Bacon ?    Zur  Aufklärung  seines  Anteils  an  der 

Erneuerung  Österreichs 316 

Hildegard  Harz,  Die  Umschreibung  mit  do  in  Shakespeares  Prosa 316 

Shakespeare,  Julius  Caesar,  auf  Grund  der  Schlegelschen  Übersetzung  m.  Einl.  u.  Anm. 

hg.  von  Christian  Gaehde 316 

Gertrud  Landsberg,  Ophelia:  die  Entstehung  ihrer  Gestalt  und  ihre  Deutung  ....  317 

Elisabeth  Zuber,  Kind  und  Kindheit  bei  George  Eliot 317 

A.  Brandeis  und  Th.  Reitterer,  Lehrbuch  der  engl.  Sprache  für  Realschulen     .     .     .  319 

Chambers,  Two  centuries  of  English  history 319 

John  Stuart  Mill,  On  liberty,  mit  Anmerkungen  zum  Schulgebr.  hg.  Ton  Wieckert  320 

Stories  of  the  great  war  by  various  authors 320 

Romanisch 

J.  Pauli,  'Enfant',  'garfon',  'fille'  dans  les  langues  romanes.    Essai  de  lexicologie  compar^e  321 
Französisch 

Gesellschaft  für  Romanische  Literatur.    Dresden.     Sechzehnter  Jahrgang,  1917      ....  322 

K.  Bartsch,  Chrestomathie  de  l'ancien  fran^ais  (Vllio — XV^  sifecles)  accompagn^e  d'une 
grammaire   et   d'un   glossaire.     Douzifeme  Edition  enti^rement  revue  et  corrig^e  par 

Leo  Wiese 323 

Repetitorien  zum   Studium  altfranzösischer  Literaturdenkmäler,   hg.  von  K.  v.  Ettmayer, 
nol:  K.  V.  Ettmayer,  Der  Bosenroman  (erster  Teil).    Stilistische,  grammatische  und 

literarhistorische  Erläuterungen  zum  Studium  und  zur  Privatlektüre  des  Textes      .     .  324 

Italienisch 

E.Walser,  Studien  zur  Weltanschauung  der  Renaissance.    (H.  Geizer) 326 

Spanisch 

R.  Ruppert,  Die  spanischen  Lehn-  und  Fremdwörter  in  der  franz.  Sprache.   (H.  Geizer)  326 

R.  Ruppert,  Spanisches  Lesebuch  für  Anfänger  und  Fortgeschrittene 327 

Zu  Huracan,  Arch.  139,  p.  217  ff.    (W.  Mulertt) 327 

Berichtigung 170 

Berichtigung  zu  Arch.  139,  S.  270.     (Sch.-G.) 327 


Ungedruckte 

Dichtungen  und  Briefe  aus  dem  Nachlaß 

Heinrich  Wilhelm  von  Gerstenbergs. 

(Fortsetzung.) 

XIX.    Gerstenberg  an  Carl  Friedrich  Gramer. 

12.» 

Liebster  Gramer,  ich  schicke  Ihnen  Minona  doch  noch  früher,  als  ich  ge- 
dacht hatte.  Welche  Freude  für  mich,  wenn  Sie  nun  bey  Ihrer  eigenen  prü- 
fenden Durchlesung  auch  die  zweyte  Probe  des  sich  selbst  gelassenen  Aristarchs 
aushielten!  Kaum  hoff  ichs,  hoff  es  um  desto  weniger,  da  Sie  bereits  ein 
Paar  vorläufige  Urtheyle  bey  sich  festgesetzt  haben,  die  Sie,  so  wie  Sie  das 
Stück  nun  mehr  in  der  Nähe  beleuchten  werden,  kaum  anders  als  bestätigt 
finden  können.  Ich  werde  aber  wahrlich  schon  [Tintenfleck]  zufrieden  seyn, 
wenns  Ihnen  bey  alldem  nur  von  derjenigen  Seite  und  aus  dem  Gesichts- 
punkte gefallen  wird,  von  Seiten  des  Interesses  für  ein  Publikum,  das  weder 
Britte  noch  Angelsachs  ist  —  (wie  ich  schreibe  I)  —  aus  dem  Gesichtspunkt, 
meyne  ich,  in  den  ich  selbst  mich  gestellt  hatte,  da  ichs  entwarf  und  hin- 
schrieb. Auf  dieses  Urtheil  werd  ich  am  aufmerksamsten  hinhorchen,  wenn 
Sie  mir  einst  Ihre  Meynung  im  Ganzen  sagen. 

Den  Dialog  hab  ich  nur  hin  und  wieder  mehr  gerundet.  Terenzisch 
kann  und  darf  er  nun  einmal  nicht  werden.  Eine  leicht  zu  übersehende 
meist  bekannte  Fabel,  ein  enger  Zirkel  von  Unterrednern  verträgt  einen  an- 
dern Dialog,  als  ein  Stück  von  ganz  entgegengesetzter  Art.  Ich  wills  einmal 
darauf  ankommen  lassen,  ob  das  Publikum  das  ausfinden  wird,  ich  habe 
mich  in  den  Anmerkungen  über  diesen  Punkt  lieber  gar  nicht  erklärt.  Auch 
Voß  meynt,  daß  das  nun  nicht  mehr  nöthig  seyn  dürfte. 

Aus  Ihrem  Sonnenfels  ^  hab  ich  mich,  aufrichtig  gesprochen,  weniger  er- 
baut, als  ich  erwartete.  Ich  sehe  wohl,  daß  der  Mann  weiß,  wie  man  für 
den  und  jenen  Zweck  dialogiren  soll,  aber  was  ich  für  meynen  Zweck  bey 
ihm  suchte,  hab  ich  keineswegs  gefunden,  eigentlich  gar  nichts.  Der  Eine 
machts  so,  der  Andre  wieder  anders:  wenns  nur  jeder  in  seiner  Art  recht 
macht!  Es  scheint  mir  sogar,  als  wenn  ichs  ihm  in  den  cruden  Elementen, 
über  die  er  sich  ausbreitet,  just  recht  gemacht  haben  werde.  Das  aber 
möchte  mich  eben  nicht  sehr  kitzeln!  Sollte  allenfalls  künftig  etwas  über 
meinen  Dialog  gekunstrichtert  werden,  worinn  mir  zu  nah  geschähe,  so  werde 
ich  dann  noch  immer  Gelegenheit  haben,  es  in  irgend  einem  Journale  zu 
beantworten  —  wenns  der  Mühe  werth  wäre. 

Nur  eine  einzige  Anmerkung  kann  ich  hier  nicht  mit  Stillschweigen 
übergehen,  weil  sie  auf  einen  Ihrer  eigenen  Einwürfe  trifft,  den  ich  eben 
darum  am  liebsten  heben  möchte,  weil  er  von  meinem  Freunde  herkommt. 
Dem  Dichter  sind  für  die  Vorstellung  seines  Schauspiels  drey  höchstens  vier 
Stunden  ausgesetzt.    Wirds  nun  wohl  möglich  seyn,  eine  so  verwickelte  und 


*  Undatiert;  wahrscheinlich  vor  Nr.  9  einzurücken. 
^  'Briefe  über  die  Wienerische  Schaubühne'. 

Ärclii?  f.  n.  Sprachen.     140. 


2  Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs 

deutlich  zu  machende  Exposition,  wie  die  meinige,  die  von  Anfang  bis  zu 
Ende  durch  das  ganze  Stück  fortläuft,  in  einen  so  kurzathmigen  Dialog  aus- 
zuspinnen,  wie  etwa  der  beym  Terenz  oder  Goldoni  ist?  Die  Fabel  muß 
klar  begriffen  werden,  das  ist  eine  Hauptbedingung,  das  Maaß  der  vier 
Stunden  soll  auch  nicht  überschritten  werden,  das  ist  die  zweyte.  Denken 
Sie  sich  nun  einen  Dialog,  der  sich  über  jeden  Haupt-  und  Neben-Urastand 
meiner  Fabel  so  ergöße,  wie  Sie  wünschen,  der  nichts  concentrirte,  nichts 
im  Vorbeygehn,  d.  i.  periodisch  mit  aufnähme,  für  jeden  Incidentpunkt  eine 
Frage,  für  jede  Frage  eine  Antwort  zubereitete,  alle  andern  Zwecke  fahren 
ließe,  um  den  einzigen  Zweck  des  Dialog  Genüge  zu  thun:  wo  würd  ich 
ein  Ende  finden?  Denken  Sie  sich's,  bester  Gramer,  noch  lieber,  versuchen 
Sies  einmal,  ich  bin  überzeugt,  Sie  werden  ganz  auf  meine  Seite  treten. 

Kurz,  was  ich  in  der  Minona  für  recht  und  notwendig  gehalten  habe, 
halt  ich  darum  nicht  in  jedem  Stücke  für  gut.  Ich  getraue  mir  zehn  Dra- 
men zu  machen,  die  alle  einen  ganz  verschiedenen  Dialog  haben,  und  darum 
doch  ohne  Tadel  seyn  sollen.  Das  ists,  was  ich  meyne,  des  weiteren  hab 
ich  nichts  sagen  wollen.  Wenigstens  werden  Sie  mir  zugeben,  daß  ich  für 
den  Fall  nichts  im  Sonnenfels  habe  finden  können. 

So  nehmen  Sie  sie  denn  nun  hin,  diese  letzte  Tochter  meines  betagten 
Gehirns,  und  geben  Sie  ihr  nicht  allein  ihren  ^  Segen  zu  ihrer  bevorstehenden 
Reise  in  die  Welt,  sondern  nehmen  Sie  sie  auch  in  Ihren  Schutz  wider 
allerley  Nachstellungen,  grobe  und  feine,  öffentUche  und  heimliche  Gefähr- 
dungen, es  sey  nun  an  ihrem  guten  Leumund,  oder  au  ihrer  jungfräulichen 
Scham :  was  Sie  für  meine  Tochter  thun,  haben  Sie  dem  alten  Freunde,  ihrem 
Vater,  gethan. 

Schicken  Sie  sie  mir  aber  auch  zum  vorläufigen  Gebrauch  bald  wieder 
zurück,  wenn  die  Abschrift  ins  Reine  gebracht  ist.  Ich  höre  von  Voß,  daß 
Klopstocks  Hermann  gewaltig  uncorrect  und  zuweilen  sogar  unleserlich  ge- 
schrieben ist,  besonders  in  den  Namen.  Ich  wäre  daher  der  Meynung,  wir 
ließen  zur  Probe  erst  die  beiden  letzten  Akte,  um  die  es  mir  ohnehin  eigent- 
lich nur  zu  thun  ist,  abschreiben,  und  wenn  wir  damit  zufrieden  wären, 
könnten  wir  mehrerer  Zierlichkeit  wegen  auch  zu  den  beiden  ersten  schrei- 
ten. Zu  dem  Ende  wird  es  gut  seyn,  wenn  Sie  dem  Copisten  das  Maaß 
von  dem  Format  der  beiden  ersten  Akte  geben  (ohne  ihm  doch  diese  ersten 
Akte  zu  behändigen).  Ich  erhalte  dann  alle  vier  Akte  mit  dieser  Abschrift 
der  beiden  letzten  zugleich  zurück,  und  bitte  Sie  nur  noch  um  des  Himmels 
willen  dafür  zu  sorgen,  daß  nichts,  auch  nicht  Eine  Zeile  von  dem  MspL 
verlohren  gehe,  weil  mich  das  in  die  allergrößte  Verlegenheit  setzen  würde, 
das  Verlohrene  zu  ergänzen. 

Schreiben  Sie  mir  aber  ja  vorher  Ihr  Urtheil  —  ich  bin  ungeduldiger 
auf  Ihr  Urtheil,  als  ich  Ihnen  sagen  mag  —  unter  andern  auch  von  den 
Anmerkungen,  von  dem  großen  Chore  der  Sieben,  kurz  alles,  was  Sie  nur 
auf  dem  Herzen  haben.  Ich  wünschte  zu  wissen,  wie  der  Zirkel,  dem  Sies 
vorlesen  werden,  mich  versteht,  besonders,  was  Ihr  verehrungswürdiger 
Vater  zu  tadeln  oder  zu  billigen  findet. 

Und  nun,  mein  bester  Gramer,  umarme  ich  Sie,  mit  wiederholtem  Dank 
für  Ihre  freundschaftliche  Bemühung  und  für  Ihre  Bücher,  die  Sie  hier  un- 
versehrt zurück  erhalten.  Ihr  G. 


Statt  'Ihren' 


Ungednickte  Dichtxingen  und  Briefe  Gerstenbergs  3 

^^'  Altona  5.  Jan.  1787. 

So  sehnlich  ich  mir  das  Glück  gewünscht  habe,  Sie  nach  Ihrer  Rück- 
kunft von  Kopenhagen  wieder  zu  umarmen,  die  Geschichte  Ihrer  Reise  zu 
Wasser  und  zu  Lande  aus  Ihrem  eigenen  Munde  zu  vernehmen,  und  tau- 
senderley  Dinge  mit  Ihnen  durchzuschwatzen,  von  denen  es  nur  mit  Ihnen 
zu  reden  der  Mühe  lohnt:  so  ists  mir  doch  nicht  möglich,  mein  liebster 
Gramer,  dießmal  zum  Umschlage  nach  Kiel  zu  kommen.  Ich  muß  mich,  so 
wie  Klopstock,  mit  der  Hoffnung  gedulden,  daß  Sie  vielleicht  selbst  bald  zu 
uns  herüberkommen;  ich  muß  mich  auf  das  Vergnügen  einschränken,  mit 
meinen  Freunden  von  Ihnen  zu  reden,  wenn  ich  nicht  mit  Ihnen  reden  kann: 
und,  was  mir  Altona  und  Hamburg  noch  interessanter  macht,  dieß  Vergnügen 
habe  ich  nicht  selten.  Ja,  mein  Gramer,  es  ist  hier  wahrlich  gut  seynl  0  daß 
ich  Sie  bey  mir  hätte  I  Und  dann  nur  noch  Einen  Wunsch  meiner  Seele  — 
daß  man  in  Kopenhagen  etwas  thätiger  für  mich  wäre. 

Wie  viel  hätte  ich  Sie  zu  fragen!  wenn  ichs  nicht  selbst  für  besser 
hielte,  nichts  schriftlich  zu  anticipiren,  was  Sie  mir  mündlich  reichlicher  geben 
werden. 

Ich  will  vielmehr  zur  Hauptsache,  die  der  Zweck  meines  heutigen  Ge- 
schreibsels ist.  Da  ich  die  Bequemlichkeit  habe,  einen  Theil  meiner  Zinsen 
dießmal  hier  in  Altona  zu  erheben,  und  über  den  Rest  von  Kiel  aus  ander- 
weitig zu  disponiren,  so  gelangt  meine  Bitte  an  Sie,  mein  Bester,  wie  folgt: 

Daß  Sie  die  Güte  haben  AvoUen,  die  hier  angeschlossenen  drey  Quittungen 
rpp.  an  diejenigen  Bevollmächtigten  der  Landschaft  Suider-  und  Norder- 
dithmarschen,  wie  auch  des  Kirchspiels  Neuenkirchen  daselbst,  freundschaft- 
lich zu  befördern,  von  denen  ich  die  Zinsen  für  die  darinn  benannten  Capi- 
talien,  zusammen  260  R.,  in  dem  itzigen  Umschlage  empfangen  soll.  Einer 
von  diesen  wird  vermuthlich  der  Kirchspielvogt  Johannsen  aus  Meldorf  seyn, 
der  Ihnen  die  beiden  anderen  leicht  nachweisen  wird.  Ich  glaube  nicht,  daß 
ein  förmlicher  Auftrag  an  Sie,  diese  Gelder  für  mich  zu  erheben,  nöthig  seyn 
wird.  Sollte  dieß  aber  seyn,  und  Sie  hätten  Gelegenheit  sich  im  Vorwege 
danach  zu  erkundigen,  so  wird  es  noch  Zeit  genug  bis  zum  14.  oder  15. 
seyn,  ein  solches  Document  nachfolgen  zu  lassen. 

Item.  Nachdem  Sie  diese  resp.  Zinsen  erhoben  haben,  ersuche  ich  Sie, 
sie  bey  sich  zu  deponieren,  bis  Sie  nähere  Nachricht,  die  ich  Ihnen  heute 
noch  nicht  geben  kann,  von  mir  erhalten,  an  wen  Sie  das  Ganze  der  260  R., 
oder  einen  Theil  davon,  abliefern  werden. 

Weiter  weiß  ich  mich  in  dieser  großen  Geld-Angelegenheit  auf  nichts 
zu  besinnen. 

Ich  hoffe,  daß  ich  meine  Dithmarsischen  Gelder  ohne  Gefahr  dort  stehen 
lassen  könne,  und  verlasse  mich  auf  Boie,  auf  dessen  Rath  ich  sie  da  unter- 
gebracht habe.  Sollte  Ihnen  aber  irgend  ein  bedenklicher  Umstand  zu  Ohren 
kommen,  so  bitte  ich  Sie  sehr,  mein  liebster  Gramer,  mich  so  bald  als  mög- 
lich davon  zu  benachrichtigen. 

Gestern  las  mir  Klopstock  ein  Gespräch  zwischen  Ihm  und  R  aus  seiner 
Grammatik  vor,  das  noch  ganz  naß  aus  seiner  Feder  aufs  Papier  gekommen 
war.  Ich  wollte,  ich  könnte  es  Ihnen  schicken:  es  ist  ein  Meisterstück 
Klopstockscher  Phantasie,  die  ich  in  einer  Grammatik  schwerlich  gesucht 
hätte,  und  nicht  genug  bewundern  kann.  In  der  That  glaube  ich,  den  wahren 
Gesichtspunkt  dieses  Geniuswerks  etwas  zu  spät  gefunden  zu  haben,  und 
schiebe  die  Schuld  auf  meine  eigene  unzeitige  Kritteley. 


4  Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs 

Auch  hörte  ich  von  ihm,  daß  der  letzte  Theil  Ihrer  Heloise  heraus  ist. 
Ich  bin  ungeduldig,  mein  liebster  Gramer,  Ihre  Heloise  nun  ganz  zu  lesen.  Viel- 
leicht ist  es  mir  vorbehalten,  manches  Urtheil  über  diese  Original-Übersetzung 
in  hiesiger  Gegend  zu  berichtigen;  einen  kleinen  Anfang  dazu  meyne  ich  schon 
gemacht  zu  haben. 

Empfehlen  Sie  mich  Ihrem  ganzen  Hause,  und  erhalten  Sie  Ihre  freund- 
schaftliche  Zuneigung  ^^^^^^  Gerstenberg. 

Nun  kann  ich  Ihnen  doch  noch  das  Bestimmtere  über  die  Ablieferung 
der  260  R.  melden.  Buchholz  wird  nach  Kiel  kommen,  wie  ich  eben  aus 
einem  Briefe  von  Groll  erfahre;  und  an  Ihn,  mein  Liebster,  seyn  Sie  so 
gütig,  dieß  Geld  zu  behändigen,  der  es  an  die  Behörde,  nämlich  an  Hrn  Groll, 
überbringen  wird.     Wie  gern  Aväre  ich  in  seiner  Gesellschaft  bey  Ihnen! 


14. 

Altona  13  Jun(i)  1787. 

Ihren  Orpheus,*  mein  liebster  Gramer,  den  ich  gestern  mit  der  Post  er- 
hielt, habe  ich  gestern  Abend  schon  von  der  Minna  Brandes  ^  mit  vielem 
Vergnügen  durchsingen  gehört.  Sie  war  gerade  bey  Unzer  ^  in  Gesellschaft 
des  Schröderischen  Musikdirectors,  der  recht  gut  accompagnirte;  und  so 
wards  durch  Sie,  mein  Gramer,  einer  von  den  schönen  Abenden,  deren  es 
nicht  viele  in  diesem  Jammerthal  giebt.  Ich  sehe,  daß  Sie  den  dänischen 
Text,  wo  es  das  Recitativ  erlaubte,  nicht  blos  übersetzt,  sondern  umgeschaf- 
fen haben:  das  ist  ein  glücklicher  Gedanke.  An  dem  bloßen  Recit(ativ)  ist 
ohnebin  nichts  gelegen,  man  kanns  singen,  wie  man  will,  und  die  Italiener 
lassen  sich  ihn  meist  gar  nicht  einmal  vorschreiben,  sondern  richten  sich 
ex  tempore  nach  der  Harmonie.  Ich  will  nun  alles  sorgfältig  durchsehen, 
und  verspreche  mir  von  der  näheren  Vergleichung  eine  Menge  interessanter 
Bemerkungen. 

Über  Ihren  Epilogus  galeatus  habe  ich  herzlich  gelacht,  und  Klopstock 
Solls  künftige  Woche  auch.  Fast  ists  unglaublich,  daß  Lichtenberg  oder  wer 
sonst  die  Recens(ion)  gemacht  hat,  sich  so  arg  versehen,  und  ein  so  komi- 
sches Quid  proquo  machen  konnte.*  Wem  nun  über  das  Handwerk  des  Re- 
zensirens  die  Augen  nicht  aufgehn,  wer  noch  immer  glaubt,  daß  es  sehr 
nothwendig  sey  zu  wissen,  was  die  Richter  des  Tages,  die  man  auch  Nacht- 
wächter nennt,  von  neuen  Büchern  urtheilen:  dem  ist  nicht  zu  helfen.  Mich 
dünkt,  der  geringste  Leser,  der  liest,  hat  mehr  Stimme,  als  der  famoseste 
Kritler,  der  nicht  liest.  Wie  kann  man  eine  Original-Übersetzung,  wie  die 
Ihrige,  beurtheilen  wollen,  wenn  mau  sich  nicht  einmal  Zeit  läßt,  die  An- 
merkungen recht  anzusehen?  Daß  der  Kunstrichter  so  viel  Zeit  nur  selten 
habe,  läßt  sich  freylich  in  dubio  präsumiren.  Sehr  vielen  und  lebhaften  Dank 
sage  ich  Ihnen  übrigens  für  diese  und  die  übrige  treffliche  Schnabelweide, 
mit  der  Sie  mich  so  freundschaftlich  erquickt  haben. 


*  Naumanns  Oper  'Orpheus  und  Eurj^dice',  übersetzt  aus  dem  Dänischen, 
erschien  zuerst  in  Cramers  'Magazin  der  Musik'. 

2  t  l'^88   in   Hamburg.     Eigentlich   Charlotte  Wilhelmine  Franziska  B. 
Minna  genannt  als  Lessings  Patenkind. 
'  Der  Hamburger  Arzt. 

*  Siehe  Krähe,  G.  F.  Gramer  S.  181  f. 


Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs  5 

Ihre  Athalie  im  S.  Palais  aufgeführt!  wo  solche  Spieler  und  Spiele- 
rinnen! Sie  sind  sehr  zu  beneiden,  mein  liebster  Gramer;  wie  gern  hätte 
ich  mich  an  Ihrer  Seite  unter  den  Zuhörern  befunden. 

Was  Sie  mir  über  Schulze '  und  Kunze  "^  schreiben,  macht  mich  äußerst 
ungeduldig  auf  den  Erfolg.  Ich  bitte  Sie  inständig,  mich  von  allem  um- 
ständlich zu  benachrichtigen,  sobald  sichs  nur  irgend  thun  läßt.  Will  Schulz 
auf  die  Probe  nach  Kopenhagen  gehu,  wie  Naumann?  ^  oder  engagirt  er  sich 
gleich  schon  als  Kapellmeister?  In  wie  fem  betrachten  Sie  Kunzens  Glück 
als  gemacht?  was  hat  er  verlangt,  und  was  hat  man  ihm  anbiethen  können? 
Lauter  Fragen,  an  deren  Beantwortung  ich  einen  mehr  als  gewöhnlichen 
Antheil  nehme. 

Kunzens  dänische  Lieder  *  gefallen  mir  dermaßen,  daß  ich  zu  der  Melodie, 
die  ich  am  liebsten  singe,  deutsche  Texte  mache,  wovon  Sie  hier  ein  paar 
Pröbchen  erhalten.  Den  Lauscher  habe  ich  mir  aus  den  Liedern  der  Deut- 
schen vindicirt,  wo  Sie  ihn  im  Register  sub  litt.  B.  finden  werden:  ich  sage^ 
vindicirt,  denn  die  Phantasie  des  Liedes  gehörte  mir  schon  vorher,  und  ist 
aus  einem  Gedichtchen  von  mir  gewonnen,  das  sich  anfängt:  Scherzen, 
Lachen,  Mädchen,  Wein^  etc.  und  in  einem  der  ältesten  Musenalmanache 
steht.  Sagen  Sie  nur,  mein  Liebster,  ob  diese  Lied  Texte  zu  Kunzens  Me- 
lodie passen,  und  ob  ich  Ihnen  mehr  schicken  soll. 

Sehr  verbunden  für  Ihre  Übernahme  meines  Umschlags. 

Ganz  Ihr  G. 

[Es  foUjen  nun  die  Gedichte  '  Unsterblichkeit'  ( V.  S.  TL,  141)  und  'D&r  Lauscher' 
(V.  S.  II,  268)  mit  geriyigfiigi^ieji  Abweichungen.    Dann  schreibt  Q.  tveiter:] 

Weil  ich  gerade  die  Laune  habe  Verse  abzuschreiben,  die  ich  nicht  oft 
habe,  so  nehmen  Sie  hier  noch  ein  paar  Texte  hin  für  Kunzens  Melodien. 

N.  1.  woraus  ich  einige  Skrupeln  weggezahnstochert  habe,  die  mir  zwi- 
schen den  Zähnen  knirschten,  sollte  ich  vielleicht  aus  bloßer  Dissortion  für 
mich  allein  behalten:  doch  Gramer  wird  es  wohl  für  keine  Entweihung 
halten,  daß  ich  zu  meiner  eignen  Erbauung  etwas  am  seUgen  Hölty  ausfeile. 
Ramlers  Sünde  bestand  nicht  darinn,  daß  er  nicht  gerne  singt,  was  ihm  in 
der  Kehle  stecken  bleibt,  sondern  daß  er  sich  ein  Verdienst  daraus  machte, 
vor  dem  gesammten  Volke  zu  zeigen,  wie  er  so  was  singt.  Ich  beleidige 
nicht,  sondern  singe  wie  mir  der  Schnabel  gewachsen  ist,  und  verlange  nicht, 
daß  mich  das  Publicum  höre. 

N.  2  werden  Sie  in  einer  anderen  Gestalt  gekannt  haben. ^  Sie  sehen, 
daß  es  mir  eben  so  wenig  schwer  fällt,  mich  selbst  zu  zerstöhren,  als  Holtyn, 
den  ich  sonst  sehr  liebe.  Wenn  sichs  nur  zu  Kunzens  Weise  ausnimmt,  so 
ist  mein  itziger  Zweck  erreicht. 

[Es  folgen  die  Gedichte  'Die  Seligkeit  der  Liebende?i'  (V.  S.  II,  271)  n7id 
'Alpenjagd'  (V.  S.  II,  259)  mit  geringfügigen  Abweichimg en.\ 

1  Johann  Abraham  Peter  Schulz  (1747—1800). 

'  Friedr.  Ludw.  Aemilius  Kunzen  (1761—1817);  vgl.  H.  V.  Schytte, 
Nordisk  Musiklexikon  I  (1888),  S.  437  f.;  Eitner,  Quellenkunde  V  (1901), 
S.  478  ff. 

*  Johann  Gottlieb  Naumann  (1741—1801),  komponierte  23  Opern  und 
10  Oratorien. 

*  Erschienen  1816  zu  Kopenhagen  als  'Auswahl  der  vorzügl.  alt  dänischen 
Volksmelodien,  Balladen  und  Heldenlieder  mit  Pianoforte'. 

*  S.  'Verm.  Schriften'  II,  p.  250.       s  S.  'Verm.  Schriften'  II,  p.  223. 


6  Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs 

15. 

Altona  26  Aug.  1787.' 

Ich  habe  die  beiden  letzten  Akte  Ihres  Oi-pheus  bereits  vor  drey  oder 
vier  Posttagen  empfangen,  und  habe  mir  Zeit  gelassen,  Sie  (!)  noch  einmal 
recht  durchzustudiren,  ehe  ich  Ihnen  den  Empfang  meldete.  Wie  sehr  Sie 
durch  diese  abermalige  Gabe  Ihrer  Freundschaft,  liebster  Gramer,  meine  Ver- 
bindlichkeit erhöht  haben,  mag  ich  gar  nicht  versuchen  Ihnen  zu  sagen. 

Eine  einzige  kleine  Mishelligkeit  glaube  ich  bemerkt  zu  haben,  die  sich 
aber  unter  der  Anführung  eines  guten  Musikdirektors  heben  läßt.  Ihre  Zu- 
sätze und  Umwandlungen  des  Originals  sind  oft  viel  zu  stark,  zu  dichterisch, 
zu  Inhaltsvoll  für  den  kalten  Gang  eines  Recitativs.  Welchen  Stoff  würde 
nicht  Naumann,  z.  E.  in  der  vortrefflichen  Tirade  vom  Tanarus  p.  99,  zu  den 
ariösesten  Ausbildungen  des  Gesanges  und  der  Begleitung  gefunden  haben, 
wenn  er  sie  im  Dänischen  vor  sich  gehabt  hätte.  So  wie  die  Oper  nun  im 
Deutschen  daliegt,  muß  es  auffallen,  daß  die  schönste  Musik  oft  an  die  letzte 
Stelle  verschwendet  ist,  und  das  Beste,  schier  als  gar  nicht  bemerkt,  durch- 
hinschlüpft.  Es  scheint  mir  daher  schlechterdings  nothwendig  zu  seyn,  daß 
bey  der  Auffülirung  auf  deutschen  Bühnen  dieser  Mangel  ergänzt,  und  für 
mehr  Accompagnement  in  den  Recitationen  gesorgt  wird. 

Diesen  Augenblick  komme  ich  von  unserm  Moldenhauer^  her,  der  mir 
einen  der  interessantesten  Nachmittage  gemacht  hat.  Wie  sehr  ich  Mold. 
liebe,  wissen  Sie,  mein  Gramer:  aber  schwerlich  würde  ich  das  rechte  Wort 
finden,  Ihnen  zu  sagen,  wie  sehr  ich  ihn  bewundre.  Und  doch  fürchte  ich, 
daß  ich  mit  diesem  Einzigen  in  eine  Collision  gerathen  bin,  die  nicht  anders 
als  schädlich  für  mich  ausfallen  kann.  Ich  mag  Sie  von  einer  so  äußerst 
unangenehmen  Sache  nicht  unterhalten:  vielleicht  errathen  Sie  schon,  was 
ich  meyne:  vielleicht  erfahren  Sies  auch  aus  seinem  eigenen  Munde.' 

Wahrlich  wenn  mir  jemand  mit  Gewißheit  vorher  sagen  könnte,  daß  in 
dem  Augenblicke,  da  meine  —  Dithmarsischen  Säckchen  leer  seyn  werden, 
auch  alles  übrige  ein  Ende  hätte:  ich  wollte  ganz  ruhig  seyn.  Was  ich  seit 
2  oder  3  Jahren  von  der  Welt  erfahren  habe,  maclit  mir  den  Gedanken,  daß 
wir  hier  nicht  unsterblich  sind,  so  ziemlich  erträglich.  Glauben  Sie  mir. 
Gramer,  ich  bin  diese  Zeit  her  nicht  müßig  gewesen.  Ich  habe  viel  gelernt, 
viel  studiert,  viel  Excerpte  gemacht,  viel  gerechnet,  berechnet,  und  über- 
rechnet. Für  mich  selbst  glaube  ich  gewonnen  zu  haben.  Es  giebt  aber 
Rücksichten  von  einer  gewissen  zärtlichen  Natur,  die  mich  hindern  eine 
wahre  Bilanz  zu  ziehen.  Was  ich  gewonnen  habe,  gewann  ich  —  mir:  was 
ich  aber  verlieren  kann,  fällt  leider  auf  mich  nicht  allein. 

Bastal  und  um  auf  etwas  anders  zu  kommen  —  wissen  Sie  mir  nicht 
zu  sagen,  wie  bald  Schulz  nach  Kop(enhagen)  geht?  und  ob  er  sich  auf  seiner 
Durchreise  hier  einige  Tage  verweilen  wird?  Wie  würde  ich  mich  freuen, 
wenn  ich  Sie,  mein  Vielgeliebter,  zugleich  mit  dem  lieben  Schulz  hier  einige 
süße  Augenblicke  genießen,  und  mich  mit  Ihnen  beiden  über  Dieß  und  Jenes 
recht  ausschwatzen   könnte!     Ich   weiß  nicht,   ob   ich   jetzt  Alles   von   der 

'  Zwischen  Nr.  14  und  15  ein  Brief  Cramers  vom  9.  Juni  1787. 

2  Vgl.  Brief  XV  dieser  Publikation.  M.  ist  der  ehemalige  Kieler  Theo- 
logieprofessor Daniel  Gottlieb  Moldenhauer. 

3  G.  und  M.  bewarben  sich  beide  um  einen  Posten  bei  der  Königlichen 
Bibliothek  in  Kopenhagen,  den  M.,  nachdem  er  zunächst  zugunsten  G.s  ver- 
zichtet hatte,  schließlich  erhielt. 


Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs  7 

schiefen  Seite  ansehe:  aber  bey  meiner  Treul  es  kommt  mir  vor,  als  ob  ich 
meinen  Freunden  schier  ein  wenig  aus  der  Kunde  gerathe.  Daß  das  die 
Schuld  meiner  Freunde  nicht  sey,  glaube  ich  freylich  zwar  unbesehens:  nur 
meyne  ich  sie  beschuldigen  zu  können,  daß  Niemand  von  ihnen  so  aufrichtig 
ist,  mir  zu  offenbaren,  wie,  wodurch,  und  seit  wann  die  Schuld  meine  ist.  — 
Schon  wieder?  Pfuyl  ich  sehe  heute  recht  schief!  recht  schief I  Lieber  will 
ich  ganz  abbrechen,  und  um  Verzeihung  bitten,  M^enn  es  Ihnen  weh  thut, 
mich  einmal  auch  schriftlich  in  einer  üblen  Laune  zu  sehen. 

Leben  Sie  wohl,  mein  guter  Gramer,  und  lieben  Sie  demunerachtet 

Ihren  G. 

16. 

Altona  4.  Sept.  87. 

Die  Rede  eines  freundschaftlichen  Mundes  ist  wahrlich  ein  köstlich  Ding ! 
—  Goldmund,  warum  nannten  Sie  Dich  Goldmund?  Deine  Rede  schwebt 
duftig  wie  Mayblüthen,  süßer  wie  Honig:  löst  sie  in  ihre  Elemente  auf,  und 
grabt  sie  in  unvergängliches  Erz  —  wenn  ihr  nicht  etwa  ein  noch  besseres 
Plätzchen  wißt. 

Und  wie  nenne  ich  die  Rede  Ihrer  freundschaftlichen  Feder,  mein  Gra- 
mer? Ließe  sich  so  was  in  eine  Büchse  verschließen,  und  gleich  andrer 
Apothekerwaare  durch  ein  Recept  verordnen:  so  müßte  es  Seelenarzeney 
überschrieben  werden.  Aber  es  ist  ein  Arcanum,  was  nur  unter  uns  bleibt; 
ich  bescheide  mich,  keinen  Namen  dafür  zu  wissen,  und  keinen  Preis.  Das 
Einzige,  was  sich  darüber  sagen  läßt,  ist:  es  schlägt  nie  fehl,  und  ich  be- 
finde mich  wieder  wohlauf. 

Wie  kam  ich  dazu,  liebster  Gramer,  Ihnen  einen  so  atrabilarischen  Brief 
zu  schreiben?  Ich  hatte  Moldenhauem  gesprochen.  Er  hatte  mir  den  größten 
Beweis  einer  uneigennützigen  Zuneigung  gegeben,  den  ein  Freund  dem  an- 
deren geben  kann;  er  hatte  mich  versichert,  daß  er  mir  alle  seine  Absichten 
auf  das  Bibliothekariat  aufopferte;  er  drückte  sich  darüber  ohne  allen  Rück- 
halt und  mit  der  ungefärbtesten  Offenheit  aus.  Ich  aber,  anstatt  mich  einer 
solchen  Liebe  zu  freuen,  sah  in  dieser  Lage  der  Sachen  nichts  als  Gollision 
zwischen  ihm  und  mir:  großmüthige  Äußerung  von  seiner  Seite;  von  der  mei- 
nigen Unvermögen  sie  ihm  zu  erwidern,  und  der  Verdruß  die  Bibliothek 
eines  Aufsehers  zu  berauben,  der  für  sich  und  für  das  Publikum  einen  ganz 
andern  Gebrauch,  als  ich,  von  ihr  hätte  machen  können.  Was  mir  einleuch- 
tete, glaubte  ich,  müßte  auch  R(eventlow)  und  dem  ganzen  Staatsrath  ein- 
leuchten: ich  gab  mich  schon  verlohren. 

Gleich  darauf  erhalte  ich  die  Versicherung  von  Schimm(elmann),'  daß 
Moldenhauer  meinethalben  schon  von  Spanien  aus  auf  diese  Stelle  Verzicht 
gethan  habe,  und  daß  er  mir  in  dieser  Angelegenheit  auch  nicht  einmal 
leidentlich  im  Wege  stehen  werde.  Sehr  edel  von  Mold(enhauer) !  I  Aber 
bin  ich  nicht  ein  unglücklicher  Mann,  daß  ich  mit  ihm  in  eine  Gollision  der 
Gesinnungen  gerathen  muß,  und  daß  ich  nicht  eben  so  gegen  ihn  handeln 
kann,  als  er  gegen  mich? 

Am  Ende  wird  sich  ja  Alles  entwickeln,  und  ich  breche  eine  Materie 
ab,  bey  der  es  eben  so  schwer  ist  sich  recht  auszudrücken,  als  recht  zu 
nehmen. 


'  Die  Grafen  Reventlow  und  Schimmelmann,  die  dänischen  Staats- 
minister. 


8  Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs 

Was  Sie  mir,  bester  Gramer,  über  Minonan  zu  lesen  'geben,  verdient 
meine  Bewunderung  in  mehr  als  Einem  Betracht.  Kaum  begreife  ich,  daß 
ichs  bin,  der  Ihnen  eine  Handhabe  zu  einer  solchen  Dramaturgie  in  die  Hand 
gegeben  habe.  Nichts  erinnerte  mich  schon  seit  Jahren  daran,  daß  ich  der 
Verfasser  eines  gewissen  Schauspiels  bin,  was  sich  Minona  oder  die  Angel- 
sachsen nennt;  und  es  war  mir  unter  tausenderley  Zerstreuungen  von  ganz 
anderer  Art  leicht  genug  geworden,  eine  Arbeit  zu  vergessen,  von  der  auch 
nicht  einmal  meine  Freunde,  geschweige  die  Kunstrichter,  gern  Notiz  nehmen 
zu  wollen  schienen.  Ich  glaube  ans  Fatum  der  Schriftstellerey,  und  ließ  es 
gut  seyn. 

Wie?  Sie  wagen  es,  sich  gegen  das  Schicksal  aufzulehnen?  Sie  getrauen 
sich  Grundsätze  des  Geschmacks  geltend  zu  machen,  denen  der  Geschmack 
des  Tages  widerspricht?     Was  soll  ich  von  Ihnen  denken.  Gramer? 

Ob  Sie  die  Wahrheit  getroffen  haben,  ist  eine  andre  Frage,  die  ich  nicht 
zu  beurtheilen  weiß.  Was  ist  Wahrheit?  fragte  Pontius  —  fragt  die  ganze 
heutige  Welt.  Wenigstens  Averden  Sie  vermuthen,  daß  ich  über  die  Lehre 
vom  Gostüm  dissentire.  Wenn  der  Leser  am  Ende  meines  Stücks  einen  an- 
dern Begriff  von  den  Sitten  der  Römer,  als  von  den  Sitten  der  Britten,  einen 
andern  von  den  Barden,  und  wieder  einen  andern  von  den  Angelsachsen 
hat,  so  supponire  ich,  daß  irgend  ein  Gostüm  beobachtet  ist:  und  von  die- 
sem Gostüm  des  Theaters,  das  nicht  immer  beobachtet  zu  werden  pflegt, 
darf  sich  kein  Dichter  lossprechen.  Ein  andres  aber  ist  die  kritische  Unter- 
suchung gewisser  Kunstbegriffe,  die  nur  der  Antiquar  anstellen  kann.  Wenn 
sich  auch  von  diesem  Begriff  nichts  anticipieren,  nichts  in  das  Gostüm  des 
Parterre  verschmelzen  läßt:  so  weiß  ich  nicht  mehr,  wo  die  Gränzlinie  zu 
ziehen  ist,  und  ich  sage:  wer  unter  euch  ohne  Sünde  ist,  der  werfe  den 
ersten  Stein  auf  mich.  Weder  Sophokles,  noch  Voltaire,  noch  Klopstock 
haben  dann  ein  Gostüm:  von  den  Engländern  rede  ich  nicht  einmal.  Es  ge- 
hört dann  nicht  nur  viel  dazu,  ein  Gostüm  festzusetzen,  sondern  die  Sache 
ist  sogar  an  sich  unmöglich.  Wie  soll  ich  mich  mit  meiner  deutschen 
Büchersprache  in  die  Begriffe  eines  Epulonen^  hineindenken?  Ich  bin  nicht 
vermögend  eine  Zeile  zu  schreiben,  und  gehab  dich  wohl,  Darstellung! 

Was  ich  mir  zum  Behuf  der  Minona  zusammen  geschmiert,  excerpiert, 
kompilirt  habe,  ist  vermuthlich  im  Fett  das  die  Erde  düngt.  Wahrscheinlich 
habe  ich  es  bey  der  Abreise  von  Eutin,  unter  vielen  andi-en  Papieren,  die 
ich  nicht  wiederfinden  kann,  zum  Einpacken  verbraucht,  weil  ich  wirklich 
gerade  damals  an  diese  Dinge  mit  einer  Art  von  Groll  dachte.  Der  Verlust 
ist  aber  leicht  zu  ersetzen,  wenn  Sie  nur  die  Bücher  nachlesen,  die  ich  in 
den  Anmerkungen  citirt  habe.  Von  Ihrem  Briefe  über  M(inona)  trenne  ich 
mich  ungern:  ich  verlasse  mich  aber  auf  Ihr  Versprechen,  daß  Sie  mir  sie 
nach  gemachtem  Gebrauch  zurückschicken,  und  hoffe  nicht  zu  lange  darauf 
zu  warten. 

Hätte  ich  gewußt,  daß  Ihre  liebe  gute  Frau  in  Hamburg  gewesen  ist, 
80  würde  mir  die  Augenweide,  der  Sie  erwähnen,  um  keinen  Preis  entgangen 
seyn.  Wie  mir  so  was  ins  Auge  fallen  müsse,  können  Sie  sich  ohne  große 
Schwierigkeit  denken  —  fast  möchte  ich  hinzusetzen,  wie  roth  meine  Augen 
auflaufen,  wie  wohl  und  wie  weh  mir  ums  Herz  dabey  wird!  mir  Annen, 
der  ich  den  Tertullian  und  alle  Kirchenväter  studire,  um  mich  mit  christ- 


Epulone  =  Speisemeister  der  Götter  (Priester). 


Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs  9 

lieber  Enthaltsamkeit  zu  waffnen.  Fallen  Sie  auf  Ihre  Knie,  Lieber,  und 
preisen  Sie  den  Vater  aller  Dinge,  indem  Sie  Ihr  Werk  betrachten.  Nur 
sagen  Sie  mir  kein  Wort  mehr  davon. 

Leben  Sie  wohl.  Bester,  und  lieben  Sie  Ihren  G. 

In  den  Questions  sur  TEncyclopedie  art.  Atheisme  lese  ich  folgende 
Stelle.  L'illustre  et  profond  Freret^  pp,  Non-Seulement  il  etait  persuade 
avec  St.  Imee  que  Jesus  etait  age  de  plus  de  50  ans,  quand  il  souffrit  le 
demier  supplice,  mais  il  croyait  avec  le  Targum  que  Jesus  n'etait  point  ne 
du  tem(p)s  d'Herode  u.  s.  w. 

Wenn  Sie  sich  erinnern,  was  mir  ehemals  für  Zweifel  über  eben  diese 
historische  Aufgabe  aufgestoßen  sind,  so  werden  Sie  sich  nicht  wundem, 
daß  ich  das,  was  Freret  darüber  geschrieben  hat,  mit  heißer  Begierde  zu 
lesen  wünsche.  Freret  ist  mir  aus  den  Abhandlungen  der  Academie  des 
inscriptions  als  einer  der  scharfsinnigsten  und  Wahrheitslieben sten  Alter- 
thumsforscher  bekannt,  und  ich  wüßte  nicht,  wenigstens  itzt  nicht,  was  ich 
nur  halb  so  gerne  lesen  möchte,  als  das  Buch,  worinn  er  die  obige  Materie 
abhandelt.  Sollten  Sie  das  in  Kiel  auffinden,  und  mir  auf  einige  bestimmte 
Tage  verschaffen  können,  so  würde  ich  Ihnen  sehr  dafür  danken. 

^''-  Altona  18.  Sept.  1787. 

Ich  habe  einen  Gedanken  auf  meinem  Herzen,  der  mich  seit  8  Tagen 
unaufhörlich  plackt  und  schnackt  und  zwickt  und  zwackt  —  Ich  muß  ihn 
einem  Freunde  zur  richterlichen  Prüfung  übergeben,  wenn  ich  Ruhe  haben 
soll:  und  wo  ist  wohl  ein  Freund  unter  der  Sonne,  an  den  ich  mich  bei  so 
gestellten  Sachen  besser  wenden  könnte,  oder  lieber  wenden  möchte,  als 
mein  guter  warmer  treubewährter  Gramer?  Wer  kennt  meine  Lage  nur  halb 
Bü  gut?  Wer  kann  sich  in  das  kleinste  Mezzotinto  dieser  trübseligen  Lage 
besser  hineindenken?  Wer  wünscht  mir  nur  halb  so  wohl,  als  Gramer?  Und 
wer  vermag  gerade  in  dem  itzigen  Fall  nur  halb  so  viel,  seys  durch  That 
oder  Rath,  als  dieser  Einzige? 

Heute  vor  acht  Tagen  wurd  ich  von  der  Frau  von  Broks  in  Ottensen 
auf  eine  ihrer  alten  Freundinnen  aus  der  Gegend  von  Kiel  zu  Gaste  gebeten, 
eine  Frau  von  Lilienkron,  die  seit  einem  halben  Jahre  Wittwe  ist,  die 
Schwester  eines  Major  Rumoser  in  Glückstadt,  eines  feinen  wohlredenden 
und,  wie  es  mir  schien,  auch  wohldenkenden  Mannes,  Bewohnerinn  und  Be- 
sitzerinn  des  Gutes  Bulk,  dem  Schewentor  gegenüber,  und  in  der  unmittel- 
baren Nachbarschaft  von  Eckhof  liegt:  näher  brauche  ich  sie  Ihnen  wohl 
nicht  zu  beschreiben.  Ob  ich  gleich  seit  zwey  Jahren  —  gewohnt  bin,  jeden 
aufsteigenden  Gedanken  an  eine  zweyte  Heirath  als  die  Versuchung  eines 
bösen  Geistes  zu  unterdrücken,  der  mir  seine  Krallen  schon  ein  paarmal 
verrathen  hat;  so  sehe  ich  doch  nicht,  was  mich  abhalten  könnte,  mich  (I) 
bey  einem  Freunde  wie  Gramer  Raths  zu  erholen,  den  ich  längst  als  einen 
guten. Genius  betrachte  —  ja  der  sich  mir  als  solcher  gerade  um  so  mehr 
bewähren  kann,  wenn  er  mich  durch  Abrathen  verhindert,  mich  zu  über- 
eilen. Nun  werden  Sie  aber  vor  allen  Dingen  zu  Avissen  verlangen,  was  ich 
für  Data  habe  zu  glauben,  daß  die  Frau  v.  L.,  die  doch  die  Fräsumption 
einer   reifen   Urtheilskraft   für   sich   hat,    sich   verleiten    lassen   könnte,    die 


>  Nicolas  Freret,  geb.  15.  Febr.  1688,  gest.  8.  April  1749. 


10  Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs 

Wünsche  eines  Mannes  zu  begünstigen,  der  sie  nur  ein  einzigesmal  in  ihrem 
Leben  gesehen  hat?  Der  kein  Landmann  ist?  Der  schon  ziemlich  tief  ins 
Alter  hineinrückt?  Dessen  acht  Kinder  allein  schon  ein  mächtiger  Einwurf 
sind,  wenn  ich  auch  alles  übrige,  worauf  eine  Holsteinische  Gutsbesitzerinn 
zu  sehen  pflegt,  aus  der  Rechnung  ausstreiche.  Werden  Sie  mich  nicht  für 
unsinnig  halten,  wenn  ich  Ihnen  gestehe,  daß  ich  kein  einziges  habe?  Nur 
so  viel  kann  ich  zu  meiner  Rechtfertigung  sagen:  sie  schien  die  Absicht  zu 
haben,  sich  wieder  zu  verheirathen ;  das  schloß  ich  aus  ein  paar  Äußerungen 
gegen  die  F(rau)  v.  C,  die  eigentlich  zuerst  meine  Aufmerksamkeit  erregte; 
sie  schien  mir  eine  Frau  zu  seyn,  mit  der  ich  S3'mpathisiren  könnte,  die  also 
aus  diesem  einzigen  Grunde  vielleicht  auch  mit  mir  sympathisiren  Avürde;  sie 
schien  eine  Kindei-freundinn  zu  seyn,  der  also  vielleicht  auch  meine  Kinder 
gefallen  könnten;  sie  schien  mir  etwas  Gerades  in  ihrem  Character  zu  haben, 
was  einer  sonst  vernünftigen  Heirath  wenigstens  keine  thörigten  Vorurtheile 
entgegen  setzen  würde.  Was  mich  aber  mehr  als  alles  übrige  ankörnt,  ist 
der  ähnliche  Fall  mit  Wickel,  den,  wie  Sie  vermuthlich  schon  wissen,  unsere 
gute  alte  Meta'  mit  samt  seinen  8  Kindern  und  mit  seinen  sämtlichen  Schulden 
heirathet,  ob  sie  gleich  ein  unabhängiges  Vermögen  von  40000  R  unsers 
Geldes  besitzt.  Ich  habe  doch  wenigstens  keine  Schulden,  habe  vielmehr 
noch  ein  Restchen  aufs  Trockne  zu  bringen ;  habe  Kinder,  die  sich  selbst  in 
der  Welt  fortarbeiten  können  und  sollen;  thue  gleich  im  Voraus,  so  förm- 
lich als  es  nur  irgend  verlangt  wird,  Verzicht  auf  alle  Real-Vortheile,  die 
mir  oder  den  Meinigen  aus  einer  solchen  Verbindung  erwachsen  könnten. 
Mein  einziger  Wunsch  in  dieser  Welt  ist,  eine  vernünftige  gutmüthige  Frau 
von  reifen  Jahren  zu  besitzen,  mit  der  ich  den  Überrest  meines  Lebens  in 
ruhiger  Unabhängigkeit  und  häuslicher  ländlicher  Glückseligkeit  verleben 
könnte.  Eine  solche  Frau  zu  finden,  wäre  sie  auch  eine  schlichte  mäßig  be- 
güterte Pastorswittwe,  halte  ich  für  das  Ideal  der  menschlichen  Glückselig- 
keit. Ich  halte  mich  fürs  Landleben  gebohren.  Ich  bin  mich  (!)  keines  Feh- 
lers oder  Gebrechens  bewußt,  wowider  eine  wirtschaftliche  Gattin  Einwen- 
dungen zu  machen  hätte.  Ich  kann  schreiben  und  rechnen,  auch  reiten  und 
fahren,  wenns  darauf  ankommt.  Ich  kann,  wenn  es  nöthig  ist,  einen  Schlüssel 
an  der  Tasche  tragen,  so  gut  Avie  ein  Andrer.  Ich  kann  mich  bey  Knechten 
und  Mägden,  bey  Bauern  und  Bauernvögten  in  Respekt  setzen.  Ich  kann 
früh  aufstehn,  früh  zu  Bette  gehn,  und  habe  Kinder,  die  das  auch  können, 
die  für  ein  stilles  so  gut  als  für  ein  thätiges  Leben  erzogen  sind,  die  nun 
recht  heranwachsen,  um  in  einer  Wirthschaft  auf  dem  Lande  gute  Dienste 
zu  thun.  Besonders  ist  mein  ältester  Sohn  Fritz  gewandt,  um  überall  Hand 
anzulegen ;  und  was  der  großen  Beweggründe  mehr  sind,  dich  ich  zu  meinem 
Behuf  anführen  könnte,  und  die  ich  bescheidentlich  mit  Stillschweigen  über- 
gehe. 

Aus  dem  bisher  gesagten,  liebster  Gramer,  werden  Sie  abgenommen 
haben,  was  ich  wünsche.  Es  ist  mir  nur  noch  übrig,  Ihnen  zu  eröffnen, 
was  ich  nicht  wünsche.  Ich  Avünsche  nicht,  in  dieser  Angelegenheit  einen 
ersten  Schritt  zu  thun,  ehe  ich  sicher  bin,  auch  alle  übrigen  thun  zu  können. 
Ich  wünsche  nicht,  ruchbar  zu  machen,  was,  Avenn  es  nicht  ausführbar  seyn 


1  Meta  Noodt,  geb.  Haake,  die  Schwester  von  Doris  Biester,  die  Job. 
Erich  Biester,  den  späteren  Herausgeber  der  'Berlinischen  Monatschrift',  ge- 
heiratet hatte.   Mit  den  Geschwistern  Haake  verkehrte  G.  viel  in  Lübeck. 


Ungednickte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenberga  11 

sollte,  besser  verschwiegen  bleibt.  Ich  Avünsche  nicht,  ohne  Ihren  Rath  und 
Willen  zum  Werke  zu  schreiten. 

Es  käme  nun  also  lediglich  darauf  an,  ob  Sie,  liebster  Gramer,  Gelegen- 
heit hätten,  über  diejenigen  mir  unbekannten  Umstände  unter  der  Hand  Er- 
kundigung einzuziehen,  die  Ihnen  entweder  zur  Beförderung  dieser  An- 
gelegenheit zuträglich,  oder  ihr  hinderlich  zu  seyn  scheinen  möchten.  Sie 
sehen,  ich  habe  es  hier  blos  auf  einen  verlohrenen  Versuch  angelegt,  in  den 
ich  mich  lieber  gar  nicht  einlasse,  wenn  Sie  mir  auch  nur  im  Allgemeinen 
davon  abrathen,  ohne  mir  Ihre  Ursache  zu  entdecken.  Was  nicht  geht,  kann 
man  nicht  kurz  genug  abthun.  Auch  bin  ich  an  dieser  Stelle  schon  so 
Avund,  daß  ich  mich  lieber  gar  nicht  damit  befaßte,  wenn  ich  nicht  Vorwürfe, 
die  ich  mir  in  meinem  und  meiner  Kinder  Namen  einmal  in  der  Folge  machen 
konnte,  noch  weit  mehr  fürchtete. 

Einen  Haupteinwurf  hätte  ich  beynah  vergessen,  den  ich  von  Seiten  des 
Anfangs  erwähnten  Majors  vorhersehe,  und  den  ich  nicht  früh  genug  weg- 
räumen kann.  Der  Major  hat  einen  hoffnungsvollen  Sohn,  (wo  ich  nicht 
irre,  studirt  er  itzt  in  Kiel,  oder  hat  da  studirt),  für  den  die  Fr(au)  v.  L. 
etwas  Jährliches  ausgesetzt  hat,  bis  er  ihrer  Hülfe  nicht  weiter  benöthigt 
seyn  wird.  Auf  den  glücklichen  Fall,  daß  sich  sonst  keine  Haupteinwürfe 
wider  mich  finden,  würde  ich  mich  frohen  Muths  erklären,  daß  ich  einer  so 
edlen  und  schwesterlichen  Gesinnung  auf  keine  Weise  entgegen  zu  arbeiten 
fähig  bin,  sondern  daß  ich  jede  andre  günstige  Disposition  zu  befördern 
suchen  würde,  die  der  Bruder,  oder  Avas  es  auch  sonst  seyn  mag,  im  Vor- 
wege aufs  Reine  gebracht  Avissen  wollte.  Doch  darüber  zu  seiner  Zeit  des 
Mehreren.'  Itzt  setze  ich  nur  noch  hinzu,  daß  Sie  auf  ewig  sich  verpflichten 
können  Ihren  G: 

18. 

Altona  4  Januar  1788. 

Wie  ich  Ihnen  vorigen  Umschlag  mit  meinen  kleinen  Angelegenheiten 
beschwerlich  fiel,  liebster  Gramer,  so  muß  ichs  auch  dießmal.  Ich  habe 
keinen  Freund  in  Kiel,  der  solche  Zumuthungen  abseiten  meiner  so  freund- 
schaftlich aufnähme,  Avie  Sie,  und  an  den  ich  mich  mit  einer  so  gegründeten 
Zuversicht  wenden  könnte.  Gegen  meine  hiebey  angeschlossene  Vollmacht 
nebst  den  hinzugefügten  Quittungen  ersuche  ich  Sie  also  260  R  grob  Gour. 
an  Zinsen  für  mich  zu  erheben,  und  mir  hierher  zu  übersenden.  Außerdem 
hat  Boie  ein  Gapital  von  2000  R  und  einigen  kleineren  Summen  an  mich 
auszuzahlen,  worüber  ich  Ihnen  näher  schreiben  werde,  sobald  die  diesfäl- 
ligen  Avisbriefe,  die  ich  noch  erwarte,  bey  mir  eingehen. 

So  Aiel  für  dießmal  von  Geldangelegenheiten.  Als  Füllsei  schicke  ich 
Ihnen  noch  einen  Bogen  theologischen  Inhalts,  wenn  Sie  etwa  geneigt  sind, 
einen  Blick  darauf  zu  werfen,  und  mir  Ihre  und  Ihres  Herrn  Vaters  Meynung 
darüber  zu  sagen.  Der  Aufsatz  ist  theils  durch  eine  Stelle  im  Gibbon,  theils 
durch  Beobachtungen  veranlaßt  worden,  die  sich  mir  hier  in  Altona  mehr 
als  anderswo  aufdringen.  Gibbon  trägt  Bedenken,  wie  Sie  sich  vielleicht 
erinnern,  der  Vernunft  irgend  eine  Idee  von  einer  Zukunft  nach  dem  Tode 
einruräumen.  —  Zukünftige  Dinge  kann  man  freylich  nicht  wissen;  man 
kann  aber  etwas  von  ihnen  meynen,  fürchten,  hoffen,  sogar  glauben:  und 
wenn  dieser  Glaube  in  die  Anlage  unsrer  Natur  selbst  vererbt  ist;  so  hat 

*  Aus  dem  Projekt  wurde  nichts. 


12  Uligedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs 

er  nicht  allein  Wahrscheinlichkeit,  sondern  Evidenz,  oder  vielmehr  subjektive 
Wahrheit,  wie  Kant  das  ausdrückt' 

Wenn  ich  dagegen  in  den  hiesigen  altchristlichen  Gemeinen  der  —  Quä- 
ker, Hermhuter,  Mennonisten,  u.  s.  w.  die  Lehre  von  der  Rechtfertigung,  der 
Freyheit  des  Willens,  der  Guadenwahl,  Berufung,  und  Vorherbestimmung 
genau  mit  eben  den  Worten  vortragen  höre,  wie  das  Tridentinische  Con- 
cilium  diese  Dogmen  des  Protestantismus  aus  Luthers  und  Zwingiis  Schriften 
herauszog  und  verdammte,  und  dann  bey  näherer  Untersuchung  das  wahre 
Fundament  derselben  im  N.  T.,  besonders  der  Briefe  des  Apostels  Paulus, 
ganz  unläugbar  wiederfinde,  so  sehr  sich  auch  Döderlein  -  bemüht,  es  zu  ver- 
bergen, und  durch  den  Staub,  den  er  darauf  schüttet,  undeutlich  zu  machen: 
so  weiß  ich  wieder  nicht,  was  ich  von  der  Wohlthätigkeit  eines  Glau- 
bens denken  soll,  den  meine  Vernunft  so  gern  ergriff,  und  der  nun  auf  ein- 
mal ein  ganz  ander  Ding  wird.  Nur  so  viel  sehe  ich,  daß  die  Leute,  die 
sich  mit  so  vielem  Eifer  in  jene  altchristlichen  oder  rein  evangelischen  Ge- 
meinen eindringen,  ihre  gute  Ursache  haben  müssen,  ihre  Beruhigung  lieber 
da,  als  in  unsrer  sich  orthodoxer  dünkenden  Hauptkirche  zu  suchen;  und 
diese  guten  Ursachen  klären  sich  bald  genug  auf,  wenn  man  hört,  was  das 
größtentheils  für  ein  sauberes  Völkchen  ist,  dem  des  Abends,  in  den  Winter- 
monathen  zumal,  jeder  Unbegnadigte  gern  drey  Schritt  vom  Leibe  bleibt. 
Wer  mit  bewundernswürdiger  Seelennihe  das  Handwerk  eines  Gaudiebes 
treiben  will,  thut  wohl,  seinen  Posten  unter  den  Auserwählten  einzunehmen. 
Da  kann  er  seinen  Zweck,  des  geistlichen  wie  des  leiblichen,  nimmermehr 
verfehlen;  und  wäre  ihm  allenfalls  ja  der  Galgen  prädestinirt,  was  ists  denn 
mehr?  er  hat  den  Himmel  da  oben  nur  desto  näher  —  ein  Katzensprung  für 
einen  Märtyrer,  der  den  rechten  Glauben  hat. 

Verzeihen  Sie,  liebster  Gramer,  ich  wollte  mich  nicht  gern  leichtsinnig 
über  eine  Sache  ausdrücken,  die  ich  sehr  ernsthaft  empfinde  und  begreife. 
Aber  helfen  Sie  mir  zurecht,  wenn  Sie  mich  auf  einem  Irrwege  zu  ertappen 
glauben.  Mein  Aufsatz  wird  Ihnen  das  übrige  sagen.  Nach  gemachtem  Ge- 
brauch sind  Sie  wohl  so  gütig,  ihn  mir,  so  wie  er  da  ist,  am  liebsten  mit 
einem  oder  einigen  Bogen  Ihrer  Randglossen  zurückzuschicken.  Ich  habe  hier 
Niemanden,  mit  dem  ich  mich  über  diese  Materie  unterreden  kann,  und  sie 
ists  doch  wohl  werth,  von  mehr  als  Einer  Seite  erwogen  zu  werden. 

Ich  hoffe  mich  deutlich  genug  erklärt  zu  haben,  daß  ich  Auferstehung 
von  Unsterblichkeit,  und  den  Glauben  an  jene  von  der  Sache  selbst,  aus 
Gründen,  die  ich  Ihnen,  wenn  Sie  es  verlangen,  umständlich  auseinander- 
setzen will,  unterscheide.  Die  Verwechselung  dieser  sehr  verschiedenen  Be- 
griffe hat  eine  Menge  Amphibolie  in  die  Hypothesen  der  Theologie  gebracht; 
und  unter  andern  den  guten  Warburton  ^  in  große  Verlegenheit  gesetzt,  da 
er  sich,  nachdem  er  den  Satz  in  allem  Ernst  angenommen,  daß  die  Juden 
des  A.  T.  keine  Auferstehung  zu  hoffen  hatten,  sondern  durch  die  Theo- 
kratie  selbst  alles  schon  für  sie  ausgeglichen  war,  in  die  komische  Unter- 
suchung verwickelt,  was  doch  wohl  aus  ihrer  unsterblichen  Seele  geworden? 
Was  die  Form  der  Sinnlichkeit  für  unsern  Verstand  ist,  das  ist  die  Form, 


1  'Vom  Meinen,  Wissen,  Glauben"  (Kritik  der  reinen  Vernunft). 

2  Joh.  Chr.  Döderlein,  der  berühmte  Jenenser  Theologe  (1746—1792). 

3  Der  Prälat,  Dichter  und  Schriftsteller  William  Warburton  (1698—1779), 
Verfasser  des  Buches  'The  divine  Legation  of  Moyses'. 


Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenberga  13 

unter  der  wir  übersinnliche  Gegenstände  von  Natur  denken,  für  unsre  Ver- 
nunft, Ich  hoffe,  daß  Kant  in  seiner  Moral, ^  die  auf  Ostern  herauskommt, 
viel  Licht  über  diese  große  Angelegenheit  des  sittlichen  Denkens  verbreiten 
svird,  wozu  er  in  seiner  Kritik  p.  keinen  Anlaß  hatte.  Was  die  Metaphysiker 
darüber  scriblen,  ist  des  Lesens  nicht  werth.  Kant  allein  hat  den  Scheide- 
weg zwischen  Dogmatismus  und  Skepticismus  gefunden;  und  wer  ihn  ver- 
steht, fürchtet  keinen  Zweifel  der  Klügelei  weiter,  sondern  fühlt  sich  erwärmt 
und  beruhigt  auf  immer. 

Von  meiner  Kopenh.  Affaire  weiß  ich  Ihnen  weiter  nichts  zu  schreiben, 
als  daß  die  Hoffnung  wegen  der  Bibl(iothek)  auf  nichts  hinausläuft,  und  daß 
man  mich  auf  etwas  andres  vertröstet,  womit  mir  mehr  gedient  seyn  soll, 
worüber  man  sich  aber  nicht  ausläßt. 

Was  haben  Sie  für  Nachrichten  von  Schulze?  ^  Wie  gefällt  er?  und  wie 
gefällts  ihm?  Hat  er  schon  eine  Oper  gegeben?  und  welche?  Was  macht 
Kunzen?  was  Zink?^  Ich  bin  sehr  begierig,  über  alle  diese  interessanten 
Dinge  etwas  umständliches  zu  erfahren. 

Mein  Sohn  in  Kopenh.  ist  in  seinem  exam.  rigoroso  so  gut  bestanden, 
daß  sie  ihn  zum  Lieutenant  bey  der  Artellerie  gemacht  haben.  Alle  loben 
ihn  sowohl  seiner  Aufführung  als  seines  Fleißes  wegen.  Auch  meine  hiesigen 
Kinder  machen  mir  viel  Freude.  Das  ist  der  Trost  meines  Lebens.  Ich  sehe, 
daß  ich  den  rechten  Weg,  sie  zu  Menschen  zu  machen,  getroffen  habe,  und 
resignire  mich  wegen  der  Zukunft  in  den  Willen  des  allwaltenden  Gottes. 

Empfehlen  Sie  mich  Ihrem  ganzen  theuren  Hause,  und  lieben  Sie  ferner 

Ihren  Gerstenberg. 

19. 

Altona  8  Januar  1788. 

0  mein  Bester!  mein  bester  geliebtester  Freund I  welche  unbeschreibliche 
Freude  hat  mir  Ihr  —  so  ganz  in  jedem  Laute,  jedem  leiseren  Nachklange, 
auf  mich  gestimmter  unschätzbarer  Brief  mir  gemacht!  So  was  bedurfte  ich! 
0  Gramer!  wie  liebe  ich  Sie!  Wie  drängt  sichs  in  meinem  Herzen,  Ihnen 
alles  alles  zu  sagen  —  Und  doch  kann  ich  kaum  zwey  halbe  Worte  lallen, 
wenn  dieser  Brief  noch  mit  der  Post  fort  soll,  da  ich  den  Ihrigen*  nur  einige 
Minuten  vor  Abgang  derselben  erhalte. 

Wie  freundschaftlich  sind  Sie  meinen  Wünschen  zuvorgekommen!  Ich 
sehne  mich  nach  einer  solchen  Verbindung  mit  Ihrem  Herzen,  und  trug  doch 
Bedenken,  es  zu  äußern. 

Heil,  Hermann!    Dir,  Heil,  Edlstan! 
Daß  Du  gebohren  bist: 

unsterblicher  Hüfte  Sohn!  Genius  von  Genius!  ein  Sachs!  ein  Angelsmann I 
und  —  dafür  bürge  Klopstock  und  (Gerstenberg)  —  ein  Christi  —  Also 
auch  Gerstenberg  —  Weg  mit  der  Parenthese  —  Ich  bürge  allerdings  für 
ihn.  Haben  Sie  nicht  den  Beweis  in  Händen?  Und  mich  auf  dieses  Docu- 
ments  Glauben  auserwählt.     Adsit  omen!     Ich  stehe  für  seinen  Glauben. 


^  'Kritik  der  praktischen  Vernunft',  1788. 

2  Wieder  Joh.  Abr.  P.  Schulz  gemeint. 

3  H.  0.  K.  Zinck  (1746—1832),   wirkte  von  1787  an  am  Kopenhagener 
Hoftheater. 

*  Nicht  erhalten. 


14  Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs 

0  daß  ich  den  lieben  Ankömmling  >  mit  dem  Kusse  meines  Mundes  segnen 
könnte!  wie  herzlich,  wie  inbrünstig  sind  alle  meine  Wünsche  für  ihn,  für 
seine  liebenswürdige  Mutter,  für  seinen  vortrefflichen  Vater  zum  Himmel 
gerichtet.     Und  wie  sehr  dankt  Ihnen  für  Ihre  liebevolle  Wahl 

Ihr  Gerstenberg 
Übermorgen  schicke  ich  Ihnen  Ihre  Flora  ^  mit  der  Hafens  Post  zurück. 
Ich  sehe  schon,  was  da  für  ein  Ohrenschmaus  duftet.     Und  dann  die  Ant- 
wort auf  den  übrigen  Theil  Ihres  freundschaftlichen  Briefes. 

-0-  Altona  10  Januar  1788. 

Sie  haben  eine  magische  Kraft,  mich  ans  Klavier  anzunageln,  was  ich 
sonst  nicht  einmal  anselm  mag,  wenn  auch  die  schönsten  Sachen  darauf 
liegen.  Da  hab  ich  nun  den  ganzen  Vormittag  von  8  bis  11  gesessen,  und 
in  eins  weggeklimpert,  daß  mir  die  Ohren  gellen,  quasi  vero,  als  wenn  Ihre 
Flora  fürs  Klimpern  gemacht  wäre!  Und  doch  bild  ich  mir  ein,  was  drinn 
steckt  in  dem  lieblichen  Kränzchen,  schier  so  genau,^  als  ob  ichs  selbst  hätte 
binden  helfen;  und  wüßte  nichts,  was  ich  draus  entbehren  möchte,  Blatt 
oder  Blume,  Grünes  oder  Buntes,  nicht  einmal  mein  eignes  Seyn  oder  Nicht- 
seyn :  so  wohl  thuts  meinem  Aug  und  dem  andern  Organ  —  'S  ist  ein  Werk 
der  Kunst,  solch  ein  Kränzle  zu  binden,  für  jede  Art  Nase  zu  sorgen, 
und  doch  etwas  hineinzuthun,  was  auch  wohl  die  feinste  Nase  nicht  drinn 
gesucht  hätte.  Das  Original-Verdienst  aber,  was  Sie  sich  dabey  erworben 
haben,  sind  Ihre  Einleitungen,  die  mir  ganz  außerordentlich  gefallen  —  be- 
sonders die,  wo  Sie  von  mir  reden,  —  wie  sichs  am  Rande  versteht.  Das 
Einleiten  ist  eine  so  herrliche  Erfindung,  daß  ich  sogar  wünschte,  Sie  hätten 
Ihre  Vorberichte  nicht  in  den  Vorbericht,  sondern  vor  jedes  Stück  insbeson- 
dere drucken  lassen.  Eine  einzige  Erscheinung  hat  mich  stutzig  gemacht: 
mein  Schlachtgesang.  Gerade  diesen  nämlichen  Schlachtgesang  habe  ich 
Kunzen  ganz  vor  kurzem,  mit  einigen  Veränderungen,  zugeschickt,  damit  er 
ihn  componiren  möchte,  und  mich  nicht  erinnert  —  was  mir  itzt  wieder 
dunkel  vorschwebt  —  daß  er  ihn  schon  einmal  componirt  hati  Was  Kunzen 
wohl  von  mir  denken  mag!  —  Bey  alledem  wärs  mir  doch  lieber,  er  hätte 
den  Text  componirt,  wie  ich  ihn  itzt  verändert  habe.  Es  liegt  nun  etwas 
drinn,  was  ihm  vielleicht  aufgefallen  seyn  würde,  wenn  er  sich  seiner  vorigen 
Composition  nicht  besser  erinnert  hätte,  als  mir  das,  zu  meiner  Beschämung, 
widerfahren  ist.  Ihre  Epistel  an  Augusta*  hat  großes  poetisches  Verdienst, 
und  noch  sonst  etwas,  was  mir  nicht  entgangen  ist.  Wie  sehr  beneide  ich 
Sie,  daß  Sie  ihr  so  was  zu  schreiben  hatten  I 

Und  doch  wahrhaftig  theuer  genug  erkauft,  wenn  Sie  das  heroische  Ver- 
gnügen, Ihre  Athalie  aufführen  zu  sehen,  durch  Schiffbruch  büßen  müssen. 
Ich  bin  ganz  erschrocken  über  die  Nachricht,  die  Sie  mir  in  Ihrem  scherz- 
haften Tone  davon  ertheilen:  der  Fall  war  mir  völlig  unbekannt.  Dank  Sei 
Gott,  daß  Sie  noch  mit  heiler  Haut  davon  gekommen  sind,  und  vertrauen 
Sie  sich  dem  Schindmeere*  (man  sagt  sonst  der,  wenn  der  Ritt  schlecht  aus- 

1  Gramer  hatte  Klopstock  und  Gerstenberg  zu  Paten  seines  Sohnes  ge- 
beten, den  er  nach  den  Helden  in  Klopstocks  'Hermann  und  die  Fürsten' 
und  Gerstenbergs  'Minona'  Hermann  Edelstan  nennen  wollte. 

2  Cramers  musikalische  Sammlung  erschien  zu  Kiel  und  Hamburg  1787. 

*  Ergänzen:  'zu  kennen'. 

*  Gräfin  Augusta  Bernstorff,  geb.  Stolberg  (Gustchen).       ^  Wortspiel. 


Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs  15 

fällt)  nicht  mehr  bej'  den  schlechten  Wegen  im  späten  Herbst  an,  wo  auch 
der  beste  Reiter  leicht  strauchelt.  Ein  einziger  Wind  reißt  ihm  ein  Loch 
ins  Geleise,  daß  man  hineinfällt,  und  oft  ^ar  das  Aufstehen  darüber  vergißt. 
Ich  bin  sehr  begierig  auf  Ihren  umständlichen  Bericht  von  sothaner  Begeben- 
heit, und  bitte  Sie  inständig,  mir  ihn  zu  communiciren. 

Noch  etwas  von  Wichtigkeit  mich  selbst  betreffend  lese  ich  in  Ihrem 
Briefe,  was  ich  auch  nicht  gewußt  habe.  Die  Absicht  ist  also,  mir  hier  ein 
Plätzchen  in  Altona  auszamitteln?  Ey!  für  die  Nachricht  dank  ich  Ihnen 
gar  sehr:  die  kommt  mir  überaus  wohl  zu  statten. 

Und  nun  zu  der  Materie,  die  das  A  und  0  alles  meines  itzigen  Denkens 
und  Strebens  ist,  wenn  sie  es  gleich  nicht  so  sehr  seyu  sollte.  Sie  haben 
mir  ganz  vortreffliche  Anmerkungen  darüber  geschrieben.  Mein  Herz  schlägt 
Ihnen  noch  einmal  so  stark  entgegen,  daß  wir  uns  auch  auf  diesem  Wege 
80  gevatterlich  rencontriren.  Sie  haben  sehr  Recht,  daß  man  sich  alle  fer- 
nere Untersuchung  ersparen  kann,  wenn  man  erst  den  Hauptsatz  weg  hat, 
daß  das  Ganze  nur  Menschenwerk  ist.  Aber  die  Frage  selbst  ist  eine  all- 
gemeine Angelegenheit  des  menschlichen  Geschlechts  geworden,  und  ehe 
man  dem  Zweifel  nicht  alle  seine  Schlupfwinkel  verstopft  hat,  kommen  doch 
zuviel  Augenblicke,  da  man  sich  vorwirft,  die  Untersuchung  nicht  bey  dem 
rechten  Ende  augefangen  zu  haben.  So  ist  es  z.  B.  Lessingen  gegangen, 
dessen  unruhiger  Scharfsinn  blos  darum  auf  so  viele  seltsame  Hypothesen 
und  theologische  Sophistereyen  verfiel,  weil  er  in  einer  Sache  von  solcher 
Wichtigkeit  nicht  vorsichtig  genug  verfahren  zu  können  glaubte.  Mir  scheint 
er  mehr  als  ein  halber  Schwärmer  gewesen  zu  seyn,  und  er  würde  gewiß 
noch  ein  zweyter  Tertullian  geworden  seyn,  wenn  er  länger  gelebt  hätte. 
"Der  Sohn  Gottes,  spricht  Tertullian,  ward  gekreuzigt:  schämt  euch  eures 
Glaubens  nicht;  denn  es  ist  der  unverschämteste  Glaube,  den  man  dem 
menschlichen  Verstand  aufdringen  kann.  Der  Sohn  Gottes  starb:  die  Sache 
ist  vollkommen  glaublich:  denn  sie  ist  ungereimt.  Der  Sohn  Gottes  ist  von 
den  Todten  auferstanden:  nichts  kann  unwidersprechlicher  seyn;  denn  es  ist 
unmöglich."  —  Räsonnirt  Lessing  nicht  meist  eben  so  über  die  Dreyeinig- 
keit?  Wer  ist  mehr  sicher,  seiner  eignen  Vernunft  zu  trauen,  wenn  man 
die  Trias  des  Plato  für  eine  göttliche  Offenbarung  annehmen,  und  vollends 
sie  demonstriren  zu  können  meynt?  Ganz  anders  denke  ich  über  all  diese 
Ideen,  wenn  ich  mich  in  ihre  Geschichte  hineinstudirt  habe;  wenn  ich  weiß, 
daß  Moses  viel  jünger  ist,  als  Pythagoras  und  die  alten  Traditionen  der 
Griechen,  Perser  p;  wemi  ich  weiß,  daß  die  Pharisäer  die  Prädestination, 
die  Mythologie  der  Aeonen,  die  Unsterblichkeit  in  ein  sehr  künstliches  und 
verworrenes  System  gebracht  hatten,  und  daß  Paulus  ein  Ex-Pharisäer  war; 
wenji  ich  weiß,  daß  die  Jüdischen  Ophiten  schon  vor  Christi  Geburt  ein 
Dogma  vom  Christus  hatten,  das  den  Keim  der  ganzen  nachherigen  Gnostik 
enthielt;  daß  die  Essäer  oder  Therapeuten  wahrer  Christ  vor  Christus  waren 
und  Johannes  der  Täufer  allem  Anschein  nach  selbst  zu  dieser  Sekte  ge- 
hörte, daß  die  Juden  erst  seit  ihrer  Verpflanzung  nach  Alexandrien  durch 
die  Griechen  selbst  veranlaßt  wurden,  sich  eine  Sammlung  von  Volks-Sagen 
und  alten  Chroniken  zu  machen,  mit  denen  sie  die  Griechen,  nach  ihrer  ge- 
wöhnlichen Art,  zu  überraschen  hofften;  daß  die  Septuaginta  vermuthlich 
keine  eigentliche  Übersetzung  sind,  und  daß  wenige  Jahre  vor  Christi  Ge- 
burt platonische  Pamphlets  in  den  Kanon  aufgenommen  wurden.  Und  doch 
würde  ich  mich  mit  allen  diesen  Tatsachen,   die  sich,  mehr  als  man  wohl 


16  Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs 

denken  sollte,  aufs  Reine  bringen  lassen,  noch  immer  nicht  sicher  genug 
glauben,  wenn  ich  mich  nicht  durch  Kanten  über  die  rechte  unverrückliche 
Gränze  alles  Wissens  hätte  verständigen  lassen,  wo  alles,  was  außer  der 
Natur  der  Dinge  ist,  seinen  angewiesenen  Platz  bekommt,  und  wo  mir  die 
Augen  über  meine  eignen  Begriffe  aufgehn.  Mit  diesem  Schlüssel  versehen 
finde  ich  mich  überall  zurechte,  und  freue  mich  einen  Zeitpunkt  erlebt  zu 
haben,  wo  der  Mensch  endlich  einmal  weiß,  was  er  weiß,  und  was  er  nicht 
weiß. 

Dagegen  aber  gestehe  ich  Ihnen,  daß  meine  Phantasie,  wenn  ich  wirk- 
lich etwas  von  der  Art  besessen  habe,  wie  Sie  mich,  und  unter  allen  meinen 
Freunden  Sie  allein,  fast  überreden,  Ihre  beste  Blüthe,  vermuthlich  auf  immer, 
verlohren  hat.  Es  ist  ein  schlimmes  Zeichen,  wenn  man  ein  gewisses  Inter- 
esse verliert;  und  ich  kann  es  mir  unmöglich  verhe(h)len,  daß  ich  in  diesem 
Falle  bin.  Wie  soll  ich  anfangen,  den  Attalus  zu  schreiben,  wenn  ich  nicht 
daran  denken  mag?  Und  Avie  erzwinge  ich  meine  Gedanken?  Dazu  kom- 
men noch  viele  andre  Ursachen  meiner  bisherigen  Stimmung,  die  ich  Ihnen 
vielleicht  nicht  einmal  zu  sagen  brauche.  Kurz,  liebster  Gramer,  ich  bin  mit 
nichts  mehr,  was  ich  gewesen  bin,  hoffe  aber  in  der  Hauptsache  so  zu  seyn, 
wie  man  in  meinen  Jahren  seyn  muß. 

Was  mir  aber  unbegreiflich  ist,  und  was  ich  mir  weder  in  der  Kanti- 
schen noch  in  der  gewöhnlichen  Natur  der  Dinge  zu  erklären  weiß,  sind  Sie 
selbst,  der  Sie,  bey  so  ganz  disparaten  Belustigungen,  quasi  aliud  agendo, 
wie  durch  eine  Art  von  Intuition,  zu  den  hellsten  Begriffen  emporgestiegen 
sind,  die  man  in  dergleichen  Sachen  nur  haben  kann.  Sie  glauben  eine 
Auferstehung,  und  sind  doch  dem  Materialismus  nicht  abhold:  das  heißt 
mit  andern  Worten,  Sie  bedenken  sich  vor  der  Seelenwanderung,  wie  die 
christl(iche)  Rel(igion)  sie  lehrt.  Oder  ist  die  Umwandlung  eines  Dumm- 
kopfs in  einen  Genius,  eines  menschlich  organisierten  Halbthiers  in  einen 
unmenschlich  organisierten  Halbgott,  der  Übergang  aus  einer  Erdenwelt  in 
eine  Licht-  oder  Feuer- Welt,  etwas  anders,  als  die  gröbste  Seelenwanderung, 
die  sich  nur  denken  läßt?  Die  erste  christliche  Kirche  glaubte  an  den  Ma- 
terialismus; nur  mit  dem  etwas  bedenklichen  Umstand,  daß  das  Gebiß  des 
Menschen,  seine  Zähne,  der  Knollen  wäre,  aus  dem  unser  Körper  weiter  aus 
dem  Grabe  aufwachsen  würde;  und  eben  der  vorbelobte  Tertullian  hatte 
diese  Zahnarzt-Theorie  auch.  So  fest  bissen  sich  die  Leute  in  die  Materie 
hinein,  die  unsre  heutigen  Philosophen  lieber  gar  aus  der  Welt  herausschaffen 
möchten;  eben  weil  sie  sich  nicht  sehr  orthodox  dünken.  —  Wie  haben  Sie 
es  doch  angefangen,  Sie,  der  Sie  in  der  Schule  der  Dogmatik  erzogen  sind, 
so  ganz  durch  eigne  Kraft  das  Joch  des  Dogmatismus  von  sich  abzuschüt- 
teln? Denn  daß  Sie  durch  Ihre  bloße  Leetüre  der  Genesis  mit  Moldenh(auer) 
zu  einer  solchen  Mannkraft  haben  gelangen  können,  die  mir  fast  ein  eben 
so  großes  Wunder  zu  seyn  scheint,  als  irgend  ein  Wunder  im  Moses  selbst, 
will  mir  nicht  ein.  Ich  habe  dergleichen  Wirkung  bey  Moldenh{auer)  nicht 
verspürt;  und  M.  ist  doch  wahrlich  ein  Kopf  von  nicht  gemeiner  Elasticität. 
Wie  dem  aber  auch  sey,  so  freue  ich  mich  doch  sehr,  eine  Qualität  an  Ihnen 
zu  kennen,  die  Sie  sehr  unrecht  gehabt  haben,  unter  Ihre  qualitates  occultas 
zu  verschließen.  Hätte  ich  das  gewußt,  so  würde  ich  Sie  mit  meinen  Thesi- 
bus  gewiß  nicht  heimgesucht  haben.  Ich  erwartete  ein  Responsum,  wie  von 
einer  theologischen  Facultät:  und  erhalte  ein  Scriptum,  was  ich  mit  beiden 
Händen  unterschreibe,  und  was  keine  theologische  Facultät  in  Europa  mir 


üngedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs  17 

zu  geben  im  Stande  gewesen  wäre.  Wie  sehr  habe  ich  Sie  verkannt I  und 
wie  lange! 

Einen  solchen  Übersetzer  mußte  der  Emil  *  haben  —  oder  gar  keinen. 
Sie  werden  dem  ehrlichen  Savoyarden  endlich  einmal  die  Gerechtigkeit  wider- 
fahren lassen,  deren  er  lange  hat  entbehren  müssen ;  und  wären  reich  genug, 
ihm  noch  viel  von  Ihrem  Eignen  zu  geben,  wenn  die  Kost  nicht  für  unser 
itziges  Jahrhundert  noch  zu  stark  wäre.  Ich  bin  neugierig  zu  sehen,  wie 
Sie  sich  bey  einer  so  delikaten  Aufgabe  nehmen  werden:  der  Wahrheit 
nichts  zu  vergeben,  und  sie  zugleich  durch  Weisheit  zu  fördern.  Denn  daß 
Sie  das  Glaubensbekenntniß  ohne  alle  Anmerkung(en)  in  die  Welt  schicken 
sollten,  erwarte  ich,  nach  dem  Glaubensbekenntniß,  was  Sie  mir,  Ihrem  ehr- 
würdigen Gevatter,  abgelegt  haben,  freylich  nicht.  Nur  Eins,  Lieber,  bitte 
ich  Sie:  schonen  Sie  des  zarten  Glaubens  um  Eures 2  Hermann  Edlstan!  und 
erinnern  Sie  sich  meiner  Bürgschaft! 

Was  Sie  für  ein  Starrkopf  sind!  Aller  meiner  Warnungen  ungeachtet 
fahren  Sie  doch  fort,  sich  noch  immer  mit  dem  schottischen  Mädchen,  mit 
der  Minona!  zu  verzetteln  —  denken  nicht  darann,  wie  sehr  Sie  Ihren  guten 
Namen  aufs  Spiel  setzen  —  geben  der  Welt  und  sogar  der  Nachwelt  ein 
öffentliches  Scandal  —  und  wollen  durchaus  Ihrem  eignen  Sinn  in  einer 
Sache  folgen,  die  doch  ganz  allein  vor  den  Richterstuhl  des  common-sense 
gehört,  der  schon  gerichtet  hat!  Und  wozu  das  Alles?  Traun,  ich  wollte, 
Sie  wären  der  Vater  von  dem  ungerathenen  Kind,  und  sähen  es  nur  ein 
einzigesmal  mit  meinen  Augen  an.  Sie  würden  so  viel  Aufhebens  nicht 
davon  machen. 

Ach  welch  ein  ganz  ander  Ding  ist  ea,  so  einen  Hermann  Edlstan  zu 
produciren,  als  zehn  Minonen!  Nehmen  Sie  sich  in  Acht,  daß  ich  Ihnen 
nicht  einmal  Vorlesungen  über  Ihren  Edlstan  schreibe,  wie  Sie  über  meine 
Minona;  und  sehen  Sie  sich  wohl  vor,  was  Sie  für  ein  Exempel  statuiren. 

Und  hiermit,  lieber  Herr  Gevatter,  liebe  Frau  Gevatterinn,  empfiehlt  sich 
Ihrer  ferneren  Wohlgewogenheit  Ihr  dankbarer  G. 

Auf  das  Geld  von  Boie  brauchen  Sie  nicht  zu  warten:  er  wird  es  mir 
hierher  schicken. 

21. 

Altona  22  Januar  1788.3 

Ihr  freundschaftvoller  Brief,  mein  bester  Gramer,  drängt  mich  zu  sehr 
als  daß  ich  ihn  nur  eine  Minute  unbeantwortet  lassen  könnte.  Was  Sie  mir  von 
B(emstorffs)  und  S(chimmelmanns)  Gesinnungen  schreiben,  erschreckt  mich. 
Ich  habe  nicht  geglaubt,  in  dem  Ruf  eines  indolenten  Menschen  zu  stehen,  für 
den  man  durch  eine  Sine-cure  sorgen  muß,  und  der,  seiner  Unthätigkeit  wegen, 
nicht  einmal  zur  Aufsicht  über  eine  Bibliothek  taugte.  Wenn  ich  ein  Amt  suche, 
80,  dächte  ich,  wäre  das  schon  Beweis  genug,  daß  ich  thätig  zu  seyn  verlange: 
und  ich  suche  das  nicht  als  Neuling,  den  man  etwa  nur  seiner  ehemaligen 
litterarischen  Produkte  wegen  begünstigen  sollte,  sondern  als  vieljähriger 
Geschäftsmann.    Wenn  B.  nicht  glaubte,  daß  ich   dieser  einzigen  Rücksicht 

'  Rousseau.       *  Fraglich. 

'  Bis  auf  den  letzten  Absatz  mit  roter  Tinte  unterstrichen  und  an  einigen 
Stelleu  korrigiert,  nicht  von  Gerstenbergs  Hand,  sondern  von  der  des  Emp- 
fängers. Cr.  schickte  die  Briefe  an  Bernstorff.  Zwischen  Nr.  20  und  21  ein 
Brief  Cramers  vom  18.  Januar  1788. 

Aix-hiv  f.  n.  Sprachen.     110.  o 


18  Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs 

wegen  eine  Wiederanstellung  verdiente,  so  weiß  ich  nicht,  wie  er  mir  in 
Gegenwart  seiner  ganzen  Familie  sagen  konnte,  ich  sollte  statt  aller  anderen 
Gründe  meines  Memorials  nur  den  allein  anführen,  daß  meine  ehemaligen 
Vorgesetzten  meine  Brauchbarkeit '  anerkannten,  und  daß  dem  Staat  mit  mir 
gedient  seyn  könne.  Es  ist  B(ernstorff3)  Art  nicht,  Jemanden  zu  verhöhnen, 
und  ich  muß  also  vermuthen,  daß  er  mit  den  vielen  Lobeserhebungen,  die 
er  mir  noch  außerdem  über  meine  Brauchbarkeit  machte,  etwas  geraeynt 
habe.  Auch  S(chimmelmann)  beklagte,  daß  ich  meinen  Posten  in  Lübeck  ver- 
lassen hätte;  und  die  Ursache  war,  nicht,  weil  ich  selbst  darunter  litte,  son- 
dern weil  man  keinen  guten  Tausch  getroffen  zu  haben  meynte.  Ich  bilde 
mir  ein,  in  Lübeck  sowohl  als  in  Kopeuh(agen)  denjenigen  Grad  der  Arbeit- 
samkeit gezeigt  zu  haben,  der  der  Absicht  entspricht.  Daß  ich  keine  Bücher 
seit  zwey  Jahren  habe  drucken  lassen,  beweist  noch  nichts  für  Indolenz; 
und  es  sollte  mir  leid  thun,  mit  Claudius  in  Eine  Classe  gesetzt  zu  werden. 
Ich  habe  im  vorigen  Jahr  allein  8  Fascikeln  zusammen  geschrieben  —  nicht 
abgeschrieben,  die,  wenn  sie  gedruckt  werden  sollten  oder  könnten,  einen 
Quartband  von  8  bis  900  Seiten  engen  Drucks  ausmachen  würden.  Es  ist 
ein  großes  Unglück  für  mich,  daß  man  meine  Nichtpublicität  mit  einem  wirk- 
lichen Abscheu  vor  der  Arbeit  verwechselt.  Man  setze  mich  nur  in  Arbeit, 
und  zwar  nicht  als  Buchhändler,  sondern  als  Staat.  Jene  Rücksicht  ist  hier 
ja  ganz  außer  der  Frage.  Lieber  Gott,  was  hat  man  denn  diese  ganze  Zeit 
her  damit  sagen  wollen,  daß  man  mir  bald  diese  bald  jene  Stelle  anbiethet, 
die  man,  wie  man  ausdrücklich  versichert,  mir  nur  blos  darum  nicht  wirk- 
lich ertheilt,  weil  man  noch  eine  Bessere  für  mich  auszufinden  hofft.  Hätte 
man  den  Zweck,  mir  gar  keine  zu  geben,  so  begreife  ich  nicht,  warum  man 
mich  mit  eitlen  Hoffnungen  hintergehen  sollte.  Und  wie  soll  ich  Münters* 
Briefe  erklären,  wenn  auch  er  dafür  hält,  daß  alle  diese  Versprechungen  auf 
nichts  hinauslaufen,  und  daß  ich  unter  irgend  einer  unheilbaren  Influenz 
kränkle,  bey  der  seine  bisherigen  freundschaftlichen  Verwendungen  nicht 
einmal  anschlagen  konnten?  Wenn  das  seine  Meynung  gewesen  ist,  so  hat 
er  sich  nicht  blos  dunkel,  sondern  unrichtig,  ausgedrückt. 

Ich  danke  Ihnen  aber,  mein  Bester,  mit  meinem  heißesten  Danke  für 
das  Licht,  was  Sie  mir  über  meine  gegenwärtige  Lage  aufstecken,  und  ich 
will  es  so  gut  zu  nutzen  suchen,  als  ich  kann. 

Die  Zeit  ist  mir  zu  kurz,  den  übrigen  Theil  Ihres  äußerst  interessanten 
Briefes  zu  beantworten.  Das  Geld  habe  ich  richtig  erhalten.  Sie  haben  wohl 
gethan,  daß  Sie  den  Komödiennamen ^  aufgeopfert  haben:  es  ist  ja  nur  ein 
Name.  —  Meine  theologischen  Bogen  vergessen  Sie  ja  nicht  mir  zurück- 
zuschicken.   Ich  umarme  Sie,  ganz  und  immer  Hu-  q, 

22.*  Altona  [5.  Jan.  90] ' 

Sie  sind,  selbst  in  Ihrem  Unmuth,  in  der  Bitterkeit  Ihres  Widenvillens, 
ein  80  lieber  guter  Mann,  daß  ich  keine  Mühe  für  verlohren  halte,  die  ich 

^  Hier  findet  sich  ein  Stern  mit  der  Anm. :  'Anmerkung  S.  p.  66'  [des 
Memorials,  das  Gramer  zur  Verteidigung  G.s  schrieb?    Siehe  Brief  Nr.  23J. 

2  Balthasar  Munter,  mit  dem  G.  in  Kopenhagen  befreundet  wurde. 

2  Unverständlich,  worauf  sich  dies  bezieht. 

*  Zwischen  Nr.  21  und  22  liegen  sieben  Briefe  Cramers. 

^  Das  Datum  fehlt,  geht  aber  aus  einer  späteren  Stelle  des  Briefes  her- 
vor; am  Kopf  steht  von  Cramers  Hand:  10.  Jan.  erhalten  90. 


Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs  19 

mir  gebe,  um  meinen  Gramer  zu  einer  besseren  Meynung  von  seinem  alten 
Freunde  Gerstenberg  zu  bewegen.  Guter  Gott!  was  ist  menschliche  Über- 
zeugung für  ein  Ding,  wenn  Gramer  schreiben  kann  —  „Was  soll  ich  thun? 
Mir  die  Augen  verfinstern,  mir  sagen:  Du  irrst,  wo  ich  überzeugt  bin,  nicht 
zu  irren?"  — 

Überzeugt?  Sie,  der  Sie  nicht  einmal  wissen  —  nicht  einmal  hören 
wollten  —  was  ich  denn  eigentlich  vorhabe?  Sie,  der  Sie  in  dem  Augen- 
blick, da  ich  Sie  au  fait  zu  setzen  meynte,  mich  mit  der  kurzen  Antwort 
abfertigten:  Sie  müßten  mir  gerade  heraus  sagen,  daß  Ihnen  alles  Spekulative 
höchst  zuwider  wärel  Sie,  der  Sie,  anstatt  sich  ein  paar  Seiten  von  mir 
vorlesen  zu  lassen,  mich  damit  vertrösteten,  daß  Sie  mir  gelegentlich  etwas 
von  sich  zu  lesen  geben  wollten,  woraus  ich  Ihre  Meynung  über  dergleichen 
Spekulationen  umständlicher  vernehmen  sollte! 

Und  nun,  ohne  eine  Sylbe  von  der  ganzen  Sache  begriffen  zu  haben, 
mit  einem:  „Sie  haben  einen  zu  transcendenten  Geist,  als  daß  meine  plane, 
auf  erfindenden  Genius  anspruchlose,  Vernunft  in  dem  starken  Gewebe  Ihrer 
Begriffe  Veränderung  wirken  sollte"  —  über  mich  herzufahren! 

Erlauben  Sie  mir,  Ihnen  wenigstens  den  Titel  meines  Buches  herzusetzen. 
Er  heißt:  Euphron;  oder,  der  gesunde  Menschenverstand  gerechtfertigt  durch 
die  neue  deutsche  Originalphilosophie.  ^ 

Darf  ich  noch  zwey  Worte,  statt  eines  Coramentars  über  diesen  Titel, 
hinzusetzen?  —  Der  ganze  Zweck  meines  Buchs  geht  dahin,  zu  zeigen,  daß 
der  plane,  auf  erfindende  Metaphysik  anspruchlose,  Menschenverstand  von 
jeher  über  die  vielen  ungereimten  Streitfragen  der  Spekulation  richtiger  ent- 
schieden habe,  als  die  ganze  Dialektik  der  Metaphysiker,  Hume  sowenig  als 
Leibnitz  ausgenommen.  Ich  gehe  die  sämtlichen  metaphysischen  Streitpunkte 
(bis  auf  die  theologischen,  über  die  ich  ein  tiefes  Stillschweigen  beobachte) 
nach  der  Reihe  durch,  und  zeige  deutlich,  warum  sie  auf  die  gesunde  Ver- 
nunft des  eigentlich  so  zu  nennenden  großen  Publikums  eingewirckt  haben, 
noch  wirken  konnten;  warum  Sie,  und  ich,  und  jede  plane  anspruchlose 
Vernunft  allem  diesem  Gerede  blos  ein  ungläubiges  Kopfschütteln,  ein  un- 
überwindliches Achselzucken,  entgegensetzten;  und  wie  es  zuging,  daß  wir 
Recht  hatten. 

Diesen,  meines  Erachtens  nicht  ganz  uninteressanten  Inhalt  suche  ich 
in  einer  Sprache  abzuhandeln,  die  das  gerade  Gegentheil  der  metaphysischen 
Kunstsprache  ist;  in  einer  Sprache,  wie  ich  meyne,  daß  man  über  dergleichen 
Gegenstände  fürs  Publikum  schreiben  muß;  und  von  der  ich  hoffe,  daß  auch 
die  Bemstorfin  sie  lesbar  finden,  und  der  plane  Menschenverstand  sie  mir 
als  eine  Art  von  Verdienst  anrechnen  werde. 

Ihre  Unzufriedenheit  mit  dem  Plane  meines  Buchs  (von  dem  Sie,  wie 
Sie  nun  wohl  selbst  finden  werden,  gar  keine  Idee  gehabt  haben),  rührte 
vermuthlich  von  der  Voraussetzung  her,  daß  ich  gescheidter  thäte,  wenn 
ich,  unter  den  bewußten  Umständen,  lieber  etwas  schriebe,  wovon  man  in 
Kopenh(agen)  Notiz  nehmen  könnte  —  z.  E.  einen  Attalus  —  Als  ob  wir 
nicht  beide  wüßten,  daß  sogar  die  Augusta  unter  den  Kopenhagenschen 
Augusten  erst  an  die  Existenz  meiner  Minona  erinnert  werden  mußte  — 
Wahrhaftig,  ich  müßte  von  meinen  bisherigen  Arbeiten  ganz  entgegengesetzte 
Erfahrungen   gemacht  haben,   wenn   ich   mir  einbilden   wollte,   ich   könnte, 


*  Nie  erschienen. 


20  Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs 

dürfte,  und  müßte  schlechterdings  nur  so  schreiben,  wie  ich  unter  den 
Auspicien  meiner  Freunde  zu  schreiben  pflegte.  Um  des  Himmels  willen, 
lieber  Gramer,  lassen  Sie  sich  ein  Avenig  herab,  die  ganze  Welt  nicht  immer 
aus  Ihrem  eignen  Standpunkte  zu  beurtheilen.  Und  wenn  Sie  Ihre  Invek- 
tiven  gegen  meine  künftige  Autorschaft  niederschreiben,  so  behalten  Sie  sie 
wenigstens  so  lange  zurück,  bis  Sie  durch  den  Augenschein  überführt  sind, 
daß  ich  sie  verdiene.  In  der  Lage,  worinn  Sie  sich,  laut  meiner  obigen 
Deduktion,  in  Absicht  auf  meine  gegenwärtige  Unternehmung  befinden, 
können  Sie  unmöglich  competenter  Richter,  viel  weniger  competenter  An- 
kläger, seyn;  und  Sie  ersparen  sich  und  mir  eine  unangenehme  Stunde,  wenn 
Sie  mir  gar  nicht  mehr  von  der  Art  schreiben. 

Um  also  auch  meinerseits  sogleich  —  und  gebe  Gott!  auf  immer,  auch 
Ihrerseits  —  von  dieser  geschmack-  saft-  und  kraftlosen  Materie  abzu- 
brechen — 

Ich  habe  es  sehr  bedauert,  daß  Sie  hier  nicht  zugegen  waren,  als  die 
große  Einführungsmusik  des  neuen  Musikdirektors  Schwenke  ^  in  Hamburg 
aufgeführt  wurde.  Es  war  in  der  That  eine  Musik  von  hohem  Charakter, 
die  dem  größten  Meister  Ehre  machen  würde.  Auch  Claudius  fand  alle  seine 
Erwartungen  übertroffen.  Einen  solchen  Chor,  wie  der,  womit  die  Cantate 
anfängt  und  schließt,  wüßte  ich  kaum  gehört  zu  haben:  so  feyerliche,  seelen- 
erhebende Anbetung,  so  innige  Accente  der  tiefsten  Rührung!  ein  Adagio 
in  äußerst  lang  ausgehaltenen  Noten,  zwischen  denen  die  erhabensten,  die 
ausdruckvollsten  Harmonieen,  wie  die  ersten  Stra(h)len  der  Sonne  aus  dem 
Bett  der  Morgenröthe,  hervorbrechen.  Und  das  Ganze  —  sehr  viel  könnte 
ich  Ihnen  davon  sagen:  ich  will  aber  Ihrer  eignen  Bemerkung  nicht  vor- 
greifen, da  das  Stück  hoffentlich  bald  in  Partitur  erscheinen  wird. 

den  5.  Jan.  1790. 
Meine  diesjährigen  Umschlagsgeschäfte,  welche  Sie  die  Güte  haben  wollen 
für  mich  zu  übernehmen,  bestehen  in  Folgendem: 

1)  der  Landschaft  Norddithmarschen  habe  ich  ein  Capital  von  Ein- 
tausend Rthl  aufgekündigt,  welche  Ihnen  der  Landspfenningmeister  Knolk, 
nachdem  die  Loskündigung  von  ihm  Namens  der  Landschaft  gehörig  accep- 
tirt  worden,  gegen  Retradiruug  der  Original-Obligation  überliefern  wird. 

2)  die  besagte  Original-Obligation  d.  d.  1786  befindet  sich  itzt  in  den 
Händen  unsers  gemeinschaftlichen  Freundes  Herrn  Groll  zu  Lübeck,  der  sie 
Ihnen,  seinem  mit  der  nächsten  Freytagspost  an  Sie  abgesandten  avis  Briefe 
zufolge,  gegen  den  12.  2.  ^  dieses  an  Ort  und  Stelle  zur  Einlösung  produciren 
lassen  wird. 

3)  Sie  haben  also  die  Güte,  dem  Producenten  der  Obligation  und  dem 
Landspfennigmeister  eine  Stunde  zu  bestimmen,  da  beide  bey  Ihnen  zu- 
sammenkommen, und  der  letztere  Ihnen  gegen  den  Empfang  der  mehrbesagten 
Obligation  das  Capital  von  1000  R  nebst  40  Rthl  Zinsen  in  Preis-Münze  aus- 
zahlt, wogegen 

4)  der  Lübecksche  Mandatorius  (Producent  der  Obligation)  von  diesem 
ausgezahlten   Capital  eine  Summe  von  516  Reich  sthalern  32  in  eben  der 


»  Christ.  Fr.  Gottl.  Schwenke,  geb.  30.  August  1767,  f  28.  Okt.  1822 
in  Hamburg,  wo  er  nach  Bachs  Tode  Kantor  und  Musikdirektor  wurde. 
2  Datumbezeichnung  undeutlich. 


Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs  21 

Münze  empfängt,  in  welcher  Sie  die  1040  Th  erhoben  haben,  und  Ihnen  den 
Empfang  durch  seine  Quittung  bescheinigt: 

5)  den  Rest  dieser  Norddithmarsischen  1040  Th  haben  Sie  hienächst  die 
Güte,  mir  hieher  nach  Altona  zu  übersenden. 

6)  Außerdem  empfangen  Sie  an  Zinsen  von  der  Landschaft  Süderdith- 
marschen  180  Th  Species  oder  grob  Courant,  die  ich  mir  zugleich  mit  dem 
Reste  von  5  erbitte. 

7)  die  hiebey  folgenden  Quittungen  werden  Sie  beliebigt  an  die  Behörde 
abgeben. 

8)  Zugleich  lege  ich  die  Vollmacht  für  Sie  wie  gewöhnlich  bey 

Und  bin,  wie  immer,  tl  r.     j      ^      ^      j.    t_ 

'  '  Ihr  verbundenster  Gerstenberg 

^^-  Altona  8  Febr.  1790. 

Darf  ich  Ihnen  gestehen,  mein  theurer  Gramer,  daß  Ihr  Meisterstück 
eines  Briefes  mir  wie  eine  wunderschöne  Sonate  vorkommt,  die  mit  Allegro 
furioso  anfängt,  in  Adagio  mesto  e  sostenuto  übergeht,  und  mit  Minuetto 
grazioso  beschließt.  Wie  soll  ichs  anfangen,  von  meinen  eignen  Empfin- 
dungen Rechenschaft  zu  geben?  Ihr  Allegro  zerreißt  mir  das  Herz,  Ihr 
Adagio  preßt  mir  Thränen  aus ;  und  Ihr  Minuetto  müßte  mich  tanzen  machen, 
wenn  mir  das  Allegro  nicht  die  Fußflügel  gelähmt  hätte.  Es  ist  unmöglich, 
einen  Brief,  wie  diesen,  zu  beantworten.  Ich  halte  mich  an  das  Grazioso 
desselben,  und  ob  ich  Dmen  gleich  nichts  Graziöses  zu  erwidern  weiß,  so 
rechnen  Sie  sicher  auf  mein  Gratias  — 

Wäre  ich  in  Kop(enhagen)  zugegen  gewesen,  als  Sie  sich  anschickten, 
Ihr  großes  Memoire  an  B(em8torff)  abzufassen,  so  würde  ich  Sie  inständig 
gebeten  haben,  B.  ja  nichts  von  der  Art,  —  wenigstens  nicht  über  mich,  — 
zu  sagen.  Die  Ursache  werden  Sie  jetzt  wohl  errathen:  wenigstens  schließe 
ich  aus  der  Stelle,  wo  Sie  die  Erfolge  für  Sie  selbst  erwähnen,  daß  Sie  sich 
bey  meinem  uneigennützigen  Rathe  nicht  übel  befunden  haben  würden. 
Davon  aber  abstrahiert  (denn  was  geschehen  ist,  läßt  sich  nicht  ändern) 
wie  war  es  wohl  möglich,  daß  ich  den  Genius  der  Freundschaft  und  des 
Wohlwollens  verkennen  könnte,  der  Ihre  Feder  in  diesem  mir  so  unschätz- 
baren Excerpten  geführt  hat?  Sie  haben  mich  mit  Wärme,  mit  mehr  als 
Wärme  vertheidigt.     Meine  ganze  Seele  dankt  Ihnen  dafür. 

Nebenher  sehe  ich  freylich  auch  daraus,  daß  man  mich  gewürdigt  hat, 
sich  weit  mehr  mit  mir  zu  beschäftigen,  als  ich  mir  je  hätte  träumen  lassen 
können.  Man  hat  sogar  ana  von  mir  gesammelt,  die  wohl  füglich  äneries 
heißen  könnten,  wenn  sie  auf  mein  Conto  kämen.  Der  Stuhl  z.  E.,  den  ich 
für  mich  in  der  Schreibstube  auf  der  Kammer  habe  setzen  lassen,  steht  noch 
da;  mein  Nachfolger  i  bedient  sich  seiner,  wo  ich  nicht  irre,  ohne  Bedenk- 
lichkeit noch  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Man  geruhe  ihn  in  Augenschein 
zu  nehmen:  es  ist  kein  Lehnstuhl,  sondern  ein  Stuhl,  wie  andre  Stühle,  nur 
nicht  so  hoch,  wie  der,  den  ich  da  vorfand,  und  auf  dem  mir  immer  die 
Knie  schliefen  —  0  wehl  o  wehl  was  giebt  es  für  Menschenkinder!  —  Und 
war  es  nöthig,  daß  ein  Mann  wie  Gramer  mich  vor  Männern  vertheidigen 
mußte? 

Verzeihen  Sie  mir.  Liebster,  daß  ich  Ihnen  in  dieser  Art  zu  vertheidigen 
nicht  nachahmen  kann.    Nicht  einmal  gegen  das  erste  Allegro  Ihrer  Sonate 


Es  ist  wohl  von  Kopenhagen  die  Rede. 


22  Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenberga 

will  ich  mich  zur  Wehre  setzen.  Ich  überlasse  das  Recantat  ganz  den  zarten 
Saiten  Ihres  eignen  Herzens,  Sie  dürfen  die  Stellen  meiner  vorigen  Briefe, 
die  das  Tosen  Ihrer  Leidenschaften  zu  einer  solchen  Höhe  hinangetrieben 
haben,  nur  einmal  bey  guter  Laune  wieder  überlesen,  so  werden  Sie  bald  auf 
die  Vermuthung  gerathen,  daß  hinter  allen  jenen  Wolken  Ihrer  vorigen  Laune 
auch  nicht  einmal  der  Schatten  Ihres  G.  verborgen  gewesen  ist.  Ihr  G.  ist 
kein  Rousseau,  kein  Großvezier  des  Sultans  Kant,  kein  Abstractum  der 
Metaphysik,  und  so  weiter.  Ich  bin  kein  Narr,  daß  ich  gesagt  hätte,  kein 
Mensch  verstünde  Kanten,  als  ich.  Sie  müssen  nicht  recht  zugehört  haben. 
Wirklich  ich  bin  kein  Narr. 

Ich  bin  kein  Narr,  daß  ich  der  Metaphysik  wegen  Klopstocken  vernach- 
lässigte. Wirklich  ich  bin  unschuldig  an  dem  Zwiste  mit  Klopstock.  Wirk- 
lich ich  bin  kein  Narr. 

Mit  der  einzigen  Stelle,  die  Ihre  Empfindlichkeit  am  meisten  rege  ge- 
macht hat,  muß  ich  aber  doch  eine  Ausnahme  machen.  Ich  bat  meinen 
Freund,  mir  meine  Fehler  (deren  ich  ja  wohl  so  gut  wie  andre  Menschen 
habe)  allein  zu  sagen  —  nicht  andre  Freunde  zu  Vertrauten  derselben  zu 
machen.  Diese  Bitte  war  so  wenig  hämisch  gemeynt,  daß  ich  sie  noch  itzt 
wiederhole.  An  bösen  Willen  von  Ihrer  Seite  ist  gar  nicht  zu  denken. 
Man  ist  aber  bey  übler  Laune  nicht  immer  vorsichtig  genug  in  seinen  Reden, 
um  das  semper  aliquid  haeret  zu  verhüten;  und  bey  der  Offenheit  Ihres  Cha- 
rakters ist  es  wahrer  Dienst  eines  Freundes,  Sie  an  diese  und  ähnliche 
Maximen  je  zuweilen  wieder  zu  erinnern. 

Auf  das  Exemplar  Ihres  Montaigne  hätte  ich  lange  warten  können.  Ich 
glaubte  steif  und  fest,  daß  ein  Buchhändler  Goren,  den  ich  nicht  die  Ehre 
hatte  zu  kennen,  auf  seiner  Durchreise  durch  Altona  mich  damit  erfreuen 
würde.  Aus  Ihrer  itzigen  Anzeige  sehe  ich,  daß  der  Buchh(ändler)  Raven 
gemejTit  war,  und  daß  Sie  mir  noch  eine  Freude  von  ganz  andrer  Art,  das 
Geschenk  Ihrer  Aline,  zugedacht  hatten.  Wie  geschwind  habe  ich  zum  Herrn 
Raven  geschickt  1 

Was  ich  an  Schulzen  nicht  genug  bewundem  kann  —  ich  stehe  eben 
von  seiner  Aline  ^  auf  —  ist  sein  ganz  eigenthüraliches  Talent,  mit  zwey 
oder  drey  Noten  auf  einmal  die  ganze  Wendung  eines  Gedankens,  den  Total- 
ausdruck einer  Empfindung,  zu  erschöpfen.  Besonders  in  seinen  Accom- 
pagnements.  Welche  Pinselzüge  p.  20  p!  Wahrhaftig,  Schulz  ist  ein  großer 
Tonkünstler  im  buchstäblichsten  Verstände.  Habe  ich  je  ein  Wort  fallen 
lassen,  was  Sie  für  verkleinerlich  halten  könnten,  so  bitte  ich  es  dem  Edlen 
ernstlich  ab.  Ich  bin  ganz  von  ihm  eingenommen,  durchaus  —  er  hat  Recht 
gehabt,  ich  habe  mich  geirrt.  Mein  Erstes  soll  seyn,  seine  Maria  ^  Note  für 
Note  wieder  durchzugehen,  und  wo  ich  ihn  das  vorigemal  unrecht  verstan- 
den habe,  ein  paar  Midasohren  hinzumalen,  wie  Voß  bey  seinen  Classikern 
zu  thun  pflegt.  Und  Gott  weiß,  was  das  für  Ohren  geben  würde,  wenn 
ich  sie  einmal  vollstimmig  aufführen  hörte.  Was  mich  bey  all  dem  an  seiner 
Maria  (denn  wider  diese  kann  ich  mich  nur  vergangen  haben)  noch  bis  auf 
diesen  Augenblick  irre  macht,  ist  das  Urtheil  eines  Ebeling,  eines  Gähler, 
und  Anderer,  die  sich  gerade  eben  so  über  dieß  Werk  gegen  mich  geäußert 


^  'Aline,  Königin  von  Golkonda',  Kopenhagen  1790,  übersetzt  aus  dem 
Französischen  von  Gramer. 

2  'Maria  und  Johannes',  eine  Passion. 


Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs  23 

haben,  wie  ich  mich  gegen  Sie.  Sie  setzen  seine  Maria  unendlich  tief  unter 
seine  Athalie,  vermissen  den  Originalgeist,  den  großen  Umriß,  der  sich  unter 
dem  einfachsten  Gewände  gerade  am  stärksten  auszeichnet  —  räumen  übri- 
gens ein,  daß  S.  durch  unzählige  Feinheiten  den  unbefriedigten  Krittler 
wieder  schadlos  zu  halten  wisse  —  welches  mir  nie  so  einleuchtend  gewesen 
ist,  als  bey  seiner  Aline,  bey  der  ich  just  auch  Züge  von  diesem  Range 
aufmerksamer,  als  auf  alles  andre,  geworden  bin.  Vor  der  Wertung  des 
Ganzen  braucht  man  ohnehin  nichts  weiter  zu  wissen,  als  was  Sie  mir  selbst 
davon  erzählt  haben.  Welcher  Kunstrichter  sah  wohl  Anfangs  den  Gluck- 
schen  Meisterwerken  ihre  erstaunliche  Wirkung  an?  Reichardt^  mußte  erst 
nach  Paris  gehn,  um  daran  zu  glauben.  Und  so,  denk  ich,  schicken  wir 
auch  die  Ungläubigen  nach  Kopenhagen,  die  an  dem  gewaltigen  Effekt  der 
Maria  zweifeln  oder  gezweifelt  haben. 

Wie  viel  hätte  ich  Ihnen  noch  besonders  auch  über  das  Detail  Ihrer 
verdienstvollen  Übersetzung  zu  sagen!  wie  viele  Fragen  an  Sie  zu  thuni 
Was  haben  Sie  für  Nachrichten  von  Baggesen?  Geht  er  mit  seiner  Geliebten 
nach  Dänemark  zurück?  Die  Geschichte  seiner  Liebe  möchte  ich  lesen! 
0  daß  ich  mit  Beiden  und  mit  Ihnen  nur  noch  Einen  Tag  an  den  Ufern 
der  Elbe  weilen  möchte,  wie  jener  war,  an  den  mich  mein  guter  Gramer 
erinnert  1  G. 

24.2 

P  mein  Gramer!  mein  Freund!  welch  ein  Mann  sind  Sie!  wie  liebe 
ich  Sie!  wie  bewundre  und  ehre  ich  Sie!  und  Sie  sind  mein  Gramer! 
Wenn  man  mir  eine  solche  Handlung  des  wohlwollenden  Herzens,  von  einem 
mir  ganz  unbekannten  Manne  und  an  einem  mir  ganz  unbekannten  Manne 
ausgeübt,  erzählte:  so  würde  ich  ja  Thränen  des  Entzückens  weinen  müssen, 
daß  es  noch  Einen  so  großen  und  edlen  Character  in  der  Welt  gäbe,  als 
dieser  wahre  Freund  seines  Freundes  wäre.  Aber  mein  Gramer  ist  der 
Mann,  und  ich  bin  der  Glückliche,  dessen  Freund  dieser  große  und  edle 
Character  ist,  an  dem  er  wirklich  so  und  oft  so  gehandelt  hat:  was,  mein 
Freund,  was  muß  ich  empfinden!  Dennoch  verbiethen  Sie  mir  jeden  Aus- 
druck meiner  Dankbarkeit,  jede  Ergießung  meines  gerührten  Herzens,  — 
verlangen  bloß  zu  wissen,  ob  ich  zu  dem  wichtigen  Schritte,  den  Sie  aus 
eigner  Rechnung  für  mich  gethan  haben,  meine  Einwilligung  gebe  — 
0  bester  theuerster  Mann!   welch  ein  Herz  haben  Sie! 

Ja,  ich  will  Ihnen  gehorchen,  mit  aller  der  Ruhe,  deren  ich  itzt  fähig 
Beyn  kann,  will  ich  mir  Gewalt  anthun,  bloß  Ihre  Frage  zu  beantworten. 
Sie  wissen,  mein  Allerbester,  was  ich  mir  immer  dabey  gedacht  habe,  wenn 
ich  wünschte,  in  dem  Departement  des  erhabenen  Staatsministers  befördert 
zu  werden,  den  ich  verehre,  so  lange  ich  seinen  Namen  habe  aussprechen 
können.  Nicht  bloß  das  Glück,  eine  rechtschaffne  Frau,  die  mich  liebt, 
und  meine  Dürftigkeit  allem  Reichthume  eines  meiner  Mitbewerber 
vorzog,  von  der  ungewöhnlichen,  sogar  über  meine  Befürchtung  ungewöhn- 
lichen Last  der  Nahrungssorgen,  die  sie  mit  mir  theilt,  endlich  zu  befreyen, 
nicht  bloß  das  Glück,  meinen  süßen  Kindern  eine  Erziehung  zu  geben,  die 
sie   nach   meinen  Begriffen    der  natürlichen   Pflicht   zu   künftigen   Bürgern 

^  Der  Komponist  Joh.  Friedr.  Reichardt. 

2  Undatiert  und  ohne  Ort;  wahrsclioinüch  1783. 


24  Ungedruckte  Dichtungen  und  Briefe  Gerstenbergs 

brauchbar  machen  könnte:  nicht  bloß  dieß  Glück,  für  so  unaussprechlich 
groß  ich  es  auch  halte,  war  es,  was  ich  mir  wünschte.  Hätte  ich  mich  ent- 
schließen können,  den  gewöhnlichen  Pfad  zu  betreten,  und  Dinge  zu  thun, 
die  mein  Herr  nicht  billigt,  so  würde  es  mir  vielleicht  nicht  schwerer  ge- 
worden seyn,  den  einseitigen  Zweck  eines  besseren  Auskommens  zu  er- 
reichen, als  ihn  so  viele  andre,  die  ich  kenne,  gefunden  haben.  Aber  ich 
war  durch  den  Umgang  mit  Freunden,  die  durch  ihren  Charakter,  wie  durch 
ihren  Geist,  der  menschlichen  Natur  Ehre  machen,  gewöhnt,  diesen  Zweck 
mit  andern  Zwecken  zu  vergleichen,  und  nicht  alle  Mittel,  die  dahin  führten, 
für  gleichgültig  zu  erkennen;  eben  diese  Freunde  hatten  mich  durch  ihre 
Erzählungen  und  Beschreibungen  von  der  bewundernswürdigen  Seele  jenes 
einzigen  Mannes,  den  ich  zwar  von  jeher  aber  nie  so  verehrt  hatte,  der- 
maßen eingenommen,  daß  es  mir  unmöglich  ward,  mich  länger  in  einem 
Stande  zu  wünschen,  in  welchem  ich  noch  weniger  als  sonst  hoffen  konnte, 
mich  der  Aufmerksamkeit  desjenigen,  zu  dem  mich  mein  Herz  hinzog,  auf 
irgend  eine  Art  würdig  zu  machen.  Sie,  der  Sie  mich  kennen,  seyn  Sie 
Richter,  ob  ich  zu  viel  sage. 

Aber  ich  war  zu  blöde,  mein  Theuerster,  mich  Ihm  mit  diesem  Wunsche 
zu  nähern.  Was  hatte  ich,  das  mich  ihm  hätte  empfehlen  können?  Der 
Abstand  war  durch  meine  Verhältnisse  noch  weiter  gemacht.  Mit  der 
bloßbn  Bezeigung  meiner  Ehrfurcht  konnte  nichts  ausgerichtet  seyn :  in  dem 
Munde  eines  Bittenden  wäre  sie  vielleicht  gar  verdächtig  gewesen.  Ich 
schwieg  lieber  stille,  und  überließ  mich  der  Vorsicht. 

Achl  wie  unendlich  gütig  hat  sie  für  mich  gewaltet!  Ich  bin  im  Be- 
sitze meiner  kühnsten  Wünsche;  glücklich  in  jeder  Beziehung,  —  auf  das 
edle  Herz,  dem  ich  es  zu  danken  habe,  auf  meine  kaum  mehr  erträglichen 
Bedürfnisse,  auf  die  nahe,  ganz  nahe  Hoffnung,  mich  ihrer  endlich  (Gott! 
welch  ein  Wort!)  überhoben  zu  sehen:  wie  unendlich  gütig  hat  sie  für  mich 
gewaltet! 

Was  kann  ich  hinzusetzen,  mein  Gramer?  Ich  bin  in  meinem  ganzen 
Leben  nicht  so  glücklich  gewesen,  als  seit  ich  Ihrer  Freundschaft  überlassen 
bin.  Handien  Sie  ferner  nach  Ihrer  Freundschaft,  nach  Ihrem  Ermessen:  ich 
bin  mehr,  als  ich  mein  eigen  bin,  (jer  Ihrige 

Gerstenberg. 

z.  Z.  Warschau.  Albert  Malte  Wagner. 

(Fortsetzung  folgt.) 


I 


Ferdinand  Freiligrath  und  Amely  Bölte 

(1847—48). 

Eine  Episode  aus  des  Dichtyers  erstem  Aufenthalt  in  England- 

In  seiner  grundlegenden  Freiligrath-Biographie  bringt  Wilhelm 
Buchner  einen  Brief  des  Dichters  an  Karl  Buchner  zum  Ab- 
druck —  London,  16.  September  1847  — ,  worin  auf  eine  ver- 
drießliche Episode  angespielt  wird,  die,  soweit  ich  sehe,  noch 
niemals  völlig  geklärt  wurde.  Nachfolgende  Ausführungen 
stellen  den  Versuch  dar,  den  ganzen  Verlauf  des  Zwischenfalls  zu 
schildern,  soweit  dies  nach  dem  mir  zugänglichen  ungedruckten 
Quellenmaterial  möglich  ist. 

In  dem  erwähnten  Schreiben  an  Karl  Buchner  heißt  es: 

'Und  nun  zur  Beantwortung  Ihres  lieben  Briefes!  Jene  klatschende 
Morgenblattcorrespondenz,  die  wie  alle  Correspondenzen  gleichen  Ursprungs 
voll  von  Unrichtigkeiten  ist,  rührt  von  einer  Mamsell  A.  B.,  einer  Gouver- 
nannte  irgendwo  im  Westend,  her.  Himmel,  diese  deutschen  KafFeeblätter ! 
Kürzlich  sollen  sie  auch  gesagt  haben,  ich  sei  mit  meiner  Lage  in  London 
höchst  unzufrieden  und  Herr  Huth  trage  die  Schuld!  Welch  ein  Unsinn 
und  welche  Taktlosigkeit!  Wäre  nicht  eine  solche  Notiz,  wenn  sie  meinem 
Chef  unter  die  Augen  käme,  im  Stande,  mein  ganzes  Verhältnis  zu  zer- 
stören und  mich  Knall  und  Fall  brotlos  zu  machen?  Die  Wahrheit  ist,  daß 
ich  hier  allerdings  noch  nicht  stehe,  wie  ich,  zumal  bei  wachsender  Familie, 
stehen  muß:  daran  trägt  aber  nicht  mein  Haus  die  Schuld,  welches  mich 
ordentlich  und  ehrenvoll  behandelt  (Herr  Huth,  wenn  auch  Tory,  ist  an- 
erkannt einer  der  Ausgezeichnetsten  und  Biedersten  unter  den  reichen 
Deutschen),  sondern  die  Lage  der  Dinge  überhaupt.  Commissalaire  sind 
selten  hoch,  und  wäre  es  nicht  Unsinn  von  mir,  mit  jenen  Klatschartikeln 
zu  verlangen,  mein  Haus  solle  mich  meines  Poetentums  wegen  besser  be- 
zahlen als  jeden  andern  Arbeiter?  Was  meine  commerzielle  Tätigkeit  wert 
ist,  bekomm'  ich  für  sie  .  .  .  Herr  Huth  ist  seit  zwei  Monaten  in  Kissingen, 
geht  nach  Leipzig,  kehrt  über  Weimar,  Erfurt,  Frankfurt  zurück  —  wie 
leicht  kann  er  solch  dummes  Geschwätz  lesen,  mich  selbst  dahinter  ver- 
niuten  und  (zumal  bei  seiner  großen  Empfindlicbkeit  gegen  Alles,  was  in 
Blättern  über  ihn  gesagt  wird,  selbst  das  Beste)  seinem  Ärger  durch  eine 
plötzliche  Kündigung  Luft  machen?  Ich  glaube  nun  zwar  nicht,  daß  es  so 
schlimm  kommen  wird;  immer  aber,  furcht'  ich,  steht  mir  noch  eine  un- 
angenehme Auseinandersetzung  bevor.  Das  ist  dann  das  Resultat  dieses  ver- 
henkerten  Notizenkrams  . . .'  ^ 

Die  in  diesem  Briefe  diskret  mit  A.  B.  bezeichnete  Persönlich- 
keit ist  —  wie  auch  der  Index  des  zweiten  Bandes  verrät  —  keine 
andere  als  die  Schriftstellerin  und  Freundin  Varnhagens  von  Ense, 
Amely  Bölte  (1817 — 91),  eine  geborene  Mecklenburgerin,  die  in 
den  vierziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  als  deutsche  Er- 


^  W.  Buchner.  'F.  Freiligrath,  ein  Dichterleben  in  Briefen'  (Lahr  188'2 
2  Bände)  II,  198  f.  Dem  Brief  legte  Freiligrath  noch  eine  weitere,  ähnlich 
Notiz  aus  der  'Aachener  Zeitung'  bei. 


26  Ferdinand  Freiligrath  und  Amel^  Bölte   (1847 — 48) 

zieherin  in  London  weilte  und  mit  Varnhagen  einen  lebhaften 
Briefwechsel  unterhielt.^  Schon  vor  jener  fatalen  Zeitungsnotiz 
hatte  sie  dem  verehrten  Berliner  Freunde  die  Erfahrungen,  die 
Freiligrath  bald  nach  seiner  Ankunft  in  London  sowohl  mit  den 
Engländern  wie  mit  seinen  eigenen  Landsleuten  machen  mußte, 
in  recht  düsteren  Farben  geschildert: 

'Freiligrath  ist  auch  nicht  sehr  glücklich  hier  und  findet,  daß  die  Ty- 
rannei in  Deutschland  bei  weit«m  nicht  so  drückend  gewesen,  als  der  soziale 
Zwang  hier.  Unter  den  Deutsehen  in  London  findet  er  keinen  Anklang. 
Sie  alle  sind  hier  mit  Gelderwerb  beschäftigt  und  halten  denjenigen  für 
einen  rechten  Narren,  der  eine  sichere  Stellung  im  Vaterlande  aufgeben 
konnte,  um  Freiheitslieder  zu  singen,  durch  die  noch  nie  ein  Staat  ver- 
bessert worden.  Diese  und  ähnliche  Ansichten  hört  er  auf  jedem  Tritte, 
und  die  Engländer  schelten  ihn  gar  einen  Enthusiasten,  wie  jeden,  der  sich 
einzeln  gegen  ein  Ganzes  erhebt.  Statt  Achtung,  Bewunderung  und  An- 
erkennung findet  er  nun  überall  das  Gegenteil,  und  dies  verwundet  ihn  in 
tiefster  Seele;  denn  wenn  er  auch  wohl  den  Communismua  singt  und  den 
Proletarier  erhebt,  so  würde  es  seiner  Eitelkeit  doch  gefallen,  wenn  London 
mit  Fingern  auf  ihn  zeigte;  und  das  tut  es  nicht.  Er  sitzt  bis  9  Uhr  Abend 
in  der  City  auf  dem  Bureau  und  geht  dann  zu  seiner  Frau,  die  sich  in- 
dessen abgemüht,  ihre  Kinder  zu  besorgen  und  durch  Übersetzen  noch  ein 
wenig  Geld  zu  gewinnen.' ' 

In  bemerkenswertem  Gegensatz  zu  dieser  Schilderung  stehen 
allerdings  die  optimistischen  Äußerungen,  die  der  Dichter  selbst 
in  seinen  ersten  Briefen  aus  London  über  seine  Lage  macht. ^ 
Plötzlich  aber  ändert  sich  seine  rosige  Auffassung,  und  all  der 
Groll,  den  er  inzwischen  angesammelt,  entlädt  sich  in  dem  tempe- 
ramentvollen Brief  an  Karl  Buchner,  aus  dem  wir  obige  Stelle 
anführten.  Uns  allerdings  könnte  heutzutage  jene  'klatschende 
Morgenblattcorrespondenz'  harmlos  genug  erscheinen,  aber  der 
Verlauf  der  Dinge  zeigt  doch,  daß  Freiligraths  Befürchtungen 
nicht  unbegründet  waren. 

Wie  angedeutet,  hatte  also  Amely  Bölte  im  Stuttgarter  'Mor- 
genblatt für  gebildete  Leser'  im  September  1847  einen  langen, 
wie  üblich  nicht  gezeichneten  Brief  aus  London  veröffentlicht 
und  darin  die  schlimme  Lage  der  mittellos  nach  England  ein- 
gewanderten Deutschen,  besonders  des  weiblichen  Geschlechts,  in 
kläglichen  und  wohl  auch  übertriebenen  Worten  beschrieben.  Sie 
hebt  vor  allem  die  Schwierigkeit  hervor,  sofort  nach  Ankunft  eine 


I 


1  Die  Briefe  Varnhagens  an  A.  Bölte  wurden  von  ihr  selbst  heraus- 
gegeben u.  d.  T.  'Briefe  an  eine  Freundin  (1844 — 53)',  Hamburg  1860.  Ihre 
eigenen,  oft  recht  langatmigen  und  gefühlsseligen  Episteln  an  den  deutschen 
Schriftsteller  harren  noch  der  VeröflFentlichung  —  eine  Aufgabe,  der  ich 
mich  bei  Wiederkehr  ruhigerer  Zeiten  zu  entledigen  hoffe.  Die  auf  unsere 
Episode  bezüglichen  Stellen  können  jedoch  schon  heute  aus  Varnhagens 
Nachlaß  in  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Berlin  mitgeteilt  werden. 

2  Varnhagensche  Sammlung,  Fasz.  Bölte;  Brief  vom  8.  Februar  1847. 
'  W.  Buchner  II,  184  f. 


Ferdinand  Freiligrath  und  Amely  Bölte   (1847 — 48)  27 

passende  Stelle  zu  finden,  und  dabei  erwähnt  sie  —  also  nur  im 
Vorübergehen!  —  auch  Freiligrath: 

'Mit  Freiligrath  war  es  ein  anderes;  aber  auch  dieser  hochbegabte  Mann 
mußt«  drei  Monate  warten,  ehe  er  eine  Anstellung  fand,  die  ihm  auch  nur 
aus  besonderer  Rücksicht  geboten  wurde;  und  was  ist  jetzt  sein  Los?  Vom 
frühen  Morgen  bis  zur  späten  Nacht  in  einem  düsteren  Gewölbe  in  der 
City  zu  sitzen.'^ 

Man  kann  sich  in  der  Tat  schwer  vorstellen,  daß  diese  weni- 
gen, harmlosen  Zeilen  von  so  schlimmen  Folgen  für  den  Dichter 
sein  sollten.  Auch  ihre  Urheberin  dachte  lange  Zeit  an  nichts 
Böses.  Im  Herbst  des  gleichen  Jahres  unternahm  sie  eine  längere 
Reise  in  die  deutsche  Heimat,  und  erst  bei  ihrer  Rückkehr  nach 
London,  Mitte  November,  erfuhr  sie,  daß  Freiligrath  über  sie 
höchst  ungehalten  sei.  So  schrieb  sie  ihm  denn  einen  reumütigen 
Entschuldigungsbrief.  Der  Dichter  zeigte  sich  auch  keineswegs 
unversöhnlich;  Frau  Ida  bat  sogar  um  ihren  Besuch,  und  alles 
schien  auf  dem  besten  Wege: 

'Freiligrath  hat  sich  sehr  beklagt,  daß  ich  ihn  beim  deutschen  Publikum 
in  Anregung  gebracht.  Er  wußte,  ich  weiß  nicht  wie,  daß  ich  es  war,  und 
so  schrieb  ich  ihm  denn  einen  guten  Brief  und  sagte  ihm,  wie  leid  es 
mir  tue,  ihm  etwas  Unangenehmes  zugefügt  zu  haben.  Das  hat  ihm  gut 
gefallen  und  wir  sind  jetzt  gute  Freunde;  auch  will  ich  nächstens  seine 
Frau  besuchen.' » 

Der  Tag  des  Besuches  naht  heran  —  die  Familie  Freiligrath 
ist  reizend  —  aber  beim  Abschied  wirft  man  dem  Fräulein  vor, 

es  habe  den  Dichter brotlos  gemacht;  d.  h.  Huth  habe,  in 

gerechtem  Zorn  über  jenen  Artikel,  seinem  Buchhalter  schlank- 
weg gekündigt.  Größtes  Entsetzen  Amaliens  —  Tränen  —  schlaf- 
lose Nächte.  Sie  geht  alle  ihre  Freunde  um  Hilfe  für  den  auf 
die  Straße  gesetzten  Dichter  an  —  vergebens.  Carlyle  kann 
nichts  für  ihn  tun;  Bulwer,  Tennyson,  Milnes  bedauern  gleich- 
falls. Doch  nein,  Milnes,  der  stets  Gutherzige,  knöpft  die  weiten 
Taschen  auch  diesmal  auf  zu  einer  milden  Spende.^  Die  Deutschen 
Londons  ziehen  natürlich  nicht:  sie  versagen  ja  immer.  Da  ist 
besonders  ein  Herr  Schwabe,  ein  steinreicher  Mann,  der  es  für 
eine  'Injurie'  hält,  wenn  Freiligrath  nicht  zu  Huths  Gesellschaf- 
ten geht  —  wo  er  gar  nicht  geladen  ist.  Und  da  ist  auch  wieder 
der  böse  Bunsen,  der  preußische  Gesandte  am  englischen  Hofe  — 
'glatt  und  feilt  wie  ein  christlich-germanischer  Aal'  *  — ,  den 
Freiligrath    und   seine   Freunde   für   ihren    grimmigsten    Gegner 

1  Nr.  217—219,  S.  875;    10.— 13.   September   1847. 

»  Fasz.  Bölte;   Brief  vom  14.   Dezember   1847. 

'  über  Milnes  und  Freiligrath  vgl.  W.  Fischer,  'Die  persönlichen  Be- 
ziehungen R.  M.  Milnes'  zu  Deutschland',  Hab.-Schrift  (Würzburg  1918), 
S.  59—60. 

*   Freiligrath  an  Schücking,  22.  April  1847;  W.  Buchner  II,  194. 


28  Ferdinand  Freiligrath  und  Amely  Bölte  (1847—48) 

halten.  Aber  siehe,  da  taucht  auch  eine  edlere  Gestalt  auf,  Sir 
Isaac  Goldsmid,  ein  wohlhabender  Jude  von  ernstem  politischen 
Streben,^  in  dessen  Hause  Amely,  die  seine  Töchter  unterrichtet 
hatte,  stets  taktvolle  Aufnahme  gefunden.  Anfänglich  erscheint 
ihm  die  ganze  Sache  wie  ein  Scherz,  jedenfalls  als  eine  Bagatelle. 
Als  er  aber  von  Huth  selber  erfahren  muß,  wie  weit  die  häßliche 
Angelegenheit  gediehen,  erfaßt  er  rasch  den  Ernst  der  Lage  und 
legt  bei  jenem  ein  gutes  Wort  für  den  Dichter  ein.  Mit  dem 
Ergebnis,  daß  Freiligrath  noch  bis  Ostern  (1848)  bei  Huth 
bleiben  kann.  Inzwischen  aber  fegt  ein  Sturmwind  über  den 
Kontinent.  Der  Februar  sieht  die  Revolution  in  Paris;  der  März 
wird  Zeuge  des  Umsturzes  in  Wien  und  der  Barrikaden  in  Berlin 
—  der  'Vorkampf'  hat  begonnen!  Da  vergißt  der  verbannte 
Dichter  alle  Pläne  —  Stellungswechsel,  Auswanderung  nach 
Amerika^  — ;  unwiderstehlich  zieht  es  den  Dichter  nach  der  Hei- 
mat —  wie  er  hofft,  einem  neuen  politischen  Frühling  entgegen. 


So  ungefähr  war  der  tatsächliche  Hergang  jenes  Zwischen- 
falls, von  dem  Amely  Bölte  ihrem  Korrespondenten  in  ihrer 
wortreichen  Art  eine  so  empfindsame  Schilderung  gibt.  Wir 
lassen  nun  sämtliche  hierhergehörigen  Briefe  und  Auszüge,  so- 
weit noch  nicht  oben  angeführt,  der  Reihe  nach  folgen. 


Amely  Bölte  an  Varnhagen. 

London,  31.  Dezember  1847. 
. . .  Ich  ging  vor  vierzehn  Tagen  zu  Freiligrath.  Er  gefiel  mir  sehr  gut, 
seine  Frau  ist  fein,  elegant,  reizend,  sie  haben  zwei  niedliche  Kinder,  und 
die  ganze  Umgebung  spricht  den  Geist  der  Bewohner  aus.  Es  ist  eine 
Freude,  solchen  Menschen  zu  begegnen,  unter  einem  solchen  Dache  zu 
weilen;  das  Glück  dieser  Leute  hatte  für  mich  etwas  Idealisches.  Ich  sah, 
daß  es  Freiligrath  Vergnügen  machte,  sich  über  heimische  Verhältnisse  mit 
mir  zu  unterhalten  —  ich  weiß,  wie  sehr  man  das  hier  entbehrt  — ,  so 
gab  ich  seiner  Bitte  nach,  den  Abend  bei  ihnen  zuzubringen,  obgleich  es 
mein  Tag  für  Carlyles  war.  In  den  wenigen  Stunden  wurden  wir  recht  gute 
Bekannte,  und  als  ich  ging,  baten  sie  mich  dringend,  den  weiten  Weg  nicht 
zu  scheuen,  sie  öfter  aufzusuchen;  ich  müsse  das  kleine  Opfer  schon 
bringen,  denn  ich  habe  sie,  wenn  auch  ohne  es  zu  wollen  ...  b  r  o  d  1  o  s 
gemacht.  Welchen  Eindruck  mir  das  unselige  Wort  machte,  will  ich  nicht 
zu  beschreiben  versuchen!  Ich  hatte  zwei  Stunden  zu  fahren,  ehe  ich  von 
dem  Ende  Londons  bis  zu  dem  meinigen  kaom,  und  ich  weinte  die  ganze 
Zeit  in  mich  hinein  so  schmerzliche  Thränen,  wie  ich  sie  je  geweint  habe 
in  meinem  Leben. 


i  Vgl.  'Dict  of  National  Biography'  VITI. 

-  Durch  den  Streit  mit  Huth  werden  auch  Freiligraths  Auswanderungs- 
])läue  und  sein  Briefwechsel  mit  Longfellow  in  ein  neues  Licht  gerückt. 
Darüber  vgl.  neuerdings  M.  Appelmann,  'H.  W.  Longfellows  Beziehungen 
zu  F.  Freiligrath'  (Münster  1916)  S.  41—43. 


Ferdinand  Freiligrath  und  Amely  Bölte   (1847 — 48)  29 

Mit  dem  Brodlosmachen  ist  es  nun  wol  nicht  gunz  so  schlimm;  denn  ich 
höre,  daß  Huth,  wie  andere,  Verluste  erlitten,  die  eine  Einschränkung  hei- 
schen, und  da  ist  denn  jeder  Grund  willkommen  für  den  Kaufmann,  der 
nichts  mehr  scheut  als  den  wahren  entdeckt  zu  sehen.  Aber  selbst  der 
Vorwand  zu  sein,  ist  höchst  peinigend. 

Freiligrath  hatte  keine  Aussicht  irgend  einer  Art;  die  Freunde,  die 
ihn  als  Lion  für  ihre  Gesellschaften  gebraucht,  waren  jetzt  nicht  hier,  und 
überhaupt  nicht  hier,  wenn  er  ihrer  bedurfte.  Auch  kann  ein  Mann  nicht 
betteln  gehen  nach  Gunst,  Fürsprache  und  Beistand.  Ich  fühlte  ganz  das 
Grausame  seiner  Lage  und  beschloß  zu  thun,  was  er  selbst  nicht  thun 
konnte,  obwol  mit  wenig  Hoffnung  auf  Erfolg.  Es  ist  ein  anderes  für  einen 
Künstler  Protection  zu  erhalten,  wo  es  gilt,  den  Einzelnen  auf  der  Stelle 
anzugreifen,  wo  er  sterblich  ist  und  die  Damen  besonders  schon  von  selbst 
geneigt  sind,  einem  schönen  jungen  Mann  zu  sitzen,  —  als  ein  Ganzes 
von  einer  Person  zu  erhalten,  nur  eines  Grundsatzes  oder  guten  Zweckes 
halber.  —  Ich  ging  zuerst  zu  Carlyle  und  erzählte  ihm  die  Sache.  Die 
Schritte,  die  ich  thun  wollte,  waren  ihm  recht,  er  bedauerte  Freiligrath, 
zweifelte  aber  keineswegs  an  meinem  Erfolg.  Das  ist  ganz  gut,  ganz  ehrend 
für  mich,  wenn  er  Anderen  mit  vollem  Ernst  der  Überzeugung  vorsagt, 
you  do  not  knoiv  what  she  is  able  to  do,  —  aber  ebenso  beschimpfender  für 
Jene,  deren  Einfluß  und  Stellung  sie  befähigte,  das  mit  einem  Wort,  einem 
Gang  zu  erreichen,  was  ich  mit  unsäglicher  Mühe  und  durch  Überzeugung 
bewirken  muß.  Es  macht  mich  dann  nur  traurig  zu  denken,  was  die 
Menschen  könnten,  wenn  sie  wollten,  wenn  in  einer  unbedeutenden  Person, 
wie  ich  bin,  der  Wille  etwas  erreicht. 

Ich  habe  nun  alles  gethan,  was  zu  thun  möglich,  und  kein  besseres 
Resiütat  erhalten,  als  einliegenden  Brief.^  Was  mich  aber  vorzüglich 
traurig  macht,  ist  die  Stimmung  der  Deutschen  im  Allgemeinen.  Sie  sind 
alle  auf  Huth's  Seite  —  sie  alle  sagen,  ein  clerk  sey  wie  der  andere,  man 
könne  keinen  Unterschied  machen,  könne  einen  Mann  wie  Freiligrath  nicht, 
wenn  er  clerk  sey,  in  sein  Haus  laden.  Gütige  Allmacht!  Kann  denn  der 
Mensch  sein  Amt  nicht  so  viel  ehren,  daß  das  Geschäft,  das  er  wählt  sich 
sein  bischen  Brod  damit  zu  verdienen,  ihn  unwürdig  macht  mit  Solchen 
umzugehen,  die  in  geistiger  Bildung  so  tief  unter  ihm  stehen! 

Herr  Schwabe  war  der  Begleiter  Cobden's."  Er  ist  der  erste  aller  Deut- 
schen hier,  und  der  reichste.  Was  er  Injurien  nennt,  ist  nichts  weiter,  als 
daß  die  Frl.  Goldsmid,  bei  denen  ich  zum  luncheon  war,  mir  auftrugen,  als 
ich  zu  Freiligrath  ging,  ihm  zu  sagen,  sie  würden  sich  ihm  vorstellen 
lassen  in  der  ersten  Gesellschaft  bei  Huth,  und  der  Dichter  habe  erwidert: 
auf  die  Ehre  müsse  er  verzichten,  da  er  das  Haus  desselben  noch  nie  be- 
treten habe.  So  fühlt  ein  reicher  Deutscher  hier  für  den  andern,  daß  er 
das  eine  Injurie  nennt  . . . 

Freiligrath  [hat]  meine  ganze  Zeit  in  Anspruch  genommen,  und  mit 
Recht.  Die  ganze  Sache  hat  einen  so  üblen  Eindruck  auf  mich  gemacht,  daß 
ich  einen  Arzt  habe  rufen  lassen;  der  arme  Mann  wird  aber  wenig  thun 
können,  solange  die  Stimmung  die  Krankheit  nährt.  Ich  habe  mir  daher 
selbst  die  heilende  Arznei  gewählt,  Ihnen  mein  Leid  zu  klagen.  Wenn  Sie 
mich  auch  schelten,  so  thut  das  nichts,  denn  ich  weiß,  daß  Sie  gerecht  und 
billig  sind,  und  ich  nur  im  Unrecht  sein  kann,  wenn  Sie  es  finden.^ 


1  D.  h.  den  Brief  von  Sir  Isaacs  Tochter,  Emma  Goldsmid  (vgl.  Nr.  2). 

-  Vgl.  Mme.  Salis  Schwabe,  'R.  Cobden,  ses  voyages,  correspondances  et 
Souvenirs'  1879.  Über  Herrn  und  Frau  Schwabe  vgl.  auch  R.  Wagner, 
'Mein  Leben'   (München  1914;  Volksausgabe)   III.  Teil,  S.  213—14. 

»  Fasz.  Bölte.  —  Die  Antwort,  die  Varnhagen  auf  der  Bölte  Klagebrief 
sandte,  ist  charakteristisch  für  seine  verbase  Art,  Seelenzustände  mit  sieht- 


30  Ferdinand  Freiligrath  und  Amely  Bölte   (1847—48) 


Emma  Goldsmid  an  Amely  Bölte. 

St.  John's  Lodge,  Sunday  [Dez.  1847].i 
Mein  liebe,?  Fräulein, 
...  Es  that  uns  leid,  Sie  nicht  gestern  zu  sehen,  besonders  da  ich  Ihnen 
etwas  zu  sagen  hatte.  Mein  Vater  hat  die  Geschichte  von  Freiligrath,  da  Sie 
sie  ihm  erzählten,  entweder  nicht  angehört  oder  nicht  verstanden;  nun 
aber  ist  in  dieser  Woche  Mr.  Huth  zu  ihm  gegangen  und  hat  sich  beklagt, 
daß  Sie  gegen  ihn  geschrieben  hätten.  Mein  Vater  erkundigt  sich  nach 
der  Sache  bei  uns,  und  nun  nimmt  er  sie  nicht  mehr  wie  ein  Scherz,  son- 
dern sehr  ernsthaft  auf,  da  es  sieh  um  einer  Familie  Leben  handelt,  tadelt 
Sie  sehr,  aufrichtig  gesagt,  will  aber  was  er  kann  für  Freiligrath  bei 
Huth  sprechen,  wenn  er  es  ganz  gewiß  weiß,  daß  F.  wirklich  zu  bleiben 
wünscht.  Ich  sagte  ihm,  ich  glaubte  ja,  aber  lassen  Sie  mich  durch 
einige  Zeilen  von  Ihnen  darüber  sicher  sein.  Nur  rathe  ich  Ihnen  nicht 
darüber,  wenn  Sie  meinen  Vater  nächstens  sehen,  zu  scherzen,  denn  er 
sagt  daß  Huth  als  Kaufmann  nichts  von  Freiligrath  als  Dichter  zu  wissen 
brauchte,  daß  das  Gehalt  gut  war  und  nicht  so  leicht  wieder  zu  bekommen 
ist  etc.,  kurz,  die  Geschichte  hat  er  nach  ihren  Folgen  angesehen  und 
tadelt  Ihre  —  soll  ich  es  sagen  —  Indiskretion.  Wir  haben  ihm  gesagt, 
daß  Freiligrath  noch  zwei  Monate  bleiben  soll,  also  läßt  sich  vielleicht  noch 
etwas  machen,  wenn  dieser  der  wirkliche  Grund  seines  Cong6  war. 

Ihre  freundlich  ergebene  Emma  Goldsmid. 

3. 

Freiligrath  an  Amely  Bölte. 

10  Clarence  Villa,  7.  Jan.  Abends  [1848].» 
Verehrtes  Fräulein, 
Ich   danke    Ihnen   herzlich   für    Ihren   lieben    Brief   und   alle   mir   darin 
geäußerte  Theilnahme.     Mein  Verhältniß  zu  Huths  jedoch,  furcht'  ich,  fassen 
Sie  noch  immer  nicht  ganz  richtig  auf,  doch  besprechen  wir  das,  wenn  es 
überhaupt  der  Mühe  werth   ist,  am  besten  mündlich. 

Meine  Kinder  haben  sich  in  den  letzten  Tagen  ziemlich  wieder  erholt, 
u.  meine  Frau,  obgleich  immer  noch  sehr  angegriffen,  wird  dennoch  morgen 
im  Stande  sein,  bei  einem  häuslichen  Thee  ihren  Platz  einzunehmen.  Ihr 
Besuch  wird  uns  also  ganz  gelegen  kommen,  und  wir  werden  uns  sehr 
freuen,  wenn  Sie  Ihre  Absicht  ausführen  wollen.  Kommen  Sie  nur  recht 
früh! 

Mit  den  schönsten  Grüßen  von  mir  und  meiner  Frau 

Ihr  ergebener  F.  Fth.^ 

lichem  Behagen  zu  zergliedern,  ohne  dabei  den  eigentlichen  Kern  der  Sache 
zu  berühren.  Natürlich  konnte  er  aus  der  Entfernung  keine  konkreten  Rat- 
schläge erteilen,  aber  er  bringt  es  fertig,  dem  Gegenstand  fünfeinhalb  Druck- 
seiten zu  widmen,  ohne  irgend  etwas  Entsclieidendes  zu  sagen.  Er  gesteht 
es  auch  selber  zu,  daß  er  aus  der  Ferne  'kaum  weiß,  wie  er  den  zarten 
Gegenstand  ersprießlich  erörtern  sollte',  zumal  da  Amalie  in  ihrer  Er- 
regung ihm  eigentlich  nichts  Tatsächliches  mitgeteilt  habe.  Vgl.  'Briefe 
an  eine  Freundin'  Nr.   13    (6.  Jan.   1848),  S.  57—62. 

1  Varnhagen  ergänzt  fälschlich  das  Empfangsdatum:  [1848].  Der  Brief 
liegt,  dem  Fasz.  Bölte  bei. 

-  Von  Varnhagen  ergänzt. 

'  Fasz.  Freiligrath. 


Ferdinand  Freiligrath  und  Amely  Bölte   (1847—48)  31 


Amely  Bölte  an  Varnhagen. 

7  Devonport  Street,  d.  23sten  Jan.   1848. 
[Empf.  Berlin,  13.  März  1848]  ^ 

.  .  .  Freiligrath's  Angelegenheit  hat  mir  nur  Mißstimmung  gebracht. 
Erstens  hatte  er  keinen  genügenden  Grund  mich  anzuklagen,  und  ich  ver- 
zeihe es  ihm  kaum,  daß  er  mich  so  unnütz  elend  machte  und  —  lächerlich 
vor  mir  selbst.  Bunsen  und  die  Politik  sind  die  eigentliche  Ursache,  die 
ihm  die  Stelle  kostet.  Jedenfalls  ist  das  dadurch  gewonnen,  daß  er  bleibt, 
bis  er  etwas  anderes  gefunden,  und  das  beruhigt  mich.  Seit  ich  ihn  mehr 
kenne,  sehe  ich  wohl,  daß  der  arme  Mann  mehr  von  gekränkter  Selbstliebe 
als  vom  Weltschmerz  leidet.  Das  ist  freilich  menschlich,  natürlich  und 
ganz  zu  entschuldigen,  und  niemand  kann  besser  verstehen  in  wie  ferne 
seine  Stellung  ihn  drückt,  als  wie  ich;  es  ist  aber  nicht  groß  und  heischt 
keine  Bewunderung  —  um  meiner  selbst  willen  bedaure  ich  ihm  diese  nicht 
zollen   zu  können.  * 

Er  kennt  England  so  wenig,  daß  er  glaubt,  Leute  wie  Bulwer,  Tennyson, 
M.  Milnes  würden  sich  seiner  annehmen,  und  nun  findet  er  sich,  nachdem 
er  einmal  ihre  Lion  parties  geziert,  vergessen  und  übersehen.  Ich  schil- 
derte ihm  diese  Menschen,  und  er  sah  mich  ungläubig  an.  Was  nutzt  es 
ihm  aber,  d  a  zu  hoffen,  wo  nichts  zu  hoffen  ist?  Milnes,  z.  B.,  den  er  nach 
seinen  Worten  und  Gedichten  beurtheilt,  und  von  dem  er  sogar  eine  Stelle 
auf  dem  Bureau  auswärtiger  Angelegenheiten  erbeten,  kennt  nur  e  i  n 
Gesetz,  das  on  dit  der  fashionablen  Welt  und  würde  sich  schämen,  mit 
jemand  über  die  Straße  zu  gehen,  der  nicht  in  dieser  aufgenommen  sey. 
Bulwer  bat  ihn  zu  Tisch  mit  zwei  Damen,  über  deren  Charakter  ich  unsern 
Poeten  leicht  aufklären  konnte.     So  ehrt  man  das  deutsche  Talent!  ... 

Dazu  das  Postskriptum : 
Herr  Milnes   hat  mir   heute  sehr   artig  etwas   Geld   für   Freiligrath   an- 
geboten.* 

5. 

Amely  Bölte  an  Yarnhagen. 

[Empf.  Berlin,  4.  Febr.  1848]» 

.  Mit  Freiligrath  geht  es  besser.  Huth  behält  ihn  noch  bis  Ostern 
und  bis  dahin  kann  man  sehen.  Seine  eigenen  Klagen  sind  die  eigentliche 
Ursache  seines  Verlustes,  das  weiß  auch  er;  denn  er  erkannte  das  Gute 
1  einer  bestimmten  Versorgung  erst  als  er  sie  verloren  und  sah  bis  dahin 
Ißur  das  Schreckliche  solcher  mechanischen  Beschäftigung.  Ich  habe  nun 
[aber  die  ganze  Schuld  auf  mich  genommen,  weil,  wie  hier  die  Verhältnisse 
sind,  ihm  damit  der  größte  Dienst  geschieht.  Und  ich  mache  mir  ja  nichts 
I  daraus.  Ich  bin  ganz  froh,  wenn  die  kleine  Familie  nur  ohne  Sorge  lebt. 
IWie  beneidenswerth,  wenn  ein  paar  Pfund  zum  Glück  helfen  können!* 


1  Von  Varnhagen  ergänzt. 

»  Fasz.  Bölte.  —  Varnhagen  ('Briefe  an  eine  Freundin'   [16.  März  1848] 
87)  nimmt  auf  diese  Äußerungen  Bezug,  wenn  er  schreibt:   'Über  Freilig- 
rath  urteilen   Sie  ganz    richtig;    daß   Bunsen    ihm    absichtlich   hat    schaden 
iroUen,  ist  recht  in  der  Art  dieser   fanatischen   Frömmler.' 

*  Von  Varnhagen  ergänzt. 

*  Fasz.  Bölte. 


32  Ferdinand  Freiligrath  und  Amely  Bölte  (1847—48) 

Mitte  April  1848  hat  dann  Freiligrath  sein  Verhältnis  zu 
Huth  endgültig  gelöst,  fest  entschlossen,  in  Deutschland  für  die 
Republik  zu  agitieren.  Amely  Bölte,  mecklenburgisch-konserva- 
tiv gesinnt,  verspricht  sich  nicht  viel  von  seinem  Wirken: 

'Freiligrath  wird  auch  [sc.  nach  Deutschland]  kommen,  als  wüthender 
Republikaner.  Ich  will  ihn  Sonntags  noch  einmal  besuchen,  seine  Pläne 
zu  hören.  Als  Redner  wird  er  sich  wenigstens  nicht  auszeichnen;  denn 
als  er  neulich  öffentlich  ein  paar  Zeilen  sprechen  sollte,  trug  er  so  schlecht 
vor,  daß  Niemand  den  Sinn  verstand.'  ^ 

Doch  war  die  Versöhnung  der  Bölte  mit  Freiligrath  dauer- 
hafter, als  es  nach  der  letzten  spitzen  Bemerkung  scheinen  könnte. 
Als  sie  Ende  1849  wieder  nach  Deutschland  kam,  versäumte  sie 
es  nicht,  auf  ihrer  Durchreise  durch  Köln  auch  in  der  Familie 
des  Dichters  vorzusprechen,  wobei  sie  von  der  kleinen  Häuslich- 
keit einen  recht  guten  Eindruck  gewann.^  Als  aber  Freiligrath 
1851  zum  zweitenmal  eine  Zuflucht  in  England  suchte,  verhält 
sie  sich  wieder  ziemlich  kühl  und  findet,  daß  der  Dichter,  der 
sich  jetzt  zu  den  Kommunisten  halte,  'sehr  verändert  aussieht  — 
sehr  materiell'.^ 

Allerdings  konnte  sich  ein  regelrechter  Verkehr  zwischen  ihr 
und  des  Dichters  Familie  auch  deshalb  nicht  mehr  entwickeln, 
weil  die  Schriftstellerin  im  Spätsommer  des  Jahres  1851  England 
auf  immer  verließ,  um  sich  nach  einigem  Zaudern  endgültig  in 
Dresden  niederzulassen. 

Würzburg.  Walther  Fischer. 

1  Fasz.  Bölte;  Brief  vom  15.  April  1848. 

2  Nach  ihrem  Brief  vom  31.  Dezember  1849;    Fasz.  Bölte. 
•'  Fasz.  Bölte;   Brief  vom  11.  Juni  1851. 


Ein  mittelenglischer  Hymnus  auf  Maria  und 
Christus  und  seine  kymrische  Umschrift. 

Das  nachstehende  mittelenglische  Gedicht  aus  dem  15.  Jahrh.  findet 
sich  in  der  Hengwrt-Hs.  479,  foL  38  f.,  und  wurde  zuerst  von 
Furnivall  und  Ellis  im  'Appendix'  der  Transactions  of  the  Philo- 
logical  Society,  Part  I,  1880 — 81,  sodann  im  Bd.  19  der  English 
Dialect  Society,  Ser.  D,  No.  III,  London  1880,  herausgegeben.  Es 
ist  nicht  nui-  seiner  überaus  künstlichen  Form  wegen  bemerkens- 
wert, sondern  besonders  deshalb,  weil  es  von  einem  Walliser  mit 
einer  kymrischen  Transkription  versehen  wurde,  die  ungefähr  die 
enghsche  Aussprache  zu  Ende  des  15.  Jahrh.  wiedergeben  dürfte. 
Von  dieser  phonetischen  Umschreibung  sind  bisher  drei  Versionen 
veröffentlicht,  nämlich  die  älteste  mid  beste  nachder  Hengwrt-Hs.  294 
zugleich  mit  dem  mitteleuglischen  Original  a.  a.  0.,  sodann  zwei 
jüngere,  von  denen  sich  die  eine  in  einer  Handschrift  des  Brit. 
Museums,  die  andere  in  einem  Druck  vom  Jahre  1823  findet. 
Die  erstere  von  diesen  wurde  herausgegeben  von  WiUiams  im 
32.  Bande  der  Anglia,  S.  295  ff.,  und  nochmals  genauer  von  Bell 
im  36.  Bande  S.  118  ff.  mit  den  Varianten  des  Druckes.  Die  letztere 
Veröffentlichung  bringt  als  wertvollen  Zusatz  eine  Abhandlung  von 
Glyn  Davies  über  die  Metrik  des  Gedichtes,  worin  sich  auch  einige 
für  die  Textkritik  wichtige  Bemerkungen  finden. 

Trotzdem  die  kymrische  Transkription  das  älteste  Denkmal  für 
die  neuenglische  Lautgeschichte  darstellt,  hat  sich  doch  bisher  nie- 
mand eingehender  mit  dem  Gedicht  beschäftigt,  das  infolge  seiner 
durch  die  künstliche  Form  bedingten  Dunkelheit  und  mehrfacher 
Fehler  und  Lücken  der  philologischen  Behandlung  und  Interpreta- 
tion dringend  bedarf.  Ich  gebe  im  folgenden  den  Versuch  einer 
kritischen  Ausgabe,  wobei  die  älteste  kymrische  Version  in  den 
Lesarten  mit  A,  die  jüngere  mit  B,  der  Druck  mit  C  bezeichnet 
sind.  Aufgenommen  wurden  nur  solche  Lesarten,  die  aus  irgend- 
einem Grunde  wichtig  erschienen;  alle  zu  verzeichnen,  auch  die 
gleichgültigen  und  falschen,  schien  mir  schon  deshalb  tiberflüssig, 
weil  die  Veröffentlichungen  in  der  Anglia  ja  leicht  zugänglich  sind. 

Wenn  es  mir  trotz  langer  und  ernster  Arbeit  an  dem  Denkmal 
leider  nicht  gelungen  ist,  alle  Schwierigkeiten  des  Textes  zu  be- 
wältigen, so  tröste  ich  mich  mit  den  Worten  des  Dichters:  I  can 
no  moe  (V.  95).  Derselbe  war  nach  der  Unterschrift  der  me,  Fas- 
sung: Jeuan  ap  Rydderch  ap  Jeuan  Lloyd, i  oder  nach  anderen: 
Jeuan  ap  Howel  Swrdwal,  beide  nach  Ellis  wohlbekannte  kymrische 


1  Vgl.  über  diesen  Dichter  Glyn  Davies  im  36.  Bande  der  Anglia,  S.  126. 
Er  wird  von  John  Davies  um  1420  gesetzt. 

Archiv   f.  n.  Sprachen.     110.  3 


34 


Ein  mittelenglischer  Hymnus  auf  Maria  und  Cliristua 


Barden  des  15.  Jahrh.  In  der  jüngeren  Hs.  des  Brit.  Museums 
findet  sich  noch  die  interessante  Notiz,  daß  der  Verfasser  das  Ge- 
dicht als  Student  in  Oxford  schrieb,  um  seinen  englischen  Kom- 
militonen einen  Beweis  von  der  künstlerischen  Höhe  kymrischer  Dich- 
tung zu  liefern.  Wer  die  Transkription  gemacht  hat,  wird  nicht  ge- 
sagt, jedenfalls  rührt  sie  nicht  vom  Verfasser  des  Gedichts  selbst  her. 
Bell  bemerkt  a.  a.  0.  S.  117,  daß  noch  mindestens  drei  weitere 
Hss.  der  Umschreibmig  existieren.  Es  wäre  sehr  erwünscht,  auch 
deren  Varianten  kennenzulernen,  da  sie  möghcherweise  die  beiden 
Textlücken  ergänzen  könnten!  —  In  meiner  Ausgabe  sind  Er- 
gänzungen in  eckige  Klammern  gesetzt  und  stumme  Buchstaben 
miterpunktiert.  Die  Anzahl  der  Silben  jedes  Verses  ist  durch  die 
Regeln  der  kymrischen  Metrik  bekannt. 

Ein  mittelenglischer  Hymnus  auf  Maria  und  Christus. 

B.  Kymrische  Umschrift. 

1. 
0   michti  ladt,  our  leding  /  tw  haf 
at  hefn  owr  abeiding; 
wntw  ddei   ffest  ev^rleating 
y[s]    set   a  braynts  ws   tw  bring.  4 

2. 
Yw  wann  ddys  wyth  blyss,  dde  blea- 
sing  of  God, 
ffor  ywr  gwd  abering, 
hwier  yw  bynn  ffor  ywr  wynning 
syns  kwin,  and  ywr  swnn  ys  king.  8 


A.  Text. 

1. 
O  mightie  Ladi?,  our  leading  /  to  haue 
at  heaveu   our   abiding; 
vnto  thy  feaste  eu^rlesting 
4      is  sette  a  brauch?  vs  to  bring. 

2. 
You  wann?  this  with  blisse,  the  bles- 
sing  /  of  God, 
for  your  good  abearing, 
wher?  you  ben   for   your  winning 
8      sine?  queen?,  &  your  sonne  is  king. 


Our   faders   fader,   our   feeding,  /  our 
pop?, 
on  your  papp?s  had  sucking; 
in  heav?n-blis3?  he  had,  this  thing, 
12       attendaunc?  without  ending. 


Owr    ffadyrs    ffadyr,    owr    ffiding,  / 
owr  pop, 
on   ywr   paps   had   swking; 
yn  hefn-blyss  hi    had,    ddys  thing 
atendans  wythowt  ending.  12 


We  Sreen?  the  bright  queene  with  cun- 
ning  /  &  bliss?, 
the  blossom?  fruit?  bearing; 
I  would,  as  ould  as  I  sing, 
16      winn?  your  loue  on  your  lovinge. 

3  the  Hs.  lastiug  Hs.  7  bent  Hs. 
9  forefaders  Hs.  11  I  had  Hs.  16  la- 
vinge  Hs. 


Wi  sin  dde  bricht  kwin  wyth  kwn- 
ing  /  and  blys, 
dde  bloss wm  ffrvwt  bering; 
ei  wowld,  as  owld  aa  ei  sing, 
wynn  ywr  Iwf  on  ywr  loving. 

1  michti]  t  vom  Rubrikator  in  d  ge- 
ändert, tw]  to  ÄC,  tw  B.  3  yn  Ä, 
in  B,  un  C.  efr  B,  ever  ÄC.  lesting 
B.  lasting  ÄC.  4  i  set  ABC.  5  of 
ÄC,  off  B.  7  wher  B.  8  synn  Ä, 
Bonn  B,  son  C.  9  fforffaddyrs  ffad- 
dyr  Ä,  ffadders  ffadder  B,  foVefathers 
fathera  llihad^(7,hadfforÄ  161yf 
Ä,  lof  B,  love  C.     laving  Ä  C,  lafing  B 


und  seine  kymrische  Umschrift 


35 


Queens   odd§    of   our   God,   our   gui- 
ding /  moder, 
mayden  notwithstanding?, 
who  wed  sich  with  a  rieh  ring, 
20      OS  God  woud  this  good  wedding, 


5. 

Kwin  od  off  owr  God,  owr  geiding/ 
mwdyr, 
maedyn  notwythstanding, 
hw  wed  syts  wyth  a  ryts  ring, 
as  God    wad  ddys  gwd  weding,        20 


Help^   US,   pray    for   us,   preferring  / 
our  soul^s ! 
Assoil^  US  at  ending! 
Mak?  that  all  we  fall  to  ffing 
24      your  sonn^s  lou?,  our  sinnea  leav- 
ing! 


Help  WS,  prae  fFor  ws,  prefferring  / 
owr  sowlal 
Asoel  WS  at  ending! 
mak   ddat  awl  wi  ffawl  tw  ffing 
ywr    swns    Iwf,    owr   syns  levingl  2-1 


As   we   may    tlie   day   of    dying  /  re- 
ceiue 
our   [saviour]   in  housling, 
as  he  may  tak^  us  waking 
OQ       to  won^  in  his  niightie  wiug! 


As  wi  mae  dde  dae  off  deiing  /  reeef 

owr  saviwr  yn  howsling, 
as  hi  mae  tak  ws  waking 
tw  wwn  yn  hys  michti  wing! 


8. 
Mighti,  h©  took?,  /  me  ought  to  teil, 
out    söul^s    of    hell  /  to    soiles    of 
hight; 
wee    ask?    with    book§,  /  wee    wish§ 
with  bell, 
to   heaven    füll   well  /  to  hau?   our 
flight; 
all  deed^s  well  don§ 
t'abide  aboone 
a  god-mad?  trone, 

a  goode,  meet?  wright; 
and  say  so  soon? 
and  north  and  noon?, 
and  aunn?  &  moon?, 
&  so  non§  might. 


19  such  Hs.  23  that  all]  all  that  Hs. 
24  live  Hs.  28  wone]  him  Hs.  29  might 
hit  Hs.  30  sight  -Hs.  34  aboone]  deo 
boone  Hs. 


8. 
Michti,   hi  twk,   mi   o[w]cht  tw  tel, 
owt  sowls  off  hei  tw  soels  off 
hicht; 
wi  aish  wyth  bwk,  wi  wysh  wvth 
bei, 
tw  hefn  ffwl  wel  tw  haf  owr 
flicht; 
awl  dids  wel  dwn 
t'abeid  abwn 
a  god-mad  trwn, 

a  gwd,  met  wricht; 
and  s[a]e  so  swn 
and  north  and  nwn, 
and  swnn  and  mwn, 
and  so  non  micht. 


i 


17   mwddyr,  -er  Ä,    C,  moder  B. 

20  wad  ABC,  in  B  aus  wud  korrig. 

21  for  A,  ffor  BC.  23  awl  ddat  A, 
ddat  awl  B,  all  that  fawl  C.  24  synns 
lyf  A,  Bons  lof  B,  &yn&  love  C.  25 
deing  A,  deiing,  -yng  BG.  26  saviowr 
A,  aafiowr  BC.  28  wwn]  hym  A, 
hüm  B,  him  C.  29  Micht  hyt  A, 
O'meicht  hi  B,  Mighty  he  C.  30  sola 
A,  sowls  BC.  31  aish  AB.  ask  G. 
wish  ABC.  32  owr]  on  ABG.  33 
awl]  w  unierpimc/icrt  A.  dywn  A, 
dwnn  B,  dwn  G.  34  tabyd  deo  bwn  A, 
t'abeid  te  bwn  B,  ta  byd  deo  bwn  G. 
36  met  AG,  mit  B.  37  se  ABC. 
39  synn  AB,  syn  C. 


36 


Ein  mittelenglischer  Hymnus  auf  Maria  und  Christus 


As  soon?  as  prid?  /  is  now?  supprest, 
his  seal?  is  pest,  /  his  soul§  is  pight; 
I  teil  to  you, 
44  as  som^  do§  show§, 

as  now§  I  trow?, 

we  US?  not  right. 
A  boy  with  bow§, 
48  his  look^s  is  slow?, 

how?  may  [you]  know? 
him   from  a  knight? 
10. 
The  trueth  is  kitte,  /  that  earth  is 
cast, 
52      the  end?s  be  last,  /  tlie  Landes  be 
light. 
0  God,   sette  it/good,  as   it  was! 
The   rule   doth   pass?,  /  tlie  world? 
hath  pight. 
The  World  away 
56  is  don?  as  day, 

it  is  no  nay, 

it  is  nigh?  night. 
As  ould,  I  say, 
60  I  was  in  fay, 

yelde  a  good  may, 
would  God,   I  mightl 
11. 
A  pretti?  thing  /  we  pray  to  th'est, 
64      that    good    behest,  /  that    God    be- 
hight; 
&   he  US   f fing  /  into  his   feast?, 
that  euer  shall  lest  /  with  diuerse 
light! 
Awar?  we  would 
68  the  Sinnes  we  sould, 

&  be  not  hould 

in  a  baut  hight?. 
And  young  &  ould, 
72  with  him  they  hould, 

the  Jewes  has  sould, 
that  Jesus   hight?. 

41  Keine  Lücke  in  der  Hs.  42  best 
Es.  46  with  his  Hs.  49  you  erg. 
Ellis.  55 — 62  stehen  in  der  Hs.  hinter 
58.     65  us]  was  Hs. 


i 


as  swn  as  preid  ys  now  swprest, 
hys  sei  ys  pest,  hys  sowl  ys  picht; 
Ei  tel  tw  yo[w], 
as  swni  dw  shio[w], 
as  now  ei  tro[w], 

wi  vws  not  rieht. 

A  boy  wyth  bo[w], 

hys  Iwks  ys  slo[w], 

how  mae  yw  kuo[w] 

hym  ffrom  a  knicht? 

10. 
Dde   trvwth  ys   kyt,   ddat  yerth   ys 
käst, 
dde  ends  bi  last,  dde  hands  bi 
licht. 
0  God,  set  yt  gwd,  as  yt  was! 
Dde  rvwl  dwth  pass,  dde  world 
hath  picht. 
Dde  World  away 
ys  dwn  as  day, 
yt  ys  no  nay, 

yt  ys  nei  nicht. 
As  owld,  ei  say, 
ei  was  yn  ffay, 
ield  a  gwd  may, 
wld  God,  ei  micht! 

11. 
A  preti  thing  wi  prae  tw  thest, 

ddat  gwd  bihest,   ddat  God  bihicht;  64 
and  hi   ws  ffing  yntw  hys  ffest, 
ddat  ev?r  shal   lest  wyth   deivero 
licht! 
Awar  wi  wowld 

dde  syns  wi  sowld,  6^ 

and  bi  not  howld 

yn  a  baut  hicht; 
and  ywng  and  owld, 
wyth  hym  ddei  howld,  72 

dde  dsivws  has  sowld, 
ddat  Dsiesws  hicht, 

41  syprest  AC,  swpprestÄ  42  sei 
ys  best  A,  hei  is  pest  B,  seil  is  best  G. 
his  sei  A,  sowl  BC.  picht  A,  peightjB, 
pight  C.  44  synn  dwth  A,  swm  dw 
B  sym  de  C.  "  47  withs  A,  wyth  B, 
with  C.  48  lokes  is  A,  Iwcks  ys  B, 
loks  is  C.  1  in  slo  von  spät.  Hand, 
so  BC.  55  dwnn  A,  dwn  B,  denn  G. 
55—62  stehen  nach  66.  56  dynn  A, 
dwn  B,  donn  C.  58  is  AC,  ys  B. 
61  eild  ABG.  62  wowld  B.  63  to 
ABC.  65  was  ^C,  WS  B.  66  efr  shawl 
B.  68  wi]  ddey  A,  ddeü  B,  they  G. 
69  and  ^,  an' Ä    10  in  ABC.    TShafC. 


und  seine  kymrische  Umachrift 


37 


12. 


0  trusti     Crist?,   /  that    werst    pe       O  trysti  Kreist,  ddat  werst  a  krown, 

crown?, 
er§  wec  di?  down?,  /  a-readi?  dight, 
to  thank?  to  thee 
at  te  rood?-tree, 
then  went  all  wee, 

thyn  o\v9[n],  to  light. 
To  graunt  agree, 
amen,  with  mee, 
that  I  may  see 

thee  to  my  sight! 

13. 
Our  lucke,  our  king,  /  our  locke,  our 
key, 
my  God,  I  pray,  /  my  guide  upright! 

1  seeke,   I  sing,  / 1   shake,   I  say, 
I  weare  away,  /  a  werie  wight. 

Against  I  goe, 

my  frendes  me  fro, 

I  found  a  foe, 

with  fend?  I  fight; 
I  sing  allso 
in  welth  &  woe, 
I  can  no  moe, 

to  queene  of   might. 


owr 


er   wi   dei   down,   aredi   dicht, 
tw  thank  tw  ddi 
at  dde  rwd-tri, 
dden  went  all  wi, 

ddein  own,  tw  licht. 
Tw  grawnt  agri, 
amen,  wyth  mi, 
ddat  ei  mae  si 

ddi  tw  mei  aicht! 

13. 
Owr   Iwk,    owr   king,  owr   lok, 
kae, 
mei  God,  ei  prae,  mei  wpricht  geid  I 
Ei  slk,  ei   sing,  ei  shiak,  ei  sae, 
ei  wer  awae,  a  wiri   wicht. 
Agaynst  ei  go, 
mei  ffrynds  mi   ffro; 
ei  ffownd  a  ffo, 

wyth  ffynd  ei  fficht; 
ei  sing  also 
yn  welth  and  wo, 
ei  kan  no  mo, 

tw  kwin  off  might. 


they  nowe  Hs. 


80  ddey  now  A,  wntw  thi  B,  ddein 
own  C.  84  two  Ä,  tw  B,  to  C. 
86  up  ÄC,  wp  B.  87  shiäk  B,  siak  C. 
90  ffrinds  B.  91  a  ffond  B.  92 
ffend  B.  ffricht  Ä,  ffeight  B,  fight  C. 
96  tw  ]  for  C. 

Anmerkungen. 

I.  Zum  m\  Text. 
V.  1.  leading  ist  hier  offenbar  so  viel  wie  leader,  d.  h.  also  'Füh- 
rerin'. —  V.  3  f.  Konstr.  a  brafiche  is  sette  to  bring  us  unto 
thy  everlesting  feaste;  hi'anche  bedeutet  offenbar  Christus  (s.  Nach- 
schrift). Thij  ist  nach  den  Transkriptionen  zu  schreiben,  lesting 
verlangt  der  Binnenreim  (vgl.  auch  V.  66).  —  V.  5.  this  weist  auf 
das  folg.  blessing  hin.  —  V.  6.  Äbearing:  'Benehmen,  Betragen' 
(jetzt  veraltet).  —  V.  7.  Wie  die  Transkriptionen  zeigen,  ist  beut 
hier  =  been,  also  Ind.  PI.,  vgl.  we  seene  V.  13  und  be  V.  52; 
ivhere  bezieht  sich  auf  blessing  of  God,  resp.  feaste  eveiiesting, 
d.h.  also  heaven.  —  V.O.  Wie  Davies,  AngliaSQ,  S.  122  nach- 
weist, ist  faders  statt  forefaders  zu  lesen,  da  der  Vers  nur  10  Silben 
haben  darf;  faders  ist  Adam,  dessen  Vater  wieder  Christus  als 
Weltschöpfer,  da  nach  dem  Johannesevangelium  I,  3  'omnia  per 
ipsum  facta  sunf .     Feeding  steht  hier,  wie  sonst  food,  im  über- 


38  Ein  mittelcnglischer  Hymnus  auf  Maria  und  Christus 

tragenen  Sinne,  vielleicht  mit  Bezug  auf  das  Abendmahl,  vgl.  V.  25  f. 
Für  die  seltsame  Bezeichnung  Christi  als  j)oj)e  kenne  ich  keine 
Parallele.  Sollte  der  Dichter  gewußt  haben,  daß  es  ursprünglich 
'Vater'  bedeutet?  Er  mag  auch  an  die  bekannte  Stelle  Hebr.  VI, 
20:  'tibi  praecursor  pro  nobis  introivit  Jesus,  secundum  ordinem 
Melchisedech^^pontifex  factns  in  aeternum,'  gedacht  haben.  — 
V.  11.  Die  Überlieferung  ist  sinnlos,  daher  falsch.  I  vor  had  ist 
in  he  zu  bessern;  das  Subjekt  ist  Christus  {this  thing).  —  V.  15. 
Der  Satz  scheint  eine  Konstruktionsmischung  zu  enthalten:  I  would, 
OS  ould  as  I  am  -\-  I  would,  as  late  as  I  smg,  d.  h.  'so  alt  ich 
auch  als  Dichter  bin'.  Vgl.  übrigens  V.  59  ff.  —  V.  16.  Lavinge 
'Waschung'  ist  sinnlos,  1.  lovinge  'Lob,  Preis'.  —  V.  17.  Odde  ist 
hier  'einzig'.  —  V.  20.  sich  ist  vielleicht  angelehnt  an  which;  hier 
verlangt  es  der  Binnenreim.  —  V.  20.  Woud  ist  kaum  das  Prät. 
von  me.  wowe  =  ae.  tvögian,  ne.  uvo  'werben,  freien',  denn  die 
Verbindung  mit  ivedding  als  Objekt  wäre  sehr  auffallend.  — 
V.  23.  Die  Wortstellung  ist  nach  B  gebessert;  fall  to  bedeutet 
nach  dem  NED.  (unter  fall  66):  'to  apply  or  betake  oneself  to; 
to  have  recourse  to;  to  take  to;  to  begin,  proceed  to';  fing  steht 
für  fang  unter  dem  Einfluß  des  Subst.  feng,  fing  'Fang'.  In  der 
Hs.  Add.  14866  steht  die  Randnote:  'ffing  for  f feinde! ,  vgl. 
Angl.  36,  118,  ^%  —  V.  27.  As  ist  hier  =  so.  —  V.  28.  Die 
Besserung  wird  durch  den  Sinn  und  die  Alliteration  gefordert;  vgl. 
zur  Stelle  Ruth  II,  12:  et  sub  cujus  confugisti  alas,  sowie  Ps.  XVI,  8: 
sub  umbra  alarum  tuarinn  protege  me!  —  V.  29.  Mightie  =  'the 
mighty  one',  vgl.  Davies,  S.  124;  me  ought  steht  hier  für  I  ought, 
vgl.  me.  me  bus  =  it  behoves  me.  Beispiele  s.  im  NED.  unter  ought 
III,  6.  —  V.  30.  Soiles  bedeutet  hier  'Gegenden,  Orte,  Plätze', 
vgl.  das  NED.  Hight,  das  durch  die  Transkriptionen  und  die  Metrik 
(Alliteration  mit  hell)  als  richtig  erwiesen  wird,  kann  'Höhe'  oder 
'Hoffnung,  Freude'  {a.e.hyht)  bedeuten.  — V.  31.  Die  beliebte  Formel 
tvith  book  and  bell  bezieht  sich  auf  Meßbuch  und  -glöckchen,  vgl. 
das  NED.  unter  book  4b  und  bell  8.  —  V.  33.  Absolutes  Partizip: 
all  deeds  (being)  ivell  done.  —  V.  33.  Das  überlieferte  deo  (B:  te) 
gibt  keinen  Sinn.  De  ist  wohl  Wiederholung  der  vorhergehenden 
Silbe  und  o  steht  für  a.  Allerdings  ist  aboon  sonst  eine  schot- 
tische Form,  scheint  mir  aber  die  einzige  hier  passende.  —  V.  35. 
Die  Aussprache  setzt  me.  irön  voraus,  vgl.  school.  —  V.  36,  d.  h. 
'als  ein  guter,  passender  Arbeiter';  es  steht  allerdings  mit  our  V.  32 
und  ivee  V.  31  nicht  in  Kongruenz.  —  V.  37  ff.  sind  mir  unklar. 
—  V.  38.  Noone  bedeutet  hier  offenbar  'Süden',  wofür  das  NED. 
aber  keinen  Beleg  hat.  —  Vor  V.  41  sind  zwei  Verse  ausgefallen, 
weshalb  auch  der  Zusammenhang  fehlt.  —  V.  42.  d.  h.  'sein  Glück 
ist  Verderben'  (ae.  säl) ;  pest  verlangt  die  Alliteration ;  pight  ist  wie  in 
V.  54  das  Part.  Prt.  von  me.  piche  'befestigen'.   Der  Sinn  bleibt  mir 


und  seine  kymrische  Umschrift  39 

aber  dunkel.  —  V.  46  ff.  Worauf  beziehen  sich  diese  Verse?  — 
V.  47.  Vgl.  Ms  V.  73.  —  V.  51  kitte  ist  =  kidd  'verkündet';  cast  be- 
deutet hier  wohl  'verurteilt',  vgl.  das  NED.  unter  cast  17.  —  V.  52. 
Auch  dieser  Vers  ist  mir  unverständlich.  —  V.  54.  Der  zweite 
Halbvers  ist  wohl  relativ  zu  fassen.  —  V.  55 — 62  habe  ich  mit 
Ellis  hierher  versetzt.  —  V.  55.  d.  h.  'es  ist  nicht  zu  leugnen',  vgl. 
das  NED.  unter  7iay  adv.  2a.  —  V.  59  ff.  bleiben  mir  dunkel.  — 
V.  61  f.  konstr.  would  God,  ff  hat)  I  might  yelde  a  good  may! 
Kann  sich  das  auf  die  Jungfrau  Maria  beziehen?  Vgl.  V.  15  f.  — 
V.  63.  To  th'esi:  weil  der  Altar  nach  Osten  steht?  —  V.  65.  Zu 
ffing  (hier  3.  Sgl.  Opt.)  vgl.  zu  V.  23.  —  V.  66.  Zu  lest  (:  fest) 
vgl.  zu  V.  3.  —  V.  67.  Erg.  den  Inf.  be  (vgl.  das  NED.  unter 
aware  3).  Oder  steht  aicare  für  heware^  —  V.  68  ist  mir  dunkel. i 
—  V.  70.  hant  ist  =  hanned  'verflucht',  vgl.  zu  V.  51  und  79. 
Was  ist  hant  hight?  —  V.  73  ist  Relativsatz,  erg.  whom.  Zu  hos 
nach  dem  Plur.  des  Subjekts  vgl.  V.  47.  —  V.  75.  Ist  ^e  oder  a 
das  richtige?  —  V.  76.  Areadi  ist  wohl  =  iredi,  ae.  gerade,  vgl. 
aivare  =  iware;  dight  ist  Sg.  Imper.,  erg.  7(s  dazu.  —  V.  79.  ivent 
steht  für  ivend,  vgl.  zu  V.  70.  —  V.  80.  Die  Besserung  nach  der 
Transkription  C.  —  V.  81  f.  konstr.  agi-ee  (Imper.)  ivith  mee  to 
graunt!  —  V.  89  f.  Against  ist  hier  Konjunktion:  'gegen  die  Zeit, 
wo',  vgl.  das  NED.  unter  against  18.  Ooe  steht  änb  xoivov  zu- 
gleich als  Prädikat  zu  7?iy  frendes;  man  denkt  unwillkürlich  an 
Everyman.  —  V.  93  f.  beziehen  sich  gewiß  auf  den  Teufel. 

IL  Zur  kymrischen  Umschreibung. 

Die  Fassung  der  Hengwrt-Hs.  294  ist  bei  weitem  die  beste, 
obwohl  auch  sie  nicht  frei  von  Fehlern  ist,  -wie  schon  Ellis  auf 
S.  35  von  Furnivalls  Ausgabe  nachgewiesen  hat.  Sie  können  aber 
alle  leicht  mit  Hilfe  der  sonstigen  Überlieferung  und  der  kj^mrischen 
Metrik  beseitigt  werden.  Die  Quantität  der  Vokale  wird  im  all- 
gemeinen nicht  berücksichtigt,  denn  a,  e,  o  bezeichnen  sowohl  langes 
wie  kurzes  a,  e,  o.  Langes  und  kurzes  ne.  u  werden  durch  iv, 
kurzes  (offenes)  i  durch  y  ausgedrückt,  während  i  nur  im  Auslaut 
sowie  vor  cht,  ng  und  sh  steht,  vgl.  ladt,  flicht,  sing,  tvish.  Der 
aus  me.  %  entstandene  Diphthong  wird  durch  ei  vertreten,  während 
oiv  sowohl  me.  ti  wie  ou  bezeichnet.  Der  me.  Diphthong  au  er- 
scheint als_a?r,  me.  ai  als  ai,  ay  oder  ae,  me.  oi  als  oe  oder  oy, 
me.  (frz.)  ü  und  me.  eu  als  V7v.  Bei  den  Konsonanten  ist  zu 
bemerken,  daß  kynu*.  d  die  Media,  dd  dagegen  die  stimmhafte 
Spirans  (ne.  th  in  father)  bezeichnet,  während  stimmloses  engl,  th 

'  Entweder  ist  vor  the  sinnes  die  Konjunktion  that  zu  ergänzen  {the  stnnes 
Obj.  zu  sotdd)  oder  vor  we  ein  Relativpronomen.  Kann  seil  hier  'aufgeben' 
bedeuten  ? 


40  Ein  mittelenglischer  Hymnus  auf  Maria  und  Christus 

stets  als  th  erscheint.  Ahnlich  unterscheidet  sich  kymr.  f  =  ae.  r 
von  kymr.  ff  =  ne.  /",  jedoch  steht  im  Inlaut  gelegentlich  auch  v 
für  i\  Da  stimmhaftes  s  im  Kymrischen  nicht  vorkommt,  wird  es 
vom  stimmlosen  Laute  nicht  unterschieden;  engl,  sh  vor  Vokalen 
w^ird  durch  si,  engl,  j  durch  dsi  vertreten,  die  Affrikata  ts  im  Aus- 
laut durch  ts  (vgl.  braynts  V.  4).  Die  Halbvokale  w  imd  y  er- 
scheinen in  derselben  Form. 

Die  zweite  Fassung  der  Transkription  in  der  Hs.  des  Brit. 
Museums  ist  besonders  deswegen  bemerkenswert,  weil  sie  i  und  ?/- 
neben  y  für  kurzes  i,  o  neben  iv  für  km'zes  u  und  eight  für  icht 
schreibt,  auch  nicht  selten  den  Circumflex  als  Längezeichen  benutzt. 
In  C  (dem  Druck)  steht  ickf  wie  in  A,  im  ü])rigen  ist  diese  Fas- 
sung sehr  stark  durch  die  englische  Orthographie  beeinflußt,  so  daß 
eine  eingehende  Darstellung  der  abweichenden  Schreibung  sich  er- 
übrigt. 

Zu  einzelnen  Stellen  sei  folgendes  bemerkt:  V.  1.  Warum 
ist  t  in  michti  vom  Rubrikator  in  d  geändert?  —  V.  4.  Zu  braynis 
vgl.  aish  in  V.  31  und  Salesburys  aishe,  tvaitche,  heritaige  (Ellis); 
a  ist  also  hier  behandelt  wie  in  ne.  change.  Vgl.  dazu  Luick, 
Anglia  16,  484  ff.  —  Y.  5.  wyth  hat  stets  stimmlose  Spirans,  auch 
in  without  V.  12;  in  of  steht  nur  hier  f  =  v,  sonst  ff  =z  f,  vgl. 
V.  17,  25,  30,  96.  —  V.  7.  Jnvier  mit  langem  i  erscheint  nach 
Ellis  jetzt  in  Shropshire.  —  V.  9.  ffader  mit  -d-  verlangt  der  Eeim 
mit  ßding,  vgl.  Davies  S.  123  unten.  —  V.  21.  Die  Form  sits  be- 
legt Wright,  Engl.  Dial.  Orammar,  S.  626  f.  aus  verschiedenen 
Gegenden.  —  V.  35.  trwn  (d.  i.  trün)  wird  auch  von  Salesbury  be- 
zeugt, was  me.  t7'ö?i  mit  geschlossenem  ö  voraussetzt.  —  V.  36.  Zu 
met  vgl.  ae.  gemet  und  mäte\  die  Hs.  ß  hat  mit.  —  V.  43.  yow 
(d.  i.  joiC)  ist  die  lautgesetzliche  Entwicklung  von  ae.  eöic.  An 
andern  Stellen  steht  yw  wie  im  Ne.  Auffallend  ist  die  Weg- 
lassung des  auslautenden  w  (u)  in  den  Reimwörtern.  —  V.  45.  t?-oiv 
ist  das  ae.  treowan,  triou-mi.  —  V.  51.  yertli  ist  eine  dialektische 
Form,  die  jetzt  noch  in  Shropshire  lebt.  —  V.  54.  Wright  S.  686  f. 
belegt  World  mit  -o-.  — •  V.  61.  Eine  Form  jeld  belegt  Wright 
S.  694  zwar  aus  North -Staffordshire,  sie  ist  aber  hie"  nicht  sehr 
wahrscheinlich.  Andre  Dialektformen  sind:  lld,  hhl,  jild,  jeild, 
jidld.  Nach  Ellis  steht  eild  für  ield,  d.  i.  ild.  —  V.  62.  Nach  E. 
könnte  ivld  fiu"  tviüld  (d.  i.  ivuld)  stehen,  da  w  vor  w  im  Kymr. 
schwindet;  vgl.  aber  wowld  V.  67.  —  V.  63.  Wright  belegt  S.  566 
preti  für  Worcestersh.  und  Oxfordsh.  ihest  hat  wegen  der  Alht. 
mit  thing  stimmlosen  Anlaut!  —  V.  66.  Die  AUit.  verlangt  in  tJmt 
und  tcith  gleiche  Spirans,  vgl.  Davies  S.  125.  —  V.  69.  an  statt 
and  verlangt  die  Allit.  nach  Davies.  —  V.  74.  Dsiesius  {=  dxexiis) 
mit  e-  ist  auffallend.  Zur  Allit.  vgl.  Davies  S.  125.  —  V.  75. 
trysti:  Wright  S.  657  bezeugt  tristi  als  dialektisch.  —  V.  87.  stk 


und  seine  kyrnrischc  Umschrift  41 

ist  der  einzige  Fall,  wo  in  A  die  Länge  bezeichnet  wird.  —  V.  90. 
ffryrids  stimmt  zu  Salesburys  und  Gills  frind,  das  nach  Wright 
S.  454  weitverbreitet  ist.  —  V.  92.  Auch  find  bezeugt  Wr.  S.  437.  — 
S.  93.    Steht  also  flu-  mvlso'^ 


IIL  Zur  Metrik. 

Vgl.  dazu  die  Ausführungen  von  J.  Glyn  Davies,  Anglia  36, 
121  ff.  Danach  zerfällt  das  Gedicht  in  zwei  verschiedene  Teile: 
a)  Str.  1 — 7  in  der  Englyji  unodl  u7iion  -  Strophe,  b)  Str.  8 — 13 
in  der  Taivddgyrch  Cadwytiog-Strophe.  Die  erstere  besteht  aus 
vier  Versen  von  ie  10  -{-  6  -{-  7  ^  1  Silben,  zusammengehalten 
durch  den  Endreim  -ing,  der  aber  im  ersten  Verse  auf  die  achte 
Silbe  fällt,  wodurch  die  zwei  letzten  als  reimloser  'bob-vers'  er- 
scheinen. In  den  Hss.  ist  dieser  durch  einen  Strich  von  dem 
übrigen  Verse  geschieden.  Von  den  Endreimen  der  beiden  sieben- 
silbigen  Verse  muß  einer  betont,  der  andre  unbetont  sein,  z.  B. 
ritig  :  ivedding  Str.  5;  die  beiden  ersten  Reime  sind  stets  unbetont, 
z.  B.  guiding  :  -stdnding  ib.  Zu  den  Endreimen  kommen  noch 
Binnenreime,  z.B.  michti  :  ladi  1,  1;  this  :  blis  2,  1;  fader  s  : 
fader  3,  1 ;  seen  :  queen  4,  1 ;  od:  god  5,  1 ;  ns  :  us  6,  1 ;  mai :  dai 
7,  1;  feast :  lest-  1,  3;  been :  ivinn-  2,  3;  blis  :  this  3,  3;  ivould  : 
mld  4,  3;  sich  :  rieh  5,  3;  all  :  fall  6,  3;  tak  :  ivak-  7,  3.  — 
Auch  die  Alliteration  spielt  eine  große  Rolle.  Zunächst  allite- 
riert der  'bob-vers'  mit  dem  folgenden  Verse :  haue  :  heaven  1,1; 
god  :  good  2,  1  usw.,  ferner  findet  sich  Alliteration  stets  im  ersten 
Verse  jeder  Strophe,  vgl.  ladie  :  leading  1,  1 ;  bliss  :  blessing  2,  1 ; 
fader  :  feeding  3,  1 ;  queen  :  cunning  4,  1 ;  god  :  guiding  5,  1 ; 
pray  för  :  preferring  6,  1;  day  :  dying  7,  1;  desgl.  im  vierten,  vgl. 
branciie  :  briiig  1,  4;  queene  :  ki7ig  2,  4;  attendaunce  :  without- 
4nding  3,  4;  loue  :  louing  4,  4;__  god  :  good  5,  4;  loue  :  leaving  6,  4; 
nur  in  7,  4  fehlt  sie  in  der  Überlieferung,  ist  aber  leicht  herzu- 
stellen :  ivtin  :  iving.  Gegen  die  Regel,  daß  die  Vokale  der  allite- 
rierenden Silben  verschieden  sein  müssen,  verstößt  attendau7ice  : 
-outendiyig  3,  4.  Der  Rest  des  Gedichts,  Str.  8  ff,  ist,  wie  schon 
bemerkt,  in  dem  Metrum  Tawddgyrch  cadwynog  verfaßt.  Beide 
Teile  sind  durch  Wiederholung  von  mighty  verbunden.  Die  Strophe 
ist  hier  zwölfzeilig  und  besteht  aus  einem  Aufgesang  von  vier  und 
einem  Abgesang  von  acht  Versen;  die  ersteren  sind  achtsilbig,  die 
letzteren  viersilbig.  Der  Endreim  zeigt  das  Schema  ahab,  cccb,  cceb. 
Der  6-Reim  geht  durch  alle  Strophen  hindurch,  die  übrigen  Reime 
sind  verschieden. 

Im  Aufgesang  finden  sich  außerdem  noch  Zäsurreime  in  kreuz- 
weiser Ordnung  {ab ah),  wobei  die  Zäsur  des  zweiten  und  vierten 
Verses  mit  dem  Schluß  des  jeweiligen  ersten  und  dritten  nach  dem 


42.  Ein  mittelengliacher  Hj^mnus  auf  Maria  und  Christus 

Schema  alb||b|cl|a|b|lb|c|l  reimt.  Auch  hier  ist  sowohl  im  Auf- 
wie  im  Abgesang  häufig  Alliteration  verwendet,  wobei  sich  wieder 
viele  Künsteleien  in  bezug  auf  Anlaut  und  Stellung  finden,  die 
aufzuzählen  und  im  einzelnen  zu  betrachten  zu  weitläufig  sein 
würde.  1 

Die  Strophen  9  und  12  sind  offenbar  nicht  vollständig,  da  sie 
nur  10  Zeilen  haben  und  der  Aufgesang  aus  bloß  2  Versen  be- 
steht; die  Unregelmäßigkeit  in  Str.  10  und  11  ist  durch  die  von 
Ellis  vorgeschlagene  Umstellung  der  Verse  59 — 66  leicht  zu  be- 
seitigen. 

Die  Reimtechnik  ist  im  allgemeinen  genau,  eine  kleine  Un- 
genauigkeit  findet  sich  nur  V.  51  ff.  {cast :  last :  ivas  :  passe).  Für 
den  Dialekt  ist  leider  aus  den  Reimen  wenig  zu  gewinnen:  es  ist 
die  Schriftsprache  des  15.  Jahrhunderts. 

Kiel.  F.  Holthausen. 


'  In  der  ersten  Hälfte  der  Strophe  werden  alle  Konsonanten,  die  dem 
ersten  Kurzversreim  vorangehen,  in  derselben  Reihenfolge  vor  dem  zweiten 
Kurzversreim  wiederholt,  der  dritte  Kurzvers  ist  mit  dem  vierten,  der  fünfte 
mit  dem  sechsten  und  der  siebente  mit  dem  achten  in  derselben  Weise  ver- 
knüpft, vgl.  V.  29  f.:  michti,  he  took,  \  me  oucht  io  teil,  owt  sowls  off  hell  \  to 
soils  off  hicht. 

Nachschrift. 

Während  der  Korrektur  konnte  ich  das  Gedicht  mit  Prof.  Mors- 
bach und  Dr.  Hübeuer  in  Göttingen  besprechen,  wobei  sich  einige 
neue  Auffassungen  ergaben.  V.  4  bezieht  Dr.  H.  auf  Christus,  vgl. 
Jer.  23,  5:  I  will  raise  unto  David  a  righteous  hranch.  —  V.  11 
erwartet  man  eher  hos,  wenn  die  Stelle  richtig  gedeutet  ist.  — 
V.  19  bezieht  sich  tvho  wohl  auf  Qod,  sich  'eine  solche'  auf 
mayden.  —  V.  20  ist  as  'da,  weil',  woud  'wollte',  tvad  die  nörd- 
Hche  Form  (ae.  nordh.  walde).  —  V.  38  f.  Zu  and  —  and  =  both 

—  a7id  vgl.  das  NED.  unter  and  5.  —  V.  48  1.  lowe  st.  slotve? 

—  V.  52.  Gehört  last  zu  me.  lasse  'verringern,  -kürzen'?  light  ist 
wohl  'licht,  rein',  vgl.  das  NED.  unter  light  adj.  2.  —  V.  70.  Be- 
zieht sich  hight  auf  die  Sündenlust?  —  V.  73.  sould,  d.  h.  dem 
Tode.  —  V."76.  die  down  ist  im  NED.  erst  seit  1834  belegt; 
dight  faßt  M.  als  Part.  Prt,  to  thank  in  V.  77  hinge  dann  von 
einem  in  der  Lücke  anzunehmenden  Verbum:  'gewähre  uns!'  ab.  — 
Zu  V.  51,  70  u.  79  {-d>t)  vgl.  jetzt  Piriczek,  Idg.  Forsch.  38, 
196  ff. 


i 


Dickens'  Belesenheit. 

Unter  den  großen  literarischen  Gestaltern  gibt  es  wohl  keinen, 
der  sich  gleich  Dickens  nach  äußerst  mangelhafter  Schul- 
bildung und  aus  widrigsten  Verhältnissen  zu  einem  so  führenden 
Schriftsteller  emporgearbeitet  hat.  Die  ungewöhnlichen  Schwie- 
rigkeiten, die  seinem  Aufstreben  entgegenstanden,  haben  sogar  die 
weithin  und  nicht  nur  in  Laienkreisen  verbreitete  Ansicht  veran- 
laßt, er  sei  bloß  ein  Abmaler  der  Wirklichkeit  gewesen,  weil  ihm 
berufliche  Belesenheit  zum  Lernen  von  seinen  künstlerischen  Vor- 
gängern fehlte.  Diese  Ansicht  soll  nachgeprüft  werden,  beson- 
ders um  für  das  Studium  seiner  dichterischen  Bedingtheit  Vor- 
urteile zu  beseitigen  und  den  Weg  zu  bereiten. 

a)  Bildungsgelegenheiten. 

Im  ersten  Brief  an  Washington  Irving  beschreibt  er  sich  selbst 
als  'a  verj^  small  and  not-over-particularly-taken-care-of  boy' 
(Forster,  Life  of  Ch.  D.  [Tauchnitz]  I,  27).  ^  Das  ist  aber  wenig- 
stens für  seine  ersten  Jahre  in  Chatham  übertrieben,  denn  damals 
lebte  er  glücklich  im  elterlichen  Hause,  und  die  Mutter  selbst  er- 
teilte ihm  bis  1819  den  ersten  Unterricht.  Sie  gab  ihm  Tag  für 
Tag  regelrechte  Schulstunden  im  Englischen  und  später  auch  im 
Lateinischen,  und  zwar,  wie  er  selbst  bezeugt,  'thoroughlv  well' 
(Fol,  27). 

Als  die  Eltern  gegen  Ende  1819  nach  einem  anderen  Teile 
Chathams,  nach  dem  Brook,  übersiedelten,  wurde  er,  wie  es 
scheint  nach  dem  Besuch  einer  'preparatory  day-school'  (Fo  I,  28), 
in  die  Anstalt  eines  Mr.  Giles  geschickt  (Langton,  The  Childhood 
and  Youth  of  Ch.  D.  55),  eines  gewissenhaften  Gelehrten,  der  in 
Oxford  studiert  hatte  (Fo  I,  36).  Giles  war  zugleich  ein  nam- 
hafter Redner  (Langton  56/7)  und  wurde  ihm  bald  ein  väterlicher 
Freund,  indem  er  sich  dem  aufgeweckten,  ungewöhnlich  intelli- 
genten Knaben  sogar  des  Abends  in  zwangloser  Unterhaltung 
widmete.  Unter  seiner  sorgfältigen  Anleitung  hat  D.  unzweifel- 
haft für  seine  erstaunliche  Beherrschung  der  englischen  Sprache 
den  Grund  gelegt. 

Anfang  1823  zogen  seine  Eltern  nach  London.  Bald  brach 
sein  Vater  finanziell  zusammen  und  kam  in  das  Schuldgefängnis. 
Es  folgte  die  qualvolle  Tätigkeit  des  Sohnes  in  Warrens  Schuh- 
wichsefabrik (Langton  72). 

Im  Sommer  1824  schickte  der  Vater  den  zwölfjährigen  Knaben 
wieder  auf  eine  Schule,  und  zwar  die  eines  Mr.  Jones  in  Hamp- 
stead,  North  London,  genannt  Wellington  House  Academy.  für 
ungefähr  zwei  Jahre.    Der  Schulleiter  war,  wie  D.  1851  erzählte 


44  Dickeus'  Belesenheit 

(Fo  I,  95,  100),  'supposed  to  know  nothing,  and  one  of  the  ushers 
was  supposed  to  know  everything'  (Fo  I,  93).  Die  Knaben  hiel- 
ten sich  Vögel  und  weiße  Mäuse.  Wo  die  Lehre  versagte,  sollte 
der  Stock  aushelfen.  Diese  letzte  Schule  verließ  der  Vierzehn- 
jährige 1826  (Langton  92).  Daß  er  hier  kein  Latein  getrieben 
habe,  bezeugt  ein  Brief  seines  Mitschülers  Dr.  Danson  an  Forster 
(Fo  I,  100).  Er  hatte  allerdings  bei  Jones  die  Möglichkeit,  bei 
einem  besonderen  Lateinlehrer  Unterricht  zu  nehmen  (Langton 
88).  Wir  wissen  sogar,  daß  der  Lehrer  Manville  oder  Mandeville 
hieß  und  jahrelang  in  der  Bibliothek  des  Britischen  Museums  eine 
bekannte  Persönlichkeit  war  (Fo  I,  94).  Auch  ist  die  Begrün- 
dung, die  Dr.  Danson  seinem  Zeugnis  beifügt,  daß  nämlich  D.  in 
seinen  Schriften  niemals  auf  die  römischen  Klassiker  anspiele, 
nicht  ganz  zutreffend;  er  nennt  einmal  einen  freigelassenen 
Sklaven  'Cicero'  (Chzwt  II,  23).  Ein  anderes  Mal  erwähnt  er  den 
römischen  Satiriker  'Juvenal'  (Chzwt  I,  301).  Auch  zitiert  er 
lateinisch  'Bis  dat  qui  cito  dat'  (Chzwt  II,  23).  Dennoch  ist  fest- 
zustellen, daß  er  ohne  inneres  Verhältnis  zu  lateinischer  Literatur 
blieb.  Mit  Griechisch  hat  er  sich  nach  Danson  überhaupt  nicht 
befaßt  (Fo  I,  100). 

Als  lebende  Fremdsprache  wurde  in  Wellington  House  Aca- 
demy  Französisch  gelehrt;  es  ergibt  sich  allerdings  nur  aus  einer 
gelegentlichen  Anspielung  auf  'the  French  master's  chair'  (Lang- 
ton 86).  Über  D.s  Fortschritte  in  diesem  Fach  fehlt  es  völlig  an 
Zeugnissen.  Positive  Kenntnisse  scheint  er  erst  in  den  vierziger 
und  fünfziger  Jahren  auf  seinen  Reisen  in  Italien  und  Frankreich 
erworben  zu  haben.  In  den  Sprachen  beider  Länder  konnte  er 
sich  leidlich  unterhalten,  Bücher  lesen  und  dramatischen  Auffüh- 
rungen folgen  (Gissing  27).  Französisch  hat  er  nie  sonderlich 
gut  gesprochen,  'his  accent  being  somehow  defective',  aber  leid- 
lich fließend  geschrieben,  wie  neben  Forsters  Angabe  auch  ein  an 
diesen  gerichteter  Brief  erkennen  läßt  (Fo  IV,  95  f.).  Seine  ita- 
lienischen Kenntnisse  sind  geringer  gewesen  (Fo  III,  129). 

Was  Dickens  an  Schulunterricht  entging,  das  ersetzte  er  durch 
erstaunliche  Eigenlektüre.  Schon  1819  war  er  'a  good  and  eager 
reader'  (Langton  26).  Mary  Weller,  die  als  Köchin  bei  seinen 
Eltern  diente  und  1888  im  Alter  von  84  Jahren  starb,  berichtet: 
'Little  Charles  was  a  terrible  boy  to  read'  (Langton  25,  29,  44). 
Zutritt  zu  den  Büchern  gewann  er  zuerst  in  der  väterlichen  Bi- 
bliothek zu  Chatham;  sie  enthielt  nicht  nur  die  in  Copf  I,  Kap. 
IV  aufgezählten  Romane  Roderick  Random,  Peregrine  Pickle, 
Humphrv  Clinker,  Tom  Jones,  Vicar  of  Wakefield,  Don  Quixote, 
Gil  Blas  und  Robinson  Crusoe,  dazu  '1001  Nacht'  und  die  'Tales 
of  the  Genii',  sondern  auch  die  Essaysammlungen  Spectator,  Tat- 
ler, Idler,  Citizen  of  the  World  sowie  Mrs.  Inchbalds  Sammlung 


: 


Dickens'  Belesenheit  45 

von  'Farces'.  Alle  diese  Bücher  las  er  in  Chatham  wiederholt  und 
immer  wieder  (Fo  I,  48)  —  er  zählte  damals  etwa  zehn  Jahre. 
Weitere  Gelegenheit,  seine  Lesewut  zu  befriedigen,  fand  er  in 
London.  Wenn  Forster  erzählt,  daß  dort  das  Buchhändlerpaar 
Manson  dem  jungen  Dickens,  sobald  er  seinen  in  demselben  Hause 
wohnenden  Onkel  besuchte,  Colmans  Schwank  'Broad  Grins'  und 
Jane  Porters  Geschichten  'Scottish  Chiefs'  lieh  (Fo  I,  48),  so  ist 
nicht  anzunehmen,  daß  sich  Dickens  auf  diese  einmalige  Ent- 
leihung beschränkt  hat.  Am  wichtigsten  aber  wurde  für  ihn  das 
Britische  Museum.  Einen  Tag  schon  nach  dem  7.  Februar  1830, 
an  dem  er  das  vorgeschriebene  Alter  von  18  Jahren  erreicht  hatte, 
finden  wir  seinen  Namen  in  der  Liste  der  Besucher,  und  dann  un- 
gemein oft  (Langton  102).  Diese  Tage  im  Britischen  Museum  hat 
er  oft  als  die  für  ihn  nützlichsten  bezeichnet  (Fo  I,  111).  Auf 
diesem  Wege  gewann  er  'such  general  Information  about  books, 
as  a  fairly  educated  youth  might  be  expected  to  have,  as  well  as 
to  satisfy  some  higher  personal  cravings'  (Fo  I,  111). 

Während  er  dann  bei  Edward  Blackmore  als  Schreiberlehrling 
arbeitete,  vom  Mai  1827  bis  November  1828,  besuchte  er  fleißig 
das  Theater  und  prägte  sich  dramatische  Rollen  ein  (Langton  94). 
Trotz  angestrengter  Berufsarbeit  als  Reporter  und  später  als 
Autor  fand  er  immer  noch  Zeit  zum  Lesen,  wenn  auch  in  unsyste- 
matischer Weise,  indem  er  aufgriff,  was  ihm  in  den  Weg  kam 
(vgl.  Fo  III,  224). 

Die  großen  Erfolge  brachten  ihn  auf  einen  neuen  Weg  literari- 
scher Bildung:  persönliche  Kenntnis  von  Schriftstellern.  Er  be- 
freundete sich  mit  dem  Romanschreiber  Ainsworth  (Letters  of  Ch. 
D.  [Tauchnitz]  I,  47,  81,  99),  den  Dramatikern  Douglas  Jerrold, 
der  an  seinen  Privataufführungen  teilnahm  (Le  I,  144,  240), 
Sheridan  Knowles  (Le  I,  230)  und  John  Poole  (Le  I,  251),  in  be- 
sonderem Maße  mit  den  Possendichtern  Marc  Lemon  und  W.  C. 
Macready,  die  bei  den  Kinderaufführungen  in  seinem  Hause  hal- 
fen (Le  I,  144;  II,  99;  I,  6,  17  u.  ö.).  Sehr  nahe  rückte  er  später 
den  fruchtbaren  Erzählern  Charles  Reade  (Le  III,  22)  und  Wilkie 
Collins  (Fo  IV,  176),  dem  Musikkritiker  Chorley  (Le  III,  193 
Anm.)  und  seinem  nachmaligen  Biographen  John  Forster.  Zu 
seinem  weiteren  Bekanntenkreise  gehörten  die  Possenverfasser 
Buckstone  (Le  II,  72),  Oxenford  (Le  II,  227)  und  Edmund  Yates 
(Le  II,  204  u.  ö.).  Außer  Schauspielern  und  Malern  finden  wir  in 
seiner  Umgebung  ijfcch  den  wenig  bekannten  Verfasser  eines  Ro- 
mans 'Ranthorpe',  einen  gewissen  Lewes  (Le  IV,  95),  den  Her- 
ausgeber der  Times,  John  Delane  (Le  II,  5),  und  den  Historiker 
Sheriff,  der  dann  1847  als  Sir  Archibald  Alison  den  Dichter  und 
dessen  Gattin  bei  sich  als  Gäste  empfing  (Le  I,  181). 

Zu  den  Größen  der  Literatur  spinnen  sich  von  Dickens  meist 


46  Dickens'  Belesenheit 

nur  wenige  und  dünne  Fäden.  Er  kennt  Thomas  Hood  (Le  I,  86). 
Für  Leigh  Hunt  verwendete  er  sich  einmal  um  eine  Unterstützung 
(Le  IV,  88  fF.).  Er  sah  den  Dichter  Landor,  zuletzt  1851  in  Bath 
(Le  I,  267),  und  stand  in  freundschaftlichem  Verkehr  mit  dem 
berühmten  Robert  Browning  (Le  IV,  207).  Gut  bekannt  war  er 
mit  Carlyle  (Fo  III,  115),  den  er  in  späteren  Jahren  besonders  ver- 
ehrte (Fo  II,  175).  Etwas  näher  trat  er  Bulwer,  und  zwar  durch 
schauspielerische  Betätigung.  Seine  Beziehungen  zu  Thackeray 
sind  trotz  gelegentlichen  Briefwechsels  und  persönlicher  Zusam- 
menkünfte ziemlich  kühl  geblieben,  wie  es  scheint,  nicht  durch 
Thackerays  Schuld  (Le  II,  226;  IV,  152  f.). 

Etliche  buchkundige  Damen  verkehrten  zwischendurch  in  sei- 
nem Hause,  so  die  Gräfin  von  Blessington  (Le  IV,  22,  64  u.  ö.), 
die  Liebhaber-Mimin  Miss  Boyle  (Le  I,  225),  die  Schriftstellerin 
Marguerite  Power  (Le  II,  181). 

In  Amerika  finden  wir  ihn  gleich  bei  seinem  ersten  Aufenthalt 
in  Verbindung  mit  Longfellow  und  Emerson  (Le  III,  147);  lange 
nach  seiner  Rückkehr,  1868,  sah  er  Longfellow  bei  sich  als  Gast 
(Le  III,  167).  Freunde  wurden  ihm  Washington  Irving  und 
Washington  Allston  (Le  IV,  48,  44). 

Sein  Aufenthalt  in  Paris  führte  ihn  zu  Scribe,  Auber,  Dumas 
sen.,  Paul  Feval  (LeIII,26),  Gautier,  George  Sand  (Le  II,  139), 
auch  zu  Victor  Hugo  (Le  IV,  86),  zu  Lamartine,  Eugene  Sueu.  a. 
(Dibelius,  Ch.  Dickens  295).  Aber  warm  wurde  er  nur  mit  dem 
Schauspieler  Regnier  (Le  II,  101). 

Reichlich  ist  also  die  Zahl  der  kleineren  Autoren  und  beson- 
ders der  Schauspieler,  die  sich  um  ihn  gruppierten,  ohne  daß  er 
deshalb  ein  geistiger  Führer  für  sie  geworden  wäre.  Anfänglich 
mag  er  einiges  von  ihnen  gelernt  haben;  bald  aber  überwuchs 
er  sie  an  Originalität  so  mächtig,  daß  sie  nur  mehr  als  die  rück- 
haltlosen Bewunderer  zu  dienen  hatten,  ohne  die  seine  Eitelkeit 
nicht  leben  konnte. 

b)   Bekanntschaft  mit  Büchern   und   Dramen. 

Mit  gelehrter  Lyrikund  Epik  zeigt  sich  D.  nicht  son- 
derlich befreundet.  Er  besaß  Chaucers  'Canterbury  Tales'  in 
Tyrwhitts  Ausgabe  (zuerst  1775 — 78);  aus  dem  Prolog  dazu 
zitiert  er  v.  701 — 706  (Le  III,  99);  allgemein  spielt  er  an  auf  das 
'religious  edifice  [of  Canterbury],  immortalised  by  Chaucer'  (Copf 
II,  147).  Mit  dem  englischen  Urvater  seiner  Menschenbeschrei- 
bungskunst war  er  also  bekannt. 

Die  Versdichter  von  Chaucer  bis  Cowper  waren  ihm  zugäng- 
lich in  den  'Works  of  the  English  Poets',  hg.  von  Johnson  und 
Chalmers,  1810,  24  Bde.  (Dib  295).  Viel  Eindruck  haben  sie 
ihm  wohl  nicht  gemacht. 


Dickens'  Belesenheit  47 

Ferner  zählten  zu  seinem  Besitz  die  Werke  von  Spenser 
in  Todds  achtbändiger  Ausgabe  (1805),  Andrew  Marvell, 
Ausg.  1776,  3  Bde.,  und  John  Wolcot,  unter  dem  Schrift- 
stellernamen Peter  Pindar,  1.  Gesamtausg.  1802,  5  Bde.  (Dib298). 

Mi  1  ton  ist  ihm  'good,  though  prosy'  (Rdge  III,  76). 

B  u  n  y  a  n  s  Hauptwerk  wird  einmal  flüchtig  gestreift  (Am  N 
65)  und  einmal  parodistisch  zitiert  als  Tiljian's  Projiss'  (Chzwt 
I,  437). 

Pope  bot  ihm  mit  dem  'Essay  on  CriticLsm',  1711  (v.  215), 
das  geflügelte  Wort  'a  little  leaming  is  a  dangerous  thing'  (Sk 
35; Benignus,  Studien  über  die  Anfänge  von  D.,  Diss.  Straßburg 
1895,  26),  mit  dem  'Essay  on  Man'  1732—34,  (v.  145)  den  Aus- 
spruch 'Whatever  is,  is  right'  (TTC  I,  95).  Auf  'Moral  Essays' 
(1735)  III,  339  geht  die  Anspielung  'Pope's  couplet  about  the 
outside  of  [the  London  Monument]'  Chzwt  II,  174. 

Watts  'Divine  and  Moral  Songs  for  Children'  (1720),  viel- 
leicht das  erste  Kinderbuch  in  der  englischen  Sprache,  enthält  das 
Gedicht  'Voice  of  the  Sluggard',  das  Dickens  bereits  um  1819  gern 
rezitierte  (Langton  26).  Aus  demselben  Werk  ist  der  Vers 
'Satan  finds  some  mischief  still  for  idle  hands  to  do'  zitiert  in 
Copf  I,  295,  sowie  eine  ganze  Strophe  in  Chzwt  I,  167.  Dem  gro- 
ßen Kinderdarsteller  waren  die  englischen  Anfänge  dieser  Gat- 
tung abermals  nicht  fremd. 

Von  Goldsmith  erwähnt  D.  'The  deserted  Village'  (Le  I, 
201 — 4)  und  einen  Yers  (177)  aus  der  Satire  'Haunch  of  Venison' 
(1776):  'Like  sending  them  ruffles  when  wanting  a  shirt'  (Sk443; 
Ben  27). 

B  u  r  n  s  :  das  Volksliedchen  'My  heart's  in  the  Highlands'  wird 
im  Cockneyton  zitiert:  'My  'art's  in  the  'ighlands'  (Sk  56;  Ben 
28).  Aus  'A  red,  red  rose'  hat  D.  den  Vers  'She  is  like  the  red 
rose  that's  newly  sprung  in  June'  übernommen  (M  H  Cl  I,  161), 
sowie  die  Zeile  'the  bonnie  lad  is  far  away'  in  der  Umgestaltung 
*over  the  hills  and  far  away'  (Chzwt  II,  156).  Beweis,  daß  ihm 
der  große  Volkslyriker  nicht  fremd  war. 

Robert  Bloomfield,  der  Verfasser  des  'Farmer's  Boy' 
(1800),  der  'Rural  Tales  and  Ballads'  (1802)  und  der  'Wild 
Flowers'  scheint  erwähnt  (Shepherd,  Speeches  of  Ch.  D.,  69,  Fo 
III,  67).  —  Campbeils  Gedicht  'Lochiel's  Warning'  (1803) 
liefert  D.  den  Vers  'What  was  the  result  which  they  shadowed 
forth?'  (Sk  168;  Ben  29). 

Dagegen  urteilt  D.  ausführlicher  über  Crabbe  1846:  'I  don't 
think  so  highly  of  Crabbe  as  I  once  did'  (Fo  IV,  128);  direkte 
Anspielung  auf  'Parish  Register'  (1807)  in  Am  N  170  und  Fo 
III,  57. 

Aus  Wordsworths    Gedicht   'Her  eyes  are   ^41d'   (1798) 


48  Dickens'  Belesenheit 

stammt  das  Zitat  'I  saw  a  wildness  in  her  eyes'  (Chzwt  I,  131); 
aus  seinem  Gedicht  'Written  in  Marcli'  (1802)  der  Vergleich  'un- 
like  the  celebrated  herd  in  the  poem,  they  were  not  forty  children 
conducting  themselves  like  one,  but  every  cliild  was  conducting 
itself  like  forty'  (Xm  C  52). 

Von  Southey  las  D.  1839  den  'Curse  of  Kehama'  (1810) 
(Dib  482'-^  Nr.  150). 

Thomas  Moore:  'Fly,  fly,  from  the  world,  my  Bessy,  with 
me'  ist  angezogen  Sk  57,  'Oft  in  the  stilly  night'  (1815)  in  Sk  113; 
desgleichen  'Flow  on  thou  shining  river'  (Sk  299;  Ben  28).  Be- 
kanntschaft mit  'Lallah  Rookh'  (1817)  beweist  der  Hinweis  auf 
(Paradise  and  the  Pery'  und  auf  die  'Fire  Worshippers'  (Sk  280; 
Ben  29). 

Auf  Scotts  'Lay  of  the  Last  Minstrel'  (1805)  geht  die  An- 
spielung 'like  the  patron  Saint  of  fat  boys  —  the  immortal  Horner' 
(PPp  I,  408),  'Marmion'  (1808)  und  'Lady  of  the  Lake'  (1810) 
sind  gestreift  in  Am  N  201. 

Mehr  hat  sich  D.  mit  Byron  beschäftigt.  Auf  'Childe 
Harold's  Pilgrimage'  (1812—18),  Canto  II,  76  (1812)  geht  die 
Anspielung  'the  Irish  correspondent  is  only  an  hereditary  bonds- 
man  (Sk  152;  Ben  29).  Byrons  Ausspruch  nach  der  Veröffent- 
lichung der  beiden  ersten  Gesänge  des  'Childe  Harold'  kehrt  bei 
D.  in  parodistischer  Form  wieder:  'It  was  apparently  the  fate  of 
Mr.  Perch  to  be  always  waking  up  and  finding  himself  famous' 
(Dbv  III,  293).  Aus  dem  'Corsair'  (1814)  deklamierte  D.  eine 
Stelle  (Mackenzie,  Life  of  Ch.  D.  245).  'Don  Juan'  (1819—24) 
liefert  ihm  viele  Zitate;  es  erscheinen  Canto  I,  143  in  Sk  275, 
Canto  II,  154  in  Sk  280  und  Canto  IV,  35  in  Sk  284;  den  Anfang 
von  Canto  VII  hält  Mr.  Septimus  Hicks  für  das  Schönste  in  der 
Poesie  (Sk  281),  und  der  darin  enthaltene  Brief  Julias  an  Don 
Juan  wird  von  einer  Dame  begeistert  angezogen  (Sk  280;  Ben 
29).  'Fare  Thee  Well'  (1816)  wird  zitiert  in  OCSh  II,  159.  Der 
große  Romantiker  ist  D.  also  nicht  unbekannt,  doch  nachhaltige 
Einwirkung  hat  er  auf  ihn  nicht  ausgeübt. 

Von  S.  T.  Coleridge  kennt  D.  die  Romance  'ChristabeP 
(Fo  I,  233).  —  An  Wolfes  Gedicht  'Burial  of  Sir  John  More' 
(1817)  klingt  an  'and  was  completely  alone  in  his  glory'  (Sk  103; 
Ben  29).  —  Colmans  jun.  Gedichte  'Broad  Grins'  (1797)  boten 
dem  zehnjährigen  D.  in  London  fesselnde  Lektüre  (vgl.  oben 
S.45). 

Robert  Montgomery,  Verfasser  von  'Omnipotence  of  the 
Deity'  (1828),  'Satan'  (1830)  u.  a.  wird  in  Sk  359  neben  Byron 
gestellt  (Ben  30). 

Thomas  Hood:  'Hood's  Own  (complete)',  1839,  las  D.  'with 
greater  delight  than  ever'  (Le  I,  24). 


Dickens'  Belesenheit  49 

Von  Longfellow  beschaffte  Forster  für  D.  das  Bändcheu 
'Ballads  and  other  Poems',  1841  (Fo  II,  170). 

Ebenezor  Jones'  Gedichtsammlung  'Studies  of  Sensation  and 
Event'  (1843)  las  er  1844  'with  very  great  jjleasure'  (Le  IV,  67). 

Bulwers  'King  Arthur'  (1848)  erfüllte  ihn  mit  'deepest 
interest,  admiration,  and  delight'  (Le  IV,  101).  —  Von  Tenny- 
son  zitiert  D.  einen  Prosaausspruch  (Le  I,  92).  Seine  'Poems' 
las  er  im  Jahre  ihres  Erscheinens,  1842  (Fo  III,  20).  Den  'Idylls 
of  the  King'  (1859)  zollt  er  wortreiche  Bewunderung  (Le  II, 
286  f.). 

Als  Anhang  ist  festzustellen,  daß  D.  zwar  von  echten  Volks- 
balladen Kenntnis  zeigt  da,  wo  er  auf  Robin  Hood  verweist 
(OMF  II,  91),  dagegen  von  Straßenballaden  mehrere  beachtete. 
Die  Worte  'you  remind  me  of  Whittington,  afterwards  thrice  Lord 
Mayor  of  London'  (Chzwt  I,  110)  und  'noble  Whittington'  (Rdge 
III,  141)  verweisen  auf  eine  Straßenballade  des  16.  Jahrhunderts 
(Roxb.  Ballads  VII,  585  f.).  Sicher  ist  ein  solches  Produkt  ge- 
meint in  Chzwt  I,  59,  nämlich  Wordsworths  Lieblingsballade  'The 
Children  in  the  Wood'  (Roxb.  Ball.  II,  214  ff.),  ferner  in  Copf 
II,  339  'The  Dragon  of  Wantley'  (Roxb.  Ball.  VIII^  417  ff.). 

Worauf  die  Worte  'an  unfortunate  lady  of  the  same  name  [old 
Bailey]  who  perished  —  by  her  own  hand  —  early  in  life,  and 
has  been  immortalised  in  a  bailad'  (Chzwt  I,  157)  gehen  sollen, 
vermochte  ich  nicht  zu  ermitteln. 

Ungleich  reichhaltiger  ist  D.s  Kenntnis  von  englischen  Dra- 
men. Die  wichtigsten  Dramen  vor  und  aus  Shakespeares  Zeit 
besaß  er  in  Dodslej's  'Select  Collection  of  old  Plays',  1744 
(Dib  298).  Shakespeare  bekam  er  einmal  von  Forster  als 
Geschenk  und  trug  ihn  ständig  in  seiner  'great-coat  pocket'  (Fo 
II,  203).  Diesen  überragenden  Meister  dramatischer  Kunst  hat 
D.  außerordentlich  hochgeschätzt,  denn  er  zitiert  ihn  ungemein  oft 
und  nach  den  verschiedensten  Stücken.  Ihm  verdankte  er  auch 
die  Anregung  zu  einem  seiner  ersten  dramatischen  Versuche,  der 
travestierten  Burleske  'The  O'Thello',  1833  (Kitton,  The  Minor 
Writings  of  Ch.  D.,  195).  Drydens  Werke  standen  in  seiner 
Bibliothek,  desgleichen  die  Sammlung  der  Mrs.  Inchbald 
'British  Theatre'^  1821,  42  Bde.  (Dib  298),  worin  nicht  bloß  zahl- 
reiche Tragödien,  Lustspiele  und  Possen,  sondern  auch  Operetten- 
und  Operntexte  von  Shakespeare  bis  zum  Beginn  des  19.  Jahr- 
hunderts stehen,  am  meisten  solche  aus  dem  18.  Jahrhundert.  Ein- 
zelne Tragödien  des  17. /18.  Jahrhunderts  mag  D.  mehrfach  aus 
dieser  Sammlung  gekannt  haben.  Erwähnt  werden  Beaumont 
&  Fletchers  'Maid's  Tragedy'  (1619),  und  zwar  bei  FoIV,  134; 
an  bürgerlichen  Tragödien  Lillos  'George  Barn  well,  the  London 
Merchant'  (1730)  in  Sk  358  (Ben  28)  und  OCSh  II,  235,  sowie 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    140.  4 


50  Dickens'  Beleßenheit 

Edward  Moores  'Gamester'  (1753)  in  Fo  III,  229;  auf  John 
Homes  heroisches  Drama  'Douglas'  geht  die  Anspielung  'like 
young  Norval's  fatlier  increase  his  störe'  (Dby  I,  52).  Von  By- 
rons Tragödien  nennt  D.  nur  'Cain'  (1821)  in  Chzwt  I,  394  und 
'Werner'  (1822)  in  Le  IV,  54;  ferner  eine  Dramatisierung  des 
Byronschen  'Mazeppa'  von  Milner,  die  zuerst  1831  gespielt  wurde 
(Fo  V,  303  Anm.).  Sheridan  Knowles'  historisches  Drama 
'Virginius'  (1820)  hat  er  gelesen  und  aufgeführt  gesehen  (Le  I, 
165,  173).  'Thirty  Years  of  a  Gambler's  Life',  wiederum  eine  bür- 
gerliche Tragödie  (Verfasser  unbekannt),  aufgeführt  1827  im 
Adelphi  Theater  (Clarence,  Stage  Cyclopaedia),  hat  D.  einmal 
auf  der  Bühne  gesehen  (Pemberton,  D.  and  the  Stage,  217).  Über 
Talfords  'Ion'  (1835)  sagt  er  'it  never  was  a  populär  play'  (Le 
IV,  220).  Brownings  'Blot  on  the  Scutcheon'  (1843)  lobt  er 
überschwenglich  in  einem  Brief  an  den  Dichter  (Fo  III,  45).  'The 
Earl  of  Gowry'  (1845)  von  James  White  ist  für  Dickens,  wie- 
der in  einem  Brief  an  den  Verfasser,  'a  work  of  most  remarkable 
genius'  (Le  I,  160).  Von  Westland  Marston,  den  er  persönlich 
kannte  (Fo  III,  44),  erwähnt  er  die  'Patrician's  Daughter'  (1841) 
in  Le  I,  84;  'A  Hard  Struggle'  (1858),  'an  excellent  little  play', 
sah  er  zweimal  aufgeführt  (Le  II,  227).  In  Wilkie  Co  Hins' 
'Lighthouse'  (1855)  spielte  D.  den  Leuchtturmwärter  (Fo  V, 
66  und  Cowden-Clarke,  Recollections  of  Writers  332);  in  'The 
Frozen  Deep'  (1857)  die  Hauptrolle  Wardour  (Ainger,  Lectures 
and  Essays  204);  auf  'Black  and  White'  (1869)  geht  die  Anspie- 
lung in  Le  IV,  250.  Simpsons  'Master  of  Ravenswood'  (1865), 
eine  Dramatisierung  von  Scotts  'Bride  of  Lammermoor',  hat  er  ge- 
sehen (Pemberton  235);  desgleichen  'The  Duke'g  Motto'  von 
Br  ough  am,  eine  Bearbeitung  von  Paul  Fevals  'Le  Bossu'  (Pem- 
berton 235).  Aber  'The  White  Rose',  offenbar  ein  unbedeutendes 
Stück  über  die  Zeit  der  Rosenkriege,  hat  er  aufmerksam  gelesen 
und  als  'extrem ely  good'  beurteilt  (Le  III,  19). 

Auch  mit  der  englischen  Komödie  bekundet  D.  tiefgründige 
Bekanntschaft.  Abermals  erscheint  Shakespeare  als  sein 
Lieblingsautor,  dessen  Lustspiele  er  immer  und  immer  wieder 
zitiert  und  dessen  'Merry  Wives  of  Windsor'  er  1848  neunmal 
mit  Freunden  aufführt  (Fo  IV,  167  f.).  Viele  Stücke  dieser  Gat- 
tung werden  ihm  die  Sammlungen  von  Dodsley  und  namentlich 
der  Mrs.  Inchbald  vermittelt  haben.  Aus  der  ersteren  war  ihm 
offenbar  bekannt  Robert  Green  es  'Friar  Bacon  and  Friar 
Bongay'  (1591);  er  zitiert:  'For  serving  as  a  sort  of  man  Miles 
to  the  Doctor's  Friar  Bacon'  (Bttle  o  L  365,  ed.  Nelson,  oktav). 
Ferner  kennt  er  Ben  J  o  n  s  o  n  s  bürgerliche  Komödie  'Every  Man 
in  His  Humor',  1598,  die  er  mit  Freunden  mehrmals  aufgeführt 
hat  (Fo  III,  229,  Le  I,  240);  der  'Alchemist'  ist  wenigstens  er- 


Dickeus'  Belesenheit  51 

Wähnt  (Fo  IV,  167).  Von  Fl  et  eher  ist  'The  Beggar's  Bush', 
1622,  zitiert  (Fo  IV,  167);  in  'The  Eider  Brother'  (zuerst  gedr. 
1637)  spielte  Dickens  1845  bei  einer  Aufführung  (Fo  III,  229). 
Fieldings  ('Tom  Thumb',  1730,  half  er  ebenfalls  darstellen 
(Macmillan's  Magazine  1871,  S.  2Ü8).  Auf  IsaacBickerstaf  f  es 
'Love  in  a  Village'  (1765)  geht  die  Anspielung  'Hope  is  said 
by  the  poet  . . .  to  be  tlie  nurse  of  Young  Desire'  (Chzwt  I,  280). 
Goldsmiths  Charakterkomödien  'Good-natured  Man'  (1768) 
und  'She  Stoops  to  Conquer'  (1773)  lobt  er  begeistert  (Le  II,  94). 
Sheridans  'Rivals'  (1775)  und  'School  für  Scandal'  (1777)  sind 
genannt  in  Le  II,  56,  I,  225.  0  '  Haras  'Tom  Thumb'  (1780)  hat 
D.  für  eine  Kinderaufführung  gekürzt  (Ainger  188).  Aus  Hol- 
crofts  'Road  to  Ruin',  1792,  ist  'Young  Dorton'  anläßlich  einer 
Dilettantenvorstellung  hervorgehoben  (Sk  118;  Ben  28);  aus  Col- 
mans  jun.  'Review  or  Wags  of  Windsor',  1798,  ist  'Caleb  Quo- 
teni'  (Brewer,  Dictionary  of  Phrase  and  Fable)  gestreift  (Am  N 
175)  und  aus  John  O'Keef  f  es  'Wild  Oats'  (1798)  'Rovers'  ge- 
nannt (Sk  118;  Ben  28).  Aus  dem  19.  Jahrhundert  begegnen 
John  Tobins  'Honeymoon'  (1804);  dies  hat  D.  1837  auf  der 
Bühne  gesehen  (Fo  I,  173).  Thomas  Morton:  'The  School  of 
Reform'  (zuerst  aufgef.  1805)  hat  er  gelesen;  'A  Roland  for  an 
Oliver'  (1819)  hat  er  1838  auf  der  Bühne  gesehen  und  mehrfach 
darstellen  helfen  (Pemberton  98,  Le  I,  15).  In  James  Kenney  s 
'Love,  Law,  and  Physick'  (1812)  spielte  D.  die  Rolle  des  Flexible 
(Fo  II,  278).  'Cherry  and  Fair  Star,  or  the  Children  of  Cyprus', 
eine  anonyme  Romanze  in  zwei  Akten,  zuerst  gespielt  1822,  führte 
D.  in  seiner  Jugend  mit  Schulfreunden  auf  (Fo  I,  102).  Von  sei- 
nem Zeitgenossen  John  Poole  ist  'Paul  Pry'  (1825)  zitiert  (Le 

IV,  94);  von  dem  damaligen  Liebling  des  Publikums  Sheridan 
Knowles  'Hunchback',  1832,  erwähnt  (Fo  III,  223);  'Love 
Chase',  1837,  hat  D.  auf  der  Bühne  gesehen  (Le  I,  15).  'Jim 
Crow',  ein  Negerstück,  seit  1836  auf  der  Bühne,  wird  ebenfalls  als 
gesehen  angeführt  in  Am  N  107.  Bulwer:  'Lady  of  Lyons' 
(1838)  erwähnt  in  Le  IV,  193;  'Money',  1840,  in  Le  I,  156,  gelobt 
in  Le  I,  110.  In  'Not  so  bad  as  We  Seem'  (1851)  wirkte  D.  als 
Schauspieler  (Le  IV,  109  f.);  er  hält  es  für  'most  admirable',  ja 
besser  als  'Money'  (Le  IV,  110).  'The  Captives'  hat  er  1867  voll 
Bewunderung  gelesen,  offenbar  im  Manuskript  (Le  IV,  219  und 
Anm.).  Dion  Boucicaults  'London  Assurance'  (1841)  und  die 
'Streets  of  London'  (1864)  sah  D.  auf  der  Bühne  (Le  III,  173;  Fo 

V,  303  Anm.);  'The  long  Strike',  1865,  hat  er  durch  Lektüre  und 
Aufführung  kennengelernt  (Pemberton  249).  In  Planches 
'Fortunio  and  his  Seven  gifted  Servants',  1842,  spielte  D.  bei  einer 
Kinderaufführung  (Le  II,  90).  Buckstones  'Green  Bushes, 
or  100  Years  ago'  sah  er  dargestellt  (Pemberton  233);  ebenfalls 


52  Dickens'  Belesenlieit 

Charles  Read  es  'Courier  of  Lyons,  or  Attack  upon  the  Mail' 
(Pemberton  226),  zuerst  aufgeführt  1850,  Bearbeitung  eines  fran- 
zösischen Stückes  von  Siraudin  und  Delacour  (Clarence).  Von 
Tom  Taylors  'Still  Waters  run  deep',  zuerst  aufgeführt  1855, 
berichtet  Le  II,  148.  'Camilla's  Husband'  von  Watts  Phillips 
sah  D.  im  Entstehungsjahr,  1862,  aufgeführt  (Pemberton  234). 
'Love's  Martyrdom',  zuerst  aufgeführt  1855,  von  John  Saun- 
ders  ist  genannt  in  Le  II,  53  und  lobend  beurteilt  in  Le  II,  79. 

Zu  den  unbedeutenden  Stücken  'The  unknown  Bandit  of  the 
Invisible  Cavern'  und  'Tongo  the  Denounced'  (Sk  117,  175)  ver- 
mochte ich  ebensowenig  wie  Benignus  (33)  die  Verfasser  zu  er- 
mitteln. Auch  über  ein  1844  gespieltes  Stück  'well  known  at  this 
time'  (Le  IV,  67  Anm.),  das  einen  englisch  redenden  Franzosen 
karikiert  (Le  IV,  66  f.),  blieben  meine  Nachforschungen  ergeb- 
nislos. 

Unter  den  Possen  steht  voran  Mrs.  I  n  c  h  b  a  1  d  s  Sammlung 
von  'Farces';  D.  las  sie  schon  in  Chatham  (Fo  I,  38);  in  dem  un- 
gedruckten Schwank  'Animal  Magnetism',  1788,  derselben  Ver- 
fasserin trat  er  als  Schauspieler  auf  (Le  I,  239).  Weiter  sind  ge- 
nannt Mrs.  Charles  Kemble  (=  Marie  Therese  Kemble,  Adams, 
Dictionary  of  the  Drama) :  'Day  after  the  Wedding  or,  A  Wife's 
first  Lesson',  zuerst  aufgeführt  1808,  las  D.  1850  (Le  I,  241). 
Isaac  Pococks  'Miller  and  his  Men'  (1813)  hat  er  als  Knabe 
a,uf geführt  (Fo  I,  102  f.).  Schauspielerisch  betätigte  er  sich 
ferner  in  John  Pool  es  'Deaf  as  a  Post',  1823,  in  der  Rolle  des 
Gallop  (Le  I,  79;  Pemberton  98);  aber  als  gelesen  führt  er  an 
'Turning  the  Tables'  (1829),  'Little  Pedlington'  (1839),  'aud  many 
Comic  pieces  of  great  merit'  desselben  Autors  (Le  IV,  94).  James 
T.  G.  Rod  well :  'Young  Widow  or,  A  Lesson  for  Lovers',  1824, 
hat  D.  vor  1842  darstellen  helfen  (Fo  II,  278,  Fitz-Gerald,  D.  and 
the  Drama  12).  Auch  in  R.  B.  Peak  es  'Amateurs  and  Actors' 
(1818)  und  'Comfortable  Lodgings  or,  Paris  in  1750'  (1827)  trat 
er  auf  (Theaterzettel  in  Fitz-Gerald  10  f.,  Fo  IV,  142).  Das 
Gleiche  gilt  von  P.  P.  O'C  al  1  i  n  a  n  s  'Married  Bachelor'  (Theater- 
zettel in  Fitz-Gerald  10  f.)  und  Mrs.  Charles  Gores  (auch  be- 
kannt als  Mrs.  Catharine  Grace  Frances  Gore,  DNB)  'A  good 
Night's  Rest  or,  Two  o'Clock  in  the  Morning',  seit  1839  auf  der 
Bühne  (Fo  IV,  142);  ebenfalls  von  Charles  J.  Matthews'  jun. 
'Used  Up',  1845,  einer  Bearbeitung  des  französischen  'L'Homme 
blase'  (Le  I,  228;  Scott,  The  Drama  of  Yesterday  and  To-day 
Bd.  II,  Appendix).  J.  B.  Bück  s  ton  es  'Rough  Diamond'  (1847) 
wird  wenigstens  genannt  (Fo  IV,  205). 

An  Operetten  erwähnt  D.  das  Erstlingswerk  dieser  Gattung, 
Gays  'Beggar's  Opera'  (1727)  in  der  Vorrede  zu  OTw  1837. 
Im   übrigen  erscheinen  nur  Sheridans   'Duenna'   (1775)   und 


Dickens'  Belesenbeit  53 

John  Hui  Iah  s  'The  Child  and  the  old  Man'  (Le  lA^  9,  8). 
Außerdem  hat  D.  natürlich  die  in  Mrs.  Inchbalds  'Farces'  enthal- 
tenen Stücke  dieser  Gattung  gekannt  (Fo  I,  38). 

Auch  das  erst  1802  mit  Holcrofts  'Tale  of  Mystery'  in  Eng- 
land einziehende  Melodrama  (vgl.  Arch.  f.  n.  Spr.  124,  349  ff.) 
ist  Dickens  nicht  fremd.  Aus  Mrs.  Inchbalds  'Farces'  kannte  er 
Kenneys  'Blind  Boy'  und  'Ella  Rosenberg'  (beide  1807)  sowie 
eine  Anzahl  anderer,  die  dort  als  'musical  drama'  oder  'musical 
entertainment'  bezeichnet  sind.  Außerhalb  der  'Farces'  finden 
nur  Douglas  Jerrolds  'Black-eved  Susan'  (1823)  und  'Eent 
Day'  (1832)  Erwähnung  (Le  I,  121;  Fo  IV,  167).  Daß  D.  weit 
mehr  Vertreter  dieser  Gattung  auf  der  Bühne  kennenlernte,  darf 
wohl  aus  wiederholten  Anspielungen  auf  melodramatische  Auf- 
führungen gefolgert  werden  dSTN  I,  122,  409,  429). 

Dazu  kommen  einige  Pantomimen.  D.  erwähnt  'Jack  in 
the  Green,  My  Lord,  My  Lady'  (Sk  168,  169,  480);  Hauptver- 
treter der  Mayday  f estivals  auf  dem  Lande,  zuerst  von  dem  'milk- 
people',  dann  von  den  'chimneysweepers'  dargestellt;  Reste  der 
Maifeier  auf  dem  Lande  (Ben  32).  'Columbine'  (Sk  254,  393),  in 
den  Pantomimen  die  Geliebte  Harlekins  (Ben  32);  'Valentine 
and  Orson'  (Sk  296,  Xm  40.  Chzwt  I,  401):  aus  der  französischen 
Romanze  'Valentin  et  Orson'  (1489),  ins  Englische  übersetzt  1560; 
sehr  populär  durch  die  Darstellung  des  Komikers  Grimaldi  (Ben 
33).  Weiter  sind  angezogen  'Punch'  (Sk  282),  die  Hauptfigur  der 
englischen  Puppenkomödie  (Ben  33)  und  'St.  George  and  the 
Dragon'  in  Sk  381  im  Original;  dafür  in  Buchform  'the  panto- 
mime'  (Sk  370;  Ben  33).  Auf  'Don  Juan'  scheint  die  Anspielung 
'a  sort  of  journeyman  Giovanni'  (Sk  295;  Ben  33)  zu  gehen,  sicher 
aber  nimmt  darauf  Bezug  der  Vergleich  'like  the  black  friar  in 
Don  Juan'  (Chzwt  I,  136);  möglich  ist  auch,  daß  die  Anspielung 
sich  auf  W.  T.  Moncrieffs  Burleske  'Giovanni  in  London  or,  The 
Libertine  reclaimed'  bezieht,  die  1827  zuerst  in  Szene  ging.  Nicht 
zu  ermitteln  vermochte  ich,  welche  Pantomime  D.  am  26.  Dezem- 
ber 1860  im  Covent  Garden  gesehen  hat  und  als  'dull  pantomine' 
charakterisiert  (Le  II,  324  f^). 

Was  D.  vom  englischen  Drama  kennt,  liefert  zugleich  einen 
Beweis  für  seinen  Geschmack.  Zu  den  Tragödien  und  Komödien 
literarischer  Größen  stand  er  —  abgesehen  von  Shakespeare  —  in 
keinem  inneren  Verhältnis.  Lektüre  wie  Theaterbesuch  bekunden 
seine  Neigung  für  die  leichte  Komödie,  in  höherem  Maße  noch 
für  die  Posse,  und  hier  wiederum  besonders  für  Werke  seiner  Zeit- 
genossen. In  dieser  Hinsicht  ist  er  durchaus  der  Mann  des  Volkes 
geblieben;  das  rechte  Verständnis  für  klassische  Werte  ging  ihm 
ab,  aber  mit  Wärme  erfaßte  er  das  Alltägliche  und  zeigte  seltenen 
Sinn  für  lebensfrische  Charaktere  und  gesunden  Humor  schwank- 


54  Dickens'  Belesenheit 

-uslicher 
artiger  Stücke,  die  er  nur  zu  gern  zum  Gegenstand  na 
oder  privater  Aufführungen  gemacht  hat.  kann 

Die  Erzählungsliteratur  Englands  war  D.,  man,  ^gj^ 
sagen,  von  den  ersten  Anfängen  bekannt,  soweit  sie  zu  seinei-^j^j^^ 
durch  Druck  zugänglich  war.  Thomas  Mores  politischer  Ro  5]^ 
'ütopia',  lateinisch  veröffentlicht  1516,  in  englischer  Sprache  Itgr- 
war  bereits  in  seinem  Besitz  (Dib  298).  Den  ganzen  älteren  Rittia, 
roman  hat  er  übersprungen;  nur  gereimte  Dichtungen  waren  g{q 
mals  gedruckt,  und  deren  Lektüre  war  für  D.  schon  durch  di^ 
Verschiedenheit  der  alten  Sprache  ausgeschlossen.  Aber  gleici, 
die  nächste  Stufe  zugänglicher  Romane  finden  wir  wieder  in^ 
Kreise  seiner  Aufmerksamkeit:  die  'Arcadia'  des  Sidney  (1590) 
ragte  aus  der  Fülle  der  Elisabethanischen  Prosageschichten  her- 
vor in  seinen  Bereich,  weil  sie  immer  wieder  neu  aufgelegt  worden 
war.  D.  hat  sie  zwar  nicht  besessen,  aber  gelesen  und  einmal  in 
etwas  parodistischer  Weise  zitiert,  indem  er  auf  Strephon,  den 
schmachtenden  Liebhaber  der  Urania,  mit  den  Worten  anspielte: 
'The  Strephon  of  Cecil  Street'  (Sk  442;  Ben  25). 

Mit  D  e  f  o  e  begann  zu  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  der  Sie- 
geslauf modern-englischer  Erzählungskunst.  Seinen  'Robinson 
Crusoe'  (1719)  hat  D.  mehrfach  erwähnt  (Fo  I,  38;  Am  N  163; 
XmC  41)  und  begeistert  gelobt:  'I  tookFriday's  death  asoneofthe 
least  tender  and  (in  the  true  sense)  least  sentimental  things  ever 
written.  It  is  a  book  I  read  very  much;  and  the  wonder  of  its 
prodigious  effect  on  me  and  everyone,  and  the  admiration  thereof, 
grows  on  me  the  more  I  observe  this  curious  fact'  (Le  II,  163).  Er 
weiß  auch  von  anderen  Erzählungen  des  Defoe;  er  nennt  'Colonel 
Jacque',  1722  (Fo  III,  98)  und  lobt  die  'Political  History  of  the 
Devil'  (1726)  als  'a  capital  thing'  (Fo  I,  174).  —  Swift  mit 
'Gulliver's  Travels'  (1726)  folgte  auch  bei  D.  (Fo  I,  244)  und 
lieferte  ihm  das  Menschenverachtungswort  'Yahoos'  (Am  N  206). 
Er  stand  bei  D.  mit  in  der  ersten  Reihe  der  großen  Erzähler  aus 
dem  18.  Jahrhundert  (Le  I,  24).  —  Diese  Meister  des  Realismus, 
mit  ihrem  Stich  ins  Derbe  und  zugleich  Spekulative,  boten  für  D. 
trotz  ganz  verschiedener  Denkweise  ein  Element  der  Lebenswahr- 
scheinlichkeit,  selbst  bei  Märchenstoffen,  so  daß  es  begreiflich  wird, 
daß  auch  D.  mit  der  Zeit  von  barer  Wirklichkeit  zu  Geister- 
geschichten überging. 

Neben  den  großen  Romanen  des  frühen  18.  Jahrhunderts 
stehen  zahlreiche  Essays,  die  mit  Steel  es  'Tatler'  (1709)  be- 
ginnen (Fo  I,  38),  in  Addisons  'Spectator',  1711,  bekanntlich 
gipfeln,  aber  noch  in  Samuel  Johnsons  'Idler'  (1758 — 60)  glän- 
zend weiterblühen.  D.  hatte  diese  frühen  Essayisten  zur  Hand 
Chandy'  Le  I,  24)  und  hob  einmal  die  Genannten  hervor  (Fo  T, 
38).     Der  Einfluß  der  Zuschauergastalt,  wie  Addison  sie  schil- 


Dickens'  Belesenheit  55 

dert.  ist  bereits  in  den  ersten  Versuchen  von  D.  zu  beobachten 
(Ben  38). 

Neben  dem  feinen,  ziselierten  Essay  gab  es  zwischen  Defoe 
und  Fielding  gröbliche  Gattungen,  die  zwar  in  den  Literatur- 
geschichten nicht  geführt  werden,  aber  der  Aufmerksamkeit  un- 
seres D.  nicht  entgingen.  Dazu  gehört  in  scherzhafter  Art  ein 
Schwankbuch,  herausgegeben  1739  von  John  Motley  unter  dem 
Titel  'Joe  Miller's  Jest  Book'.  Mehrfach  hat  D.  darauf  hin- 
gewiesen: 'the  wandering  jew  of  Joe  Millerism'  (Sk  272),  'an 
Astley-Cooperish  Joe  Miller'  (Sk  387),  'the  honourable  Mr.  Mil- 
ler' (Chzwt  I,  393).  Groteske  Verbrechergeschichten  standen  im 
'Newgate  Calendar',  der  seit  1700  in  mehreren  Ausgaben  er- 
schien (von  Robert  Saunders  1764,  von  J.  Cooke  1775).  Für  die 
krassen  Verbrechertypen  des  D.  ist  es  bedeutsam,  daß  er  diese 
Rohstoffsammlung  friih  (1842)  erwähnt  (Fo  II,  185). 

Mit  dem  berühmten  Richardson  und  seinen  sentimentalen 
Briefromanen  wußte  D.  nichts  Rechtes  anzufangen:  'no  favourite 
of  niinel'  (Le  I.  186).  Von  'Clarissa  Harlowe',  1748,  sah  er  ein 
Drama  in  französischer  Aufführung  und  urteilte  über  die  dar- 
stellende Heldin:  'she  dies  better  than  the  original  to  my  think- 
ing'  (Pemberton  111/12).  Er  lächelt  über  da,s  'Richardsoniau 
principle'  (Sk  470;  Ben  26  f.)  und  selbst  über  die  Vignetten  in 
Richardsons  Romanen  (Sk  436).  Rührszenen  hat  ja  D.  auch  ge- 
schrieben; aber  die  rührselige  Vemunftmoral  des  Pameladichters 
fiel  ihm  doch  auf  die  Nerven;  vor  solchem  Zerfließen  in  Empfin- 
dung und  Tränen  bewahrte  ihn  sein  modernes  Taktgefühl. 

F  i  e  1  d  i  n  g  dagegen  war  nächst  den  kurzen  Charakterskizzen 
des  Addison  für  D.  der  herrlichste  Meister.  'Tom  Jones'  (1749) 
stand  bereits  zu  Chatham  in  der  väterlichen  Bibliothek  (Fo  I.  38). 
Die  Wirkung,  die  Fielding  hier  durch  die  Gegenüberstellung 
zweier  Jungen  und  ihrer  grundverschiedenen  Charaktere  erzielte, 
ist  bei  D.  auf  den  ersten  Blick  zu  beobachten,  wo  er  in  ähnlicher 
Weise  einen  ungeschickt  ehrlichen  und  einen  scheinmoralischen 
Knaben  einander  gegenüberstellt,  wie  zuerst  in  'Oliver  Twist'.  In 
späteren  Jahren  bekundet  D.  auch  Bekanntschaft  mit  kleineren 
Schriften  Fieldings.  So  sucht  er  den  Schmerz  seines  Freundes 
Marc  Lemon  über  den  Tod  seines  Kindes  zu  lindern  mit  einem 
Hinweis  auf  den  'beautiful  thought'  in  Fieldings  'Journev  from 
this  World  to  the  Next'  (Bd.  3  der  'Miscellanies';  Le  IL  l'lO).  — 
S  m  ol  1  et  mit  seiner  gröberen  Komik  sagte  D.  auch  noch  zu.  'Ro- 
derik Random'  (1748).  'Peregrine  Pickle'  (1751)  und  'Humphry 
Clinker'  (1771)  fand  D.  ebenfalls  schon  in  der  Bibliothek  des 
Vaters  (Fo  I.  38).  Von  'Humphry  Clinker'  urteilt  er:  'certainly 
Smollet's  best'  (Le  IL  68).  Ob  er  von  seinen  übrigen  Romanen 
'Roderick   Random'   oder  'Peregrine   Pickle'   voranstellen  sollte, 


ÖG  Dickens'  Belesenheit 

war  ihm  zweifelhaft:  'both  [are]  extraordinarily  good  in  their 
way'  (Le  IT,  68).  —  Abermals  ist  ein  abgelegener  Erzähler  dieser 
Spezies  und  Zeit  unserem  D.  nicht  entgangen:  Paltock,  Ver- 
fasser von  'The  Life  and  Adventures  of  Peter  Wilkins,  a  Cornish 
Man'  (1751).  D.  zitiert  daraus  die  'flj'ing  wives'  des  'Peter  Wil- 
kins' (Chzwt  I,  390). 

Goldsmith  stand  unter  seinen  Lieblingen  voran  (Fo  I,  38; 
Am  N  119).  Mit  heller  Nachahmungslust  schreibt  er  1844,  er  sei 
'all  eagerness  to  w^rite  a  story  about  the  length  of  that  most 
delightful  of  all  stories,  the  Vicar  of  Wakefield'  (Fo  III,  145). 
Aus  den  kleineren  Werken  des  Goldsmith  hat  er  von  der  Essay- 
sammlung 'The  Bee'  (1759)  berichtet;  er  erhielt  bei  seiner  Ab- 
fahrt aus  Chatham  ein  Exemplar  als  Geschenk  von  seinem  guten 
Lehrer  Mr.  Giles  und  'kept  it  for  his  sake  and  its  ow^n'  (Fo  I, 
39  f.).  Auch  der  'Citizen  of  the  World'  (1760—62)  und  die 
'Essays'  (1758—65)  werden  gestreift  (Le  I,  24;  Fo  III,  22). 

Sterne  mit  seiner  selbstironischen  Sentimentalität,  der  uns 
aus  Tränen  durch  ein  Wort  scharfen  Menschenverstandes  wieder 
ins  Gleichgewicht  zu  bringen  weiß,  wurde  zweimal  von  Dickens 
ernstlich  gewürdigt.  Auf  'Tristram  Shandy'  (1759)  VI,  Kp.  7 
bezieht  sich  der  Satz:  'not  tears  like  those  with  which  recording 
angels  blot  their  entries  out'  (Chzvd;  II,  86);  auf  die  'Sentimental 
.Tournej'  through  France  and  Italy'  (1768):  'we  were  never  able 
to  agree  with  Sterne  in  pitying  the  man  who  could  travel  from 
Dan  to  Beersheba'  (Sk  58;  Ben  28). 

Die  nervösen  Erzählerinnen,  die  gegen  Ende  des  18.  Jahrhun- 
derts in  England  auftauchten  und  breite  Wirkung  entfalteten, 
fanden  bei  D.  Beachtung,  wenn  auch  nicht  viel  Gnade.  Auf  die 
Sittenbilder  von  mädchenhafter  Kleinmalerei,  wie  sie  Miss  Bur- 
ney  z.  B.  in  'Evelina,  or,  the  History  of  a  Young  Lady 's  Entrance 
into  the  World'  (1788)  entfaltet,  spielt  D.  mit  den  Worten  an: 
'I  have  been  Walking  and  wandering  all  day  through  a  perfect  Miss 
Burney's  Vauxhall  of  conjectural  dark  walks'  (Fo  IV,  65).  Die 
Leidenschaftsgeschichten  der  Mrs.  Inchbald,  'Simple  Story' 
(1791)  und  'Nature  and  Art'  (1796)  machten  ihm  einen  gemisch- 
ten Eindruck.  Über  das  Manuskript  einer  Mitarbeiterin  schreibt 
er  1866:  'the  style  . . .  sometimes  reminds  me  of  Mrs.  Inchbald  at 
her  best  (Le  III,  89).  —  Der  Begründer  des  Schauerromans, 
Horace  Wal  pole,  dem  die  Erzählerinnen  Clara  Reeves  und 
namentlich  Ann  Radcliffe  so  viel  zu  verdanken  hatten,  läßt  D. 
kühl.  Er  kennt  sein  'Castle  of  Otranto'  (1764)  und  vergleicht 
dessen  Helm  mit  einem  römischen  Amphitheater  in  Verona  (Le 
IV,  70).  Die  gruselige  Schloß-  und  Ruinenromantik  der  Mrs. 
Radcliffe  wollte  er  nicht  mitmachen.  Er  kannte  ihre  'My- 
steries  of  Udolpho',  1794  (OME  II,  297),  und  fand,  daß  sie  im 


Dickens'  Beleseuheit  57 

übrigen  recht  viel  geschrieben  habe:  'Mrs.  Fry  certainly  ought  to 
have  written  more  romances  than  Mrs.  Radcliffe'  (Sk  479).  Ihre 
allgemeine  und  immer  gleichartige  Geheimnistuerei  war  seiner 
männlichen  Art  nicht  sympathisch:  'Cabs  whisked  about  ...  as 
any  mysterious  picture  in  anyone  of  Mrs.  RadclifFe's  Castles'  (Sk 
479;  Ben  28).  —  Auf  die  feine  Sittenschilderin  Jane  Austen, 
die  bekannte  Verfasserin  von  'Sense  and  Sensibility'  (1811), 
'Pride  and  Prejudice'  (1813)  u.  a.  wurde  D.  erst  nach  1839  auf- 
merksam (Fo  I,  208).  Sie  und  die  Maria  Edgeworth,  von  denen 
Walter  Scott  mit  so  viel  Bewunderung  sprach  und  lernte,  hatten 
ihm  offenbar  nicht  viel  zu  bieten;  ebenso  Jane  Porter,  obwohl 
ihr  romantischer  Band  'Scottish  Chiefs'  (1810)  ihm  früh  in  die 
Hand  fiel  (Fo  I,  48;  Ben  29).  —  Die  verbrecherische  Scheinheilig- 
keit von  Godwins  'Caleb  Williams'  (1794)  widerstrebte  D.s 
Gerechtigkeitsgefühl;  sie  findet  ein  komisches  Echo  in  den  Wor- 
ten: 'the  chimnev-sweeper  of  the  present  day  is  no  more  than  Paul 
Pry  to  Caleb  Williams'  (Sk  168;  Ben  28)." 

Über  Walter  Scott,  den  Begründer  des  historischen  Romans, 
erwartet  man  mit  Spannung  sein  Urteil;  er  kennt  'Old  Mortality' 
(1816)  und  hebt  die  Hauptfigur  'Belfour  Burleigh'  hervor  (xlm  N 
65).  Er  erwähnt  'Madge  Wildfire',  eine  führende  Gestalt  in  'The 
Heart  of  Midlothian'.  1818  (Am  N  51),  und  hat  vor  1839  die 
'Legend  of  Montrose'  (1819)  sowie  'Kenilworth'  (1821)  'with 
greater  delight  than  ever'  gelesen  (Le  I,  24).  —  Das  besagt  viel! 
Er  zieht  auch  'Peveril  of  the  Peak'  (1823)  an  (Le  L  24),  hat  also 
die  Tätigkeit  des  großen  Schotten  eingehend  verfolgt.  In  späterer 
Zeit  finden  wir  einmal  einen  Tadel  über  den  Aufbau  der  'Bride  of 
Lammermoor'  (1819).  aber  nicht  von  D.  selbst  zu  Papier  gebracht, 
sondern  nur  ausgesprochen  und  von  Fitz-Gerald  (Gentleman's  Ma- 
gazine 1881,  IL  578)  bezeugt. 

Washington  Irving,  der  gleichzeitig  mit  Walter  Scott  die 
englischen  Leser  anzog  und  durch  historische  Essaj^s  entzückte, 
stand  auch  bei  D.  hoch  in  Gunst.  Er  hat  sein  'Sketch  Book' 
(1820),  'Bracebridge  Hall'  (1822)  und  'Alhambra'  (1832)  mit 
größtem  Genuß  gelesen,  wie  er  selbst  an  Irving  schreibt  (Le  IV, 
26;  Ben  29).  Später  hat  er  auch  seine  'History  of  New-York  bv 
Diedrich  Knickerbocker'  (1809)  gelobt  (Am  N  91).  —  Mit  dem 
englischen  Essayisten  Charles  Lamb,  dem  Verfasser  von  'Elia' 
(1823),  war  er  persönlich  befreundet  (Fo  TV.  137).  Bekanntschaft 
mit  Schriften  des  De  Quincej^  bekundet  D.s  Frage  an  seinen 
Mitarbeiter  Thornbury:  'of  course  you  know  De  Quincej^'s  paper 
on  the  Ratcliffe  Highway  murderer?'  (Le  III,  102),  die  sich  auf 
den  Essay  'On  the  Knocking  at  the  Gate  in  Macbeth'  (1823  im 
'London  Magazine'  erschienen)  beziehen  dürfte,  und  zwar  auf  Mr. 
William,  der  'on  the  stage  of  Ratcliffe  Highway'  durch  'unpar- 


58  Dickens'  Bolcsenheit 

allelerl  murders'  unsterblichen  Ruhm  erwarb  (CoUected  Writings 
of  Th.  De  Quince3%  London  1897,  S.  390).  Die  Essaysammlun- 
gen, die  Leigh  Hunt  unter  dem  Titel  'Indicator'  (1821)  und  'Com- 
panion'  (1828)  herausgab,  hat  D.  zitiert  (Le  I,  24).  Aus  diesem 
Nährboden  erwuchsen  ihm  die  eigenen  'Sketches'. 

Die  Schule  Walter  Scotts  stand  zeitgenössisch  neben  ihm  und 
erfährt  sein  höfliches  Lob,  vermag  ihn  aber  nicht  mehr  zu  beein- 
flussen. Wie  er  über  Bulwers  'Pelham'  (1827)  dachte,  ergibt 
sich  aus  seinem  Erstlingswerk,  den  'Sketches'.  In  der  ursprüng- 
lichen Zeitschriftenfasi^ung  der  Skizze  'Horatio  Sparkins'  schrieb 
er:  'he  talks  like  a  second  Pelham'  (Ben  30),  in  der  Buchform 
aber  machte  er  daraus  'like  an  oracle'  (Sk  368).  Anders  drückt 
sich  D.  aus,  wenn  er  an  den  Verfasser  selbst  schreibt;  da  urteilt 
er  über  'A  Strange  Story'  (1862):  'I  have  a  perfect  faith  in  such 
a  master-hand  as  yours  . . .  you  whet  my  interest  by  what  you 
write  of  it'  (Le  IV,  182).  Die  Novelle  'Lost  Tales  of  Miletus' 
(1866)  nennt  er  in  einem  Brief  an  seinen  intimsten  Freund  For- 
ster 'a  most  noble  book'  (Le  II,  86).  Man  sieht  deutlich,  wie  D. 
bestrebt  ist,  einen  Verfasser,  der  als  sein  Konkurrent  erscheinen 
könnte,  weder  öffentlich  noch  privatim  herabzusetzen.  —  Von  sei- 
nem Freunde  Ainsworth,  der  die  von  Scott  begonnene  Rich- 
tung fortsetzt,  ihr  aber  einen  Zusatz  von  Schauerlichem  gibt, 
zieht  D.  die  Verbrechergestalt  des  Dick  Turpin  aus  dem  'Rock- 
wood Castle'  (1834)  und  den  'Jack  Sheppard'  (1839)  an  (Sk  197). 
Den  Roman  'Tilney  Hall'  (1834)  des  Thomas  Ho  od,  zu  dem  D. 
in  persönlichen  Beziehungen  stand,  nennt  er  in  einem  Brief  an 
Forster  'the  most  extraordinary  jumble  of  impossible  extravagance 
and  especial  cleverness'  (Fo  IV,  22).  Noch  intimer  war  seine 
Freundschaft  mit  Wilkie  Collins,  für  dessen  Roman  'Basil' 
(1852)  er  schon  deshalb  'a  high  respect'  bekannte  (Le  I,  316). 
Seinen  späteren  Roman  'Hide  and  Seek'  (1854)  bezeichnet  er  in 
einem  Brief  an  Miss  Hogarth  als'a  very  remarkable  book'  (Le  II, 
72).  Über  seinen  weiteren  Roman  'Anne  Rodway'  (1856)  hat  er 
Tränen  vergossen,  wie  er  an  den  Verfasser  berichtet  (Le  II,  169). 
Seinen  bekanntesten  Roman  'The  Woman  in  White'  (1860)  be- 
urteilte er,  abermals  in  einem  Brief  an  den  Autor,  als  'very 
interesting'  (Le  II,  300).  —  Cooper,  der  nach  Walter  Scotts 
Vorgang  den  Indianerroman  aufbrachte,  hat  D.  nur  in  den  Am  N 
202  erwähnt.  Über  Allston,  den  Verfasser  der  'Romance  of 
Monaldi'  (1841)  schrieb  er  an  Forster:  'Mr.  Allston  . . .  is  a  fine 
specimen  of  glorious  old  genius'  (Fo  II,  170).  —  An  Danas 
Seefahrerroman  'Two  Years  before  the  Mast'  (1840)  gefiel  D.  die 
an  Defoe  anklingende  glückliche  Verbindung  von  Romantik  und 
Realismus :  'a  book  which  I  had  much  praised  to  him  thinking  it 
like  Defoe'  (Fo  II,  130). 


Dickens'  Belesenlieit  59 

Sobald  sich  D.  über  Zeitgenossen  ausspricht,  kommt  es  ihm  vor 
allem  darauf  an,  als  gentleman  zu  erscheinen  und  ja  nicht  etwa  als 
neidischer  Kritiker.  Die  bürgerlichen  Erzähler  seiner  Umgebung 
überschüttet  er  deshalb  mit  Lob.  Über  die  Frances  T  r  o  1 1  o  p  e, 
Verfasserin  von  'Vicar  of  Wrexhill'  (1837),  'Widow  Barnaby' 
(1838)  u.  a.  schreibt  er  an  sie  selbst:  'I  am  convinced  that  there  is 
no  writer  who  has  so  well  and  accurately  (I  need  not  add  enter- 
tainingly)  described  it  (nämlich  Amerika  und  die  amerikanische 
Gesellschaft)  in  many  of  its  aspects  as  you  have  done'  (Le  I,  87). 
Von  Douglas  Jerrold,  der  die  'Story  of  a  Feather'  (1844)  ge- 
schrieben hat,  berichtet  er  an  Förster,  er  habe  'derived  much  enjoy- 
ment  from  it'  (Fo  III,  145);  für  die  unbekannte  Schrift  'The  Her- 
mit'  —  es  fehlt  jegliche  Angabe  über  die  Gattung  und  Autor- 
schaft der  im  'Illuminated'  erschienenen  Dichtung  —  findet  er  in 
einem  Briefe  an  Jerrold  warme  Worte  der  Anerkennung  (Le  I, 
164). 

Ein  weiteres  Motiv  des  Lobes  kommt  für  D.  hinzu,  sobald  es 
sich  um  Mitarbeiter  seiner  Zeitschriften  'The  Household  Words' 
oder  'AU  the  Year  Round'  handelt.  An  Mrs.  G  a  s  k  e  1 1  schreibt 
er,  nachdem  ihr  Roman  'Mary  Barton'  1848  erschienen  wnr: 
'there  is  no  living  English  writer  whose  aid  I  could  desire  to 
enlist  in  preference  to  the  authoress  of  Mary  Barton  —  a  book 
that  most  profoundly  aflFected  and  impressed  me'  (Le  I,  230). 
Ebenso  ist  er  voll  Lobes  für  Emily  Jolly,  in  Briefen  an  sie,  ob- 
gleich ihre  Romane  'Wife's  Story',  'Mr.  Arie',  'The  Brook'  und 
'An  Experience'  (Le  IV,  160,  168,  255)  gar  nicht  in  den  Nach- 
schlagebüchern zu  finden  sind.  Das  gleiche  Verhältnis  finden  wir 
bei  Miss  Boyle.  Für  den  Beitrag  'Woodland  Gossip'  (1864) 
spendet  er  ihr  Lob:  'very  gracefully  and  charmingly  done.  The 
right  feeling,  the  right  touch;  a  very  neat  band,  and  very  true 
heart'  (Le  IV,  201  und  Anm.).  Eine  andere  Mitarbeiterin  war 
Mrs.  Clif  f  ord,  die  ihm  1868  die  Erzählung  'The  Abbot's  Pool' 
geliefert  hatte.  Er  rühmt  sie  als  'a  new  beginner'  (Le  IV,  244) 
und  glaubt,  sie  werde  nach  weiterem  Bemühen  eine  Nachfolgerin 
der  Mrs.  Gaskell  werden  (Le  IV,  245).  Den  jüngeren  Bulwer 
ermutigte  er  zu  weiteren  schriftstellerischen  Versuchen  mit  den 
Worten:  'you  can  do  a  great  deal  more  than  you  think  for,  with 
whatever  you  touch'  (Le  IV,  257).  Indem  er  an  seine  Mitarbeiter 
Lobesbriefe  richtet,  führte  deutlich  ein  wohlmeinender  und  klu- 
ger Redakteursverstand  ihm  die  Feder. 

Etwas  anderes  ist  es,  wenn  er  neue  Richtungen  auftauchen 
sieht.  Den  als  Staatsmann  wie  Schriftsteller  bedeutenden  D Is- 
raeli, der  mit  'Venetia'  (1836)  den  ersten  Künstlerroman  schuf, 
erwähnt  D.  zwar  nirgend,  besaß  aber  seine  Werke  (Dib  298). 
Miss   Marti neau,    die  Verfasserin    nationalökonomischer    Ge- 


60  Dickens'  Belesenheit 

schichten,  war  ihm  persönlich  bekannt.  Er  hat  ihre  Werke 
gelesen,  doch  sein  Urteil  steht  aus  (Fo  II,  188,  227).  Von  Char- 
lotte Bronte,  die  durch  ihren  rührseligen  Erzieherinnenroman 
'Jane  Eyre'  (1847)  zur  Berühmtheit  gelangte,  besaß  er  eine  Gesamt- 
ausgabe ihrer  Werke  unter  dem  Schriftstellernamen  Currer  Bell 
(Dib  298).  Sommer villes  ' Autobiography  o£  a  working  Man 
by  one  who  has  whistled  at  the  Plough'  (ursprünglich  im  'Man- 
chester Examiner'  erschienen,  in  Buchform  1848)  wird  gelegent- 
lich genannt  (Le  IV,  94  Anm.).  Auf  Thackeray,  berühmt 
durch  seinen  'Vanity  Fair'  (1848)  hielt  D.  als  Vorsitzender  bei 
einem  Essen  zu  seinen  Ehren  1858  eine  Rede,  worin  er  besonders 
auf  'Vanity  Fair'  und  'Pendennis'  (1850)  hinweist  und  deren 
'treasures  of  mirth,  wit,  and  wisdom'  betont  (Fo  V,  67).  Das 
/Genie  der  George  Eliot  hat  er  sofort  erkannt,  als  ihre  'Scenes 
of  Clerical  Life'  (1858)  erschienen,  und  schrieb  darüber  an  For- 
ster: 'Do  read  them.  They  are  the  best  thing  I  have  seen  since  I 
began  my  course'  (Fo  III,  46).  —  Von  Charles  Lever,  einem 
weniger  bedeutenden  Erzähler  von  Militär-  und  Kriegsromanen, 
besaß  D.  die  Romane  'The  Daltons,  or  The  Three  Roads  in  Life' 
(1852),  'The  Dodd  Family  abroad'  (1854),  'The  Martins  of  Cro' 
Martin'  (1856)  und  'Luthrel  of  Arram',  1865  (Dib49lb  Nr.  1890). 
—  Von  dem  amerikanischen  Novellisten  Hawthorne  hat  er 
'Mosses  from  an  old  Mause'  (1846)  mit  Begeisterung  gelesen  (Fo 
IV,  219);  dagegen  hat  er  an  seinem  berühmten  'Scarlett  Letter' 
(1850)  eine  merkwürdige  Ausstellung  zu  machen:  'the  psycholo- 
gical  part  of  the  story  is  very  much  overdone'  (Fo  IV,  219).  Sein 
eigener  Pinsel  hatte  mehr  volkstümliche  Breite,  während  der  des 
Hawthorne  mehr  kunstmäßige  Spitze  beweist.  Als  von  der  Har- 
riet  Beecher  der  Negerroman  'üncle  Tom's  Cabin'  (1852)  er- 
schien, fand  D.  darin  'many  points  . . .  very  admirably  done'  (an 
Mrs.  Watson,  Le  I,  311).    Das  war  mehr  nach  seinem  Geschmack. 

Wenn  D.  mit  einem  Schriftsteller  persönlich  bekannt  oder  be- 
freundet war,  so  hat  er  natürlich  das  eine  oder  das  andere  Er- 
zählungswerk von  ihm  gelegentlich  erwähnt.  So  zieht  er  den 
Roman  'Ranthorpe'  (geschr.  1842,  veröffentlicht  1847)  des  Le- 
wes  an  (Le  IV,  95).  Chorleys  unbedeutenden  Roman  'Rocca-' 
bella'  (1859)  nennt  er  'a  very  remarkable  book'  (Le  IV,  175). 
Den  ihm  näherstehenden  Charles  Reade  beglückwünscht  er  zu 
seinem  Roman  'Hard  Cash'  (1863)  wegen  der  'admirable  art' 
und  'surprising  grace  and  vigour'  (Le  III.  41).  Von  Edmund 
Yates  ist  wenigstens  'Kissing  the  Rod'  (1866)  gestreift  (Fo  VT, 
188),  und  Percy  Fitzgeralds  'Fatal  Zero'  bezeichnet  er  in 
einem  Brief  an  Mrs.  James  Field  als  'a  very  curious  analysis  of 
mind'  (Le  IV,  244).  _  J  • 

Von  gelehrten  Büchern  erscheint  bei  D.  nicht  viel.  Für 


Dickens'  Belesenheit  61 

philosophische  Werke  hat  er  nichts  übrig,  wenngleich  Bacons 
Werke  und  Humes  'Essays'  (1742)  in  seiner  Bibliothek  standen 
(Dib  298).  Von  Bacon  fühlte  D.,  daß  er  mehr  wußte,  als  er 
sagen  wollte,  und  hat  ihn  daher  'deep  and  decidedly  knowing'  ge- 
nannt (Rdge  III,  76).  Für  philosophisches  Denken  zeigte  D. 
keine  Neigung,  doch  haben  ihn  auf  religiösem  Gebiet  bezeichnen- 
derweise die  Broad-Church-Ansichten  am  meisten  angezogen. 
Sobald  Stanleys  Buch  'Life  and  Correspondance  of  Dr.  Arnold' 
(von  Rugby)  erschienen  war,  rühmte  es  D.  wegen  seines  religiösen 
Gehaltes:  'every  sentence  you  quote  from  it  is  the  text-book  of  my 
faith'  (Fo  III,  160  f.).  —  Literaturgeschichte  liegt  ihm  so  fern, 
daß  er  von  Disraelis  'Curiosities  of  Literature'  (1791)  nur 
eine  Seite  liest  (Fo  II,  37).  Er  weiß  von  der  englischen  Gram- 
matik des  Murray  (1795)  und  erwähnt  sie  in  Sk  298  (Ben  30) 
und  NN  I,  84.  —  Völlig  fern  liegen  ihm  auch  die  Kunstkritiker. 
So  hat  er  über  Hazlitt  gar  nichts  zu  sagen;  nur  einmal  be- 
merkt er  im  Hinblick  auf  dessen  Schrift  'Round  Table,  On  Actors 
and  Acting'  (ed.  London  1903,  Geo.  Bell  &  Sons,  Bd.  I,  222,  Nr. 
XXXVIII),  daß  niemand  von  der  Gesellschaft  mit  so  viel  Liebe 
behandelt  werde  wie  die  Schauspieler  (Sp  100).  Von  dem  geist- 
vollen Ruskin  werden  nur  die  'Seven  Lamps  of  Architecture' 
(1849)  gestreift  (Fo  IV,  218  f.).  Dagegen  hat  ihm  vieles  in  den 
'Essays'  (1841)  des  gedankenreichen  Amerikaners  Emerson  ge- 
fallen :  'among  much  that  is  dreamy  and  f  ancif ul  . . .  the  is  much 
more  that  is  true  and  manly,  honest  and  bold'  (Am  N  63). 

Für  rein  wissenschaftliche  Werke  kann  sich  D.  nicht  erwär- 
men, eher  noch  für  Zeitschriften.  Er  scheint  von  Ferguson, 
dem  Verfasser  astronomischer  Bücher  im  18.  Jahrhundert,  zu 
wissen  und  spielt  auf  ihn  an  (Fo  III,  57;  Sp.  79).  Mit  Mrs. 
Jane  Marcet,  die  einige  naturwissenschaftliche  und  historisch- 
philosophische Abhandlungen  geschrieben  hat,  pflegte  er  1846 
persönlichen  Verkehr  in  Lausanne  (Fo  III,  252).  —  Merkwürdig 
ist,  wie  er  über  die  Wochenschriftenliteratur  pseudo-gelehrter 
Art  gekommen  ist.  Die  ersten  dieser  Zeitschriften  erschienen 
in  seiner  Zeit  und  haben  ihn  von  Jugend  an  beschäftigt.  Schon 
als  Schulknabe  kennt  er  das  'Terrific  Register'  (1825  hg.  in 
2  Bdn.),  dessen  Lektüre  seine  Nerven  bis  zur  Erschöpfung  auf- 
peitscht (Fo  I,  101  Anm.),  und  die  illustrierte  Wochenschrift 
Tortfolio'  (1823 — 26),  die  er  mit  Vorliebe  während  seiner 
'blacking-works'  kaufte  (Langton  77;  Ben  29).  Auch  Con- 
stables  'Miscellany'  (1827),  zitiert  in  PPp  II,  207,  ist  ihm  früh 
in  die  Hände  gekommen  und  ebenfalls  eine  Art  pseudo-gelehrter 
Naturgeschichte,  Kirbvs  'Wonderful  and  scientific  Museum' 
(1802—08),  erwähnt  in  OME  III,  93. 

Für  Biographien  hatte  D.  von  jeher  ein  großes  Interesse;  ist 


62  Dickens'  Belesenheit 

doch  diese  Gattung  in  der  englischen  Literatur  immer  berück- 
sichtigt und  gepflegt  worden.  Sie  setzte  schon  im  16.  Jahr- 
hundert ein  mit  dem  'Book  of  Martyrs'  (1563)  des  John  Fox; 
besonderen  Eindruck  machten  D.  (=  Copperfield)  hierin  die  zahl- 
reichen Greuelbilder  (Copf  I,  194;  Ben  25).  Unter  den  Autoren 
des  17.  Jahrhunderts  steht  der  feine  Autobiograph  und  Oxforder 
Gelehrte  Robert  Burton  an  der  Spitze  mit  seiner  'Anatomy  of 
Melancholy'  (1621)  —  in  D.s  Besitz  (Dib  298).  Daran  reihen 
sich  die  Tagebücher  des  Evelyn,  das  ebenfalls  in  D.s  Bibliothek 
stand  (Dib  298),  und  des  Pepys  ;  letzteres  (1669)  ist  ihm  sogar 
ein  Lieblingsbuch  (Notes  and  Querias  10,  I,  166).  Daneben 
scheint  er  irgendeine  englische  Übersetzung  der  Lebensbeschrei- 
bungen des  Plutarch  gekannt  zu  haben,  die  er  einmal  zitiert 
(OME  III,  88).  Aus  dem  18.  Jahrhundert  interessieren  ihn  die 
Biographien  des  'Annual  Register'  (1758),  das  er  zweimal  an- 
zieht (OME  III,  74,  93).  Mehrfach  werden  die  Briefe  des  Earl 
of  Chesterfield  an  seinen  Sohn  (1774)  erwähnt  (Sk  281, 
Rdge  III,  76,  Dby  I,  253),  und  Horace  Walpoles  Briefe  waren 
in  D.s  Besitz  (Dib  298).  Auch  Caulfields  'Portraits,  Me- 
moirs,  and  Characters  of  Remarkable  Persons'  (1790 — 94)  hat  er 
beachtet  und  gelegentlich  erwähnt  (OME  III,  93).  Dagegen  hebt 
er  unter  den  Biographen  dieses  Jahrhunderts  mit  Recht  Bos- 
well  hervor,  der  eine  neue  Art  der  täglichen  Beobachtung  und 
Aufzeichnung  aufgebracht  hatte.  Auffallend  ist,  daß  ihm  dessen 
'Life  of  Samuel  Johnson'  (1791)  nicht  zusagt:  'Nobody's  con- 
tempt  for  Boswell  ought  to  be  capable  of  increase'  (Le  I,  201). 
Besondere  Vorliebe  bekundet  D,  für  Biographien  des  19.  Jahr- 
hunderts, namentlich  für  Sammlungen  solcher  aus  der  ersten 
Hälfte.  Da  finden  wir  das  zehnbändige  'Harleyan  Miscellany' 
(1813)  in  seiner  Bibliothek  (Dib  298).  Wilsons  'Wonderful 
Characters,  comprising  Memoirs  and  Anecdotes  of  the  most  Re- 
markable Persons'  (1821)  werden  einmal  zitiert  mit  den  Worten 
'Wilson's  Characters'  (OME  III,  93).  Ein  ähnliches  Sammelwerk, 
Murrays  achtzigbändige  'Eamily  Library',  fortgesetzt  von 
Tegg  (1847),  finden  wir  abermals  in  D.s  Bibliothek  (Dib  298), 
und  Somner  Merryweathers  'Lebensbeschreibungen  und 
Anekdoten  von  Geizhälsen'  (1850;  British  Museum,  Catalogue  of 
Printed  Books)  sind  angezogen  in  OME  III,  95,  wo  auch  einige 
von  ihnen  mit  Namen  genannt  werden,  wie  John  Overs,  John 
Little  u.  a.  Neben  diesen  Sammelwerken  interessieren  ihn  einige 
Einzelbiographien  von  Zeitgenossen.  Die  'Biography  of  Shake- 
speare' (1843)  des  ihm  persönlich  nahestehenden  Charles  K  n  i  g  h  t 
nennt  er  in  einem  Brief  an  ihn  'a  charming  piece  of  honest 
enthusiasm  and  perseverance'  (Le  I,  162),  Von  John  Eorster 
streift  er  einmal  die  'Lives  of  the  Statesmen  of  the  Common- 


Dickens'  Belesenheit  63 

wealth'  (1839)  in  Le  IV,  95.  Für  dessen  Biographie  'Life  and 
Times  of  Oliver  Goldsmitli'  (1848,  in  2  Bdn.  1854)  kann  D.  sich 
nicht  genugtun  in  Lobpreisungen  und  anerkennenden  Worten  an 
den  Verfasser:  'impossible  to  give  it  too  much  praise'  (Le  I,  201). 
Es  ist  bezeichnend,  daß  sein  Biograph  sein  intimster  Freund 
wurde.  —  Ferner  wissen  wir,  daß  er  das  'Diary'  des  bekann- 
ten Dichter  -  Biographen  Thomas  Moore  gelesen  hat  (Macken- 
zie  241). 

Geschichte  interessierte  D.  gar  nicht.  In  seiner  Bibliothek 
stand  kein  Buch  historischen  Inhalts.  Ganz  beiläufig  streift  D. 
in  einem  Brief  an  Forster  ein  Geschichtswerk  des  17.  Jahrhun- 
derts: Clarendon,  'History  of  the  Rebellion  and  Civil  Wars  in 
England',  angefangen  1641,  1.  Ausg.  1704  (Le  II,  301).  Daneben 
findet  sich  auf  Gibbons  'Decline  and  Fall  of  the  Roman  Em- 
pire' (1776,  1781),  das  D.  von  der  Schule  her  kennen  mochte, 
eine  ganz  allgemeine  Anspielung:  'the  Roman  Empire  having 
worked  out  its  destruction'  (OMF  III,  88).  Im  übrigen  erscheint 
etwas  Sittengeschichte.  Von  Thomas  Dekker  besaß  D.  das 
'Guls  Hornebooke',  1609  (Dib  298).  Über  die  'Traditions  of 
Edinburgh'  (1823)  seines  Zeitgenossen  Robert  C  halmers  ist  er 
entzückt  (Le  II,  361).  Mit  Hone,  dem  Verfasser  des  'Every 
Day  Book'  (1828),  aus  dem  er  so  manches  für  sein  Xm  C  ge- 
schöpft haben  mag,  ist  D.  persönlich  bekannt  und  erweist  ihm 
1842  die  letzte  Ehre  (Fo  III,  28  f.).  Walter  Scotts  'Letters 
on  Demonology'  (1832)  werden  einmal  in  Sk  258  angezogen 
(Ben  30).  Gespannt  muß  man  sein  auf  Carlyle.  Wann  finden 
wir  Carlyle  bei  D.  zum  erstenmal  erwähnt?  Was  sagt  er  über 
ihn?  D.s  erste  Äußerung  über  Carlyle  steht  in  einem  Brief  an 
Prof.  Feiton  aus  dem  Jahre  1842.  Hierin  bekundet  unser  Dichter 
eine  seltene  Hochachtung  vor  Carlyle  als  Charakter,  indem  er  mit 
Bezug  auf  dessen  Brief  über  das  internationale  Copyright  an  Feiten 
schreibt:  'Carlyle  boldly  said  what  all  others  think,  and  there- 
fore  deserved  to  be  manfuUy  supported'  (Le  IV,  31).  Daß  D.  in 
späteren  Jahren  noch  weit  mehr  als  in  seiner  Jugend  ein  aufrich- 
tiger Bewunderer  des  großen  Schotten  war,  bezeugt  Forster  mit 
den  Worten:  'there  was  no  one  whora  in  later  life  he  honoured 
so  much,  or  had  a  more  profound  regard  for'  (Fo  II,  175).  Daher 
läßt  sich  verstehen,  daß  D.  mit  Carlyle  eine  Ausnahme  machte 
und  1851  sogar  ein  Geschichtswerk  von  ihm  liest,  die  'Frencli  Re- 
volution', 1837  (Fo  IV.  218),  deren  Lektüre  unverkennbar  in  den 
'Hard  Times'  und  der  TTC  nachgeklungen  hat.  Umgekehrt  stand 
auch  D.  bei  Carlyle  hoch  in  Gunst,  denn  dieser  ist  seinerseits  ein 
großer  Verehrer  von  D.  gewesen  und  schätzte  besonders  dessen 
Vorlesungen  aus  eigenen  Werken  (Fronde  II,  290).  —  Aus  der 
zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  begegnet  nur  Buckle,  der 


64  Dickens'  Belesenheit 

bekannte  Verfasser    der    'History    of    Civilisation    in  England' 
(1857),  den  D.  nebenbei  erwähnt  (Le  III,  102). 

Was  sonst  noch  an  gelehrten  Büchern  bei  D.  erscheint,  verrät 
mehr  allgemeine  Interessen.  Im  Vordergrunde  stehen  Reise- 
werke, von  denen  der  Dichter  eine  beträchtliche  Anzahl  nicht  nur 
besaß  (Dib  298),  sondern  mit  großem  Vergnügen  las.  Forster  be- 
richtet von  einer  erstaunlichen  Menge  von  Bücliern  über  Afrika- 
und  andere  Reisen,  für  die  D.  'au  insatiable  relish'  hegte  (Fo  IV, 
218).  Im  einzelnen  wird  von  D.  nur  die  Marguerite  Pow^er  und 
ihre  Beschreibung  einer  Reise  nach  Ägj^pten,  'Arabian  Days  and 
Nights'  (1823),  gelegentlich  angeführt  (Le  III,  29). 

Groß  war  auch  D.s  Interesse  für  Werke  über  Volkskunde, 
Kostüme,  Spiele  und  Sport,  wie  a.us  dem  reichhaltigen  Schatz 
seiner  Bibliothek  zu  folgern  ist  (Dib  298).  Zitate  oder  Anspie- 
lungen auf  Werke  solchen  Inhalts  finden  sich  nicht;  die  einzige 
Ausnahme  dieser  Art  bildet  Hovles  'Short  Treatise  on  Whist' 
(Sk  474,  Ben  30). 

Von  auß erenglischer  Literatur  steht  voran  die  Bibel.  D. 
verrät  eine  schlichte  Kenntnis  von  vielen  Stellen,  namentlich  des 
Neuen  Testaments.  Dies  hat  ihn  viel  beschäftigt  und  zu  regem 
Nachdenken  veranlaßt.  Er  schätzte  es  ungemein  und  hielt  es  für 
'the  best  book  that  ever  was  or  will  be  knowu  in  the  world  . . . 
because  it  teaches  . . .  the  best  lessons'  (Le  III,  249).  Aus  dieser 
Überzeugung  erwuchs  seine  leichtverständliche  Darstellung  der 
'History  of  the  New  Testament',  die  ausschließlich  für  die  Be- 
lehrung seiner  Kinder  bestimmt  war  und  auf  Wunsch  des  Dich- 
ters unveröffentlicht  geblieben  ist  (Le  III,  282).  D.  stand  durch- 
aus auf  dem  Boden  des  Neuen  Testaments  und  war  ein  gläubiger 
Sohn  seiner  Kirche.  Zwar  waren  ihm  leere  Formen  und  Zwang  in 
religiöser  Beziehung  zuwider,  aber  das  Neue  Testament  ist  für 
ihn  von  'priceless  value'  und  sein  Studium  ein  'unfailing  guide 
in  life'  (Le  III,  239).  —  Von  einem  weiteren  religiösen  AVerk 
aus  dem  Orient,  dem  Talmud,  nennt  D.  wenigstens  den  Namen 
(Chzwt  II,  450).  ^      _     ,^. 

Im  übrigen  kannte  D.  an  orientalischer  Literatur  die  wichtig-^'; 
sten  Märchen.  So  spielt  er  einmal  auf  die  'Persian  Tales'  (übers/" 
von  A.  Philipps  aus  dem  Französischen  des  Petit  de  la  Croix, 
1709)  an  mit  den  Worten:  'Abudah,  the  merchant  with  the  ter- 
rible  little  old  woman  hobbling  out  of  the  box  in  his  bedroom' 
(Chzwt  I,  78).  Die  'Tales  of  the  Genii'  (übersetzt  von  Jamej5 
Ridley,  1765)  gehörten  zu  D.s  Jugendlektüre  (Fo  I,  38).  Be- 
sonders häufig  zieht  D.  die  'iVrabian  Nights'  Entertainments'  an. 
Auch  diese  hat  er  schon  früh  kennengelernt,  vielleicht  in  Forsters 
(1802)  oder  Beaumonts  Fassung  (1810),  die  damals  unter  den 
verschiedenen  Ausgaben  am  bekanntesten  waren  (Fo  I,  38;  Ben 


Dickeas'  Belesenheit  65 

31).  Zahlreich  sind  die  Anspielungen  auf  einzelne  Märchen  die- 
ser Sammlung  in  D.s  Werken.  So  erwähnt  er  z.  B.  'Alladin's 
palace'  (Sk  195),  'the  Suitana  Sheherazade'  (Copf  I,  120);  er 
weiß  ferner  von  Nebel,  der  in  seiner  dicken  Masse  dem  Rauch 
eines  arabischen  Märchens  gleicht,  sich  aber  nicht  zu  einem 
menschlichen  Antlitz  formt  (Dby  I,  207),  und  kennt  Edelsteine, 
die  ihren  Glanz  verlieren,  wenn  ihr  Träger  in  Gefahr  ist  (Dby 
III,  123);  er  führt  'Ali  Baba'  an  (Xm  C  40),  erwähnt  'Sinbad's 
Travels'  (Am  N  161)  und  'Haroun  Alraschid'  (Am  N  281);  auch 
die  Prinzessin  der  'Arabian  Nights',  die  durch  Besprengen  mit 
Goldwasser  den  Menschen  ihre  frühere  Schönheit  wiederverschafft, 
ist  ihm  nicht  unbekannt  (Le  I,  95).  Die  überaus  häufigen  Hin- 
weise auf  diese  orientalischen  Märchen  beweisen,  wie  sehr  sich 
D.  für  sie  begeistert  hat.  In  ihnen  hat  er  jenes  traumhafte,  über- 
natürliche, mj^stische  Geisterelement  gefunden,  das  er  mit  so  viel 
Geschick  und  meisterhafter  Kunst  in  seinem  Xm  C  zu  packender 
Darstellung  verarbeitete. 

Was  D.  von  französischer  Literatur  kannte,  ist  nicht  be- 
deutend. An  gelehrter  Lyrik  und  Epik  enthält  seine 
Bibliothek  nur  eine  Gesamtausgabe  der  Werke  Berangers  und 
Lamartines  'Meditations',  1820  (Dib  295).  Beide  mag  er  schon 
vor  seiner  Reise  nach  Frankreich  gelesen  haben.  Während  seines 
Pariser  Aufenthalts  knüpfen  sich  lose  Fäden  persönlicher  Be- 
kanntschft  zu  Lamartine,  den  D.  'one  of  the  best  fellows  in  the 
World'  nennt  (Le  I,  199).  Auch  den  damals  schon  kränklichen 
Romantiker  Chateaubriand  und  den  Führer  der  Parnassiens, 
Theophile  Gautier,  lernt  er  dort  kennen,  letzteren  noch  ehe  er 
sein  Hauptwerk  'Emaux  et  Camees'  (1852)  veröffentlicht  hatte 
(Fo  IV,  99). 

Seine  Kenntnis  vom  französischen  Drama  erwarb  D.  aus- 
schließlich während  seines  Aufenthalts  in  Frankreich.  Auf  Pa- 
riser Bühnen  sah  er  mit  Ausnalune  von  Voltaire,  dessen  sämt- 
liche Dramen  er  erst  im  Sommer  1851  las  (Fo  IV,  218),  nur  Dra- 
men von  mehr  oder  minder  bedeutenden  Zeitgenossen.  An  Tra- 
gödien erscheinen  von  dem  älteren  Dumas,  mit  dem  D.  in 
persönlichem  Verkehr  stand  (Fo  IV,  99),  'Christine  de  Suede' 
(1827)  und  'Kean',  1836  (Fo  III,  190,  134);  daneben  im  Jahre 
1856  seine  Übersetzung  des  'Orestes'  (Le  II,  140).  Ferner  bot  D. 
die  Bühne  Victor  Hugos  'Lucrece  Borgia',  1833  (Fo  IV,  98), 
'a  very'  remarkable  and  striking  play'  (LeIV,  86),  und  'Ruy  Blas', 
1838  (Pemberton  236);  ebenso  1847  ein  neues  Drama  von  Pon- 
sard,  offenbar  'Agnes  de  Meranie',  1846  (Fo  IV,  98),  und  im 
gleichen  Jahre  'La  Revolution  Frangaise'  von  Labrousse  & 
Mallian.  Von  dem  jüngeren  Dumas  begegnet  das  Drama  'La 
Dame  aux  Camelias',  1852  (Pemberton  236),  und  von  Henri  de 

ArchiT  f.  n.  Sprachen.    140.  5 


66  Dickens'  Belesenheit 

Kock,  dem  Sohn  des  bekannten  Romanschriftstellers,  'Le  Para- 
dis  Perdu',  1855  (Fo  V,  127  f.).  Wenig  erbaut  ist  D.  von  Theo- 
dore Murets  Versdrama  'Michel  Cervantes'  (1856),  das  er  als 
'an  infernal  dose  of  ditch- water'  bezeichnet  (Fo  Y,  126).  Zu  dem 
Drama  'Jane  Osborue',  das  D.  1855  im  Porte  St.  Martin  gesehen 
hat  (Le  II,  101),  vermochte  ich  den  Autor  nicht  zu  ermitteln. 

Noch  dürftiger  ist  es  mit  D.s  Kenntnis  von  Komödien  be- 
stelllt.  An  Klassikern  erscheint  nur  Moliere,  von  dessen  Wer- 
ken er  eine  Gesamtausgabe  besaß  (Dib  295).  Manches  mag  er 
daraus  schon  vor  seinem  Pariser  Aufenthalt  gekannt  haben.  In 
Paris  selbst  sah  er  nur  eine  Aufführung  des  'Don  Juan',  1665  (Le 
IV,  86).  Bezeichnend  ist,  daß  D.  Beaumarchais'  'Barbier  de 
Seville'  (1775)  auf  einer  italienischen  Bühne  als  Oper  kennen- 
lernte (Fo  III,  135).  Unter  den  zeitgenössischen  Lustspieldichtern 
treffen  wir  nur  Scribe  an,  den  D.  persönlich  kannte  (FoIV,  99). 
Was  er  von  seinen  Werken  kennt,  ist  ungewiß;  bezeugt  ist  nur, 
daß  er  einer  Aufführung  von  'Adrienne  Lecouvreur'  (1849)  bei- 
gewohnt hat  (Pemberton  219). 

Mehr  Gefallen  schien  D.  an  den  zeitgenössischen  Possen  zu 
finden  —  eine  Erscheinung,  die  schon  in  der  englischen  Literatur 
zu  beobachten  war.  Da  begegnen  'Les  M^moirs  du  Diable'  (1842) 
von  Arago  &  Paul  Vermond  (Le  II,  165);  'Gentil  Bernard 
ou  L'Art  d'aimer'  (1846)  von  Dumanoir  &  Clairville  (Le 
IV,  85);  ferner  Henri  Murger  mit  seinem  'Bon  Homme  jadis', 
1852  (Le  II,  9).    Für  M«"^  de  Gir ardin s  'La  Joie  fait  Peur' 

(1854)  findet  D.  sogar  Worte  des  Lobes;  er  nennt  das  Stück  'beauti- 
fully  imagined'  (Le  II,  101).  Der  Schwank  'Les  Cheveux  de  ma 
Femme'  (1856)  von  Eugene  Labiche  &  Leon  Battu  ist  für 
ihn  sogar  ein  'uncommonly  droll  piece'  (Fo  V,  129).  —  Hierher 
zu  zählen  ist  vielleicht  auch  ein  Stück,  das  D.  in  einem  Brief  vom 
28.  Januar  1847  mit  dem  Titel  'English  to  the  Gore'  erwähnt 
(Pemberton  212).  Ich  vermochte  weder  den  französischen  Titel 
noch  den  Verfasser  zu  ermitteln. 

Im  übrigen  finden  wir  noch  eine  Operette  von  Adolphe  de 
Leuven  &  Brunswick,  'Gibby,  la  Cornemuse',  gedr.  1849 
(Fo  IV,  99),  und  die  beiden  Melodramen  'Le  Medecin  des  Enfants' 

(1855)  von  Bourgeois  &  Dennery,  das  D.  als  'one  of  the 
very  best  melodramas'  lobt  (Fo  V,  130  Anm.),  sowie  Plouviers 
'Le  Sang  Mele'  (1856),  das  er  'a  rather  good  melodrama'  nennt 
(Fo  V,  127). 

Was  verrät  D.  von  französischer  Erzählungsliteratur?  Vor 
seiner  Reise  nach  Frankreich  mag  er  gekannt  haben  Rabelais, 
der  in  Urquharts  Übersetzung  in  seiner  Bibliothek  stand,  und  L  e  - 
sage,  dessen  'Diable  boiteux'  (1707)  und  'Gil  Blas  de  Santillane' 
(1715)  er  ebenfalls  besaß  (Dib  295);  letzteren  hat  er  in  Smolletts 


Dickens'  Belesenheit  67 

Übersetzung  bereits  in  Cliatham  gelesen  (Fo  I,  38;  Ben  31).  Früh 
hat  er  auch  den  'Bachelier  de  Salamanque'  (1736)  kennengelernt, 
denn  er  zitiert  ihn  in  Chzwt  I,  233.  Ferner  zählen  hierher  Ber- 
nardin  de  St.  Pierre  mit  seinem  'Paul  et  Virginie'  (1787),  worauf 
D.  schon  in  seinem  Erstlingswerk  anspielt  mit  den  Worten:  'like 
the  picture  of  Paul  —  not  the  Saint  —  but  he  of  Virginia  notoriety' 
(Sk  394;  Ben  31),  und  vielleicht  Voltaires  Romane,  wenngleich 
Forster  ausdrücklich  berichtet,  daß  D.  dessen  'minor  tales'  erst 
im  Sommer  1851  gelesen  hat  (Fo  IV,  218);  dazu  M°>«  de  Stael, 
die  Verfasserin  der  Romane  'Delphine'  (1802)  und  'Corinne' 
(1807),  sowie  des  Buches  'De  l'Allemagne'  (1810),  die  in  D.s 
Bibliothek  Aufnahme  gefunden  hatten  (Dib  295),  Von  Honore 
de  Balzac  besaß  D.  die  'Contes  drolatiques',  1837  (Dib  295); 
sonst  erfahren  wir  nur,  daß  er  den  'Pere  Goriot'  (1835)  auf  einer 
italienischen  Bühne  gesehen  hat  (Fo  III,  134).  Auch  Paul  de 
K  0  c  k  scheint  D,  schon  vor  seinem  Pariser  Aufenthalt  zu  kennen, 
denn  Forster  berichtet,  daß  unser  Dichter  1851  einige  Romane 
dieses  Schriftstellers  las,  und  bezeichnet  sie  als  'old  favourites 
with  him'  (Fo  IV,  218).  Alles  übrige  verdankte  D.  seinen  Reisen. 
In  Paris  gewann, er  persönliche  Fühlung  mit  Eugene  S  u  e,  George 
Sand,  Victor  Hugo  (Dib  295);  ferner  mit  Edmond  Ab  out, 
von  dem  er  einige  Werke  besaß  (Dib  295)  und  einen  einzigen 
Roman,  'Le  Nez  d'un  Notaire'  (1862)  als  'a  capital  little  story' 
erwähnt  (Fo  VI,  69),  sowie  mit  Ernest  Legouve  und  Alphonse 
Karr  (Dib  295). 

An  gelehrten  Büchern  der  französischen  Literatur  finden  wir 
bei  D.  eine  Gesamtausgabe  von  Montaignes  Werken  (Dib 
295).  Daneben  begegnen  zwei  Geschichts werke:  Charles  Rol- 
lins  'Histoire  Ancienne',  1730 — 38,  ins  Englische  übersetzt  1837 
(OME  III,  88)  und  Merciers  'Tableau  de  Paris',  1788  (Fo 
VI,  47). 

Von  den  übrigen  europäischen  Literaturen  erscheint  nur  wenig 
bei  D.  Einzig  dem  Theater  hat  er  nennenswerte  Beachtung  zu- 
gewandt. So  begegnet  als  Frucht  seiner  italienischen  Reise  eine 
ungenannte  Komödie  von  G  o  1  d  o  n  i ,  die  D.  in  einem  Nach- 
mittagstheater  in  Albaro  1844  gesehen  hat  (Fo  III,  135).  —  Von 
deutscher  Literatur  hat  er  Schillers  'Wallenstein'  (1799)  in 
der  Übersetzung  von  Coleridge  gelesen  (Fo  I,  233);  von  Goethes 
Taust'  (1.  Teil  1808),  den  ihm  Gounods  Oper  1859  in  Paris  ver- 
mittelte, erfahren  wir  sogar  sein  Urteil:  'a  splendid  work'  (Le 
III,  27).  Daneben  ein  einziges  Lustspiel,  Kotzebues  'Stranger', 
das  D.  1859  auf  einer  englischen  Bühne  gesehen  hat  (Le  II,  64). 
—  Dazu  kommt  einiges  aus  der  Erzählungsliteratur.  Voran  steht 
Roscoes  bekannte  Sammlung  von  italienischen,  deutschen  und 
spanischen  Romanen  in  Übersetzungen  (1825,  1826,  1832);  diese 


G8  Dickens'  Belesenheit 

besaß  D.  (Dib  298).  Den  satirischen  Ritterroman  'Don  Quixote' 
(1605)  des  Spaniers  Cervantes  hatD.  schon  in  Chatham,  wahr- 
scheinlich in  Smolletts  Übersetzung  (1775),  gelesen  (Fo  I,  38; 
Ben  31).  Selbst  ein  russisches  Bändchen  treffen  wir  an,  nämlich 
die  'Nouvelles  Eusses'  (1845)  des  Nicolas  Gogol,  die  D.  in  der 
französischen  Übersetzung  des  Louis  Viardot  kennen  lernte  (Le 
IV,  221).  Mit  dem  berühmten  dänischen  Märchendichter  An- 
dersen ist  D.  sogar  persönlich  bekannt  (Lell,  185);  seine  Schrif- 
ten kennt  er  schon  1847  und  schätzt  sie:  'the  Dane  whose  books 
I  honour'  (Le  I,  193). 

Schließlich  ist  noch  eine  Gattung  zu  erwähnen,  die  zwar  auf 
D.s  dichterisches  Schaffen  im  allgemeinen  ohne  Einfluß  geblieben 
ist,  aber  als  wesentlicher  Bestandteil  seiner  künstlerischen  All- 
gemeinbildung Beachtung  verdient.  Es  ist  dies  die  Oper.  Für 
diese  bekundete  D.  schon  in  jungen  Jahren  großes  Interesse,  er- 
freute sie  sich  doch  gerade  zur  Abfassungszeit  seiner  'Sketches' 
in  London  größerer  Beliebtheit  als  je  zuvor.  Von  den  zahlreichen 
Darbietungen  dieser  Art  auf  Londoner  Bühnen  zu  seiner  Zeit  er- 
wähnt D.  Mozarts  'Don  Juan'  (1787)  mit  den  Worten:  'rising 
from  his  chair  like  the  ghost  in  Don  Juan  (Sk489;  Ben  31).  Auf 
'Blaubart'  geht  die  Anspielung:  'sufficient«information  for  the 
most  Fatima-like  curiosity'  (Sk  142),  doch  läßt  sich  nicht  er- 
weisen, ob  D.  das  Singspiel  'Blue-Beard  or  Female  Curiosity' 
(1798)  des  jüngeren  Colman  oder  die  damals  gleichfalls  sehr  be- 
liebte Oper  'Raoul,  chevalier  Barbe-Bleue'  von  Gretry  im  Auge 
hatte;  es  ist  sogar  möglich,  daß  'Blaubart'  schon  um  jene  Zeit 
eine  Pantomime  war  (Ben  32).  Beethovens  'Geschöpfe  des 
Prometheus'  (1801)  scheinen  angezogen  zu  sein  mit  den  Worten: 
'the  Ouvertüre  to  The  Men  of  Prometheus'  (Sk  431;  Ben  32).  Die 
damals  sehr  beliebte  Oper  'Paul  et  Virginie'  (seit  1789  mit  italie- 
nischem, 1791  mit  französischem  und  1800  mit  englischem  Text) 
ist  genannt  in  Sk  410  (Ben  32).  Den  berühmten  italienischen 
Komponisten  Rossini  kann  D.  in  den  dreißiger  Jahren  in  Lon- 
don persönlich  gesehen  haben.  Von  seinen  Opern  nennt  er  die 
Ouvertüre  zu  'Tancredi'  (1813)  in  Sk  124;  aus  'La  Gazza  ladra' 
(1817)  zieht  er  die  Arie  'Di  piacer'  an  (Sk  296;  Ben  32).  Die 
Oper  'Clari  or  The  Maid  of  Milan'  (zuerst  aufgeführt  1823)  des 
Amerikaners  Howard  Payne  wählte  D.  sogar  zu  einer  häus- 
lichen Aufführung  im  Jahre  1833  (Fitz-Gerald  10/11,  Theater- 
zettel). Aus  Aubers  'Muette  de  Portici'  (1828)  erwähnt  er  'Ma- 
saniello',  dessen  Schwester  'Fanella'  und  die  Arie  'Behold  how 
brightly  breaks  the  morning'  (Sk  426;  Ben  32).  —  Dazu  kommen 
einige  Opern,  die  D.  auf  seinen  Reisen  nach  Italien  und  Frank- 
reich kennen  lernte.  So  sah  er  Glucks  'Orphee  et  Euridice' 
(1774)  in  Paris  (Fo  V,  136),  Rossinis  'Mose  in  Egitto'  (1818) 


Dickens'  Beloseuheit  69 

in  Rom  (Fo  Y,  83).  Auch  Verdis  'Trovatore'  (1852)  vermittelte 
ihm  sein  italienischer  Aufenthalt  (Le  II,  30);  ferner  die  Opern 
'Scaramuccia'  und  'II  Pirato',  deren  Verfasser  ich  nicht  zu  er- 
mitteln vermochte.  Abermals  auf  französischem  Boden  wohnte 
er  im  Winter  1855/56  der  Aufführung  einer  ungenannten  Oper 
von  Auber  und  Scribe  bei  (Fo  V,  134),  und  in  der  gleichen 
Spielzeit  sah  er  Scribes  'Manon  Lescaut'  (1856);  hier  erfahren 
wir  sogar  sein  Urteil:  'delightful  music,  an  excellent  story  ... 
charming  throughout'  (Fo  V,  135). 

c)  Kritische  Grundsätze. 

D.  hat  nie  systematisch  über  Kritik  gegrübelt,  noch  kritische 
Aufsätze  verfaßt.  Alle  seine  literarischen  Urteile  kommen  aus 
dem  Gefühl  und  in  gelegentlichem  Ton,  meist  als  leicht  hin- 
geworfene Bemerkungen.  In  seinen  Werken  begegnet  man  ihnen 
nur  ganz  vereinzelt;  am  meisten  sind  sie  in  seinen  Briefen  an- 
zutreffen. Anerkennung,  ja  Bewunderung  überwiegt  den  Tadel 
und  kommt  oft  in  einer  Reihe  von  parallelen  Ausdrücken  hervor- 
gesprudelt; absprechende  Urteile  erscheinen  fast  stets  in  wohl- 
wollender Form  und  ohne  jede  Härte,  des  öfteren  verbunden  mit 
einem  Worte  des  Trostes  und  der  Ermutigung,  der  Belehrung  und 
des  Rates  an  den  Kritisierten. 

Was  D.  an  kritischen  Äußerungen  bietet,  ist  so  spärlich  — 
ganz  besonders  für  das  16.  und  17.  Jahrhundert  — ,  daß  sich 
daraus  irgend  etwas  wie  eine  Ästhetik  nicht  aufbauen  läßt,  aber 
es  genügt,  um  einen  lehrreichen  Einblick  in  seine  Hauptprinzipien 
zu  eröffnen. 

Großen  Wert  legt  er  auf  die  Gestaltung.  Sie  muß  sein 
nervous,  picturesque,  imaginative,  original.  Daher  seine  Begeiste- 
rung selbst  für  mittelmäßige  Leistungen,  wenn  sie  diese  Eigen- 
schaft haben  wie  Ebenezor  Jones'  Gedichte  'Studies  of  Sensation 
and  Event'  (Le  IV,  67;  vgl.  oben  S.  49,),  für  die  Posse  'La  Joie 
fait  Peur'  Cbeautifully  imagined'  Le  II,  101)  der  W°^  de  Girar- 
din,  Westland  Marstons  Drama  'Hard  Struggle'  (Le  IT,  227)  und 
Wilkie  Collins'  Roman  'Valentine  Blyth'  ('original'  Le  II,  68). 
An  Crabbe  hingegen,  der  sich  oft  mit  bloßen  Charaktertypen  in 
trockenem  Ton  begnügte,  mißfällt  ihm  'a  dreary  want  of  fancy 
in  his  poems',  obgleich  er  ihn  in  jungen  Jahren  als  Realisten  hoch- 
schätzte (Fo  IV,  128). 

Von  entscheidendem  Einfluß  auf  sein  Urteil  ist  ferner  die 
Führung  der  Handlung.  Was  er  von  ihr  fordert,  ist  cle- 
,  verness,  interest,  capital  situations.  So  erklärt  sich,  daß  er  Thomas 
Hoods  'Tilnev  Hall'  mit  warmen  Worten  lobt  ('especial  cleverness' 
Fo  IV,  22),  Wilkie  Collins'  Roman  'Hide  and  Seek'  ('the  cleverest 
novel  I  have  ever  seen  written  . . .'  Le  II,  68)  und  Bulwers  Lust- 


70  Dickens'  Bolesenheit 

spiel  'Not  SO  bad  as  We  Seem'  begeistert  preist  ('strong  in  iuterest, 
rieh  in  capital  situations'  Le  IV,  10),  während  er  Milton  als  lang- 
weilig wegschiebt  ('good,  though  prosy'  Rdge  III,  76)  und  für 
den  Autor  der  handlungsarmen  'Pamela'  nichts  übrig  hat  ('no 
favourite  of  miue'  Le  I,   186). 

Den  Stoff  beurteilt  er  im  wesentlichen  nach  Gefühl, 
Moral,  Lebenswahrheit.  Wendungen  wie  lovely,  deeply, 
effecting,  terrihle,  genuine  force  gehen  auf  das  Gefühl,  noble  auf 
die  Moral,  true,  admirahle  personation ,  analysis  of  mind,  picture 
of  the  Urne  u.  a.  betonen  die  realistische  Darstellung,  Wo  senti- 
mentaler Inhalt,  edles  Wollen  und  wahrscheinliche  Einkleidung 
zusammentreffen,  kann  D.  in  Entzückung  geraten,  z.  B.  über 
Brownings  'Blot  on  the  Scutcheon';  er  nennt  das  Drama  'lovely', 
voll  von  'most  earnest  feeling',  'deeply  effecting',  ferner  'füll  of 
the  best  emotion,  profouud  and  yet  simple  and  beautiful  in  its 
vigour',  endlich  'true'  (Fo  III,  45).  Eine  gemütvolle  Mädchen- 
gestalt wie  Collins'  Anne  Rodway  kann  ihn  rühren  als  'admirable 
personation  of  the  girl's  identity'  (Le  II,  169).  Der  hochsittliche 
'Vicar  of  Wakefield'  ist  ihm  'the  most  delightful  of  all  stories' 
(Fo  III,  145).  Goethes  'Faust'  bezeichnet  er  wegen  seines  hoch- 
moralischen und  gefühlvollen  Inhalts  als  'noble  and  sad  story' 
(Le  III,  25).  Wiederum  die  Moral,  dazu  das  große  Empfinden 
gefällt  ihm  an  Emersons  'Essays';  er  lobt  sie  daher  als  'true  and 
manly,  honest  and  bold'  (Am  N  63).  Lebenswahre  Darstellung 
kann  selbst  mittelmäßige  Leistungen  ihm  schmackhaft  machen. 
Daher  bewundert  er  Miß  Jollys  'Wife's  Story'  als  'great  merit 
and  unusual  promise'  (Le  IV,  160).  Was  endlich  realistischen 
Inhalt  betrifft,  konnte  D.  den  Tod  Freitags  bei  Defoe  nicht  oft 
genug  lesen  (vgl.  oben  S.    54). 

Dazu  gesellte  sich  bei  D.  ein  eigenartiger  Sinn  für  Humor. 
Dieser  allein  ergötzt  ihn  in  Addisons  'Spectator',  an  Leigh  Hunts 
'Indicator'  und  'Companion',  an  Irvings  'History  of  New- York 
by  Diedrich  Knick erbocker'.  Dabei  kein  Wort  über  das  Wesen 
dessen,  was  er  Humor  nennt;  man  mag  es  aus  seinen  Mustern 
ahnen;  eine  Definition  hat  er  gar  nicht  versucht. 

In  manchen  Briefen  ergeht  sich  D.,  offenbar  um  dem  An- 
geredeten eine  Freude  zu  machen,  in  ganz  allgemeinen  Aus- 
drücken, wie  genius,  merit,  interest  and  admiration.  Wir  dürfen 
diese  nicht  zu  ernsthaft  nehmen.  Sie  zeigen,  daß  er  da  gar  keinen 
Anspruch  auf  charakteristisches  Urteil  erhob. 

Aus  dem  Ganzen  ergibt  sich,  daß  D.  trotz  ungünstiger  Bil- 
dungsverhältnisse es  verstand,  von  seinem  Schaffensgebiet  alles 
Wichtige  kennenzulernen.  Darin  verrät  sich  eben  seine  Begabung, 
daß  er  seine  Aufmerksamkeit  mit  aller  Macht  auf  das  richtete, 


Dickens'  Belescnheit  71 

was  er  selber  konnte.  Mit  Einflüssen  seiner  Vorgänger  ist  daher 
in  weitestem  Umfang  zu  rechnen.  In  seinem  Urteil  ließ  er  sich 
vom  Gefühl  leiten.  Verstandeskategorien  verrät  er  nahezu  keine. 
Irgendeiner  Schule  aus  Nachdenken  und  Absicht  sich  anzuschlie- 
ßen, lag  ihm  völlig  fern.  Er  war  Psychologe  von  Natur  aus  und 
hat  das  Beispiel  psychologischer  Erzähler,  die  ihm  vorausgingen, 
lediglich  instinktiv  erfaßt.  Erzähler,  die  es  anders  machten, 
suchte  er  in  seiner  Art  zu  schätzen  und  hat  sie  jedenfalls  neidlos 
gelten  lassen.  Kunstmäßigen  Richtungen  gegenüber  blieb  er  kühl. 
Wer,  wie  er,  auf  das  Volksmäßige,  das  Warme,  das  Massive  ging, 
der  war  ihm  ein  Gegenstand  aufrichtiger  Bewunderung.  Daneben 
gab  es  für  ihn  auch  eine  bloße  Höflichkeitsbewunderung,  die  be- 
sonders dann  herauskam,  wenn  er  Dankesbriefe  an  Lebende  zu 
schreiben  hatte. 

Berlin-Steglitz.  Fritz  Fiedler. 


Der  Diälogo  de  Mugeres  von  1544  und  seine 
Bedeutung  für  die  CastillejoForschung. 


Tjlerdinand  Wolf  hat  vor  einigen  70  Jahren  in  einer  Kloster- 
A  kirche  zu  Wiener-Neustadt  einen  Grabstein  entdeckt,  aus 
dessen  Inschrift  hervorgeht,  daß  dort  im  Jahre  1550  der  Clarissi- 
miis  a  Consiliis  et  Secretis  intimis  Serenissimi  Fernandi  Romano- 
rum et  Germanie  Regia  Christophortis  Castillegius  natione  Hispa- 
pus  zur  Erde  bestattet  wurde.^  Der  schlichte  Grabstein  läßt  nicht 
vermuten,  daß  der  geheime  Sekretär  des  Königs  auch  einer  der 
liebenswürdigsten  spanischen  Poeten,  einer  der  schalkhaftesten 
Satiriker  seines  Jahrhunderts  war.  Um  1490  zu  Ciudad  Rodrigo 
geboren,  befand  sich  Christöbal  de  Castillejo  seit  1508  im  Gefolge 
des  Infanten  Ferdinand,  mit  dem  er  1518  Spanien  verließ,  um  nie 
wieder  dorthin  zurückzukehren.  Seine  Verse  sind  wahrscheinlich 
zum  größten  Teil  am  österreichischen  Hofe  entstanden.  Einer 
schönen  jungen  Wienerin,  dem  Fräulein  Anna  von  Schaumburg, 
gehörte  auch  seine  einzige  platonische  Liebe,  von  der  wir  Kunde 
haben.  Im  übrigen  läßt  sich  aus  seinen  Gedichten  nicht  viel  mehr 
über  sein  Leben  entnehmen,  als  daß  er  einmal  nach  Venedig  kam, 
und  daß  seine  letzten  Jahre  durch  Krankheit  und  Entbehrungen 
verdüstert  waren. 

Die  formelle  Bedeutung  des  dichterischen  Lebenswerkes  Ca- 
stillejos  beruht  in  seinem  mit  Überzeugung  und  zäher  Ausdauer 
geführten  Kampfe  gegen  die  Nachahmung  der  italienischen  Vers- 
formen, deren  unbestrittene  Meister  seine  Landsleute  Boscan, 
Garcilaso  und  Mendoza  waren.  Die  rein  gefühlsmäßige  Bewer- 
tung seiner  Dichtkunst  anderseits  stützt  sich  auf  den  unnachahm- 
lichen Reiz  seiner  zierlich-munteren  Verse,  auf  die  treffende 
Schärfe  seiner  Gesellschaftssatire  und  nicht  zuletzt  auf  die  un- 
sägliche Zartheit  seines  Empfindens  überall  da,  wo  er  sich  in  rein 
lyrischen  Gedankengängen  bewegt.  Von  dem  ersten  dieser  drei 
Vorzüge  gibt  jedes  beliebige  seiner  Gedichte  beredtes  Zeugnis, 
der  zweite  wird  am  lebendigsten  in  dem  Werke,  dem  die  gegen- 
wärtige Studie  gilt,  für  den  dritten  aber  möge  die  nachstehende 
Probe  (ein  paar  seiner  schönsten  sensitiven  Strophen  samt  Ema- 
nuel  Geibels  trefflicher  Verdeutschung)^  selber  sprechen. 


1  Wolf  hatte  aus  verschied<^nen  Gründen  die  Zahl  für  1556  gelesen.  Nun- 
mehr st«ht  endgültig  fest,  daß  1550  das  richtige  ist.  Vgl,  C.  L.  Nicolay, 
Life  and  Works  of  Castillejo    (Philadelphia  1910]  S.  28/30. 

*  Spanisches  Liederbuch  (1858)  p.  38. 


Der  Dialogo  de  Mii^gere^  v.  1544  u.  s.  Bedeutung  f.  d.  Castillejo-Forschung         73 

Alguna   vez,  Dereinst,  dereinst 

0  pensamiento,  Gedanke  mein 

Seräs  contento.  Wirst  ruhig  sein. 

Si  amor  cruel  Läßt   Liebesglut 

Me  hace  la  guerra,  Dich  still  nicht  werdeo: 

Seis  pies  de  tierra  In  kühler  Erden 

Podrän  mas  que  61.  Da  schläfst  du  gut; 

AUi  sin  61,  Dort  ohne  Liebe 

y  sin  tormento  Und  ohne  Pein 

Seräs  contento.  Wirst  ruhig  sein. 

Lo  no  alcanzado  Was  du  im  Leben 

En  esta  vida.  Nicht  hast  gefunden. 

Ella  perdida  Wenn  es  entschwundea 

Sera  hallado.  Wird    dir's    gegeben. 

Que  sin  cuidado  Dann  ohne  Wunden 

Del  mal  que  siento  Und  ohne  Pein 

Seräs  contento.  Wirst  ruhig  sein. 

Ludwig  Lemcke^  bemerkt  zu  dem  kleinen  Poem,  solange  es  ein 
Gefühl  für  echte  Poesie  gebe,  werde  dieses  unübertreffliche  Ge- 
dicht Hunderte  von  petrarkisierenden  Sonetten  aufwiegen,  und 
ich  wüßte  wahrlich  nicht,  wie  man  besser  über  diese  und  manch 
andere  der  kleineren  und  größeren  Dichtungen  Castillejos  ur- 
teilen könnte. 

II. 

Mit  vielen  anderen  spanischen  Autoren  hat  Castillejo  das 
tragische  Los  gemeinsam,  daß  er  durch  die  Verblendung  gewisser 
untergeordneter  Vollzugsorgane  der  Inquisition  um  den  größten 
Teil  seines  Ruhmes  bei  der  Nachwelt  gebracht  worden  ist.  Juan 
Lopez  de  Velasco  und  Blasco  de  Garay,  so  hießen  die  zwei  un- 
seligen Geisteskastraten,  die  von  Amts  wegen  die  in  Spanien  er- 
scheinenden und  erreichbaren  Werke  Castillejos  vor  deren  Ver- 
öffentlichung zu  reinigen  und  zu  bessern  hatten.  Soweit  wir  die 
Sache  bis  heute  zu  übersehen  vermögen,  sind  es  besonders  zwei 
Dichtungen  Castillejos,  deren  Verstümmelung  sie  auf  dem  Ge- 
wissen haben:  einmal  der  Sermon  de  amores  und  dann  der  Didlogo 
de  Mugeres,  jedes  in  seiner  Art  eine  der  glänzendsten  frauenfeind- 
lichen Satiren  der  Weltliteratur.  Wären  nicht  noch  zu  Lebzeiten 
des  Dichters  die  beiden  Werke,  das  erstere  1542  ohne  Ortsangabe, 
das  letztere  1544  zu  Venedig,  in  ungekürzten  Originalausgaben 
erschienen,  so  würde  uns  überhaupt  für  das,  was  uns  an  Castillejo- 
Versen  durch  das  Walten  jener  beiden  Zensoren  zu  Verluste  ging, 
jeglicher  Maßstab  fehlen.  Aber  auch  trotz  dieser  Originaldrucke 
,  ist  Castillejo  die  Jahrhunderte  hindurch  nur  in  expurgierten  Aus- 
gaben veröffentlicht,  gelesen  und  kritisiert  worden,  denn  die  Ori- 
ginale fielen  wiederum  zum  größten  Teil  der  Inquisition  zum 
Opfer. 

^  Handbuch  II,  290. 


74         Der  Diölogo  de  Mugeres  v.  1544  u.  s.  Bedeutung  f.  d.  Castillejo-Forschung 

Vom  Sermon  de  amores  sind  in  der  Ausgabe  von  1542,  die  vor 
kurzem  Foulche-Delbosc  in  einem  sorgfältigen  Neudruck  zugäng- 
lich gemacht  hat,^  ganze  zwei  Exemplare  bekannt,  die  aus  den 
Bibliotheken  Heber  bzw.  Salva  stammen,  und  deren  eines  das 
Britische  Museum  besitzt.  Das  Original  des  Dinlogo  de  Mugeres 
von  Venedig  1544  ist  nach  Duräns  Äußerung  in  Spanien  soviel 
wie  unauffindbar^  und  auch  im  Britischen  Museum  und  in  der 
Pariser  Nationalbibliothek  nach  Ausweis  der  gedruckten  Kata- 
loge nicht  vorhanden.^  Das  neueste  bibliographische  Werk  zur 
spanischen  Druckgeschichte,*  das  die  von  1500  bis  1700  außer- 
halb Spaniens  gedruckten  Bücher  spanischer  Autoren  verzeichnet, 
vermag  für  das  16.  Jahrhundert  etwas  über  100  einschlägige 
Drucke,  und  zwar  allein  für  Venedig  nachzuweisen,  kennt  jedoch 
den  Didlogo  von  1544  nicht.  Ich  schließe  daraus,  daß  der  Druck 
auch  auf  italienischen  Bibliotheken  nicht  oder  nur  ganz  vereinzelt 
zu  finden  ist.  Ebensowenig  scheint  die  Wiener  Hofbibliothek, 
diese  unerhört  reiche  Schatzkammer  spanischer  Drucke,  in  seinem 
Besitz  zu  sein,  da  der  in  diesen  Dingen  peinlich  genaue  Ferdinand 
Wolf  bei  Besprechung  der  Werke  Castillejos^  den  Druck  mit  kei- 
nem Worte  erwähnt.  Unter  den  Bibliotheken  Deutschlands  ist 
die  Münchener  Hof-  und  Staatsbibliothek  die  einzige,^  die  ein 
Exemplar  dieses  kostbaren  Castillejodruckes,  und  zwar  aus  der 
Sammlung  Johann  Jakob  Fuggers,  ihr  eigen  nennt. 

Diese  Seltenheit,  die  bei  Werken,  die  der  Inquisition  zur 
Beute  wurden,  durchaus  nicht  ungewöhnlich  ist,  erklärt  es  auch 
hinreichend,  warum  das  Original  des  Didlogo  de  Mugeres  bis 
heute  in  seiner  Bedeutung  für  die  Wiederherstellung  des  Lebens- 
werkes Castillejos  so  wenig  zur  Geltung  kam.  In  der  Tat  wurde 
eine  Ergänzung  des  expurgierten  Didlogo  erst  ein  einziges  Mal 
versucht.  Salva  fand  als  erster  heraus,  daß  eine  bestimmte  Ve- 
netianer  Ausgabe  von  1553  eines  Werkes  des  Juan  de  Segura' 


1  Revue  hispanique  Bd.  36  (1916),  p.  509  ff. 

'  Romancero  general  Bd.  1  (1877),  p.  LXIII:  ni  por  asonios  hemos  podido 
ver  ninguna. 

*  Da  der  Pariser  Katalog  der  Auteurs  auch  les  ouvrages  anonymes  dont 
Vauteur  peut  etre  indiquS  umfaßt,  so  müßte  der  Druck,  falls  er  vorhanden 
wäre,  unter  Castillejo  verzeichnet  sein. 

*  H.  Vaganay,  Bihliographie  hispanique  cxtrn-p^ninsulaire.  Revue  hispa- 
nique Bd.  42  (1918),  pag.  1—304. 

»  F.  Wolf,  CastiUejos  Lohspruch  der  Stadt  Wien.  Separatabdr.  aus 
Jahrg.  1849  der  Wiener  Sitzungsberichte,  pag.  10.  Vgl.  ferner  Wolfs  An- 
merkung zu  Ticknor,  Deutsche  Ausgabe  I,  393/94. 

*  Das  Auskunftsbureau  der  Deutschen  Bibliotheken  hat  ein  zweites 
Exemplar  nirgend  nachzuweisen  vermocht. 

'  Proceso  de  cartas  de  amores  que  entre  dos  amantes  pasaron;  con  vna 
rnrfa  del  avthor  para  vn  amigo  suyo  pidiendole  consuelo,  y  vna  quexa  y 
auiso   contra  Am^r.     Assimesmo   hay   en   este  libro  otras   excellentissimaa 


Dor  Dittlogo  de  Mugcres  v.  1544  u.  s.  Bedeutung  f.  d.  Castillejo-Forschung         76 

einen  weit  vollständigeren  Text  des  Didlogo  de  Mugeres  enthielt, 
als  er  in  allen  späteren  Ausgaben  der  Werke  Castillejos  zu  lesen 
war.  Er  druckte  den  fehlenden  Teil  (525  Verse)  unter  Nr.  1676 
seines  Catalogo  ab,  hatte  jedoch  zu  genaueren  Feststellungen 
keine  Gelegenheit,  da  auch  ihm  das  Original  von  1544  unzugäng- 
lich blieb.  Das  Nächstliegende  war  nach  dieser  Entdeckung 
Salvas,  daß  man  annahm,  der  Text  des  Didlogo  in  der  veneziani- 
schen Segura- Ausgabe  von  1553  sei  nichts  anderes  als  ein  Nach- 
druck eben  dieses,  anscheinend  am  gleichen  Ort  einige  Jahre  vor- 
her (1544)  erschienenen  Castillejoschen  Originales.  Die  tatsäch- 
lichen Verhältnisse  liegen  jedoch  anders.  Auch  der  Text 
des  Didlogo  in  der  Segura -Ausgabe  ist  bereits 
zensiert  und  von  allen  sittlich  und  religiös  ver- 
fänglichen Stellen  sorgfältig  gereinigt,  wie  ich 
auf  Grund  eines  genauen  Vergleiches  der  bei  Salva  gedruckten 
Verse  mit  dem  entsprechenden  Abschnitte  des  Originals  von  1544 
feststellen  konnte.  Es  bleibt  demnach  als  ursprünglicher  und 
unverfälschter  Text  des  Didlogo  einzig  und  allein  jener  der  Erst- 
ausgabe von  1544,  den  uns  das  Münchener  Exemplar  in  so  glück- 
licher Weise  erhalten  hat. 

Die  Bedeutung  des  ungekürzten  Textes  gegenüber  den  ex- 
purgiert.en  Drucken  läßt  sich  am  besten  ermessen  an  einem  Ver- 
gleich des  ersteren  mit  jener  Ausgabe  des  Didlogo,  die  bis  jetzt 
als  die  vollständigste  galt,  und  die  zudem  den  Vorzug  hat,  daß  sie 
überall  leicht  zugänglich  ist.  Ich  meine  die  von  Adolfo  de  Castro 
in  Band  32  der  Bihliotheca  de  Äutores  espanoles  (Madrid  1854) 
veranstaltete  Sammlung  von  Poetas  liricos  de  los  siglos  XVI  y 
XVII,  die  auf  Seite  180  bis  205  des  ersten  Halbbandes  den  Did- 
logo zum  Abdruck  bringt.  Wenn  ich  das  Original  der  Kürze 
wegen  mit  0  und  den  Text  bei  Castro  mit  C  bezeichne,  so  stellt 
sich  das  Verhältnis  beider  (mit  Auslassung  aller  nebensächlichen 
Textvarianten)  folgendermaßen  dar. 

1.   In    C   finden   sich    sechs   aus    0   zu   ergänzende   Lücken: 
Lücke  I  (=  C  pag.  183,  Sp.  2,  nach  Vers  44;  O  fol.  9/9^): 
De  aqui  viene  y  assi  auria 

que  si  algun  principe  tiene  cien  mil  otros  a  porfia, 

desmandados  apetitos,  que  si  osassen  dexarian 

stiele  jugar  a  dos  hitos  sus   mugeres,   o  harian 

sin  que  nadie  le  condene,  nueua  ley  de  bigamia  . . . 

Lücke  U(=  C  pag.  187.  Sp.  1,  nach  Vers  40;  0  fol.  17/17^): 
que  llegan  por  sus   renglones  en  que  los  nouios  ee  ensayan, 

a  leer:  y  antes  que  al  talamo  vayan, 

los  secretos  del  plazer,  saben  lo  que  puede  ser  . . . 

carta^s  que  allendc  de  su  ditlae  y  pulido  estülo  cstan  escriptas  en  reffranes 
traydos  a  proposito.  Y  al  cabo  se  hallara  vn  Dialogo  muy  aahroso  que  habla 
de  las  mugeres.    Venetia  M.D.LIII. 


76         Der  Didlogo  de  Mugerc^  v.  1544  u.  s.  Bedeutung  f.  d.  Castillejo-Forscliuug 


Lücke  III  (rr:  C  pag.  192,  Sp.  1,  nach  Vers  57;  0  fol.  28^); 


y  de  hecho: 

no  mirando  mas  derecho 

poner  en  exeeuciön 


lo  que  con  la  tentacion 
acordaron  en  el  lecho  . 


Lücke  IV  (=  C  pag.  192,  Sp.  2,  nach  Vers  5;  0  fol.  28^'bis29^0: 


ni  el  cuydado 

de  ver  y  tentar  el  vado 

por  dissimuladas  vias: 

con  que  las  mensajerios 

tengan  su  cierto  recaudo: 

y  en  ausencia, 

quando  para  mas  audiencia 

estan  las  puertas  cerradas: 

van  Carlas  enamoradas 

escritas   por   excelencia: 

con  sospiros: 

requiebros:   puntos:   y  tiros: 

sotilezas  y  primores: 

quales  en  caso  de  amores 

yo  no  basto  a  referiros: 

bien  que  enpece: 

que  alguna  vez  acaece: 

yr  sus  razones  polidas 

enpleadas  y  perdidaa 

donde  no  se  les  merece: 

con  razon 

vencidas  de  la  passion 

aruynes  hazen  fauores: 


admitiendo  seruidores 

de  qualquiera  profession 

que  se  rapa 

a  veces  de  la  del  papa 

otras  del  pano  pardillo: 

no  desechando  capillo: 

sino  pueden  auer  capa: 

y  atras  esto 

luego  se  sigue  muy  presto 

la  gana  de  bien  vestirse: 

de  afeitarse  y  de  polirse 

acecalando  su  gesto 

con  la  vna: 

por  que  cumple  que  se  brufia 

la  que  piensa  amar  no  en.  balde: 

y  por  esso  el  alua  y  aide 

se  platica  en  catalufia 

con  colores: 

y  otras  cosas  ay  peores 

que  OS  podria  referir: 

y  las  dexo  de  dezir 

por  honrra  de  los  autores  . . . 


Lücke  V  (=  C  pag.  202,  Sp.  2,  nach  Vers  2;  0  fol.  52^): 
ni  formado:  para  el  quäl  en  este  mundo 

para  quedar  despojado  quanto  al  cuerpo  fue  criado 

de  plazer  tan  sin  segundo: 

Lücke  VI  (=  C  pag.  205,  Sp.  2,  nach  Vers  28;  0  fol.  60): 


mejor   fuera: 

si  la  ley  lo  permitiera 

la  cual  en  esto  fue  manca: 

que  fuera  comun  y  franca 

la  henbra  a  quien  la  quisiera : 

o  comprara: 

porque  con  esto  quedara 

el  hombre  en  su  possession : 


y  ella  puesta  en  subiecion: 
no  no3  vendiera  tan  cara 
su  maldad: 

mas  teniendo  libertad 
de    herirnos   peligramos: 
y  esso  poco  que  gozamos: 
es  con  grau  difficultad  .  .  . 


2.  In  C  sind  verschiedentlich  einzelne  Verse  durch  andere, 
vollständig  neue  ersetzt.  Man  vergleiche  folgende  Stellen,  wobei 
die  ausgemerzten  Verse  durch  Kursivdruck  bezeichnet  sind: 


C  pag.  190,  Sp.  1,  Vers  23. 

Alguna  que  aunque  profesa, 
Tomaria  por  partido 
Servir  mas  a  su  marido 
Que  obedeoer  su  abadesa. 


O   fol.    2.3V/24. 

Alguna  que  aunque  profesa, 
Tomaria  por  partido 
Eatar  mas  so  su  marido 
que  encima  de  su  ahadeaaa. 


Der  Didlogo  de  Mugeres  v.  1544  u.  s.  Bedeutung  f.  d.  Castillejo-Forschung 


77 


C  pag.   190,  Sp.   1,  Vers  48. 

Y  querrian  muchas  horas 
Verse  mas  en  sus  posadas, 
Por  aventura  casadas, 
Que  quiza  verse  prioras 
Del  convento 

Porque  sobre  el  fundamento 
De  nuestra  natura  humana 
Les  acrecienta  la  gana  . . . 

C  pag.  190,  Sp.  2,  Vers  57. 

Dios  OS  guarde 

Del  mal  que  en  algunas  arde 

C  pag.  190,  Sp.  2,  Vers  8  von  unten. 

Despues  que  una  vez  airadas 
Se  desaman  o  baldonan, 
Con  dificultad  perdonan 
Aunque  vayan  inclinada-s, 
Sometidas ; 

AI  sacramento  rendidas, 
Queriendole  rescibir, 
Algunas  podria  ser  ir, 
No  del  todo  arrepentida.s, 
Perdonando. 

No  hay  sana  de  ningun  moro 
Que  haga  tal  impresion  . . . 

C  pag.  192,  Sp.  2,  Vers  26. 

Una  vi 

En  cierta  tierra  do  fui 

Vecino  dos  anos  buenos 

Con  un  hombre  muy  de  menoe 

A  quien  dio  parte  de  si; 

Y  tan  dada, 

Que  siendo  nionja  encerrada, 
Forzosamente  alli  puesta  . . . 


0  fol.  24. 

Y  querrian  muchas  horas 
Verse  mas  en  sus  posadas, 
Con  qualquier  hombre  casadas 
Que   llegar  a  ser  prioras 

Del  convento 

Porque  sobre  el  fundamento 

De  SU  natura  liuiana 

Las  acrecienta  la  gana  . . . 

0  fol.  25r. 

Dios  OS  guarde 

Del  fuego  que  entrellas  arde  . . 

0  fol.  25v. 

Despues  que  una  vez  ayradas 
Se  desaman  o  baldonan, 
Nunca  jamas  se  perdonan 
Aunque  vayan  inclinadas, 
Sometidas; 

AI  sacramento  rendidas, 
Queriendole  recebir, 
Confessadas  pueden  yr, 
Pcro    nunca    arrepentidas, 
Perdonando. 

No  hay  sana  de  ningun  moro 
Contra  nuestra  religion  . . . 

0  fol.  29v, 

Una  vi 

En  essa  Valladoli 

Madre  de  hijos  ajenos, 

Con  vn  hombre  muy  de  menos 

A  quien  dio  parte  de  si; 

Y  tan  dada, 

Que  siendo  monja  encerrada. 
Noble,  hermosa  y  honesta  . . . 


Wo  dem  Zensor  ganze  Strophen  zum  Opfer  gefallen  sind, 
enthielten  sie,  wie  man  sieht,  Anspielungen  auf  die  Bigamie  der 
Fürsten,  auf  den  außerehelichen  Beischlaf,  auf  die  Liebestände- 
leien mancher  zuchtloser  Nonnen,  auf  die  Fleischeslust  als  den 
Hauptzweck  des  menschlichen  Körpers,  und  schließlich  auf  die 
Vorteile  eines  Gesetzes,  das  gestatten  würde,  die  Frauen  nach 
Bedarf  und  Belieben  zu  kaufen  und  zu  verkaufen.  Wo  einzelne 
Verse  ausgemerzt  und  durch  andere,  zum  Teil  mit  vollständig 
verschiedenem  Inhalt,  ersetzt  wurden,  waren  sie  entweder  gefähr- 
lich für  Religion  und  gute  Sitte,  oder  sie  enthielten  allzu  deut- 
liche Hinweise,  wie  zum  Exempel  der  Vers,  in  dem  als  Schau- 
platz der  erwähnten  Vorgänge  die  gute  Stadt  Valladolid  ge- 
nannt wird. 


78         ßer  Didlogo  de  Mugeres  v.  1544  ii.  s.  Bedeutung-  f.  d.  Castillejo-Forscliung 

Daß  der  InquisitionsgrifFel  den  kecken  Didlogo  so  gründlich 
zusammenstrich,  darf  uns  nicht  wundernehmen.  Verfehlt  wäre 
es  indes,  nun,  nachdem  der  unzensierte  Text  wieder  aufgetaucht 
ist,  den  Autor  als  Pornografen  oder  zuchtlosen  Sittenverderber 
zu  brandmarken.  Ich  brauche  wohl  kaum  darauf  hinzuweisen, 
daß  die  von  uns  ausgehobenen  Verse  nur  im  Zusammenhang  des 
als  Gesellschaftssatire  zu  bewertenden  Didlogo  de  Mugeres  Sinn 
und  Beziehung  haben.  Und  wenn  ich  oben  dem  Gedanken  Aus- 
druck gab,  der  Dichter  sei  durch  das  Walten  der  Inquisitions- 
organe um  den  größten  Teil  seines  Ruhmes  bei  der  Nachwelt  ge- 
kommen, so  möchte  ich  das  nicht  so  verstanden  wissen,  als  ob 
etwa  seine  dichterische  Bedeutung  nur  auf  den  wieder  ans  Licht 
gezogenen  paar  freimütigen  Versen  beruhen  würde.  Das  ist 
gewiß  nicht  der  Fall.  Das  eine  indes  steht  fest,  daß  uns  erst  der 
unzensierte  Didlogo  das  rechte  Bild  von  dem  Werke,  wie  es  der 
Dichter  im  Sinne  gehabt,  und  ebenso  erst  das  rechte  Bild  von  der 
satirischen  Kraft  und  freimütigen  Offenheit  gibt,  mit  der  er  der 
Moral  seines  Jahrhunderts  gegenüberstand.  Mutatis  mutandis 
gilt  das  gleiche  vom  Sermon  de  amores. 

m. 

Neben  dem  eigentlichen  Texte  des  DtaZo^'o-Originales  bean- 
sprucht unser  besonderes  Interesse  der  Druck  an  sich,  weil  dessen 
Hersteller  noch  der  Identifizierung  bedarf. 

Man  könnte  Gründe  dafür  ins  Feld  führen,  daß  das  Buch  über- 
haupt weder  in  Venedig  noch  in  irgendeiner  anderen  italienischen 
Stadt,  sondern  ganz  einfach  in  Spanien  selbst  hergestellt  worden 
sei.  Doch  fehlt  ihnen  allen  letzten  Endes  der  zwingende  Beweis, 
der  die  Annahme  einer  außerspanischen  Offizin  ausschließen 
würde.  Hingegen  läßt  sich  mit  absoluter  Gewißheit  dartun,  daß 
genau  dieselbe  Type  in  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  von 
einem  venezianischen  Meister  verwendet  wurde,  der  sich  ausdrück- 
lich rühmte,  Drucker  griechischer,  lateinischer  und  spanischer 
Bücher  zu  sein.  Daß  er  gerade  beim  Didlogo  de  Mugeres  seinen 
Namen  verschwieg,  hing,  wie  wir  sehen  werden,  zweifellos  mit 
dem  gefährlichen  Inhalte  desselben  zusammen. 

Um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  tritt  bekanntlich  im 
Geistesleben  Italiens  eine  tiefgreifende  Wandlung  zutage,  nach 
Bongi^  eine  repente  e  profonda  trasformazione,  per  cui  parve  che 
il  secolo,  di  poco  passata  la  sua  metä,  pigliasse  un  aspetto  nuovo, 
conie  oggi  direhhesi  di  reazione,  di  cui  il  principale  carattere  fu  la 
severitä.  Der  Protestantismus  setzte  die  Geister  in  Verwirrung 
und  veranlaßte  die  geistlichen  und  weltlichen  Fürsten  zu  scharfen 


Annali  di  Gabriel  OioUtto  de  Ferrari  (Rom  1890),  Bd.  1,  pag.  XXIX. 


Der  Diälogo  de  Mageres  v.  1544  u.s^  Bedeutung  f.  i  Castillejo-Forschung        79 

CT  A^i^Iogo  t)c  Ofeu  ^ 

gercöt 

Jntcrlocütoice . 


3cn  fe  coitofe  f  ileno 

f ,  ]Ro  09  pare^e  SletbCo  bcrmio 
quee  bic  g03ar  oclo  bueno. 
f  alaballof 

quanto  mas  f  o  q  me  ballo 
pidb  De  lindoe  amoics: 
y  tan  rico  D€  fauoies 
que  peno  quandoloecatto* 

9«    0(nra3on 

Ue  ba5ey0;(i  talcs  fon: 
puc0  la  kr  De  atnospcrfcto 
no0  manda  tcncr  fecrcta 
lo  quef!a  enel  co:a(on* 

5*    52>icn  fena: 

pero  f  0  no  tomaria 
pla5cr  grande  ny  fcnsillo 
atroque  De  no  De3(Uo. 
y  go5ar  en  conpania: 
mi  fauo: 

po2  que  äfft  como  et  Doloa 
Duele  mae  fiendo  callado: 
el  plajer  comnntcado 
D!5qucfeba5emayo2. 


80         Dt^r  Diälogo  de  Mugercs  v.  1544  u.  s.  Batleutung  f.  d.  Castillejo-Forsehung 

w 

Schutzmaßnahmen  gegen  die  ihnen  drohende  Gefahr.  Die  stete 
Bedrohung  Italiens  durch  die  Türkenheere  hielt  das  Land  in 
dauerndem  schweren  Drucke  befangen.    Das  von  1545  bis  1563 

Sekunda  comcdiaoelafä^ 

mofy /CdcAimm  loqual  fetrataoete 

Äcfurrection  oe  la  oicba  4Zclc(tim :  y 

De  lo9  aniO2C0  oe  f  clidca  y  l^olädr  i« 

cozregida  y  cmcndada  po:  E>omui^ 

^ooe/Sastclu  fecretarioocl  31»^ 

laftrifüme  &cnoz  oon  Xopc 

oc  ^oriaemba^rado:  ^efa^ 

reoaccrcala  3Muftriffima 

&cnom  t)€  venccia : 

j^ROffv^enelmea 

tagende  Konzil  von  Trient  erließ  strenge  Vorschriften  gegen 
manche  Lockerung  religiösen  und  sittlichen  Lebens.  Machiavelli, 
Ariosto,  Bembo,  Ortensio  Lando  und  Pietro  Aretino,  die  führen- 
den Geister  der  ersten  Cinquecentohälfte,  waren  gestorben,  andere, 
die  noch  lebten  und  schrieben,  ließen  das  Mäntelchen  notgedrun- 
gen nach  dem  neuen  Winde  flattern.  Die  Zensurvorschriften  für 
die  Herstellung  von  Büchern  jeder  Art  verschärften  sich  in  den 
einzelnen  Städten  in  unerhörter  Weise,  und  das  Jahr  1549  sah 
bereits  den  ersten  der  Indici  dei  libri  proihiti. 

In  Venedig  hatte  schon  1527  der  Rat  der  Zehn  eine  Art  Schutz- 
dekret des  Inhalts  erlassen,  daß  für  jedes  Buch  eine  ausdrückliche 

]®  on  f  ranccfco  oe  j(£ft 

^c.S>omingooe  ] 

iS^astelu. 

schriftliche  und  von  den  Ratsvorstehern  eigenhändig  unterzeich- 
nete Ermächtigung  einzuholen  sei.  1542  wurde,  zweifellos  unter 
dem  Drucke  des  neuen  Zeitgeistes,  das  Dekret  unter  verschärfter 
Strafandrohung  neuerdings  bekannt  gegeben.^     In  seiner  Rigo- 

^  Brown,  The  Venetian  Printing  Pre^s    (London   1891)    pag.   78. 


Der  Didlogo  de  Mugeres  v.  1544  u.  s.  Bedeutung  f.  d.  Castillejo-Forschung        81 

rosität  trug  es  freilich  auch  schon  den  Keim  abermaliger  Wir- 
kungslosigkeit. Die  Verordnung  wurde  häufig  umgangen,  indem 
man  anrüchigen  Werken  zwar  die  Lizenz  versagte,  dafür  aber 
stillschweigend  duldete,  daß  sie  mit  gewissen  Kautelen,  d.  h.  ohne 
nähere  Angaben,  sei  es  von  Ort,  Zeit  oder  Drucker,  hergestellt 
wurden.^  So  mochte  auch  der  vorsichtige  Meister  des  Didlogo- 
Druckes  es  vorziehen,  seinen  Namen  überhaupt  zu  verschweigen 
und  das  angebliche  (in  Wirklichkeit  nicht  existierende)  Privileg 
nur  anzudeuten. 

An  venezianischen  Drucken  spanischer  Sprache  erschienen 
in  den  Dezennien  vor  und  nach  1544  (genauer  gesagt  zwischen 
1530  und  1560)  nach  Vaganays  bereits  zitierter  Bibliographie  die 
folgenden: 

1.  Tragicomedia  de  Calisto  y  Melibea,  1531,  por  J.  B.  Pedrezano. 

2.  Carcel  de  amor,  1531,  idem. 

3.  Libro  aureo  de  Marco  Aurelio,  1532,  idem. 

4.  Questiön  de  amor,  1533,  idem. 

5.  Libro  del  famoso  cavallero  Palmer  in  de  Oliva,  1534,  por  Juan  Paduan 
y  Venturin  de  Rufinelli. 

6.  Amadis  de  Gaula,  1533,  por  Juan  Antonio  da  Sabio. 

7.  Los  tres  libras  de  Primaleön  y  Polendos,  1534,  por  Juan  Antonio  da 
Sabio. 

8.  Tragicomedia  de  Calisto  y  Melibea,  1534,  por  Estefano  da  Sabio. 

9.  Libro  primero  de  la  conquista  del  Peru,  1535,  por  Estefano  da  Sabio. 

10.  Segunda  Comedia  de  Celestina,  1536,  por  Estefano  da  Sabio. 

11.  Veneris  Tribunal,  1537,  por  Aurelio  Pincio. 

12.  La  Zucca  del  Doni  en  Spanol,  1551,  por  Fr.  Marcolini. 

13.  Historia  de  loa  amores  de  Clareo  y  Florisea,  1552,  por  Gabriel  Gio- 
lito  de'  Ferrari. 

14.  Libro  segundo  de  las  obras  en  coplas  castellanas,  1552,  idem. 

15.  Obras  de  Boseän,  1553,  idem. 

16.  Questiön  de  amor,  1553,  idem. 

17.  Libro  aureo  de  Marco  Aurelio,  1553,  idem. 

18.  Proceso  de  cartas  de  amores,  1553,  idem. 

19.  La  Ulyxea  de  Homero,  1553,  idem. 

20.  Carcel  de  amor,  1553,  idem. 

21.  Sentencias  y  dichos  de  diversos  sabios,  1553,  idem. 

22.  Ariosto,   Orlando   furioso   traducido,    1553,   idem. 

23.  Tragicomedia  de  Calisto  y  Melibea,  1553,  idem. 

24.  Silva  de  varia  lecciön,  1553,  idem. 

25.  Tragicomedia  de  Calisto  y  Melibea,  1556,  idem. 

26.  Testamento  nuevo,  1556,  por  Juan  Philelpho. 

Nun  handelte  es  sich  darum,  nachzuweisen,  daß  in  einem 
oder  mehreren  dieser  26  Drucke  die  gleichen  Typen  verwendet 
wurden  wie  im  Didlogo  de  Mugeres.  Das  Ergebnis  war  folgendes: 
nur  ein  einziger  von  den  genannten  Druckern  bedient  sich  der 
charakteristischen,  in  den  Initialen  zu  starker  Rundung  neigen- 
den und  besondere  Zierlichkeit  anstrebenden  Type  des  Didlogo, 


1  Fumagalli,  Lexicon  typograficum  Italiae  (Florenz  1905)   pag.  494. 
Aidüv  f.  II.  Sprachen.     140.  (j 


82         Der  Diälogo  dv  Mngercs  v.  1544  u.  s.  Bedeutung  f.  d.  Castillejo-Forschung 

nämlich  Estefano  da  Sabio,  der  Drucker  der  Segunda  Comedia  d( 
Celestina  von  1536,  in  deren  Kolofon  er  sich  eigens  als  impresor 
de  Jihros  griegos,  latinos,  y  esparioles  muy  corregidos  bezeichnet.^ 
Zum  Belege  habe  ich  nicht  nur  eine  Seite  des  Z)?"«/o^o-Originals, 
sondern  auch  den  Text  des  Titelblattes  diaser  Ce/e^^/wa-Ausgabe 
und  die  Überschrift  ihrer  Widmungsepistel  in  getreuer  Nachbil- 
dung hier  beigegeben.  Die  Typen  der  beiden  letzteren  finden  ihre 
genauen  Gegenstücke  im  Text  des  Dia'/o^ro-Druckes,  Zur  Prü- 
fung eignen  sich  von  den  Initialen  besonders  die  Lettern  F,  J,  S, 
weil  sie  auf  allen  drei  Blättern  vorkommen.  Die  charakteristi- 
schen Formen  für  D,  E,  G  in  der  Dedikation  AUo  Illustrismno 
Signor  Don  Francesco  de  Est  wiederholen  sich  in  gleicher  Weise 
im  Z)ifl7o^o-Druck ;  leider  stieß  eine  Reproduktion  noch  weiterer 
Probeseiten  aus  demselben  auf  allzu  große  Schwierigkeiten.  Auf 
die  völlige  Identität  der  sogenannten  kleinen  Buchstaben  brauche 
ich  nicht  weiter  hinzuweisen.  Die  Riesenlettern  der  Didlogo- 
Überschrift  kommen  natürlich  bei  diesem  Vergleiche  überhaupt 
nicht  in  Betracht.  Das  Ergebnis  ist,  daß  der  zu  identifizierende 
Druck  entweder  direkt  von  Estefano  da  Sabio  oder  zum  mindesten 
aus  einer  Offizin  stammt,  die  seine  Typen  übernommen  hatte.  ^ 
Beide  Drucke  bilden  übrigens  gegenüber  der  Tatsache,  daß  der 
sogenannte  carattere  corsivo  in  Italien  schon  bald  nach  1500  durch 
Aldo  Manutio  eingeführt  und  von  den  besten  Druckern  der 
Folgezeit  mit  Vorliebe  gepflegt  wurde,  ^  hervorragend  schöne  und 
seltene  Beispiele  einer  späten  gotischen  Type  in  diesem  Lande. 
Der  Umstand,  daß  Castillejo  selbst  auch  einmal  nach  Venedig 


1  Die  Nummern  1  mit  4,  d.  h.  sämtliche  Pedrezano-Drucke  scheiden  von 
vornherein  aus,  da  sie  insgesamt  aus  der  Presse  der  beiden  Sabio  hervor- 
gegangen sind  und  Pedrezano  nur  der  Verleger  war.  Den  genauen  Nach- 
weis hierfür  will  ich  an  anderer  Stelle  geben.  Nr.  5  und  11  haben  eine 
gotische,  aber  von  der  des  Diälogo  gänzlich  verschiedene  Type,  wie  ich  auf 
Grund  der  Originale  feststellen  konnte.  Nr.  12  mit  26  dagegen  sind  über- 
haupt in  Antiqua  oder  Rundtype  gedruckt,  wie  ich  teils  aus  den  Originalen 
(so  bei  Nr.  12,  23,  25,  26),  teils  aus  den  bibliographischen  Beschreibungen 
derselben  (Salvä  Nr.  477,  637,  1210,  1673,  1676,  Brunet  IV,  1200,  Revue 
hisp.  33,  pag.  334,  Nr.  61)  entnommen  habe.  Von  den  fünf  Drucken  der 
Brüder  Sabio  sind  Nr.  6,  7,  9  ebenfalls  in  Antiqua  hergestellt,  wie  ich  bei 
Nr.  6  und  9  aus  den  Originalen,  bei  Nr.  7  aus  Salvä  (II,  90,  Sp.  2)  konsta- 
tieren konnte,  während  die  beiden  gotischen  Celestina-Drucke  des  Estefano 
da  Sabio  von  1534  und  1536  zwar  in  den  Typen  des  Textes,  nicht  aber  der 
Titelblätter  genau  übereinstimmen,  wie  ich  ebenfalls  aus  den  Originalen  zu 
entnehmen  vermochte. 

2  Die  letztere  der  beiden  Möglichkeiten  in  Betracht  zu  ziehen,  liegt  zu- 
nächst kein  Grund  vor,  da  sich  nach  Brown,  pag.  101,  die  Tätigkeit  der 
Brüder  Giovanantonio  und  Stefano  da  Sabio  (Brown  schreibt  Sabbio)  auf 
die  Zeit  von  1516  bis  1560,  nach  Fumagalli,  pag.  490,  sogar  auf  die  Zeit 
von  1516  bis  1588  erstreckte. 

3  Bongi,  Bd.  1,  pag.  XXVI. 


Der  Diälogo  de  Mugcres  v.  1544  u.  s.  Bedeutuug  f.  d.  Castillejo-Forschung        83 

kam,  legt  den  Gedanken  nahe,  er  könnte  bei  dieser  Gelegenheit 
den  Diülogo  de  Mugeres  dort  in  Druck  gegeben  haben.  Spanier, 
die  sich  der  Vermittlung  solcher  Werke  an  italienische  Verleger 
annahmen,  gab  es  gerade  damals  in  Venedig  mancherlei.  So 
besorgte  Alf onso  de  UUoa  die  meisten  der  bei  Giolito  de'  Ferrari 
erschienenen  spanischen  Drucke,  während  die  Brüder  da  Sabio  in 
Francisco  Delicado  einen  spanischen  Mitarbeiter  besaßen,  der  die 
Korrekturen  las  und  den  Drucken  einführende  Bemerkungen  über 
die  Aussprache  des  Spanischen  beigab.  Indes  läßt  sich  hierüber 
bei  dem  jetzigen  Stand  der  Castillejo-Forschung  nichts  Bestimm- 
tes nachweisen.  Es  besteht  vielmehr  noch  immer  die  Möglichkeit, 
daß  der  Didlogo  de  Mugeres  ein  richtiger  Raubdruck  war,  der  dem 
■Verfasser  vielleicht  gar  nicht  zu  Händen  kam.  Denn  die  venezia- 
nischen Buchdrucker  machten  damals  so  wenig  Federlesens  wie 
die  spanischen.  ^  Zur  selben  Zeit  führte  Antonio  de  Guevara  einen 
erfolglosen  Kampf  gegen  die  Räuber  seines  Marco  ÄiireJio  und 
vermochte  während  seines  ganzen  Lebens  einer  Unzahl  von 
Raubdrucken  nur  eine  einzige  authentische  Ausgabe  gegenüber- 
zustellen.- Warum  sollte  nicht  Castillejo  von  den  paar  zu  seinen 
Lebzeiten  gedruckten  Werken  seiner  Feder  überhaupt  nichts  zu 
Gesicht  bekommen  haben?  Zumal  die  Inquisition  mit  den  ihr 
erreichbaren  Exemplaren  gerade  des  Didlogo  von  L544  gründlich 
aufgeräumt  haben  dürfte.^ 

München.  Ludwig  Pf a ndl. 

1  Brown,  pag.  79:  Venetian  printer-puilishers  were  in  the  haut  of  ignor- 
ing  literary  proprietorship  altogether,  and  were  accustomed  to  print  any 
work  ihey  pleased,  eve7i  in  direct  Opposition  to  the  tcishes  of  the  authors. 

2  Vgl.  Zentralhlatt  für  BilHoth  ekswesen  Bd.  32,  pag.  340. 

3  Die  vorliegend«  Studie  bildet,  wie  ich  der  Vollständigkeit  wegen  noch 
anfügen  möchte,  den  Vorläufer  einer  vollständigen  Neuausgabe  des  Didlogo- 
Textes. 


Bemerkungen 
zu  'Adolf  Toblers  Altfranzös.  Wörterbuch', 

Lieferung  1  und  2. 

(Fortsetzung.) 

acoillie,  s.  f.,  auch:  Si  jostent  par  envie  AI  Danois  . . .  tous  a  uneaquelhie 
(auf  einmal),  GLißge  19277. 

acoillir,  vb.  trans.,  mit  pers.  Obj.:  ^  auc.  en  oder  a  auc.  r.  (Abstr.): 
E  s'il  li  plest  e  ü  le  voeille  Qu'en  ses  bie?ifaix  lux  jurs  m'acoeüle  (zulassen 
zu),  Dirai  . .  .,  MFce  Purg.  14;  ce  cheualier  a  este  tes  compaiynons  longue- 
ment,  encor  fe  loeroie  ie  ...  que  tu  . .  .  l'acuillissies  en  ta  compaignie  ainsi 
co7nme  fu  feis  aucune  foix,  Abent.  Gaw.  108;  Tuit  si  ami  l'acoillent  a  haor, 
Eu8t.-Leb.  100b. 

'jmdn.  erringen,  gewinnen':  Meus  aiin  ensi  languir  Untre  vivre  et  morir 
Ee  une  auire  acoillir  Ki  m'aint  sans  repentir,  Tr.  Belg.  II,  38,  38. 

'jmdn.  angreifen,  sich  hermachen  über  jmdn.,  herfallen  über  j.':  (in  De 
quoi  do7it  amour  en  aquel?  BCond.  124,  143  'anklagen')  auch:  s' adrescerent 
aux  trois  medecins  et  les  acqucllirent  dicremeiit  en  griffant  lews  faces  flestries, 
Pr.-Clig.  332,  14;  e«  retournant  son  chemin  trouua  les  deux  aultres  de  ses 
ennemis,  si  les  acquelli  et  occist  le  second  larron,  Fr.-Erec  270,  38;  Et  cedit 
jour  au  soir  .  .  .  l'evesque  d'Evreux  . .  .  fut  guette  et  accucilly  par  aucuns  ses 
ennemis  en  la  rue  de  la  Barre  du  Bec,  Jean  de  Troyes,  a.  1465,  bei  Buchon, 
Chron.  et  Mem.  I,  260t»;  —  a.  auc.  a  guerre  'mit  Krieg  überziehen':  Car  li 
pluiseur  si  fort  s'orgoellent  Que  lor  voisins  a  guerre  aquelient,  Ensi  les 
voellent  sourtno-nter,  JCond.  I,  60,  78;  —  mit  Worten  angreifen:  La  dame 
ouvri  ircement  Et  laidenient  le  recueilli  Et  par  parolles  l'acoilli,  JCond.  11, 
200,  90. 

'jmdn.  ergreifen,  befallen;  packen':  Las!  mesellerie  m' acueille  (J.  Fr.)  Trop 
griement,  mais  m'a  accueilli,  Mir.  ND.  27,  1615;  —  Ainssi  qu'elles  cuidoient 
estre  En  la  taveryie  toutes  trois,  Les  acqueult  uns  vens  si  destrois  Et  si  frais 
qu'il  les  fait  pasmer,  Watr.  389,  252. 

'jmdn.  verfolgen'  (Wild  auf  der  Jagd),  auch:  Exemple  aprendes  chi  en- 
droit  Au  sengler  qui  est  acueillies  Des  ciens  et  si  est  recueillies  As  fors 
bastons  per  hei  tuer,  JCond.  I,  114,  39;  A  la  chasse  7/n  cerf  accoeilli,  Froiss. 
Po6s.  II,  97,  3270;  Et  a  la  fontaine  Saint  Innocent  xj  avoit  aiissi  personnages 
de  chasseurs,  qui  accueillirent  une  bische  illec  estant,  Jean  de  Troyes,  a.  1461, 
bei  Buchon,  Chron.  et  Mem.  I,  242  b. 

'treiben'  (Tiere):  Puis  (Erec)  se  mest  au  retour  et  o  sog  acqueille  toux 
les  aultres  cheuauls  (die  des  besiegten  Räubers),  Pr.-Erec  272,  5. 

'jmdn.  treiben,  jagen'  (vom  Winde  ausgesagt),  auch:  et  lequel  feu  le  vent 
accueillit  tellement,  qu'il  s'en  vola  et  dispersa  au  long  d'icelle  charpenterie, 
Jean  de  Troyes,  a.  1472,  bei  Buchon,  Chron.  et  Mem.  I,  Ö96b. 

mit  sächl.  Obj.:  'unternehmen',  ^  la  fuie  auch:  la  fuite  est  acolhue,  GLißge  II, 
11050. 

'erwerben,  gewinnen':  trop  li  fait  grace  aquellir  (der  Tau  die  Rose), 
BCond.  145,  349. 

übertr,  'fassen,  in  sich  aufkommen  lassen',  auch:  Et  de  ce  trop  s'enorgueilli 
Et  trop  grayit  beubant  acueilli,  JCond.  I,  357,  52;  //  ne  s'en  doit  pas  orgueillir 
Ne  trop  grant  beubant  acueillir,  ib.  II,  88,  1270;  Par  soti  plesir  Li  proi  de 
merci  acueillir,  Aumosne  li  ert  et  honors,  Tr.  Belg.  II,  140,  34;  Vous  auex 
tort  que  tel  duel  en  acuillies  sur  vous,  Abent.  Gaw.  71. 

'zusammenlesen,  sammeln':  Adonc  . . .  sninx  lohanz  acoillit  totes  les  pieces 
des  deus  pierres  precioses  et  les  mist  en  sa  niain  (colligens  fragmenta  gem- 
marum),  Afr.  Pr.-Leg.  D  8,  1. 


Bemerkungen    zu   'Adolf   Toblers   Altfranzös.   Wörterbuch'  85 

auc.  r.  a  auc.  r.  'zusammentun  mit,  vereinigen  mit':  Car  du  vostre  a  (ort, 
sanx  raison.  Ä  pris,  iion  pas  une  maison,  Mais  troys,  qtie  jculis  vos  toli,  Et 
les  adjoint  et  adctiilli  A  la  seue  ou  il  demouroit,  Qui  trop  petife  li  sembloit, 
Mir.  ND.  14,  584. 

intr.,  de  c.  substantiviertem  Inf.,  'sich  zu  etwas  in  Bewegung  setzen,  an- 
fangen zu':  n  n'i  voleit  plus  demurer,  Mut  tost  acoillent  de  l'errer  Ipom.  9022. 

rfl.,  a  c.  sbstviert.  Inf.,  id.:  Adont  de  toutes  pars  s'acoilletit  Les  pucelles 
au  caroller,  Froiss.  Po^s.  II,  71,  2437. 

acointable,  adj.,  'leutselig',  a  auc:  (II  est)  Secrcs,  discres,  loyaus  et 
sages,  Acointables  a  toutes  gens,  Froiss.  Poes.  II,  9,  289 ;  R  est  ...  Obi'issans, 
courtois  et  gens,  Acoiyitables  a  toutes  gens,  ib.  II,  116,  3939. 

acointance,  s.  f.,  'Bekanntschaft',  avoir  ^  a  auc:  Il  doit  bien  avoir 
avantage  U avoir  acointance  et  assens  A  chiaus  ki  sotit  garni  de  sens,  JCond. 
II,  46,  1511. 

'(leibl.)  Umgang':  L'amant:  Oranx  mercix,  dame  (die  ihn  zum  ensernble 
parier  in  ihr  Zimmer  führt).  Vraiement  De  ma  vie  estoie  en  balance,  Se 
n'eusse  vostre  acointance,  Mir.  ND.  18,  230. 

'Vertraulichkeit,  vertraulicher  Umgang,  Freundschaft':  Docement  s'entra- 
colent  et  baisenf  a  estroit.  Molt  piaist  a  la.  röine,  quant  V acointance  voit, 
ChSai.  2741;  Et  le  deable  et  s' acointance  Ouerpis  sanx  nidc  demorance, 
Ruteb.  (ed.  Jub.;2  m,  277,  864;  (Liebe,  die  beim  Gelage  entsteht,  ist  heiß, 
kühlt  sich  aber  schnell  ab)  Si  prent  on  tost  tele  acointance  qui  puet  avoir 
peu  de  durance,  J.  d'Am.  Art  d'Am.  210;  Tant  se  sont  luec  entrebaisie,  Entra- 
cole,  entrejöi  Qu'ains  tnais  7ius  tel  joie  n'öi.  Tant  fu  bele  cele  acointance,  Que 
bien  doit  estre  en  remembrance,  Manek.  7339;  Douce  raixons,  parole  estable, 
Simples  regars  et  aniiable,  Nobilites  sans  felonnie,  Acoititatice  sans  vilonnie, 
BCond.  279,  336;  Or  gardex  donc  s'on  doit  prisier  avoir  Contre  fin  euer  de 
loial  avoifitance,  Tr.  Belg.  II,  80,  38  (od.  zum  folgd.). 

'Art  zu  begegnen,  Entgegenkommen,  Art',  auch:  Ha!  dame  de  douce 
acointaJice,  Quar  vous  preyjge  pitie  de  moi,  Salu  d'Am.  (Zeitschr.  24,  363) 
171;  Dieus,  tant  me  plot  sa  tresdouce  acointance,  Dont  cortois  sens  li  dona 
le  voloir,  Tr.  Belg.  II,  80,  14;  vostre  biet  oel,  Vostre  regars,  vostre  acointanbe 
Et  la  vostre  bielle  samblance  . . .  Mont  mis  en  ccste  volente  (Euch  zu  lieben), 
Jd'Am.  Artd'Am.  498;  N'estoit  pas  d' acointance  estraiyigne  (kalt),  Mais  de 
si  douce  ...  Qtie  tont  li  bon  amer  la  doient,  Watr.  39,  1224;  Et  se  le  trouve 
(er  sie)  aussi  ...De  bei  accoeil  et  de  belle  acointance,  . ..  B  doit  penser  . . . 
Qu'amours  y  a  grant  pari,  Froiss.  Poes.  I,  66,  460;  ses  pucelles  toutes,  Qui 
ne  sont  dures  ne  estoutes,   Mes  d'une  acointance  tresdouce,  ib.  II,   102,  3456. 

acointe,  adj.  a  auc:  Argent  scet  maint  divers  langage,  II  est  a  toutes 
gens  acointes,  II  aime  les  beaus  et  les  cointes,  Froiss.  Poes.  II,  221,  25;  — 
d'auc  r.:  Petit  prix  celui  qui  est  cointes  De  cors,  quant  ses  cuers  est  acointes 
De  vilounie  et  de  lais  vices  (hängt  an),  JCond.  II,  140,  18;  Ne  eil  ne  sevent 
qu'onneitrs  monte  Qui  biaute  pri^ent,  tant  soit  cointe,  S'elle  n'est  de  bonte 
acointe  (innig  verbunden  mit),  Watr.  32,  1008. 

sbst.,  'Liebhaber,  Buhle':  Et  nepourquant  7nout  erent  cointes  Et  jol'ies,  et 
biaus  acointes  Orent  raeointiex  de  nouvel,  Watr.  374,  32;  L'en  dit  par  toute 
ceste  ville  Qu'aussi  comme  avec  vostre  fille  Vostre  gendre  avec  vous  s'esbat 
Et  gist  . . .,  Ainsi  le  dit  on  en  conimioi,  Et  que  pour  niejit  7t est  pas  si  cointe, 
Car  il  est  de  la  mere  acointe  Et  de  la  fille,  Mir.  ND.  26,  116  (od.  adj.  'verbuhlt'). 

acointe,  s.  f.  'vertrauliches  Beisammensein'  auch:  ...  puis  Que  pre7niers 
son  cors  (sie)  acoi7itai,  Qtie  tant  ame  sanx  acointe  ai  Qu'a  porter  m'est  trop 
gricx  li  fais,  Watr.  357,  58  (Scheler:  aimer  sans  etre  paye  de  retour). 

acointenient,  s.  m.,  'Bekanntschaft'  auch:  Ne  fönt  pas  lonc  acointement, 
Petit  dura  lor  parlement  (sich  eingehend  miteinander  bekannt  machen,  Fergus 
und  die  gegnerische  Alte),  Ferg.  112,  17;  —  amoureus  a.  'Liebesumgang, 
Liebschaft':  Amis,  qui  tant  aTnh  liece,  Tons  deduis  et  esbatemens  Et  a7noureus 


86  Bemerkungen    zu    'Adolf   Toblers   Altfranzös.   Wörterbuch' 

acointemms,  Danscs,  carolles  et  depors,  Froiss.  Poes.  11,  43,  1463;  —  'freund- 
schaftliche Gesinnung,  Freundschaft':  Aufars  de  Danemarche  qui  t'aimyyie 
durcment  Par  amors  li  trennst  (ihr  den  Sperber)  et  par  acointement,  ChSax. 
2775;  Par  bourdeors  traitours  mentis  Le  truevent  si  envenime,  D'acointemens 
faus  emprime,   Qu'a  mort  est  Inrrex,  et  ravis,  Watr.  69,  139. 

persönlich  gedacht:  Laietis  (im  ostel  der  Courtoisie  u.  der  Largece)  iert 
Donners  et  Besserte  (Vergeltung),  Aeointemens  et  Bei  Servir  (freundliches 
Entgegenkommen),  Watr.  189,  75. 

acointier,  vb.  trans.,  mit  pers.  Obj.:  'jmdn.  bekanntmachen  mit  jmdm.' 
auch:  J'ai  bei  ami,  ce  poise  tel  i  a;  Li  roxignols  du  bois  le  m'acointa,  Salu 
d'Am.  (Zeitschr.  24,  365)  64. 

mit  sächl.  Obj.,  'mit  etw.  Bekanntschaft  machen,  etwas  kennenlernen': 
Mainie  contree  a  trespasse  Et  tnaint  dur  ostel  acointie,  Julian  1393;  Or  votis 
ai  bien  cesti  prouvee  (dies),  Coment  li  sos  de  sa  sotie  A  par  t'ur  grosse  (Heil) 
acointie  (erlangen),  BCond.  18,  34. 

'gelehrig  machen':  Por  ^ou  que  trop  ai  jut  en  niue,  M'est  pris  talens  que 
me  remue  Pour  les  pretidomes  acointier  (in  Verkehr  treten  mit).  Et  voel  tout 
mon  sens  acointier  A  biaus  mos  tronver  et  reprendi-e:  On  doit  sayer  pour 
mius  aprendre,  BCond.  17,  4  (Scheler:  rendre  habile,  gracieux). 

intr.  'feindlich  sich  nähern,  augreifen,  kämpfen',  G.  de  Liege  30734;  30752; 
II,  5497  laut  Schelers  Glossar. 

rfl.,  auch  d'auc.  r.:  Ne  t'acointes  inie  d'orgueil  Ne  d'ire,  Watr.  12,  353. 

**acoise,  s.  f.,  'Ruhe':  Long  temps  ot  convoitiet  de  troveir  teil  aquouse, 
GLiege  20741. 

acoisier,  vb.  trans.,  zu  Regr.  ND.  120,  7  stellt  sich  Chil  maintenoient 
cortoisie  Ki  or  est  morte  et  aeoisie,  Car  nus  al  siede  n'en  a  eure,  BCond.  4, 
100  Var. 

'ruhig  machen,  matt  setzen,  besiegen':  Cierte,  vasals,  dist  ilh,  vos  astete 
aeoigict,  GLiege  7298. 

'jmdn.  einer  Sache  entkleiden,  berauben':  acquoisiet  Sera  de  taute  honour, 
infammes  pronunchiet,  GLiege  11,  6231. 

rfl.,  de  c.  J.  'aufhören  zu'  auch:  Sa  fin  aproce,  li  cors  est  agreves,  Droit 
entour  none  s'acoise  de  parle?;  Alexius  248,  931 ;  de  preichier  ne  s' aquouse, 
GLigge  8371. 

intr.  auch:  Atant  au  bien  boire  entendi,  Mes  parlers  lors  fu  acoisiex, 
Watr.  378,  153 ;  adquiesco,  acoisier,  Cath.  Lille  12. 

acoler,  vb.  trs.,  'etwas  in  Angriff  nehmen,  unternehmen':  Tost  acomplist 
son  fait  quant  de  boti  euer  l'acolle,  GLiege  12706. 

*acoler,  vb.  intr.,  'gleiten':  Si  com  seur  hii  vient  acolant,  Watr.  395,  112 
(nach  Scheler  S.  512). 

**acolet,  8.  m.,  'Aglei':  Li  hyalme  Ig  trenchaf  coynfme)  fuelhe  d'acolet, 
GLißge  4330. 

acompaignier,  vb.  trans.,  'jmdn.  zu  sich  gesellen,  avuec  soi  oder  od  soi' 
auch:  Fille,  avoec  vous  je  l'acompagne  (die  Carite),  Froiss.  Poes.  II,  189,  940; 
Et  sei  reconvient  mult  gaitier  De  tel  o  soi  acompaignier  Vers  eui  li  rois  ait 
maltalent,  Chastoiem.  XXIII,  132.  —  'beigesellen,  gesellen  zu,  vereinigen 
mit,  auc.  (r.)  a  auc.  fr.)'  auch:  Scafes,  eest  a  dire  raisseles  ....  snnt  aeom- 
patgnies  as  grans  Uburgnes  (sociare),  J.  Meun,  ArtChev.  164;  Scaufes  . ..  sont 
acompaignies  Es  granx  liburnes  et  enliies,  Prior.  Veg.  10423;  rar  elles  (sc. 
les  saintes  ames)  sont  assemblees  et  acompagniees  a  la  glorieuse  vierge  Marie, 
a  toux,  les  anges  et  les  sains,  Mir.  ND.  28,  S.  318;  Et  ceste  doulce  compagnie 
Qui  a  vous  est  acompagnie,  ib.  4,  199  (od.  rfl.);  Quant  (Adam.)  regarda  la 
compaignie  (in  Evas  Person),  Qu' [a]  lui  ot  Diex  acompagnie,  Ces  mos  en 
dist,  JCond.  II,  205,  82;  ha,  traison!  chose  escommeniee  et  maudite,  C7igendree 
de  droicte  envie  et  conceue  de  desloyaute  et  acompaignec  a  larreein  et  a  agait, 
Abent.  Gaw.  103.  —  'zusammengesellen  mit,  auc.  d'auc.':  Je  sui  bien  tenus 


Bemerkungen   zu    'Adolf   Toblers   Altfranzös.    Wörterbuch'  87 

de  servir  Da.me  si  hien  acompagnie  D'une  si  donlce  compagnie,  Froiss.  Poes.  11, 
89,  2981. 

mit  Plur.  als  Obj.,  'zueinandergesellen,  zusammenbringen':  Pour  ehou  s'en 
vuelt  bien  entremetre  D' acompaignier  les  compaignons  Ki  descotJipaignent  en 
raisons,  Bari.  7925. 

^  nuc.  a  aur.  r.,  jmdn.  teilnehmen  lassen  an'  auch:  Biatix  sire  Detis,  je  ie 
rends  gracies,  quant  tu  moi  qui  sui  vilx  et  pechare  as  volu  acompaignier  a 
ta  graci  (quia  dignatus  es  me  humilem  et  peccatorem  tuae  gratiae  sociari), 
Mr.  Pr.-Leg.  L  4,  10. 

'jmdn.  begleiten':  et  dedenx  est  escondus  li  tormenx  de  les  ventresches  et  li 
morx  q/ii  acompaigne  los  tormenx,  Afr.  Pr.-Leg.  M  17,  9;  la  reyne  acom- 
pagnie de  pluseurs  dames  et  damoiselles  . . .  mo7ita  sur  vng  blanc  pallefroy, 
Pr.-Erec  254,  3;  puis  acompaigne  de  son  naim  et  de  la  damoiselle  il  tira 
taut  en  voie  qu'il  arriva  aupres  de  Karadigan,  ib.  260,  20;  ib.  261,  23;  262, 
14;  Puis  entra  en  rner  acompagnie  de  la  reyne  Soredamors  et  Alixandre 
seidemeyit,  Pr.-Oig.  287,  4;  ib.  291,  37. 

acompagnie,  part.,  'vereinigt,  beisammen':  Diex  de  sa  graee  esvertüer  Vueille 
tonte  la  compagnie  Que  je  cy  voy  acompagnie.  Mir.  ND.  27,  1845;  Treschier 
sire,  bien  veigniex  vous,  Et  ma  dame  et  la  compagnie  Que  je  ci  voy  acom- 
pagnie, ib.  34,  2598;  Le  benoit  Dieu  par  so7i  plaisir  Soit  avec  ceste  compagnie 
Que  je  roy  ci  acompagnie  En  ceste  place,  ib.  38,  768. 

intr.,  musik.:  assono,  accoynpaignier,  Catb.  Lille  22.  —  (zu  den  Wehkla- 
genden gewendet)  . . .  affin  que  nous  . . .  sentons  du  mal  que  vous  portex  et 
que  nous  acompaigno7is  de  nos  soupirx,  se  faire  le  devons  (mit  unseren  Seuf- 
zern einstimmen),  Pr.-Clig.  330,  10. 

rfl.,  wie  a  auc.  (übersetzt  se  alicui  sociare,  Afr.  Pr.-Leg.  M  59,  1)  und 
od  auc.  aueh  ensemble  od  auc,  avuec  auc:  Li  taissuns  s'est  acunipaigniex 
ensemble  od  eh,  MFceFab.  76,  4;  Ensemble  od  lux  s'acomgaigna,  ib.  100,  4; 
et  li  autre  oissel  de  la  contree  s'aco7npagnent  avoec  aus  dusqu'a  la  mer,  Rut. 
(ed.  Jub.)2  III,  S.  359;  Se  hom  s'acomjjaigne  auec  toi,  Feelment  l'aime, 
Chast.  XVI,  114;  Drois  dist,  qui  a  houneur  s'aloie,  Qu'il  s'acomj)agne  avec 
la  joie  Que  Dieus  a  ses  bons  amis  dounc,  BCond.  257,  359;  Pour  ee  souvent 
s'acompagne  an  Avec  les  bons  qu'on  en  vault  mieulx,  Froiss.  Poes.  11,  85,  2864. 

acomparagier,  vb.  trans.,  part.:  'gleichgestellt,  gleichartig':  jnais  leur 
tyrannie  (die  der  römischen  Christenfeinde)  n'eetoit  point  accomparagee  aux- 
dits  bandes  (bei  Paris),  comme  Dieu  sgait,  Journ.  d'un  Bourg.  de  Paris, 
a.  1418,  bei  Buchon,  Chron.  et  Mem.  I,  633 a. 

rfl.  'sich  jmdm.  gleichstellen,  a  auc':  Dont  avenu  ni'est  que  cheoite  Sui 
en  tel  inconvenient  Que  moy,  fiens,  ordure  et  n'ient,  Oultrageuse,  fole  enragee, 
De  caleur  acomparagee  Me  sui  a  l'umble  vierge  mere,  Mir.  ND.  16,  602. 

acomplir,  vb.  trans.,  'erfüllen'  ('vollständig  ausführen,  verwirklichen'): 
le  plaisir  d'auc:,  Chev.  a  l'Esp.  1090;  les  bons  d'auc,  ib.  1094;  les  c.omande- 
menx  d'auc,  Afr.  Pr.-Leg.  M  31,  11;  eil  ne  pucent  ingaument  les  cortimande- 
■mens  acomplir  qui  ne  s'acorderent  onques  aiatit  (non  possunt  aequaliter  jussa 
complere  qui  ante  pariter  non  fuerunt),  JMeun,  ArtChev.  42;  Cil  ne  puent 
pa^s  acomplir  Les  coynayulemanx  n'aemplir  Qui  onques  ynais  ne  se  v'cirent. 
Prior.  Veg.  2219;  Vray  Dieu,  vostre  conmandement  Äcomplirons,  Mir.  ND.  35, 
1376;  quant  tu  ares  acoynpli  co  que  tu  as  promeis  (cum  ...  compleveris), 
Afr.  Pr.-Leg.  M  51,  15;  Xostre  sire  acomplit  co  que  ei  promef,  ib.  J  6,  7; 
Dmic  furenf  les  prophecies  Averrees  e  acumplies,  Ke  lunges  avant  furent  dite.s, 
De  Salv.  Hom.  in  Oxf.  Ps.  S.  368;  tot  quant  que  cnvint  a  huniana  febleca 
fu  acompli  en  sa  passion  (in  ejus  leguntur  passione  completa)  Afr.  Pr.- 
Leg.  M  39,  13;  Et  vostre  penitance  aveix  si  acomplie  Ke  deus  vos'at  s'amour 
et  sa  graxe  otroie,  Po.  Mor.  414l>. 

'erfüllen'  ('vollenden'):  Ains  que  li  mois  soit  aconplis,  Veng.  Rag.  4771; 
Quant  la  predicacions  de  nostron  seignor  Jesu  Criet  fu  acomplie,   . . .,   Afr. 


88  Bemerkungen   zu   'Adolf   Toblers    Altfranzös.    Wörterbuch' 

Pr.-Leg.  K  4,  4 ;  Quant  li.  XXX.  jor  de  la  dilacion  furent  acompli,  Cromacios 
...  comandet  ...  (diebus  ...  acceptae  dilationis  expletis),  ib.  M  37,  1;  toute 
bataille  commune  est  acomplie  et  fenie  en  l'espace  de  .ii.  heures  ou  de  .iii. 
(gegen  conflictus  publicus  duanini  aut  trium  horarum  certamine  definitur,  'wird 
entschieden'),  JMeun,  ArtCiiev.  96;  Bataille  comuyie  est  acomplie  JE71  doues  hores 
et  fenie,  Prior.  Veg.  5517;  en  acomplissatit  L'uevre  qii'ai  de  vos  receüe,  ib.  8598; 
Pres  ay  d' acompli  mon  voiage,  Gar  illecques  voy  l'ermittage  Ou  le  pape  m'a 
envoie,  Mir.  ND.  33,  1167. 

acomplissement,  s.  m. 'Vollendung' (als  Tätigkeit) :  Ä  l'aoomplissemsnt 
donques  de  l'oevre  qu  je  ai  receüe  par  le  commandement  de  vostre  majeste  je 
dirai  . . .  (ad  complementum  operis  'um  das  Werk  zu  vollenden'),  JMeun, 
ArtChev.  135;  —  (als  Zustand):  Qui  a  en  aoy  conmcyicement  de  purte,  par- 
venir  puet  a  acomplissement  de  bonte  (Reinheitsanfang,  Reinheit  als  Anfang, 
Grundlage  —  Güteende,  Güte  als  Ende,  Krone),  Mir.  ND.  XIV,  S.  230. 

'Erfüllung,  Befriedigung':  joie  pardurable  et  acomplissement  de  lor  cuers, 
Jos.  Arim.  368. 

acomuner,  vb.  trans.,  auch:  Puis  at  tant  procureit  li  conte  süffisant 
Que  l'evesqtie  et  le  duc  fait  il  aceumelant  Etisemble,  et  puis  fist  tant  qu'ils 
se  sunt  accordans,  G.  de  Lißge  II,  12029  (nach  Scheler,  Gloss.). 

Serm.  poit.  84  fällt  unter  das  nächste  Wort. 

acomu7iier,  vb.  trans.  Das  fünfsilbige  acomuniier,  acomeniier  und  das 
viersilbige  acomungier,  acomengier  erscheinen  hier  durcheinandergemischt. 
Weitere  Belege  für  beide:  Et  l'evesques  sans  nul  delai,  Quant  ot  la  messe 
defenie,  Theophillus  aoomennie,  Ruteb.  (ed.  Jub.)2  III,  301,  1686;  Auis  lui 
fu  ke  le  ymage  bele  De  la  glorieuse  mere  e  pucele  S' entremetteit  a  cele  feste 
D'acuminer  la  gent,  cum  fist  le  prestre,  Adgar  23,  114;  Puis  l'aeumunia 
par  ducur  Del  bencit  cors  nostre  Seigiiur,  ib.  36,  304. 

intr.  eil  ki  n' acomengent  ynie,  iroient  fors  de  la  glise  (non  communicantes), 
Dial.  Greg.  90,  19. 

rfl.  auch :  E  qui  . . .  fust  cunfes  de  ses  pechiex  E  apres  acomun'iex,  Pureit 
ici  dedenx  entrer,  Purg.  Patr.  314;  Se  alcuns  ne  soi  acomenget,  il  doinst 
liu  (Si  quis  non  communicat,  det  locum),  Dial.  Greg.  90,  7. 

aeonoistre,  vb.  trans.,  'erkennen':   et  fu  si  povres  et  si  mal  atornc-s  que 
uns  ne  l'aconeust,  s'il  le  v'eist  en  tel  habit,  Pr.-Jul.  III,  3. 

acojisivre,  vb.  trans.  (aconsivir,  JMeun,  ArtChev.  17),  'erlangen,  er- 
ringen': . . .  Beor,  qui  per  la  priere  Effigeni  avoit  aconsegu  la  grace  nostron 
Seignor  (consequi),  Afr.  Pr.-Leg.  J  37,  3;  et  i  ont  lor  fiance  (auf  die  art  des 
batailles)  plus  qu'en  toutes  autres  ars  et  est  plus  profitable  et  plus  necessaire 
as  batilleurs,  par  coi  il  retiennent  la  rie  et  aconsivent  victoire  (consequi), 
JMeun,  ArtChev.  100. 

aconter,  vb.  trans.,  'aufzählen':  Mes  je  ne  roil  plus  deynorer  As  mes  un 
a  tin  aconter,  Chev.  a  l'Esp.  356. 

'anrechnen,  jmdm.  etw.':  Beneurex  li  huem  alquel  ne  acunterat  li  Sire 
jyeechet  (cui  non  imputabit  Dominus  peccatum),  Orf.  Ps.  31,  2;  mit  iniquitet 
statt  ;).  Cambr.  Ps.  ib. 

'Wert  beilegen,  sich  kümmern  um,  beachten,'  d'auc.  r.  auch:  Ne  de  vostre 
esconmeniement  N'aconte  je  mie  granment,  Mir.  ND.  17,  78;  Regardex  con 
gist  du  chien  pres;  De  sog  meismes  n'aconte  nient,  ib.  33,  2189;  en  auc.  r. 
auch:  En  ce  n'aconte  un  pois  baien,  Mir.  ND.  38,  834;  En  toux  ces  iourmens 
rien  n'aconte,  ib.  38,  1783  (Toblers  Beispiel  =  ib.  39,  1114). 

**acontre,  präp.,  'gegen':  conseil  me  ert  done,  Si  jeo  prenge  bataile 
aeontre  Bonn  li  alose,  BHaunst.  3563. 

acontrer,  vb.  trans.,  'begegnen'  auch  GLiege  21108. 

sbstviert:  a  l'acontreir  des  lanches,  GLiege  21753. 

*aconvoiier,  vb.  trans.,  'geleiten,  begleiten':  le  roy  a  grant  rote  De  gent 
pour  la  aconvoier   Y  va  et  pour  la  festoier  (1.  beidemal  li  für  la),  Mir.  ND. 


Bemerkungen   zu   'Adolf   Toblers   Altfranzös.    Wörterbuch'  89 

31,  1460;    Chier  sire,   bieri   venu  soiex   Et   vous  toux  qui  V aconvoiex,  ib.  37, 
3271. 

*aeoper,  vb.  intr.,  'hauen',  vgl.  God.  acopcr  1.  u.  dazu  Bd.  VIII,  S.  348, 
Qu'il  metent  totes  lor  e?itentes  Ä  eis  ocire  et  decoper,  Que  on  les  öist  acoper 
Con  s'il  copaissent  roilleis  (nach  Friedwagner;  Hippeau:  a  coper),  Veng. 
Rag.  3210. 

acorcir,  vb.  trans.,  s.  auch  A.  DelbouUe,  Rev.  d'hist.  litt,  de  Fr.  I,  486. 

*acordablement,  adv.,  'übereinstimmend,  einmütig':  KU  facent  la  feste 
ensement  Par  tuit  le  siecle  acordablement,  Adgar  40,  88. 

acordance,  8.  f.,  'Übereinstimmung,  gutes  Einvernehmen'  auch:  ja  soit 
ee  que  eil  a  cheval  se  suelcnt  naturclment  descorder  de  ciaus  a  pie,  toute- 
Toies  est  entr'iaus  par  ceste  tnenniere  acordajice  gardee  (servabatur  una  con- 
cordia),  JMeun,  ArtChev.  63;  Et  tote  voies  acordance  I  est  reinise,  Prior. 
Veg.  3461;  janx  d' escordance,  ib.  4538;  s'il  sont  de  bone  acordance  (gut  zu- 
sammenstimmen), ib.  5702;  janx  qui  ...  sont  de  bones  acordances,  ib.  2213; 
. . .   Cument  [il]  ad  fet  racordance  Entre  les  reis,  Ipom.  7619. 

'Zusammenklang,  Harmonie':  Ptiis  chantoient  ehati^ons  de  Pleur,  Sans 
musicqiie  ne  accordance,  Charl.  d'Orl.  (ed.  d'Heric.)  II,  269. 

'Übereinkunft,  Vereinbarung':  Trcstout  eheste  acordanche  tienent,  JCond.  I, 
42,  1391. 

'Vereinigung,  Versöhnung,  Ausgleich'  (von  Gegensätzen):  L' acordance 
(zwischen  dem  mestier  d'armes  und  dem  mestier  d'amours)  bien  y  voroie 
(sagt  Mars  zu  Venus),  JCond.  I,  101,  111;  Potir  ^oti  acordance  plenüre  En 
faisons  (herstellen)  cht  en  tel  maniere,  Que  kons  d'armes  soit  amoureus,  ib. 
102,  145;  Ja  kons  d'armes  joie  n'eust  ...,  Se  ne  fust'par  ceste  acordance, 
ib.  104,  217. 

acorde,  s.  f.,  'Aussöhnung,  Versöhnung,  Frieden',  auch:  Se  ce  n'estoit 
fors  pour  le  roy  Qui  de  ceste  acorde  me  prie,  Ne  l'escondiroie  ge  mie,  Jeh. 
Blonde  5823;  Car  de  R.  est  li  acorde  prise  Par.i.  saint  abe  qui  la  pais  i  a 
mise,  RCambr.  5559;  (die  Mutter  Gottes  zu  Thcophilus)  Ma  dou<;.or  m'as  iant 
recordee  Qiia  toi  sui  tonte  racordee  Et  si  ferai  toute  t'acorde  Au  doux  roi 
de  misericorde,  Ruteb.  (ed.  Jub.)2  HI,  288,  1285;  N'en  (mit  ihm)  feroit  acorde 
ne  plet  (Var.  zu  concorde),  Meraug.  2279;  Ne  eil  ne  veut  pcs  ne  acorde  (Var. 
zu  Concorde),  ib.  2282;  ja  n'en  ferai  Pes  ne  acorde,  se  je  n'ai  Ma  querele 
et  vostre  honor  quite,  ibid.  2302  (Var.  zu  concorde);  Et  pour  faire  a  Dieu 
d'omme  accorde  (herstellen).  Mir.  ND.  29,  461;  ...  Conment  a  saint  Perre 
aie  acorde,  ib.  8,  450;  avoir  acorde  A  Dieu  le  pere,  ib.  8,  707;  Si  qu'a  lui 
(mit  Gott)  puisse  avoir  accorde,  ib.  14,  68;  36,  1067;  qtci  tant  doulcement 
Requiert  a  moy  avoir  accorde  (Gott  spricht),  ib.  26,  1050;  A  Dieu  ...  M'em- 
petrex  paix  et  teile  accorde  . . .  Que  de  mes  pechiex  soie  quittes,  ib.  35,  142 
Ce  qu'elle  viault  chascun  garder  Et  attraire  a  la  Dieu  accorde,  ib.  11,  462 
Dieu  . . .,  Par  la  vostre  misericorde  Treuvent  li  pecheour  accorde,  ib.  30,  1412 
Se  de  lui  (mit  Gott)  veuls  avoir  l'acorde,  Du  monde  dois  trenchier  la  corde, 
Watr.  393,  65. 

'Tätigkeit  des  Versöhnens,  Vermittlung':  ...,  Quant  pour  nous  s'acorde 
aeorda,  Dont  Diex  sa  miserieorde  a  En  nous  ....  Watr.  114,  43. 

'Versöhnung,  Versöhnlichkeit':  Par  lui  (Marie)  so^it  tuit  li  descorde  De 
pechie  a  Dieu  racorde;  Plaiiie  est  de  douceur  et  d'acorde,  Fontaine  de  miseri- 
corde^, Watr.  63,  259. 

'Übereinstimmung,  Eintracht':  Li  borjois  li  fist  quant  qu'il  vaut,  Qui  lies 
et  joians  s'i  acorde,  Con  eil  qui  desiroit  V acorde,  Julian  872;  Li  dus  et  ele 
tant  l'amoient  Que  fil  et  oste  le  elamoient.  Trestot  troi  sont  bien  d'une 
acorde  (in  voller  Harmonie  leben),  ib.  919. 

'Beilegung,  Beschwichtigung':  Mais  amour  et  misericorde  De  totes  courrous 
a  fait  acorde,  JBlonde  5836. 

acordement,   s.  m.,   'Aussöhnung,   Frieden'   auch:    Li  rois  s'en   torne, 


90  Bemerkungen   zu    'Adolf   Toblers    Altfranzös.    Wörterbuch' 

pleitis  fu  de  maltalent,  Car  dolans  est  de  cel  acordement,  RCambr.  5364; 
En  aucun  tans  raruns  acordement,  Se  il  li  piaist  et  Jhesu  le  consent,  ib.  5973 ; 
Car  je  le  voel  de  euer  rcquerre  ...  qu'il  li  mant  Pour  Diu  k'il  face  acorde- 
ment A  vous  et  ensement  a  moi,  Jeh.  Blonde  4908. 

'gutes  Einvernehmen':  La  s'ala  Orgueilx  aloier  Avee  le  vassal  Hardemeyit 
Et  fu  de  son  acordement  Et  li  uns  monlt  de  l'autre  ame%  (trat  mit  ihm  in 
g.  Einv.),  Watr.  205,  214. 

'Vereinigung,  Bund':  Quarit  li  bacelers  iert  as  cans  . . .  Et  mouvera  pour 
assambler,  DoJit  li  devra  amours  doubler  La  fierte  et  son  Jiardement ;  Chi  ara 
bei  acordement  (zw.  d.  mestier  d' armes  w.  d.  m.  d'amors),  JCond.  I,  102,  166. 

'Vereinbarung':  Puis  prisent  no  baron  entr'iaus  acordeinent  D'aler  a  Babi- 
loine  (übereinkommen),  Bast.  5461. 

acorder,  vb.  intr.,  mus.  auch:  concino,  is,  acorder  en  chant,  Cath.  Lille  45; 
(Maria  zu  einem  Frommen,  den  sie  in  Begleitung  ihrer  Engel  besucht)  il  te 
covient  Ävec  mes  anges  acorder  En  chantant  et  moy  recorder  Äucunc  loenge 
noiivelle,  Mir.  ND.  13,  1796. 

'zusammenstimmen',  auch:  comiibeo,  assentir,  aceorder,  assambler,  Cath. 
Lille  45. 

trans.,  mit  sächl.  Obj.,  'in  Übereinstimmung  bringen  mit,  in  Beziehung 
setzen  zu,  anwenden  auf:  Ensi  li  plais  des  chanonesscs  Et  les  parolles  fele- 
nesses  Et  li  jugemens  recordeis  Puet  par  example  estre  acordeis  Ä  ehiaus 
qui  la  vigne  ahanerent,  JCond.  II,  45,  1466. 

'ausmachen,  vereinbaren'  auch:  Ensi  fu  la  cose  acordee  Et  juree  d'ambe 
.ii.  pars,  JCond.  I,  104,  234;  —  mit  daß-Satz:  Si  que  entre  lor  acordereyii 
Et  par  bo?i  art  estaublisserejit  Que  une  legions  souteinne  0  les  äides  qu'ades 
meinne  . . .  Pooie7it  es  legieres  batailles  Soffire,  Prior.  Veg.  4141 ;  Oiseas  et 
bestes  s'aseinblerent,  Per  comjnun  consoil  acorderent  Que  la  grüe  dcust  ce 
faire,  Ly.  Ys.  470;  II  ßrent  un  concile  et  acorderent  entre  eis  qu'il  feroie7it 
prediquer  al  pöble  saini  Jaque,  Afr.  Pr,-Leg.  C  2,  1. 

'gutheißen'  auch:  Sire,  je  l'accors  bonnement,  Mir.  ND.  5,  653;  Dame, 
e'est  bien  dit,  je  l'accors,  ib.  31,  2483;  Xacorde  ce  qic'ilx  en  diront,  Froisa. 
Poes.  III,  119,  8. 

'bewilligen,  zusagen,  zusichern,  auc.  r.  od.  c.  Inf.  od.  de  c.  Inf.  od.  que 

c,  Fut.  a  auc.',  auch :  l'autre  jour  avint  que,  quant  je  les  veus  ravoir  (sc.  les 
lettres),  eile  le  mes  acorda  doii  rendre,  mes  que  la  copie  l'en  demorast,  Froiss. 
Po6s.  I,  S.  340;  je  le  vous  acord  liement,  ib.  1,  25,  831;  Mais  pas  ne  leur 
ay  acorde  (es),  ib.  III,  203,  2157;  Le  roy  lui  acorda  (es),  Pr.-Erec  255,  15; 
ib.  264,  29;  par  non  vous  voidoir  acorder  une  demande,  ib.  256,  43;  —  La- 
quelle  chose  ...  le  dit  evesque  accorda  faire  par  eonseil,  Chron.  Puc.  d'Orl. 
bei  Buchon,  Chron.  et  Mem.  I,  462»;  il  accorda  faire  la  dite  sornmation, 
ib.  462b;  —  et  lors  que  Cliges  a  acorde  d'aler  a  la  court,  messire  Gauain 
en  est  moult  joieux,  Pr.-Clig  321,  2;  eile  lui  acorde  d' estre  s'amie,  Pr.-Erec 
274,  42;  pour  ce  qu'elle  ne  luy  acordoit  de  l'aymer,  ib.  275,  17;  —  A  vostre 
pere  vous  menray,  Ma  fille  a  fem77ie  li  donray  Par  si  que  vous  m'acordere» 
Que  vous  tna  femme  aussi  serex,  Mir.  ND.  37,  3201. 

'beilegen  (einen  Streit)'  auch:  Voions  se  ja  poriens  ceste  guer7-e  acordeir, 
PoMor  498a;   Ihiec  si  fuissent  li  barun  Por  acordeir  lor  grant  tenchun  (zw. 

d.  beiden  Brüdern),  MBrut  2449;  Elle  a  mainte  gu^rre  acordee,  Car  moult 
atme  pais  et  Concorde,  BCond.  241,  244. 

'(Herz,  Willen)  zu  etw.  geneigt  machen,  dahin  bringen  zu  (a  auc.  r.  oder  a 
c.  Inf.)':  Ne  se  devroit  7nie  retrai7-e  Li  ho7n  qui  set  le  bien  7-etraire  Que  son  euer 
a  che  n'acordast  Qiie  bien  desist  et  recordast,  JCond.  II,  133,  11;  Qua7it  il  ne 
veult  son  vouloir  aceorder  A  faire  riens  que  pour  soi,  Froiss.  Poes.  III,  78,  13. 

'jmdm.  etw.  ins  Herz  legen,  Kenntnis  geben  von,  mitteilen' i:  Ne  ferai 

1  Selbständiges  Verbum,  wenn  das  sonstige  acorder  von  efhjorda  kommt. 


Bemerkungen    zu    'Adolf    Toblers    Altfranzös.    Wörterbuch'  91 

7nie  lonc  se^or  E)i  lor  proeee  deviser,  Ainx  vos  vueil  le  conte  acorder  Einsi 
com  je  sai  la  7na(ire  Et  mes  encjins  et  mes  se»s  H}-e  A  recorder  la  verite, 
Meraug-.  310  Var.;  'verständlich  machen,  erklären':  Adont  tournai  sus  une 
glose  Qui  nous  approeuve  et  ?ious  acorde,  Si  com  Ovides  le  recorde,  Les  ccvres 
de  Pytiotens,  Qui  . . .  Fisf  iymage  parlans  et  vive  D'aige  et  de  terre,  Froiss. 
Po6s.  I,  257,  1296. 

mit  pers.  Obj.;  'jmdn.  versöhnen,'  auch  vers  od.  envers  auc:  Mult  volentiers 
reust  de  laenx  delivreic,  Mais  ne  savoit  s'ele  eret  rer  deu  tote  acordeie  (d.  h. 
Begnadigung,  Vergebung  bei  Gott  gefunden  h.),  PoMor.  311 1>;  Et  mut  en 
o»t  tresfuit  graut  joie  demcn''ie  De  ce  ke  la  dame  eret  ver  deu  tote  acordeie, 
ib.  395 d;  Anx,  serat  tant  jdus  tost  enver  deu  acordeix,  Cant  il  pot  le  mal 
faire,  s'il  est  al  bien  turneix,  ib.  185^;  —  Inf.  sbstvt.:  Del  raeordeir  fait  il 
(Gott)  w  Corte  u  longe  atente  ("Versöhnung,  Begnadigung  gewähren),  ib.  407  c. 

'jmdn.  zulassen  zu  etw.':  Bien  sai  ke  deus  vos  at  tote  quite  clameie,  Vos 
estes  a  sa  grace  finement  acordeie,  PoMor.  415  b, 

refl.,  'zusaramenstiramen,  übereinstimmen'  (eine  Mehrheit  unter  sich):  eil 
ne  pucent  inganment  les  comin andern e7is  acomplir  qui  ne  s' accorderent  onques 
avant  ne  ne  furent  ensanihle  (non  possunt  aequaliter  iussa  complere,  qui  ante 
pariter  non  fuerunt),  JMeun,  ArtChev.  42;  li  bons  dzis  doit ...  assaier  a  plu- 
seurs  fois  ...  comment  il  s'acordent  (quemadmodum  sibi  ipsi  consentiant), 
ib.  98;  Sainx  Pox  li  dit:  Co  que  tu  as  öi  de  Peron,  ice  croi  que  je  ai  dit, 
quar  nos  nos  acordem  ensemble  come  une  chose,  quar  nos  avons  .i.  seignor 
Jesu  Crist  (unum  enim  sentimus,  quia  unum  habemus  dominum  J.  m  Chr.  m), 
Afr.  Pr.-Leg.  17,  14;  Li  anc'ien  si  ordonerent,  Et  tuit  ensaynble  s' acorderent, 
Qiie  jovancel  legicrement  Armey  . ..  essaillissant  Les  (difla7i\.  Prior.  Veg.  7994; 
{a  auc.  r.,  über  etw.  einig  sein':)  Li  aneien  Vossirent  et  estaublisserent,  Et 
a  ce  tresfuit  s' acorderent,  . . .  Que  tote  la  inoitie  des  gaiges  Es  Chevaliers  fut 
en  satff  mise,  Prior.  Veg.  3360  (oder  a.  se  que,  bez.  a  ce  que,  s.  nachher, 
in  den  letzten  zwei  Beispielen). 

'sich  verloben':  A  rosfre  pere  vous  menray,  Ma  fille  a  femme  li  donray, 
Par  si  que  rnus  m'acorderex  Que  vous  ma  femme  aussi  serez;  Et  quant 
acorde  nous  serons,  Nox  noces  ejisemble  fermis  Taut  pour  le  miex,  Mir.  ND. 
37,  3213. 

'sich  vereinigen  mit':  quant  sa^is  descorde  (sc.  amonrs)  0  le  niestier  d' armes 
s' acorde,  Grant  advantaige  a  (er)  de  valoir,  JCond.  I,  105,  256;  'sich  einigen, 
einig  werden  mit':  Chascune  denree  est  vendue  Au  marchie,  quant  on  l'i 
aparte;  Chieus  cui  ele  piaist  V en  rcporte,  S'il  s' acorde  a  celui  qui  vent,  JCond.  II, 
35,  1149. 

'sich  wider  jmdn.  vereinigen,  verbünden,  ein  Komplot  schmieden':  0  bons 
emperere,  cuides  tu  que  jo  diputeisso  cotitra  res  dous  qui  sont  acorde  contre 
moi  (qui  adversus  me  consensum  fecerunt)?  Afr.  Pr.-Leg.  A  17,  17. 

'darüber  einig  werden,  daß,  übereinstimmend  entscheiden,  daß',  mit  que 
c.  Ind.:  ...  si  qu'il  s' acorderent  (lat.  crediderunt)  que  une  seule  legions  areuc 
les  aydes  ...  pooient  assex  souffire  es  legicres  batailles,  JMeun,  ArtChev.  75; 
mit  que  c.  Conj.:  Donc  s'acordent  comunemant  Tuit  ensamble  per  jugemant 
Que  cix  soit  a  forchex  pendux,  Ly.  Ysop.  3273;  La  conrt  toufe  ensamble 
s' acorde  e'on  li  face  misericorde,  ib.  3379 ;  Adonc  tax  li  pobles  s'acorda  que  l'um 
feist  rei  do  frere  Effigeni,  Afr.  Pr.-Leg.  J  37,  1 ;  mit  que  c.  Fut.:  Ainsi  tuit  troi 
acorde  sont  Que  la  Manekine  ardero7it,  Manek.  3561.  Vgl.  auch  oben  Veg.  7994. 

'dahin  übereinkommen,  daß,  vereinbaren,  daß  (a  ce  que  c.  Fut.)':  A  ce  s'acor- 
dent . . .  Qu'il  an  iront . . .,  ChCharr.  5116;  Mais  ib.  s' acorderent  a  ce  que  sempres 
quant  la  nuyt  sera  venue  et  la  damoiselle  sera  couchee  en  vng  pauillon  toute 
aeule  . . .,  messire  Oaimain  ira  coucher  avec  li.  ...  A  ce  s'acordent  amduy,  si  le 
firent  tont  ainsi  com  ilx  l'avoient  dit,  Abent.  Gaw.  32.  Vgl.  auch  oben  Veg.  3360. 

'beistimmen,  zustimmen,  einverstanden  sein  mit',  a  auc  r.:  Dame,  s'a  ^ou 
vos  acordes,   Por  Diu,   et  c'or  vos  racordcs   Viers  moi,  se  j'ai  folie  emprise 


92  Bemerkungen    zu    'Adolf    Toblers   Altfranzös.    Wörterbuch' 

Pour  rous,  faifes  que  bien  aprise,  BCond.  313,  1310;  Dame,  fait  il,  je  m'i 
acort  bien,  Pr.- Julian  XXXIX,  5;  Je  m'y  aecors,  Mir.  ND.  2,  904;  23,  410; 
34,  1346;  je  ni  aecors  bonnenicnt  Et  m'assens  a  vostre  requeste,  ib.  34,  892; 
A  vostre  dit  assex  m' aecors,  ib.  38,  490;  Dame,  mes  cuers  a  ce  s'aecorcle, 
ib.  2,  904;  nul  de  rous  ne  s'i  pot  acorder,  Abent.  Gaw.  60;  M  messire 
Gauuain  s'i  acorde  bien,  ib.  64;  —  a  c.  Inf.:  Dont  est  il  fols  ki  ne  s'acorde 
Ä  verite  dire  et  traitier,  Se  del  mentir  se  sei  (jaitier,  Alexius  S,  208  Ha.;  A 
Deu  servir  cascuns  s'acorde,  C'onques  entr'ans  dous  n'ot  discorde,  Julian  2693; 
a  roir  dire  tuit  s'acordent,  Baris.  1045;  Et  ne  se  voellent  acorder  As  mauvais 
d'ensus  d'iaus  cacier,  JCond.  I,  111,  114;  A  teile  gent  sierrir  s'acorde  Jehans 
de  Condet,  ib.  142,  19;  Pasc'ience  a  soffrir  s'acorde  Les  gries  et  les  tempta- 
iions,  ib.  II,  40,  1292;  7ie  il  ne  s'acorde  A  nul  bien  dire  nule  fois,  Watr.  266, 
1100;  A  morir  ainsi  miex  m'acors,  ...  Que  ...  Mir.  ND.  20,  316;  Sai7it  pere, 
trop  bien  je  m'acors  A  estre  vostre  der  des  ei,  ib.  38,  74;  A  aler  noiis  ent 
m' aecors,  ib.  31,  1040;  —  de  c.  Inf.:  Pour  ce  de  euer,  non  pas  envis,  De 
chanter  avee  vous  m'acors.  Mir.  ND.  30,  1464;  Dont  s'acorde  sans  contredit 
De  sa  promesse  a  aquiiter,  JCond.  I,  205,  1091;  —  a  ce  que  c.  Conj.  Voles 
vos  a  ce  acorder  Que  vos  facies  ma  volente?  Ferg.  187,  11;  Et  si  se  voellent 
(Conj.)  acorder  A  gou  que  cascuns  sans  boisdie  Pater  noster  pour  l'atne  en 
die,  JCond.  I,  296,  198. 

'den  Einklang,  die  Übereinstimmung  mit  etw.  wahren'  {a  auc.  r.):  Dunkes 
alsi  com  sai7ix  Faules  ne  soi  acordet  mie  par  ccste  sentence  ax  paroles  cid  il 
avoit  devant  dites  de  l'enferteit  Thüyiotheu,  anx  repairet  a  ce  k'il  avoit  entre- 
laissiet,  alsi  fait  Eliphax  eii  cest  Heu,  Job  363,  27. 

'sich  einer  Sache  hingeben,  ihr  huldigen  (a  auc.  r.)':  Car  qui  a  droit  amor 
s'acorde,  Sovent  et  volentiers  recordc  Taus  les  biens  qu'il  set  de  s'amie, 
BCond.  308,  1164. 

'mit  sich  einig  sein  betreffs  etw,  (en  auc.  r.)':  Car  maiyis  haus  kons  en  ce 
s'acorde  Qu'il  veut  son  vois in  e^iganer  JEt  a pou  d' achoison pener,  BCond. 471,  86. 

'Frieden  machen',  auch  vers  auc:  Dame,  s'a  gou  rous  ocordes,  Por  Diu, 
et  c'or  vos  racordes   Viers  moi,  . . .  faites  que  bien  aprise,  BCond.  313,  1311. 

'sich  vertragen,  zusammenpassen,  zusammenstimmen'  auch:  Cex  piaroles 
s'acordent  bien,  ...  Mout  dist  la  danic  que  cortoise  Et  eil  dist  que  frans 
Chevaliers,  Meraug.  1372;  Quant  son  pooir  (die  Nature)  au  mien  (d.  der  Venus) 
assamble  Et  il  s'accordent  bien  ensamble,  Sans  le  souverain  Creatonr  Ne  por- 
roit  nus  hotis  querre  tour  Dont  vers  nous  tenser  se  peust,  JCond.  II,  30,  974 ; 
si  que  li  oel  et  li  cuers  s'acordassent  ensanble  a  ce  que  on  vuet  ferir  (ut  ad 
illud  quod  feriendum  est  oculus  pariter  animusque  consentiat),  JMeun,  Art. 
Chev.  22;  Si  que  oil  et  cors  per  saison  S'acordoient  andui  ensainble  A  ce 
que  a  ferir  te  seinble.  Prior.  Veg.  1203. 

'mit  etw.  übereinstimmen,  zu  etw.  stimmen,  einer  Sache  entsprechen': 
Dunkes  les  ierrienes  dispensations  soi  acoi-dent  solunc  la  cojistumc  des  chamox, 
a  la  loi  del  chief,  et  del  piet  s'en  discordent,  Job  348,  12;  Icesfe  douteuse 
maniere  d'alcr  et  de  venir  par  coi  la  mer  se  gete  ejisi  hors  et  se  resoit  en 
soi  meismes,  quant  ele  s'acorde  au  cours  des  nes,  ele  lor  aide,  et  quant  de 
lor  est  contraire,  si  les  retarde  (cursum  navium  secunda  adjuvat,  retardat  ad- 
versa,  sc.  haec  ambiguitas),  JMeun,  ArtChev.  172;  Quant  eeste  meriiere  s'acorde 
Es  cors  des  nex  et  s'i  Concorde,  Ele  lor  fait  fox.  biens  a  faire  Et  les  aide, 
Prior.  Veg.  11005;  Ta  grant  biaute  et  ta  nobleche  S'acordent  bien  a  ta  proeehe, 
Rieh.  2098 ;  A  l'ewangile  bien  s'accorde  Li  jugeynens  fais  chä  deseure,  JCond. 
II,  44,  1448;  Sy  conte  li  auctoritex.  Et  s'i  a<;orde  veritex,  Qu'il  fu  trop  for- 
metit  entechiex  D'orgueil,  ib.  II,  291,  76;  'Gratia  Plena',  bien  ixcorde  La  lettre 
qui  a  che  s'acorde  Qu'il  n'est  nus  qui  peust  retraire  Ta  grace  et  ta  niiseri- 
corde,  ib.  II,  129,  14  (Scheler:  l'öcriture  qui  s'exprime  ainsi). 

'stimmen,  in  Ordnung  sein':  Nous  sons  d'un  eage  et  d'un  grant,  D'une 
maniere  et  d'un  aler,  D'une  vois  et  tout  d'un  parier,  Et  c'est  chose  qui  bien 


Bemerkungen   zu    'Adolf   Toblers   Altfranzös.   Wörterbuch'  93 

s'acorde,  Car  le  philoKophe  recorde  Que  sunnables  quiert  son  sannable,  Froiss. 
Po6s.  n,  44,  1498. 

acordant  'zusammenklingend':  Ralons  nous  ent,  fil,  yl  est  te»ips.  Ätiges, 
cfiantex  sotis  acordens  Sans  plus  cy  estre,  Mir.  ND.  35,  1413. 

acorer,  vb.  trans.,  'töten',  übertr.,  auch:  acorer  le  euer  d'auc,  Jeh.  Blonde 
1212;   C'est  qou  que  plus  mon  euer  acore,  JCond.  I,  223,  1740. 

acorneter,  vb.  trans.,  auch:  (die  Frau  mit  dem  Säugling  in  der  Einsam- 
keit) Et  si  fault  que  Je  paine  mette  D'aioir  lait  et  une  cornette  Do?it  je  vous 
acoryietteray,  Biau  fih,  Mir.  ND.  18,  1084. 

acorre  (acorir:  C'on  voit  viort  en  l'ciire  acorir,  Watr.  18,  534),  vb.  intr., 
a  auc.  auch:  Me  les  vit,  ses  reconyiut,  A  grant  merveüle  e?i  acourut  A  eis, 
Veng.  Rag.  5698;  andre  Vbdgn.:  Quant  Belchis  choisi  et  conut  Lidoine,  vers 
li  acorut,  Meraug.  3780;  Et  toy  arme  pense  d'acourre  Contre  paiens  et  de 
secourre  Aux  crest'iens,   Mir.  ND.  33,  1653;   eist  m'aeort  sore,   Meraug.  3604. 

bildl.  auch:  Ases  en  trova  (Abenteuer)  et  de  dures  Batailles,  tant  l'en 
acm-ut!  Veng.  Rag.  6133. 

acort,  s.  m.,  mus.  auch  (Erzeng.  Michael  zu  Gabr.)  Qahriel,  disons,  ami 
dous,  Ce  rotulel  ei,  bei  est  d'aeors  (es  klingt  schön,  zusammengesungen)  Mir. 
ND.  22,  1720;  Ce  rondel  ci,  qui  bon  me  semblc.  Disons,  il  est  de  bons  aecors 
(ist  angenehm  im  Zusammenklange),  ib.  30,  1409;  Ensemble  d'un  assentement 
Nous  fault  d'un  motet  le  recort  Chanter:  bon  fol,  a  nostre  accort  Tost  vous 
mettex,  (einheitlicher  Gesang  mit  uns),  ib.  17,  1809;  —  d'aeort,  par  acort, 
d'un  acort  'mit  einheitlicher  Stimme':  Anyes,  or  tost:  alez  devant  Et  chanter. 
d'aeort,  Mir.  ND.  22,  1456;  Sus,  d'aeort  ensemble  disons  Ce  motet  ey,  ib.  27, 
2125;  Anyes,  alex  ysnellement  La  jus  et  faiies  un  recort  D'un  rotulel  chanter 
par  acort,  ib.  22,  1690;  La  le  ehantames  (sc.  le  rondelet)  d'un  acort  A  trois 
Sans  faire  md  descort,  Froiss.  Poes.  I,  27,  901. 

'Übereinstimmung,  gutes  Einvernehmen,  Einigkeit,  Einverständnis':  Cil 
ne  puent  pas  acomplir  Les  comandemanx  n'aemplir  Qui  onques  mais  ne  se 
veirent  Nonques  mais  acort  ne  fcirent  Wonques  mais  ne  furent  ensarnble 
(mit  einander  übereinstimmten,  sich  zueinander  fügten),  Prior.  Veg.  2222; 
Soions  d'aeort  et  moy  et  toy  De  faire  une  deputoison  de  nox  loys  (unterein- 
ander darin  einig)  Mir.  ND.  21,  1109;  et  s'il  y  a  descort,  Nous  votts  metterons 
a  accort  (einig  machen),  ib.  35,  1321;  Si  penser  et  desir  sentex  Dcdens  rostre 
euer  en  discort,  Prenex  espoir  et  Vi  entex  Par  attrempance,  qui  d'aeort  Les 
mettra,  Froiss.  Poes.  III,  91,  24;  mettons  nous  ...  ens  ou  recort  De  Congnois- 
sance,  bien  d'aeort  Nous  mettra,  ib,  III,  238,  5;  pour  les  mettre  d' accort 
Des  arguemenx  qu'ils  ont  fais,  ib.  III,  270,  2896 ;  et  si  ne  contens  (ich  trachte) 
...  Qu'a  mettre  yens  en  bon  accort,  ib.  III,  271,  2918;  Chascuns  eii  voll  sa 
pari  avoir  (sc.  de  l'avoir);  Mais  ce  ne  fu  pas  par  acort  (einträchtig),  Quar 
monier  y  vi  tel  descort  Qu'il  y  saehierent  les  espees,  JCond.  I,  86,  1229; 
Avant  tost,  nous  deux  par  accort,  Sathan,  preyions  cest  emperiere,  Mir.  ND.  25, 
1262;  par  bon  accort,  Froiss.  Poes.  III,  186,  1605;  Ten  sui  d'aeort  (einver- 
standen), Mir.  ND.  28,  256;  Froiss.  III,  274,  3011;  bien  sui  d'aecort  Que 
cJmntons  aucun  dous  recort.  Mir.  ND.  17,  1139;  II  fault  que  ...  li  conmandex 
Et  a  touz  ceulx  de  vostre  terre  Qu'il  soient  tuit  d'aecort  a  Pierre,  Qui  bien 
le  veult,  ib.  9,  70;  (Ratschläge  des  Vaters  an  seine  Tochter  vor  ihrer  Heirat) 
Oreniex  vostre  seignor  le  eonte,  Si  que  nus  ne  vos  die  honte,  Soiex  tox  jors  a 
son  acort:  Se  nel  fetes,  vos  avrex  tort  (eines  Sinnes,  einer  Meinung  mit  ihm), 
MRayn.  VI,  103,  254;  Si  y  deveries  ...  donner  an^ois  ou  prommettre  Dou 
vo  qu'a  son  acord  ne  fuissent,  Froiss.  Poes.  II,  124,  4192;  Et  ilx  furent  de 
mon  accort  Pour  l'argent  que  je  leur  promis  (einverstanden  mit  mir).  Mir. 
ND.  26,  747;  Voir,  je  sui  bien  de  vostre  acort,  ib.  28,  130;  De  ey  n'yras 
mais  phis  avant,  Si  notis  aras  en  eonrenant  Que  jamais  n'en  feras  recort 
Et  que  seras  de  nostre  accort,  ib.  31,  780;  Soions  trestoux  de  cest  acort  Et 
faire  en  alons  le  recort  Aic  roy  ensertible  (hiermit  einverstanden),  ib.  34,  1946; 


94  Bemerkungen   zu   'Adolf   Toblers   Altfranzös.    Wörterbuch.' 

Se  votis  estes  de  cest  aecort,  Par  Mahonmet  je  m'y  accort  Estre  en  aiissi, 
ib.  38,  543 ;  Se  j'eusse  de  mon  acort  Ceulx  qui  ont  le  tresor  en  garde  De  ce 
palais  ...,  Je  fusse  hien,  Froiss.  Poes.  III,  184,  1 ;  eilx  qui  plus  de  son  acort, 
Dp  vous  on  de  moy,  en  ara,  La  rictoire  li  demorrn,  ib.  III,  279,  3138 ;  Alons 
donc:  je  ne  vueil  pas  istre  De  vosfre  accort,  Mir.  ND.  7,  545;  d'un  acort  'ein- 
trächtig, einmütig':  Jugement  n'aura  record,  Dcsques  i  seent  de  un  acord, 
Oxf.  Ps.  S.  XXIX;  Et  sotit  ces  deus  vertus  en  vous  si  tres  hien  d'un  aco7-d 
que  riens  ne  les  empeche  ne  varie,  Froiss.  Poes.  I,  S.  327 ;  Tel  recort  Poran 
(d.  i.  j:>ora  on)  dire  par  esclame  D'un  acort,  ib.  II,  255,  306 ;  —  tnetre  acort 
a  auc.  r.  'sich  einverstanden  erklären  mit,  sich  bereitfinden  zu':  Partout  iert 
de  lui  ramembrance  Oü  cils  dis  iert  mis  en  recort,  Si  a  au  faire  mis  acort 
Jchans  de  Condet,  JCond.  I,  295,  164. 

'Begleichung,  Ausgleich':  Pour  ynetfre  en  paix  et  en  acort  (beilegen)  Et 
annichiler  les  contens  (Streit),  Froiss.  Poes.  III,  278,  3108. 

'Aussöhnung,  die  jmd.  gewährt,  Vergebung':  Du  grant  annuy  et  du  eon- 
traire,  Sire,  que  vous  ai  fait  a  tort,  Vous  requier  mercxj  et  acort,  Mir.  ND. 
9,  465;  par  acort  'gnädig,  huldvoll  (?)':  Et  lä  estoit  la  damoiselle  Dont  je 
m'aia  her  moult  fort,  Qui  7ious  fist  seoir  par  acort,  Froiss.  Poes.  1, 184,  3275. 

'Übereinkunft,  Vereinbarung'  auch :  Si  fu  a  ce  pris  leur  acors  Que  chas- 
cuns  une  (sc.  couleur)  en  porteroit,  Watr.  314,  110;  par  ung  commun  acord, 
Pr.-Erec  293,  5;  Pr.-Clig.  260,  27;  (die  Tochter  zum  Vater,  der  sie  gefragt 
hat  Est  il  nul  a  qui  convenant  Aies  ne  de  foy  ne  d'amour?)  De  ce  n'aiex. 
nulle  douhtance  Que  j'aie  a  nul  komme  al'iance  N" acort  nul  fait  (Liebespakt), 
Mir.  ND.  19,  567. 

'Zustimmung',  auch:  'Je  n'y  vueil,  puisque  le  voulex,  Point  contredire.' 
'Grant  mercix,  plus  de  cent  foix,  sire.  De  cest  accort',  Mir.  ND.  28,  1775;  La 
etulroit  ot  moult  grant  descort,  Gar  chascune  avoit  grant  aeort  (Beifall), 
JCond.  II,  29,  940. 

'Neigung,  Wille'  auch:  Si  est  a  ^ou  totis  mes  acors  Que  la  grant  valor 
de  sofi  cors  ...  on  compere  Ä  la  douce  alaine  au  paktiere,  BCond.  20,  65; 
Et  doit  estre  tous  ses  acors  Au  bien  faire  et  au  mal  laissicr,  ib.  47,  58;  Ei 
mes  acors  Est  bien  a  ce  que  mes  amis  Seres,  JCond.  I,  318,  499;  Et  doit 
estre  tous  lor  acors  A  ce  que  de  euer  et  de  cors  Se  maintiegnent  en  honncste, 
ib.  II,  39,  1259;  Et  a  fou  ai  mis  mon  acort  Que  du  bien  faire  as  boins 
recort,  ib.  I,  258,  101. 

'Sinnesart':  Ne  avarisse  d'autre  part  Wavoit  en  lor  afaire  part,  Car  il 
erent  de  bon  acort  Et  piteus  et  misericort,  BCond.  8,  198. 

'Meinung,  Urteil':  Et  ki  el  vous  en  dit,  si  ment,  Cest  bien  mes  acors  et 
mes  dis,  BCond.  73,  277;  Par  nostre  acort  Amours  ne  vous  en  scet  nul  grS, 
Froiss.  Poes.  I,  34,  1117. 

acorter,  vb.  trans.,  auch:  Tu  (Tod)  me  fais  languir  et  si  m'aeortcs  ma 
vie,  mes  c'est  trop  Icntement,  Abent.  Gaw.  S.  103. 

aeoster,  vb.  trans.,  mit  pers.  Obj.  auch:  Volentiers  se  doit  on  garder 
De  tel  compaignie  äcoster  (sich  gesellen  zu),  Chastoiem.  VI,  72;  pass.  Au8- 
drucksw.:  Lä  fu  wts  tamps  qu'on  l'assali  Pour  guerr'ier  a  tous  costes,  Mais 
il  se  trouva  acostes  Au  besoing  de  ses  bons  amis,  Froiss.  Poes.  I,  213,  75; 
aeoster  auc.  d'auc.  'jmdn.  jmdm.  zum  Begleiter  geben':  Belle  fille,  je  vous 
acoste  De  Loyaute  et  Ic  vous  cargc,  ib.  II,  191,  1012. 

'Einkehr  gewähren,  aufnehmen':  (an  den  Körper)  En  tel  ostel  es  acostes 
(Einkehr  halten)  U  cascwis  os  en  ta  pel  crinee,  Dit  du  Corps  (Zeitschr.  22, 
51)  56  (Geoffroi  de  Par.:  Quant  a  la  mort  es  ajostex,  En  tel  ostel  es  acostex 
Ou  nies  ne  baingne  ne  ne  rince). 

rfl.  auch :  Et  va  vers  le  pertuis  petit  Foiblement  petit  et  petit;  Quant  *Z  t 
fu,  si  s'i  acoste  Sus  et  jus,  de  lonc  et  de  coste,  ChCharr.  6581;  Lors  s'aeoste 
dejoste  li,  Tr.  Belg.  I,  232,  219;  Lors  m'alai  tantost  acouter  Delex  Verite  pour 
savoir  . . .  le  voir,  Watr.  265,  1088. 


1 


Beinerkungeu   zu    'Adolf   Tobler.s    Altfranzös.    Wörterbuch'  95 

acosttimance,  s.  f.,  abs.  ('Gewohnheit,  Brauch')  auch:  Ne  tenir  rnie  en 
vitancr  L'us  ne  la  botie  acostumance,  Prior.  Veg.  8264;  po}-  la  bone  acostu- 
mance,  ib.  3624;  S^on  rit,  pleiirer  li  est  d' acoustumance,  Ch.  d'Orl.  (ed.  Heric.) 
II,  123;  d'acostimnuice:  ma  dame  Congnoissance  ...  Me  dist  ...  Que  f'eusse 
d' accoui>tu7nmice  . . .  Enclos  en  ma  condicion  Leale  et  bonne  entcncion,  . . ., 
Frois3.  Poes.  III,  3,  G5. 

d'auc.  r.  'Gewohnheit,  Ublichkeit;  Gebrauch':  Anpereres  rainquierres,  il 
appert  bien  par  l'acoustiimance  de  tcs  victoires  qrie  tu  as  pJainement  et  saye- 
nient  retemt  les  establissemens  des  grans  hommes  anciens  (continuis  declaratur 
victoriis  ac  triumphis),  JMeun,  ArtChev.  S.  39;  car  acoustimiance  de  travail 
ptiet  donner  smivete  es  herberges  et  victoire  es  batailles  (laboris  consuetudo, 
die  Gewohnheit  körperlicher  Anstrengung),  ib.  S.  76;  Bietis  ne  pourfite  plus 
en  bataille  que  bien  garder  les  ordres  jmr  acostumance  d'uxage  (adsiduo  exer- 
citio),  ib.  S.  34;  Li  jovenciax  m'cismemant  Acostumance  isnelemant  Doivent 
aprandre  de  tost  corre,  Prior.  Veg.  868;  Car  tex  i  a  qu' acostumance  Ont  du 
lotir  foleniant  despandre,  ib.  3370;  encontre  la  uoisouteit  et  la  boisie  del 
diaule  . . .  cui  li  longe  acostumance  de  son  malice  at  fait  trop  uoisous, 
SBern.  (F.)  154,  17. 

acostumee,  s.  f.,  auch:  Dame,  Je  say  qu' acoustumee  Est  que  l'evesque  et 
li  provoire  Font  hui  moult  yrant  feste,  Mir.  ND.  5,  593. 

acostumer,  vb.  trans,  auc.  a  auc.  r.  'jmdn.  an  etw.  gewöhnen,  jmdm. 
etw.  zur  Gewohnheit  werden  lassen':  Voir  ce  qui  plus  m'i  acoustume  (sc.  die 
Armen  zu  speisen),  C'est,  sire,  que  souvent  recors  Ce  que  Dieu  si  wisericors 
Notis  a  volu  . . .  estre  Qu'a  nous  a  fait  un  biau  filx  naistre,  Mir.  ND.  40,  10. 

avoir  acostume  'die  Gewohnheit  haben',  auch  c.  Inf.:  Et  li  lerres  avoit 
aconstumeit  venir  ei  par  la  soif  monteir  (venire  consueverat),  Dial.  Greg.  15, 
15;  Mais  a  l'ore  de  sa  refection  uns  corbeax  avoit  aconstumeit  vcnir  de  la 
voisine  selre,  Dial.  Greg.  70,  3;  ib.  76,  19;  se  la  pieteiz  de  iugeor  li  defalt, 
hi  at  aconstumeit  delivrer  de  la  permanant  paine,  Mor.  Job  316,  5,  und  de 
c.  Inf.:  sHl  du  pioint  du  jor  a  l'ore  Ont  acostumey  de  suscorre  Lor  enemis 
(Text  desu^  corre,  zu  suscorre  vgl.  6160),  Prior.  Veg.  5060;  pour  cou  qu'il 
n'avoient  mie  acoustume  d'aler  etisi,  Pr. -Julian  XXXI,  6;  car  Erec  avoit 
acoustuyne  de  dini  servir  primes  et  aimnt  toutes  euvres,  Pr.-Erec  257,  29;  le 
eiel  fu  eydumine  bien  heure  et  de^nie  plus  tost  que  le  courx  de  nature  n'avoit 
acoustume  de  faire,  Pr.-Clig.  297,  7;  passive  Ausdrucksw.:  Dame,  je  ne  les  scay 
QU  querre  (sc.  les  armes  de  saint  Mercure),  S'en  la  chasse  ne  sont  trouvees  Ou 
ont  este  aceoustumees  De  garder,  Mir.  ND.  13,  1095 ;  et  le  lendemain  ...fit 
le  sennent  en  tel  cas  acoustume  de  faire,  Jean  de  Troyes  (1465),  bei  Buchon, 
Chron.  et  Mem.  I,  263». 

acostumer  'pflegen',  c.  Inf.  auch:  qui  bien  amer  acoustume,  BCond.  296,  812. 

rfl.,  a  auc.  r.  oder  a.  c.  Inf.:  A  cest  usage  se  doit  li  Chevaliers  acoustumer 
(ad  hunc  usum  instituendus  est  tiro  'ist  abzurichten'),  JMeun,  ArtChev.  S.  34; 
Et  si  se  doiveyit  acoustumer  li  Jone  homme  meismement  a  courre  (sed  et  cursu 
praecipue  adsuefaciendi  sunt  iuniores),  ib.  16;  si  qu' il  se  puissent  acoustumer 
d'iluec  a  veoir  et  a  conoistre  lor  anemis  (unde  et  videre  hostem  et  agnoscere 
consuescant)  ib.  106;  Puis  qu'a  bie7i  faire  s' acoustume  Et  de  voir  dire  a  la 
cmistume,  Mir.  ND.  30,  274. 

acostuyne,  pt.  pf .,  von  Sachen :  'zur  Gewohnheit  geworden,  gewohnt,  in  Brauch 
gekommen,  üblich':  pour  ce  que  l'usaige  dou  travail  acoustume  en  pais  ne  lor 
semblast  pas  grief  en  la  bataille  (cotidiani  laboris  usus),  JMeun,  ArtChev.  67; 
r  on  redoute  mai?is  les  choscs  conneües  rt  acoustumecs  et  aüsees  (nam  quae  ex 
U8U  sunt  non  timentur),  ib.  106;  Et  arecques  cc  les  aies  (Hilfstruppen)  Acoustu- 
mees  et  estaublies,  Prior.  Veg.  2388;  Et  a  la  foix  avient  que  li  corages  quand  il 
cesset  de  sa  aconstumee  parole  soi  desoivret  par  la  lot^gece  del  tens  del  amor  del 
proime,  Mor.  Job  365,  37;  par  acostumeit  desier,  Senn.  Bern.  (F.)  50,  36;  Et ... 
fiit  ordonne  . . .   que  chacun  quartenier  et  dixenier  d'icelle  ville  fisseni  faire 


96  Bemerkungen   zu   'Adolf   Toblers   Altfranzös.   Wörterbuch' 

des  feiix  es  lieux  accoustumes  de  les  faire  (an  denen  es  üblich  war  sie  zu 
machen),  JdeTroyes  (1465)  bei  Buchon,  Chron.  et  M6m.  I,  264b. 

von  Pers.:  'in  einer  Gewohnheit  aufgegangen':  Cascune  nm't  me  guerpis- 
sies  . . .;  Si  estes  ore  aeoustumes  Que  ja  n'en  faiira  unc  nuit,  Chastoiem.  XII, 
196;  'von  Gewohnheit,  geschult':  Cüs  Poitevins  do?it  vous  partes,  Esce  uns 
bregiers  acoushimes?  S(^auroit  il  faire  un  ongement,  Une  houce  ou  im  veste- 
meni  Ou  U7i  Jupel  a  alerons?  Cognoist  il  brebis  et  vioutons,  Les  scet  it  garir 
de  la  rongne?     Froiss.  Poes.  11,  315,  21. 

'gewöhnt  an'  auch:  (d'auc.  r.)  pour  ce  que  cit  qui  ne  sont  pas  acoustume 
de  tel  chose  sont  plus  froissic  par  paour  (quia  timor  magis  frangit  insuetos), 
JMeun,  ArtChev.  145;  De  ce  ert  bien  acostumes,  Julian  4364;  les  crcatures 
nees,  Presens  et  passes,  Dou  cognoistre  acoustumees,  Froiss.  Poes.  II,  109, 
3678;  (en  aue.  r.)  Et  qiiant  li  corages  ki  aconstu77ieix  est  es  corporeix 
choses,  penset  de  cele  substance,  st  soffret  les  fantasies  de  diverses  ymagenes, 
Job  338,  29. 

'gewohnt  zu',  a  c.  Inf.:  la  chevalerie  Qu'acostumee  ne  est  mie  Ä  bataillier, 
Prior.  Veg.  5750;  de  c.  Inf.:  a  Chevaliers  qui  ne  sont  pas  acoustume  de  batil- 
lier  (desuetum  a  pugna  exercitum),  JMeun,  ArtChev.  99,  X;  Et  le  lundy  ... 
fut  crie  en  la  ville  de  Paris  que  tous  marchands  aeoustumes  de  portcr  vivres 
en  ost  portassent  vivres  a  iost  du  roy,  JdeTroyes  (1466),  bei  Buchon,  Chron. 
et  Mem.  I,  268 b;  que  . . .:  La  dame  acoustumee  estoit,  Si  tost  com  il  fors  en 
issoit,   Que  a  la  fenestre  acoutoit,  Chast.  12,  45. 

non  acostume  'ungewohnt,  ungewöhnlich':  demenans  ung  non  acoustume 
duel  tresatigoisseux,  Pr.-Clig.  326,  37;  attenviex  de  nourel  et  non  acoustume 
Service  de  tritresse,  ib.  329,  36;  ung  non  acoustume  souvenir,  ib.  335,  20. 

acostumier,  adj.,  non  ^:  meyians  tel  bruit  de  ceste  non  acoustumiere 
joie  de  court  que  . . .,  Pr.-Erec  290,  23. 

**acotart,  s.  m.,  s.  A.  Delboulle,  Rev.  d'hist.  litt,  de  Fr.  I,  184  (14.  J.). 

acoter,  vb.  intr.,  'sich  niederlegen',  ferner:  el  settem  (lue)  ara  gardaroba 
et  trois  chambres  a  fenestres,  qui  ferront  el  vei-gier,  a  acodar  (in  septimo  epi- 
caustorium  et  triclinia  accubitalia),  Afr.  Pr.-Leg.  F  15,  16. 

acouchier,  vb.  rfl.,  au  lit  'sich  zu  Bett  legen';  Quant  uns  maus  son 
mari  tou^a  Au  euer,  si  c'au  lit  s'acou^a,  JCond.  I,  224,  1758;  Les  fievres 
m'alerent  aherdre,  Je  m'alai  acoucier  au  lit,  Froiss.  Po6s.  I,  129,  1451. 

acouchie  'bettlägerig',  auch:  Dame,  vostre  amour  en  tel  point  M'a  rnis 
que  fen  suis  acouchiex,  Mir.  ND.  27,  551. 

*acouchiee,  s.  f.,  'Wöchnerin':  Je  sui  une  povre  acouchee  De  grant  dou- 
leur  au  euer  touchee,  Mir.  ND,  15,  787;  S'il  raus  pleust,  chier  sire,  attendre 
(mit  eurer  Fahrt  nach  Jerus.)  Qu' acouchie  me  laississiex  (als  Wöchnerin 
zurückließet)  Et  que  vostre  hoir  voas  veissiex,  H  vaulsist  ?niex,  ib.  37,  185, 
s.  auch  Delboulle,  Rev.  d'hist.  litt,  de  Fr.  I,  185. 

acouper,  vb.  trans.,  'anschuldigen',  auch:  Unke  ne  esteyum  aeoupee  Ne 
mey  ne  ma  meynee  De  baterie  ne  de  manaee  Xe  de  outrage  kc  jeo  face  (Non 
increpavit  aliquis  meos  filios  quod  se  inhoneste  gererent),  S.  Panuce  143 
(Rom.  38,  423). 

acoupir,  vb.  trans.,  auch:  curuco,  aeoupir,  Gl.  Lille  52;  M6on  I,  218, 
827  =  Je  sui  eil  qui  vos  ucoupi  Et  qui  la  chievre  vos  vendi,  Trubert  829. 

acovenancier,  vb.  trans.,  'jmdm.  etw.  zusichern,  versprechen',  Altfrz. 
Pr.-Leg.  E  9,  5,  Hs.  B,  s.  acovencier. 

**acoveneier,  vb.  trans.,  id.:  Quant  li  juif  viretit  que  li  sainx  apostres  ot 
eonverti  Hermogenem  ...,  acovenceront  grant  avoir  a.ii.  centurions  qui  eront 
bailli  de  la  terra  de  Jerusalem  (obtulerunt  pecunias  centurionibus  duobus), 
Altfrz.  Pr.-Leg.  E  9,  5. 

*acover,  vb.  trans.,  Une  femme  tenoit  en  ses  bras  aeolee  Dois  siens  en- 
fans  petis;  l'aige  l'ot  acovee,  GLiege  30036  (Scheler:  l'eau  l'a  engloutie);  Tant 
en  abat  a  terre,  herbe  en  est  acouvertee  (Seh.:  1.  acouree,  bedeckt),  ib.  389. 


Bemerkungen   zu    'Adolf   Toblers   Altfranzös.    Wörterbuch'  97 

aeoverter,  vb.  trs.,  'bedecken',  auch:  Atant  fut  li  sains  cors  de  drap 
acoverteis,  GLiege  11174. 

aeovertir.  Vermutung  für  die  Stelle  Et  ont  la  pel  taut  durc  et  tant 
acouarcie  (Tobler:  1.  acovartic),  Crois.  II,  99;  in  der  jüngeren  Spaldinger  Hs. 
et  itant  anercie.  'bedeckt'  spricht  als  Bedeutung  nicht  an.  Begrifflich  würde 
acorni  'hornartig'  (vgl.  racorni,  God.  Cpl.  u.  encorni,  Prior.  Veg.  388,  beide 
gern  mit  dur  gepaart)  zusagen,  durch  das  dem  Verse  jedoch  eine  Silbe  ver- 
lorenginge. 

a er av enter,  vb.  trans.,  auch:  obruo,  acravanter,  trehuchier  ou  abbatre, 
Gl.  Lille  100;  (Steine)  pour  acraventer  les  anemis  desous  (ut  demissa  per 
praeceps  . . .  hostes  obruant  subeuntes),  JMeun,  ArtChev.  142. 

acreanter,  vb.  trans.,  a  aue.  a  faire  auc.  r.:  Et  ü  li  compte  maintenant 
comment  il  s'estoit  acompaignes  a  Pellias  et  li  avoit  acreante  a  piorter  ly 
loial  compaignie  et  loyal  foi,  Abent.  Gaw.  S.  37;  car  i'ay  acreante  a  donner 
le  Chief  de  Celle  damoiselle  du  lit  a  ime  autre  damoiselle  qui  prie  m'en  a, 
ib.  S.  116;  a  auc.  de  faire  auc.  r.:  certes,  i'ay  acreante  a  monseigneur  Yvain 
de  ly  faire  compaignie  anuit,  ib.  S.  69. 

*aerester,  vb,  intr.,  Chi  comenche  l'istoire  temps  qu'en  tous  Mens  acreste, 
GLiege  1739  (Scheler:  lever  la  crßte,  bildl.  s'enorgueillir,  se  distinguer). 

aeroire,  vb.  trans.,  mit  sächl.  Obj.:  jmdm.  etw.  darleihen,  anvertrauen 
(auc.  r.  a  auc.)':  ...  D'amour  qui  vint  tnon  euer  aeroire  Sourquidier  (Dat.), 
cui  mal  fait  a  croire,  BCond.  134,  25. 

mit  pers.  Obj.:  'gläubig  werden  an':  Diverses  famines  ...  a  suffert  li 
pobles  de  Rome,  ancis  qiie  li  homen  acreessant  ynon  Deu  (antequam  unum 
colerent  homines  Deum;  in  d.  ümgbg.  aorar),  Afr.  Pr.-Leg.  M  38,  11;  'Ver- 
trauen schenken':  ...,  S'ai  tant  acreu  Sorquidier,  Ken  quidant  m' a  fait  sor- 
quidier,  BCond.  134,  27. 

abs.,  bildl.  auch:  Et  s'il  n'est  tiex,  il  reut  aeroire  Sour  fame  trop  aparam- 
ment  (Scheler:  faire  monnaie,  tirer  profit  de  sa  reputation),  JCond.  II,  118, 
48;  Gar  ne  voudront  aeroire  pas  A  ton  vivant  sezir  ton  trespas,  Watr.  405, 
258;  Ki  seur  tel  plege  acroit,  tenir  Doit  bien  couvent,  AdHalle  XX,  6,  8. 

aeroissement,  s.  m.,  auch:  et  li  ectges  avenir  desirra  qu'il  (sc.  li  bien 
de  ton  regne  et  de  ton  euer)  soient  pardurablemetit  estetidu  par  aeroissement 
(lat.  extendi  in  perpetuum),  JMeun,  ArtChev.  135. 

'Vergrößerung':  Vent  livres  toux  sex  te  donrray  Pour  le  bien  et  Vavance- 
ment  De  ta  fille  en  accroisseynent  De  son  mariage  (Heiratsgut),  Mir.  ND.  35, 381. 

acroistre,  vb.  intr.,  auch:  Et  eti  conquierent  lox  et  gloire;  De  meu%  en 
meux  tax  jors  acroissent,  Prior.  Veg.  3685 ;  S'il  entandissent  ne  säussent  Que 
lor  enemi  acräussent,  Prior.  Veg.  4156;  quant  savoient  Que  lor  enemi  acrois- 
soient,  ib.  5386;  Beneure  est  l'eritage  qui  pour  habondance  de  hoirs  n'apetice 
point,  mais  aeroist.  Mir.  ND.  XXV,  S.  122;  vo  pueple  ades  acroste,  GLiege  8798. 
trs.,  'mehren'  auch:  Champion,  charreton  et  cacheeur  sont  constumier  de 
hanter  et  de  ehascun  jour  acroistre  lor  ars  et  leur  science  pour  un  peu  de  loier 
ou  pour  grace  dou  ptieple  (artes  suas  aut  servare  aut  augere),  JMeun,  ArtChev. 
S.  67;  Champion  et  li  eharretier  Sont  ehascun  jor  per  costumanee  Curioux 
que  il  lor  sciance  Acroissent  . . .,  Prior.  Veg.  3669. 

'erweitem,  vergrößern':  ne  quidcrent  qu'il  fust  nulle  phts  grant  gloire  que 
de  fomler  norelles  cites  ou  de  mettre  lor  nons  as  cites  que  li  autre  avoient  ja 
fondees  en  avroissant  les  (sub  quadam  amplificatione),  JMeun,  ArtChev.  S.  134 ; 
. . .  En  lor  tox  jors  alargissant  Et  en  lor  tox  jors  acroissant  (sc.  les  citex), 
Prior.  Veg.  8538. 

'fördern,  stärken':  Et  si  dois  tu  d  Dieu  de  dette,  Que  pour  toi  voll  la  mort 
souffrir,  Ton  corps  presenter  et  offrir  Pour  sa  loi  deffcndre  et  acroistre, 
JCond.  I,  374,  103;  Dieu  grace  lui  doint  (dem  Kaiser  Constantin)  Qu'il  le 
puist  et  eroire  et  cognoisfre  Et  la  foy  crest'ienne  acroistre  Et  avoir  en  dilec- 
eion,  Mir.  ND.  20,  22. 

Archiy  f.  n.  Sprachen.     140.  q 


98  Bemerkungen   zu   'Adolf   Toblers   Altfranzös.   Wörterbuch 

bildl.  'wachsen  lassen,  schwellen  lassen':  Vostre  euer  eu  joie  acroissiex! 
Mir.  ND.  16,  914. 

refl.  bildl.  'emporwachsen,  sich  erheben':  Li  ancien  qui  se  voloient  Cou- 
noistre  et  qui  par  tout  aloicnt  Pour  yaus  en  grant  houneur  acroistre,  JCond.  II, 
217,  15. 

**aeropole,  s.  f.,  Bien  temprement  l'aront  a  Romme  en  la  trepolle  {Schelei 
schlägt  vor  ew  l'acrepolle),  GLiege  2010. 

acrüir,  v.intr.,  auch  Quant  Olivier  ne  truve,  Heuer  li  acrüist,  GLiege  18915. 

*aete,  s.  m.,  'Urkunde,  Protokoll,  Akte',  s.  A.  DelbouUe,  ßev.  d'hist. 
litt,  de  Fr.  I,  488  (14.  J.). 

**aetivement,  adv.,  s.  Delboulle,  ib.  I,  488  (14.  J.). 

*aetuellement,  adv.,  s.  Delboulle,  ib.  I,  490  (14.  J.). 

acueil,  s.  m.,  auch:  Et  jo  la  pex  füir  voll,  Dcsque  seient  de  im  aeoil 
(einhellig),  Oxf,  Ps.  S.  XXX;  hei  ac.  (freundliches  Entgegenkommen,  liebens- 
würdiges Wesen  u.  dgl.)  auch:  Et  s'est  (sie)  de  si  fres  bei  acueil  Que  tox, 
li  mon%  l'en  doit  prisier,  Gace  Brul.,  Chans.  LIV,  12;  De  quoi  dont  amour 
en  aqtiel,  Se  fause  gent  de  biel  aquel  Font  d'amer  par  anior  semblant?  BCond. 
124,  144;  Cuer  sans  venin  et  sans  orguel,  De  biel  apiel,  de  biel  aquel,  ib.  280, 
340;  eile  le  met  en  td  esquel  Par  biel  samblant,  par  biel  aquel  Que  petit  ei 
petit  l'atrait  A  s'amor,  ib.  342,  2157 ;  faire  auc.  de  bei  acocil,  Lapid  190  in 
Rom.  38,  60;  par  ton  bei  aceueil  Si  grant  griefte  en  moi  recucil  Que  pour 
morir,  Froiss.  Poes.  I,  7,  188;  Et  si  le  (f.)  troeve  aussi,  quant  il  s'avance, 
De  bei  aceoeil  et  de  belle  acointance,  ib.  I,  66,  460;  ...  Äs  tu  veti  le  bei  ac- 
eueil De  ia  bele,  ib.  III,  28,  907 ;  De  mon  mal  ...  Je  Ji'en  sf-ai  qui  encouper 
Fors  r aceoeil  Don  bei  aceoeil,  Dame,  de  vostre  vis  der  (Liebreiz  des  Gesichtes), 
ib.  II,  259,  91 ;  persönl.:  Moidt  ai  le  euer  du  venire  ire  Dont  j'ai  Bei  acueil 
adire,  Rose  3776;  Humilites,  Bei  acueil  et  Liece  (als  amoureuses  broquetes), 
Froiss.  Poes.  I,  65,  438;  Sa  biaute  est  li  arehiere  Bei  acueil,  ib.  II,  275,  199; 
doux  ac.:  eile  me  tarde  Son  dotdc  aceueil,  Froiss.  Poes.  I,  151,  2194;  Hz 
tourtient  leurs  yeulx  et  doulcement  s'entreregardcnt  par  un  doulz  acoeul  qui 
semond  aux  cuers  des  deux  amaiis  qu'ilx  s' entretiengnent  et  perseverent  a  la 
continuaeion  de  leurs  entreprises,  Pr.-Clig.  288,  43. 

'Angriff  auch:  Froiss.  Poes.  II,  259,  90,  s.  vorher;  Car  il  n'est  coers  que 
7ie  fiere  Son  acueil,  ib.  II,  275,  201. 

'Anfügung,  Anschlingung':  (der  Henker  zu  der  zum  Feuertod  Verurteilten) 
Dame,  a  genoulx  ci  vous  mettex!  Or  g.a!  Her  par  les  eostex  Ä  eesfe  estaehe  ci 
vous  vueil,  Et  puis  referay  un  acueil  Par  le  col  et  par  la  poitritie,  Ains  que 
je  cesse  mais  ne  fine  Ne  que  plus  face,  Mir.  ND.  26,  1009  (Bonnardot:  lien, 
noeud,  boucle). 

acüer,  vb.  trans.,  auch:  eile  {doleur)  acüe  les  reugmes  et  le  fluis  des 
humeurs,  Mondev.  Chir.  1267. 

bildl.  nach  Scheler:  Erament  le  fait  prendre  et  puis  l'evesque  aetiCf] 
GLißge  3006  (traiter  avec  vivacite,  rudoyer). 

*acüite,  s.  f.,  'Spitzigkeit;  Schärfe':  l'acuite  du  coude,  Mondev.  Chir.  271.| 
l'aeuite  de  l'orine,  ib.  455;  pour  l'acuite  et  l'adustion  du  sanc  et  de  l'hwneur,'' 
ib.  1568. 

aeulverter,  vb.  trans.,  'knechten',  auch:  Car  puis  que  fame  fait  home: 
aeuverier  Et  pere  et  mere  li  fait  entroublier  Couxins  et  freres  et  ses  amis 
charnex,  De  la  gourpille  vox  doit  bien  ramembrer  Qui  siet  sox  l'aubre  et 
weult  amont  haper,  AmAm.  568. 

acurer,  vb.  trans.,  'Sorge  tragen  für,  sich  bekümmern  um'  auch:  et  si 
la  ehose  acure,  GLiege  23268;  Portant  qu'il  ne  troroit  prinche  qui  point 
acure  Le  combattre  avec  ly,  ib.  II,  6333 ;  Quant  Joha?i  l'entendit,  la  ehoise 
fort  acure,  ib.  II,  7481 ;  de  c.  Inf.:  et  en  son  nom  acure  De  faire  a  roi  Tremus 
wie  pais  bin  mäure,  ib.  2780. 

**ac«s«  itewr,  8.  m.,  8.  A.  Delboulle,  Revue  d'hist.  litt,  de  Fr.  1, 487  (14.  J.). 


i 


Bemerkungen   zu   'Adolf   Toblers   Altfranzös.   Wörterbuch'  99 

**acuse,  s.  m.,  s.  A.  Delboulle,  ib.  (14.  J.). 

adamasK,  adama nt,  3.  m.,  auch:  E go,  saciex,  veraiernent,  Qu'om  l'adamas 
hritist  et  fent  Par  le  sanc  de  buc  et  de  plum,  . . .  signeße  graut  raisun, 
Thäun  Best.  2894;  E  d'icest  adcvmas  nus  dit  Uns  prophete  en  sun  escrit  Qua 
■il  Vit  un  barun  [estant]  Dedesur  le  [mur]  d'äimant,  Em  en  sa  main  l'ada- 
mant  out  E  en  mi  im  pople  estout,  ib.  2923;  Adamas  ad  de  fer  culur  Et  de 
cristal  la  resplendur,  Lib.  de  natura  lapidum  (Rom.  38,  496)  5;  l'en  trove 
adamant  De  desur  le  munf  d' Or'iant  (ib.  498)  19. 

adenter,  vb.  trans.,  'umstürzen',  auch  ad.  aue.  a  la  terre:  Tost  fust  a  la 
terre  adentex  Qui  boire  i  vousist  mauyre  soi  (sc.  m.  Bonne  Volente),  Watr.  105, 
130;  Avant  a  la  terre  l'adente  (Imperat),  Mir.  ND.  9,  1173. 

rfl.,  übertr.  auch:  Mondes,  biaus  dehors,  lais  dedens,  Male  morssure  mort  de 
itciis  Qui  pour  toi  mordre  a  niort  s' adente,  Watr.  157,  66  (Scheler:  s'attacher). 

aderer,  vb.  rfl.,  'sich  anschließen':  tous  les  confederes  et  allies  de  nous  .. . 
qui  auront  desclare  se  rouloir  fermement  adherer  a  ladite  Concorde,  Journ. 
d'un  Bourg.  de  Par.  1420,  bei  Buchon,  Chrou.  et  Mem.  I,  647  a. 

adescr,  vb.  intr.,  von  fleischl.  Berührung  auch,  mit  dem  Zusatz  chctrnel- 
ment:  Ne  ja  ne  quier  a  vous  charnclment  adeser,  Alexius  Q  32  d. 

vb.  trans.,  mit  en,  'jmdn.  an  einer  Stelle  berühren,  treffen'  auch :  Ne  l'ad 
pas  en  ckar  adese  (bei  dem  Hiebe),  Ipom.  4129;  ebenso  4735;  Mes  ne  l'ad 
en  char  adese,  ib.  9596;  fleischlich  auch:  (der  König  will  seine  Tochter  hei- 
raten; sie  sträubt  sich:)  ...Et  oultre,  si  fault  que  f  assemble  Arec  vous,  quant 
serons  ensemble,  Conment  arex,  char  si  osee  Que  de  vous  je  soie  adesee  Gonme 
il  est  de  conmun  usage  Es  assemblex  en  mariage?  Mir.  ND.  29,  318;  über- 
einstimmend ib.  37,  1126. 

atic.  r.  desus  auc.  r.:  Sa  inain  desus  le  livre  adoise,  Froiss.  Poes.  I,  107,  703. 

adestrer,  vb.  trans.,  auch:  dextro,  mener  a  dextre,  adexfrer,  Cath.  Lille  54. 
Inf.  sbstvt.:  Et  niaint  autre  grant  prince  furent  a  l'adestrer,  BComm.  67. 

rfl.:  droit  a  la  crois  s'adieste,  GLiege  10085  (Scheler:   se  placer  ä  c6t6). 

adevaler,  vb.  intr.,  Inf.  als  Sbst.:  Gar  premiers  en  l'adevaler  Ne  fist  fors 
en  dolour  aler  (Gegensatz  en  son  remont),  BCond.  360,  2636. 

**adevancenient,  s.  m.,  'Vorangehen,  Vorrang':  je  (sc.  N.  D.)  suis  pre- 
veüe  estre  creee  par  l' adevancemoit  de  dignite,  si  conme  il  est  dit  Sapieneie 
po;  Prior  omni  creata  est  sapiencia  dignitate:  La  premiere  de  toutes  choses 
fu  sapience  creee  en  dignite,  par  laqueÜe  Marie  preceda,  Mir.  ND.  26,  S.  180. 

adevajicier,  vb  trans.,  14.  Jhdt.  auch:  Potir  la  pucelle  adevaneier,  Froiss. 
Poes,  in,  194,  1868;  tant  s'avan^a  Que  la  pucelle  adetJanga,  ib.  UI,  195, 
1884;  15.  Jhdt.:  il  ist  de  sa  maison  et  pour  adevancier  Erec  s'en  va  par  les 
adresces  tont  seul,  Pr.-Erec  276,  31. 

adevinaille,  s.  f.,  sans  a.,  auch  GLiege  5983  (Scheler:  sans  vaine  sup- 
position). 

adevinemcnt,  s.  m.,  'bloße  Vermutung,  Erdichtung':  On  le  seet  bien 
eertainemefnt,  N'i  a  point  d'adecinement,  JCond.  II,  182,  48. 

adeviner,  vb.  intr.,  'Vermutungen  anstellen,  raten':  Qant  Franpois  l'ont 
veu,  cJiascuns  i  adavine,  Li  uns  dist  qu'  il  est  Saisnes,  li  autres  el  destine, 
ChSax.  1620;  //  poroit  moult  bien  estre  Qu'en  aultres  mains  venroit  la  lettre. 
Et  je  ne  vodroie  a  nul  foer  Qu'on  adevinast  sus  mon  coer,  Froiss.  Poes.  I, 
112,  892;  Et  ki  adeviner  sara,  Si  s'avise,  s'il  veut,  commentLi  nons  i  est 
entirement,  BCond.  373,  3014;  Ses  tu  ja  bien  adeviner  (in  die  Zukunft  sehen)? 
Adam  443. 

'sich  ausdenken,  vermuten',  auch:  Ensi  com  mes  cuers  adevine,  Li  que>is 
vne  volra  marier,  JehBlonde  1922. 

'sich  etwas  erfinden':  Ch'ai  ge  Dit  pour  itant,  se  ja  devine  Ne  devins  dist 
que  j' adevine,  Que  je  li  voil  moustrer  a  voir  . . .,  Watr.  393,  72 ;  'ins  Gelag 
hineinreden':  Princes  puissans  de  haute  orine,  Se  tu  crois  fol  qui  adevine, 
Tki  en  es  en  fin  deceus,  Watr.  142,  158. 


100  Bemerkungen  zu   'Adolf   Toblera   Altfranzös.    Wörterbuch' 

'Vermutungen,  Betrachtungen  sich  hingeben,  sinnen':  Ainsi  devise  et  ade- 
vine  Toutes  Ics  nuis  dedans  son  lif,  Si  pense  ercnt  si  delit,  Manek.  1666. 

'böse  Reden  führen  über  j.',  auch:  Et  sour  les  femmes  adevinent  Et  les 
acusent  et  diffame^it,  JCond.  I,  207,  130. 

trans.  'weissagen'  auch :  Uns  naifis  . . .  Qui  adevinoit  sans  mentir  Co  qui 
estoit  a  avenir  A  cels  qui  illuee  trespassoietit,  Ferg.  100,33  Var.;  pour  ce  c'on  li 
toli  La  paternostre  qui  li  adevina  Qu'avec  les  angles,  in  gloria  celi,  Sunt 
hodie  dolus  et  rapina,  Watr.  307,  337. 

'sich  ausdenken,  Mutmaßungen  anstellen;  erraten'  auch:  Or  entendes  et  je 
dirai  ^on  que  j'en  adcvhierai,  Car  jou  n'en  sai  ne  tant  ne  quant,  BCond. 
352,  2427;  Ne  stii  pas  eil  qui  l'adevine  (erfinden),  JCond.  II,  186,  161;  tnie 
?ie  l'adevine  (ich;  Scheler:  Sinn:  c'est  verite  certaine),  GLiege  38892;  11, 
8330;  Sans  riens  adeviner  Je  le  puis  bien  savoir,  Froiss.  Poes.  lU,  96,  31; 
Asses  bien  m'en  examina  Et  de  moi  tant  adevina  Que  fort  estoie  cnamoures, 
Froiss.  Poes.  I,  179,  3129;  Et  s'adevine  je  l'avoie  (den  Namen),  Qui  le  me 
poroit  tesmoignier?  ib.  I,  239,  841;  Obj.  in  Form  eines  Satzes:  Voir  se  dist 
eil  qui  adevine:  En  grant  amour  gist  grant  häine  (der  vermutet),  Manek.  3542; 
Car  caseuns  set  et  adevine  Que  li  rois  a  la  Manekine  (Gl.  penser),  Manek.  2692; 
Car  vous  ne  poes  bonnement  adeviner  7ie  savoir  quel  cose  il  me  faut,  se  je 
ne  le  vous  di,  Froiss.  I,  S.  242;  On  pe^iseroit  asses  anQois  Con  adevinast 
pour  le  quele  Tai  ores  mis  ce  nom  apele,  ib.  I,  241,  892;  Par  vertu  noble  et 
divine,  Lois  jiCise  (Voc),  or  adevine,  Comnient  et  par  quel  doctrine  Cils  qui 
le  monde  enluminc  . . .  Ressuscita  dou  tombiel,  ib.  II,  157,  5299. 

mit  pers.  Obj.:  'durchschauen,  begreifen':  et  dist  qu'ilh  n'adevine  l'emjje- 
reire  Henry,  GLiege  37825. 

(**adevoques),  (der  Kaiser  Dacien:)  Dg  me  voir,  dg  sans  contredit:  Ou 
as  tu  ces  tresors  muciez  Ne  qui  est  celi  qui  laissiez  Les  t'a?  Di  voir!  . . . 
Respons  tu  en  ceste  maniere?  E  semble  que  de  moy  te  moques.  Acerfes  di, 
ou  adevoqucs  Saras,  par  Mahonunet,  tantost  (läßt  ihn  darauf  einsperren).  Mir. 
ND.  38,  1394.  Ein  unwahrscheinliches  Wort.  Bonnardot,  Glossar  zu  d.  Mir. 
ND.,  meint,  ce  mot  forge  sans  doute  en  langage  sarrazinois  peut  se  traduire 
par  'puni,  maltraite'.  Ein  saraz.  Wort  ist  hier  aber  unbegründet,  und  gegen 
die  angenommene  Bedeutung  spricht  saras,  das  ja  nicht  zu  esti-e,  sondern  zu 
savoir  gehört.  Der  Wortlaut  des  Verses  ist  auch  an  anderer  Stelle  nicht  in 
Ordnung.  Auf  die  scheinbare  Aufforderung  Acertes  di  bleibt  nämlich  die 
Antwort  aus;  der  Kaiser  begnügt  sich  vielmehr  mit  der  ihm  vorher  erteilten, 
beurteilt  sie  und  straft  sogleich  für  dieselbe.  Also  war  Acertes  di  ursprüng- 
lich unmöglich  eine  Aufforderung.  Saras  tantost  'du  sollst  sogleich  wissen 
(an  dir  erfahren)'  weist  auf  den  Weg  zur  Urgestalt  der  Zeile.  Es  setzt  vor 
sich  einen  mit  'ob',  sc,  eingeleiteten  indirekten  Fragesatz  voraus:  Acertes  di 
ist  also  fehlerhafte  Überlieferung  für  S'aeertes  di  'ob  ich  ernsthaft  rede,  es 
mit  meiner  Frage  Ou  as  tu  . . .  ernst  meine'.  Von  acertes  seinerseits,  in 
Verbindung  mit  ou  'oder',  fällt  Licht  auf  adevoques:  in  diesem  verbirgt  sich 
offenbar  das  Gegenteil  von  acertes,  'im  Spaß',  adevoques  ist  somit  offenbar 
eine  Entstellung  von  a  demoques,  gleichbedeutend  mit  älterem  en  oder  par 
mocois  (vgl.  im  besonderen  Jou  ne  sai  se  vous  le  dites  en  moeois  u  a  eliiertes, 
St.  Graal,  s.  God.)  und  seiner  Bildung  nach  eine  Ableitung  aus  dcmoquier, 
für  welche  moque  aus  moquier  das  Muster  abgab;  das  -s  ist  das  adverbiale. 
Die  Überlieferung  ist  demnach  so  einzurichten:  S'a  ccrtes  di  ou  a  demoques, 
Saras,  par  Mahomniet,  tantost. 

* adherent,  adj.,  'anhangend':  les peuples  d'iceux  royaumes  adhet'ents  a  ladite 
couronne,  Journ.  d'un  Bourg.  de  Par.  1420,  bei  Buchon,  Chron.  et  Mem.  I,  647 a. 
adirer,  vb.  trans.,  part.:  Ca  este  bien  hoinme  adire,  C'on  ne  scet  qu'il 
pot  devenir.  Mir.  ND.  36,  1773;  Ha!  tresdoulx  Dieu  ...,  je  te  lo  et  mercy, 
Quant  tu  las  ainsi  converti  Et  si  de  ta  grace  inspire  Qu'il  veult  du  nionde 
estre  adire  Pour  toy  trouver  (abgeschieden),  ib.  9,  925. 


Bemerkungen  zu   'Adolf   Toblers   Altfranzös.    Wörterbuch'  101 

•  *arli(enient,  s.  m.,  '(anat.)  Ansatz,  Fortsatz':  les  bestes  sans  chief  qui 
ont  yex  si  com  le  limas  les  ont  sus  aueuns  additemens,  Mondev.  Chir.  134; 
271;  383;  aditement  rosfral  {^(\.dtS.t&mQTi.i\va\.  rostrale,  Ellenbogenhöcker)  ib.  522. 

*adjaccnt,  adj.,  'angrenzend'  les  parties  adjaccntes  de  l'ulcere,  H.  de 
Mondev.,  Chir.  1677. 

adjugirr,  vb.  trans.,  'zusprechen'  auch:  ai?is  yrons  (Sbj.  die  Teufel) 
Porter  la  (die  Seele)  devant  le  vray  juge,  Si  dirons  qu'il  la  nous  adjmje  Com 
nostre  acquise,  Mir.  ND.  3,  972;  (Berengier:)  (Gern  will  ich  mit  einem  von 
beiden  kämpfen)  mais  que  me  dites  (ihr,  der  Kaiser)  Pour  le  qucl  d'eulx  je 
seraij  qidttes  Avoir  affaire.  (Kaiser:)  Au  quel  de  vous  dcux  cest  affaire  Ad- 
jiujercnj?   (Ostes:)  Sire.  par  droit  Je  le  feray,   Car  c' est  mon  fait,  ib.  28,  1767. 

'entscheiden,  bestimmen':  il  leur  prie  (der  Kaiser  die  Ärzte)  qu'ilx  lui 
dient  et  adjuge^it  du  mal  de  sa  femme  la  conelusion  (den  Ausgang),  Pr.- 
Clig.  329,  9 ;  Toi,  fortune,  adjuge  tos  le  Heu  de  tumbres  ouqucl  je  reffonderay 
par  longue  espace  de  pleurz  et  de  cris  ceste  grant  perie  pour  moy  avenu, 
ib.  334,  8;  mit  que  c.  Ind.:  ...,  si  adjugent  et  deposent  a  la  disposicion  qu'ils 
voient  ou  Corps  de  ce  eheualier,  qu'il  a  bomie  faeon,  qu'il  est  de  bon  kastei 
et  qu'il  est  bien  pour  empörter  Vespriuier,  Pr.-Erec  257,  38;  par  leur  sentetice 
il  est  briefment  adjuqie  qu'elle  doit  auoir  Vhonneur  du  cerf,  ib.  264,  14; 
267,  22;  293,  37;  Pr.-Clig.  287,  20;  mit  que  c.  Conj.  (final):  (le  roi)  . . .  adjuge 
qu'ilx.  (die  Gefangenen)  soient  atachies  aux  queues  de  chevaulx  par  pies  et 
par  mains  . . .,  Pr.-Clig.  295,  15. 

auc.  de  ...,  'verurteilen  zu':  0  que  chetiue  femme  me  puis  je  repputer, 
...de  quel  mort  serai  je  adjugie,  de  quelle  penance  serai  je  chergie  pour  la 
recompensacion  de  ce  dur  mesehief  par  m,oy  mesrties  aduenu?  Pr.-Erec  283,  41. 

* administr ateur , &.m.,?,. K.'DqVoov\\q,'Rqy.  d'hist.litt. deFr.I,490(13.J.). 

adpber,  vb.  trans.,  mit  pers.  Obj.:  '(ärztlich)  jmdm.  Salben  aufreiben': 
Lors  prellt  eile  ses  ongnemens  desquelx  eile  adoube  Fenice  le  plus  souef  quelle 
pocult,  Pr.-Clig.  334,  39. 

rfl.  bildl.:  Adoubex,  vous  de  tiex  atours  Que  cilz  bons  princes  s'adouba. 
Vaine  gloire  ainx  nel  destourba,  Faus  delix  ne  vilains  pechiex,  Watr.  230,  1004. 

** adele,  part,  'behauen':  Ki  ...  mesist  m'al  col  mun  grant  eseu  bocler, 
E  en  mun  poign  mun  espie  adole,  Wilh.-Lied  1159. 

adoler,  vb.  rfl.,  d'auc.  r.  auch:  Pere,  trop  me  vois  merveillant  Que  de 
mmi  bien  vous  adolex,.  Je  tien  que  pere  est  afolex.  Qui  du  bien  son  fil  se 
courrauce,  Mir.  ND.  21,  1019;  Sanx.  cause  bien  vous  affolex.  Ne  see  de  quoy 
vom  adolex  (oder:  wieso,  warum),  ib.  23,  1858. 

.      adole,   auch:   Li  sien  corps  est  trop  adolex  Et  pour  voir  sanx  cause  n'est 
pas,  Mir.  ND.  32,  402;  que  fera  nwn  adolle  euer?  Pr.-Clig.  334,  5. 

V.  Sach.:  'trübselig,  freudlos,  elend':  Jaulier  des  prisons  de  Pensee,  Avex 
votis  le  commandement  De  traitter  ainsi  rudement  Les  povres  cueurs  en  ceste 
annee'?  ...  Dedetis  la  chartre  adoulee  Tenir  les  deussiex  doulcement,  Rond. 
V.  TignonvUle,  bei  Ch.  d'Orl.  (ed.  d'Heric.)  II,  253. 

adoner,  vb.  trans.,  'zulassen,  ertragen':  Car  qui  boin  grain  pirent  et  mes- 
sonne,  Quant  li  tans  (Jahreszeit)  l'adonne  et  fiiisomie,  II  emploie  bien  sa 
joneehe,  Froiss.  Poes.  II,  192,  1036;  bien  l'adonnoit  la  Saisons,  ib.  11,  207, 
427 ;  Et  bien  l'adonnoit  la  saisons  Qu'il  fuissent  en  esbatement,  ib,  II,  339,  7. 
8.  femer  Scheler,  Gl.  zu  Froiss.  Poes. 

je  puis  bien  dire  qu'il  (sc.  vostre  euer)  est  mien  et  du  mien  pouex  ausi 
jugier  qu'il  est  plus  que  rostre  par  lex  soudaines  et  bonnes  acointanees  dont 
amourx  les  a  anexes  et  tellcmoii  addonncx  ensambre  que  le  mien  est  a  vous 
et  le  vostre  a  moy  (einander  überlassen),  Pr.-Clig.  324,  35. 

a.  son  euer  a  ce  que  c.  Conj.:  Se  nus  a  ce  son  euer  adone  Ke  miex  aint 
une  grise  none,  Ne  vous  en  veuillies  ja  doloir,  JCond.  11,  37,  1199;  a  c.  Inf.: 
pour  example  donner  A  ceulx  qui  voudront  adonner  Leurs  cuers  a  lor  oevres 
poursivre,  ib.  11,  298,  290. 


102  Bemerkungen   zu    'Adolf   Toblers   Altfranzös.   Wörterbuch' 

rfl.:  a  auc,  auch:  0  comme  est  l'amour  d'une  femme  bonne  et  halle  sur 
cellui  a  qui  eile  s'adonnc,  Pr.-Clig.  323,  7;  a  auc.  r.  auch:  A  mal  fait  donc 
ne  t'adonoies  (Cj.  Pr.),  Ly.  Ysop.  3329;  lä  s'adonent,  BCond.  116,  248  Var.; 
Mais  la  u  li  siens  cucrs  s'adonne,  S'amour  otroie  et  abandonnc  Que  ja  ne 
laira  pour  casti,  JCond.  I,  338,  1115;  a  ce  votts  vons  adonneK,,  Mir.  ND.  36, 
1264;  A  l'estoire  dou  tout  m'adonne,  Froiss.  Poes.  I,  309,  3001;  a  tous  solas 
s'adonne,  ib.  11,  417,  J^XXV;  se  sa  voulente  s'i  addonnc,  Pr.-Clig.  328,  35; 
a  ce  que  c.  Ind.:  Li  quens  Bauduvins  s'ado?ma  A  ce  que  le  souper  donna  De 
large  euer  et  liement,  JCond.  I,  199,  1001 ;  a  ce  que  c.  Conj.:  il  se  doit  adonner 
A  ce  que  le  bien  li  enorte  Et  que  le  mal  li  descnorte,  ib.  11,  275,  242;  a  c. 
Inf.:  Se  tes  euers  a  mirer  s'adonne,  JCond.  I,  95,  126;  Malmreuse  est  la  per- 
sonne Qui  a  vous  servir  ne  s'ado7ine,  Mir.  ND.  26,  68;  Qrandement  me  sui 
adonnes  A  regarder  de  chief  ou  cor,  Froiss.  Poes.  II,  167,  188. 

adone,  part.  als  adj.  'hingegeben,  beflissen':  Soieis  plus  adonneis  a  vail- 
lier  que  a  dormir,  Cato  43  (Z.  f.  R.  Ph.  19,  86);  Ce  sont  les  langhcs  adou- 
nees  Au  mal  et  au  bien  contredites,  BCond.  75,  360 ;  La  estoie  moult  adonnes 
A  moi  deduire  et  solacier,  Froiss.  Poes.  II,  136,  4594. 

*adormir,  vb.  rfl.,  'einschlafen':  Los  serpenx,  cid  ...  mos  sire  sainx 
Matheus  faisoit  adortnir  (lat.  serpentes  . . .  convertebat  in  somnum,  prov. 
aquest  los  faxia  adormir),  Afr.  Pr.-Leg.  J4,  6;  (obdormire)  ib.  10,  6  (God.'s 
erstes  Beispiel). 

adosser,  vb.  trans.,  'im  Rücken  von  etw.,  einer  Sache  lur  Seite  etwas 
anbringen':  Et  puis  apres  per  lor  prouace  Tote  la  terre  du  fossey  Ont  tantost 
desus  adossey  (am  Rande  aufgeschüttet).  Prior.  Veg.  1744;  Moult  ajai  passey 
longuemant  Que  nuns  ne  fit  enforcemant  D'environ  l'ost  de  grant  fossex  Ne 
terraux  delex  adossex,  ib.  5962;  Tant  que  il  fönt  un  grant  fossey  A  crate 
(crete)  desus  adossey,  ib.  5988. 

'sich  an  jms.  Rücken  lehnen,  an  jmdn.  stoßen':  Et  li  autre  per  de  derriere 
Bedoivent  avoir  la  matiere  De  quoi  il  facent  les  fossex,  Quant  il  les  aront 
adossex  (lat.:  reliqui  post  ipsos  ductis  fossis  muniunt  castra,  JdeMeun:  et  li 
autre  doivent  faire  les  fosses  derrier  yaus,   ArtChev.  34),   Prior.  Veg.  1774. 

adosse,  auch:  Mes  davons  leus  estroix  alire  (zum  Kampfe)  Et  de  palux 
et  de  fossex  Einpauchiex,  d'arbres  adossex  Ou  de  rotes  (d.  i.  roistes)  places 
grifaignes,  De  vaulees  ou  de  montaignes  (oder  adossex,  steht  zu  empauchiex 
parallel ;  JMeun :  Hex  estrois  et  empeesehiex  ou  de  fosses  ou  de  palus  ou  d'arbres 
ou  de  7no7itaignes,  ArtChev.  96),  Prior.  Veg.  5590. 

adoucier,  vb.  trans.,  auch:  blandior,  adouchier,  bieder,  Cath.  Lille  26; 
Or  avex  adoucie  m'ire,  Julian  558 ;  Car  femme  deboinnaire  et  douce  Les  maus 
de  son  a^ny  radouce,  JCond.  I,  353,  1604 ;  A  Julien  le  euer  adouce  S'alaine 
sovent  et  ades,  Julian  4624;  la  surtes  l'en  est  (der  morsuretes)  tant  douce 
Ken  mordant  le  euer  li  radouce,  BCond.  308,  1171 ;  s.  femer  Scheler,  Gl.  zu 
Froiss.  Poes. 

adoucir,  vb.  trans.,  'beschwichtigen'  auch:  Or  me  fist  (sc.  MorpMus) 
ce  que  li  requis,  Dont  moidt  adouci  mes  anuis,  Froiss.  Poes.  I,  51,  1709. 

mit  pers.  Obj.:  'sanft  machen,  zähmen':  ...  le  feu  (Amors)  qui  est  si  mer- 
veilleux  Qu'il  adoulcist  les  orgueilleux  . . .,  Froiss.  Poes.  III,  60,  244. 

*adougier,  part.  als  adj.:  'schlank':  Oent  ot  lou  cors  (König  Baldus), 
bien  fait  et  adougie,  Prise  de  Cordres  2315. 

adreee,  s.  f.,  v.  Pers.:  'Wegweiser,  Führer':  Gele  qtd  est  la  droife  adresce 
Qui  tous  les  pecheors  adresce,  (in  einer  Hs.  fortgesetzt:)  Gele  qtd  est  la  droife 
voie  Qui  toux  les  devoiex  ravoie  (die  Jgfr.  Maria),  Ruteb.  fed.  Jub.)2  in,  284, 
1091;  Sire,  je  te  pri  htünblement,  Qui  es  des  forvoiex  adresce,  Que  vueilles 
ceste  'pecherresce  (mich  S.)  D'enfer  tencer.  Mir.  ND.  16,  351;  Vierge,  mere  au 
doulx  roy  celestre.  Des  desvoiex  adresce  et  port,  ib.  26,  686;  De  jonece,  Tant 
qu'en  foiblece,  A  este  (sie)  voie  et  adreee  De  tous  biens  jjIus  qu'otdtre  bort, 
Froiss.  Poes.  H,  288,  122. 


Bemerkungen   zu   'Adolf   Toblers   Altfranzös.   Wörterbuch'  103 

'Richtung,  Bestimmung,  Ziel':  Ou  est  de  nostre  cheminer,  Barne,  l'adresce? 
Jlir.  ND.  2,  848;  Makon  vous  gart,  biau  pere  hermite:  Adressiex  moy.  — 
Quelle  est  l'adresce,  amis?  De  quoy  Avex  mestier?  ib.  21,  201;  que  Diex 
Tiengne  vostre  euer  en  leesce  Et  vous  amamt  a  bonne  adresce  Et  nous  si 
face,  ib.  27,  1437. 

avoir  adrece  a  auc.  r.  'den  Weg  zu  etwas  finden,  zu  etw.  gelangen': 
Conment  peusse  avoir  adresce  A  ce  qu'au  filx  du  roij  parlasse?  Mir.  ND.21, 
564;  estre  en  l' adrece  de  c.  Inf.  'sich  anschicken  etw.  zu  tun':  Gabriel,  soions, 
je  votis  prg,  De  chanter  d'accort  en  l'adresce,  ib.  27,  1286;  metre  auc.  en 
l'adrrce  de  c.  Inf.  'jmdn.  anleiten  etw.  zu  tun':  Et  de  ta  sainte  voidente  Faire 
m^  mcx  (Imper.),  danie,  en  l'adresce,  ib.  10,  341. 

en  l'adrece,  'in  gerader  Richtung,  auf  geradem  Wege,  geradeswegs':  sackiez 
en  voie  De  retour  est,  et  (u.  zwar)  en  l'adresce,  Le  roy;  quanqu'il  puet  se 
radresce,  Mir.  ND.  34,  1240. 

adrecement,  s.  m.,  'Richtung'.  Oxf.  Ps.  118,  7  eher  'Geradheit  i.  übertr. 
Sinne,  Rechtlichkeit,  Ehrlichkeit'  (gr.  tvd^iTTj^,  Prosafassung  ibid.  S.  341;  en 
droiturier  euer);  desgl.:  Tu  aprestas  adreceynenx;  jugement  e  justise  en  Jacob 
tu  fesis  (tu  parasti  directiones:  iudicium  et  justitiam  in  Jacob  tu  fecisti,  gr. 
Ev&vTT-s),  Oxf.  Ps.  98,  4;  Adreseement  aparillas,  En  Jacob  justice  fait  as, 
Reimps.  ib.  ö.  327. 

'Wiedergutmachung'  auch:  E  nostre  Sires  les  out  chastiez  suvenierement, 
e  pur  (^o  repentir  ne  se  voldront  ne  faire  adrecement  (das  Getane  wieder  gut- 
machen), LRois  (Ler.)  S.  402. 

adrecier,  vb.  intr.,  abs.:  'das  Ziel  erreichen':  S'il  adrece  (sc.  li  veneres), 
ü  convient  keir  Le  sengler,  JCond.  I,  165,  56;  'Richtung  nehmen':  Dites  moy  . . .: 
ozi  est  le  recept  D'un  homme  c'on  clayme  Joscet?  Enseigniez  le  moy  ...  — 
Pour  voir,  adrescie  bien  avex ;  Que  ce  suis  je  (gut  habt  ihr  Eure  Richtung 
gewählt,  den  richtigen  Weg  eingeschlagen),  Mir.  ND.  35,  875. 

^  a  at(c.  r.,  a  auc.  'Richtung  wohin  nehmen,  sich  wohin  wenden,  wohin 
steuern':  E!  Diex,  une  nef  voy  venant;  Ne  si^y  se  cy  adresscra  Ou  se  vent 
aler  la  fera  Ailleurs,  plus  hing,  Mir.  ND.  27,  1314;  ou  les  as  tu  laissie  Ne 
quel  pari  ont  il  adressie  (die  in  das  steuerlose  Boot  gesetzten)?  ib.  34,  2566; 
Dieu  . . .  Ale  doint  que  bien  aie  adressie  (den  richtigen  Weg  eingeschlagen 
zu)  A  celui  que  j'ay  taut  trade,  ib.  17,  1560;  —  en  auc.  r,:  Ainsi  maintes 
fernes  bestornent  . . .,  Les  autres  adrescent  en  bien,  Ensement  que  Diex  le  con- 
sent, JCond.  II,  204,  44. 

trans.  mit  sächl.  Obj.  'richten,  kehren,  lenken  (wohin)'  auch:  (DettsJ  adre- 
ceise  vostros  allemenx  a  via  perdurabla,  Afr.  Pr.-Leg.  K  71,  5;  mit  a  c.  Inf.: 
Jja  meie  volunte  seie7it  adrecedes  les  meies  veies  a  guarder  tes  justificaciuns 
(utinam  dirigantur  viae  meae  ad  custodiendas  iustificationes  tuas),  Oxf.  Ps. 
118,  5  (Cambr.  Ps.  esdrecier);  Chius  qui  puet  sen  euer  justicier  Et  a  raison 
faire  adrecier,  JCond.  I,  142,  25;  Ensi  dois  ta  langhe  adrecier  A  biau  parier, 
ib.  I,  153,  72. 

lenken,  leiten':  Ha!  sire  (Gott),  vueilliex  adresser  Mes  euvres  pa  jus  tele- 
ment  Que  ce  .-^oit  a  mon  sauvement.  Mir.  ND.  32,  2181. 

'in  gerade  Richtung  bringen':  Et  soit  la  saiete  adrecie,  [Soit]  traite  a 
eheval  ou  a  pie,  Prior.  Veg.  1206  (=  et  que  la  saiete  voist  droit,  soit  traite  a 
piet  ou  a  eheval,  JMeun,  ArtChev.  22). 

'anlegen':  Car  se  per  droit  so7it  estauhlies  Les  aherges  et  bien  adrecies 
Per  bon  sant  et  per  hone  part,  Li  eh-evaliers  säurs  u  parc  Sont  jor  et  nuit 
et  totes  hores,  Prior.  Veg.  1602;  Car  il  (sc.  le  palais)  estoit  Imigs,  haulx  et 
drois,  Bien  adreciez  en  tous  endrois,  Froiss.  Poes.  III,  54,  56. 

'in  die  richtige  Lage  bringen,  in  Bereitschaft  setzen;  aufstellen':  Ens  el 
point  que  paien  adrecent  Lor  mangonieaus  et  lor  tres  drccent,  Lor  vient 
JuViens  afendant,  Julian  2409 ;  N'onques  tref  ne  porent  drecier,  Nis  un  man- 
gonel  adrecier,  ib.  2470;  et  se  ceste  (sc.  arbaleste,  lat.  ballista)  est  atempree  et 


104  Bemerkungen   zu   'Adolf   Toblers   Altfranzös.    Wörterbuch' 

adreseie  par  honinies  qui  bien  en  sont  äuse  et  qui  ont  avant  bien  comieu  sa 
mesure  et  son  pooir,  eile  tresperce  tout  quafiqu'ele  fiert  (quae  si  iuxta  artem 
mechanicarn  temperetur  et  ab  exercitatis  hominibus  dirigatur,  'bedienen'), 
JMeun,  ArtChev.  153. 

'anordnen,  einrichten':  De  trestote  la  gent  a  pie,  Comant  ü  seront  adracie 
(Überschrift),  Prior.  Veg.  2032 ;  Comant  doivcnt  estre  estaublies  Les  legions  et 
adracies  (Überschrift),  ib.  2420;  Et  de  eesies  dis  compaignies,  Puis  qu'eles 
sont  bien  adrecies,  Est  fondce  la  legions  ploinne,  ib.  2536. 

'in  Ordnung  bringen':  Sis  los  e  sis  cunseil  est  teus,  KU  apres  eus  mut 
tost  irra  E  lur  päis  adrescera  Par  le  conmn  cunseil  d'eus  tux,  (die  Verhält- 
nisse ihres  Landes;  ihrem  L.  zurechthelfen),  Ipom.  2122. 

'verwirklichen,  ausführen'  auch :  Et  JuPiens  son  oirre  adrece,  Vers  la  forest 
maintenant  vint,  Julian  188  (denkbar  auch  ano  y.oivov  von  Vers  la  forest 
und  dann  adrecier  'richten') ;  Pensex  de  la  chose  adreseier  Tantdis  que  je 
m'iray  mucier  Ileuc  dcrrierc,  Mir.  ND.  31,  2484;  Vous,  clers,  vostre  chant 
adrescex  Et  de  floreter  ne  eessex  En  alant,  tant  que  soyons  la:  Regina  celi, 
lettare,  alleluia  (anstimmen).  Mir.  ND.  40,  2656. 

'in  Wirksamkeit  setzen':  S'on  vouloit  komme  justicier  A  mort  pour  droiture 
adrecier,  ...,  Watr.  211,  392. 

'jmdm.  etw.  zureichen;  zuweisen,  zuerteilen':  AnQois  les  sert  de  tel  leece, 
Quant  ele  a  niangier  lor  adreee,  Del  baisier  ne  se  pot  tenir,  Julian  3276;  Je 
li  fas  (ihm:  Gott)  un  veu  et  promesse,  Que,  se  la  victoire  m'adresse,  Si  tost 
que  conquis  les  aray.  Au  saint  septdcre  ni'en  iray  Cotn pelerin,  Mir.  ND.  32, 1759. 

mitpers.  Obj.:  'lenken,  leiten':  Par  sa  volente  nos  adrece  (Gott),  Julian  2822; 
Dav.  Proph.  216,  892;  Adresciex  moi,  Mir.  ND.21,  201;  mit  a  c.  Inf.:  Regarde 
moi  et  si  m'adresee  A  toi  servir  de  la  peresce  {de,  aus,  abhg.  v.  adr.),  Reim- 
psalt.  12,  2  in  Oxf.  Ps.  S.  269. 

'geleiten,  begleiten'  Et  touz  jours  m'a  fait  compaigtiie  Geste  dame  et  si 
adressie  (so  treu)  Que  depuis  ne  m'a  point  laissie,  Mir.  ND.  30,  1548;  mit 
Ortsbest.:  Seigneurs,  ...  En  l'ostel  de  Chestre  adresciex  Geste  dame,  et  la  la 
laissiex  Et  revenez  a  moy  icy,  Mir.  ND.  29,  817. 

'treiben',  mit  a  c.  Inf.:  Gertcs,  foleur  vous  adres(;a  A  venir  cy,  Mir.  ND.  24, 
77;  Amis,  quelle  cause  t'adresce  A  venir  cy?  ib.  31,  1367. 

'zum  Gedeihen  bringen':  Li  fil  de  tes  sers  habiterunt  e  la  semence  d'els 
en  siede  sera  adrecee  (wird  gedeihen),  Oxf.  Ps.  101,  29  (et  semen  eorum  in 
saeculum  dirigetur;  Reimps.,  ib.  S.  329;  Et  lor  semence  ert  esdreciee  A  tous 
jors  niais  et  essauciee). 

'zurechtweisen,  unterweisen',  auch:  ...  se  vaillant  home  et  saige  Et  qui 
saichcnt  d' armes  l'iisage  . . .  Sont  rctenux  et  aleu  Por  tox  les  autres  avancier 
Et  ensotngnier  et  adrecier  ...,  Prior.  Veg. 3282 ;  En  tous  biens  estoit  adreciex, 
JCond.  II,  183,  65;  mit  a  c.  Inf.,  'erziehen  zu':  C'est  grans  merveille  et  gratis 
meschiex  C'uns  hom  ne  puet  estre  adrechiex  Au  bien  en  son  euer  retenir, 
ib.  II,  262,  38. 

'ausstatten,  versehen':  et  uns  de  ces  chars  est  establis  a  la  comjxiigme  de 
ces  .XI.  armer  et  adrecier  et  servir  (ad  armandum  vel  dirigendum,  im  Lat. 
auf  carroballistac  gehend,  'zur  Bedienung  und  Richtung  der  Wurfgeschütze'), 
JMeun,  ArtChev.  68;  d'auc.  r.  auch:  Ghius  l'adre^a  de  canqu'il  vot,  JCond.  I, 
215,  1483;  Quant  vaillcms  kons  n'est  adrechiex  De  boin  consseil,  ib.  U,  165, 138. 

rfl.  'sich  wenden,  seine  Schritte  lenken,  ziehen':  Et  li  los  ...  Fuiant par 
un  ehc/min  s'adrcsce,  Par  ou  marcheant  eheminoicnt,  Gd'Angl.  798C  (wrs  m« 
cheminV);  'daherstürmen':  Erec3020;  Clig.  3420;  'sich  wohin  wenden',  vers..., 
auch:  Quanqti'ele  se  pot  adrecier,  S'est  vcrs  les  loges  adrecier,  ChCharr.  5919; 
eti  . . .:  Dex  est  mes  los  et  ma  vcrtus.  Et  si  est  fais  en  moi  salus,  Vois  de 
salut  et  de  liece  Es  ostes  des  justes  s'adresse,  Reimps.  117,  15  in  Oxf.  Ps. 
S.  340. 

'sich  einrichten,  verfahren':    Seveax  non   tant  por  nos  fcra   Que  ele  nos 


Bemerkungen  zu  'Adolf  Toblers  Altfranzös.  Wörterbuch'  105 

conncillern  En  qud  maniere  le  ferons.  Et  nos  nos  cn  adreenrons  {rn  hin- 
sichtlich dessen)  Solone  ce  que  ele  dira,  Julian  3046. 

'sich  einer  Sache  zuwenden',  a  aue.  r.:  KU  n'csi  pensee  si  7narie  . . ., 
S'a  l'rscoutfr  Ips  chans  s'ndreche,  Que  ses  amiis  ne  li  estanche,  JCond.  ü, 
42,  1358;  a  faire  auc.  r.  ('darauf  bedacht  sein,  darauf  ausgehen'):  Cil  est 
floris  de  bone  techr,  Qni  n  s'onnour  faire  s'adrece,  BCond.  258,  389;  Et  ü  de 
plus  en  plus  s'adresee  Ä  grant  orgueil  a  demener  Et  a  ses  roisins  fourmener, 
JCond.  II,  153,  96;  Chascuns  a  bien  faire  s'adresee,  Watr.  205,  184;  Si  li 
eonmandes  . . .,  pour  monter  en  haultesse,  Qu'a  espouser  aussi  s'athesce,  Qui? 
la  fille  de  l'eynperiere,  Mir.  ND.  33,  1995;  en  auc.  r.  (gerichtet  sein  auf'): 
Tötete  vertus,  toute  hautesse  En  son  sanetifiier  s'adresse,  Reimps.  95,  6  in 
Oxf.  Ps.  S.  326. 

'sich  anschicken',  de  c.  Inf.  auch:  Or  est  temps  de  moy  adrescier  D'aler 
au  Saint  prre  nuncier  Ce  qui  m'cst  conmande  a  faire,  Mir.  ND.  14,  1056. 

'gutmachen'  auch:  Avant  un  po  que  venissiex,  Par  confession  adressiex 
Mesfoie  . . .  De  toux  les  yneffaix.  que  fis  onques,  Mir.  ND.  27,  1561. 

'sich  Recht  schaffen'  auch:  Äinssi  se  set  Dicx  adrecier  Des  grans  mauvais 
et  les  eotifont,  Watr.  263,  1002. 

adreeie  'wohlgeordnet':  Li  Romain  ...  i  firent  dis  compaignies  Ordotmecs 
et  adracies,  Qu'ausi  sont  eome  un  propres  cgrs,  Prior.  Veg.  3426  (JMeun, 
ArtChev.  S.  63  nur  ordcnnces). 

'wohlgeschult,  wohlausgebildet':  Cil  bachelers  de  bonnes  mours,  Biaus  en 
armes  et  adrceirx,  Watr.  316,  159 ;  En  tous  biens  estoit  adreciez  Et  a  Dieu 
servir  adreciex  De  sainte  vie,  JCond.  II,  183,  66. 

'wohlgeartet':  Amours,  je  te  ßs  Ja  hommage  Pour  la  plus  belle  et  la  plus 
sage,  La  mieuls  adreeie  en  corage  A  man  samblant  Qu' onques  veisse  en  m,on 
eage,  Froiss.  Poes.  I,  3,  77. 

a droit,  adj.:  'gerade':  L'on  ne  doit  mie  en  moult  de  leus  Les  murs  faire 
adroix,  mes  angleus,  Prior.  Veg.  8656  (gegen  droix,  8401). 

'in  Ordnung',  mal  a.:  Endcmenticrs  qu'il  . . .  S'an  issent  . . .  Per  les  partes 
qui  sont  atroifes.  Per  les  charricres  mal  adroites,  Prior.  Veg.  6172. 

'geeignet':  Se  nous  trovons  un  Heu  qui  soit  beaux  et  adrois  Pour  fonder 
une  ville,  GLiege  716. 

aduire,  vb.  trans.,  auc.  a,  aue.  'jmdn.  Jmdm.  zuführen':  A  lur  raisim 
destruire  Lor  deit  l'uni  cels  aduire  Qui  ...,  Geburt  Jesu  18  (Stzgsber.  Berl. 
Akad.  1903,  Sonderabdr.  14);  Adui  me  celui  qui  te  sanet  (adduc  ad  me), 
Air.  Pr.-Leg.  M  42,  14. 

**adurable,  adj.,  =  adure:   Clovis  li  adurables,  GLiege  2447. 

*adurer,  vb.  trans.,  'abhärten,  gewohnen',  en  c.  Inf.:  Et  si  set  son  euer 
adurer  En  la  bonne  voie  poursirre  Pour  la  fin  de  ses  fes  eonsivre,  JCond.  II, 
239,  118;  entsprechend  adure  (hartnäckig  dabei  beharrend):  l'homme  adure 
En  mal  faire  et  fol  et  despert,  ib.  II,  214,  108. 

(Schluß  folgt.) 
Berlin.  G.  Cohn. 


Kleinere  Mitteilungen. 

Zur  altenglischen  Wortgeschichte. 

A e.  milc  "Milch'. 
H.  Weyhe  hat  PBBeitr.  31,  43  ff.  die  Vorgeschichte  des  ae.-anglischen 
milc  aufgehellt.  Es  handelt  sich  um  eine  auf  den  Nominativ  übertragene 
Form  des  Gen.  und  Dat. :  Nom.  *melnk  z=  meoluc,  Gen.  Dat.  melulci-  =  *milic, 
milc.  Auch  auf  deutschem  Boden  lebt  eine  Obliquusform  von  Milch  weiter. 
Hessisches  niel/  geht,  wie  ich  Zs.  f.  hochdeutsche  Mundarten  6,  10  gezeigt 
habe,  auf  den  Dativ  miluhi,  milihi  (Graff  II,  721)  zurück,  i  vor  i  erscheint 
im  Hessischen  als  e.  Dieser  merkwürdige  i-Umlaut  des  i  bedarf  noch  weiterer 
Untersuchung  (vgl.  die  Nachweise  bei  Behaghel,  Geschichte  der  deutschen 
Sprache*  S.  143)  ;  auch  im  Mnl.  finden  sich  Spuren  dieser  Erscheinung  (vgl. 
Franck,  Mnl.  Gr.^  §  69,). 

Ae.  j  eare  Aiv.  :=z  j  earwe. 

Das  ae.  Adverb  jeare  an  Stelle  von  jearwe  wird  von  Holthausen.  Anglia- 
Beiblatt  15,  70  aus  dem  Komparativ  jearor  erklärt.  Man  hat  zwar  öfters 
Positivformen  aus  Komparativen  erklären  wollen;  da  aber  der  Positiv  in 
der  Spraehe  viel  fester  steht  als  der  Komparativ,  kommen  mir  diese  Er- 
klärungen bedenklich  vor.  In  unserem  Falle  hat  stärker  als  der  Komparativ 
die  Form  jcaru  wirken  können,  die  im  Paradigma  des  Adjektivs  eine  große 
Rolle  spielt:  sie  wird  gebraucht  als  Nom.  Sing,  aller  Genera,  Akk.  Sing. 
Neutr.,  Nom.  Akk.  Plur.  Neutr.  Die  Form  hatte  dieselbe  Endung  wie  hwatu 
:=z  Nom.  Sing.  Fem.,  Nom.  Akk.  Plur.  zu  hwmt.  Nach  dem  Muster  von  Adj. 
hwatu  :  Adv.  htcate  konnte  man  zum  Adj.  jeartt  ein  neues  Adv.  jeare  bilden. 

Gießen.  Wilhelm  Hörn. 

Note  on  the  Anglo-Saxon  Indicia  Monasterialia. 

Paragraphs  104  and  105  of  the  Anglo-Saxon  Indicia  Monasterialia,  published 
by  F.  Kluge  in  the  second  voIume  of  Techmer's  Interyiationale  Zeitschrift  für 
ahgemeine  Sprachin'ssensehaft,  read  as  follows: 

104.  Gyf  \)\i  hosa  habban  wille,  J)onne  stric  {)ü  üppweard  on  Jimum 
sceancum  mid  J)inum  twära  handum. 

105.  Gylecan  täcen  bis  {)set  f)ü  strece  ford  |)m  wenstre  handstoc  and  plyce 
innan  mid  |)!nre  wynstran  bände. 

Kluge  translates  105:  'Das  Zeichen  für  ...  ist,  daß  du  die  linke  Hand- 
stauche hervorstreckst  und  sie  mit  der  linken  Hand  innen  faltest,' i  leaving  the 
Word  gylecan  untranslated.  In  the  'Liste  der  Stichworte  dieses  KatechismuB 
der  Zeichensprache'  he  gives  the  word  with  a  mark  of  interrogation  and 
without  a  translation.  The  Dictionaries  do  not  give  the  word,  and  I  know 
no  other  place  where  it  occurs. 

I  believe  that  we  have  to  do  with  a  scribal  error  and  that  we  must  read 
'pylecan'.    The  word  occurs  in  the  division  dealing  with  articies  of  dress. 

1  Plyccan  is  'to  pluck',  not  'falten'.  Napier,  Contributions  to  Old  English 
Lexicography,  p.  51. 


Kleinere  Mitteilungen  107 

The  para^aph  immediately  preceding  beg:in3  with  'gyf,  that  is  to  say  with 
a  Word  having  for  its  two  first  letters  'g'  and  'y'.  The  scribe  began  to 
write  'gy'  looking  at  the  wrong  word  first,  and  completed  it  with  the  rest 
of  the  right  ^yo^d  'lecan'.  Pilece,  pylece  occurs  in  Wright-Wülcker,  328.  11 
^Pellicie,  pylece',  and  is  quoted  in  Bosworth-Toller  from  Bouterwek's  Scread- 
unga.^  In  Stratmann-Bradley  'pilche'  is  explained  as  'pilch,  flannel  or  fuj 
gannent';  in  the  Oxford  Dictionary  'pilch'  is  defined  as  'an  outer  garment 
made  of  skin  dressed  with  the  hair;  in  later  use,  a  leathern  or  coarse  woollen 
outer  garment.'  That  the  pilch  could  be  part  of  a  monk's  or  friar's  dress 
is  evident  from  Pierce  the  Plouyhynatis  Crede,  243.  Pierce  says  that  an 
Austin  friar  told  him  that  bis  Order  was  first  founded,  upon  which  bis  inter- 
locutor  bursts  out: 

'Fyrst  felawel'  qua{)  he  'fy  on  bis  pilchel'^ 

The  Latin  pellicia,  -Ha,  -cea  is  amply  exemplified  in  Ducange.  The  fol- 
lowing  quotations  from  that  dictionary  will  sufficiently  prove  that  pellicia 
was  common  in  the  Middle  Ages  as  the  name  of  a  part  of  the  monastic 
habit. 

Hoc  anno  proximo  babeant  omnes  claustrales  Monasterii  S.  Martialis  Pel- 
liceas  et  tunicas,  in  festo  S.  Michaelis  unusquisque  Pelliceam  et  tunicam, 
sequenti  anno-  tunicam,  et  alio  subsequenti  Pelliceam  et  sie  deinceps  inter- 
polatae  PelUceae  agninae  erunt.  Codex  Ms.  Martialis  Lemovic.  num.  58  pag.  ult. 

Paria  pellitiarum,  froccorum,  et  cucullorum.     Chronic.  Andrense  24. 

In  the  last  quotation  the  pellicia  is  mentioned  together  with  two  other 
articles  of  the  monastic  habit,  viz.  the  froccns  or  floccus  the  frock,  the  'outer 
and  characteristic  dress  of  a  monk',  and  the  cuculla  or  cowl. 

Further  reference  may  be  made  to  the  Pellicium  chorale,  and  to  the 
superpellicium  (surplice)  '(vestis)  sie  appellata',  inquit  Durandus  in  Ration,  lib.3 
cap.  1  n.  10,  11,  'eo  quod  antiquitus  super  tunicas  pellicias  de  pellibus  mor- 
tuorum  animalium  factas  induebatur,  quod  adhuc  in  quibusdam  Ecclesiis  ob- 
servatur'  (Ducange).  The  Encyclopaedia  Britaimica,  i.  v.  surplice,  says:  'Its 
name  is  derived  . . .  from  the  fact  that  it  was  formerly  put  on  over  the  für 
garments  which  used  to  be  wom  in  church  ...  as  a  protection  against  the 
cold.'     Cp.  The  Catholic  Encyclopedia,  i.  v.  surplice.* 

1  believe  that  it  is  superfluous  to  adduce  further  evidence  that  'gylece' 
is  a  ghostword  and  that  'pylece'  should  be  substituted. 

Amsterdam.  A.  E.  H.  Swaen. 

Bibliographisches  zu  John  Forhes'  Songs  and  Fancies. 

Im  131.  und  132.  Bande  dieser  Zeitschrift  hat  Wilhelm  Bolle  eingehend 
über  da^  älteste  in  Schottland  gedruckte  Liederbuch  gehandelt,  als  dessen 
Verleger  John  Forbes  von  Aberdeen  zeichnet.  Bolle  hat  seiner  Wiedergabe 
des  Textes   die  dritte  Auflage,  von  1682,  zugrunde  gelegt.     Mit  vieler  Be- 

^  =  JPAinc,  Alcuin's  Interrogationes  Seyeivulfi,  Anglia  VII,  30. 

2  (;^_  Chrodegang  LH:  Sume  preostas  syn  J)e  eallinga  gymad  J)?et  heora 
'reaf  swete  atince,  7  t>3et  heora  feil  swa  side  hangion  J)set  se  fot  ne  setywe. 

'  The  name  of  the  surplice  arises  from  the  fact  that  it  was  wom  by  the 
clergy,  especially  in  Northern  Europe,  over  (super)  the  universally  customary 
für  clothing.  fhis  is  stated  by  Durandus  and  by  the  English  grammarian 
Gerlandus  each  of  whom  lived  "to  the  thirteenth  centurv-.  1.  c. 


108  Kleinere  Mitteilungen 

rechtigung,  denn  die  beiden  früheren,  von  1662  und  1666,  gehören  zu  den 
größten  bibliographischen  Seltenheiten,  während  sich  die  dritte  häufiger 
findet.  Bolle  sagt-,  von  der  ersten  Ausgabe,  die  Ritson  und  Stenhouse  noch 
kannten,  habe  sich  kein  Exemplar  mehr  erhalten;  auf  die  zweite  habe 
Wooldridge  in  seiner  Neuausgabe  von  Chappel's  Populär  Music  of  the  Olden 
Time  Bezug  genommen.  Stenhouse  hat  die  erste  Ausgabe  sicher  gekannt:  er 
druckt  Forbes'  Widmungsschreiben  auf  S.  XXXV — XXXVII  seiner  Illustra- 
tions  of  the  Lyric  Poetry  and  Music  of  Scotland  ab.  Für  Hitson  läßt  sich 
diese  Kenntnis,  soweit  ich  sehe,  nicht  nachweisen.  Er  zitiert  nur  die  Aus- 
gabe von  1666,  also  die  zweite.^  Sein  Handexemplar  dürfte  durch  die  Ver- 
steigerung der  Britwell  Court  Library  durch  Sotheby  in  London  im  Dezember 
vorigen  Jahres  zum  Vorschein  gekommen  sein.  Der  Katalog  führt  unter 
Nr.  54  ein  Exemplar  dieser  zweiten  Ausgabe  an :  with  Ms.  notes  of  J.  Ritson 
on  fly-leaf.  Das  Titelblatt  unterscheidet  sich  in  Kleinigkeiten  von  dem  eines 
weiteren  Exemplares  in  derselben  Sammlung,  das  die  handschriftlichen 
Signaturen  Alexander  Lindsays  und  Jeannet  Forbes'  trägt,  also  möglicher- 
weise aus  der  Familie  des  Drucker.s  und  Verlegers  stammt.  Unter  Nr.  52 
kam  das  einzige  jetzt  noch  bekannte  Exemplar  der  ersten  Ausgabe  unter 
den  Hammer.  Bolle  ist  also  insofern  zu  berichtigen,  wenn  auch  die  flüchtige 
Erscheinung  der  vielgesuchten  Rarität  sich  nicht  in  bleibende  Gegenwart 
verwandeln  wird.  Ein  gewisser  G.  D.  Smith  hat  es  um  f  150  gekauft.  Ver- 
mutlich wird  es  in  einer  Privatbibliothek  jenseits  des  Ozeans  verschwinden. 
Ein  wissenschaftlicher  Verlust  erwächst  uns  daraus  nicht.  Das  Exemplar 
wird  im  Katalog  als  im  allgemeinen  gut  erhalten  be,schrieben.  Es  stammt 
aus  der  Bibliothek  des  schottischen  Historikers  und  Altertumsforschers 
George  Chalmers  (1742 — 1825),  eines  Mannes  von  vielseitiger  Gelehrsamkeit, 
den  mancherlei  Beziehungen  mit  der  literargeschichtlichen  Forschung  des 
Scottschen  Freundeskreises  verbinden.  Ein  weiteres  von  John  Forbes  ge- 
drucktes Werk  befand  sich  gleichfalls  in  der  Britwell-Bibliothek :  Psalm 
Tunes  to  four  Voices,  Aberdeen  1666.  Auch  hiervon  ist  kein  zweites  Exem- 
plar bekannt  geworden.  Sein  früherer  Besitzer  war  David  Laing  in  Edin- 
burgh. 

In  diesem  Zusammenhang  sei  es  mir  gestattet,  auf  eine  soeben  veröffent- 
lichte Abhandlung  (ursprünglich  Leipziger  Dissertation)  von  Nelly  Diem 
hinzuweisen:  Beiträge  zur  Geschichte  der  schottischen  Musik  im  17.  Jahr- 
hundert nach  bisher  nicht  veröffentlichten  Manuskripten;  Hug  &  Co.,  Zürich 
und  Leipzig  1919.  Die  Abhandlung  enthält  kritische  Textabdrucke  des 
Leyden-Ms.  (16.39)  und  des  Hume-Ms.  (1704),  berichtet  in  einer  inhaltsreichen 
Einleitung  über  eine  Reihe  anderer  Mss.  ähnlicher  Art,  bietet  eine  ziemlich 
umfassende  Bibliographie  und  anhangsweise  interessante  Musikbeilagen  aus 
den  von  der  Verfasserin  untersuchten  Liedersammlungen,  so  daß  wir  jetzt 
über  diese  Gruppe  von  Veröffentlichungen  im  ganzen  recht  gut  unterrichtet 
sind.  Die  Wichtigkeit  von  Forbes'  Songs  and  Fancies  tritt  auch  in  der 
Diemschen  Arbeit  an  vielen  Stellen  eindringlich  genug  zutage.  — 

Entsprechend  der  ungewöhnlichen  Seltenheit  der  in  der  Britwell  Court 
Library   enthaltenen    Drucke   wurden   bei    der   Versteigerung   phantastische 


^  Scotish  Songs  I,  S.  III  und  CHI:  the  Aberdeen  collection,  printed  in 
1666  usw. 


Kleinere  Mitteilungen  109 

Preise  erzielt.  Das  Ergebnis  eines  Tages  belief  sich  auf  f  110  356.  Die 
erste  Folio- Ausgabe  der  Werke  Shakespeares  brachte  f  2300,  die  dritte  £  2400 ; 
die  Quarto  1600  von  Mach  Adoe  about  Nothing  £  2200;  die  vorshake- 
spearesche  Tragödie  von  Richard  III.  (1594)  £  2000;  Caxtons  Reynard  the 
Foxe  (1481)  f  5900;  eine  Serie  von  Broadsides  und  Ballads  aus  der  Heber- 
Sammlung  £  6400!  Man  denkt  unwillkürlich  daran,  daß  der  Schauspieler 
AUeyn  sein  Exemplar  der  Sonette  Shakespeares  um  5  Pence  erwerben  konnte. 
Auch  Bücherpreise  sind  ein  Stück  Wirtschaftsgeschichte.  Es  beginnt  in  den 
großen  Kulturperioden  der  Völker  und  scheint  seinen  Abschluß  zu  finden 
in  den  Bibliotheken  der  amerikanischen  Trustmagnaten:  der  Weg  vom  leben- 
digen Organismus  zur  Mumie. 

Hans  Hecht. 


Zu  Griulio  Bertoni,  *I  Trovatori  d'Italia',  Modena  1915. 

Zu  den  hier  veröffentlichten  Texten  haben  schon  Lewent,  Lit.-Bl.  36,  348 
und  Schultz-Gora,  Herrigs  Arch.  134,  194  zahlreiche  Verbesserungen  und 
Besserungsvorschläge  mitgeteilt.  Es  sei  mir  gestattet,  einige  weitere  hinzu- 
zufügen. 

1,  3.         Emperador  avem  de  tal  manera 

Que  non  a  sen  ni  saber  ni  menbranza; 
Plus  ibriacs  no  s'asec  en  chadera 
Ni  plus  volpills  no  porta  escut  ni  lanza  . . ., 
Ni  plus  malvaz  no  fez  vers  ni  chansos. 

Zu  chadera  die  Anmerkung:  'Qui  ha  certamente  il  senso  di  "trono",  non 
quello  commune  di  seggiola.'     Ist  das  wirklich  so  gewiß? 

2,50.         C'us  tant  larcs  no-s  scgna 
De  neguna  voz. 

Dazu  die  Anmerkung :  'Locuzione  abbastanza  usata  .  . .  Basterä  un  esempio, 
fra  i  parecchi  che  si  potrebbero  citare:  Genser  dona  nos  senh  Arn.  Ca- 
talan  (Rayn.,  Lex.  V,  227).'  Die  Mitteilung  der  übrigen  Beispiele  wäre  er- 
wünscht gewesen;  mir  sind  weitere  Belege  nicht  bekannt,  denn  an  der  von 
Rayn.  angeführten  Stelle  liegt  nicht  senhar,  sondern  cenher  vor. 

3,  48 — 50.         Enves  totz  cels  &a})  vos  an  acordansa 
E  que -US  servon  de  grat  e  volontier, 
Vos  non  tenetz   sagramen   ni  fiansa. 

Übs.  'tutti  coloro  che  sono  in  buoni  rapporti  con  voi'.  Nein,  sondern  'die 
mit  euch  ein  Übereinkommen  getroffen,  einen  Vertrag  geschlossen  haben'. 
Wegen  fiansa,  das  B.  'fedeltä'  übersetzt,  vgl.  Sppl.  Wb.  fizansa  1)    Schluß. 

4,  19  ff.         Mas  s'il  saubes  cum  vi'auci  malamen 
Lo  mals  d'amor  e  la  pena  q'ieu  trai, 
Tant  es  valens  e  de  fin  pretz  verai 
E  tant  si  fai  lauzar  a  tota  gen, 
Q'ieu  cre  n'agra  meroe,  mon  escien. 

'Tormenta'  ist  als  Wiedergabe  von  auci  zu  schwach;  'zugrunde  richtet'.  Auch 
die  Übersetzung  'che  si  rende  degna  d'essere  tanto  lodata  da  tutti'  trifft 
nicht  das  Richtige;  'und  in  so  hohem  Grade  erwirbt  sie  sich  das  Lob  aller 
Leute,  so  sehr  wird  sie  von  allen  gelobt'. 


110  Kleinere  Mitteilungen 

5, 14.         E  cel,  q'esser  volra  sabenz 

Qals  es  eil  de  cui  sui  jausenz, 
An  la  genchor  del  mont  vezer, 
Q'est«rs  no-ill  lo  ans   far  saber. 

Ich  glaube,  trot^  des  in  der  Anmerkung  Gesagten,  daß  hier,  ebenso  wie  6, 
22,  quals  mit  'wer',  nicht  mit  'wie  beschaffen'  wiederzugeben  ist. 

6,  8.         Qu'en  lieis  es  senz,  honors  e  cortesia, 
Ocnz  acuillirs  ab  tant  hclla  paria 
Com  no  la  ve  que  non  si'enveios 
Del  sieu  ric  pretz. 

Oenz  acuillirs  ist  mit  'gentili  maniere'  zu  frei  übersetzt.  Wegen  bela  paria 
vgl.  Sppl.  Wb.  1,  V.  paria  4). 

6, 17.    Devria.    Schreibe  deuria  (Druckfehler?). 
6,23.  E  qi-m  volgues  enquerre  d'esta  flor 

Cals  es  ni  don,  be-m  ditz  mos  essiens: 
Qui  me  n'enquier,  senibla-<m  desconoisseiis, 
Puois  tant  au  hom  dire  de  sa  rieor. 

Ist  sem'bla-'m'  am  Platze  und  nicht  vielmehr  das  von  Hs.  C  überlieferte 
Bernila  aufzunehmen?  'Und  wenn  mich  jemand  fragen  sollte,  wer  diese 
holde  Frauenblüte  ist  und  woher  sie  stammt,  dann  sagt  mir  mein  Wissen 
(d.  h.  doch  wohl :  dann  weiß  ich  sehr  gut) :  wer  mich  danach  fragt,  scheint 
ein  desconoissens  (d.  h.  muß  ein  d.  sein),  da  man  so  sehr  ihre  Vortrefflichkeit 
verkünden  hört.'  Wie  ist  aber  desconoissens  zu  deuten?  Bertoni  übersetzt 
'che  costui  non  sarebbe  punto  hene  informato'.  Das  paßt  doch  rucht,  denn 
es  wird  ja  gegen  den  Fragenden  gerade  der  Vorwurf  erhoben,  daß  er  fragt, 
trotzdem  er  gut  unterrichtet  sein  könnte  und  müßte,  da  alle  Welt  die  Dame 
rühmt.     Etwa  'Dummkopf? 

7,16.    No-i.      Schreibe  no  i,  da  der  Vers  zwei  Silben  verlangt. 

7,  22.  Qu'ades  me  somon  de  Tentendre 

Mos  cors. 
Übs.  'mi  invita  a  desiderarla'.    L'  ist  Artikel;   wäre  er  Fürwort,  müßte  die 
betonte  Form  lieis  stehen. 

7,23—27.      Dune  q'en  faras?    Vols  t'en  partir?   — 

Oc  eu.  —  Per  qe?  —  Quar  trop  foleia 

Qui  sec  son  dan.  —  E  se-t  plaideja 

Amors,  er  eis  te-n  jauzirt   — 

Hoc,  qar  mal  grat  dels  lanzengiers 

Mi  rent  a  lieis. 
Die  Stelle  bleibt  mir  trotz  der  Bemerkungen  von  Jeanroy,  Stimming  und 
Bertoni  unklar.  Jedenfalls  ist  creis  nicht  'du  glaubst'.  Zwar  sagt  Stim- 
ming, Gröbers  Zs.  34,  227,  daß  'im  Sing,  der  Indic.  Präs.  von  creire  neben 
den  korrekten  Formen  mit  e  bekanntlich  auch  nach  dem  Inf.  gebildete  mit 
ei  vorkommen',  aber  eine  2.  Sing,  mit  ei  ist  m.  W.  nirgend  belegt. 
7,  48.    Gaignar  halte  ich  nicht  für  zulässig;  ändere  g[az]aignar. 

8, 11 — 12.      Pois  Mon  Restaur  non  puosc  vezer 
Lo  douz  ris  ni-1  plazen  esgar. 
De  mos  huoills  non  sai  mais  que  far. 

Übs.  'poichö  non  posso  vedere  il  dolce  riso  ...  del  Mio  Ristoro'.  Daß,  wie 
es  in   der  Anmerkung  heißt,   Mon  Restaur  von   Lo  douz  i'is  abhängt,  halte 


i 


Kleinere  Mitteilungen  111 

ich  für  unmöglich,  und  Stimming  ist  m.  E.  durchaus  im  Recht,  wenn  er 
Mon  Restaur  als  Akkus,  ansieht  und  hinter  vezer  ein  Komma  setzt. 

9,  29 — 30.      Que  quant  n'an  los  gratz  mal  soffriz  .  .  . 

Non  voill  al  dir,  mas  mal  estai. 

Die  einzige  Hs.  D  hat  mals  und  in  der  letzten  Zeile  lal  dir.    Ist  etwa  —  ich 
frage  das  unter  aller  Reserve  —  grans  mals  zu  ändern,  und  ist  nicht  V,  30 
das  überlieferte  Val  'das  andere,  das  Übrige'  beizubehalten? 
9,40.     Trähi.    Ändere  trai  (:  fai). 

10,  1.  D'un  saluz  me  voill  entremettre 

Tal  que  a  midons  sapcha  dir 
Tot  mon  talan  e  mon  desir. 

Ein  Obl.  Sg.  saluz  ist  unmöglich.  Als  Bezeichnung  der  Dichtungsart  ist  bis 
jetzt  nur  der  Plural  salutz  belegt,  und  zwar  in  der  Flamenca  als  Femininum, 
während  in  dem  von  Rayn.  angeführten  Beispiel,  Raim.  Vidal,  Abrils  41, 
das  Geschlecht  sich  nicht  erkennen  läßt.  Alle  Belege  weisen  den  Obliq. 
Plur.  auf,  nur  Flamenca  7176  steht  der  regelrechte  weibl.  Nom.  Plur.  salutz. 
Danach  ist  Bertonis  Anmerkung  zu  berichtigen.  An  unserer  Stelle  würde 
ich  ohne  Bedenken,  trotzdem  keine  der  Hs.  so  überliefert,  salut  in  den  Text 
setzen. 

10,  26.  E  se  lo  ver  dir  en  volgues, 

Ben  sai  qe-m  fora  valedor 
Lo  genz  cors  gais  de  la  genchor 
A  cui  fos  anc  clamat  merces. 

Dazu  die  Anmerkung:  'Stimming,  Gröbers  Zs.  34,  228,  intende  :  cuore,  ma 
io  credo  che  si  tratti  della  designazione  di  persona.  Manca,  perö,  il  pos- 
sessiv©.' Das  ist  ein  Irrtum;  Stimming  sagt  im  Gegenteil:  'nicht:  il  gentil 
cuore,  sondern  cors  (corpus)  =z  Person'.  Wieso  hier  ein  Poss.  Pron.  fehlen 
sollte,  verstehe  ich  nicht. 

16,  44.   Anmkg.     De  lui  bezieht  sich  auf  Vemperador  V.  10. 

16,  25  ff.        Joan,  l'aigla  que   [vitz],  tan  fort  ventava 
El  gran  tesaur,  qe  mena  en  Lombardia 
L'emperaire,  e  la  naus  qe-1  portava 
Es  la  granz  ostz  dels  Alamanz  bandia. 

Bertoni  akzeptiert  hier  den  Text  Crescinis,  Man.  prov.  53,  25  flf.  Ich  habe 
Lit.  Bl.  16,  232  vorgeschlagen,  zu  lesen:  l'aura  que  tan  fort[tnenJ  ventava 
E-l  gran[z]  tesaur [sj  qe  men<i  en  Lombardia  L'emperaire  e  la  naus  qe-l 
[focj  portava  Es  la  granz  ostz.  Vielleicht  dürfte  man  noch  el  naus  statt 
e  la  naus  ändern.  Bertoni  weist  diesen  Verschlag  zurück  mit  der  Begrün- 
dung 'a  me  questa  erasi  pare  veramente  troppo  forte,  tanto  piü  che  il  passo 
si  presta  ad  altra  interpretazione'.  Genügt  diese  aber?  Geben  V.  25 — 26 
in  B.s  Deutung  einen  befriedigenden  Sinn?  Und  fehlt  bei  ihr  nicht  die 
doch  notwendige  Erklärung  des  Str.  3  genannten  Adlers?  Und  wie  sollte  es 
sich  erklären,  daß  Str.  3  das  Schiff  plena  de  foc  ist,  Str.  4  aber  den  Kaiser 
oder  den  Schatz  (worauf  B.  das  lo  beziehen  will,  ist  nicht  ersichtlich)  trägt, 
die  beide  vorher  nicht  genannt  sind?  Lewent  stimmt  dagegen  meinem  Vor- 
schlag bei,  fügt  aber  hinzu:  'will  man  El  nicht  gelten  lassen,  so  mag  man  es 
durch  Es  ersetzen'.  Das  geht  jedoch  nicht,  da  der  Artikel  hier  doch  gewiß 
nicht  fehlen  darf;  vgl.  V.  27  es  l  a  granz  ostz.     Das  Bedenken  gegen  e-l  ■=: 


112  Kleinere  Mitteilungen 

es  lo  ist  aber  m.  E.  nicht  begründet,  denn  er  findet  sich  E  fe  lonas  clau- 
zura^  ...  E-ls  murs  e  las  arqueiras  e-ls  covinens  solers  On  el  leos  malignes 
e-l  sieus  gonfanoniers  Crois.  Alb.  7590;  die  Hs.  hat  el  n  leo.  Ferner  ibid. 
7579:  E  meja  de  Garona,  on  e-l(s)  fils  montaners,  Ac  doas  tors,  wo  Paul 
Meyer  es  l  ändern  möchte,  wie  ibid.  4537  steht:  E  en  la  bela  plassa  on  es  l 
carni  batutz.  Für  7nal  =  mas  lo  siehe  Suppl.  Wb.  V,  26b,  für  vol  ^^  vos  lo 
Lit.  Bl.  10,  182  zu  5,  39;  sul  =:  siis  lo  ist  bekannt,  ebenso  no-n,  von  =  nos 
ne,  vos  ne;  vgl.  Stimm ing,  Lit.  Bl.  2,  182.  Vgl.  auch  die  Anmerkungen  von 
Chabaneau  zu  Deux  Mss.  38,  23  und  52,  40  und  von  Schultz-Gora  zu  Briefe 
R.  de  Vaq.  II,  9.  Stimming  führt  auch  ilasme-l=:  hlasmet  lo  (Tenzone  Aim. 
de  Pegulhan  —  Guilh.  de  Berguedan,  Mahn  Ged.  50,  4  Hs.  C  =  Hs.  A  Nr. 
431,  4)  an,  zu  dem  sich  garde-ls  =z  gardet  los  stellt,  vgl.  Lit.  Bl.  10,  183  zu 
14,  19.  Und  laise-l  =  laiset  lo  ist  wohl  auch  Guilh.  Fig.  10,  9  statt  des  über- 
lieferten laises  einzuführen:  Figueira,  Bertramz  fetz  he,  car  ses  apel 
Lais6-l  Joe  sohre-.l  majestre  d'en  sordel.  Hier  sei  auch  de-s^=idet  se 
Montanhagol  8,  39  erwähnt,  das  Tobler,  Herrigs  Arch.  101,  466  als  unerhört 
bezeichnet  und  dem  auch  ich  kein  weiteres  ähnliches  Beispiel  beifügen  kann. 
Stimming  a.  a.  0.  zitiert  auch  mete-us  :=  metez  vos,  converte-us  =  con- 
vertetz  vos  aus  Guir.  Riquier.  Dazu  stellen  sich  gara-us  z=  garatz  vos  Cres- 
cini.  Man.  prov.-  39,  4  (Tenzone  Guir.  de  Salinhac-Peironet)  und  diga-m  =: 
digatz  me  Guir.  de  Bornelh  65,  49  Var.,  vgl.  Lit.  Bl.  16,  230,  Z.  1.  Wer 
trotz  all  dieser  Beispiele  am  e-l  =z  es  lo  Anstoß  nimmt,  könnte  es  l  schrei- 
ben, da  dieses,  wie  oben  bemerkt,  Crois.  Alb.  4537  sich  findet,  und  da  auch 
sonst  Fälle  von  Enklisis  an  konsonantischem  Auslaut  mehrfach  vorkommen, 
vgl.  die  Anmerkung  zu  Arn.  Daniel  4,  33,  Tobler,  Herrigs  Arch.  101,  465  zu 
XIV,  68  und  die  folgenden  Stellen :  Taurel,  per  senat  T  eing  l  marqes  de 
Monferat  Au.  du  Midi  18,  174,  V.  43  (Tenzone  Taurel — Falconet) ;  G  uti- 
le m  l  vescoms  q'a  pretz  verai  D'esta  razo  jutge,  si-l  plai  Studj  fil.  rom, 
8,  479,  Z.  4  V.  u.  (Tenzone  Guilhem — Guigenet) ;  Tota  l'otz  es  destreita,  si  lo 
Rozer  Is  vedatz.  Es  steht  aber  in  der  Hs.  nicht  es  l,  sondern  el,  und  von 
der  Überlieferung  abzuweichen,  ist  ohne  zwingenden  Grund  nicht  er- 
laubt;  ein  solcher  liegt  aber,  wie  mir  scheint,  hier  nicht  vor. 

17.  Das  Gedicht  hat,  wie  Zenker,  Folquet  de  Romans  S.  88 — 89,  hervor- 
hebt, den  gleichen  Bau  wie  P.  Raimon  de  Tolosa  'Atressi  cum  la  candela' 
(Bartsch-Koschwitz  Chr.  S.  95),  das  an  Str.  1  u.  6  auch  dieselben  Reime  hat. 
Bertonis  Gestaltung  von  V.  7 — 8  und  18 — 19  ist  also  unrichtig.  Zur 
Strophenfolge  und  der  Bedeutung  von  el  V.  1  siehe  Appel,  Lit.  Bl.  17,  169 
zu  XII. 

18,  3  flf.  S'una  dompna  amatz  de  fin  talan 

Ei  avetz  mes  lo  cor  e  V  entendenssa 

Qe-us  den  s'amor  et  ill  fai  s'en  pregar 

Tan  tro  conois  qe  non  i  pot  pechar. 
Übs.  'ed  in  essa  avete  messo  il  cuore  e  anche  il  desiderio  che  vi  conceda  il 
suo  amore'.  Ist  nicht  zu  verstehen:  'und  ihr  Herz  und  Sinn  darauf  ge- 
richtet habt,  daß  sie  euch  ihre  Liebe  schenke"?  —  Zum  letzten  Verse  die 
Anmerkung:  'Non  puö  peccare  in  amore,  quindi  non  puö  accondiscendere'. 
voglie,  s'io  bene  intendo';  Übs.  'finchö  conosce  che  non  puö  accondiscendere'. 
Lewent  deutet  'nicht  sündigt,  sich  nichts  vergibt'.  Der  Vers  findet  doch 
seine  Erklärung  durch  V.  22 — 24:  E  taing  que  an  doptan  Ca  tal  non  don 
s'amor  qe-is  n'an  vanan  Ni-n  leu  fol  hruch  en  faich  ni  eu  parvenssa.     Die 


Kleinere  Mitteilungen  113 

letzten  Worte  übersetzt  B.  'sia  raceontando  conie  stanno  le  cose  sia  lascion- 
dole  intravedere".     Ist  nicht  zu  verstehen  'durch  sein  Tun  und  Benehmen'? 
18,28.  Car  paors  es  de  leu  joi  conqui^tat 

C'autre  l'agues  per  aquel   eis  mercat. 
Die  Übersetzung  'una  gioia  facilmente  conquistata'  trifft  das  Richtige,  aber 
im  Text  würde  ich  de  joi  Icu  conquistat  ändern;   vgl.  die  Lesarten  der  Hss. 
C  E. 

21.9.  Car  cill  ou  bos  pretz  s'atura, 

Lo   (sc.  lo  cor)   m'emblet  e  no-1  qer  niai 
Cobrar  ni  talan  no  ai. 
In  der  letzten  Zeile  ist  mit  der  Hs.  und  Guarnerio  non  zu  lesen. 

23,  25.     Conoisenza  kann  doch  nicht  mit  'equilibrio'  übersetzt  werden. 

24,  24.     Wegen  scmondre  vgl.  Sppl.  Wb.  somonre  3). 

25,  3.  Daß  und  warum  ich,  abweichend  von  Guarnerio  und  Bertoni,  mich 
in  der  Deutung  des  Verses  Raynouard  ansehließe,  habe  ich  Gröbers  Zs.  12, 
124 — 125  auseinandergesetzt. 

25. 10,  Valenz  dompna  aobre  tota  valenza, 
Vo8  pot  honi  ben  lauzar  ses  contradir. 

Übs.  '0  Donna  valete  che  valete  al  di  lä  d'agni  valore,  vi  si  puö  ben  lodare 
senza  essere  contradetti'.  Es  ist  m.  E.  das  Komma  nicht  nach  valenza,  son- 
dern nach  donina  zu  setzen  und  die  Übersetzung  demgemäß  zu  ändern.  Wäre 
B.s  Auffassung  richtig,  dann  müßte  doch  Domna  valenz  soire  stehen. 

25,  19.     Übs.  Bisogno  steht  nicht  im  Text. 

25,  34  u.  36.     Vgl.  Gröbers  Zs.  22,  125. 

25,49.  Preiatz,  sius  plaz,  vostre  car  fil  de  me 

Que  m'aleuge  mos  mals  e-ls  conseriers 
Qu'eu  trairai  lai  tan  greus  e  tan  sobriers 
Qu'endreg  (Text  en  dreg)   lo  cors  la  morz  no-m  fai  t*anenza. 

Übs.  'i  mali  e  gli  afanni  che  avrö  a  sopportare  [dopo  morte]  tanto  grandi'. 
Lai  ist  'im  Jenseits,  in  jener  Welt';  vgl.  sai  4),  Sppl.  Wb.  VII,  423. 

27,  10.  Tant  pens  en  Heys  e  tan  l'am  coralmens 

Que  nüeyt  c  jorn   tem  mi  falh'   (Text:   falh)   al  pensar. 

Sollte  vielleicht  zu  deiit^n  sein:  'ich  denke  so  sehr  an  sie  und  liebe  sie  so 
innig,  daß  ich  fürchte,  daß  Tag  und  Nacht  meinem  An-sie-denken  nicht  ge- 
nügen', d.  h.  wenn  ich  auch  Tag  und  Nacht  an  sie  denke,  so  ist  das  noch 
nicht  genug? 

27,  16.    Zu  fer  und  caramida  vgl.  Lit.  Bl.  19,  159,  Z.  3  fiF. 

27,  32.  Tan  mi  destreing  lo  dartz  don  sui  feritz 

AI  cor  d'amor,  per  qe  1  mortz  n'es  asida 

Car  il  non  es  tot  eissamen  ferida. 
Schreibe  non.     Die   richtige  Übersetzung  der   Stelle  hat  Lewent  gegeben; 
der  Sinn  ist  doch  'weil  sie  (die  Dame)  mich  nicht  auch  liebt  wie  ich  sie*. 

28,  9 — 10.      Chantarai,  si  tot  d'amor 

Muer,  quar  l'am  tan  ses  falhensa, 

E  pauc  vey  Heys  qu'ieu  azor. 
Das  Komma  nach  falhensa  ist  zu  streichen ;  es  ist  zu  übersetzen :  'ich  sterbe, 
weil   ich   sie   so  treu   liebe   und   sie,   die    ich    vergöttere,   wenig   sehe';    vgl. 
V.  49—50:  Quar  pietz  trai  que  si  moria  Qui  pauc  ve  so  qu'ama  fort. 
Archiv  f.  n.  Spracben.     140.  g 


114  Kleinere  Mitteilungen 

29,  8.  Der  Vers  ist  um  eine  Silbe  zu  kurz.  Korr.  destemprada,  falls 
nicht  statt  des  doch  wohl  verderbt  überlieferten  orgoill  ein  dreisilbiges  Wort 
einzuführen  ist, 

31,35.  E-il  pic  son  vengut  e-il  maill 

Ab  qe-il  pros  loin  de  nuaill 
Rompon  portas  ab  trebaill. 

Übs.  'senza  paura'.  Aber  mialha  bedeutet  nicht  'Furcht',  sondern  'Trägheit, 
Lässigkeit'. 

31,  50 — »51.    Qe  anc  no  fon  recrezutz 
De  donar  ni  espcrdutz 
Per  guerra,  anz  a  vencutz 
Sos  guerriers. 

Übs.  'egli  non  si  ö  ancora  distolto  dal  (JoQare  n6  ha  sofferto  per  g-uerra'. 
Aber  ünc  non  ist  'niemals'  und  esperdut  'entsetzt,  vor  Furcht  oder  Schrecken 
außer  sich'. 

34,  20.  Anz  vueill  chantar  d'amar  e  joi  aver 

De  qu'ieu  mi  lau,  e  del  mais  ai  fiansa. 

Vgl.   35,53:    D'aitan  mi  lau   el  soireplus   aten  De  ros,  domna.     Lo   mais 
und  lo  sohreplus  sind  'das  Übrige'.    Se  lauzar  ist  nicht  nur  in  der  zweiten, 
sondern  auch  in  der  ersten  Stelle  mit  'zufrieden  sein'  wiederzugeben. 
34,  21.    Se  elamar  ist  nicht  'protestare',  sondern  'sich  beklagen'. 

34,  26.  Es  ad  amic  adoncs  amors  esglai. 

Sentit  n'agr'eu  em  fag  o  en  semblansa. 

Schon  Lewent  hat  angemerkt,  daß  E  s'ad  zu  lesen  ist  und  daß  in  adoncs  das 
Verb  stecken  muß.  Er  will  a  doncs  lesen;  sollte  nicht  eher  aduiz  zu  ändern 
sein?     Vgl.  35,7:  Que  chans  adus  gran^  hea  maintas  sazos. 

35,  6.  Del  mal  d'amor  q'eu  tem  fort  que  m'aucia.  Die  Übersetzung  'che 
mi  faccia  sofFrire'  ist  zu  schwach. 

35,  18 — 19.    Qu'a  guerrers  ail  cor  e-ls  oils  amdos. 
E  qui  de  for  a  guerrer  dinz  l'ostal, 
Non  pot  aver  plag  plus  deseomunal. 

V.  18  hat  eine  Silbe  zu  wenig;  kor.  ai  lo.  De  for  wird  mit  'stando  di  fuori' 
übersetzt;  nach  Lewent  soll  es  'gewohnheitsmäßig'  bedeuten.  Beides  ist, 
denke  ich,  abzulehnen.  Es  ist  defor  a  guerr'et  dinz  l'ostal  zu  schreiben 
'wenn  einer  draußen  und  im  Hause  Streit  hat',  draußen  mit  den  Augen, 
drinnen  mit  dem  Herzen.  Vgl.  auch  Appel,  Chr.  78,  9  ff.  —  Deseomunal,  das 
'straordinario'  übersetzt  wird,   ist  hier  'arg,  schlimm'. 

35,  28  u.  30.  Ni  eu,  amors,  non  agra  temsut  vos 
Si  no  m'eron  li  meu  contrarius. 
Mas  trait  m'an  li  meu  oill  desleial 
Con  trai  lo  bosc  lo  fuetz  de  la  destral. 

Mit  li  meu-  sollen  nach  der  Anmerkung  'i  miei,  i  miei  compagni,  cioö  gli 
occhi  e  il  euore'  sein,  während  die  Übersetzung  'se  i  miei  occhi  non  mi 
fossero  avversi'  lautet.  Und  das  ist  gewiß  das  Richtige,  denn  von  der  Schuld 
des  Herzens  ist  erst  in  der  folgenden  Strophe  die  Rede.  Nach  dem  Abdruck 
Mahn,  Ged.  713  hat  Hs.  I  nicht  li  meu,  sondern  li  meu  oill;  es  ist  also  li 
zu   tilgen  und  meu  oill  in   den  Text  zu   setzen.  —  Für  fuetz  ist  futz  la. 


Kleinere  Mitteilungen  115 

fust  K  überliefert,  Z.  26  fust,  das  B.  in  fust[z}  ändert.  Eine  Änderung  war 
unnötig;  ob  aber  der  Dichter  futz  oder  fust  gebraucht  hat  —  beide  Formen 
sind  zulässig  — ,  ist  nicht  zu  entscheiden. 

35,  34  u.  37.  Que  vos   intretz,   amors,  per  mon   vezer 
Inz  e  mon  cor,  e-1  cors  fes  faillimen 
Que -US   alberget  ses  cosseil   de  mon  sen. 
Mas  pos  ill  quet  an  fag  vostre  plazer, 
Fassatz  lur  ben   per  vostra  cortesia  .  .  . 
De  me  nous  prec,  sol  qe  fassatz  ioios 
Aquetz  trachors  qe  m'an  fag  enveios. 

übs.  'ma  del  momento  ehe  gli  occhi,  queti,  vi  hanno  compiacciuto'.  Aber  was 
soll  hier  'ruhig'?  Und  warum  wird  das  Herz  nicht  erwähnt?  Hs.  I  hat 
il  quei,  Ka  qei.  Sollte  nicht  in  li  trei,  das  Herz  und  die  beiden  Augen,  zu 
ändern  sein?  —  Für  enveios  ist  doch  wohl  in  Hinblick  auf  enoi  V.  40  enueios 
zu  schreiben. 

35,  53.    Siehe  oben  zu  34,  20. 

35,  55.  Fals.  Korr.  Fols,  wie  auch  V.  60  st-eht.  Von  Falschheit  kann  hier 
doch  keine  Hede  sein. 

37,26.  Das  überlieferte  fins  galiaire  ist  zu  belassen;  durch  Hinzufügung 
eines  [c]  nach  fins  würde  der  Vers  zu  lang.  Wegen  der  Bedeutung  vgl.  Sppl. 
Wb.  fin  4. 

37,46.   Der  Vers  hat  eine  Silbe  zu  viel;  korr.  sobtana  statt  subitana. 

38,  3.  En  chantar   d'aquest  segle  fals 

Ai  tant  obra  perduda, 
Dont  tem  aver  pcnas  mortals, 
Si  meroes  no  m'ajuda. 

Übs.  'ch'io  temo  d'aver  meritato  le  pene  d'inferno'.  Aver  meritato  steht  nicht 
im  Tecst  und  genügt  auch  dem  Sinne  nicht;  'icb  fürchte,  daß  ich  tödliche 
Qualen  werde  erleiden  müssen  (sc.  in  der  Hölle)'. 

38, 19.  Aitals  merces  m'agrada, 

Quar  es  secors 
Dels  peccadors 
Cui  CS  razos  loniada. 

Übs.  'che  hanno  perduto  il  ben  dell'  intelletto'.  Ist  nicht  zu  verstehen:  'denen 
das  Recht  fern  ist,  d.  h.  nicht  zur  Seite  steht',  d.  h.  die  von  Rechts  wegen 
verloren  wären,  wenn  ihnen  nicht  Gnade  helfen  würde?  Razos  und  merces 
werden  ja  auch  sonst,  so  Nr.  39  Str.  3  u.  4,  einander  gegenübergestellt. 

38,  73  u.  75.  Per  qu'ieu  vos  quier 

Cosseill  entier 
Et  ajuda  certana. 
Sia-m  merces  prosmana, 

Maire  de  Dieu, 
Don  m'arma  sia  sana. 

Cosseill  wird  'consiglio'  übersetzt;  sollte  es  hier  nicht  eher  'Hilfe'  sein?  — 
Übs.  von  V.  75  'la  vostra  misericordia  non  sia  tarda  a  venire'.  Ich  denke, 
es  ist  zu  deuten:  'sei  mir  nahe,  stehe  mir  zur  Seite';  vgl.  V.  67  Ära  vos 
prec  ...  Queno-m  siatz  lonhdana,  das  B.  'che  non  mi  abbandoniate'  über- 
setzt, und  die  vorhergehende  Bemerkung  zu  38,  19. 


116  Kleinere  Mitteiliingon 

39,  28  ff.        E  si  merces  np  m'es  amia, 

Tot  nion  afar  tem  que  dechaia, 
Que  razos  fort  nien  cspaventa 
Qi  no  m'es  parens  ni   vezina, 
Ans  m'es  a  dan  per  ma.  faillensa. 

Die  von  Bertoni  und  Leweut  gegebenen  Deutungen  scheinen  mir  schwerlich 
befriedigend.  Ich  möchte  fragen,  ob  nicht  folgendermaßen  zu  verstehen  ist: 
'dann  fürchte  ich,  daß  es  mit  meiner  ganzen  Sache,  Angelegenheit  schlecht 
gehen  wird,  denn  Recht,  Gerechtigkeit  erfüllt  mich  in  bezug  darauf  (sc.  wie 
es  mit  meiner  Sache  gehen  wird}  mit  Schrecken,  sie  (die  Gerechtigkeit),  die 
mir  nicht  hilfreich  zur  Seite  steht,  sondern  mir  meiner  Schuld  wegen  zum 
Schaden  gereicht',  mit  anderen  Worten:  wenn  es  nach  Recht  und  Billigkeit 
geht,  dann  muß  ich  wegen  meiner  Sünden  verdammt  werden,  nur  Gnade 
kann  mir  helfen.  Auf  diese  setzt  der  Dichter  denn  auch  seine  ganze  Hoff- 
nung, indem  er  fortfährt  V.  36 — 40: 

Sol  que  vostra  merces  mi  sia 
Ajudaritz,  dretz  no  m'esmaia 
Ni  blan  razon  ni  sa  -parenta. 
Pero  mcrgut  ai  dretz  m'aueia! 
Mas  vostra  rnerees   me  n'estraia 
E  ja  ma  mort  non  li  consenta. 

Ob  wohl  ajudaritz  wirklich  haltbar  ist?  Ändert  man  nicht  besser,  wie  es 
in  Hs.  a  nachträglich  geschehen  ist,  in  ajudairitzt  —  8a  parenta  macht  be- 
sondere Schwierigkeiten.  Ich  frage  mich,  ob  nicht  etwa  dret  damit  gemeint 
sein  kann;  razon  und  dret  sind  verwandt.  Worin  sie  sich  unterscheiden,  oder, 
besser  noch,  welchen  Unterschied  der  Dichter  zwischen  beiden  machen  woUt«^, 
falls  er  sich  darüber  überhaupt  klar  war,  vermag  ich  nicht  zu  sagen.  Nach 
Lewent  ist  dret  die  allgemein  waltende  Gerechtigkeit,  die  Lohn  und  Strafe 
austeilt;  ist  dret  etwa  das  Recht,  dem  der  Richter  beim  Urteilsspruch  zu 
folgen  hat,  vgl.  qu'aia  mcrcc  ...  al  jutjar  V.  47 — 48,  und  razon  'Gerechtig- 
keit, Billigkeit'?  —  V.  40  scheint  Pero  'aber'  kaum  am  Platze;  man  würde 
doch  eher  erwarten  'zwar  habe  ich  nach  dem  Recht  den  Tod  verdient,  aber  .. .'. 
Überliefert  ist  Pero  demergutz  sui  dretz  m'aueia.  Sollte  nicht  Pero  zu  tilgen 
sein?  Ob  demergutz  sui  möglich  ist,  ob  demergut  ai  zu  ändern  ist,  oder  ob 
sonstwie  geändert  werden  müßte,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden;  vgl.  Sppl. 
Wb.  demerir.  —  Den  letzten  Vers  übersetzt  B.  'e  non  consenta  la  mia  morte, 
senza  salvezza'.  Von  'senza  salvezza'  steht  nichts  im  Text,  dagegen  fehlt  in 
der  Übersetzung  das  li;  daß  dieses  sich  auf  dretz  bezieht  —  vgl.  die  An- 
merkung — ,  ist  zweifellos. 

40,  13.  Se  cel  qi  fall  agues  lo  dol  e-1  dan, 

Tot  l'agr'  amors,  c'aitan  mal  si  capte, 
Q'e?.  destreing  Tun  e  laiss'a  l'autre-l  fre. 

Wenn  man  in  el  nicht  einen  Fehler  der  gemeinsamen  Vorlage  der  drei  Hss., 
die  das  Gedicht  enthalten,  sehen  und  dafür  il  einsetzen  will,  ist  amors  hier 
männlich,  worin  Bertoni  S.  169  einen  Italianismus  sehen  will.  Darin  möchte 
ich  ihm  beistimmen.  Schultz-Gora  meint  zwar,  diese  Annahme  sei  nicht 
nötig,  da  sieh  masc.  amors  auch  Appel  Chr.  85,  26  (Tenzone  Catola-Marca- 
brun,  nicht  Mönch  von  Mont.)  finde.  Hier  hat  allerdings  Appel  zuerst  mit 
der  Hs.  Qtt'amors  si'ah  engan  mesclatz  gelesen,  und  so  hat  auch  der  Text 


Kleinere  Mitteilungen  117 

von  Dojeanne,  aber  später  hat  Appel  das  handschriftliche  amors  in  amor 
geändert,  und  er  schreibt  jetzt:  Qu'amor  si  ab  engan  mesclatz  'daß  ihr  so 
Lieb'  uud  Betrug  vermengt'.  Und  daran  hat  er  m.  E.  sehr  recht  getan,  denn 
wenn  wir  Hunderte  von  Belegen  von  weibl.  amor,  color,  valor  usw.  haben, 
sind  wir  nur  dann  zur  Annahme  männl.  Geschlechts  berechtigt,  wenn  kein 
anderer  Auswegbleibt;  nur  bei  Trobadors  italienischer  Herkunft  dürfte  man 
vielleicht  weniger  streng  verfahren  dürfen.  Darum  würde  ich  auch  in  Pois 
forsa  m'en  amors  . . .  A  cui  det  Dens  aitan  de  seingnoratgc  Que  cui  e  l  vol 
destreing  e  pren  c  lia^  Mönch  von  Mont.  15,  56  ohne  Zögern  el,  das  von  den 
Hss.  AB  und  nach  der  Variantenangabe  bei  Klein  auch  in  CD  (was  aber 
noch  nachzuprüfen  wäre)  überliefert  ist,  durch  ques  Hs.  I  ersetzen;  Hs.  F 
qui  si,  T  qui  se,  R  Qe  se  quel  play.  —  In  der  von  B.  in  der  Anmerkung 
angeführten  Stelle  Flamenca2  3334:  Qu' eiss' Amors  non  val  ad  amor.  E  per 
so  •  m  fai  mais  de  paor,  Quar,  s' Amors  ad  amor  valgues,  Eu  am  l  o  mais 
que  nulla  res,  E  degram  hen  valer  Amors  E  contr'amor  faire  socors;  Car 
amors  es  lo  7nals  c'om  a,  Et  Amors  es  zo  quel  mal  fa  ist  sicher  eine  Ände- 
rung nötig,  nicht  nur  weil  Amors  für  den  Dichter  weiblich  ist,  vgl.  V.  2564, 
3193,  3848,  sondern  auch  des  Sinnes  wegen,  denn  davon,  daß  Guilhem  Amor 
liebe,  kann  natürlich  nicht  die  Rede  sein.  Paul  Meyer,  Flamencal  S.  336 
übersetzt  gewiß  richtig:  'si  Amour  pouvait  quelque  chose  contre  l'amour,  il 
devrait  bien  me  secourir,  moi  qui  aime  plus  qu'homme  du  monde'.  Ob  etwa 
Änderung  von  lo  in  molt  genügen  würde?  Bertoni  führt  in  der  Anmerkung 
noch  die  folgende  Stelle  an:  Mas  amor  no  auch  ni  no  vei  Ni  vo  sai  ves  qal 
part  s'esfai.  Per  q'eu  non  puos  contendre  a  lui,  Mas  grcii-  m'es  car  de 
mi  no-s  fui  Hs.  G  fol.  122c  {S.  402  Z.  6;  Raimb.  d'Aur.).  Er  fügt  hinzu, 
daß  sie  nichts  für  ein  männliches  amor  beweise,  da  lui  auch  als  betontes 
Av eibliches  Pers.-Pron.  vorkomme.  Dagegen  erhebt  Schultz-Gora  den 
Einwand,  daß  es  nicht  sicher  sei,  daß  die  Trobadors  lui  für  lieis  gebraucht 
hätten;  die  von  V.  Eisner,  Person.  Pron.  im  Altprov.  S.  23  angeführten 
stammten  entweder  nicht  aus  lyrischen  Gedichten  oder  doch  nur  aus  ganz 
späten,  sonst  aber  seien  sie  mißverstanden  bis  auf  eine,  wo  aber  die  Va- 
riante lieis  vorhanden  sei.  Mir  scheint  aber,  daß  gerade  unsere  Stelle  von 
entscheidender  Beweiskraft  ist,  denn  einerseits  ist  lui  durch  den  Reim  ge- 
sichert, anderseits  steht  einige  Zeilen  weiter:  Ainors  se  mostra  vilann 
und  S'amors  fos  tan  hen  enseignada.  Es  ist  also  amors  auch  hier 
Femininum  und  folglich  lui  weibliches  Pronomen.  Auch  Appel,  Prov. 
Tnedifa  S.  XVIIT  gibt  ein  Beispiel,  wo  weibl.  lui  durch  den  Reim  gesichert  ist 
(Am.  de  la  Broqueira).  Man  wird  also  auch  in  den  Fällen,  wo  weibl.  lui  im 
Innern  des  Verses  steht  (außer  den  schon  bekannten  Fällen  auch  Guir.  Riq. 
71.  156).  gegen  weibl.  lui  nichts  einwenden  können.  Wegen  weiterer  Belege 
aus  Prosadenkmälern  vgl.  W.  Suchier,  Enfant  sage  S.  419  zu  102  und  Coulet, 
Rev.  IgK.  rom.  45,  380. 

40,  40.    Beure  hat  hier  doch  wohl  die  Bedeutung  'büßen';  vgl.  den  vierten 
Beleg  bei  Rayn.  II,  217  und  Sppl.  Wb.  Irure  3). 

41,2.  Eu  non  chant  ges  per  talan  de  chantar; 

Mas  si  chant  eu,  non  chant,  mas  chantan  plor. 

Die  Übs.  'ma  se  canto,  non  canto  [a  vero],  ma  . . .'  trifft  gewiß  nicht  das 
Richtige.  Appel,  Prov.  Ined.  S.  182  interpungiert  ...de  chantar.  —  Mas  si 
chant  eu?   Non  chant,  mas  . . .,  Tobler,  Verm.  Beiträge  'II,  236,  Anm.  2  . . .  'de 


118  Kleinere  Mitteilungen 

chantar,  Mas  si  chant.  —  eu?  —  non  chant,  mas  . . .  Ich  möchte  vorschlagen 
. . .  de  chantar,  mas  si  chant  eu.  Non  chant,  mas  . . .  'ich  singe  nicht  aus 
Lust  am  Singen,  aber  doch  singe  ich.  Ich  singe  nicht,  sondern  .  . .'.  Vgl. 
faz  eu  'das  tue  ich  doch'  Nr.  35,  55. 

41,  21  u.  22.       Mort  es  tot  zo  qu'el  mon  era  de  car  . .  ., 

E  zo  per  que  prezavon  domneiar, 

E  zo  per  que  valia  neis  valenza 

E  zo  per  que  estavs,  autr'  enan. 
Übs.  'e  ciö  per  cui  ancora  era  stimato  il  merito,  e  ciö  per  cui  si  faceva  a  gara 
a  migliorarsi'.  Aber  neis  ist  doch  nicht  ancora.  Mir  scheint,  daß  die  Deu- 
tung Appels,  Prov.  Ined.  S.  183  'das  wodurch  (Appel:  um  derenwillen)  selbst 
die  Trefflichkeit  erst  Wert  erhielt'  das  Richtige  trifft;  doch  darf  nicht  ver- 
schwiegen werden,  daß  gerade  das  so  wichtige  'erst'  nicht  im  Text  steht.  — 
Wie  B.  zu  seiner  Deutung  des  letzten  Verses  gekommen  ist,  sehe  ich  nicht 
recht.  Ich  weiß  nicht,  wie  zu  deuten  ist.  Ob  man  etwa,  der  in  Hs.  a  vor- 
genommenen Korrektur  entsprechend,  antrenan  lesen  und  'das  wodurch  sie 
(sc.  valensa)  vorne  dran  war,  in  erster  Reihe  stand'  deuten  dürfte?  Aber 
schon  der  Umstand,  daß  dann  valensa  in  zwei  Versen  Subjekt  wäre,  während 
sonst  jeder  der  vorhergehenden  Verse  ein  besonderes  Subjekt  hat,  erregt 
Bedenken. 

41,  41  u.  42.  E  si  tot  sai  en   reman  dechaenza, 

Li  Saint  angel,  la-n  portaran  chantan; 

Per  son  profieg,  si  tot  nos  torn'a  dan, 

No-s  deu  adur  de  plorar  estenenza. 
Übs.  'Per  suo  vantaggio,  bench&  torni  a  nostro  danno,  non  dobbiamo  astenerci 
dal  piangere'.  Das  gibt  doch  keinen  Sinn.  Welchen  Vorteil  sollte  die  Ver- 
storbene wohl  davon  haben,  wenn  die  Zurückbleibenden  nicht  weinen?  Schon 
Schultz-Gora  hat  hervorgehoben,  daß  die  Stelle  so  nicht  verständlich  ist,  die 
Übersetzung  nicht  in  den  Zusammenhang  paßt,  und  daß  über  das  eigentüm- 
liche adur  nichts  gesagt  wird.  Wenn  eine  gewagte  Frage  erlaubt  ist,  sei 
mir  die  folgende  gestatt-et.  Ist  etwa  die  Interpunktion  nach  chantan  zu 
streichen,  nach  profieg  ein  Punkt  zu  setzen,  Nos  statt  No:s  zu  schreiben, 
adur  =  aduire,  adurre  anzusehen  [redurre  ist  im  Sppl.  Wb.  belegt.;  trar  für 
traire  bei  Zorzi  und  sonst,  vgl.  Chabaneau,  Rev.  Igs.  rom.  25,  197)  und  zu 
übersetzen:  'die  Engel  werden  sie  davontragen  zu  ihrem  (sc.  der  Verstor- 
benen) Vorteil.  Wenn  das  uns  auch  zum  Schaden  ausschlägt.,  so  muß  es  uns 
doch  Enthaltsamkeit  vom  Weinen  bringen',  d.  h.  wenn  ihr  Tod  für  uns  auch 
ein  herber  Verlust  ist,  so  sollen  wir  doch,  da.  sie  dadurch  der  ewigen  Selig- 
keit teilhaft  geworden  ist,  nicht  klagen;  der  Gedanke,  daß  die  Verstorbene 
bei  Gott  ist,  soll  den  Zurückbleibenden  ein  Trost  sein.  Vgl.  Nr.  42,  21  ff.: 
Grans  es  lo  dols  e  maier  for'assatz  Dels  cavaliers  qui  son  mort  en  Siiria,  Si 
no-ls  agues  Dieus  pres  en  compaignia. 

42,  21.  Meillor.  Zu  dem  in  der  Anmerkung  Gresagten  ist  zu  bemerken, 
daß  Rayn.  IV,  183  zwei  Belege  von  melhorar  mit  o  in  unbetonter  Silbe  an- 
führt, vier  weitere  Sppl.  Wb.  s.  v.  melhorar  1),  7)  und  Schluß;  ein  Beleg  mit 
0  in  betont«r  Silbe  ibid.  melhorar  9),  allerdings  nicht  im  Reim. 

42,  29.  Q'il  troberan   a  pro  de  cassadors. 

Übs.  'che  troverebbero  molti  inseguitori'.  Aber  o  pro  de  heißt  doch  nicht 
'viele'.    Mir  bleibt  die  ganze  Stelle  unklar. 


Kleinere  Mitteilungen  119 

42,  39.  E-1  reis  engles  aia  cor  de  l'acors  .  . . 

E  pas  la  mar  ab  poder  e  no-s  feingna. 

übs.  's'infinga';  Lewent  'er  verstelle  sich  nicht,  mit  dem  Nebensinn  er  sei 
nicht  träge'.  Man  wird  'zögern,  zaudern'  übersetzen  dürfen;  vgl.  Sppl.  Wb. 
fenher  4). 

42,  44.  Lewents  Deutung  der  Stelle  trifft  gewiß  das  Richtige.  Der  Sinn 
ist:  wenn  auch  die  Spanier  ruhmvoll  gegen  die  Sarazenen  in  ihrem  eigenen 
Lande  gekämpft  haben,  so  genügt  das  doch  nicht,  um  sie  von  der  Verpflich- 
tung, auch  am  Kampfe  im  heiligen  Lande  teilzunehmen,  zu  befreien,  denn 
jene  sind  nicht  die  Zerstörer  des  heiligen  Grabes,  die  es  jetzt  zu  bekä.mpfea 
gibt. 

43,  7.  Mas  los  cabals  es  razos  q'ie-n  retraia, 

Sivals  per  dir  als  avols  zo  qeil  pes 
E  per  plazer  dels  gais  e  dels  cortes. 

Bertoni  hat  in  der  Anmerkung  zu  der  Stelle  und  S.  167  die  Änderung  in 
qels  erwogen,  aber  zurückgewiesen;  Lewent  hält  sie  dagegen  für  empfeh- 
lenswert. Ich  möchte  Bertoni  beistimmen,  denn  li  als  Dat.  Plur.  findet  sich 
noch  einmal  bei  Cigala  41,  32:  C'oi  mais  en  dol  et  consir  viuran,  E  zo  li 
er  piegz  de  mort,  a  ma  parvenza,  und  ist  ja  auch  sonst,  wenn  auch  nicht 
häufig,  zu  belegen,  vgl.  Chabaneau,  Romania  5,  372,  Revue  des  Igs.  rom.  25, 
113—114,  32,  514  zu  253  u.  33,  606  zu  34,  7;  Schultz-Gora,  Prov.  Dicht.  IV, 
15  Anmkg.;  Bertoni,  An.  du  Midi  24,  213  zu  646.  Bertoni  selbst  führt  S.  167 
zwei  der  von  Chabaneau  beigebrachten  Belege  an,  von  denen  aber  Guilh.  de 
la  Barra  115:  E  Dieus  ...  Los  fey  venir  ...  En  .1.  fort  de  mar  tan  suait 
Hon  lunh  temps  no  periro  nau  Ni  vens  no  l  i  poc  contrastar  m.  E.  nicht  be- 
weisend ist,  denn  li  kann  sich  ja  auf  den  Obl.  wSing.  nau  beziehen.  Wie  der 
vorletzte  Vers  zu  verstehen  ist,  ist  mir  allerdings  nicht  recht  klar. 
43, 17.  Mas  d'aquels  paucs  non  es  razos  c'om  taia 

Sos  onratz  faitz. 

Da  zu  bemerkt  Lewent;  'Li<;gt  hier  nicht  ein  Schreibfehler  für  Los  vor,  so 
hat  man  es  offenbar  mit  einem  Italianismus,  wenn  nicht  des  Dichters,  so  des 
Schreibers  zu  tun.  Denn  es  ist  bekannt,  daß  suo  im  Altital.  auch  als  Posses- 
sivum  der  Mehrheit  verwendet  wurde.'  Aber  auch  prov.  Beispiele  solcher 
Verwendung  fehlen  ja  nicht,  wenn  auch  die  Belege  fast  ausschließlich  nicht- 
lyrischen  Texten  entstammen;  vgl.  Chabaneau,  Romania  4,  345  u.  5,  234  und 
Revue  des  Igs.  rom.  7.  77.  26,  116;  32,  528  zu  889;  33,  606  zu  35,  24;  37,  484; 
Priv.  Manosque  S.  LXXXII;  Jeanroy,  Voyage  Purgatoire  S.  Patrice  S.  XL 
Anm.  2  und  endlich  Zorzi,  Biogr.  II,  5  Anm. 

43,  43.  Eu  non  teing  ies  per  cavallier 

Qui  non  socor  de  bon  talen 

0  de  son  poder  franchamen 

Dieu,  pos  el  n'a  tan  gran  mestier. 

Es  ist  doch  gewiß  E  statt  0  zu  ändern,  wie  es  die  Übersetzung  auch  tut. 

43,  52.  Hom  demanda  tot  jorn  e  qier 

A  Dieu  conseil  e  garimen. 

Übs.  'cou.siglio  e  aiuto'.     Besser  wohl  'Hilfe  und  Schutz". 
45,  35.  De  l'amoros  sospir 

Qe-m  venc  dal  cor  e-m  ciecet  far  fenir. 


120  Kleinere  Mitteilungen 

Übs.  'e  parve  mi  facesse  morire'.  Es  ist  doch  wohl  zu  deuten  'und  mich  fast 
getötet  hätte'. 

47,  9.  Que  tot  zo  q'ieu  puesc  ni  q'ieu  sai 

Vos  profer  et  ancara  mai, 

Que  j>auc  mi  sembla  zo  qu'eu  ai 

Ad  honrar  vos   si  com  s'eschai, 

Per  qu'eu  d'aillors  m'en  propcerai. 

Die  Hss.  überliefern  in  der  letzten  Zeile  proptcrai  I  K,  prompttrai  a,  und 
Schultz-Gora  hat  durchaus  recht,  wenn  er  empromptarai  lesen  möchte,  nur 
ist  darin  m.  E.  nicht  ital.  inprontare,  sondern  das  Sppl.  WTd.  II,  406  belegte 
emprumtar  zu  sehen,  und  pauc  ist  'zu  wenig'  zu  deuten,  vgl.  Sppl.  'Wb.  pauc 
6).  Es  ist,  denke  ich,  zu  verstehen:  'was  ich  kann  und  weiß,  biete  ich  euch 
dar  und  noch  mehr,  denn  zu  wenig  scheint  mir  das,  was  ich  habe,  um  euch  sn 
zu  ehren,  wie  es  sich  gebührt.  Deshalb  werde  ich  mir  von  einem  andern 
leihen'.  Was  aber  mit  dem  'noch  mehr'  gemeint  ist  und  von  wem  der  Dichter 
leihen  will,  ist  mir  nicht  klar. 

47,26.  Et  auriam  per  enemic 

Qui-us  fezes  enoi  ni  destric, 
Ni-m  creiria  d'aisso  chastic, 
Q'aissi  deu  hom  amar  amic. 

Übs.  'senza  prendere  consiglio  da  alcuno  in  ciö'.  Nein,  sondern  'und  in  bezug 
darauf  würde  ich  keiner  Ermahnung  willfahren  (oder:  auf  keinen  Tadel 
hören)',  d.  h.  davon  würde  ich  nicht  abgehen,  auch  wenn  man  mir  das  Gegen- 
teil riete  (oder:  auch  deswegen  tadelte). 

47,51.     Failliit  (3  Perf.,).     Die  Hs.  hat  jaUh;  cor.  failhi. 

50,  22.  Deul.  Das  l  ist  nicht  überliefert  und  nicht  zu  ergänzen,  vgl.  Lit. 
Bl.  10,  183  zu  14,  22. 

50,  24.     Tanz  cavalUers.     Warum  wird  tatiz  mit  'sifatti'  übersetzt? 

50,  25.  Wegen  muzatge  vgl.  Sppl.  Wb.  V,  353a.  Wie  der  Text  richtig  zu 
lesen  ist.  hat  schon  Schultz-Gora  gesagt,  razonar  ist  hier  'verteidigen'. 

50,  31 — 32.  Die  richtige  Deutung  hat  Levfent  gegeben,  nur  glaube  ich 
nicht,  daß  per  s'amor  'trotz  (unbeschadet)  seiner  Liebe'  bedeuten  kann. 

50,  40.  E  car  los  drutz  cochatz  tan  malamen, 

Lur  faill  poders,  don  vos  sohra  feunia. 

Übs.  'su  voi  ricade  il  torto'.  Nein,  sondern  'deswegen  beherrscht,  überwäl- 
tigt euch  Zorn,  Unwille',  d.  h.  darüber  seid  ihr  sehr  aufgebracht. 

50,  46 — 48.  Ma  chascus  razon  pren. 

Qar  sai  qe  ha  tan  de  recrezemen 
Q'ai  maior  ops  poders  li  failliria. 

Die  Stelle  hat  B.  mißverstanden.  Es  ist  nicht  nur,  wie  Schultz-Gora  und 
Lewent  anmerken,  razon  'Vorwand'  zu  deuten,  sondern  m.  E.  auch  für  sai 
mit  IK  sap  zu  lesen  oder  die  Lesart  von  Hs.  M.  aufzunehmen.  AI  maior  ops 
ist  ebenso  zu  erklären  wie  im  letzten  Beleg  s.  v.  ops  5),  Sppl.  Wb.  V,  500; 
vgl.  auch  V.  50     . 

Domna,  poder  ai  eu  et  ardimen, 

Non  contra  vos,  qe-us  venzes  en  jazen,     • 

wo  die  letzten  Worte,  die  B.  'con  tutta  facilitä  (litteralmente:  vi  vincerei 
dormendo)'  übersetzt,  'beim  Beiliegen'  zu  deuten  sind. 


Kleinere  Mitteilungen  121 

51,  25.  Qe  del  sieu  cors  veser  no-m  prent  gran  cura, 

Se-1  giorn  la  vei  vestid'e  no  la  toc. 

Die  übs.  'chö  se  durante  la  giornata  la  vedo  vestita,  e  non  la  tocco,  ciö  signi- 
fica  che  non  mi  interessa  molto'  triflFt  nicht,  das  Richtige.  'Sie  zu  sehen,  trage 
ich  keine  Sorge,  ist  mir  gleichgültig,  wenn  ich  sie  bei  Tage  bekleidet  sehe 
und  nicht  berühre',  d.  h.  es  liegt  mir  nichts  daran,  sie  in  ihren  Kleidern  aus 
der  Entfernung  zu  sehen,  ich  will  sie  nackt  in  den  Armen  halten   (V.  6 — 7). 

53, 18.  'scondire 

No-us  en   podetz,  s'ieu  ia  haia  zo  qu'ieu  dezire 

übs.  'se  io  ho  gia  ottenuta  la  vittoria  che  desidero'.  Lewent  bemerkt  dazu : 
'Der  Konjunktiv  ist  durchaus  unberechtigt;  lies  s'ieu  ia  hai  azo.'  Ich  meine, 
es  ist  nichts  zu  ändern  und  zu  deuten:  'so  wahr  ich  jemals  haben  möge,  was 
ich  ersehne',  d.  h.  so  wahr  ich  hoffe,  daß  meine  Wünsche  in  Erfüllung  gehen 
mögen. 

54,  8.  Qar  eil  qi  m'a  del  tot  el  sieu  poder 

Mi  mostr'orgueil  e  fai  noii  da  dever. 

Übs.  'e  so  che  non  fa  sul  serio.'  Nein,  sondern  'sie  handelt  nicht  wie  sie 
handeln  sollte'. 

55,21.     Mesclat'.     Korr.  mesclad'   (Druckfehler). 

55,41.  Amics  Symon,  ben  par  qe-us  etz  fegnenz, 

Qar  non  avetz  lo  cor  dels  amadors. 

Übs.  'ben  si  vede  che  siete  ondeggiante'.  Ich  verstehe:  Ihr  heuchelt,  d.  h.  Ihr 
seid  kein  wahrer  Liebhaber. 

55,  61.     Estiers  mi  donz  c'ades  meillur'e  genza.     Nicht  'piace',  sondern 
'schöner  wird',  vgl.  Sppl.  Wh.  gensar  1). 

56,  48.  Mas  aquel  que  sap  far 

Mais  de  plazers,  de  bon  cor  plus  meillura 

Das  Komma  ist  nach  cor  statt  nach  plazers  zu  setzen;  vgl.  V.  16  Qi  de  hon 
cor  sai  (cor.  sap)  far  [hos]  faitz  plazentz.  Nach  den  Varianten  hat  die  Hs. 
hier  sai  faitz  faitz  pl.,  nach  den  Var.  zum  Abdruck  in  den  Trov.  min.  di 
Genova  S.  8  sai  faitz  pl.  Wie  ist  überliefert?  —  V.  48  ist  demnach  die  Über- 
setzung zu  ändern,  abgesehen  davon,  daß  de.  hon  cor  doch  wohl  unter  keinen 
Umständen  'egregiamente'  bedeuten  könnte. 

57,  4.  Car   etz   tant  conoissenz,    vos    voil, 

Segn'en  Lanfranc,  qerer  d'amor, 
Q'ie-n  voil  appenr'et  ai  paor 
Non  trassaillis  als  prims  essais. 

übs.  'temo  di  restar  vinto'.  Wie  sollte  trassalhir  wohl  zu  der  Bedeutung 
kommen?  Ich  denke,  es  ist  'verkehrt,  schlecht  handeln,  eigentl.  die  richtige 
Grenze,  das  rechte  Maß  überschreiten'  zu  verstehen;  vgl.  E  s'eu  ges  per 
s'amor  trassalh  ...  Ni-lh  m'enquer  calque  no-dever.  Guir.  de  Bornelh 
11,49;  07ie  falhimens  e  mespreizos,  Con  fols  trassalh,  Fai  delixtrar  Con- 
vcns  e  mans  e  gazardos  ibid.  17.  28;  Böses,  si  tot  adora-sfalh,  E  mals.simalfa 
e  trassalh  Per  colpa  de  cor  que  iw-l  val  At  de  Mons  IV,  132;  ferner 
Gavaudan  7,  13  u.  14. 

57,  9.     Esser  ioios  de  ist  hier  dem  conqucrer  V.  6  synonym.     Lewent  hat 


122  Kleinere  Mitteilungen 

also  das  Richtige  erkannt,  nur  ist  tant  que  nicht  'bis',  sondern  'so  sehr,  so 
weit,  daß'. 

57,  30.    Aver  sabor  heißt  doch  nicht  'aver  peso'. 

57,  62.  Symon,  ab  mi  si  deu  teuer  . . . 

Na  Flors,  e  s'il  n'es  acordanz, 

No-m  chal  s'en  Jacmes  ten  ab  vos. 
Da  in  der  ersten  Zeile  reflex.  tener  und  V.  58  der  Nomin.  Jacme  steht,  ist 
Jacmes  zu  schreiben.     Damit  wird  die  Anmerkung  hinfällig. 

58,  45.  S'ieti  agues  volgut  ist  mit  'se  mi  fossi  accontentato'  nicht  richtig 
wiedergegeben. 

58,  53.  E  ben  pauc  vos  vei  enveios 

De  joi  ni  d'ouor  cobeitos 
Qu'enaissi  metetz  en  soan 
L'auzor  e  saubut  honramen 

Per  joi  don  res  non  sabria. 

In  den  Trov.  min.  Genova  S.  18  hatt«  B.  lauzor  gedruckt,  er  hat  jetzt  aber 
die  von  Jeanroy,  Romania  33,  611,  vorgeschlagene  Änderung  in  l'auzor  an- 
genommen. Jeanroys  Gründe  scheinen  mir  nicht  stichhaltig;  der  Zusaxn- 
menhang  verlangt  weder  ein  Adjektiv,  noch  ist  der  Artikel  notwendig,  auch 
ist  das  Gerede  der  Leute  doch  gewiß  nicht  die  'höchste'  Ehre.  Es  ist  lauzor 
zu  schreiben,  das  dem  lau  V.  35  entspricht. 

59,  28.  Ni  ieu  non  l'o  prezera, 

Q'il  fez  a  mi,  anz  me-n  desesperera. 

Es  ist,  denke  ich,  Qil  zu  schreiben;  'wenn  jemand  (eine)  mir  das  täte'. 

60,  61  flF.  E  quar  non  tain  q'esser  deia 

Pros  domna  d'avol  autreg, 

Nom  pren  del  iazer  enveia, 

Qu'ieu  am  mais  q'eu  non  enveg. 

Mas  vostre  fols  cors  dereia 

E  vol  ab  gien  passar  dreg, 

Per  q'ieu  non  conseil  qeus  crieica 

Domna  qui  a  pretz  eleg, 

Qar  nous  vei  prim  ni  adreg 

Ves  qe  fin'amor  plaideia. 
B.  übersetzt  die  ersten  beiden  Zeilen  'poichd  non  conviene  che  una  donna 
prode  miserevolmente  si  conceda'.  Ist  das  richtig?  Oder  ist  nicht  vielmehr 
'etwas  Schlechtes  gewähre'  zu  verstehen?  —  Creia  ist  hier  doch  'willfahren'. 
—  Übersetzung  der  letzten  Zeile  'verso  ciö  che  6  presidio  di  fino  amore'. 
Trov.  minori  Genova  'verso  ciö  che  riguarda  fino  amore'.  Aber  plaidejar 
heißt  doch  weder  das  eine  noch  das  andere.    Mir  bleibt  der  Sinn  unklar. 

60,  64.  Mas  ieu  ... 

Voil  lo  iazer  ... 

E  del  domnei  me  refreg 

Car  qecs  ab  st  donz  domneia. 
Übs.  'ciascuno  puö  donneare  con  la  propria  donna'.     Warum  'propria'? 

62, 14.  Luecs.  Aus  der  Bemerkung,  daß  'auch  Hs.  a  luec'  hat,  ist  wohl  zu 
schließen,  daß  B.  luec  in  den  Text  setzen  wollt«.  Das  von  I  K  überlieferte 
luccs  haben  Pelaez,  Crescini  und  Bertoni  in  seinem  Abdruck  in  den  Trov. 
min.  Genova  aufgenommen,  während  der  Text  in  Bartsch-Koßchwitz'  Chr. 
luec  hat.    Ist  nicht  luec  vorzuziehen? 


Kleinere  Mitteilungen  123 

62,  16.     Se  van  desconoissen.     Vgl.  Sppl.  WT>.  desconoiser  2). 
62,20.  E  qui  vos  venz,  ar  no-s  cug  que-1  n'eschaia 

Laus  ni  bon  pretz. 

Cb.s.  'non  credo'.    Aber  cug  ist  3.  Pers.  Präs.  Konj. 

63,  1.  Die  Frage  ist:  wollt  ihr  lieber  ohne  Gegenliebe  zu  finden  treu 
lieben  als  durch  List  und  Trug  die  Liebe  der  Dame  gewinnen  oder  wollt  ihr 
lieber  durch  Falschheit  ihre  Liebe  gewinnen  als  vergeblich  schmachten.  Es 
ist  also  in  der  Übersetzung  Ditemi  dunque  zu  tilgen,  o  vor  siete  zu  ergänzen 
und  che  statt  o  vor  di  languire  zu  schreiben, 

64,  9.  Car  jois  e  pretz  revendra  qi-s  perdia, 

Car  la  pros  coms  proenzals  Lombardia 
Vol  conquerer  et  Toscas  et  Puilles, 
Et  d'autra  part  Couratz  vol  son  paes 
E-1  reis  Matfre  non  s'i  acorda  mia, 
Per  qu'entre-ls  faitz  aura  pretz  sa  hailia. 

Übs.  'Per  questo,  fra  le  imprese,  acquisterä  pregio  la  signoria  di  Carlo'.  Es 
ist  doch  gewiß  zu  verstehen  'Pretz  wird  herrschen',  nicht  Karl.  Sollte  statt 
des  auch  Bertoni  nicht  befriedigenden  faitz  etwa  tres  zu  ändern  sein  (vgl. 
V.  47)  ? 

64,  29.  E  si  Conratz  non  es  valens  e  pros, 

Deslignara,  car  li  seu  an  Soria; 
Non  era-1  seu  bastant,  se  plus  noi  fos. 

Soria  steht  schon  V.  17  als  Reimwort,  auch  kann  die  letzte  Zeile  doch  nicht 
'e  non  sarebbero  i  suoi  possessi  bastanti,  se  non  fossero  maggiori'  bedeuten. 
Hs.  a  hat  qal  seu.  ancessoria,  und  das  ist,  meine  ich,  zu  bewahren  und  das 
Semikolon  am  Ende  des  Verses  zu  tilgen ;  q'al  seu'  ancessoria  'seinen  Vor- 
fahren genügte  nicht'.  Godefroy  hat  ancesseric;  der  enklitische  Obliq.  des 
weibl.  Artikels  findet  sich  auch  Nr.  62,  34. 

64,  37  u.  40.  Sei  reis  Matfres  fos  princeps  coratjos 

Ni  zo  qe  te  conques  per  galiardia, 
S'era  o  pert,  qant  es  reis,  per  un  dos 
N'aura  blasme,  car  mais  de  caresti<i. 
Lo  deu  gardar  com  plus  l'ac  a  fadia. 

Übs.  von  V.  40  'tanto  piü  lo  deve  difendere  da  ogni  diminuzione'.  Hs.  a  hat 
qua  mais,  und  ich  denke,  das  ist  zu  bewahren  und  a  carestia  dem  a  fadia 
gegenüberzustellen.  Auch  ist,  meine  ich,  in  der  ersten  Zeile  fos  in  fo  zu 
ändern  und  das  Ganze  so  zu  deuten :  'wenn  König  Manfred  ein  mutiger  Fürst 
war  (d.  h.  mutig  zur  Zeit,  als  er  noch  Fürst,  noch  nicht  König  war)  und 
das,  was  er  besitzt,  durch  Mut  gewann,  so  wird  er,  wenn  er  es  jetzt,  da  er 
König  ist,  verliert,  doppelt  getadelt  werden,  denn  mit  um  so  größerer  Liebe, 
Sorgfaltimuß  er  es  hüten,  mit  je  größerer  Mühe  er  es  erwarb'.  Vgl.  carestia 
Sppl.  Wb.  I,  213. 

65,  24.  Avenir  +  Inf.  findet  sich  auch  Revue  d.  Igs.  rom.  20,  55  V.  92  (Arn. 
de  Mar.):  La  vostra  grans  leutatz  E:l  deport  e-l  solaz  ...Mi  fan  teuer 
enclaus  Ins  el  cor  tal  desir  Don  nv'a v  enra  mor  ir,  8e  no-us  en  pren  merces. 

65,  25  ff.  Vor  atiteza  ist  -9^.  ausgefallen,  vgl.  Trov.  min.  Genova  14,25.  — 
Wegen  manes  siehe  Sppl.  Wb.  manes  2.  —  Die  richtige  Deutung  von  V.  28 
gab  Jeanroy,  Romania  33,  612.  —  Wegen  portar  senhoria  siehe  Sppl.  Wb. 
senhoria  10).  —  V.  31 — 32  e  non  cobeit  l'aver  Lo  sohre^lus  kann  unmöglich 


124  Kleinere  Mitteilungen 

'non  aspiri  a  troppo  avere'  bedeuten.  Ich  frage  mich,  ob  nicht  das  V  zu  tilgen 
und  zu  deuten  ist  'und  er  begehre  nicht  das  Übrige  zu  haben'.  Was  aber  mit 
dem  'Übrigen'  gemeint  ist,  kann  ich  um  so  weniger  sagen,  als  mir  auch  die 
Bedeutung  des  vorhergehenden  prcnda  la  votz  nicht  klar  ist. 

65,  40.  I  qe  qe  sia 

Pez  e  balanz  los  digz  e-ls  faitz  en  ver 

E'l  miels  prendre  no7i  perda  per  voler. 

Die  Übersetzung  'e  per  voler  troppo  non  perda  il  meglio'  ist  irrig;  troppo, 
worauf  es  hier  doch  besonders  ankäme,  steht  nicht  im  Text.  Wie  zu  ver- 
stehen ist,  zeigen  55,  6  und  63.  46  und  vor  allem  Sordel  40,  69  ff.,  auf  den  schon 
Crescini  hingewiesen  hat:  E  lai  an  la  halanza  niais  pcndra,  Tenez,  car  he  vos 
en  prendra.  E  nos  (rrwo-i/s)  o  tuella  voluntatz,  Qar  soven  vei  ...  Que  per 
voluntat  es  lo  senz  Desviatz. 

65,42.  Tant  a-1  reis  cor  qe  noil  plairia 

Hom  senz  cor  en  sa  compagnia, 
Segn'en  Sordel,  per  q'eu  non  l'aus  vezer, 
Qe  mon  cor  a  tals  don  no-1  pois  (sie!)  mover. 

Wie  sollte  wohl  senz  cor  'verliebt'  bedeuten  können,  wie  die  Anmerkung  er- 
klärt?   Es  liegt  hier  ein  Wortspiel  vor;  cor  'Herz'  und  'Mut'. 

67,  30.    Pogra  kann  hier  nur  erste  Person  sein. 

67,  40.  Desconoissen  steht  hier  im  Gegensatz  zu  cortes,  ist  also  mit  sco- 
noseenti  unrichtig  übersetzt. 

67,  41.  Oimais  mi  par  que  hen  si'aguitatz 

D'aisso  qu'a  dig,  e,  s'el  no  s'en  apaia, 
De  Venecians  queira-ls  faitz  honratz. 

Übs.  'ch'egli  nc  abbia  abbastanza.  con  ciö  che  ha  detto'.  Der  Sinn  ist  doch 
'das,  was  er  gesagt  hat,  ist  ihm  (durch  meine  Antwort)  heimgezahlt  worden; 
wenn  ihm  aber  das  noch  nicht  genügt,  dann  . . .'. 

67,  62  ff.  Wie  ich,  abweichend  von  Bertoni,  die  Verse  auffasse,  habe  ich 
in  der  Anmerkung  zu  Zorzi  14,  62  gesagt.  Ob  aber  meine  Auffassung  die 
richtige  ist? 

68.  Zum  Bau  der  Strophe  vgl.  Zorzi  S.  31  und  Anmerkung. 

68,  1 — 2.        Si  •  l  monz  fondes  a  maravilla  gran, 
Non  l'auria  ges   a  descovinenza  . . ., 
Puois  Quonratz  reis  — 
E  d'Austorica  l'auz  ducs  Federics  . . . 
Tan  malamenz 
Son  mort. 

Übs.  'Se  il  mondo  so  dissolvesse  con  grande  maraviglia,  non  nie  ne  adonterei'. 
Ich  verstehe  'wenn  die  Welt  in  ganz  wunderbarer  Weise  zusammenstürzte 
(schon  Eayn.  übersetzt  hier  "crouler"),  würde  ich  das  nicht  für  etwas  Un- 
passendes halten,  d.  h.  so  wäre  das  naeh  meiner  Ansicht  ganz  am  Platze, 
ganz  richtig'.*^ 

68,  25  ff.  Der  Dichter  sagt,  daß  schon  die  Erinnerung  an  den  Tod  der 
beiden  Fürsten  ihn  gerechterweise  töten  müßte. 


1  Siehe  meine  Erklärung  der  Stelle  in  'Provenzalische  Studien'  Heft  I, 
S.  86.  Sch.-G. 


Kleinere  Mitteilungen  125 

Qar  anc  non  fon  hom  joves  ni  antica 
Qe-1  mein  vaillenz 
Trop  fort 
No-ill  sobrandes. 

Die  Stelle  ist  von  Bertoni  ganz  mißverstanden  worden,  und  auch  Lewent  hat 
den  richtigen  Sinn  nicht  erkannt.    Es  ist  zu  deuten:   'denn  nie  gab  es  einen 
Menschen,   jung  oder   alt,  den  der   weniger  Treffliche    (sc.   von   den  beiden, 
Konradin  und  Friedrich)   nicht  in  hohem  Maße  übertroffen  hätte'. 
68,  31 — 32.    Qu'il  e  lur  faig  eron  tan  d'agradage 
Que  per  I'auzir, 
Ben  qu'om  no-ls  conogues, 

L'irat  sentir 
Fazion  alrgrage. 

übs.  'gli  uomini  irati  menavan  gioia'.  Es  ist  nicht  nur,  wie  schon  Lewent 
anmerkt,  irat  unrichtig  übersetzt,  sondern  auch  fazion  sentir,  und  Subjekt 
zu  fazion  ist  nicht  Virat,  sondern  il.  Es  ist  zu  übersetzen  'ließen  sie  (sc.  die 
beiden  Fürsten)   den  Traurigen  Freude  empfinden',  d.  h.  machten  ihn  froh. 

68,  36.    Die  Anmerkung  stammt  von  Paul  Meyer,  Romania  13,  483. 

68,  59.    In   der  Übersetzung  ist  conoscenti  Druckfehler  für  nemici. 

68,  72  ff.    Vgl.  die  Anmerkung  zu  Zorzi  18,  51  und  die  Bemerkung  Cha- 
baneaus,  Rev.  d.  Igs.  rom.  25,  200. 

E.  Levy   (f). 

Zum  Verhältnis  von  Sprachwissenschaft  und  Völkerpsychologie. 

Karl  Voßlers  viel  angefeindetes  und  viel  gerühmtes,  in  der  Neuheit  und 
Fülle  seiner  Gedanken  sicherlich  genial  zu  nennendes  Werk  von  1913: 
'Frankreichs  Kultur  im  Spiegel  seiner  Sprachentwicklung'  scheint  mir  ein 
ebenso  verwegenes  wie  bescheidenes  Programm  zu  bedeuten.  Seine  Ver- 
wegenheit liegt  in  diesem  Gedankengang  begründet:  Voßler  geht  davon  aus, 
daß  Sprache  in  ihren  feinsten  Komplexen,  aber  auch  in  ihren  unschein- 
barsten, kleinsten  Körperteilen,  in  ihrem  Satzbau  nicht  anders  als  in  ihren 
Formen,  ja  in  ihren  Lauten  nichts  ungeistig,  nichts  rein  körperlich,  nichts 
rein  zufällig  Entstandenes  sein  könne.  Er  will  die  Geistesart  eines  Volkes 
in  seiner  Sprache  finden,  die  Sprache  aus  dieser  Geistesart  erklären.  Was 
so  ganz  und  gar  zum  Wesen  der  Allgemeinheit  paßt,  daß  es  ihr  in  Fleisch 
und  Blut  übergeht,  daß  sie  es  mit  Selbstverständlichkeit,  ohne  erneutes 
Nachdenken,  ohne  Bewußtheit,  mechanisch  anwendet:  eine  solche  Aus- 
drucksart wird  zur  Allgemeinsprache,  wird  zur  Sprachnorm,  zur  Gram- 
matik also,  im  Gegensatz  zur  persönlichen  unerstarrt  individuellen  Aus- 
drucksweise. Und  so  besteht  Wechselwirkung  zwischen  Erkenntnis  der 
Sprache  und  Erkenntnis  der  geistigen  Beschaffenheit  eines  Volkes.  Nun 
liegt  es  verhältnismäßig  nahe,  das  Syntaktische  derart  aus  kultureller 
Besonderheit  herzuleiten.  Einen  schwierigeren  Kampf  mit  der  Materie 
kostet  es  schon,  in  der  Formenlehre  die  geistige  Sonderart  aufzusuchen. 
Zum  verwegenen  und  im  letzten  Grunde  doch  wohl  vergeblichen  Bemühen 
aber  wird  dieses  Ringen  um  das  Geistige  der  Lautgestalt  einer  Sprache 
gegenüber.  Hier  ist  doch  zu  viel  unerklärlich  Körperliches  im  Spiel.  Und 
dennoch  ist  auch  dieses  Bemühen  Karl  Voßlers  kein  ganz  fruchtloses  zu 
nennen,  denn  wenn  er  auch  nicht  rein  geistig  erklären  kann,  was  offenbar 


126  Kleinere  Mitteilungen 

nicht  dem  Geistigen  allein  angehört,  so  hat  er  doch  auch  hier  manches  der 
Geisteswissenschaft  zurückerobert,  was  ganz  an  die  Physiologie  und  Me- 
chanik verlorengegangen  schien.  Mit  dieser  Verwegenheit  zuengst  ver- 
knüpft und  manchem  Fachmann  nicht  weniger  anstößig  als  sie  ist  Voßlers 
Bescheidenheit.  Man  hört  Urteile,  die  darauf  hinauslaufen,  daß  Voßlers 
philologisches  Buch  die  typische  Arbeit  eines  Niehtphilologen,  eines  Literar- 
historikers sei.  Hierin  steckt  ein  wenig  Wahrheit.  Richtiger  müßte  es 
heißen :  Voßlers  Sprachgeschichte  sei  von  einem  Philologen  und  Literar- 
historiker, ganz  richtig:  von  einem  Manne  der  Sprachwissenschaft  und  der 
Geistesgeschichte  verfaßt.  Die  Bescheidenheit  Voßlers  besteht  eben  darin, 
daß  ihm  Philologie  keine  in  sich  abgeschlossene,  für  sich  allein  bestehende 
Wissenschaft  ist,  sondern  eine  Hilfswissenschaft,  wenn  man  so  sagen  darf: 
im  doppelten,  im  aktiven  und  passiven  Sinne,  eine  Wissenschaft,  die  un- 
gemein zur  Erkenntnis  der  Volkseigenarten  beiträgt,  die  aber  selbst  erst  zur 
Wissenschaft  werden  kann,  wo  solche  Volkseigenarten  schon  von  anderer 
Seite  her  (durch  Geschichte,  Literatur,  Kunst  usw.)  bekannt  sind,  anders 
ausgedrückt:  die  durch  die  Resultate  der  Geistesgeschichte  überhaupt  erst 
erhallt  wird,  von  sich  aus  aber  kostbare  Proben  auf  diese  Resultate  macht 
und  sie  bekräftigt  oder  als  fehlerhaft  erscheinen  läßt.  Einen  Gefahrpunkt 
freilich  birgt  Voßlers  Betrachtungsweise.  Er  ist  der  Ansicht,  daß  vor  dem 
Erscheinen  eines  schöpferischen  Genies  die  Geistigkeit  seines  Volkes  und 
seiner  Epoche  im  Keime  und  unbewußt  schon  das  in  sich  trage,  was  der 
Genius  nun  verkünden  wird.  Woraus  aber  diese  Keime,  dieses  Unbewußte 
erkennen?  Eben  aus  dem  unbewußten,  erstarrten,  mechanisierten  Gesamt- 
ausdruck eines  Volkes,  aus  seiner  Sprache,  Voßler  sieht  am  damaligen 
französischen  Sprachstand,  daß  Frankreich  für  Descartes  reif  ist,  er  sieht 
den  Cartesianismus  vorgebildet  in  der  Logik  des  damaligen  Französisch. 
Hier  ist  gewiß  die  Gefahr  eines  künstlerischen  Hineindeutens  —  aber  es  ist 
doch  nur  retrospektive  Prophezeiung,  die  geübt  wird,  und  schließlich  ge- 
schieht nichts  anderes,  als  daß  der  Kenner  der  französischen  Philosophie  das 
spezifisch  Französische  ihres  Wesens  aus  seiner  Kenntnis  der  französischen 
Sprache  bekräftigt. 

Voßlers  Buch,  das  der  gewissermaßen  isoliert  und  exakt  naturwissen- 
schaftlich arbeitenden  Sprachwissenschaft  neue  Wege  zeigte,  und  das  un- 
geheures Material  in  wenige  hundert  Seiten  zusammendrängte,  mußte  sich 
natürlich  vielfach  auf  Mutmaßungen  und  Andeutungen  beschränken;  ein 
Romanist  kann  es  geradezu  als  Aufgabensammlung  betrachten.  Nun  hat 
es  Voßlers  Schüler  Lerch  (der  als  Toblers  Schüler  begann)  mit  fleißigstem 
Sammeleifer  und  beherrschender  Sachkenntnis  unternommen,  die  neue  Me- 
thode auf  eine  Einzelheit  anzuwenden.  Und  hierbei  springt  ein  Doppeltes 
überraschend  stark  hervor:  einmal  das  prachtvoll  Lebendige  dieser  neuen 
Methode,  sodann  aber  auch  ihre  Gefahr  in  jeder  nur  einigermaßen  unvor- 
sichtigen oder  stürmischen  Hand.  Um  das  zu  beleuchten,  will  ich  im  fol- 
genden nur  den  allgemeinen  Gedankengehalt  in  Lerchs  Schrift  prüfen;  eine 
Darstellung  der,  wie  ich  glaube,  mustergültigen  Fachuntersuchung,  die  dem 
Ideengehalt  Körper  und  Stütze  verleiht,  würde  hier  nur  ablenkend  wirken. 

Voßler  hatte  für  die  Samsonstiftung  der  bayrischen  Akademie  der  Wis- 
.senschaften  dieses  Thema  als  Preisfrage  gestellt:  'Die  Verwendung  des 
romanischen  Futurums  als  Ausdruck  eines  sittlichen  Sollens'.  Unter  dem 
gleichen  Titel  ist  nun,  mehr  als  400  Seiten  stark  und  also  ebenso  reich  mit 


Kleinere  Mitteilungen  127 

Material  beladen,  wie  Voßlers  Sprachgeschichte  davon  entblößt  ist,  Eugen 
L  e  r  c  h  s  'preisgekrönte  Arbeit'  bei  Reisland  in  Leipzig  erschienen.  Lerch 
gibt  für  das  Futurum,  das  keine  bloße  Aussage,  sondern  einen  Willen  in 
sich  trägt,  eine  ebenso  eigenartige  wie  einleuchtende  Definition.  Ich  möchte 
sie  sogleich  in  Beispiele  auflösen.  Wenn  ich  von  jemandem  einen  Dienst 
verlange,  so  kann  ich  im  Imperativ  sagen:  Tu  mir  den  Dienst!  Dann 
rechne  ich  mit  dem  Willen  des  andern  und  befehle  ihm,  sich  meinem 
Willen  zu  fügen.  Ich  kann  aber  auch  sagen:  Du  wirst  mir  den  Dienst 
tun!  Dann  habe  ich  viel  brutaler  befohlen  als  im  Imperativ;  denn  nun 
rechne  ich  gar  nicht  mehr  mit  dem  Willen  des  Angeredeten,  mit  einer 
etwaigen  Ablehnung,  sondern  ich  bin  gewiß,  daß  er  sich  mir  fügen  wird,  ich 
kenne  meine  Macht  über  ihn,  und  es  schwingt  ja  auch  schon  die  Drohung 
mit:  Wehe  dir,  wenn  du  mir  nicht  zu  Diensten  bist!  Dieses  'Heische- 
futurum',  das  sehr  viel  energischer  befiehlt  als  der  Imperativ,  nennt  Lerch 
das  'kategorische'.  Nun  kann  ich  mir  aber  den  angeführten  Satz  auch  ganz 
anders  ausgesprochen  denken:  Du  wirst  mir  den  Dienst  tun  —  nicht  wahr? 
Du  wirst  ihn  mir  doch  nicht  abschlagen,  den  kleinen  Gefallen?  Ich  habe 
kein  Recht  und  keine  Macht  zu  befehlen,  ich  bin  meiner  Sache  gar  nicht 
sicher,  ich  möchte  es  nur  gar  zu  gern  mir  und  noch  lieber  dem  anderen 
einreden,  daß  er  mir  den  Dienst  tun  wird.  Hier  ist  das  Futurum  höf- 
licher, milder,  zaghafter  und  doch  auch  wieder  beschwörender  als  der  Im- 
perativ. Und  das  nennt  Lerch  sehr  fein  ein  'suggestives'  Futurum. 
Man  sucht  dem  anderen  seinen  Willen  zu  suggerieren. 

Wer  derart  den  Sinn  für  die  Nuancierungen  des  Sprachgebrauchs 
schärft,  erhöht  offenbar  die  Möglichkeiten,  den  geistigen  Zustand  eines  Vol- 
kes zu  erkennen,  und  so  leistet  Lerchs  'systematischer  Teil'  gewiß  auch  dem 
Geschichtsforscher,  dem  Literar-  und  Kulturhistoriker  wesentliche  Dienste 
und  ist  Philologie  als  aktive  Hilfswissenschaft  im  edelsten  Sinne.  Aber 
nun  fügt  Lerch  an  seine  Untersuchung  einen  zweiten  'auf  das  Französische 
beschränkten  historischen  Teil',  worin  er  sich  ganz  und  gar  als  Voßlers 
Schüler  erweist.  Er  lädt  dem  schmächtigen  Futurum  die  ganze  Rüstung 
der  Voßlerschen  Kulturbetrachtungen  auf,  verstärkt  sie  noch  durch  allerlei 
Lesefrüchte  und  eigene  Exkurse,  so  daß  man  ein  wenig  an  den  Knappen 
Georg  in  Goetzens  Rüstung  erinnert  wird,  und  geht  nach  braver  Knappen- 
art sehr  viel  unvorsichtiger  vor  als  der  erfahrene  Ritter  selber.  Gleich  die 
einleitenden  und  basierenden  Sätze  dieses  Abschnittes  sind  arg  anfechtbar. 
'In  diesem  Teil  müssen  wir  nun  die  verschiedenen  Verwendungsarten  des 
Heischefuturums,  das  wir  im  systematischen  Teil  sich  wie  in  einem  Prisma 
brechen  ließen,  wieder  zur  Einheit  des  weißen  Lichtes  zusammenfassen.  Kate- 
gorisches Verbot  und  Gebot,  suggestive  Bitte  und  suggestiver  Ratschlag  im  Fu- 
turum haben,  bei  aller  Verschiedenheit  im  einzelnen,  das  eine  gemeinsam: 
daß  sie  darauf  verzichten,  die  Willensimpulse  des  Angeredeten  überhaupt 
erst  in  Schwingung  zu  versetzen  (wie  es  doch  das  Normale  ist  und  durch 
den  Imperativ  geschieht).  Ob  ich  zu  jemand  kategorisch  sage:  Tu  te  tairas! 
oder  suggestiv:  Tu  viendras  (n'est-ce  pas?)  —  beide  Ausdrucksweisen  kom- 
men darin  zusammen,  daß  ich  seinen  Eigenwillen  nicht  genügend  respek- 
tiere, daß  ich  über  ihn  verfüge  wie  über  einen  mir  gehörigen  Gegenstand' 
(S.  286).  Das  ist  zum  mindesten  eine  sehr  einseitige  Auffassung.  Mit  dem 
gleichen  Rechte  kann  ich  behaupten:  Das  suggestive  Futurum  respektiert 
den  Eigenwillen  des  anderen  sehr  viel  stärker,  als  der  Imperativ  dies  tut; 


128  Kleinere  Mitteilungen 

denn  es  befiehlt  ja  nicht  direkt,  sondern  überredet,  schmeichelt  sich  ein, 
überlistet:  der  das  Suggestivfuturum  Gebrauchende  steht  einem  Eigenwillen 
gegenüber,  den  er  durch  offenen  Befehl  nicht  brechen  zu  können  glaubt,  den 
er  stärker,  liebevoller  und  heimlicher  zu  überwinden  suchen  muß.  Wenn  es 
eine  unanfechtbare  Gemeinsamkeit  im  Gebrauch  der  beiden  Heischef utura 
gibt,  so  liegt  sie  offenbar  nur  darin,  daß  beide  dem  Imperativ  gegenüber  die 
dringlichere,  heißere,  subjektivere  Ausdrucksform  bedeuten.  Damit  dürfte 
es  zusammenhängen,  daß  man  zum  mindesten  die  schriftlich  fixierten,  ja 
daß  man  sogar  gelegentlich  die  gesprochenen  Heischefutura  nicht  immer  mit 
Sicherheit  als  suggestiv  oder  kategorisch  wird  rubrizieren  können.  'Du 
wirst  mir  den  Dienst  tun!'  kann  ja  Bitte  und  Drohung  gleichzeitig  ent- 
halten: Ich  bitte  dich  recht  herzlich  darum  —  solltest  du  aber  dennoch  ab- 
lehnen, so  greif  ich  zum  Revolver!  Will  man  also  aus  der  häufigen  Ver- 
wendung des  Heischefuturums  in  einer  Sprache  einen  Schluß  auf  die  Eigen- 
art des  betreffenden  Volkes  ziehen,  so  kann  man  nur  sagen:  es  muß  ein 
impulsives  Volk  sein,  das  so  spricht,  ein  impulsiveres  als  eine  Nation,  der 
der  kühlere  Imperativ  leichter  über  die  Lippen  geht.  Brutaler,  despotischer, 
auf  sein  Ich  beschränkter,  blinder  gegen  fremde  Eigenart  als  das  Volk  des 
Imperativs  kann  ich  die  Nation  des  Heischefuturums  keineswegs  nennen, 
denn  noch  einmal :  der  kühle  Imperativ  steht  mitteninne  zwischen  dem  herri- 
scher begehrenden  kategorischen  und  dem  respektvoller  werbenden  sug- 
gestiven Futurum.  Und  auch  zu  diesem  Ergebnis,  daß  das  Heischefuturum 
auf  ein  impulsives  Volk  hindeutet,  wird  der  Philologe  unmöglich  von  sich 
aus  gelangen.  Erst  die  impulsive  Geistesart  des  Volkes,  die  sich  ihm  aus 
Geschichte,  Literatur  usw.  ergibt,  kann  ihn  auf  den  Gedanken  bringen,  in 
dem  an  sich  stummen  Futurum  den  Willen  stärker  sprechen  zu  hören  als  in 
der  normalen  Befehlsform.  So  weit  braucht  der  Philologe  die  Hilfe  der 
übrigen  Geisteswissenschaft.  Hat  sie  ihn  dann  freilich  angeleitet,  so  leistet 
er  ihr  eben  den  wesentlichsten  Gegendienst:  er  macht  die  Probe  auf  ihr 
Exempel.  Die  Völkerpsychologie  zeigt  an  manchen  Einzelheiten,  daß  sie 
es  in  irgendeinem  Fall  mit  einem  impulsiven  Volke  zu  tun  hat:  der  Philo- 
loge rechnet  an  der  erstarrten  Ausdruckform,  an  dem  allgemeinen  Sprach- 
gebrauch nach  und  bestätigt:  wirklich,  dies  Volk  ist  impulsiv,  denn  es  hat 
Überfluß  am  Heischefuturum.  So  denke  ich  mir,  in  di&ser  bescheidenen  Art, 
hat  Voßler  seine  Preisfrage  nach  der  Verwendung  des  romanischen  Futurums 
gestellt. 

Und  was  macht  nun  der  Übereifer  eines  neu  Bekehrten  daraus  —  denn 
als  solcher  bekennt  sich  der  Verfasser  Voßler  gegenüber  — ?  Lerch  rechnet  eine 
besondere  Häufigkeit  des  Heischefuturums  für  das  Französische  nicht  nur 
dem  Deutschen,  sondern  (was  schwerer  zu  erweisen  sein  dürfte)  auch  den 
verwandten  romanischen  Sprachen  gegenüber  heraus,  nennt  es  'etwas  spezi- 
fisch Französisches'  und  schließt  hieraus  nun  auf  eine  spezifisch  französische 
Geistesart.  Begnügt  sich  aber  nicht  damit,  solche  Eigenart  im  Impulsiven 
zu  entdecken  —  das  Impulsive  kommt  ja  allen  romanischen  Völkern  dem 
Germanen  gegenüber  zu  — ,  sondern  schließt  auf  Despotie,  Brutalität,  Miß- 
achtung des  fremden  Ichs,  Fanatismus,  will  alles  dies  aus  dem  häufigeren 
Gebrauch  des  Heischefuturums  ablesen,  wie  man  den  Stromverbrauch  am 
Zähler  der  elektrischen  Leitung  abliest.  Aber  der  Zähler  ist  falsch  kon- 
struiert oder  doch  zum  mindesten  nicht  überzeugend,  denn  wenn  mir  Lerch 
etwa  einwenden  will,  wie  es  an  manchen  Stellen  seines  Buches  den  Anschein 


Kleinere  Mitteilungen  129 

hat,  daß  sich  das  Heischefuturum  überhaupt  nicht  an  den  Willen  des  Auf- 
geforderten wendet,  sondern  diesen  wie  eine  willenlose  Sache  behandelt,  über 
die  verfügt  wird  ('Du  wirst  das  tun!'  statt  der  Anrede  an  den  Willen:  'Tu 
das!'),  so  ist  dies  ein  Trugschluß,  da  das  Eigentümliche  des  Heischefuturums 
ja  eben  darin  besteht,  daß  es  die  einfache  Zukunft-saussage,  das  normale 
Futurum  Imperativisch  belastet,  sozusagen  zu  einem  Superlativ  des  Impera- 
tivs macht  und  also  besonders  intensiv  auf  den  fremden  Willen  einwirken 
läßt. 

Aber  Lerch  begeht  eine  zweite  Unvorsichtigkeit.  Er  zieht  mit  Fleiß  und  Ver- 
ständnis alles  herbei,  was  insbesondere  Voßler,  daneben  aber  noch  mancher 
Kulturhistoriker  und  Dichter  über  die  französische  Volksseele  gesagt  haben. 
Er  bringt  ein  gewaltiges  Anklagematerial  zusammen,  das  immer  wieder  auf 
dies  eine  hinausläuft:  der  Franzose  ist  herrschsüchtig,  er  mißachtet  den 
fremden  Willen,  die  fremde  Eigenart.  Und  alles  dies  soll  nun  nicht  nur  zur 
Erklärung  das  Heischefuturums  dienen,  ja  es  soll  vielleicht  nicht  einmal  nur 
ganz  besonders  überzeugend  durch  das  Heischefuturum  erhärtet  werden. 
Vielmehr  gewinnt  man  den  Eindruck,  wenn  sich  freilich  der  Verfasser  auch 
gehütet  hat,  dies  klar  auszusprechen,  als  glaube  er,  der  Sprachforscher,  der 
Finder  des  Heischefuturums,  all  diese  persönlichen  und  Einzelbemerkungen 
(denen  er  viele  entgegengesetzte  hätte  beifügen  können!)  überflüssig  ge- 
macht zu  haben  durch  seine  Konstatierung  der  despotischen  Sprachform,  als 
sei  über  die  Geistesart  der  Franzosen  nicht  nur  das  Baste,  sondern  das  einzig 
wahrhaft  Gültige,  weil  das  einzig  Allgemeine,  Überindivuduelle  in  dem  ein- 
zelnen Sprachfaktum  niedergelegt.  Ich  bin  mir  zweifelhaft,  ob  aus  der  Ge- 
samtheit der  Sprache  allein  ein  absolutes  Urteil  über  den  Geist  eines  Volkes 
gefunden  werden  kann;  ich  bin  aber  überzeugt,  daß  auf  ein  Einzelfaktum 
solches  Urteil  nicht  zu  basieren  ist.  Hier  liegt  sprachwissenschaftliche 
Hj-bris  vor. 

Und  solche  Hybris  gewinnt  nun  in  diesem  Augenblick  einen  besonders 
peinlichen  Beigeschmack.  Der  Verfasser  ist,  wie  jeder  Deutsche,  erbittert 
über  das  gegenwärtige  Verhalten  der  übermütigen  Sieger;  die  Beispiele  für 
den  Fanatismus  der  Franzosen  (den  offenbar  vorhandenen,  nur  gerade  aus 
dem  Heischefuturum  nicht  erweisbaren!)  drängen  sich  ihm  in  die  Feder, 
und  mit  gleicher  Natürlichkeit  und  Aufrichtigkeit  folgt  dann  immer  die 
Beteuerung:  ich  schreibe  aber  ganz  unparteilich,  ich  bin  Eomanist  aus  Liebe 
zu  allem  Schönen  auf  romanischem  und  also  auch  französischem  Boden  — 
ich  muß  nur  die  Wahrheit  bekennen  können,  wie  ich  sie  finde,  auch  wenn 
sie  den  Franzosen  bitter  ist!  —  Aber  er  bekennt  eine  Wahrheit,  die  nun 
gerade  aus  seinem  Thema  nicht  herauszulesen  ist,  und  damit  bekommt  seine 
wissenschaftliche  Arbeit  etwas  Schiefes,  etwas  Tendenziöses,  etwas  Politi- 
sierendes —  was  wir  sonst  gerade  dem  impulsiveren  Franzosen  vorzuwerfen 
pflegen.  Es  scheint,  als  hätte  der  Krieg  auch  in  dieser  Beziehung  schädi- 
gend auf  uns  eingewirkt:  ein  Bonner  Romanist  (Curtius,  'Die  literarischen 
Wegbereiter  des  neuen  Frankreich')  beweist  mir  aus  unzulänglichen  moder- 
nen Literaturleistungen  der  Franzosen,  daß  sie  zur  europäischen  Führer- 
rolle ersehen  sind,  und  ein  Münchner  Romanist  beweist  mir  aus  unzu- 
länglichem Sprachmaterial  eine  peinliche  Charaktereigenschaft  der  Fran- 
zosen. So  wenigstens  könnte  man  dem  Anschein  nach  das  sehr  ernste 
Münchener  und  das  sehr  wenig  ernste  Bonner  Buch  in  Vergleichung  setzen. 
Das  Traurige  ist,  daß  Lerch  sich  diesen  Verdacht  auflädt,  sich  gegen  ihn 
Archiv  f.  n.  Sprachen.     140.  9 


130  Kleinere  Mitteilungen 

verteidigen  muß,  ohne  im  geringsten  der  Parteilichkeit  schuldig  zu  sein, 
d.  h.  der  gegen  die  Franzosen.  Aber  er  ist  parteilich  seinem  Futurum  und 
der  Sprachwissenschaft  gegenüber:  er  läßt  sie  der  Völkerpsychologie  allzu 
stolz  erhobenen  Hauptes  entgegentreten. 

Und  endlich  läßt  sich  noch  in  einem  anderen  Punkte  zwischen  den  so 
wesensungleichen  beiden  Büchern  eine  eigentümliche  Beziehung  aufstellen. 
Der  Bonner  Literarhistoriker  nimmt  alle  Äußerungen  der  modernen  fran- 
zösischen Literatur  bitter  ernst;  er  sieht  nicht,  wie  dem  Franzosen  allzu  leicht 
Ernst  und  Spiel,  Geist  und  Esprit,  Wahrheit  und  Koketterie  ineinander- 
fließen. Wie  nun,  wenn  ich  Lerchs  Heischefuturum  heranzöge  und  be- 
hauptete: wie  in  diesem  Futurgebrauch  Drohung  und  Schmeichelei  inein- 
anderströmen,  und  wie  diese  Ausdrucksform  den  Franzosen  näher  liegt  als 
der  eindeutige  Befehl  des  Imperativs,  so  eben  ist  ihre  geistige  Eigenart? 
Dann  hätte  ich  einen  genau  so  stichhaltigen  oder  nicht  stichhaltigen  Be- 
weis für  etwas  Volkspsychologisches  auf  etwas  Sprachwissenschaftliches 
basiert,  wie  Lerch  das  tut.  Und  wäre  in  den  gleichen  Fehler  verfallen 
wie  er:  den  der  sprachwissenschaftlichen  Hybris. 

München.  Victor  Klemperer. 

Zu  *Goufre  de  Satenie\ 

Es  ist  nicht  ohne  Reiz,  den  Ursprung  nebst  Verwendung  dieser  Redensart 
zu  verfolgen  und  dabei  auf  manch  volkskundliches  Moment  zu  stoßen. 
Im  Tomoiement  Antecrist^  liest  man  folgende  zwei  Stellen: 

v.  474     Apres  mengier  aporter  vi 

Un  gingenbraz  eonfit  en  soufre; 
Et  disoient  tuit  qu'il  el  goufre 
De  satenie  fu  confit, 
N'ert  pas  ostieus  a  desconfit 
Ou  Antecriz  fu  ostelez. 

Der  Dichter  hat  offenbar  'goufre  de  satenie'  mit  Satan  =:  Antichrist  ver- 
knüpft und  dies  'satenie'  als  Satansreich,  somit  auch  Residenz  des  Anti- 
christ aufgefaßt. 

V.  3458     Volcanus  les  portes  d'enfer 
En  sa  forge  toutes  forja, 
Qui  son  ostel  et  sa  forge  a 
Pres  du  goufre  de  satrenie 
El  grant  chemin  de  Foi-mentie 
Et  de  mort  soubite  et  d'enfer. 

Auch  hier  befinden  wir  uns  durchaus  in  der  Nähe  des  teuflischen  Reiches. 
Daß  es  sich  um  einen  Strudel  handelt,  der  alles  verschlingt,  was  in  seine 
Nähe  kommt,  lehren  die  beiden  Stellen  des  Roman  de  R(;nart:^ 

Br.  VII  V.  629     Ce  est  li  gorz  de  Satenie:'^ 

Que  quant  que  il  ateint  s'i  nie. 


1  Li  Tornoiemenz  Antecrit  von  Huon  de  Mery,  hg.  G.  W  i  m  m  e  r,  Mar- 
burg 1888  (Ausg.  u.  Abh.  LXXVI). 

2  Le  Roman  de  Renart,  p.  p.  E.  Martin,  Strasbourg  1882—87. 

3  V.  1.  C'est  li  goufre  de  saternie,  aber  H:  de  satelUe. 


Kleinere  Mitteilungen  131 

Br.  XXII  V.  456     Je  ne  sai  que  je  vos  en  die: 
C'est  li  goufres  de  Satenie^ 
Qui  tout  englout  et  tout  regoit. 

Bemerkenswert  sind  dabei  die  Lesarten  Satcllie,  Sathalie,  die  uns  zeigen, 
daß  mit  Satenie  eine  volksetymologische  Umdeutung  vorging,  da  sonst  diese 
Lesarten  nicht  so  leicht  sich  einstellen  konnten.  Mit  Unrecht  meint  daher 
J.  Grimm2  bei  der  Erörterung  des  Artikels  'Teufel'  in  seiner  Mythologie, 
daß  bei  beiden  Renartstellen  goufre  de  satenie,  saternie  an  das  Teufelsreich 
zu  denken  sei  und  saternie  an  Saturn  anschlage. 

Eine  bestinmite  Lokalisierung  gibt  die  Kreuzzugsschilderung  des  Am- 
broüe,^  und  damit  rücken  wir  in  eine  enger  begrenzte  Sphäre  von  Über- 
lieferungen aller  Art: 

V.  1318     Dreit  al  gofre  de  Sartalee, 

Qui  est  un  trop  dotos  trespas; 
N'ad  plus  dotos  en  toz  les  pas: 
De  quatre  mers  est  la  bataille, 
Dont  chescone  l'autre  bataille. 

Dazu  bemerkt  der  Herausgeber  G.  Paris  im  Eigennamenverzeichnis:  'Sar- 
talee, Satalie,  l'anc.  Attalia,  ville  d'Asie  Mineure.  Le  "gouffre  (golfe)  de 
Satalie",  cßlöbre  par  l'agitation  de  la  mer  et  consid6r6  comme  tr6s  pörilleux 
pour  les  navires,  a  ete  l'objet  au  moyen  äge  de  nombreuses  legendes,  qui 
remontent  peut-etre  ä  l'antiquite.'  Leider  hat  G.  Paris  diese  mittelalterlichen 
Legenden  nicht  näher  angedeutet.  Ähnlich  heißt  es  in  einer  Jeru^alemreise 
des  seigneur  d'Anglure:* 

Appres  passasmes  par  devant  le  gouffre  de  Sathalie.  —  quant  nous  eusmes 
passö  le  gouffre  de  Sathalie,  nous  eusmes  vent  si  contraire. 

Wir  sehen,  daß  es  sich  um  den  stürmereichen  Golf  von  Satalia  (Satalieh  oder 
Adalia)  in  Kleinasien  an  der  Küste  Syriens  handelt,  der  von  jeher  den 
Schiffen  gefährlich  war  und  an  den  sich  manche  Sagen  knüpften.  Unter 
diesen  ragt  die  Gorgonensage  hervor,  als  eine  seltsame  Verdrehung  der 
Mythe  vom  Haupt  der  Meduse,  die  bei  Gervasius  von  Tilbury^  fol- 
gende Form  zeigt: 

Inter  Rhodum  et  Cyprum  sunt  Syrtes,  que  vulgo  Gulfus  Sataliae  nomi- 
nantur,  ubi  caput  Gorgonis  in  mare  proiectum  dicunt,  respiciuntque  Sata- 
liam  urbem,  quae  ad  Soldanum  Iconii  dicitur  pertinere.  Tradunt  autem 
Gorgonem  meretricem  fuisse,  quae  sua  pulchritudine  homines  mentis  impotes 
reddebat.  Eius  caput  Perseus  in  mare  proiecit.  Indigenae  referunt  militem 
quendam  reginam  adamasse,  cuius  stupro  cum  frui  non  posset,  ipsam  mor- 
tuam  et  sepultam  furtivo  coitu  cognivit,  ex  qua  genuit  caput  tarn  monstro- 
sum.    In  conceptione  miles  per  vocem  in  aere  audivit:  'Quod  pariet,  suo  in- 


1  V.  1.  L.  Ce  est  li  gorz  de  Sathalie. 

»  Dt.  Mythologie,  4.  Aufl.,  Berlin  1876,   S.  825. 

ä  L'Estoire  de  la  guerre  sainte  par  Ambroise  p.  p.  G.  P  a  r  i  s  ,  Paris  1897. 
Auf  diese  Stelle  machte  mich  Prof.  Dr.  E.  Lommatzsch  gütigst  aufmerksam, 
desgleichen  auf  die  folgende. 

*  F.  B  o  n  u  a  r  d  o  t  et  A  u  g.  L  o  n  g  n  o  n,  Le  saint  voyage  de  Jherusalem 
du  seigneur  d'Anglure,  Paris  1878,  S.  10  u.  89. 

5  F.  Liebrecht,  Des  Gervasius  von  Tilbury  Otia  imperialia,  Hannover 
1856,  S.  11. 

9* 


132  Kleinere  Mitteilungen 

tuitu  omnia  conspecta  perdet  et  eonsumet.'  Post  novem  mensium  decursum 
miles  aperto  tumulo  caput  reperit,  a  cuius  facie  se  semper  avertit,  et  cum 
hostibus  illud  ostendebat,  ipsos  statim  cum  urbibus  perdebat.  Tandem  in  mari 
navigans,  in  gremio  amasiae  obdormivit,  quae  clanculo  clavem  scrinii,  in  quo 
repositum  erat  caput,  subripuit,  et  cum  stulta  speculatrix  caput  respexerat, 
statim  obiit.  Expergefactus  miles,  re  comperta  doloreque  tactus,  caput 
erexit,  et  ab  erecto  vultu  conspectus,  cum  nave  periit.  Hinc  tradunt  in 
capite  septennii  caput  faciem  ad  superiora  vertere,  et  hoc  periculum  in  mari 
navigantibus  generare. 

Eine  andere  Fassung  bietet  Hoger  de  Hoveden  (f  nach  1201)  in 
seinen  Annalen  bei  der  Schilderung  von  der  Rückreise  des  Königs  Philipp 
August  von  Frankreich,  da  er  von  Accon  aus  die  Inseln  im  griechischen 
Meer  passierte.  Bemerkenswert  ist  dabei,  daß  Satan  hier  innerhalb  der  Sage 
auftritt  :i 

Deinde  transivit  per  insulas  de  Yse,  in  quarum  una  est  castellum,  quod 
dicitur  castellum  Rüge.  Ibi  fuit  quondam  quaedam  puella,  quae  Yse  vocaba- 
tur,  a  cuius  nomine  insulae  illae  dictae  sunt.  Indigeuae  quidem  narrant,  quod 
quidam  miles  dilexit  puellam  illam  et  illa  noluit  consentire  illi,  quamdiu 
vixit:  defuncta  autem  illa,  miles  accessit  et  concubuit  cum  illa  dicens:  'Quod 
cum  Viva  facere  non  potui,  cum  mortua  feci.'  Et  statim  intravit  Satan  in 
eam  et  ait:  'Ecce  genuisti  in  me  filium  et  cum  natus  fuerit,  aflferam  eum 
ad  ta'  Et  post  novem  menses,  cum  tempus  pariendi  instaret,  peperit  filium 
abortivum  et  portans  eum  ad  militem  ait:  'Ecce  filius  tuus,  quem  genuisti; 
abscide  caput  eins  et  reserva  tibi.  Quandocumque  enim  volueris  inimicum 
tuimi  vincere  vel  t-erram  illius  destruere,  capitis  abscisi  vultus  discooperiatux 
et  respiciat  inimicum  tuum  vel  t^rram  eins,  et  statim  peribunt;  et  cum 
cessare  volueris,  recooperiatur  vultus  et  eessabit  tribulatio.'  Et  factum  est 
ita.  Post  multum  vero  temporis  miles  ille  iixorem  duxit,  quae  saepius  in- 
terrogavit  eum,  qua  arte  vel  quo  ingeuio  ipse  ita  destruebat  inimicos  suos 
sine  armis  et  sine  exercitu:  ille  autem  ei  dicere  noluit,  sed  increpavit  eam, 
ut  taceret.  Contigit  ergo  quodam  die,  dum  miles  abesset,  quod  illa  accessit 
ad  arcam,  in  qua  sperabat  secretum  illud  esse  domini  sui,  per  quod  ille  ita 
operabatur  inique,  et  invenit  in  arca  caput  illud  detestabile  et  statim  abiens 
proiecit  illud  in  gulfo  Sataliae.  Et  dicunt  nautae,  quod,  quandocumque  caput 
illud  fuerit  resupinum,  commotus  est  gulfus  ille  adeo,  quod  nulla  navis 
potest  transire  illum;  et  quaudo  caput  supinum  est,  tunc  potest  navis  tran- 
sire  illum.    Credat  hoc  Judaeus  Apella,   non  ego. 

Nur  geringe  Abweichungen  hiervon  bietet  der  Bericht  bei  John  Brom- 
ton. 2  Nicht  Satan,  sondern  jene  im  Grabe  geschändete  Jungfrau  kündet 
dem  Ritter  die  Mißgeburt  an:  Cui  ista  dicitur  respondisse:  'Ecce  filium  in 
me  genuisti  et  cum  tempus  pariendi  advenerit,  ego  afferam  filium  tuum  tibi' 
eit.  Hinter  dum  miles  abesset  ist  der  Zusatz:  et  ipsa  cum  solis  puellis  suis 
in  secretiori  thalamo  esset.  Der  Schlußsatz  lautet:  Et  quando  caput  illud 
supinum  iacet,  tranquillitas  magna  fit  in  gulfo.  —  Die  Fassung  Rogers 
scheint  ursprünglicher  zu  sein.  Im  Schluß  dieser  Lokalsage  sieht  F.  L. 
Schwarz '  den  'Hinweis  auf  den  beim  Gewitter  nach  oben  kommenden  Ge- 
witterkopf, während  er  sonst  in  der  Tiefe  ruht,  gerade  wie  auch  der  Gorgo 


1  Bei   F.   Lieb  recht   a.   a.   O.   S.   92  flF.     Chronica  magistri  Rogeri  de 
Hovedene  ed.  by  W.  Stubbs,  vol.  III,  London  1870,  S.  158. 

2  Bei  F.  L.  W.  Schwarz,  Der  Ursprung  der  Mythologie,  Berlin  1860, 
S.  89,  Anm. 

3  A.  a.  0.  S.  90. 


Kleinere  Mitteilungen  133 

Haupt  bei  Homer  in  der  Unterwelt  war,  und  Odysseus  nur  fürchtete,  daß 
Persephone  es  heraufschicke'.  Dieser  meteorologischen  Auffassung  der  Ge- 
witterwolke schließt  sich  W.  H.  Röscher'  an,  'denn  es  läßt  sich  kaum  be- 
zweifeln, daß  man  unter  dem  ins  Meer  geschleuderten  abgeschnittenen  Kopfe, 
welcher  bald  nach  oben,  bald  nach  unten  gewandt  ist,  eine  aus  dem  Meere 
emporsteigende  Wetterwolke  zu  verstehen  hat,  aus  deren  wechselnder  Ge- 
stalt und  Bewegung  man  entweder  auf  Gewitterstürme  oder  auf  Windstillen 
zu  schließen  pflegte'. 

Die  gleiche  Vorstellung  eines  Unwetters,  aber  diesmal  in  Form  eines  ge- 
waltigen schwarzen  Drachevs,  der  in  den  Wolken  daherkommt,  zeigt  eine 
andere  durch  die  Kreuzzüge  übermittelte  Tradition,  die  Roger  de  Hove- 
d  e  n  an  zweiter  Stelle2  bietet : 

Et  est  aliud  mirabile  quod  unoquoque  mense  anni  semel  contingit.  Vi- 
detur  quod  draco  niger  et  ingens  veniat  in  nubibus  coeli,  qui  mittit  caput 
suum  in  gulfo  Sataliac,  et  haurit  aqims,  et  attrahit  ita  vehementer,  quod  si 
navis  aliqua  fuerit  ibi,  quamvis  fuerit  onusta,  tarnen  haiiritur  et  defertur  in 
sublime.  Volentes  autem  hoc  vitare  periculum,  oportet  quod,  cum  viderint 
moustrum  illud,  statim  faciant  tumultum  magnum  et  clamationes  altas,  per- 
cnitientes  in  tabulis,  ut  auditis  clamoribus  draco  ille  elongetur  ab  eis.  Nos 
aut^m  dicimus  hoc  non  esse  draconem,  sed  aestum  solis  qui  attrahit  ad  se 
aquas  maris. 

Im  Chronicon  des  J  o  h.  B  r  o  m  t  o  n  3  findet  sich  folgende  Ausschmückung: 

Videtur  enim  quod  draco  magnus  et  niger  in  nuhibus  veniat  et  caput 
suum  in  undis  mittat  et  cauda  eins  videtur  quod  sit  coelo  infixa;  et  draco 
nie  undas  hauriendo  ciun  tanta  aviditat«  ad  se  attrahit,  quod  si  navis  aliqua 
licet  onusta  viris  vel  quibuslibet  aliis  ponderosis  propter  haustum  illum 
fuerit,  tamen  hauritur  et  defertur  in  sublime. 

Zu  einem  förmlichen  Roman  ausgesponnen  erscheint  diese  Erzählung  von 
der  Jungfrauschändung  und  dem  Gorgonenhaupt  bei  Walter  Map  in 
dessen  Schrift  De  nugis  curialium  ,^  dist.  IV,  cap.  12:  De  sutore  Constan- 
tinopolitano  fantastico.  Die  Handlung  wird  in  die  Zeit  des  durch  Zauber- 
künste berühmten  Gerbert  (des  späteren  Papstes  Silvester  II,)  verlegt:  Ein 
junger  Schuhmacher,  Künstler  in  seinem  Fach,  dazu  hervorragend  in  Leibes- 
übungen, verliebt  sich  in  eine  vornehme  Jungfrau,  deren  zarten  Fuß  er  be- 
schuht hat.  Um  ihre  Hand  zu  gewinnen,  verkauft  er  sein  väterliches  Besitz- 
tum und  glaubt,  indem  er  Ritterdienste  nimmt,  erhört  zu  werden.  Ihr  Vater 
weist  ihn  barsch  ab,  weshalb  er  sieh  einer  Räuberbande  anschließt.  Da  hört 
er,  daß  sie  gestorben  sei;   trotzdem  verzichtet  er  nicht  auf  sein  Vorhaben: 

...  ad  exequia  properat  et  visa  tumulatione  locoque  notato  nocte 
proxima  solus  effodit  tumulum,  et  ad  mortuam  quasi  ad  vivam  ingreditur. 

1  Die  Gorgonen  und  Verwandtes,  Leipzig  1879,  S.  110.  Röscher  ver- 
weist ferner  auf  ein  griechisches  SchifJermärchen  (S.  126),  von  Polites 
(in  der  Schrift  'O  neol  imv  roQyövcov  /u.vd'os  nnoa  xc^  'Elirjvixtp  Xacö. 
Athen  1878,  S.  27)  erzählt,  das  aber  zu  unserem  Gegenstande  nur  eine  ent- 
fernte Beziehung  aufweist. 

2  Ed.  Stubbs,  vol.  III,  S.  159. 

3  Bei  Schwarz  a.  a.  O.  S.  35,  der  mit  Recht  den  Drachen  als  eine 
Wasserhose  deutet. 

<  Gualteri  Mapes  De  nugis  curialium,  ed.  by  Thomas  Wright,  Cam- 
den  Society  1850,  S.  176. 


134  Kleinere  Mitteilungen 

Quo  scelere  peracto,  ex  mortua  resurgens  audit  ut  tempore  partus  illuc  re- 
vertatur,  delaturus  inde  quod  genuerit. 

Er  erhält  von  der  Toten  ein  Menschenhaupt  mit  dem  Gebot,  es  nur  seinen 
Feinden  zu  zeigen: 

Oorgoneum  praetendit  ostentum,  obrigescunt  miseri,  vident  instar  3/e- 
diisae  malitian.  Supra  modum  timetur,  et  ab  omnibus  in  dominum  a<x;ipitur, 
ne  pereant.  Nemo  causam  intelligit  pestis  iuvisae  subitaeque  mortis;  simul 
enim  vident  et  pereunt,  sine  voce,  sine  gemitu. 

Er  herrscht  nun  unumschränkt  und  erhält  die  Erbin  des  verstorbenen 
Kaisers  von  Konstantinopel  zur  Frau.  Unvorsichtig  genug,  verrät  er  ihr 
sein  Geheimnis;  sie  holt  aus  der  Truhe,  worin  das  Haupt  verschlossen  war, 
während  er  schläft,  es  heraus  und  hält  es  ihm  vor,  so  daß  er  zugrunde  geht. 
Seine  Gemahlin  aber  läßt  das  scheußliche  Haupt  ins  Meer  werfen.  An  dieser 
Stelle  entsteht  der  gefährliche  Strudel,  der  eindrucksvoll  beschrieben  wird: 

Facta  est  cum  arenis  ebullitio  pelagi,  tanquam  avulsus  a  fundo  designet 
aestus  fugam  saltu  subito  resilientium  aquarum  et  abhorrentium  in  illis  iram 
altissimi,  et  quasi  mare  nauseans  reicere  conetur  quod  in  ipsum  suo  tellus 
aegra  puerperio  convalescens  evomuit.  Exaltabant  in  sidera  fluctus,  et  ignis 
instar  altissima  pet-ebant.  Sed  post  dies  paucos  monstrorum  mutata  sen- 
tentia,  quae  sidera  petebant  aquae  deorsum  tendunt  faciuntque  voraginem 
circuitu  sempiternae  vertiginis.  Cumulus  fuerat  quod  nunc  fossa  est.  Limus 
enim  profundi  non  sustinens  abhominationem  et  maris  horrorem  exinanitus 
est,  et  stupore  defecit,  hiatuque  dehiscens  infinito  permeabilis  eis  usque  in 
abyssi  novissimum  facta  est,  unde  scmper  absorbcre  sufficit  quicquid  infun- 
dere  potest  maris  immanitas.  Charybdi  sub  Messana  persimilis.  Quicquid 
incidit  casu  vel  ab  avido  rictu  attrahitur,  irremediabiliter  periclitatur. 

Als  echte  Lokalsage  charakterisiert  sich  diese  Erzählung,  da  auf  jene  ge- 
schändete Jungfrau  der  Name  des  Ortes  übertragen  wird: 

...  et  quia  nomen  erat  virgini  Satalia,  vorago  SataUae  nominatur,  et 
evitatur  ab  omnibus,  quod  vulgo  dicitur  Goufre  de  Satalie. 

Der  Verfasser  zeigt  gleichzeitig  durch  das  letztere  Zitat,  daß  er  einer  fran- 
zösischen Überlieferung  gefolgt  ist. 

Eine  entfernte  Erinnerung  an  diese  Geschichte  findet  sich  in  der  Reise- 
beschreibung des  Jean  de  Mandeville.  Die  betreffende  Stelle  kann 
ich  nur  nach  der  englischen  Übersetzung^  geben: 

From  this  isle  of  "Rhodes  we  go  to  Cyprus  . . .  And  meu  pass  that  way 
by  a  place  which  was  a  great  city  and  a  great  land;  and  the  city  was  called 
Sathalie.  This  city  and  the  land  were  lost  through  the  folly  of  a  young  man, 
who  had  a  fair  damsel  whom  he  loved  well  for  his  paramour,  and  she  died 
suddenly  and  was  placed  in  a  tomb  of  marble;  and  for  the  great  love  that 
he  had  to  her,  be  went  in  the  night  to  her  tomb,  and  opeued  it  and  went  in 
[and  lay  by  her  and  went  his  way].  And  when  it  came  to  the  end  of  nine 
months,  there  came  a  voice  to  him,  and  said:  'Go  to  the  tomb  of  that 
woman,  and  open  it,  and  behold  what  thou  hast  begotten  on  her;  and  if  thou 
omittest  to  go,  thou  shalt  have  a  great  härm.'  And  he  went  and  opened  the 
tomb:  and  there  came  out  a  snake.  very  hideous  to  behold  which  immedia- 
tely  flew  about  the  city  and  the  country,  and  soon  after  the  city  was 
swallowed  up.    And  there  are  many  perilous  passages. 


Tb.  Wright,  Early  Travels  in  Palestine,  London   1848,  S.   140. 


Kleinere  Mitteilungen  135 

Einen  Nachhall  all  dieser  Sagen  bildet  eine  merkwürdige  Episode  im 
inedierten  Rom<in  de  Berinus  de  Rome,  den  ich  aus  der  Hs.  Wien,  Hofbibl. 
3436  (geschrieben  1482)  zwecks  künftiger  Ausgabe  kopiert  habe.  Es  wird  da 
in  ähnlich  grauenvoller  Sphäre  folgendes  berichtet: 

(Bl.  65r.)  II  avoit  en  cellui  temps  en  Egipte  ung  homme  qui  Alterchans 
estoit  nommez,  lequel  occist  son  pere,  sa  mere  et  chassa  son  frere  hors  de 
son  pals  pour  sa  mauvaise  voulent^  acomplir  de  sa  seur  qu'il  amoit  (Hs. 
avoit)  encontre  loyaultö;  et  fist  tant  qu'il  l'eut  a  femme  oomme  s'e.spouse, 
et  si  fut  la  meschine  comme  moult  angoisseuse,  car  eile  savoit  bien  que 
c'estoit  contre  Dieu  et  contre  droit,  mais  eile  ne  lui  ousoit  deveer  pour  la 
cruaultß  de  luy.  Tant  fut  Alterchans  en  la  compaignie  de  sa  seur  qu'elle  fut 
engainte  d'enfant,  de  quoy  la  meschine  fut  moult  doulente  ne  eile  ne  se  po- 
voit  saouler  de  plourer  ne  de  dueil  faire.  Et  quant  Alterchans  le  seeut,  si 
en  fut  moult  aussi  courroucie  comme  eil  qui  fei  eatoyt  et  de  pute  nature, 
tant  que  l'ennemy  vint  a  lui  et  lui  dist:  'Alterchan,  je  voy  que  tu  es  pencif 
et  piain  d'ire  pour  tu  seur  qui  est  engainte,  si  te  diray  que  tu  feras:  Pren 
ung  bateau  et  entre  dedans  toy  et  ta  seur,  puis  te  fay  singler  en  mer  et  la 
occy  lie  et  l'enfant.  Et  je  t'asseur  que  pour  ce  faire  seulement  tu  auras  teile 
seigneurie  que  tout  le  monde  te  doubtera.'  Or  povez  veoir  comment  le  deable 
si  engingnoit  Alterchan  qui  estoit  homs  de  mauvaise  vie  et  condicion  et  de 
pou  de  foy,  et  de  tant  fut  il  plus  legiers  a  decevoir  ainsi  qu'il  apparut,  «ir 
il  crey  tel  conseil  de  quoy  il  advint  puis  se  dy  graus  merveilles,  ainsi  comme 
vous  porrez  ouir.  Car  Alterchan  quant  il  ot  eu  l'enortement  de  Tenuerny,  il 
pourquist  tant  et  engingna  que  entre  lui  et  sa  seur  furent  en  mer  et  single- 
rent  tant  qu'ilz  furent  loing  de  terre.  Lors  prist  le  fei  cuvers  ung  glaive 
qu'il  avoit  aprestö  et  en  fery  sa.  seur  qui  en  lui  se  fioit  parmy  le  corps  et 
l'occist.  Apres  ce  il  lui  ouvry  le  ventre  et  en  tira  hors  l'enfant  innocent  et 
k«  couppa  en  deux  parties.  puis  gecta  seur  et  enfant  tout  en  la  mer. 

Pour  ceste  dure  cruault^ß  Dieu  consenty  a  l'ennemy  de  monstrer  son 
povoir,  par  quoy  vengence  fust  prise  de  tel  meffait,  si  que  tantost  que  le  fei 
Alterchans  ot  fait  cellui  oultrageux  homicide,  la  mer  se  commenga  a  en- 
grossier  et  a  enfler,  ly  air  fut  troubl^,  le  eiel  s'ouvry  et  saillirent  menue- 
ment  estincelles,  esclices  et  tonnerres  et  s'esmurent  les  vens  si  grossement 
qu'il  estoit  bien  avis  que  le  monde  deust  finer.  Et  aveeques  ce  la  mer  et 
la  terre  s'ouvrirent  et  engloutirent  Alterchan  ou  toute  la  nef  ou  il  estoit  et 
l'emporta  jusques  en  abisme.  Le  lieu  ou  oelle  adventure  advint  de  la  nef 
est  ores  appell6  de  toutes  gens  qui  par  la  passent  ou  vont  par  mer  "gouffrc 
de  Sataine",  et  lui  mist  on  cel  nom  pour  la  raison  de  ce  que  'goufTre'  en 
grieu  vault  autant  a  dire  en  frangois  comme  'vengence'  et  la  meschine  qui 
la  fut  murdrie  de  son  frere  Alterchan  ot  a  nom  Sathania,  si  que  'gouffre  de 
Sathaine'  est  a  entendre  'vengence  de  Sathaine'.  Et  en  ce  lieu  est  encores 
ung  grant  pereil  de  mer  et  y  sont  mainte  bonne  gent  perie  .  . .  Par  celle 
adventure  fu  la  faicte  une  riviere  horrible  et  crueu-^e  qui  va  et  vient  ou 
gouffre  de  Sathaine  parmy  la  terre  qui  s'aouvry.  Et  est  celle  eaue  si  mer- 
veilleusc  que  riens  qui  vive  n'y  peut  atoucher  qui  lors  ne  meure  de  cruelle 
mort.  Et  avecques  ce  eile  sault  de  hault  en  bas  et  bout  et  escume  de  teile 
mauiere  que  du  veoir  a  on  grant  hideur  pour  la  grant  tempeste  qu'elle  par 
demeinne.  Et  veult  on  dire  que  puls  Teure  que  Alterchans  fut  peri,  on  a 
mainteffoiz  en  celle  riviere  veu  le  corps  flocter  par  dessus,  et  si  recorde  on 
par  verite  que  tout  ce  qui  perist  en  ce  gouffre  de  mer  vient  en  la  riviere  de 
Blandie,  si  que  on  y  voit  souvent  suronder  par  dessus  les  hommes  mors, 
les  nefz,  le,s  mas  et  les  voilles. 

Greifswald.  A  1  f  o  n  s   H  i  1  k  a. 


Sitzungsberichte 

der  Gesellschaft  für  das  Studium  der  neueren  Sprachen 
für  das  Jahr  1919. 

Sitzung  vom  14.  Januar  1919. 

Herr  K  Olsen  spricht  zur  Kritik  und  Interpretation  provenzalischer 
Texte.  Unter  Zugrundelegung  eines  Teiles  seines  demnächst  erscheinenden 
3.  Heftes  der  'Dichtungen  der  Trobadors'  behandelt  er  eine  Anzahl  Pro- 
bleme altprovenzalischer  Textkritik.  Er  begründet  seine  von  früheren  Re- 
konstruktionen abweichende  Textgestaltung  der  Kanzone  des  G.  Faidit  Can 
vei  reverdir  (Dichtgn.  Nr.  35)  und  des  Partimens  N'Ehles  chausetz  (BGr. 
127,  2,  Dichtgn.  Nr.  48).  Für  manche  noch  unklare  Stelle  aus  bereits  edier- 
ten Texten  gibt  er  neue  Interpretationen,  und  zwar  1.  gramma- 
tische, 2.  lexikalische,  3.  sachliche:  1.  An  zahlreichen  Bei- 
spielen weist  er  für  pos  und  pos  que  (pos  tot  und  desque)  konzessiven 
Sinn  und  an  einigen  für  pos  auch  adversative  Bedeutung  nach  (s.  Dich- 
tungen S.  192,  2171  u.  236  bezw.  S.  197);  2.  er  deutet  bei  B.  Born^  2,  11 
(S.  1771)  tener  alcun  en  regart  'es  auf  jd.  abgesehen  haben',  entnimmt  ebenda 
dem  V.  14  das  Wort  l'acoralha  .'die  Schlägerei,  Mörderei',  schlägt  für  B. 
Born  7,  2  (S.  224*)  mon  enalsat  'mein  Rehabilitierter'  vor,  übersetzt  beim 
Mönch  von  Montaudon  9,  49  (s.  S.  197^)  prestaire  mit  'Zahler'  liest  bei 
G.  Faidit,  Gr.  167,58  v.  14  (S.  183)  maljazer  rr  afrz.  malgesir  und  tut  der 
Ausdrücke  acusatiii,  conjunctiu  usw.  in  Nr.  50  der  Dichtgn.  mit  anderer  als 
grammatischer  Bedeutung  Erwähnung;  3.  er  zeigt  (s.  S.  188)  gegenüber  Rob. 
Meyer  an  Gr.  ,167,  54 II,  daß  G.  Faidit  seine  Geliebte  Jordana  nicht 
fälschlich  der  Untreue  geziehen  habe,  und  gibt  (s.  S.  211*  u.  212  zu  39) 
für  augur  de  gralha  eine  andere  'Erklärung  als  Hensel.  Dem  Texte  des  Ge- 
dichtes des  Mönchs  von  Mont.,  Gr.  173,  12,  fügt  er  aus  der  Hs.  0  ein  in  den 
Ausgaben  noch  fehlendes  zweizeiliges  Geleit  hinzu  (s.  S.  217^). 

Zum  Schluß  ergänzt  der  Vortragende  noch  die  im  Lex.  rom.  1,  484  nach 
Hs.  /  edierte  Kanzone  des  G.  de  la  Tor  Qui  sap  (Gr.  236,  7)  mit  Hilfe  der 
Hs.  G  (Bertoni  S.  359)  und  macht  zu  Raynouards  Text  einige  Besserungs- 
vorschläge: V.  1  suffrenz;  9  en  amar  servir]  en  Amor  ^crvir.  In  v.  18 — 24 
E  vcirai  bis  fai  amar  schreibe  man  statt  amors  beidemal  Amors,  setze 
Komma  na^'h  mal  und  nach  sospir  (hier  Strophen -Enjambement),  Semikolon 
nach  cor  und  tilge  das  Komma  nach  cel.  Zur  Füllung  der  nach  v.  30  von 
Eaynouard  durch  Punkte  angedeuteten  Lücke  bietet  G  folgende  neue 
Strophe  dar: 

IV.  31   Gar  vos,  on  son  mei  pesar, 

Domna,  ses  cui  no-m  plaz  res, 

M'avez  en  tal  preison  mes, 
34  Qe-m  fai  soven  sospirar. 
Pero  car 

Mi  son  li  dolz  mal,  qe-m  fai 
37  Per  vos  Amors,  e  l'esglai; 
Car  eu  sai 

C'aissi  com  hom  vol  jauzir 
40  Lo  be,  deu  lo  mal  sofrir. 

(Var.  zu  IV:  34  sospirat,  40  bes;  in  35  bedeutet  car  'lieb').  Man  lese  v.  46 
Cortezi'e  pretz  verai,  49  Gen  rir'e  gen  acuilUr,  53  Qu'i  und  54  Quc-m.  — 
Die  Hss.  D  K  L  N  stehen  für  das  Lied  noch  aus. 

Herr  K  u  1 1  n  e  r  weist  auf  eine  Parallele  zu  dem  Anonymon    (Kolsen 


Sitzungsberichte  d.  Gesellschaft  f.  d.  Studium  d.  neueren  Sprachen       137 

Nr.  50)  hin,  die  sieh  in  C  j- r  a  n  o  s  Le  pidant  joue  findet;  auch  Herr  Born 
weist  auf  eine  Parallele  hin. 

Die  Herren  Pariselle  und  Born  werden  zu  Rechnungsprüfern  er- 
nannt. 

Sitzung  vom  28.  Januar  1919. 

Herr  W  o  1  f  f  erörtert  den  Begriff  des  Komischen.  Der  Vortrag  wird  im 
Druck  erscheinen. 

Der  Vorsitzende  weist  an  einigen  Beispielen  (Mozarts  Dorfmusi- 
kanten Beckmesser  und  die  Prügelei  in  den  Meistersängern)  nach,  daß  es 
auch  der  Musik  möglich  sei,  komische  Wirkungen  zu  erzielen. 

Herr  C  a  s  s  i  r  e  r  sieht  in  den  von  dem  Vortragenden  genannten,  für 
die  Begriffsbestimmung  des  Komischen  in  Betracht  kommenden  Momenten 
nur  solche  von  allgemein  ästhetischer  Gültigkeit.  Er  meint,  daß  für  die  hier 
zur  Frage  stehende  Definition  noch  andere  Momente,  so  dasjenige  der  Über- 
raschung, heranzuziehen  seien. 

An  der  weiteren  Diskussion  beteiligen  sich  die  Herren  K  u  1 1  n  e  r  und 
G  a  d  e. 

Sitzung  vom  11.  Februar  1919. 

Herr  Aronstein  spricht  über  Des  nationale  Ereignis  im  englischen 
Renaissance- Drama.     Der  Vortrag  wird  im  Druck  erscheinen. 

Die  Herren  Oberlehrer  Paul  Schmidt  und  Direktor  Dr.  S  i  e  f  k  e  n 
werden  zur  Aufnahme  vorgeschlagen. 

Sitzung  vom  25.  Februar  1919. 

Herr  Ludwig  spricht  über  Schlemihle.  Der  Reiz  des  Chamissoschen 
Märchens  beruht,  abgesehen  von  seinem  Kunstwert,  auf  der  Persönlichkeit 
des  Helden,  der  dem  älteren  Pechvogel  seinen  Namen  gegeben  hat,  und  auf 
dem  glücklichen  Motiv  des  Schattenkaufes.  Die  Nachahmungen  scheiden  sich 
also  in  die  Gruppen  der  Pechvogelgeschichten,  der  Verkaufsmärchen,  als 
dritte  Gruppe  kommen  noch  Fortsetzungen  in  Betracht,  die  Chamissos 
Faden  weiterspinnen.  Der  Vortragende  zählt  diese  Nachkommenschaft  des 
Chamissoschen  Märchens  auf,  charakterisiert  die  einzelnen  Werke  und  ver- 
folgt an  ihnen  die  Entwicklung  des  Motivs. 

Herr  K  u  1 1  n  e  r  erinnert  daran,  daß  schon  Lafontaine  in  seinem  Le  Sa- 
vetier  et  le  Financier  das  Motiv  vom  verlorenen  Schlaf  verwendet  hat.  Auf 
weitere  dichterische  Behandlungen  des  Schlemihl-Typus  und  verwandter  Na- 
turen machen  die  Herren  Fuchs  (Bittners  Oper  Höllisches  Gold) ,  H  e  r  r  - 
mann  (F.  Ansteys  Erzählung  Vice  Versa)  und  Herzfeld  (Mary  Woll- 
ston ecraft  Shelleys  Roman  Frankenstein)   aufmerksam. 

Die  Herren  Oberlehrer  Paul  Schmidt  und  Direktor  Dr.  S  i  e  f  k  e  n 
werden  aufgenommen. 

Sitzung  vom  11.  März  1919. 

Herr  S  p  i  e  s  sprach  über  die  Verwendung  der  Alliteration  im  englischen 
Kulturlehen  der  Neuzeit.  Der  Vortragende  warf  zunächst  einen  Rückblick 
auf  die  altenglische  und  mittelenglische  Zeit  sowie  auf  die  bisherigen  Unter- 
suchungen über  Alliteration  im  Neuenglischen,  wobei  zwei  Greifswalder 
Seminararbeiten,  die  eine  kritische  Bibliographie  enthalten,  vorgelegt  wur- 
den. Nicht  behandelt  wurden  lautmalende  Ausdrücke  wie  fiddle-faddle, 
topsy-turoy;  ebenso  blieben  Verbindungen  mit  Reim  außer  Betracht,  wie 
The  masses  and  the  classes,  Man  Poioer  and  Van  Power  :=  Mensch  und  Ma- 


138     Sitzungsberichte  d.  GeselLschaft  f.  d.  Studium  d.  neueren  Sprachen 

schine,  Thoughts  and  After-thoughts  von  Beerbohm  Tree  1915,  Schlagwörter 
wie  Home  Rule  is  Rome  Rule  und  ähnliches. 

Die  eigentliche  vokalische  Alliteration  klingt  wohl  in  ererbten  Formeln 
wie  Odds  and  Ends  (eine  Londoner  Revue  1915)  nach;  auch  liegt  in  Wen- 
dungen wie  Actor  and  Author  (Überschrift,  Daily  Chroniole  13.  Okt.  1916) 
oder  Gedichtanfängen  wie  From  Amiens  to  Aibeville  (Cornhill  Magazine 
Mai  1918,  S.  474)  eine  moderne  Umwertung  der  vokalischen  Alliteration 
vor.  Keinesfalls  hierher  gehören  Stilfiguren  wie  unioept,  unhonoured,  and 
nnsung  (National  Review  April  1915,  S.  168).  —  Die  Qualität  der  Allitera- 
tion im  modern-englischen  Kulturleben  bietet  eine  bunte,  regellose  Mischung 
dar,  z.  B.:  platform,  press,  and  ptilpit  (The  New  Europe  12.  Dezember  1918, 
S.  193,),  Press,  Platform,  and  Parliament  (von  S.  L.  Hughes,  London  1918), 
Cash  and  Credit  at  Oxford  (Times  2.  Mai  1914),  Throiigh  Terror  to  Triumph 
(Worte  von  Lloyd  George,  Daily  Chron.  24.  August  1915).  —  Häufung  der 
konsonantischen  Alliteration  ist  sehr  beliebt:  Brief,  hright,  and  irotherly 
(Sinnspruch  für  Zusammenkünfte  von  Munitionsarbeiter  innen),  Railroads, 
Rates,  and  Regulation  (vom  amerikanischen  Prof.  Ripley  1913),  Musings 
and  Memories  of  a  Musician  (von  Sir  George  Henschel  1917),  Sun,  Sand, 
and  Sin  (von  J.  Kennedy  1916). 

Der  Vortragende  erörterte  des  weiteren:  1.  das  Verhältnis  vom  Akzent 
zur  Alliteration  (vgl.  Winston  Churchill,  Front  London  to  Ladysmith;  A. 
Ponsonby,  Democracy  and  Diplomacy  1916;  Memorials  and  Monuments  1915; 
J.  G.  Legge,  Rhyme  and  Revolution  in  Germany,  1919).  —  2.  Ursachen  und 
Gründe  der  Alliteration  (ererbter  Formelschatz,  analoge  Neubildungen, 
Affektwirkungen,  psychologische  Gruppenbildung  und  ihre  Folgen).  — 
3.  Den  Zusammenhang  mit  anderen  stilistischen  Erscheinungen  (Beispiele 
wie  a  home-to-home  canvass;  Ton-for-Ton  Policy;  The  gr<  nt  puhlic  who  malce 
or  mar  success  (World  5.  November  1918).  —  4.  Abtrennung  des  Zufälligen. 
—  5.  Die  Alliteration  in  der  Übersetzung.  —  6.  Eine  größere  Anzahl  von 
Beispielen  wurde,  nach  Verwendungsgebieten  geordnet,  vorgeführt,  z.  B. : 
a)  Geschäftsreklame:  A  tonic  for  the  times.  —  b)  Journalismus:  the  Model 
class,  the  middle  class,  the  muddle  class;  Men  not  menus  will  win  the  war 
(Pall  Mall  Gazette  13.  Juni  1918).  —  c)  Büchertitel:  Down  in  Devon  1914; 
Kaiser,  Krupp,  and  Kultur  (von  Th.  A.  Cook  1915);  Me  as  a  3Iodel  (von  W. 
R.  Titt«rton  1914).  —  d)  Im  öffentlichen  Leben:  Britain  for  the  British, 
Taxes  for  Titles,  Cape  to  Cairo,  Cape  —  Cairo  —  Calcutta,  Taxicahs,  Telc- 
phones,  and  Typists,  three  of  London's  chief  worries  in  war-time;  zahllose 
Beispiele  aus  dem  Theaterleben:  James  and  John,  Potash  and  Perlmutter 
(wozu  R.  Ciaren ce,  Stage  Cyclopaedia,  London  1919,  zu  vergleichen  wäre). 

Das  behandelte  Thema  ist  vom  Vortragenden  1918  als  Greifswalder 
Preisaufgabe  gestellt  worden. 

Sitzung  vom  25.  März  1919. 

Herr  Kuttner  spricht  über  Barhusses  Roman  Le  Feu.  Der  Vortrag 
wird  im  Druck  erscheinen. 

Zur  Aufnahme  werden  die  Herren  Dr.  Fiedler,  Stud.-Ref.  Klose, 
Obl.  Dr.  W  i  s  k  e  und  Obl.  H  a  n  i  t  s  c  h  vorgeschlagen, 

Sitzung  vom  8.  April  1919. 

Herr  S  p  i  e  s  sprach  über  Kultnrprohleme  im  kommenden  England.  Der 
Vortragende  stellte  im  Anschluß  an  E.  A.  Freeman's  Wort  von  der  Bedeu- 
tung der  normannischen  Eroberung  diesem  in  seiner  Art  und  Wirkung  vor- 
nehmlich aristokratischen  Ereignis  den  Weltkrieg  mit  seinen  demokratischen 
Begleiterscheinungen  und  Folgen  an  die  Seite.     Er  behandelte  1.  die  mili- 


Sitzungsberichte  d.  Gesellschaft  f.  d.  Studium  d.  neueren  Sprachen     139 

tärische  Demokratie  in  Gestalt  der  allgemeinen  Wehrpflicht;  2.  die  politische 
in  Gestalt  des  neuen  Unterhauswahl  rechts  1918,  der  Oberhausreformbewe- 
giing  und  der  Stellung  der  Monarchie,  und,  nach  kurzen  Hinweisen  auf 
wirtschaftliche  Fragen,  3.  die  intellektuelle  Demokratie  in  Gestalt  des  Unter- 
richtsgesetzes 1918  und  der  geplanten  Mittel-  und  Hochschulreform,  wobei 
deren  Hauptprobleme  unter  Ausblicken  auf  neuest-e  englische  Literatur- 
orzeugnisse  kurz  gestreift  wurden.  —  Die  vorgerückte  Zeit  gestattete  leider 
nicht  mehr  die  Behandlung  der  Demokratisierung  der  englischen  Sprache, 
der  Literatur  und  des  Theaters. 

Herr  Gade  weist  auf  die  shop-steicards  hin,  die  neben  der  Militarisie- 
rung und  Bureaukratisierung  Englands  die  markanteste  soziale  Erscheinung 
in  dem  Umwandlungsprozeß  sind,  der  dieses  Land  ergriffen  hat. 

Die  zur   Aufnahme  vorgeschlagenen  Herren   werden  aufgenommen. 

Sitzung  vom  29.  April  1919. 

Herr  Michaelis  spricht  über  Charles  de  Villiers,  ein  Mittler  zwischen 
Frankreich  und  Deutschland. 

Der  Vortrag  wird  in  der  Internationalen  Monatsschrift  abgedruckt 
werden. 

Herr  Obl.  F  r  e  u  d  e  1  wird  zur  Aufnahme  vorgeschlagen. 

Sitzung  vom  13.  Mai  1919. 

Die  Kassenprüfer  haben  die  vorgeschriebene  Prüfung  vorgenommen. 
Dem  Kassierer  wird  Entlastung  erteilt. 

Herr  Krüger  gibt  Verbesserungen  zu.  Schlegels  Übersetzung  von 
Shakespeare  und  eine  Reihe  von  Erklärungen  englischer  Redensarten. 

Die  Herren  Herrmann  und  Block  äußern  sich  zu  dem  Vortrag. 

Herr  Ludwig  macht  zu  der  Redewendung  he  is  the  very  spit  of  his 
father  darauf  aufmerksam,  daß  der  Volksglaube  den  Speichel  in  Beziehung 
zu  der  Seele  setzt. 

Herr  Obl.  F  r  e  u  d  e  1  wird  in  die  Gesellschaft  aufgenommen. 

Sitzung  vom  14.  Oktober  1919. 

Herr  W  o  1  f  f  spricht  über  Ariosts  Satiren.  Der  Vortrag  wird  im 
'Archiv'  erscheinen. 

Auf  der  Vortagung  des  Allgem.  deutschen  Neuphilologen-Verbandes  am 
1./2.  November  wird  Herr  Kuttner  die  Gesellschaft  vertreten. 

Sitzung  vom.  28.  Oktober  1919. 

Herr  Ludwig  spricht  über  Nietzsche  und  Shakespeare.  Der  Vortrag 
wird  im  'Archiv'  erscheinen. 

Herr  Lektor  G  a  u  t  i  e  r  wird  zur  Aufnahme  vorgeschlagen. 

Sitzung  vom  11.  November  1919. 

Herr  Kuttner  berichtet  über  die  Vortagung  des  Allgem.  deutschen 
Neuphilologen-Verbandes  in  Halle  am  1./2.  November. 

Der  Vorstand  wird  wiedergewählte 

Herr  G  a  u  t  i  e  r  wird  aufgenommen. 

Die  Herren  Obl.  Dr.  Walter  und  Obl.  T  h  e  e  1  werden  zur  Aufnahme 
vorgeschlagen. 


140    Sitzungsberichte  d.  Gesellschaft  f.  d.  Studium  d.  neueren  Sprachen 

Sitzung  vom  25.  November  1919. 

Herr  B  r  a  n  d  1  hält  in  den  Räumen  des  Englischen  Seminars  einen 
Lichtbildervortrag  über   Shakespeares  London. 

Die  vorgeschlagenen  Herren  werden  aufgenommen. 

Zur  Aufnahme  sind  vorgeschlagen  worden :  Obl.  S  e  v  g  e  r,  Obl.  G  e  r  i  k  e, 
Stud.-Ref.  Dr.  G  1  a  w  e  und  Stud.-Ref.  W  o  1 1  m  a  n  n. ' 

Sitzung  vom  16. -Dezember  1919. 

Die  Gesellschaft  hat  das  Mitglied  Herrn  Stud. -Assessor  Glagow  durch 
den  Tod  verloren. 

Von  der  Leitung  des  Allgem.  deutschen  Neuphilologen-Verbandes  sind 
uns  eine  Anzahl  Leitsätze  zugegangen,  die  zur  Verteilung  gelangen. 

Herr  Walter  spricht  über  Prosper  Merimee  und  die  russische  Lite- 
ratur. 

Herr  T  i  k  t  i  n  fragt.  na<:-h  dem  Wesen  des  Setch,  Herr  Spatz  nach  der 
Teilnahme  der  Brandenburger  an  den  polnisch  -  kosakischen  Kämpfen 
von  1651. 

Der  Vortragende  gibt  eine  erschöpfende  Auskunft. 

Die  vorgeschlagenen  Herren  werden  in  die  Gesellschaft  aufgenommen. 


Verzeichnis  der  Mitglieder 

der  Berliner  Gesellschaft  für  das  Stadium  der  neueren  Sprachen. 
Januar  1920. 

Vorstand. 

Vorsitzender :  Herr  Ad.   Müller. 
Stellvertretender  Vorsitzender :         „      A.  L  u  d  w  i  g. 
Schriftführer:  „      M.  Wolf  f. 

Stellvertretender  Schriftführer:        „      H.  G  a  d  e. 
Erster  Kassenführer:  „      M.    Kuttner. 

Zweiter   Kassenführer :  „      G.  0  p  i  t  z. 

A.  Ehrenmitglieder. 
Herr  Dr.   M  e  y  e  r  -  L  ü  b  k  e,   Wilhelm,   ord.  Professor   an   der   Universität, 
Mitglied  der  k.  k.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Wien.  Bonn. 
Frau  V  a  s  c  o  n  c  e  1 1  o  s,  Carolina  Michaelis  de,  Dr.  phil.    Porto,  Cedofeita. 

B.   Ordentliche  Mitglieder. 
Herr  Dr.  Änderten,  Berlin-Reinickendorf,  Pvosidenzstr.  47. 

„  Dr.  Aronstein,  Ph.,  Professor,  Oberlehrer  an  der  V.  städt.  Real- 
schule.    Berlin  NW  87,  Elberfelder  Str.  28. 

„  Dr.  Becker,  Gustav,  Oberlehrer  an  der  Charlottenschule.  Berlin 
W    30,  Zietenstr.  21. 

„  Dr.  B  e  r  g  e  r,  Rudolf,  Oberlehrer  am  Lessing-Gymnasium.  Berlin 
NW  2.3,  Altonaer  Str.  21. 

„  Dr.  Beyer,  Bruno,  Oberlehrer  an  der  städt.  Realschule  in  Char 
lottenburg.     Charlottenburg,   Lohmeyerstr.  6. 

„  Dr.  Bitterhof  f_  Max,  Oberlehrer  an  der  XIII.  städt.  Realschule. 
Berlin  NWrCrefelder  Str.  11. 

„  Dr.  Block,  John,  Professor,  Oberlehrer  an  der  Goetheschule.  Haien- 
see, Seesener  Str.  18. 

„  Dr.  Bolle,  Wilhelm,  Leiter  des  Realgymnasiums  i.  E.  in  Friedrichs- 
felde.    Karlshorst,  Tresckow-Allee  91. 

„  Dr.  Born,  Max,  Studienrat  an  der  Chamissoschule.  Schöneberg, 
Berchtesgadener  Str.  22/23. 

„  Dr.  B  r  a  n  d  1,  Alois,  Geh.  Regierungsrat,  ord.  Professor  an  der  Uni- 
versität, Mitglied  der  Akademie  der  Wissenschaften.  Berlin 
W  10,  Kaiserin-Augusta-Str.  73  III. 

„  Dr.  B  r  ü  ß,  Friedrich,  Oberlehrer  an  der  Oberrealschule.  Berlin-Wil- 
mersdorf, Mannheimer  Str.  44. 

„  Dr.  B  u  c  h  e  n  a  u,  Artur,  Stadt  schul  rat.  Charlottenburg  V,  Schloß- 
straße 46. 

,,  Dr.  Carel,  George,  Profs-^^or,  Oberlehrer  a.  D.  Berlin- Steglitz,  Bran- 
denburgische Straße  2  a,  III  r. 

„      Dr.  C  a  s  s  i  r  e  r,  E.,  Univ.-Prof.    Berlin  W  50,  Prager  Str.  8/9. 

„  Dr.  Churchill,  George  B.,  Professor  am  Amherst  College.  Amherst, 
Massachusetts,  U.  S.  A. 

„      Dr.  Cohn,  Georg.     Berlin-Friedenau,  Kaiserallee  114. 

„  Dr.  Dammholz,  Rudolf,  Professor,  Geh.  Stud.-Rat,  Direkter  der 
Auguste-Viktoria-Schule  und  des  Mädchen-Realgymnasiums. 
Charlottenburg,  Nürnberger  Str.  63. 

„  Doegen,  Wilh.,  Oberlehrer  an  der  XI.  städt.  Realschule.  Zehlendorf, 
Alsenstr.  121. 


142         Verzeichnis  der  Mitglieder  der  Berliner  Gesellschaft  f.  n.  Spr. 

Herr  Dr.  D  r  i  e  s  e  n,   Otto,   Oberlehrer   an    der   städt.   Realschule   in   Char- 
lottenburg.     Charlottenburg,    Giesebrechtstr.  6. 
„      Dr.  D  ü  V  e  1,  Wilh,,  Direktor  der  Herderschule.  Charlottenburg,  Bayern- 
allee 4. 

Dr.  E  b  e  1  i  n  g,  Georg,  ord,  Professor  a.  d.  Universität.  Kiel,  Feldstr.  88. 

Dr.  E  n  g  w  e  r,  Theodor,  Geh.  Oberregierungsrat  und  Vortragender  Bat 
im  Kultusministerium.  Berlin-Wilmersdorf,  Prinzregentenstr.  76. 

Dr.  Fiedler,  Fritz,  Oberlehrer.     Berlin-Steglitz,  Bergstr.  11. 

Freudel,  Karl,  Oberlehrer,  Berlin  NO  35,  Elbinger  Str.  58. 

F  r  i  e  d  1  ä  n  d  e  r,  J.,  Oberlehrer  an  der  III.  Oberrealschule.  Berlin, 
Schönhauser  Allee  31. 

Dr.  Friedmann,  Georg,  Professor,  Oberlehrer  an  der  V.  städtisdien 
Realschule.     Charlottenburg- Westend,  Akazienallee  43. 

Dr.  Fuchs,  Max,  Professor,  Oberlehrer  an  der  VI.  städt.  Realschule. 
Friedenau,   Stuben rauchstr.  5. 

Dr.  Gade,  Heinrich,  Professor,  Oberlehrer  am  Andreas-Realgymnasium. 
Berlin  NO  43,  Am  Friedrichshain  7  III  b. 

Gautier,  Paul,  Lektor.    Berlin  W  62,  Kalckreuthstr.  1,  Pension  Preuß. 

Dr.  G  e  r  i  k  e,  Oberlehrer,  Berlin-Lichtenberg,  Möllendorfstr.  12  I  r. 

Dr.  Glawe,  Studien-Assessor,' Berlin  N,  Invalidenstr.  159. 

Dr.  G  1  ö  g  e,  Georg-,  Oberlehrer.     Berlin-Friedenau,  Rotdornstr.  3. 

H  a  n  i  t  s  c  h,   E.,   Oberlehrer.    Berlin-Treptow,  Defreggerstr.    1  a. 

Dr.  Hausknecht,  Emil,  Direktor  a.  D.,  Professor  an  der  Uni- 
versität.    Lausanne,  Avenue  d'Ouchy  96. 

Dr.  Herrmann,  Albert,  Professor,  Oberlehrer  an  der  XII.  städt. 
Realschule.     Berlin  NO  43,  Am  Friedrichshain  13. 

Dr.  H  e  r  z  f  e  1  d,  Georg.     Berlin  W,  v.  d.  Heydt-Str.  4. 

Dr.  H  i  1 1  e,  Karl,  Oberlehrer  am  Realgymnasium  in  Lichtenberg. 
Berlin-Lichtenberg,   Rathausstr.  6. 

Dr.  Hoffmann,  Fritz,  Oberlehrer  am  Lyzeum  i.  E.  in  Reinicken- 
dorf.    Berlin-Hermsdorf,  Hennigsdorfer  Str.  6. 

Holland,  Reinhard,  Oberlehrer,  Berlin  NO*  55,  Hufelandstr.  8  IIL 

Dr.  H  ö  r  n  i  n  g,  Willy,  Oberlehrer  am  Realgymnasium  zu  Lichtenberg. 
Lichtenberg-Berlin,   Möllendorfstr.  108/9. 

K  e  ß  m  a  n  n,  A.,  Oberlehrer.     Berlin  NW,  Calvinstr.  20. 

Klose,  Gerhard,  Studien- Assessor.  Berlin  N  58,  Fr.anseckystr.  46. 

Dr.  K  o  1  s  e  n,  Adolf,  Professor,    Berlin  W  30,  Schwäbische  Str.  3  IIL 

Dr.  Krueger,  Gustav,  Professor,  Oberlehrer  a.  D.,  Lektor  des  Eng- 
lischen an  der  Technischen  Hochschule  zu  Charlottenburg. 
Berlin  W  10,  Bendlerstr.  17. 

Dr.  Kuttner,  Max,  Professor,  Direktor  der  Bertram  -  Realschule. 
Berlin-Steglitz,  Am  Stadtpark  1. 

Lach,  Paul,  Handelsschuldirektor  a.  D.  Berlin  S  14,  Dresdener 
Straße  90  I. 

L  a  h  m  a  n  n,  Gustav,  ordentl.  Lehrer  an  der  Schillerschule.  Berlin 
NW  52,  Thomasiusstr.  2. 

Dr.  L  a  m  p  r  e  c  h  t,  F.,  Professor,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zum 
Grauen  Kloster.     Berlin  C  2,  Klosterstr.  73  IL 

Langenscheid  t,  C,  Verlagsbuchhändler.  Berlin- Schöneberg,  Bahn- 
straße 29/30. 

Dr.  Lewent,  Kurt,  Oberlehrer  am  Dorotheenstädtischen  Realgym- 
nasium.    Berlin  NW  87,  Solinger  Str.  4. 

Dr.  L  o  m  m  a  t  z  s  c  h,  Erhard,  Professor  an  der  Universität.  Haien- 
see-Berlin,  Johann-Georg-Str.  11. 

Dr.  L  ö  s  c  h  h  o  r  n,  Hans,  Professor,  Oberlehrer  a.  D.  Berlin  W  35, 
Genthiner  Str.  41 III. 


Vorzeicliiiis  der  Mitglieder  der  Berliner  Gesellschaft  f.  n.  Spr.         143 

Herr  Dr.  Ludwig,  Albert,  Direktor  des  Realgymnasiums  zu  Lichtenberg. 
Lichtenberg-Berlin,  Parkaue. 

„  Luft,  Friedrich,  Professor,  Oberlehrer  am  Hohenzollerngymnasium. 
Berlin-Friedenau,   Kaiserallee   74. 

„  Dr.  L  u  m  m  e  r  t,  August,  Oberlehrer  an  der  Dorotheenschule.  Berlin 
NW  21,  Dortmunder  Str.  2. 

„  Dr.  Michaelis,  Paul,  Kand.  d.  höh.  Schulamts.  Berlin  NO  55, 
Raabestr.  17. 

„  Dr.  M  o  r  f,  Heinrich,  Geh.  Reg.-Rat,  ord.  Professor  an  der  Universität, 
Mitglied   der   Akademie   der   Wissenschaften. 

.,  Dr.  Müller,  Adolf.  Professor,  Oberlehrer  a.  D.  Berlin-Friedenau, 
Kaiserallee  114. 

„  Dr.  Müller,  August,  Professor,  Oberlehrer  an  der  Kgl.  Elisabeth- 
schule.    Berlin   SW  47,  Großbeerenstr.  55  part. 

„  Dr.  Naetebus,  Gotthold,  Direktor  der  Universitäts-Bibliothek.  Groß- 
Lichterfelde  0,  Frauenstr.  3. 

„  Dr.  Nobiling,  Fr.,  Professor,  Oberlehrer  an  der  Oberrealschule  II  in 
Charlottenburg.     Charlottenburg,  Schillerstr.  8. 

,,  Opitz,  G.,  Geh.  Studienrat,  Oberlehrer  a.  D.  Steglitz,  Grenzburg- 
straße 6. 

„  Dr.  Otto,  Ernst,  Direktor  des  Realgymnasiums.  Berlin-Reinicken- 
dorf-Ost, Bernerstr. 

„  Dr.  Pariselle,  Eug§ne,  Professor,  Lektor  der  französischen  Sprache 
an  der  Universität.     Berlin  W  30,  Landshuter  Str.  36  IL 

„  Dr.  Philipp,  Karl,  Professor,  Oberlehrer  an  der  Oberrealschule. 
Kottbus,  Wallstr.  45. 

„  Dr.  Platow,  Hans,  Oberlehrer  an  der  mit  dem  Gymnasium  verbun- 
denen Realschule.     Zehlendorf-Wa.,  Heidestr.    1. 

„  Dr.  Püschel,  Kurt,  Oberlehrer  an  der  Kierschner-Oberrealschule. 
Berlin  NW  21,  Bochumer  Str.  4. 

„  Dr.  R  i  s  o  p,  Alfred,  Professor,  Oberlehrer  a.  D.  Berlin  -  Steglitz, 
Schloßstr.  49. 

„  Roettgers,  Benno,  Professor,  Direktor  der  8.  Realschule.  Berlin 
N  31,  Rheinsberger  Str.  4/5. 

„      Roland,  Max,  Oberlehrer.     Potsdam,  Breite  Str.  30. 

„  Dr.  Rosenberg,  Felix,  Professor,  Oberlehrer  am  KöUnischen  Gym- 
nasium.    Berlin-Lichterfelde,  Unt-er  den  Eichen  127. 

„      Dr.  Sabersky,  Heinrich.     Berlin  W  35,  Genthiner  Str.  28  I. 

„  Dr.  Saß,  Ernst,  Oberlehrer  am  Mommsen-Gymnasium.  Grunewald, 
Humboldtstr.  6a. 

,j  Dr.  Schleich,  Gustav,  Professor,  Geh.  Stud.-Rat,  Direktor  des  Fried- 
rich-Realgymnasiums.    Berlin  S  53,  Schleiermacherstr.  23. 

„  Dr.  Schienner,  R.,  Professor,  Oberlehrer  an  der  Luisenstädtischen 
Oberrealschule.     Berlin  SW,  Großbeerenstr.  25  III. 

„  Dr.  Schmidt,  Karl,  Professor,  Oberlehrer  am  Kaiser-Wilhelm-Real- 
gymnasium.    Berlin-Tempelhof,  Hohenzollernkorso  4. 

„  Dr.  Schmidt,  Karl  August,  Oberlehrer  an  der  Luisenstädtischen 
Oberrealschule.     Berlin  S  61,  Lehniner  Str.  9  IV. 

„      Schmidt,  Paul,  Oberlehrer.     Berlin  NW  21,    Essener  Str.   20. 

„  Schreiber,  Wilhelm,  Direktor  der  städt.  Humboldt-Realschule  in 
Tegel.     Tegel,  Graf-Roedern-Korso  1. 

„  Dr.  S  e  i  b  t,  Robert,  Professor,  Oberlehrer  am  Königstädtischen  Gym- 
nasium.    Berlin  W  50,  Meinekestr.  15. 

„      Dr.  Seyger,  Oberlehrer.     Berlin-Lichtenberg,  MöUendorfstr.   11. 

„      Dr.  S  i  e  f  k  e  n,  0.,  Direktor.     Berlin-Treptow,  Neue  Krugallee  6. 

„      S  m  i  t  h.  James,  M.  A.,  Lehrer  des  Englischen. 


144         V<>rz('i('lini.s  dor  Mitgliodor  dor  Bcrlinor  Gesellschaft  f.  n.  Spr. 

ilerr  Dr.  S  ö  h  r  i  n  g,  Otto,  Gymnasialdirektor,  Hilfsarbeiter  im  Auswärtigen 
Amt.    Lichterfelde,  Elisabethstr.  16. 

„      Dr.  Spatz,  Willy,  Professor,  Berlin-Wilmersdorf,  Uhlandstr.  107. 

„  Dr.  Speck,  Johannes,  Oberlehrer  am  Paulsen-Realgymnasium.  Berlin- 
yteglitz,  Birkbuschstr.  16. 

„  Dr.  S  p  i  e  s,  Heinrich,  ord.  Professor  an  der  Universität.  Greifswald, 
Blücherstr.  2. 

„  Dr.  S  p  1  e  1 1  s  t  ö  ß  e  r,  Willy,  Professor,  Oberlehrer  an  der  XIII.  städt. 
Realschule  in  Berlin.     Berlin-Halensee,  Schweidnitzstr.  7. 

„  Dr.  Strohmeyer,  Fritz,  Professor,  Direktor  des  Lyzeums  IV  in 
Berlin-Wilmersdorf.     Wilmersdorf,  Weimarische  Str.  24. 

„      Theel,  Adalbert,  Oberlehrer,  Spandau,  Augusta-Ufer  15. 

„  T  h  i  e  d  k  e,  Gustav,  Oberlehrer  am  Helmholtz-Gymnasium  zu  Schöne- 
berg.    Friedenau,  Stierstr.  5. 

„  Dr.  Tiktin,  H.,  Professor  am  Orient.  Seminar.  Berlin-Friedenau, 
Isoldestr.  1. 

,,  Dr.  Tob  1er,  Rudolf,  Professor,  Oberlehrer  am  Joachimsthalschen 
Gymnasium.     Templin,  Uckermark,  Joach.-Gymn.  Villa  V. 

„  Dr.  Vollmer,  Erich,  Professor,  Oberlehrer  am  Bismarck-Gymnasium. 
Berlin-Wilmersdorf,  Nassauische  Str.  37  I. 

,,  Dr.  Wagner,  Max  Leop.,  Privatdozent  an  der  Universität.  Berlin- 
Charlottenburg,  Kantstr.  31 

„      Dr.  Walter,  Erwin,  Oberlehrer.  Charlottenburg,  Gutenbergstr.  12  IL 

„      Dr.  W  e  n  d  e,  Fritz.     Charlottenburg,  Berliner  Str.  22. 

,,  Wilke,  Felix,  Professor,  Oberlehrer  au  der  Kaiser-Friedrich-Schule 
in  Charlottenburg.     Berlin  W  15,  Ilohenzollerndamm  3. 

„  Dr.  W  i  n  c  k  1  e  r,  Carl,  Professor,  Oberlehrer  am  Lyzeum  in  Grune- 
wald.    Grunewald,  Siemensstr.  22. 

„  Dr.  W  i  s  k  e,  Friedrich,  Oberlehrer.  Berlin  N  58,  Stubbenkamme r- 
straße  1. 

„      Dr.  jur.  Wol  f  f,  Max  J.,  Professor.     Berlin  W  15,  Wielandstr.  24. 

„  Weltmann,  Studien -ASvsessor.  Charlottenburg  V,  Sophie-Char- 
lotte-Str.  46. 

„  Zack,  Julius,  Professor,  Oberlehrer  an  der  XIII.  städt.  Realschule. 
Berlin  SW  46,  Luckenwalder  Str.  10. 


I 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Wolfram  Suchier,  Dr.  Christoph  Philipp  Hoester:  Ein  deutscher 
kaiserlich  gekrönter  Dichter  des  18.  Jahrhunderts,  Borna-Leipzig, 
Buchverlag  R.  Noske,  1918. 

Für  Philologen  und  Literarhistoriker  darf  keine  noch  ungelöste  Frage  zu 
klein  sein;  keine  literarische  Persönlichkeit  darf  zu  unbedeutend  erscheinen, 
ura  von  der  wissenschaftlichen  Kritik  beachtet  zu  werden:  denn  einerseits 
gibt  nur  die  Kenntnis  auch  mittelmäßiger  und  kleiner  Begabungen  den 
rechten  Schlüssel  für  die  Einachätzung  des  wirklich  Großen,  und  anderseits 
gehen  oft  sehr  bedeutsame  literarische  Erscheinungen  im  Grunde  auf  be- 
scheidene Anregungen  Unbedeutender  zurück.  So  ist  eine  monographische 
Behandlung  Chr.  Ph.  Hoesters  an  sich  völlig  zu  rechtfertigen;  allerdings  fragt 
es  sich,  in  welcher  Form  und  in  welchem  Umfang  eine  solche  abgefaßt  wird. 
Daß  Wolfram  Suchier,  der  Verfasser  des  vorliegenden  Buches,  starkes  Emp- 
finden für  die  Proportion  zwischen  Hoesters  Bedeutung  und  der  Ausbreitung 
seiner  Untersuchung  gehabt  hätte,  läßt  sich  schwerlich  behaupten.  — 

Er  stellt  eine  biographische  Darstellung  voran:  mit  unendlichem  Fleiß 
werden  alle  die  auffindbaren  Daten  zusammengetragen  oder  erschlossen.  Wir 
sehen,  wie  der  1721  zu  Kassel  Geborene  sich  durch  einen  Jugendstreich 
manchen  späteren  Weg  verlegt.  Aus  dem  Studenten  wird  ein  unter  seinem 
Amte  ächzender  Rektor  einer  kleinen  hessischen  Schule,  der  schließlich  den 
Doktorgrad  erhält  und  dem  in  Göttiugen  sogar  von  Albrecht  v.  Hailer  die 
Dichterkrönung  zuteil  wird.  Dessenungeachtet  scheitern  alle  seine  Bemühungen 
um  eine  Dozentur  an  der  Marburger  Universität  an  dem  sicherlich  begrün- 
deten Mißtrauen  der  dortigen  Professoren.  Schließlich  finden  wir  Hoester 
als  kleinen  Regierungsbeamten  in  Westfalen.  Seit  1749  sind  jedoch  alle 
Spuren  verloren. 

Schon  aus  diesen  kurzen  Andeutungen  dürfte  zu  ersehen  sein,  daß  Hoesters 
Leben  manches  kulturhistorisch  interessante  Moment  in  sich  birgt:  die  Dichter- 
krönung, die  fehlgeschlagene  Habilitation,  sein  langwieriges  Ansuchen  um 
Aufnahme  in  die  Kgl.  Großbritannische  Deutsche  Gesellschaft  in  Göttingen 
und  manches  andre  Erlebnis  sind  sehr  wohl  geeignet,  die  Zustände  des  da- 
maligen deutschen  Geisteslebens  zu  verdeutlichen.  Doch  wird  die  vorliegende 
Darstellung  dem  Leser  sehr  verleidet  durch  eine  wissenschaftlich  sicher  nicht 
zu  rechtfertigende,  fast  schulmeisterliche  biographische  Kritik.  Lebensdar- 
Btellung  ist  wissenschaftlich-biographisches  Endziel  —  aber  doch  nicht, 
einem  längst  Toten  noch  pädagogische  Rügen  zu  erteilen.  — 

Der  Biographie  folgt  eine  sehr  sorgfältig  ausgearbeitete  Bibliographie,  die 
uns  Aufschluß  gibt  über  Hoesters  im  Druck  erschienene  Werke:  22  Schriften, 
die  in  den  Jahren  1742 — 49  teils  in  Marburg,  teils  in  Kassel  erschienen  sind 
und  in  denen  es  sich  vielfach  um  die  damals  übliche  Gelegenheitslyrik  han- 
delt; und  zwar  um  Gelegenheitspoesie  konventionellster  Art.  Schon  eine 
metrische  Statistik  des  Verfassers  offenbart  des  Dichters  starkes  Unvermögen: 
nur  allergebräuchlichste  Versmaße  werden  verwendet.  Dagegen  übernimmt 
Hoester  die  Gewohnheit  des  Mottos,  sowie  die  Eigenart  der  wörtlichen  Gleich- 
förmigkeit von  Strophen-  und  Zeilenanfängen  von  Günther,  dem  er  auch 
sonst  nachstrebt,  dem  er  aber  —  im  Gegensatz  zu  Suchiers  Behauptung  — 
nicht  im  geringsten  nahekommt,  da  ihm  jede  Leidenschaftlichkeit  mangelt 
und  ihm  selbst  stilistische  Anklänge  mißlingen. 

Schier  unmöglich  erscheint  uns  —  Aviewohl  sonst  methodisch  begrüßens- 
wert —  Suchiers  Analyse  der  Gedichte  Hoesters  nach  geistigen  Leitlinien; 
denn  hier  wird  jede  einzelne  Stelle  —  ungeachtet  ihres  Zusammenhangs  mit 
dem  übrigen  Gedicht  —  rein  äußerlich  auf  irgendein  willkürlich  angenom- 

Arcliiv  £.  u.  Sprachen.    140.  \Q 


146  Beairteilungen  und  kurze  Anzeigen 

menes,  biographisches  Moment  hin  ausgedeutet.  Ja,  diese  wieder  mit  großer 
schulmeisterlicher  Überlegenheit  erörterten  Auslegungen  der  Gedichte  gehen 
80  weit,  daß  der  Verfasser  z.  B.  ausrechnet,  an  welchem  Tage  Hoester  sein 
Mädchen  zum  erstenmal  geküßt  hat  —  gar  nicht  erst  zu  reden  von  des  Ver- 
fassers Bemühungen  um  Hoesters  Züchtigkeit. 

Über  diesen  völlig  unwissenschaftlichen  Spaziergängen  verabsäumt  es  aber 
der  Verfasser  völlg,  sich  in  den  Geist  dieser  dichterisch  zwar  sehr  belang- 
losen, aber  kulturhistorisch  interessanten  Persönlichkeit  zu  versenken.  Wohl 
wird  der  Name  des  Philosophen  Wolff  genannt;  daß  aber  Hoesters  ver- 
schrobene und  nüchterne  Auffassungsweise  nicht  nur  in  poetischer,  sondern 
auch  schon  in  rein  vitaler  Hinsicht  lediglich  im  Zeitalter  Wolffs  und  unter 
dem  starken  Eindruck  von  dessen  Lehre  möglich  war,  wird  mit  keinem  Wort 
erwähnt.  Desgleichen  ist  die  biographische  Aussauguug  schuld  daran,  daß 
nur  jene  Dichtungen  hervorgehoben  werden,  die  biographische  Anspielungen 
bieten.  In  diesen  letzteren  steht  Hoester  übrigens,  wie  schon  bedeutet  — 
im  Gegensatz  zu  Suchiers  Darlegungen  —  nicht  Günther,  sondern  viel  eher 
noch  der  Steifheit  von  Canitz  und  Besser  nahe.  Dagegen  tut  Suchier  die  — 
freilich  nicht  allzu  zahlreichen  —  satirischen  Gedichte  mit  ein  paar  nichts- 
sagenden Worten  ab,  wiewohl  ganz  offenbar  in  diesen  Hoesters  Stärke  liegt 
—  sofern  eben  von  einer  solchen  überhaupt  geredet  werden  kann.  Diese 
satirischen  Gedichte  stehen  sichtlich  ebenfalls  unter  Canitz',  aber  auch  schon 
unter  Hagedorns  Einfluß  —  und  dies  wäre  sicherlich  erwähnenswert  gewesen. 

Suchiers  Buch  Avird  künftig  von  den  Bearbeitern  des  18.  Jahrhunderts 
herangezogen  werden  müssen;  sie  alle  aber  werden  mit  dem  Rezensenten 
bedauern  müssen,  daß  der  Verfasser  dem  allgemein -kulturhistorischen  und 
dem  geistesgeschichtlichen  Moment  allzu  wenig  Beachtung  geschenkt  hat. 

Wien,  Heinz  Kindermann. 

Literaturgeschichte  der  deutschen  Schweiz  im  Mittelalter.  Ein  Vor- 
trag mit  anschUeßenden  Ausführungen  und  Erläuterungen  von 
Dr.  Samuel  Singer,  ord.  Professor  an  der  Universität  Bern. 
Bern,  A.  Francke,  1916.     52  S.  8o.     M.  2. 

Ein  hübsches  Heftchen,  dem  mancher  Anregung  und  Belehrung  danken 
wird.  Es  leidet  zwar  an  einer  gewissen  inneren  Zwiespältigkeit;  es  möchte 
zweierlei  sein,  populäre  Einführung  in  Vortragform  und  Ergänzung  des  Bäch- 
toldschen  Werkes  nach  dem  neuesten  Stande  der  Forschung.  Bei  einheit- 
licher Darstellung  hätte  ein  noch  geschlosseneres  literarhistorisches  Gesamt- 
bild entstehen  können,  während  jetzt  ein  paar  kleinere  Leute  in  die  An- 
merkungen verbannt  sind,  die  auch  sonst  durch  Einschränkung,  Beweis- 
führung und  Belege  gegen  manche  Kühnheit  des  Urteils  im  Texte  selbst 
milder  stimmen. 

In  den  Anmerkungen  liegt  also  der  Hauptwert.  Im  Vorbeigehen  zwar 
nur,  aber  doch  stets  mit  gründlicher  Kenntnis,  werden  ein  paar  schwebende 
Streitfragen  behandelt:  die  literarische  Stellung  Ekkehards,  die  Heimat  Hart- 
manns, das  Alter  des  Lanzelet.  Das  Verdienstlichste  und  Neueste  bietet  S. 
auch  hier  auf  dem  Gebiete,  das  er  wie  keiner  beherrscht:  überraschende  Be- 
ziehungen mhd.  Dichter  zu  französischen  Vorbildern  werden  wiederum  auf- 
gedeckt. Manche  Äußerung  mag  leichte  Bedenken  wecken.  So  leidet  das 
erfreuliche  Eintreten  für  die  Nibelungias  unter  der  Einschränkung,  daß  in- 
haltliche Berührungen  mit  dem  Waltharius  nicht  zugegeben  werden;  während 
doch  meines  Erachtens  in  der  Schlußgruppierung  (hier  und  dort  Günther  und 
Hagen  gegen  den  überlegenen  Helden)  die  stärkste,  durch  die  alte  Gestalt 
der  Nibelungensage  nicht  gerechtfertigte  Beziehung  der  beiden  lateinischen 
Epen  liegt.  —  Nicht  glücklich  ist  die  Hartmannsche  Poesie  gekennzeichnet 


Beurteilungen  und   kurze  Anzeigen  147 

mit  den  Worten:  'Nirgends  tritt  wie  hier  das  religiöse  Empfinden  hinter  dem 
aristokratisch-ästhetischen  zurück'  (S.  14).  Wie  mancher  Epiker  ist  viel  mehr 
Weltkind  und  schreibt  für  Weltkinder  als  der  Dichter  des  Gregor,  wenn  er 
auch  nach  diesem  noch  einen  Iwein  geschaffen  hat!  Die  gänzliche  Teilnahm- 
losigkeit  der  Schweiz  gegenüber  den  Gedichten  aus  dem  Bereiche  der  Helden- 
sage wäre  erst  völlig  erwiesen,  wenn  wir  genau  wüßten,  ob  das  in  dem 
Fundort  der  Nibelungenhandschriften  sich  kundtuende  Interesse  an  dem  Lied 
schon  antiquarisch  oder  noch  lebendig  literarisch  gewesen  ist.  Etwas  zu 
dürftig  sind  die  historischen  Volkslieder  bedacht;  sie  hätten  Anspruch  auf 
stärkere  Herausarbeitung,  gerade  weil  S.  in  ihrem  'Volksliedcharakter'  mit 
Recht  kein  entscheidendes  Wesens-  und  Entstehungsmerkmal  sieht. 

Der  Text  des  Vortrags  selbst  zeigt  nicht  immer  zu  seinem  Vorteil  das 
Bestreben,  Höhepunkte  herauszuarbeiten  und  der  Schweiz  einen  Löwenanteil 
an  der  literarhistorischen  Entwicklung  zu  sichern.  An  den  wahllosen  Lokal- 
patriotismus, mit  dem  vor  hundert  Jahren  der  alte  Laßberg  alle  denkbaren 
Poeten  für  die  Schweiz  reklamiert  hat,  darf  man  dabei  freilich  nicht  denken, 
S.  verleugnet  auch  hier  nicht  seine  gewissenhaft  kritische  Art.  Aber  es 
trübt  doch  den  Eindruck,  daß  die  berechtigte  Zuteilung  an  die  Schweiz  bei 
Konrad  von  Würzburg  mit  einem  kleinen,  bei  Hartmann  mit  einem  größeren 
und  bei  Fleck  mit  einem  ganz  großen  Fragezeichen  zu  versehen  ist.  Hat 
auf  diese  Weise  die  populäre  Abrundung  und  Pointierung  Nachteile  mit  sich 
gebracht,  so  soll  die  Geschicklichkeit  und  werbende  Kraft  der  äußeren  Form 
des  Vortrags  deshalb  nicht  verkannt  werden.  Namentlich  erscheint  die  Schluß- 
wendung heute  doppelt  beherzigenswert:  viel  mehr  noch  als  während  des 
Krieges  muß  in  der  Gegenwart  den  deutsch  sprechenden  und  schreibenden 
Schweizern  eindringlich  gemacht  werden,  wie  sehr  ihr  Land  in  geistiger  Hin- 
sicht 'eine  gute  alte  Provinz  Deutschlands'  stets  gewesen  ist  und  naturgemäß 
bleiben  muß. 

Berlin.  Hermann  Schneider. 

Walther  Brecht,  Conrad  Ferdinand  Meyer  und  das  Kunstwerk 
seiner  Gedichtsammlung.  Wien  und  Leipzig,  Braumüller, 
1918.   XIII,  233  S. 

Den  Spuren  des  schaffenden  Genius  nachzugehen  vom  Kunstwerk,  wie  es 
uns  vorliegt,  bis  zu  seinem  lebendigen  Urquell  im  Innern  des  schöpferischen 
Subjekts,  bleibt  immer  ein  schwieriges  Unterfangen,  das  außer  einer  oft 
recht  mühevollen  philologischen  Forscherarbeit  auch  ein  tiefdringeudes  Ein- 
fühlen in  des  Künstlers  Art,  zu  schaffen  und  zu  schauen,  fordert,  nicht  selten 
auch  ein  mehr  intuitives  als  verstandesmäßiges  Erfassen  und  Lösen  der  sich 
darbietenden  Probleme  verlangt..  Brecht  hat  diesen  Weg  zu  gehen  versucht, 
indem  er  die  Gedichtsammlung,  die  C.  F.  Meyer  im  Alter  zusammenstellte, 
zum  Gegenstand  seiner  Untersuchung  maclite.  Was  sagt  uns  diese  Samm- 
lung durch  Anordnung  und  Auswahl  über  die  Probleme,  die  Meyers  Leben 
und  Wirken  bestimmten?  Das  ist  die  Frage,  die  das  Buch  beantworten  will. 
Überraschend  ist  es,  welch  reiche  Aufschlüsse  sich  im  Laufe  der  Darstellung 
nicht  nur  für  das  dichterische  Schaffen  Meyers,  ja  des  Dichters,  des  Künst- 
lers überhaupt  ergeben,  sondern  auch  für  die  einzelnen  Gedichte;  wie  sie 
gehoben,  beleuchtet  und  getragen  werden  von  ihrer  Umgebung,  auf  die  sie 
selbst  wiederum  Licht  verbreiten.  So  stellt  sich  uns  die  ganze  Sammlung  dar 
als  ein  vielverzweigtes,  architektonisch  fast  überreich  gegliedertes  Gebäude, 
dessen  Ganzes  doch  wieder  von  edelster  Harmonie  durchdrungen  und  ge- 
tragen wird.  Die  Entwicklung  des  Dichters  vom  subjektiv  fühlenden  zum 
objektiv  betrachtenden  Künstler,  sein  Plinstreben  zu  vollkomm.ener  Ästheti- 
sierung  seiner   ethischen  Werte  liegt   offen  vor   uns;    auch  hier   zeigt  sich, 

10* 


148  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

welch,  genialer  Vertreter  seines  künstlerischen  Ideals,  der  'großen  Kunst', 
Meyer  war,  eines  ästhetischen  Formalismus,  der  Michelangelo  und  Schiller, 
Renaissance  und  Klassizismus,  zu  Ausgangspunkten  hat. 

Bei  einer  so  scheuen  und  zurücklialtenden  Natur  wie  Meyer,  der  viel 
lieber  verbarg,  was  ihn  bewegte,  als  es  aufdeckte,  ist  der  subjektiven  Deu- 
tung in  derartigen  Untersuchungen  naturgemäß  viel  Riuini  gelassen.  So 
könnte  mau  auch  hier  in  mancheu  Punkten  anderer  Meinung  sein  als  Brecht. 
Ich  greife  heraus,  was  mir  beachtenswert  erscheint: 

In  der  Besprechung  des  Zyklus  'Liebe'  behandelt  der  Verfasser  auf  S.  99  S. 
"Drei  Gedichte  an  eine  Niehtbezeichnete' :  'Hirtenfeuer',  'Laß  scharren  deiner 
Rosse  Huf,  'Dämmergang'  und  im  Anschluß  daran  'Die  tote  Liebe'.  Daß  das 
letztere  sich  auf  Clelia  Weidmann  oder  gar  auf  Betsy  Meyer  bezieht  (auch 
bei  Brecht  und  A.  Frey  nur  Annahme),  erscheint  mir  dem  Wortlaut  nach 
undenkbar;  ebenso  unsicher  mindestens  die  Beziehung  der  drei  vorhergehen- 
den Gedichte  auf  Betsy.  Freilich  bringt-  Brecht  für  das  mittlere  'Laß  schar- 
ren usf.'  ihr  eigenes  Zeugnis;  ist  das  aber  gerade  bei  einem  Planne  wie 
C.  F.  Meyer  absolut  maßgebend,  und  müssen  deshalb  die  beiden  anderen  sich 
dem  anschließen?  Namentlich  der  'Dämmergang'  scheint  mir  viel  zu  zart 
und  innig,  um  auf  die  Schwester  gedeutet  werden  zu  können.  Jedenfalls  ist 
die  ganze  Hypothese  nicht  sicher  genug,  um  in  der  Tabelle  die  Zusammen- 
fassung der  drei  erstgenannten  Gedichte  unter  das  Stichwort  'Schwester'  zu 
rechtfertigen.  Hier  liegt,  wohl  eine  petitio  prineipii  vor,  die  den  Verfasser 
der  Symmetrie  des  Aufbaues  halber  bewog,  die  Vermutung  zur  Tatsache  wer- 
den zu  lassen,  ihm  selber  unbewußt.  Es  sind  eben  'Gedichte  an  eine  nicht 
Genannte';  wie  warnt  doch  das  Einleitungsgedicht:  'Forsche  nicht  danach, 
welch  Antlitz  mir  gefiel!' 

Hier  und  da  ließe  sich  die  Darstellung  wohl  noch  vertiefen,  manche  Linie 
sich  noch  schärfer  ziehen.  Z.  B.  halte  ich  die  drei  Gedichte  'Schwüle',  'In 
Harmesnächten'  und  'Votivtafel'  für  einander  durchaus  parallel,  ohne  diese 
parallelisierende  Steigerung  des  Grundgedankens  auf  die  beiden  letzten  be- 
schränken zu  wollen  (im  Zyklus  'Stunde',  S.  42  f.).  Alle  drei  bringen  'die 
Heilung'  für  einen  'gefährlichen  Zustand'  (Brecht),  erst  in  unbestimmtem 
Naturgefühl  sich  äußernd,  dann  in  christlich-mystischer  Nachtstimmung, 
endlich  in  antik-heidnischer  Form,  in  fest  umrissener,  visionärer  Gestaltung. 
So  ergibt  sieb  ein  schöngeschwungener  Stimmungsbogen,  dessen  Linie  mir 
in  der  Brechtschen  Darstellung  nicht  ganz  erfaßt  zu  sein  scheint. 

Derartige  Besserungen  dürften  auch  anderswo  noch  notwendig  sein;  dem 
Wert  des  Buches  wird  dadurch  nicht  der  geringste  Abbruch  getan.  Es  hat 
einen  bisher  kaum  betretenen  Weg  gebahnt,  auf  dem  lioffentlich  noch  mancher 
Forscher  dem  Entdecker  folgen  wird.  Noch  eine  Frage:  Ist  'antikisch'  (S.  11) 
nicht  ein  kleines  Ungeheuer? 

Hannover.  H.  Beyer. 

Jolm  Mavnard  Keynes,  The  economic  consequences  of  the  Peace. 

London,  Macmillan,  1920.    VI,  280  S. 

Auch  den  heutigen  Geist  Englands  umfaßt  die  jetzige  Anglistik.  Ihn 
spiegelt  so  gut  wie  die  Dichtung  auch  die  Politik,  sofern  sie  die  Wirklich- 
keit wissenschaftlich  erhellt.  Darf  schon  deshalb  diese  philologische  Zeit- 
schrift das  Werk  eines  Volkswirts  anzeigen,  so  kommt  hinzu,  daß  dieser,  als 
erster  aus  Englands  führenden  Universitäts-  und  Amtskreisen,  die  bisher 
nur  von  Arbeiterpartei  und  Regierungsopposition  vertretene  Meinung  tapfer 
verficht,  jener  Versailler  Friede  von  1919  müsse  gemildert  werden,  der  mit 
der  Wirtschaft  Deutschlands,  ja  des  ganzen  Festlandes,  unsere  Universitäten 
samt  der  Anglistik  ertöten  würde,  wenn  seine  Ausführung  überhaupt  mög- 
lich wäre. 


ßeiirteiUiugen  uud  kurze  Anzeigen  149 

Keyues  ist  Fellow  of  King's  College  zu  Cambridge.  Im  Krieg  vertrat  er 
das  britisclie  Schatzamt  bei  der  Pariser  Konferenz  und  den  Exehequerkanzler 
im  Ilöc-bsten  Wirtschafts  rat  der  Alliierten,  wo  er  den  'Xotschrei  Mittel-  und 
Osteuropas  hörte',  und  bis  7.  6.  19,  'als  alle  Hoffnung  auf  Besserung  des 
Friedensvertrages  schwand',  an  der  Beratung  der  wirtschaftlichen  Para- 
graphen teilnahm;  dort  hat  er  die  Großen  Vier  bei  ihrer  verhängnisvollen 
Arbeit  scharfäugig  beobachtet.  Er  schließt  seine  Schrift  im  November  1919 
ab.  —  Er  i.st  kein  Freund  der  Deutschen:  ihm  erscheint  z.  B.  Elsaß  1871 
'gestohlen',  Bismarck's  spirit  in  des  Siegers  Gier,  dem  Besiegten  Lebens- 
uot wendigkeiten  fortzunehmen,  der  Krieg  1914  verschuldet  vom  deutschen 
Volk  [nicht  von  der  Regierung]  allein,  die  Politik  unter  Wilhelm  II.  selb- 
stisch und  wahnsinnig,  und,  falls  Deutschland  siegte,  der  Welt  eine  Gewalt- 
tyrannei sicher.  Kein  Hauch  deutscher  Kultur,  kein  Mitgefühl  mit  dem 
Sturze  historischer  Größe  durchweht  das  Buch,  während  doch  Deutsche  nach 
1815  die  Große  Armee  besangen,  und  nationale  Gelehrte  1871  bekannten,  der 
Weltgeist  benötige  auch  den  esprit  gauloisl  Von  Deutschlands  gedanken- 
reicher Publizistik  zu  Politik  und  Wirtschaft  1914 — 19  kennt  Keynes  nichts. 
Kaum  eine  Spur  kommt  vor  vom  ül>ergang  der  deutschen  Verfassung  zur 
Demokratie,  von  den  schmerzhaft<?n  Geburtswehen  einer  Gesellschaftsordnung 
ohne  erbliche  Herrsehaftsklasse,  von  den  Sturmzeichen  zur  Umwälzung  des 
Arbeiterverhältnisses  vielleicht  für  die  gesamte  Welt.  Er  begreift  zwar  die 
notwendig  den  Kapitalismus  begleitende  Schattenseite,  meint  aber,  die  vier 
Diplomaten,  die  er  in  ehrlicher  Entrüstung  wirtschaftlich  unzuständige 
Ignoranten  schilt,  hätten  ohne  grundstürzende  Änderung  des  gesellschaft- 
lichen Systems  die  Kriegswunden  der  Wirtschaft  Europa-s  heilen  können.  — 
Insularer  Imperialist,  tadelt  Keynes  wohl  Frankreichs  Eroberungssucht  an 
Saar  und  Ehein,  aber  nicht  die  britische  Eroberung  der  Kolonien;  Amerika 
möge  die  Schulden  der  Alliierten  streichen;  daß  England  Schiffe,  Eisen- 
bahnen, Handel,  Boden,  Fahrhabe,  Nutzrechte  an  Deutschland  oder  deutsche 
Private  zurückgebe  oder  ersetze,  fordert  er  nicht:  die  ärgsten  Pläne  zur 
Zerschmetterung  der  Wirtschaft  Deutschlands  gibt  er  den  Franzasen  schuld. 

Um  so  bedeutsamer,  daß  dieser  Mann  die  beiden  für  Deutschland  nicht 
neuen  Tatsachen  der  Angelsachsenwelt  verkündet:  die  Sieger  haben  das  bei 
ihrer  Annahme  des  Waffeu.stillstande,s  Deutschland  gegebene  Versprechen 
gebrochen,  sich  an  die  Wilsoniana  zu  halten  [ich  nenne  der  Kürze  halber  so 
die  Vierzehn  Punkte  samt  den  vier  folgenden  maßgebenden  Ansprachen  des 
Präsidenten  vom  11.  Februar,  6.  April,  4.  Juli  und  27.  September],  und  ihm 
einen  Frieden  aufgezwungen,  der,  für  die  Besiegten  unerträglich,  überhaupt 
unausführbar,  den  Zusammenbruch  der  ganzen  Wirtschaft  des  Festlandes 
Kuropas  bedeutet.  In  Paris  erst  bekennt  Verf.,  vom  Engländer  zum  Euro- 
päer geworden  zu  sein.  Höchst  Wichtiges  bringt  das  Buch  für  die  Geschichts- 
wissenschaft durch  die  historische  Erklärung  jenes  Wortbruches,  für  die 
Nationalökonomie  durch  den  statistischen  Nachweis  der  vom  Vertrage  ver- 
ursachten Verelendung  Deutschlands  und  für  die  zukünftige  Staatskunst 
durch  Besserungsvorschläge,  eingegeben  von  weiter  Kenntnis,  scharfer  Denk- 
arbeit, schöpferischer  Phantasie  und  menschenfreundlichem  Optimismus. 
Das  rein  wirtschaftliche  Thema  wird  streng  eingehalten,  in  so  heil- 
loser Verwirrung  auch  die  sonstige  staatliche  Lage  Mitteleuropas  und  des 
Ostens  hinterbleibt..  Keynes  schreibt  kurz,  klar,  wohlgeordnet,  phrasenlos, 
lebhaft  und  anziehend.  Offenbar  tief  ethisch  entrüstet  ob  der  Treubrüchig- 
keit, Heuchelei,  Macht-  und  Habgier  jener  drei  Erdballorduer  [vom  Italiener 
hören  wir  wenig],  namentlich  ob  leichtfertiger  Achtlosigkeit  auf  die  wirt- 
schaftlichen Folgen  ihres  Tuns,  bemüht  er  sich  doch,  allseitig  abzuwägen,  die 
Fehler  zu  erklären  und  ruhig  zu  urteilen.  Zu  literarischer  Glanzleistung 
erhebt  sich  das  innere  und  äußere  Bildnis  Clemenceaus  und  Wilsons  [das 
Deutschlands  Zeitungen  im  Januar  1920  brachten]  und  die  Schilderung  der 


150  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

bedrückenden  geistigen  Atmosphäre  der  Konferenz:  wie  bei  einer  geträuni- 
teu  Nachtmar,  so  widers^iricht  die  Entscheidung  der  logisch  notwendigen 
Wirklichkeitslage. 

Verf.  beginnt  mit  'Europa  vor  dem  Kriege',  zurückgehend  bis  1870.  Die 
Wirtschaft  des  Festlandes  baute  sich  seitdem  schon  verwickelt,  künstlich, 
unsicher  auf.  Angesichts  der  zwar  steigenden  Lebenshaltung  des  Arbeiters, 
die  dank  Technik  und  Weltmarkt  sich  stetig  erleichterte  und  ihn  zufrieden- 
stellend [doch  nicht  in  Deutschland!]  in  Ruhe  künftigen  Aufstieg  seiner 
Klasse  erhoffen  ließ,  vergaß  man  die  Gefahren  des  Imperialismus,  Völker- 
hasses und  Militarismus  [letztere  beide  möchte  icli  als  Kriegsursachen  leug- 
nen] samt  der  Volkszunahme,  vor  deren  Drohen  Malthus  mitkRecht  gewarnt 
hatte.  Die  Deutschen  wuchsen  1870 — 1914  von  40  auf  68  Millionen,  mußten 
durch  Industrie  ihre  Nahrung  bezahlen  und  konnten  das,  indem  sie  ihre 
Kohlenförderung  von  30  auf  190  Millionen  Tonnen  steigerten;  sie  wurden 
für  alle  Länder  die  größten  Käufer  und  Verkäufer,  so  auch  für  Britannien 
(ausgenommen  britische  Einfuhr  aus  den  Vereinigten  Staaten  und  Ausfuhr 
nach  Indien).  Möglich  ward  dies,  weil  der  Verkehr  Mittel-  und  Osteuropas 
von  den  Zollgrenzen  nur  dreier  Reiche  gehemmt  war.  Deutschland  verlieh 
25  Milliarden  als  Anlage  ins  Au.sland  und  dazugehörige  Organisatoren.  Dies 
gesamte  System  störte  der  Krieg  plötzlich  und  vernichtet  jetzt  der  Friede 
dauernd.  Eine  andere  Gefahr  lag  im  Kapitalismus:  indem  der  Reiche  nicht 
vergeudete,  sondern  sparte  und  anlegte,  ward  das  Vermögen  unter  den 
Klassen  immer  ungleicher.  Die  Grundlage  dafür,  die  Genügsamkeit  des  [eng- 
lischen] Arbeiters,  ist  1920  nicht  herstellbar.  [Verf.  geht  auf  Englands  So- 
zialisierung oder  Betriebsrat  nicht  ein,  auch  nicht  auf  den  Grundunterschied 
gegen  Deutschland,  daß  drüben  Privateigentum  und  überliefertes  Recht 
religiöses  Ansehen  genießen.]  —  Der  Einkauf  amerikanischen  Roh-  und 
Nahrungsstoffes  für  Europa,  haperte  schon  vor  1914  an  der  Teuerung  über 
See,  wo  ihn  das  wachsende  Volk  selbst  aufzubrauchen  sich  anschickte.  So 
konnte  Hoover  1917  die  für  Europas  Erhaltung  nötigen  Produkte  nur  be- 
kommen durch  Versprechen  von  Mindestpreisen  an  seine  Landwirte  für  das 
zu  Erzeugende.  Die  Aushilfe  durch  Rußland.  Rumänien  [und  Ungarn]  für 
den  Ausfall  amerikanischer  Einfuhr  unterband  der  Krieg:  Europas  Hungers- 
not mußte  folgen. 

'Die  Konferenz'  [so  betitelt  sich  Kapitel  3]  empfing  die  bestimmtesten 
und  weitestgehenden  Forderungen  stets  von  Frankreich.  Clemenceau  rech- 
nete nämlich,  er  würde  nachlassen  müssen  erst  den  Alliierten,  dann  (wozu 
es  leider  nicht  kam,)  den  Deutschen.  Vor  England  und  Amerika  gab  er  sich 
gemäßigt,  indem  er  Forderungen  von  Klotz  und  Loucheur  fallen  ließ.  Wäh- 
rend diese  Minister  die  Verhandlung  begannen,  .sprach  er  selbst  nur  selten, 
ein  zynisches  oder  entscheidendes  Wort  einwerfend,  bisweilen  mit  leiden- 
schaftlicher Kraft.  Die  Hauptidee  der  wirtschaftlichen  Vernichtung  Deutsch- 
lands hielt  er  fest.  Er,  an  Alter,  Charakter,  Geist,  Wissen,  auch  durch  Kennt- 
nis des  Englischen,  der  bedeutendste  der  vier,  übersah  allein  die  Kollegen 
und  die  Folgen  des  Vertrages.  Pessimist  gegenüber  jeder  Besserung  der 
Menschennatur,  skeptisch  gegen  Völkerbund  und  Selbstbestimmung  der  Na- 
tionen als  Ideologenspiele,  trieb  er  Bismarcks  Politik  für  sein  Vaterland 
allein,  unbekümmert  um  fremde  Nationen  oder  Europa.  Der  Deutsche  (meinte 
er)  verstehe  nur  Einschüchterung,  kenne  nicht  Edelmut,  Ehre,  Würde,  Er- 
barmen oder  Gewissen  beim  Verhandeln,  müsse  also  den  Frieden  diktiert 
bekommen.  Im  jahrhundertelangen  Ringen  Frankreichs  und  Deutschlands 
beschließe  1918  nur  wieder  einen  Abschnitt;  da  nun  letzteres  seit  1871  Volks- 
zahl, Industrie,  Seefahrt,  Reichtum  weit  höher  entwickelt  hatte,  konnte  er 
es  nicht  großmütig  oder  anständig  behandeln  oder  auf  Wilsoniana  bloß  durch 
Worte  verpflichten.  Er  fühlte,  wie  jede  geforderte  neue  Garantie  es  noch 
mehr  zur  Rache  reize,  und  mußte  also  dem  Gegner  die  Wirtschaft  zerschmet- 


Beuitoiluugpn  und  kurze  Anzeigen  151 

tern  und  deren  Wiederaufbau  unterbinden.  Anderen  überließ  er,  durch 
jesuitische  Sophismen  und  Taschenspielerkünste  dies  Wilson  darzustellen  als 
mit  dessen  Programm  vereinbar.  Dieser,  der  1918  materiell  und  moralisch 
unerhörte  Macht  besaß,  der  Verfüger  über  Europas  Finanz  und  Nahrung, 
wie  ein  Prophet,  von  dem  die  Welt  gerechte  Neuordnung  erhoffen  durfte,  ver- 
riet das  allgemeine  Vertrauen  durch  persönliche  Schwäche.  Wohlmeinend, 
doch  ohne  beherrschende  oder  scharfe  Intelligenz,  ohne  Kenntnis  der  Men- 
schen, der  Lage  Europas,  des  Französischen  (so  daß  er  Orlando  schon  sprach- 
lich fernstand),  langsam  begreifend,  unfähig  zum  Anpassen,  taktisch  un- 
geschickt, im  Verhandeln  ungeübt,  unterlag  Clemenceau  und  George,  der 
instinktiv  wie  ein  Medium  sofort  ahnt,  was  die  andere  Partei  wollen  oder 
einwenden  wird,  und  sich  gemäß  ihrer  Eitelkeit.  Schwäche  oder  Selbstzucht 
dagegen  waffnet.  Wilson  überragt  freilich  die  Parteipolitik  und  hegt  hohe 
Ideen,  für  die  er  kraftvoll  beten  und  predigen  kann.  Aber  wie  ein  schottischer 
Presbyterianergeistlicher  ist  er  doch  wesentlich  theologisch  gerichtet.  Die 
Einzelausführungen  zu  den  Wilsoniana,  nämlich  die  Paragraphen  des  Frie- 
dens- oder  Völkerbundes  samt  dessen  Einverleibung  in  den  Staatenvertrag, 
hatte  er  nicht  klar  und  fertig  durchdacht;  die  Ideen  blieben  nebelhaft  un- 
vollständig. Seine  fähigen  Beiräte,  die  außer  Hoiise  freilich  auch  wenig  mehr 
von  Europa  wußten,  befrage  er  nicht  regelmäßig,  selbst  House  immer  we- 
niger. Unberaten  folgte  er  also  nur  den  Entwürfen  meist  britischer  oder 
französischer  Herkunft,  beseitigte  sie  nur,  wo  sie,  damit  er  anderswo  nach- 
gebe, absichtlich  alles  Maß  überschritten,  und  meinte  den  Verdacht  der 
Deutschenfreundschaft  durch  besondere  Strenge  widerlegen  zu  müssen.  Er 
hätte  freilich  die  Alternative  gehabt,  wütend  über  die  Pariser  Enttäuschung 
heimzukehren.  Allein  seine  Stellung  war  durch  die  Kongreßwahl  schon  ge- 
schwächt, der  Vertrag  wäre  ohne  ihn  noch  schlimmer  für  Deutschland  ge- 
worden [?],  wo  noch  Terror  drohte,  und  dann  war  der  Völkerbund,  den  er 
für  wichtiger  hielt  als  den  nur  vorübergehend  vielleicht  schädliclien  Vertrag, 
ewig  verloren.  Also  bestellte  er  die  der  Konferenz  einmal  angedrohte  Heim- 
reise ab  und  glitt  auf  die  schiefe  Ebene  der  Kompromisse.  Selbst  so  noch 
konnte  er  kraft  seiner  Übermacht  Frankreichs  [warum  niclit  auch  Englands] 
ärgste  Pläne  gegen  Deutschland  bei  geschickter  Tatkraft  abwenden;  sta.tt 
dessen  bewilligte  er  gewissenhaft,  wie  .sein  schottischer  Ahn  nur  bibelgemäß 
handelte,  alles,  was  ihm  das  Kolleg  als  den  Wilsoniana  nicht  widersprechend 
nachwies.  Ein  Beispiel,  wie  er  irregeführt  wurde:  Österreich  den  Anschluß 
an  Deutschland  außer  mit  Frankreichs  Bewilligung  verbieten,  verstieße  gegen 
Selbstbestimmung  der  Nationen ;  also  anerkennt  Deutschland  Österreichs 
Unabhängigkeit,  außer  wenn  der  Völkerbundsrat  sie  ändert;  dieser  aber  be- 
schließt laut  eines  anderen  Paragraphen  nur  einstimmig.  Ähnlich  wird  die 
Zuweisung  Danzigs  an  Polen,  die  Fremdherrschaft  über  Deutschlands  Ströme 
verhüllt.  Und  seinen  Beiräten  zum  Trotz  gestand  Wilson  zu,  Kriegspension 
der  Alliierten  gehöre  zu  dem  von  Deutschen  der  Zivil  bevölkerung  an- 
getanen Schaden,  dessen  Gutmachung  die  Entente  vor  dem  Wafi'enstillstand 
ausbeduugen.  Der  selbstgerechte  Amerikaner  konnte  BrockdorfFs  Nachweis 
des  Betruges  an  Deutschland  nicht  zulassen,  und  George  versuchte  [?]  nun 
zuletzt  umsonst,  den  in  fünf  Monaten  Umnebelten  in  fünf  Tagen  aufzuklären. 
[Verf.  betont  zuwenig,  daß  kein  gewöhnlicher  Autokrat,  der  gewäl\lte  wie 
der  geborene,  der  Niedertracht  umschmeichelnder  Umgebung  widersteht.] 

'Der  Vertrag'  wird  im  4.  Kapitel  geschildert  als  in  grellem  Widerspruch 
zu  den  weisen  und  großmütigen,  nur  teilweise  unklaren  und  mehrdeutigen 
Wilsoniana,  worin  Beseitigung  der  Wirtschaftsschranken,  allgemeine  Ab- 
rüstung, Kolonien-Regelung,  Nicht- Annexion  (Elsaß  und  polnisches  Preußen 
ausgenommen)  und  Verbot  der  besonderen  Staatsverträge  vorkamen.  [Verf. 
erwähnt  nicht,  daß  nur  Staatsmänner  der  Angelsachsen-Imperien  einem 
gegen  den   Völkerbund  Widerspenstigen  den  Weltmarkt  zu  sperren  drohen 


152  Bt'urteilimgeü  und  kurze  Anzeigen 

können;  denn  diese  selbst  lachen  in  ihrer  Autarkie  der  Drohung.]  Wilsons 
Programm  ertrank  im  Sumpfe  von  Paris.  Die  internationale  Pflicht- 
verletzung der  Entente  ähnelte  dem  deutschen  Einmarsch  in  Belgien  [wo 
war  ihre  Notwehr?].  Die  Antwort  Brockdorffs  entbehrte  Würde  und  Größe, 
ließ  auch  die  Unehrlichkeit  des  Vertrages  unenthüllt;  sie  hätte,  auch  besser 
formuliert,  damals  schwerlich  noch  geholfen.  Absehend  ausdrücklich  von 
Ungerechtigkeit  und  Treubruch,  weist  nun  Verf.  als  Wirtschaftspolitiker  die 
Folgen  des  Vertrages  auf.  Von  den  drei  Grundlagen  des  deutscheu  Wirt- 
schaftssystems zerstört  der  Vertrag  vollständig  deu  Überseeverkehr.  Deutsche 
verfrachten  fortan  auf  fremdem  Schiff,  das  allein  ihre  Häfen  belebt,  ver- 
lieren samt  den  Kolonien  ohne  Entschädigung  das  Staats-  und  Privateigen- 
tum wie  auch  Nutzungsrecht  außerhalb  Deutschlands,  auch  im  Elsaß  die 
Eisenbahn  (für  die  der  Sieger  1871  zahlte).  Brockdorff  übertrieb  zwar,  wenn 
er  solche  Härte  als  einen  Augriff  gegen  das  Privateigentum  überhaupt  gei- 
ßelte; aber  ein  Bruch  des  internationalen  Privatrechts  liegt  vor.  Diesen  ent- 
schuldigt. [?]  die  Künstlichkeit  jener  juristischen  Trennung  zwischen  Staat 
und  Privaten.  [Als  ständen  die  Großen  Vier  sonst  dem  Sozialismus  nahe!] 
Das  durch  den  Sieger  liquidierte  Privatvermögen  Deutscher  deckt  zunächst 
die  Ansprüche  gegen  ihr  Debet  und  [!]  das  ihrer  Verbündeten,  fließt  dann 
an  die  Gutmachungskommission  oder,  wenn  jener  Siegerstaates  will,  an 
Deutschland:  kraft  dieser  Alternative  darf  Amerika  letzteres  versorgen. 
Anfänglich  war  ein  Clearinghouse  der  Privatansprüche  auf  Wechselseitig- 
keit geplant:  die  Vollständigkeit  des  Sieges  [d.  h.  die  Wehr  losmachung  ohne 
Erfüllung  der  Gegenbedingung!]  ermöglichte,  den  Plan  fallen  zu  lassen. 
Die  Gutmachungskommission  kann  für  die  am  1.  Mai  1921  fälligen  20  Mil- 
liarden [als  Geld  meine  ich  stets  Goldmark]  alle  deutsehe  Habe  außerhalb 
Dcutscldands  fassen,  so  auch  bei  dessen  östlichen  Nachbarn,  wo  naturgemäß 
seine  Unternehmung  jetzt  hinstreben  möchte;  sie  kann  Zahlung  in  Gold. 
Waren,  Schiffen  oder  Wertpapieren  sich  wählen,  und  schon  durch  diese 
Wahl,  vom  Werte  abgesehen,  den  Handel  ihm  lähmen.  So  ist  die  deutsche 
Wirtschaft  verjagt-  vom  Gebiet  der  deutschen  Verbündeten  wie  der  Feinde. 
[Unsere  Rechts-  und  Wirtschaftskenner  bestaunen  diese  technisch  vollendete 
C^rausamkeit.]  —  Die  zweite  Grundlage  deutscher  Wirtschaft  war  'Kohle 
(mehr  als  Blut!)  und  Eisen'.  Frankreich  [als  ob  es  allein  diktiert  hätte!] 
erhält,  neben  dem  'verständigen'  Ersatz  der  durch  Zerstörung  seiner  Gruben 
entgangenen  Kohle,  die  Saargrubeu  samt  der  Herrschaft  dort  [was  Verf. 
heftig  tadelt].  Daß  Oberschlesien  wenigstens  abstimmt,  setzte  auf  Brock- 
dorffs Protest  L.  George  durch,  der  Deutschlands  Beschränkung  im  Osten 
mißbilligt  [sofern  sie  Polen.  Frankreichs  Freund,  stärkt;  von  Memel  und 
dem  Baltikum  schweigt  Keynes].  Da  Deutschland  außerdem  die  Gutmachungs- 
kommission mit  Kohle  l>eliefert,  verliert  es  fast  die  Hälfte  seines  Kohlen- 
verbrauchs von  1913,  muß  also  Fabriken  schließen.  Frankreich  und  Italien, 
deren  Staatsmänner  diese  unmögliche  Lieferung  ihren  Völkern  versprachen, 
werden  darauf  bestehen.  Vielleicht  schafft  sich  Deutschland  Ersatz  durch 
Braunkohle.  Da  auch  neutrale  Nachbarn  Deutschlands  von  dessen  Kohle  ab- 
hängen und  nur  dagegen  ihm  Nahrung  liefern,  bedarf  es  internationaler 
Regelung  der  verzweifelten  Kohlenlage,  aus  der  sonst  Revolution  erwächst. 
—  Die  Hiebe  der  Alliierten  gegen  Deutschlands  letzte  Wirtschaftssäule,  näm- 
lich Verkehr  und  Zoll,  schädigen  mehr,  teilweise  aus  sinnloser,  lächer- 
licher Gier,  als  sie  geradezu  vernichten;  Deutschland  muß  z  B.  aus  Elsaß, 
Luxemburg,  Polen  die  Einfuhr,  auch  Luxus,  frei  zulassen,  alliierte  Waren 
mit  bevorzugter  Schnelligkeit  befördern,  Eisenbahnmaterial  in  besserem  als 
dem  eigenen  Zustand  abliefern.  Die  Alliierten-Beaufsichtigung  der  Ströme 
Deutschlands  kann  letzterem  den  Verkehr  unterbinden,  ist  fürs  internationale 
Interesse  unnötig  und  zählt  Deutsche  nur  in  Minderzahl  zu  Mitgliedern: 
gleich  als  befählen  Festlandsmächte  über  Themse  und  Londons  Hafen. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  153 

Fast,  den  halben  Band  füllt  das  Kapitel  'Gutmacliung'.  Da  Deutschland 
sie  nie  ganz  ausführen  kann,  droht  die  Gefahr,  daß  Frankreich  Rheinland 
beliebig  lauge  besetzt  hält,  wo  dessen  Diplomaten  noch  auf  eine  klerikale 
Sonderrepublik  hinstreben;  hoflentlich  vergebens  [sagt  der  Engländer,  fran- 
zösischer Übermacht  abgeneigt] .  Noch  Ende  Oktober  1918  dachten  die  Staats- 
männer der  Alliierten  nur  an  den  Schaden,  der  ihren  Zivilisten  direkt 
durch  Deutschlands  Wehrmacht  geschehen  ist.  Brita-nnien  verlangte  an- 
gesichts der  Schwere  der  anderen  Bedingungen  damals  noch  keine  hohe  Geld- 
summe. Freilich  muß  der  'Schaden'  im  Text  der  Wilsoniana  den  zur  See 
durch  U-Boot  wie  durch  legitime  Prise  gescheheneu  umfassen;  und  Schädi- 
gung in  Adria  und  am  Suezkanal  fallen  vielleicht  auch  darunter.  Da.gegen 
nur  eine  unehrliche  Auslegung  führte  dann  zu  der  unerfüllbaren  Forderung, 
Deutschland  .solle  erstatten  allen  Nachteil  der  alliierten  Völker  aus  Be- 
steuerung zu  Kriegs-  und  Peusionskosten,  aus  Handelsverlust.,  aus  Flucht 
vor  seinen  okkupierenden  Heeren.  Während  Klotz,  um  Frankreich  vor 
Bankerott  zu  bewahren,  für  dieses  allein,  wo  doch  nur  4  v.  H.  des  Landes 
zerstört  sind,  134  Milliarden  fordert,  gebühren  nach  dem  Verf.  allen  Alliier- 
ten zusammen  42,  die  Deutschland  zahlen  kann.  Einschließlich  des  bis 
1.  Mai  1921  Anzumeldenden  fordern  jene  aber  vielleicht  480:  maß-  und  sinn- 
los, weil  unerfüllbar.  Jene  Umdeutung  verschuldeten  Clemenceaus  Haß  und 
L.  Georges  Wahlmaehe:  behufs  vStimmenfangs  verschwieg  er  Britanniens 
Verpflichtung  auf  die  Wilsoniana  und  versprach  Dezember  1918,  obwohl  er 
nicht  an  die  Möglichkeit  glaubte,  der  Masse  Deutschlands  letzten  Pfennig 
und  Tragung  der  Kriegskosten. 

Der  Treubruch  erklärt  sich  teilweise  daraus,  daß  die  Sieger  im  November 
1918  überrascht  sahen,  Deutsehland  hätte  sich  wenige  Tage  später  ergeben 
müssen  [und  war  gefahrlos,  da  es  in  letzter  Selbsttäuschung  in  Wehrlosig- 
keit  eingewilligt,  und  den  Endsieger  zum  Entscheider  angerufen  hatte].  Das 
britische  Schatzamt  warnte  schon  Dezember  1918  vor  dem  Traume  eines 
Londoner  Bankiers,  George  solle  400  Milliarden  fordern.  Mit  letzterem 
stießen  ins  Lügenhorn  Northcliffe,  Eric  Geddes  und  der  Arbeiterminister 
Barnes,  der  zuerst  hang  the  Kaiser  schrie.  Verf.  schreibt  diese  moralische 
Verdammung  der  führenden  Staatsmänner  nieder  nur  after  painful  eonsi- 
dcration.  Wilson  verstand  Deutschlands  Verantwortung  für  allen  Kriegs- 
schaden der  alliierten  Staaten  und  Bürger  moralisch,  George  aber  finanziell! 
Es  ist  der  schändlichste  Mißbrauch  des  Siegas.  Durch  Zalilen  weist  Verf. 
die  Unmöglichkeit  nach,  daß  Deutschland  das  ihm  Auferlegte  in  Geld  oder 
Ware  zahle,  die  notwendig  folgende  Zerstörung  des  Wertes  unseres  Papier- 
geldes und  die  künftige  Verarmung.  Wenn  ein  Sidney  Low  in  Times  3.  12.  18 
Deutschlands  Mineralwerte  auf  .500  Milliarden  schätzte,  die  doch  für  6  käuf- 
lich sind,  begreift  man  die  verrückte  Überschätzung  beim  englischen  Publi- 
kum. Zu  Deutschlands  Ersparnis  [?]  durch  Heeresauflösung  darf  nicht  ein- 
fach das  Jahresersparnis  von  1913  addiert  werden,  um  da,s  1920  Verfügbare 
zu  erhalten;  ist  doch  die  Wirtschaft  zerstört  und  die  Ausgabe  durch  den 
Krieg  riesenhaft  vermehrt. 

Verf.  beschreibt  ausführlich  Zweck,  Zuständigkeit,  Verfassung  und  Ver- 
fahren der  allmächtigen  Gutmachungskommission  mit  freier  Kritik  und 
trüber  Voraussicht  für  uns:  wo  sie  Deutschland  eine  Schuld  erlassen  oder 
stunden  will,  muß  sie  einstimmig  sein!  Mit  höherer  Gewalt,  als  der  Kaiser 
besaß,  wird  sie  der  wirtschaftliche  Beherrscher  Deutschlands,  das  ihren  Hun- 
derten von  Beamten  die  von  ihr  festgesetzten  Gehälter  zahlt;  denn  sie  über- 
wacht, wie  viel  Steuern  es  einzieht,  um  der  Entente  zahlen  zu  können,  und 
wie  viel  Nahrung  und  "Rohstoff  es  zum  Weiterleben  braucht.  Hoffentlich  aber 
wird  sie  aus  einem  Werkzeug  des  Raubes  kraft  Kenntnisnahme  von  Mittel- 
europas Schwäche  unabsichtlich  zum  Mittel  der  wirtschaftlichen  Herstellung, 
wozu  Wien  Vorzeichen  bot.  —  Höchst  mißgünstig  urteilt  Verf.  über  Deutsch- 


154  Bcurlt'ihiiigcn   und  kurzr  Anzeigen 

lands  C4egengebot  von  100  Milliarden:  dunkel  und  unehrlich  wollte  es  den 
Diplomaten  nur  helfen,  ihre  Völker  zu  betrügen,  und  anrechnen  alles  im 
WalTenstillstand  Ausgelieferte  samt  der  Kriegsmarine,  sowie  u.  a.  Eisen- 
Imhnen  und  einen  Staatsschuldenanteil  der  abgetretenen  Gebiete,  so  daß  nur 
30  statt  der  von  der  Entente  geforderten  160  Milliarden  geblieben  wären 
[was  aber  dem  Schlußvorschlage  des  Verfassers  fast  gleichkommt;   s.  u.]. 

'Europa  nach  dem  Vertrage'  [so  betitelt  sich  das  vorletzte  Kapitel]  ist 
unfähig,  sich  selbst  zu  erhalten;  besonders  Nahrung  bedürfen  nach  Hoover 
100  000  000  Europäer  von  Amerika;  Erwerbslose,  von  denen  Europa  im  Juli 
1919  15  000  000  unterstützte,  stauen  sich  in  Zentren  ohne  Auswanderungs- 
möglichkeit; die  Lebenshaltung  sinkt  bis  zum  Hunger,  der  der  alten  Kultur 
den  Sturz  droht.  Der  Frieden  verurteilt  also  Millionen  Deutscher  zum  Tode. 
Die  Senkung  der  deutschen  Landwirtschaft  seit  1913  erweist  Verf.  wieder  in 
Ziffern.  [Er  erwähnt  nicht,  daß  unser  Arbeiter  weniger  leidet  als  der 
ärmere  Mittelstand  samt  Intelligenz  und  Beamtentum.]  Bedeutungsvoll  für 
die  gesellschaftliche  Umwälzung  der  ganzen  Welt  ist  die  Schilderung  vom 
eingeschüchterten  Kapitalismus,  zunächst  Britanniens,  der  außer  in  Amerika 
an  sich  selbst  nicht  mehr  glaubt,  schon  seinen  Namen  des  internationalen 
Finauzmannes  ungern  hört  und  von  seinen  Geschöpfen,  Regierung  und  Presse, 
sich  ruinieren  läßt.  —  Die  gelähmte  Wirtschaft  leilit  Krücken  vom  Staat: 
die  Künstlichkeit  der  billigen  Preise  erhellt  am  Beispiel  des  Brotes  in 
Deutschland:  es  müßte  bei  freiem  Handel,  angesichts  der  Markentwertung 
auf  ein  Zehntel  gegen  Gold  und  der  Steigerung  des  Auslandsgetreides  im 
Weltmarkt  aufs  Doppelte,  das  Zwanzig[jetzt  Dreißig]  fache  des  Preises  von 
1913  kosten.  Deutsche  Einfuhr,  seit  Aufhebung  der  Blockade  möglich,  ks^nn 
den  Auslandspreis  in  Gold  nicht  zahlen  noch  auch  borgen,  da  niemand  weiß, 
wie  tief  1920  die  Papiermark  sinken  wird.  Frankreichs  und  Italiens  Wirt- 
schaften kranken  aber  fast  ebenso  gefährlich.  Die  Defizite  der  Staaten,  die 
Verf.  anführt,  wachsen  1920  erschreckend.  Österreichs  Empörung  über  den 
Eutentevertrag,  an  dem  Verf.  selbst  mitarbeitete,  nennt  er  unwiderleglich. 

England,  so  führt  Keynes  im  Schlußabschnitt  über  'Heilmittel'  aus,  steht 
der  Gefahr  eines  Aufstände«  oder  einer  Katastrophe  fern  und  ist  vom  Reich- 
tum des  J.ihres  1914  doch  nur  auf  etwa  1900  herabgebracht;  die  allerdings 
riesige  Passivität  der  Handelsbilanz  und  Fehlsumme  des  Staatshaushalts 
scheinen  doch  ausgleichbar.  —  Der  unmögliche  Versailler  Friede  kann  erst 
nach  Weclisel  der  vier  Regierungen  gebessert  werden.  [Verf.  verrät  nicht 
die  Absicht,  George  zu  stürzen.]  Verf.  schlägt,  vor:  Deutschland  erhalte  das 
bisher  Ausgelieferte  zu  10  Milliarden  augerechnet  und  zahle  30  hinzu, 
30  Jahre  lang  jährlich  1.  werde  Völkerbundsmitglied,  stelle  neben  Neutralen 
Mitglieder  zur  Gutmachnngskommission,  liefere,  falls  es  Oberschlesien  be- 
hält, was  die  Entente  fördern  muß,  Frankreich  die  diesem  verlorene  Kohle, 
erhalte  1930  die  Saar  frei  zurück  und  aus  Lothringen  Minette  gegen  Kohle. 
Bis  1930  gelte  kein  Schutzzoll  innerhalb  des  Völkerbundes.  Das  beseitigt 
etwas  vom  Schaden  der  neuen  Zollgrenzen.  Freilich  verwirklicht  sich  damit 
teilweise  der  Traum  der  Deutschen  von  Mitteleuropa;  doch  nehmen  nun  die 
anderen  Völker  [nämlich  Briten]  daran  teil.  Aufhören  muß  *is  Streben, 
Deutschland  zu  verelenden.  Nur  anf  dem  Papier  verlöre  Frankreich  durch 
solche  Milderung  des  Vertrages,  weil  dieser  ja  doch  unausführbar  wäre.  Bri- 
tannien verzichte  auf  Geld  (zugunsten  der  Herstellung  des  in  Belgien,  Frank- 
reich, Serbien  Zerstörten,  die  30  Milliarden  kosten  wird)  und  reinige  sich 
mit  solchem  Opfer  von  seinem  Treubruch.  Amerika  verzichte  auf  die  im 
Kriege  ausgeliehenen  38  Milliarden;  denn  nur  die  Amerikaner  um  Hoover, 
urteilt  Verf.,  der  mit  ihnen  wie  Franzosen  und  Italienern  seit  1916  finanziell 
verhandelt  hat,  sehen  Europas  Lage  richtig  und  fühlen,  wie  Menschen  sollen. 
Britannien,  das  an  die  jetzt  bankerotten  Alliierten  Riesensummen  lieh,  ist 
nur  zwei  Fünftel  so  leistungsfähig  wie  Amerika,  das  20  Milliarden  Schuld- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  155 

papiere  ,«cit  1914  zurückkaufte,  und  zahlt«  doch  dreifach  so  viel  Kriegskost.en. 
Im  Innern  bedarf  jedes  Land  Kapitalst€uer,  denn  nicht  viele  Jahre  mehr 
wird  der  Arbeiter  sich  für  Abtragung  der  Schuld  an  Fremde  opfern.  Sofort 
braucht  Europa  Amerikas  Darlehn  zur  Einfuhr  und  Währungsgesundung. 
Erst  wenn  sich  das  Festland  zur  Solidarität  bekehrt,  wird  aber  Amerika,  der 
Einmengung  längst  überdrüssig,  vereint  mit  Britannien  ihm  Kredit  be- 
sorgen; zunächst  genügen  4  Milliarden  für  Nahrung  und  Rohstoff;  Garantie 
müßten  alle  Völkerbündler  übernehmen.  —  Wa.s  Verf.  von  Deutschlands 
innerer  Parteilage  und  Beziehung  zu  Rußland  sagt,  erfordert,  weil  schief 
gesehen  oder  hier  bekannt  oder  schon  überholt,  weniger  Beachtung;  doch 
tritt  er  auch  hierin  richtig  [vom  Briten-  wie  Europäer-Standpunkt]  dem 
Plane  Frankreichs  entgegen,  Deutschlands  Einheit  und  Rulie  zu  untergraben 
und  Polen  samt  Rumänien  gegen  Deutschland  samt  Rußland  zu  stärken; 
Polen  braucht  vielmehr  wirtschaftlich  letztere  beide.  Er  tadelt,  daß  die 
Entente  Rußland  blockiert.  Der  Deutsche  möge  mit  Unternehmung  und 
Organisation  seine  Nachbarn  in  Süd  und  Ost  wieder  produktiv  machen. 
Trotz  Rassen-  und  Nationalhaß  muß  die  Entente  begreifen,  daß  ihrer  Wirt- 
schaft Deutschland  zum  gefährlichsten  Wettbewerber  erwächst,  wenn  dieses 
nicht  Rußland  als  Markt  gewinnt.  Von  1920  aber  wird  nicht  mehr  ein 
Staatsmänner-Kolleg,  sondern  die  Unterströmung  wirtschaftlicher  Macht- 
verhältnisse die  Welt  regieren.  Da  nicht  etwa  falsche  Verteilung  die  Schuld 
an  jetziger  Not  trägt-,  so  hilft  die  "Revolution  dieser  nicht  ab.  Wir  können 
die  öffentliche  Meinung  durch  Klärung  der  Ideen,  Zerstreuen  des  Hasses  und 
Solidaritätsgefühl  beeinflussen.  —  Zu  Ende  ruft  Verf.  in  hymnischer  Form 
den  Geist  des  kommenden  Zeitalters  an,  der  Weltklugheit  vereinen  möge 
mit  Liebe  zur  ^Menschheit. 

Berlin.  F.  Lieber  mann. 

Margot  Henschel,  Zur  Sprachgeographie  Südwestgalliens.  Ber- 
liner Diss.  Braiinschweig  und  Berlin.  G.  Westermann,  o.  D. 
a9i7).    118  S.    Mit  13  Tafeln. 

Mit  vorliegender  Arbeit  stürzt  sich  die  Verfasserin  frischen  Mutes  in 
die  Diskussion  einer  der  schwierigsten  Fragen,  welche  die  romanische 
Sprachwissenschaft  kennt.  Sie  setzt  sich  zum  Ziele,  die  Südwestgallien 
durchziehenden  Dialektgrenzen  genau  zu  bestimmen  nach  ihrem  Verlauf 
und  ihrer  Stärke  und  die  LTrsachen  ihrer  Entstehung  festzustellen.  Seitdem 
Morfs  Forschungen  für  die  dialektale  Einteilung  Frankreichs  so  fruchtbare 
neue  Gesichtspunkt«  eröffnet  haben,  müssen  diese  Probleme  die  Aufmerksam- 
keit der  jungen  Sprachforscher  anziehen. 

Die  Resultate,  zu  denen  M.  H.  gelangt,  widersprechen  zum  Teil  der  bis- 
herigen Auffassung.  Seit  Luchaire  hatte  man  das  Gebiet,  das  im  Süden  von 
den  Pyrenäen,  im  Westen  vom  Meere,  im  Nordosten  von  der  Garonne  und 
der  Ariöge  begrenzt  ist,  wegen  seiner  stark  ausgeprägten  Eigenart  als  gas- 
kognischen  Dialekt  dem  übrigen  Südfrankreich  gegenübergestellt.  M.  H. 
schafft  ein  neues  Mundartgebiet,  indem  sie  die  genannte  Nordostgrenze  von 
der  Einmündung  des  Tarn  in  die  Garonne  an  zuerst  dem  Tarn  und  dann 
ungefähr  den  Nordgrenzen  der  Departemente  Haute-Garonne  und  Aude  fol- 
gen läßt.  Dieses  'Südwestgallische'  ist  also  gleich  dem  bisherigen  Gaskogni- 
schen,  vermehrt  um  die  diesem  früher  nicht  zugerechneten  Teile  der  De- 
partemente Haute-Garonne  und  Arigge,  sowie  um  das  ganze  Departement 
Aude.  In  Anlehnung  an  Morfs  Ideen  wird  die  Entstehung  dieser  nordöst 
liehen  Grenze  der  uralten  Handelsstraße  Narbonne — Bordeaux  zugeschrie- 
ben. —  Innerhalb  des  'Südwestgallischen'  wird  eine  Scheidung  vorgenommen 
in  das  Aquitanische,  das  dem  oben  Gaskognisch  genannten  ent-spricht,  und 


156  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

—  mangels  eines  zutreffenderen  Namens  —  das  'Südwestlanguedokisclie'. 
Die  der  Garonne  und  der  Ariöge  folgende  Grenze  zwischen  den  beiden,  die 
M.  H.  an  Wichtigkeit  der  oben  besprochenen  nachstellt,  soll  auf  die  eth- 
nische Verschiedenheit  (Gallier  —  Aquitanier)  und  auf  die  in  jener  Gegend 
bis   ins  spätere  Mittelalter  vorhandenen   tiefen  Wälder  zurückgehen. 

Den  sprachlichen  Teil  ihrer  Beweisführung  leistet  M.  H.  nur  an  Hand 
der  lautlichen  und   lexikalischen   Verhältnisse. 

Der  Teil,  dem  wir  das  größte  Interesse  entgegenbringen,  ist  naturgemäß 
die  Beschreibung  und  Umgrenzung  des  'Südwestgallischen'.  Hier,  wo  eine 
neue  Idee  begründet  werden  sollte,  mußte  vor  allem  auf  Präzision,  auf  genaue 
Übereinstimmung  der  verschiedenen  Isophonen  und  Isolexen  geachtet  wer- 
den. Dievse  Forderung  ist  nun  aber  in  keiner  Weise  erfüllt.  Die  nicht  zahl- 
reichen Grenzen  weisen  in  ihrem  Verlauf  so  große  Abweichungen  von- 
einander auf,  daß  von  Bildung  eines  einigermaßen  geschlossenen  Dialekt- 
gebietes  keine  Eede  sein  kann.  Bald  fällt  ein  Teil  des  Departements  Aude 
oder  des  Departements  Haute-Garonne  weg,  bald  werden  —  was  noch  viel 
schlimmer  ist  —  Teile  der  Departemente  Herault,  Lot,  Tarn,  Tarn-et-Ga- 
ronne  oder  diese  beiden  letzteren  ganz  mit  einbezogen,  ja,  einzelne  Grenz- 
linien greifen  sogar  bis  in  die  Departemente  Aveyron  und  Dordogne  über. 
Es  ist  klar,  daß  eine  so  große  'Bewegungsfreiheit'  die  von  M.  H.  hier  ver- 
fochtene  Idee  tinannehmbar  machen  muß,  auch  wenn  die  angeführten  laut- 
lichen Erscheinungen  stark  einschneidend  und  alt  wären.  Das  ist  aber  nur 
ausnahmsweise  der  Fall,  so  etwa  beim  Nichteintritt  der  Synkope.^  Verfehlt 
ist  es  auch,  unter  den  'Lautwandeln  gemeingalloromanischer  Art,  in  deren 
Entwicklung  der  Südwesten  auf  einer  älteren  Stufe  stehengeblieben  ist', 
etwa  -it<C-ct-  aufzuführen.  Die  darauf  sich  stützende  Grenze  trennt  näm- 
lich nicht  etwa  älteres  -it-  von  seiner  jüngeren  Weiterentwicklung,  sondern 
von  gleichaltrigem  -tf-  und  entspricht  ziemlich  genau  der  von  Suchier  für 
den  Grundriß  gezeichneten  Karte  VI.  Weiter  nordöstlich,  z.  B.  in  der 
Auvergne,  erscheinen  denn  auch,  genau  Suchier  entsprechend,  wiederum 
Formen  mit  -it-   (vgl.  die  Karte  lait  des  ALF). 

Ganz  unglücklich  ist  sodann  das  die  Isolexen  darstellende  Kapitel,  das, 
wie  auch  bei  den  anderen  Abschnitten,  in  drei  Teile  zerfällt:  1.  Grtippe: 
Begriffe  werden  im  Südwesten  durch  Wörter  wiedergegeben,  die  das  übrige 
Gallien  nicht  kennt;  2.  Wörter  erscheinen  in  einer  bestimmten  Bedeutung 
aufs  Südwestgallische  beschränkt,  in  anderem  Sinne  oder  in  Ableitungen 
im  übrigen  Gallien;  3.  Bezeichnungen,  die  einst  in  ganz  Gallien  auftraten, 
aber  heute  auf  den  Südwesten  beschränkt  sind.  Die  folgenden  Bemerkungen 
mögen  zeigen,  wie  mangelhaft  hier  die  Beweisführung  ist:  Die  unzweifelhaft 
auf  lt.  p  u  p  p  a  'Brustwarze. 2  zurückgehende  Wortfamilie  von  pupa  'allaiter' 
ist  axich  sonst  südfranzösisch,  vgl.  pr.  poupa  'teter',  lyon.  jmpillon  'bout  de 
la  mamelle',  wald.  pupa  'mamelle',  forez.  popelou  'bout  du  sein'.  —  Der 
Name  des  Stechginsters,  tujs,  der  übrigens  auch  in  der  Bedeutung  'bugrane' 
vorkommt,  scheint  mir  mit  männlichem  Geschlecht  im  prov.  tuy,  nizz.  tucis 
'Eibe'  wiederzukehren  (s.  Rolland,  Flore  11.  247). 3  —  jaoga  'Stechginster' 
gehört  zu  dem  auch  in  Westfrankreich  bekannten  »jauga,  das  Meyer- 
Lübke  an  die  Spitze  seines  Artikels  4579   setzt.  —  klot  'mare'  ist  in   Süd- 


1  Gerade  hier  aber  zeigt  die  Isophone  eine  von  der  vorgeschlagenen  Dia- 
lektgrenze sehr  stark  abweichende  Form. 

2  Wozu  Indog.  Forsch.   15,  62  zu  vergleichen  ist. 

s  Das  vielumstrittene  Wort  scheint  mir  auf  th  u  y  a  'Lebensbaum'  (klass. 
t  h  y  i  a)  zurückzugehen,  zu  dem  ja  auch  die  Formen  der  Pyrenäenhalbinsel 
gut  passen.  Das  prov.  tvy  würde  dann  der  männlichen  Form  des  Adjektivs 
thyus  (gr.  &viog)  entsprechen.  Vielleicht  ist  auch  direkt  vom  Griechi- 
schen auszugehen. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  157 

f rankreich  weitverbreitet  und  findet  sich  auch  saü  der  von  M.  H.  selber  an- 
geführten Karte  creux  in  der  Vendße  und  in  der  Schweiz.  Warum  wird 
peskjte  erwähnt,  das  d(x-ii  auch  altfranz.  ist  und  auch  den  heutigen  Mund- 
arten nicht  unbekannt  ist,  vgl.  z.  B.  St.  Etienne:  pecheuri  'petit  amas 
d'eivu,  bourbier'.  —  Das  got.  *koka  'Kuchen'  hat  auch  weiter  nördlich 
Ableger  zurückgelassen,  so  forez.  couquccs  'espece  de  beignet',  St.  Etienne: 
voitqucya  'beignet  aux  pommes'.  —  L  a  r  'foyer'  ist  wohl  auch  im  Schweiz,  le 
sowie  im  aveyr.  lart  'pav6  du  foyer'  wiederzuerkennen.  —  Dem  gask.  estalbja 
'öpargner'  entsprechen  lyon.  etogi,  centr.  e f auger,  piem.  strabid  etc.,  die 
allerdings  im  ALF  nicht  verzeichnet  sind.  —  Schon  ein  Blick  auf  Meyer- 
Lübke,  REW  4687  hätte  gelehrt,  daß  die  Wortsippe  von  kekeja  in  ganz 
Frankreich  verbreitet  ist.  mekeja  gehört  zu  mek  'bögue',  das  apr.  vielleicht 
"muef  bedeutet  und  von  Bertoni,  Annales  du  Midi  20,  401  auf  gr.  urxfh 
zurückgeführt  wird.  —  Der  Typus  *mansionaticum,  der  ähnlich  wie 
mansiouata  ursprünglich  die  ganze  Familie,  dann  die  Kinderschar  be- 
zeichnet und  schließlich  seine  kollektive  Bedeutung  verloren  hat,  kehrt  auch 
im  poit.  mein<ige  'enfant'  (Laianne)  wieder.  —  Goujat  'Knabe'  findet  sein 
Gegenstück  in  norm,  goujart  und  ist  in  der  Bedeutung  'jeune  domestique' 
weitverbreitet.  —  Unerklärlich  ist  mir,  warum  »  a  1  b  a  r  i  s  i  'saule'  an- 
geführt wird,  das  auf  der  Atlaskarte  selbst  bis  ins  Charente-  und  Creuse- 
Departement  hinaufreicht  und  in  Nordfrankreich  weitverbreitet  ist,  vgl. 
z.  B.  Yonne:  aube,  bourb.  aubier,  bmanc.  ob  je.  —  Den  Typus  vitalba 
'clematite'  spiegeln  auch  sav.  jable,  waadtl.  vizarbrc,  limous.  gizaubo,  aveyr. 
bidalbo  etc.  wider,  wie  übrigens  zum  Teil  schon  aus  der  Atlaskarte  zu  er- 
sehen war.  Vgl.  auch  die  Rev.  phil.  frang.  23,  292  zusammengestellten  For- 
men. —  Kaso  'louehe'  ist  nach  Bedeutung  und  Ursprung  identisch  mit 
argonn.  casse  'poche  en  cuivre  ä  lougue  queue',  Me.sson:  käs,  sav.  kassa  'id.' 
usw.  Vgl.  Meyer-Lübke  sub  cyathos.  —  Buzigo  'jachere'  ist  das  gall. 
*bodica  (Meyer-Lübke  1184)  und  hat  nichts  mit  fodicare  zu  tun. 
Es  ist  auch  poit.,  limous.,  auvergn.,  wie  schon  aus  der  Atlaskarte  zu  ersehen 
war,  und  kommt  sogar  bei  Jaubert  vor:  boitige.  Ebenso  zeigt  die  Karte 
vervactum  auf  einem  ausgedehnten  Gebiet.  —  Der  Typus  t  h  y  r  s  u  s 
'morceau'  ist  noelx  heute  sehr  weit  verbreitet:  Hyßres:  tros  (RLR  37,  312), 
aveyr.  troiios,  b.  lim.  tro,  lyon.  forez.  troc,  fr.  comt.  trou,  trö.  —  Für  'oublier' 
sagt  man  auch  in  Nizza:   denembra   (R.   Forsch.  9,  279). 

Nicht  viel  zuverlässiger  sind  die  für  da,s  'Südwestlanguedokische'  allein 
aufgestellten  Isolexen.  So  ist  ancus  'hamegon'  auch  gask.  (Gers:  anquet, 
bearn.  anquede)  und  montböl.  (anichot)  und  erscheint  auf  der  Atlaskarte 
im  Berner  Jura.  —  Cymbalum  ist  auch  im  aveyr.  cimboul  zur  Bedeu- 
tung 'clochette'  gelangt.  —  Daß  eskana  'ßtrangler'  auch  gask.  und  aveyr.  ist, 
zeigte  ebenfalls  der  Atlas.  —  Rector  'curö'  ist  auch  aveyr.,  bearn.  und 
dialektal  nordfranzösisch,  besonders  bretonisch.  —  Ous  'chien',  das  in  älterer 
Zeit  in  ganz  Gallien  nachzuweisen  ist,  hat  sich  auch  heute  noch  im  bearn. 
gos,  im  aveyr.  gous,  im  wallon.  go  gehalten.  —  Tustuno  'poupee'  reicht 
zu  weit  ins  gaskognische  Sprachgebiet  hinein,  als  daß  es  für  das  'Südwest- 
languedokische'  allein   in  Anspruch  genommen  werden   dürfte. 

Weitaus  am  besten  geraten  ist  der  Abschnitt  über  das  Aquitanische 
(Gaskognische).  Die  Lautgrenzen  gegen  Nordosten  wie  gegen  das  'Südwest- 
languedokische' sind  za.hlreich  und  einschneidend.  M.  H.  bespricht  hier, 
und  zwar  glücklich,  nicht  nur  die  von  Siiehier,  Fleischer  u.  a.  her  bekannten 
Lautzüge,  sondern  auch  eine  ganze  Anzalil  von  ihr  selbst  zuerst  aufgestellter. 
Auch  die  Isolexen  sind  fast  durchweg  gut  gewählt.  Zu  streichen  sind  etwa 
die  folgenden:  stp  'champiguon',  das  auch  im  Dep.  Aude  noch  vorkommt, 
vgl.   Rev.   dial.   rom.   5,   67;    maxi  IIa   'joue',    das   auch  wallon.,   pikard.. 


gask.  Form  wäre  übrigens   nicht   aubo,  sondern  aubä  anzuführen. 


158  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

champ.,  sav.  ist;  glmhelet  'vrille',  das  in  h.  manc.  gumiblet,  b.  manc.  gibls 
etc.  wiederkehrt;  mansionata  'fille',  das  sich,  auch  sonst  in  galloroma- 
nischen  Mundarten  noch  findet,  z.  B.  im  Lothr. ;  »^bot  'toupie',  dessen  Ab- 
leitung von  caepulla  mir  etwas  zweifelhaft  erscheint.  Es  müßte  eine 
maskuline  Neubildung  von  hohem  Alter  sein,  übrigens  ist  das  Wort  auch 
limous.  und  ist  sogar  von  Jaubert  in  sein  Wörterbuch  aufgenommen  worden. 
Erscheint  hier  die  Beweisführung  schon  von  einer  ganz  anderen  Festigkeit 
als  im  erstgenannten  Teil,  so  ließe  sie  sich  noch  durch  eine  große  Anzahl 
lexikalischer  Eigentümlichkeiten  des  Gaskognischen  verstärken,  welche  M.  H. 
entgangen  sind.  Das  mag  hier  mit  Eücksicht  auf  den  Haum  unausgeführt 
bleiben. 

Von  den  Resultaten,  die  M.  H.  vermeint  aus  ihrer  Arbeit  ziehen  zu  kön- 
nen, bleibt  also  nur  die  genaue  Festlegung  und  Beschreibung  der  gaskogni- 
schen Nordostgrenze.  Ihre  Führung  entspricht  auch  jetzt  noch  der  von 
Luchaire  vor  mehr  als  vierzig  Jahren  aufgezeigten.  Jedoch  gebührt  M.  H. 
das  Verdienst,  diese  Grenze  eindringlicher  darzustellen,  als  es  bisher  ge- 
schehen ist.  Von  dem  historischen  Teil  ihrer  Forschungen,  der  einen  schar- 
fen Blick  für  das  Wesentliche  und  gute  Belesenheit  in  den  Geschichtsquellen 
verrät,  bleibt  allerdings  recht  wenig  mehr,  was  in  Beziehung  zu  dem  sprach- 
lichen Teil  gesetzt  werden  könnte.  Da  der  Nachweis  einer  'südwestgallischen' 
Sprachscheide  mißlungen  ist,  fallen  ohne  weiteres  auch  die  Ausführungen 
über  deren  Ursache  dahin.  Es  wäre  denn,  man  wollte  dieselben  für  den  Teil 
der  gaskognischen  Nordostgrenze  anerkennen,  der  mit  jener  Grenze  zusam- 
menfällt. Dann  müßte  man  aber  die  sich  als  Einheit  darstellende  gas- 
kognische  Sprachgrenze  als  heterogen  auffassen,  was  man  ohne  zwingenden 
Beweis  wohl  kaum  zu  tun  geneigt  ist.  Die  vielen  geschichtlichen  Tatsachen, 
die  M.  H.  beibringt,  können  daher  höchstens  als  sekundäre  JMomente  ge- 
wertet werden.  Die  eigentliche  Ursache  der  Sonderstellung  der  Gaskogne 
innerhalb  der  Galloromania  bleibt  uns  auch  jetzt  noch  verborgen.  Das  Beste, 
was  hierüber  gesagt  worden  ist,  ist  immer  noch  Caesars  Wort:  Oallos  ob 
Aguitanis  Garumna  flumen  dividit.  —  Und  noch  eine  weitere  Erkenntnis 
eröffnet  sich  uns  aus  der  Kritik  der  vorliegenden  Arbeit:  Gesetzt  auch,  man 
wollte  die  von  Morf  mit  so  großer  suggestiver  Kraft  vorgetragene  Theorie 
über  die  Entstehung  der  französisch-provenzalischen  Sprachgrenze  auf  Grund 
der  nördlich  daran  vorbeiziehenden  Römerstraße  ohne  neue  Überprüfung 
annehmen,  so  müßte  man  sich  doch  hüten,  zu  glauben,  daß  nun  jede  wichtige 
Verkehrslinie  eine  Sprachgrenze  schaffen  müsse.  Ebenso  lehrt  dieses  instruk- 
tive Beispiel,  daß  auch  die  Bistumsgrenzen,  deren  dialektgrenzbildende  Kraft 
in  vielen  Fällen  sicher  erwiesen  ist,  nicht  notwendigerweise  die  Grundlage 
für  die  Entstehung  der  Mundarten  abgeben:  die  Bistümer  Bordeaux,  Bazas, 
Agen  und  Toulouse  werden  von  der  gaskognischen  Nordostgrenze  so  ziemlich 
mitten  durchgeschnitten,  während  an  ihrer  Nordgrenze  keine  eigentliche 
Dialekt-scheide  liegt.  Es  kann  eben  auch  in  unserer  Wissenschaft  nie  genug 
betont  und  besonders  Anfängern  eingeschärft  werden,  daß  man  absolut  vor- 
aussetzungslos an  die  Tatsachen  herantreten   muß. 

Es  wären  noch  recht  viele  Einzelbemerkungen  zu  machen,  die  ich  aber 
mit  Rücksicht  auf  den  Raum  unterdrücke.  Auch  würden  sie  den  Allgemein- 
eindruck der  Arbeit  nicht  mehr  beeinflussen.  Nur  die  methodische  Be- 
merkung möchte  ich  mir  noch  gestatten,  daß  es  ganz  unmöglich  ist,  nur  an 
Hand  des  Atlas  linguistique  lexikologische  Forschungen  zu  machen  und 
Grenzen  festlegen  zu  wollen. 

Erfreulich  sind  die  äußerst  klare  und  übersichtliche  Darstellung  und  die 
große  Belesenheit  in  der  historischen  wie  in  der  linguistischen  Literatur, 
durch  die  sich  die  Dissertation  von  M.  H.   auszeichnet. 

Aarau.  W.  v.  Wartburg. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  159 

Vicente  Garcia  de  Diego,  Elementos  de  gramatica  histörica  castel- 
lana.    Burgos  '914.    322  p.  8°.    6  Pts. 

Nach  Anlage  und  Ausführung  zu  urteilen,  sind  die  Elementos  de  gra- 
mätica  histörica  castellana  für  Personen  bestimmt,  die  einen  ersten  Einblick 
in  die  Entwicklungsgeschichte  der  kastilischen  Schriftsprache  tun  wollen, 
darum  also  besonders  für  Studierende  geeignet,  aber  auch  all  denen  zu  emp- 
fehlen, die  bei  der  Lektüre  der  Klassiker  auf  sprachliche  Schwierigkeiten 
stoßen.  Der  Verfasser  hat  der  Darstellung  der  Syntax  erfreulicherweise  einen 
breiten  Umfang  (ein  Drittel  des  ganzen  BuchesJ  gegeben  und  dabei  in  erster 
Linie  den  Sprachgebrauch  der  hervorragenden  literarischen  Denkmäler  frü- 
herer Zeiten  berücksichtigt.  Das  Handbuch  bildet  eine  willkommene  Ergän- 
zung zu  dem  (1920  in  4.,  verbesserter  Auflage  erschienenen)  Manual  clemcntal 
de  gramätica  histörica  espanola  des  Madrider  Romanisten  Menendez 
P  i  d  a  1  gerade  wegen  der  bevorzugten  Berücksichtigung  der  Syntax  und 
der  Darstellung  der  Wortbildungslehre.  Diese  beiden  Teile  hat  Menöndez 
Pidal  in  seinem  'Manual'  bekanntlich  nicht  behandelt.  In  der  Art  der  Dar- 
stellung von  Laut-  und  Formeulehre  gehen  die  genannten  Verfasser  ziemlich 
auseinander.  Während  sich  Garcfa  Diego  in  seinem  stofflich  umfassenderen 
Handbuch  in  der  Auswahl  von  Belegen  Beschränkung  auferlegen  mußte,  auch 
in  der  Beschreibung  der  laut-  und  formengeschichtlichen  Vorgänge  ziemlich 
kurz  zu  fassen'  hatte,  konnte  Men6ndez  Pidal  in  seinem  Manual  weiter  aus- 
greifen und  bei  aller  Einfachheit  der  Darstellung  Eiuzelfragen  und  -probleme 
besser  herausarbeiten.  Gleichwohl  bringt  das  Buch  von  Garcia  Diego  gerade 
in  Laut-  und  Formenlehre  manches  Neue  und  Beachtenswerte.  Darauf 
möchte  ich  an  dieser  Stelle  hinweisen.  Der  Verfasser  benutzt  Material,  das 
er  durch  eine  aufmerksame  Beobachtung  der  heutigen  Volks- 
sprache von  Kastilien  gewonnen  hat,  und  zeigt  an  einigen  wenigen, 
aber  sehr  lehrreichen  Beispielen,  daß  die  Mundart  des  kastilischen  Zentral- 
plateaus sehr  vorteilhaft  zur  Erklärung  der  Entwicklung  der  Schriftsprache 
herangezogen  werden  kann  und  benutzt  zu  werden  verdient.  Als  Einheimi- 
scher, der  in  den  Provinzen  Burgos,  Avila  und  Soria  gelebt  hat,  war  Garcla 
Diego  (dem  wir  übrigens  auch  eine  recht  gediegene  Darstellung  der  Ele- 
mentos de  gramätica  histörica  gallega.  Burgos  1909  [Laut-  und  Formen- 
lehre] verdanken)  besonders  dazu  berufen,  auf  einem  'campo  tan  förtil  e 
inexplorado',  wie  es  die  Volkssprache  ist,  Umschau  zu  halten  und  zu  ernten. 
Die  Ergebnisse  dieser  dankenswerten  Blütenlese  sind  in  einem  inhaltsreichen 
Aufsatz  der  Revista  de  filologla  espanola  III  (1916),  301—18  'Dialectalis- 
mos'  niedergelegt  und  schon  teilweise  in  der  Gramätica  histörica  espanola 
verwertet.  'Pongo  especial  empeno  en  senalar  la  supervivencia  de  muchos 
fenömenos  cläsicos,  y  aun  de  la  lengua  primitiva,  eu  nuestra  lengua  actual, 
especialmente  en  la  hablada,  donde  persisten,  ya  lozanos,  ya  petrificados,  no 
pocos  de  los  que  son  tenidos  por  arcaicos.  Tambißn  apelo  con  frecuencia  al 
testimonio  de  la  lengua  viviente  para  dar  fe  de  diversos  fenömenos  (palabras 
y  fenömenos  fonfiticos,  morfolögicos  y  sintäcticos) ,  que  por  no  hallarse  o  uo 
ser  frecuentes  en  la  lengua  escrita,  no  son  registrados  en  los  diccionarios  ni 
en  las  gramäticas:  omisiön  disculpable  en  los  filölogos  extranos  que  tra- 
bajan  sobre  textos  literarios,  pero  no  en  los  nuestros  que  por  desdön  han 
prescindido  de  est«  tan  fßrtil  e  inexplorado  campo.'  Mir  will  scheinen,  daß 
Garcia  Diego  auf  gutem  Wege  ist.  Man  möchte  nur  wünschen,  daß  der  eifrige 
Sammler  seine  Arbeit  fortsetzt.    Erfolg  kann  ihm  nicht  ausbleiben. 

Zu  der  Einleitung,  in  der  die  allgemeine  Entwicklung  der  spani- 
schen Sprache  dargestellt  wird,  möchte  ich  folgende  Ergänzungen  und  Ver- 
besserungen geben,  die  vielleicht  bei  einer  Neuauflage  Verwendung  finden 
können:  p.  30.  Das  Katalanische  zu  den  provenzalischen  Dialekten  zu  zäh- 
len,  ist  nicht  erlaubt.    Die   sprachlichen   Unterschiede   zwischen   dem   Süd- 


KJO  Beurteilungen   und   kurze  Anzeigen 

französischen  und  Katalanischen,  die  man  bis  jetzt  schon  in  großer  Zahl 
nachgewiesen  hat  (vgl.  Salow,  Sprcwh geographische  Untersuchungen  über 
den  östl.  Teil  des  kat.-lang.  Grenzgebietes.  Hambiirg  1912;  Krüger, 
l^prachgeographische  Untersuchungen  in  Languedoc  und  Roussillon.  Ham- 
burg 1913;  Spitzer,  Syntaktische  Notizen  zum  Catalanischen.  Rev.  de 
dial.  rom.  VI  (1914),  81  ff.,),  sind  bedeutsam  genug,  um  dem  Katalanischen 
eine  Sonderstellung  einzuräumen.  —  p.  11,  14  hätte  sich  ein  Hinweis  auf  die 
wichtige  Studie  von  Carnoy,  Lo  latim  d'Espagne.  2e  ed.  Bruxelles  1906  emp- 
fohlen. — '  Die  Eigenart  des  dialecto  navarro-aragones  ist  p.  12  nicht  richtig 
erfaßt.  'El  navarro-aragonös  con  feuömenos  comunes  con  el  catalän  ha  sido 
casi  absorbido  por  la  iuvasiön  del  castellano.'  Von  einer  eigentlichen  Be- 
einflussung durch  das  Katalanische  kann  nur  in  einer  gewissen  Grenzzone 
gesprochen  werden  (vgl.  jetzt  Griera,  La  frontera  catalano-aragonesa. 
Diss.  Zürich.  Barcelona  1914),  im  übrigen  zeigt  die  Mundart  doch  selb- 
ständigen Charakter.  Man  darf  wohl  über  die  heutige  Sprache  in  den  ara- 
gonesischen  Tälern  noch  weit  umfassendere  Mitteilungen  erwarten,  als  sie 
Saroi'haudy^  in   seinen  Artikeln  gegeben  hat. 

In  dem  lauthistorischen  Teil  fällt  öfter  eine  nicht  ganz  klare 
Ausdrucksweise  auf,  die  Mißverständnisse  bei  dem  Leser  hervorruft.  Gänz- 
lich unverständlich  ist  u.  a,,  was  p.  26  Z.  1 — 2  über  den  früheren  Laut- 
wert  von  c,  g  im  Gegensatz  zu  z  gesagt  wird.  'C  dental  y  f  eran  mäs 
fuertes  que  z,  de  un  sonido  igual  o  semejante  al  actual  de  c,  z',  ebenso 
die  Bemerkung  p.  25  über  Nasal  vor  bilabialem  Verschlußlaut  'm  ante 
oonsonante  tiene  el  sonido  de  n,  como  combate  (conbate)'.  —  Unbefriedigend 
ist  das  Kapitel  über  Diphthongbildungen  (p.  30  ff.)  :  z.  B.  p.  31  A.  2  'La 
diptongaciön  tiende  hacia  el  oscurecimento  de  la.  vocal  mäs  debil,  antiayer, 
cranio,  Buadil,  etc.',  wo  es  sich  einfach  um  die  Erscheinung  handelt,  die  ich 
'Studien'  p.  130  besprochen  habe.  p.  32  "la  dislocacion  del  acento  Ueva 
a  la  diptongaciön,  como  judex  [sie!]  jüez  juez,  r  e  g  i  n  a  reina  reina'  usf. 
Die  Frage  der  Akzentuierung  zweier  unmittelbar  aufeinander  folgender 
Vokale  im  Spanischen  ist  so  schwierig  und  dabei  so  wenig  untersucht,  daß 
sich  vor  allem  empfiehlt,  bei  Erörterungen  über  diesen  Gegenstand  eine  Tin- 
zweideutige  Ausdrucksweise  anzuwenden.  —  §  62,  2  'Una  yod  pucde  ascurecer 
[sie!]  las  vocales  anteriores  e,  o'  Beispiele:  s  ep  i  a  >  ;i&ia,  *renione> 
rinon  ...  —  §  62,  3  'Por  asimilaciön  de  la  i  implicita  (!)  de  las  consonantes 
paladiales  ie  se  reduce  a  i  ante  IV  castiello  >  castillo  usw.  — 

§  32  A.  5  macht  D.  darauf  aufmerksam,  daß  auch  in  Kastilien  der  Wandel 
von  fue-  zu  jue-  eintrete  (juerte,  juerza,  juera)  und  geht  dabei  auf  die  Ent- 
stehung dieser  Formen  ein  'yo  sospecho  que  ante  «e  de  huertc  la  h  adquiriö 
un  sonido  distinto,  acaso  mäs  fuerte  que  en  los  demäs  casos  de  hacer,  hijo. 
y  que  mirada  desde  antiguo  esa  pronunciaciön  como  un  vulgarismo,  se  usaba 
y  triunfö  al  fin  la  f,  quedando  relegada  a  la  plebe  la.  pronunciaciön  juerte, 
juerza'.  Wenn  der  Wandel  von  fue  >  [hwe-]  (nehmen  wir  diese  Lautung  für 
die  zweideutige  Graphie  jue-  in  Hinblick  auf  das  gleichzeitig  genannte  hue- 
an)  nicht  so  verbreitet  ist  wie  der  von  f  a-  >  [ha-]  (f  acere  >  hacer  usf.), 
so  hat  dies  seine  guten  Gründe:  die  langandauernde  intensive  Lippentätig- 
keit bei  Aussprache  eines  [fwe-]  läßt  die  Senkung  der  Unterlippe  bei  [f-], 
die  letzten  Endes  zu  [h-]  führt,  nicht  zu  (V  e  r  f.,  Studien  zur  Lautgeschichte 
'westspanischer  Mundarten  p.  181).  Der  Wandel  von  fue-  >  htie-  ist  nicht 
allgemein  durchgedrungen  und  hat  in  der  älteren  Schriftsprache  nur  ver- 
einzelt seinen  Ausdruck  gefunden,  an  einen  bewußten  Verzicht  auf  die 
Aussprache  hjie-  vermag  ich  demnach  nicht  zu  glauben.    Die  Annahme  eines 

1  Garcia  de  Diego  hat  neuerdings  in  einem  folleto  'Caracteres 
fundamentales  del  dialecto  aragonös',  Zaragoza  1918,  18  p.,  zusammengestellt, 
was  wir  über  das  Aragoni.sche  wissen. 


. 


Beurtfilungen   und   kurze   Anzeigen  161 

'besonderen  Lautos'  wird  überflüssig.  Es  sei  bemerkt,  daß  fuc-  auch  zu 
[xwe-]  werden  kann,  entweder  über  [liwe-J  oder  aus  [fwe-]  unmittelbar  (vgl. 
Studien  §  234  und  im  Anschluß  hieran  Rev.  de  filologfa  espanola  III,  305). 

§  41  A.  4  wird  die  Entwicklung  von  vulture  >  butrc,  multu  >  mu 
besprochen  und  die  Frage  aufgeworfen,  ob  hutre,  mu  auf  huitre,  inuy  zurück- 
gehen oder  aber  direkter  \'erlust  des  ursprünglichen  vorkonsoua.utischen  l 
anzusetzen  ist.  Ich  vermag  mich  zu  dieser  letzteren  Auffassung  nicht  zu  be- 
kennen, da  uns  1.  die  Zwischenstufen  huitre,  muy  usw.  belegt  sind  und 
2.  neben  der  Kurzform  [mu]  auch  [mi]  steht.  Beide  sind  aus  proklitischem 
muy  herzuleiten.    Vgl.  Studien  §  317. 

§  58  S.  55.  matarlo  [matnhlo].  Haben  wir  es  wirklich  mit  einem  laryn- 
galen  Aspiranten  zu  tun? 

§  63,  7.  Ich  habe  Studieii  §  73  versucht,  den  Wandel  fruente  >  frente, 
culuchra  >  eulchra  usw.  zu  erklären.  Meine  Deutuug  wird  von  Ronjat, 
RLR  LIX   (1916),  123  ohne  Angabe  von  Gründen  abgelehnt. 

s-  bleibt  bekanntermaßen  im  Kastilischen  zumeist  erhalten.  Mitunter 
wandelt  es  sich  zu  [x-]  :  s  e  r  i  c  a  >  jerga,  s  e  p  i  a  >  jihia;  s  u  c  u  >  jugo, 
SucT  o  ^  Jiicar;  s  ap  o  n  e  >  jobön,  S  a  1  o  n  e  >  JaZ(5?i.  Die  Erklärung 
für  diese  Veränderung  macht  Schwierigkeiten.  Vielleicht  tragen  die  folgen- 
den Bemerkungen  zur  Lösung  der  Frage  bei.  Menendez  Pidal  (Ma- 
nual2  p.  72)  und  Haussen  (Gram.  hist.  §  110)  denken  an  den  Einfluß 
eines  fremden  Lautsystems.  Die  Untersuchung  der  Mundarten  der  iberi- 
schen Halbinsel  führt  jedoch  zu  der  Erkenntnis,  daß  es  sich  bei  dem  Wandel 
um  eine  solche  Einwirkung  von  außen  im  allgemeinen  nicht  handeln  kann. 
Sowohl  im  Katalanischen^  wie  im  Spanischen  und  Portugiesischeu  begegnet 
der  Wandel.  Wörter  machen  ihn  durch,  wo  es  schwer  hält,  arabischen  Ein- 
fluß anzunehmen.  Zu  den  Daten,  die  ich  Studien  p.  164 — 168  gegeben  habe, 
bringt  Garcia  Diego  §  32,  4  und  A.  6  beachtenswerte  Ergänzungen. 
Unabhängig  voneinander  kommen  Castro,  Rev.  de  filologla  espanola  I, 
102,  Garcia  Diego  und  ich  selbst  (1.  c.)  zu  dem  Schluß,  daß  ein  organischer 
W^andel  kaum  bezweifelt  werden  kann.  Sehr  richtig  bemerkt  Garcia  Diego: 
'es  poco  creible  que  una  influencia  extrana  haya  llegado  a  palabras  tan 
idiomäticas  como  jurco,  presentando  aün  mayor  vitalidad  que  en  castellano  en 
regiones  que  como  Galicia  han  recibido  muy  atenuada  esta  influencia,  como 
aal  via  sarja,  jarja,  saxu  seijo,  jeijo,  sartor  sastre,  jastre,  sabulu 
sabre,  jähre,  sorna,  jorna,  soca  soga,  Joga,  sargas,  jargas,  sibilu  silgaro, 
jilgaro,  etc.:  estas  vacilaciones  que  existen  en  el  castellano  actual,  como 
sorba  serba,  jerba,  sardo,  jardo,  ex  amen  ensambre,  enjam,bre,  sirle,  jirlc, 
chirle,  repartidas  en  localidades  distintas  de  Burgos,  y  otras  con  relaciön 
a  la  lengua  antigua,  como  sueu  sugo  en  Covarrubias,  med.  jiigo,  inducen 
mäs  bien  a  pensar  en  un  fenomeno  interno:  jugo,  julnta,  pueden  haberse 
producido  bajo  la  influencia  de  enjugar,  enjabna'  (p.  38  A.  6).  Ca.stro 
1.  c.  denkt  an  eine  spontane  Palatalisierung  entsprechend  l-,  n-  im  West- 
spanischen. 

Ich  habe  bereits  Studien  p.  165,  166  und  Rev.  dial.  rom.  VI,  231  darauf 
hingewiesen,  daß  die  auf  s-  folgenden  Vokale  von  bestimmendem  Einfluß  ge- 
wesen sein  mögen,  und  werde  in  dieser  Auffassung  durch  Beobachtungen,  die 
jüngst  in  anderen  Teilen  der  Tlomania  gemacht  worden  sind,  bestärkt.  Hinzu 
kommt,  daß  die  Natur  des  spanischen  s-  einem  Wandel  in  der  Richtung  auf 
[s]   günstig  ist. 

Leider  sind  wir  über  die  Artikulation  des  [s]  auf  der  iberischen  Halb- 
insel noch  nicht  so  unterriclitot,  wie  man  wohl  wünschen  möchte.  So  viel 
scheint  aber  festzustehen,  daß  es  im  allgemeinen   [s]   näher  steht  als  etwa 


1  Vgl.  noch  Boll.  del  Dicc.  de  la  lleng.  cat.  VIII,  263 ;  239. 
Archiv  f.  n.  Sprachen.    140.  -i  i 


162  Beurteilungen  und  kurze  Anzf?igen 

französisch  s-.*     [s]    trägt  gewissermaßen  den  Keim  zu  einer 
Verschiebung  in  der  Richtung  auf   [s]    in  sich- 

Damit  wird  der  Übergang  von  [s-]  >  [s]  verständlich.  Vollends  begrei- 
fen wir  den  Wandel,  wenn  auf  [s-]  Vokale  wie  [i]  oder  [u]  folgen.  Deren 
Natur  begünstigt  diese  Veränderung.  Studien  §  217  und  Literaturbl.  f.  germ. 
u.  rom.  Phil.  1918  p.  125  habe  ich  zu  erklären  versucht,  weshalb  auf  [s-] 
folgender  Palatalvokal  (in  erster  Linie  [i])  den  Wandel  [s-]  >  [§-]  be- 
günstigt. Zu  der  auf  romanischem  Gebiet  nicht  seltenen  Erscheinung  hat 
neuerdings  Zaun,  Die  Mundart  von  Aniane  (1917)  §§  144  b,  226  inter- 
essante Daten  beigebracht:  er  hat  im  Languedokischen  eine  Zwischenstufe 
[§i]   zwischen   [si]  und  [si]   nachgewiesen,  ähnlich  Bruneau. 

Andererseits  findet  der  Wandel  [su-]  >  [su-],  dem  ich  in  Extremadura 
begegnet  bin  {Studien  §  216:  sticia  [su;^a],  smi/o  [suza],  sndando  [suando], 
suegro  [sw^gru]  gegenüber  seis  [sqI],  [sal],  sortija  [sQrtiha]),  eine  auf- 
fallende Parallele  in  Ardennenmundarten.  Bruneau,  Etud.  phon.  des 
patois  d'Ardenne  (1913)  stellt  §  230  S.  388  ausdrücklich  fest,  daß  Ts  arden- 
nais  diffßre  sensiblement  de  Vs  parisien'  [vgl.  das  oben  über  die  Daten  des  s 
der  Iberischen  Halbinsel  Gesagte]  und  findet  §§  235,  241  die  nämlichen 
Grundlagen  für  die  Veränderung  des  s-,  wie  wir  sie  auf  der  Iberischen  Halb- 
insel festzustellen  Gelegenheit  haben :  s  kann  zu  [s]  vor  [i] ,  [ü]  und  [u] 
werden :  [suf]  soufre,  [sufl]  souffle,  [suflo]  sifflet,  [sur]  source  usf.  'La  r6- 
partition  irrßguliöre  des  exemples  [man  denke  an  den  heutigen  Zustand  in 
Spanien!  !]  montre  bien  qu'il  s'agit  d'un  ph6nom§ne  secondaire  et  de  carac- 
töre  local  ...  II  ya,  en  r6alit6,  labialisation,'^  et  uon  palat-alisation  de  Vs, 
comme  le  montre  la  nature  des  voyelles  devant  lesquelles  se  produit  r6- 
guliörement  ce  changement:  dans  la  rögion  ardennaise  les  exemples  sont 
particuliörement  fröquents  devant  [u],  qui  exige  un  avancement  et  arron- 
dissement  des  lövres  trös  marqu4.  Cette  voyelle  se  prononce  avec  la  pointe 
de  la  langue  6tendue  sur  le  plancher  de  la  bouche  et  la  racine  de  la  langue 
relevße  vers  le  fond  du  palais:  cette  position  est  assez  semblable  ä  celle 
qu'exige  le  [s].'  Man  kann  über  diese  letztere  Bemerkung  anderer  Meinung 
sein,  die  Veränderung  erfolgt  aber  in  den  Ardennen  unter  genau  den 
gleichen  Umständen  wie  im   Spanischen. 

Auch  in  der  Lunigiana  (dem  oberitalienischen  Dialekt,  der  Charakter- 
züge des  Ligurischen,  Emilianischen  und  Toskanischen  in  sich  vereint,)  ist 
letzthin  von  Giannarelli,  Rev.  de  dial.  rom.  V  (1913),  294  der  Wandel 
von  [su]  >  [su]  (neben  dem  Wandel  von  [si-]  >  [si-])  nachgewiesen  wor- 
den:  subia,  sugo. 

Diese  Tatsachen  müssen  uns  in  der  Auffassung  bestärken,  daß  die  Ver- 
änderung des  [s-]  auf  der  Iberischen  Halbinsel  im  allgemeinen  einen  orga- 
nischen Wandel  3  dar.stellt.  Noch  vermögen  wir  nicht  zu  über.schauen,  wes- 
halb manche  Wörter  die  Veränderung  mitgemacht  haben,  andere  dagegen  bei 
[s-]  stehengeblieben  sind.  Auch  die  Verbreitung  des  Wandels  genau  fest- 
zustellen, bleibt  späterer  Forschung  vorbehalten.  Auch  bleibt  festzustellen, 
weshalb  von  [s]  aus  eine  Entwicklung  in  zweierlei  Richtung,  zu  [x]  und  zu 
[e],  eingetreten  ist.    Noch  ist  mit  anderen  Worten  über  die  Frage  das  letzte 


1  Josselyn,  Phon.  esp.  p.  97 — 98.  —  Colton,  Phon.  cmt.  p.  124: 
'La  consonne  s  a  une  articulation  assez  61oign6e  des  dents  en  castillan'; 
Schädel,  Rev.  de  dial.  rom.  I,  23  A.  1 :  'Rillenbildung  durch  das  Zungen- 
blatt ...  jedoch  Reibung  am  Zahnfortsatz ;  die  in  Spanien  weitverbreitete 
Variante  des  [s] ,  dem  [.s]  näherstehend.'  —  Neuerdings  NavarroTomäs, 
Manual  de  pronunciaciön   espanola,  1918,  p.   82 — 83. 

i  Vgl.  über  das  labiale  Element  in  s  MiUardet,  RLR  LX,  77,  78,  88. 

8  Wie  in  griechischen  Dialekten.  Vgl.  Pernot,  Etudes  de  linguistique 
nöo-helienique  I,   1907,  p.  283—286. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  163 

Urteil  nicht  gesprochen.    Von  einer  intensiven  Bearbeitung  der  spanischen 

Mundarten  erhoffen  wir  auch  für  sie  wertvolle  Aufschlüsse.    Immerhin  schien 

es  mir  an   der  Zeit,  über  die  allgemeine  Entwicklungstendenz  aufzuklären. 

Hamburg.  Fritz   Krüger. 

Ludwig  Pfandl,  Robert  Southey  und  Spanien.  Leben  und  Dich- 
tung eines  englischen  Romantikers  unter  dem  Einflüsse  seiner 
Beziehungen  zur  Pyrenäischen  Halbinsel.  (Extrait  de  la 
Revue  Hispanique,  tome  XXYIII.)  New  York,  Paris  1913. 
315  S.  8«. 

Von  den  englischen  Romantikern  hat  sich  wohl  Southey  am  eingehendsten 
mit  spanischer  Sprache  und  Literatur  befaßt.  Neben  seinen  durch  die  spa- 
nische Literatur  angeregten  Dichtungen  sind  es  auch  zwei  historische  Werke, 
die  sein  tiefgehendes  Interesse  für  die  Pyrenäenhalbinsel  bekunden.  Leider 
ist  aber  die  'Geschichte  Portugals'  noch  ungedruekt  und  in  unzugänglichem 
Privatbesitz.  Solange  diese  aber  nicht  veröffentlicht  ist,  wäre  es  verfrüht, 
über  Southey  als  Geschichtschreiber  der  Pj-renäenhalbinsel  zu  urteilen,  da 
sein  zweites  historisches  Werk,  die  'Bistory  of  the  Peninsular  War',  weniger 
eine  historische  Untersuchung  darstellt  als  eine  Hetzschrift  gegen  Napoleon. 
Sie  ist  auch  nicht  die  Frucht  seines  Hispanismus,  sondern  verdankt  der  teil- 
nehmenden Beobachtung  an  den  zeitgenössischen  Ereignissen  ihre  Ent- 
stehung. Southeys  Beziehungen  zu  Spanien  und  Portugal  können  also  nur 
aus  seinen  dichterischen  Werken  und  seinen  zahlreichen  Briefen  erschlossen 
werden,  die  Pfandl  genau  und  eingehend  durchforscht  hat. 

Zunächst  drängt  sich  jedoch  die  Frage  auf:  Durch  welche  Umstände  kam 
Southey  mit  Spanien  in  Berührung?  Pfandl  hat  die  Beantwortung  dieser 
Frage  in  einem  ersten  Kapitel:  'Southeys  persönliche  Beziehungen  zur 
Pyrenäischen  Halbinsel.  Die  chronologische  Entwicklung  seines  Hispanis- 
mus' behandelt,  dem  sich  ein  zweites:  'Spanien  in  Southeys  Dichtung'  an- 
schließt. 

I.  Southey  war  von  seinem  Onkel,  Herbert  Hill,  der  in  Lissabon  lebte, 
eingeladen  worden.  Der  junge  Dichter  verläßt  England  im  Jahre  1795,  lan- 
det in  Coruüa  und  reist  von  hier  über  Lugo-Ponferrada  nach  Madrid,  wo  er 
am  2.  Januar  1796  ankommt.  Aber  infolge  des  kalten  Wiuterklimas  währt 
der  Aufenthalt  nur  zehn  Tage.  Dann  geht  die  Reise  über  Badajoz  nach 
Lissabon.  Southeys  Onkel  hatte  in  langen  Jahren  eine  an  gedruckten  und 
ungedruckten  Schätzen  reiche  Bibliothek  gesammelt,  die  von  Southey  weid- 
lich ausgenützt,  gelesen,  übersetzt  und  exzerpiert  wurde.  Aber  das  Heimweh 
nach  England,  wo  er  seine  ihm  kurz  vor  der  Abreise  angetraute  Edith  ge- 
lassen hatte,  erfaßte  ihn  allmählich  so  stark,  daß  er  schon  am  5.  Mai  Lissa- 
bon wieder  verließ  und  direkt  nach  Portsmouth  fuhr.  Seine  Gesundheit 
machte  bereits  drei  Jahre  später  eine  Reise  nach  dem  Süden  notwendig.  Am 
1.  April  1800  erst  konnte  Southey,  diesmal  mit  seiner  Frau,  die  zweite  Reise 
nach  Lissabon  antreten.  Dort  und  in  Cintra  kräftigte  sich  seine  Gesundheit 
zusehends.  Im  Februar  1801  wurde  eine  kleine  Reise  nach  Coimbra  gemacht, 
die  über  Thomar  und  Santarem  wieder  nach  Lissabon  zurückführte.  Auch 
in  den  südlichen  Teil  Portugals  kam  Southey  im  April.  Unterdessen  waren 
aber  die  Zeiten  trübe  geworden.  England  stand  mit  Portugal  auf  dem 
Kriegsfuß,  Edith  und  Southeys  Mutter  drängten  zur  Heimkehr.  So  kehrte 
das  Ehepaar  Southey  im  Juni  1801  auf  dem  direkten  Seeweg  nach  England 
zurück.  Es  sollte  Southeys  letzter  Aufenthalt  auf  der  Halbinsel  gewesen 
sein.  In  England  gelangten  die  Früchte  seiner  Eindrücke  und  Studien  zur 
Reife.  Pfandl  unterscheidet  zwei  Perioden  in  des  Dichters  Schaffen,  die 
epische   (1795 — 1814)  mit  den  Hauptwerken  'Amadis'   (1803),  'Palmerin' 

11* 


164  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

(1807),  (Cid'  (1808),  'Rodrigo'  (1814)  und  verschiedenen  kleineren  Gedichten, 
dann  die  historisch-biographische  (1814 — 1843),  in  die  die  un- 
veröffentlichte 'Geschichte  von  Portugal'  und  die  'Geschichte  des  Peninsular 
War'  fällt.  Gründlich  und  eingehend  legt  uns  Pfandl  dar,  wie  Southey 
Hispanist  geworden  ist,  welches  die  Entstehungsgeschichte  der  einzelnen 
Werke  ist,  welche  Pläne  Southey  außerdem  noch  beschäftigten  und  welches 
seine  Beziehungen  zu  zeitgenössischen  Hispanisten  (Lord  Holland,  Walter 
Savage  Landor,  John  Hockham  Frere)  waren. 

II.  Literarhistorisch  ist  der  zweite  Teil  der  Studie:  'Spanien  in  Southeys 
Dichtung',  am  wertvollsten.  Hier  zeigt  sich  Pfandl  als  gründlicher  Kenner 
der  ganzen  einschlägigen  Materie  und  als  Meister  des  Wortes,  dessen  Dar- 
stellung man  mit  ungemindertem  Interesse  bis  zum  Schlüsse  verfolgt.  So 
ziehen  von  Southeys  selbständigen  Dichtungen  'La  Caba',  'Roderick  the  Last 
of  the  Goths,  ein  verfehlt  aufgebautes  Epos,  'The  Pilgrim  of  Compostella', 
'eine  kulturhistorische  Satire  ersten  Hanges',  'Queen  Marys  Christening', 
'eine  einfältig  fromme  Legende  zur  Satire  umgedicht«t',  an  uns  vorüber.  Bei 
Southeys  freien  Übersetzungen:  dem  'Amadis',  der  'Chronicle  of  the  Cid', 
dem  'Palmerin  of  England',  legt  die  Untersuchung  dar,  wie  sich  Southey 
seinen  Quellen  gegenüber  verhalten  hat  und  worin  sich  nach  Inhalt  und 
Form  seine  Übersetzungskunst  zeigt. 

In  einem  imifangreichen  Schlußkapitel  wird  die  Frage  untersucht,  in- 
wieweit Southeys  Beziehungen  zu  Spanien  für  seine  Beurteilung  als  Mensch 
und  Dichter  von  Bedeutung  sind.  So  ist  z.  B.  seine  nicht  nur  dichterische, 
sondern  auch  kritische  Beschäftigung  mit  der  mittelalterlichen  Literatur 
und  ihren  Problemen  ein  Zug  von  Southeyscher  von  Spanien  beeinflußter 
Romantik,  wie  ihn  ähnlich  höchstens  noch  Walter  Scott  besaß,  wie  er  indes 
Byron,  Shelley,  Wordsworth,  Keats  gänzlich  mangelte. 

Vielleicht  würde  es  sich  auch  lohnen,  Southeys  Einfluß  in  Spanien  nach- 
zugehen. Es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  der  Duque  de  Rivas  z.  B.  von 
Walter  Scott  und  Southey  Anregungen  empfing. 

Würzburg.  ,  AdalbertHämel. 

Eva  Seifert,  Zur  Entwicklung  der  Proparoxytona  auf  'ite,  ~ita, 
~itu  im  Galloromanischen.   Berliner  Dissertation  1919.   121  S. 

Vorliegende  Untersiichung  einer  Gruppe  von  Proparoxytonis  auf  gallo- 
romanischem  Gebiet  verdient  im  ganzen  Lob.  Ausgegangen  wird  von  den 
heutigen  Formen,  soweit  sie  sich  auf  Grund  des  Atlas  linguistique,  von  Dia- 
lektwörterbüchern und  einzelsprachlichen  Darstellungen  ermitteln  lassen, 
jedoch  erfahren  auch  die  mittelalterlichen  Reflexe  gebührende,  wenn  auch 
nicht  immer  ganz  ausreichende  Berücksichtigung.  Den  einzelnen  in  Betracht 
kommenden  Wörtern  werden  als  Anhang  die  Proparoxytona  mit  t  und  r  in 
den  Nachtonsilben  angeschlossen.  Es  stellt  sich  zunächst  heraus,  was  frei- 
lich für  viele  längst  ausgemacht  war,  daß  eine  Scheidung  in  Maskulina  und 
Feminina  keine  Berechtigung  hat,  und  die  Neumann-Gierachsche  Theorie, 
daß  bei  a  der  Ultima  Synkope  früher  eintrete,  der  Grundlage  entbehrt. 
Weiterhin  erhalten  wir  als  allgemeingefaßtes  Ergebnis  für  den  Süden:  Vor- 
wiegende Synkopierung  auf  stimmhafter  Basis  mit  Landschaften  im  Osten, 
die  Neigung  zur  Umgehung  der  Synkope  und  in  ihren  heutigen  Formen 
Akzentverschiebung  aufweisen  (Südosten);  im  Frankoprovenzalischen :  über- 
wiegen stimmhafter  Gebilde  (im  Südosten  Unterbleiben  der  Synkope) :  für 
den  Norden:  im  Osten  Unterbleiben  der  Synkope  (Sonorisierung  der  Ex- 
plosivlaute), während  das  Zentrum  und  der  Norden  durch  Synkope  auf 
stimonloser  Basis  gekennzeichnet  wird  und  die  westlichen  Landschaften  Syn- 
kope auf  stimmhafter  Basis  zeigen. 

Im  einzelnen   sei   folgendes  bemerkt.    Es  fällt   auf,   daß  bei   der   Durch- 


Beurtt'ilungon  und  kurze  Anzeigen  165 

mustening  der  einschlägigen  Literatur  die  Verfasserin  für  die  Dissertationen 
von  Wendel  und  Herford  ein  fremdes  Urteil  anführt,  statt  ein  eigenes  zu 
äußern.  Auch  ist  e^  nicht  ganz  richtig,  daß  ich  im  E.-B.  die  Proparoxytona 
ohne  Gliederung  irgendwelcher  Art  aufführe;  eine  solche  ist  §  61 
wenigstens  angedeutet  (Liquiden),  wozu  denn  auch  das  von  der  Verfasserin 
S.  29  Gresagte  stimmt.  Warum  wird  prov.  anta  S.  5.5  nicht  erwähnt,  und 
worauf  gründet  sich  die  Behauptung,  daß  haunipa  'entweder  spät  eindrang 
oder  überhaupt  nicht  als  volkstümlicher  Begriff  gefaßt  werden  kann'  (S.  113)? 
Caiuwpem  oder  cannapum  (S.  30,  121)  bedarf  eines  Sternchens,  a.uch  hätte 
der  Meinung  von  Thomas,  Essais  S.  409,  daß  diese  Form  vielleicht  sinapem 
ihre  Entstehung  verdanke,  gedacht  werden  können.  Wo  ist  cambita  (S.  46) 
belegt?  Frz.  chaintre  kann  weder  von  *camit€m  noch  von  *camiita  kommen 
(S.  46  Anm.  6),  s.  Thomas,  Mßlanges  S.  45.  Man  vermißt  S.  52  die  alt- 
französischen  Reflexe  von  culcita,  S.  56  afrz.  muete  <  *movita,  S.  57  prov. 
perda,  venda,  renda  (perdoa,  vendoa,  redoa),  s.  E.-B.  §  60  und  157,  Appel, 
Prov.  Lautlehre  §  41c,  60  d  und  vgl.  Archiv  135,  474,  ferner  S.  61  das 
häufige  afrz.  andain.  S.  68  Abschnitt  2  wird  etwas  als  sicher  hingestellt, 
was  kurz  vorher  (S.  68  oben)  nur  gefragt  wird.  Ein  prov.  espirt  (S.  91) 
kann  nicht  ein  Deverbale  von  spirare  sein.  Da  bei  Berger,  Lehnwörter 
S.  129  afrz.  espirt  nur  mit  Sternchen  erscheint,  so  hätte  es  sich  empfohlen, 
auf  die  wenigen  Belegstellen  hinzuweisen ;  ich  kenne  nur  Godefroy  III,  533a 
und  Brandan  (Bartsch  und  Horning,  Langue  et  litten  Sp.  75,  V.  12).  Die 
Deutung  der  Form  befriedigt  übrigens  nicht  recht.  Ziemlich  kühn  ist  die 
Meinung,  daß  nichts  hindere,  gask.  maläu  als  aus  altem  malave  {malauel) 
erwachsen  anzusehen,  indem  e  in  dem  Diphthongen  aufgegangen  sein  soll. 

Jena.  0.  S  c  h  u  1 1  z  -  G  o  r  a. 

A.  Lombard,  La  correspondance  de  l'abbe  Du  Bos.  (Ouvrage  con- 
tenant  3  fac-sim.)    Paris,  libr.  Hachette,  1913.    90  S. 

Ders.,  L'abbe  Du  Bos.  Un  initiateur  de  la  pensee  moderne  (1670 — 
1742).  (Ouvr.  renferm.  un  portr.  une  planche  hors  texte  et 
3  fac-sim.  d'autogr.    Ebenda  1913.   YIII,  614  S. 

Mehr  als  zehn  Jahre  sind  verstrichen,  seit  Lombard  in  einer  ausgezeich- 
neten kleinen  Schrift  über  die  Querelle  des  anciens  et  des  modernes  die  erst« 
Frucht  seiner  Du  Bos-Studien  vorlegte.  Die  umfangreiche  Dissertation,  die 
nachher  aus  ihnen  erwachs,  setzt  dem  klugen,  auf  so  viel  Gebieten  heimi- 
schen Abb4  das  Denkmal,  das  er  längst  verdient«  —  er,,  den  der  Untertitel 
mit  Eecht  als  Bahnbrec-her  rühmt  und  der  beinahe  zu  den  großen  Schrift- 
stellern des  18.  Jahrhunderts  zählen  könnte,  wenn  er  etwas  mehr  Phantasie, 
Künstlerblut,  Sinn  für  Stil  und  literarische  Wirkungen  besessen  hätte.  Die 
Nebenthese  gibt,  chronologisch  geordnet,  ein  Inventar  der  Briefe  von  und 
an  D.,  von  denen  L.  ein  paar  schon  edierte,  aber  schwer  zugänerliche  abdruckt, 
ferner  die  unedierten,  von  ihm  entdeckten.  Sie  sind  zum  Teil  recht  inter- 
essant, so  der  ausführliche  an  Bayle  (August  1696)  und  die  folgenden  Be- 
richte an  dieselbe  Adresse.  Die  Korrespondenz  hat  auch  Interesse  für  die 
Biographie  von  D.,  die  bisher  nur  schlecht  bekannt  war,  da  man  aus  einer 
einzigen  und  noch  dazu  unzuverlässigen  Quelle  schöpfte  (einer  manches  ab- 
sichtlich entstellenden  Denkschrift  für  den  Prozeß,  den  seine  Schwester  um 
die  Erbschaft  anstrengte),  und  die  nun  L.  zwar  auch  nicht  lückenlos,  aber 
in  den  wesentlichen  Zügen  auf  Grund  einer  Fülle  von  mühsam  zusammen- 
getragenem Material  aufbaut.  Der  I.  Teil  zeichnet  das  Bild  von  D.s  Persön- 
lichkeit und  der  rastlosen  Tätigkeit,  die  er  als  Gelehrter,  Kritiker,  Polomist, 
als  Mitglied  der  Akademie  und    (ab  1722)    ihr  secr^taire  perp<5tuel,  als  Po- 


166  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

litiker  und  Diplomat  (Gehilfe  und  Berater  des  Kardinal-Ministers  Dubois) 
in  Frankreich  und  auf  Reisen  nach  England,  Holland,  Italien,  der  Schweiz 
entfaltete.  Daß  die  Lebensgeschichte  eines  geistig  so  überaus  regen  Mannes, 
der  Beziehungen  zu  so  verschiedenen  Kreisen  unterhielt,  von  dem  Bayle  und 
Voltaire  sich  Belehrung  holten,  zugleich  ein  fesselndes  Stück  Kultur-  und 
Geistesgeschichte  spiegelt,  versteht  sich  von  selbst,  und  man  muß  sich  wun- 
dern, daß  die  französische  Forschung  ihm  nicht  schon  früher  mehr  Beachtung 
geschenkt  hat.  Schon  durch  seine  historischen  Arbeiten  hätte  er  Anspruch 
darauf  gehabt,  namentlich  durch  sein  historisches  Hauptwerk,  die  Histoire 
critique  de  la  monarchie  francaise  (1734),  die  methodisch  ebenso  bedeutsam 
ist  wie  inhaltlich  als  erste  Studie  über  die  Übergangszeit  zwischen  dem  Zu- 
sammenbruch der  römischen  Herrschaft  in  Gallien  und  dem  sich  allmählich 
formenden  Königtum  Frankreich.  Im  III.  Teil  behandelt  L.  die  Geschichts- 
auffassung von  D.  und  den  starken  Einfluß,  den  sein  Romanismus  in  Europa 
ausgeübt  hat,  umreißt  darin  auch  den  nicht  geringen  Anteil,  der  D.  an  der 
Entwicklung  der  Geschichtschreibung  zur  Wissenschaft  zukommt,  da  er  seine 
Darstellung  auf  den  soliden  Unterbau  sorgfältiger  Dokumentierung  stützt 
und  moralische  wie  religiöse  Erwägungen  (freilich  nicht  die  politischen) 
ausschaltet. 

Den  Literarhistoriker  interessiert  am  meisten  D.s  Ästhetik,  mit  der  sich 
der  II.  (breiteste)  Teil  von  L.s  These  beschäftigt.  In  7  Kapiteln  untersucht 
L.  die  Rgflexions  critiques  sur  la  poßsie  et  sur  la  peinture,  ihre  Entstehung 
und  Gliederung,  die  Hauptgedanken  und  ihr  Werden,  D.s  Verhältnis  zur 
klassischen  Poetik  und  die  Wege,  auf  denen  er,  besonders  von  englischen 
Denkern,  Locke.  Addison,  wohl  auch  Shaftesbury,  beeinflußt,  zu  seinem 
Sensualismus  gelangt  ist.  Weitere  6  Kapitel  untersuchen  die  Nachgeschichte 
der  Rgflesions,  den  Widerhall,  den  sie  fanden,  in  Frankreich  bis  tief  ins 
19.  Jahrhundert,  in  Italien,  in  England,  in  Deutschland,  wo  die  Anregungen 
von  D.  auf  den  fruchtbarsten  Boden  fielen  und  wo  seine  Autorität  die  Herr- 
schaft des  französischen  klassizistischen  Geschmacks  lange  überdauerte,  da 
er  gerade  im  Kampf  gegen  den  Klassizismus  wertvolle  Waffen  lieferte,  auch 
einem  Lessing,  der  ihm  offenbar  mehr  verdankt,  als  man  bisher  annahm. 
Wenn  L.  im  Vorwort  sagt,  eine  vollständige  Geschichte  der  Röflexions  würde 
zugleich  eine  Geschichte  alles  dessen  sein,  was  über  literarische  Kritik  und 
Ästhetik  überhaupt  geschrieben  worden  ist,  so  übertreibt  er  kaum,  da  viele 
von  D.s  Ideen  so  sehr  Gemeingut  geworden  sind,  daß  sie  auch  bei  Kritikern 
wiederkehren,  die  nicht  bewußt  auf  ihnen  fußen,  wie  z.  B.  Taine.  Die  Über- 
setzungen der  Röflexions  ins  Englische,  Holländische,  Deutsche  geben  nur 
eine  schwache  Ahnung  von  ihrer  universellen  Verbreitung,  da  der  Urtext  in 
den  zahlreichen  französischen  Ausgaben,  die  der  ersten  von  1719  folgten 
(darunter  auch  eine  in  Deutschland  erschienene  von  1760),  in  allen  Händen 
war.  —  Das  Schöpferische,  das,  worin  D.  vom  Klassizismus  abbiegt  und 
über  ihn  hinaus  die  moderne  Ästhetik  anbahnt,  wird  vornehmlich  durch  die 
zwei  folgenden  Tatsachen  charakterisiert:  1.  durch  den  Bruch  mit  dem  klas- 
sizistischen Rationalismus,  da  D.  nicht  mehr  die  Vernunft  als  oberste  Rich- 
terin in  Kunstdingen  anerkennt,  sondern  das  ästhetische  Gefühl,  und  zwar 
Gefühl  nicht  als  intellektualistischen  Prozeß  gedeutet,  sondern  als  sinnlichen, 
als  die  Arbeit  eines  sechsten,  dem  Geruchs-  oder  Tastempfinden  entsprechen- 
den Sinnes;  wie  D.  sich  diesen  Prozeß  denkt,  veranschaulicht  sein  kühner 
Vergleich  mit  einem  Ragout,  bei  dem  niemand  mit  Überlegungen  und  Vernunft- 
schlüssen operiert,  um  festzustellen,  ob  es  gut  oder  schlecht  schmeckt.  Und 
2.  durch  den  Bruch  mit  dem  klassizistischen  Dogmatismus,  da  D.  das  Pro- 
gramm einer  Kritik  entwirft,  die  zwar  auch  allgemeine  Gesetze  der  Kunst 
anerkennt,  aber  sie  nicht  mehr  aprioristisch  postuliert,  sondern  aus  der  Er- 
fahrung ableitet  und  in  ihnen  keine  unfehlbaren,  unwandelbaren,  absolut 
verpflichtenden  Regeln  sieht,  sondern  nur  die  Formulierung  der  Bedingun- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  167 

gen,  unter  denen  ein  Werk  gefallen  kann.  Den  vielerlei  Konsequenzen  nach- 
zugehen, die  sich  aus  diesen  beiden  Leitsätzen  ergeben,  würde  hier  zu  weit 
führen.  L.  zergliedert  auf  das  genaueste  das  System  im  ganzen  wie  jede  ein- 
zelne Auswirkung  (Begriffsbestimmung  des  ästhetischen  Lustgefühls,  Auf- 
fassung vom  Verhältnis  zwischen  Dichtkunst  und  Malerei,  Stellungnahme 
zum  Problem  des  Fortschritts,  im  Streit  um  die  Oper,  Klimatheorie  etc.,). 
Er  zeigt  ebenso  bestimmt,  wo  seine  Verdienste  liegen  wie  seine  Grenzen, 
worin  das  Befangensein  in  zeitgenössischen  Vorurteilen  ihn  hindert,  seine 
Erkenntnis  zu  Ende  zu  denken. 

Eins  wäre  m.  E.  noch  schärfer  zu  betonen  gewesen,  als  L.  tut:  nämlich 
daß  D.  mit  dem  Dogmatismus  durchaus  nicht  so  radikal  bricht  als  mit  dem 
Intellektualismus.  Mir  scheint,  L.  sieht  jenen  zu  ausschließlich  an  diesen 
gebunden.  Das  war  allerdings  der  Fall  im  Klassizismus,  wo  die  Autorität 
der  Regeln  unmittelbar  aus  dem  Glauben  an  eine  absolute,  durch  die  Ver- 
nunft erkennbare  Wahrheit  floß.  Aber  Voraussetzung  für  eine  dogmatische 
Ästhetik  ist  doch  nur,  daß  an  irgendeinen  absoluten  Maßstab  geglaubt  wird, 
gleichviel,  wie  er  beschaffen  ist  und  ob  er  mit  Hilfe  der  Vernunft  oder  des 
Gefühls  oder  eines  anderen  Organs  eruiert  wird.  Bei  D.  rückt  das  Gefühl  in 
das  Amt,  das  bei  Boileau  die  Vernunft  verwaltete.  Und  wenn  er  auch  viel 
mehr  historisch  und  viel  weniger  spekulativ  denkt  und  mit  seiner  Klima- 
theorie einen  kraftvollen  Anlauf  nimmt,  die  Abarten  des  Genies  und  des 
literarischen  Empfindens  in  ihrer  zeitlichen  und  geographischen,  physischen 
Bedingtheit  zu  erfassen,  so  hat  er  doch  ernste  Mühe,  die  literarische  Tole- 
ranz zu  betätigen,  zu  der  er  sich  bekennt.  Die  normativen  Eierschalen  kle- 
ben ihm  noch  an.^  Seine  Lehre  mündet  in  einen  Relativismus  oder  (im  Hin- 
blick auf  den  nationalen  Charakter  jeder  Literatur  gesprochen)  in  einen 
Kosmopolitismus,  von  dem  das  17.  Jahrhundert  sich  noch  nichts  träumen 
ließ.  Aber  der  Schritt  von  der  Lehre  zu  ihrer  Anwendung  fällt  ihm  äußerst 
schwer.  L.  weist  selbst  darauf  hin,  daß  D.  sich  nicht  aufschwingen  kann, 
Ronsard  gerecht  zu  werden,  d.  h.  ihn  historisch  aus  Ronsards  Zeit  zu  be- 
greifen. 

Ein  paar  kleine  Einwendungen,  die  man  machen  könnte,  schmälern  die 
ansehnliche  Leistung  L.s  in  nichts.  Man  darf  sie  um  so  dankbarer  begrüßen, 
als  seltsamerweise  für  die  Erforschung  der  ästhetischen  Theorien  im  18.  Jahr- 
hundert, in  der  entscheidenden  Zeit  der  Zersetzung  des  Klassizismus,  noch 
herzlich  wenig  geschehen  ist.  Bedenken  erregt  nur  die  Dickleibigkeit  des 
Buches.  Sie  ist  vor  allem  deshalb  zu  bedauern,  weil  man  den  Eindruck  nicht 
los  wird,  daß  die  Darstellung  erheblich  an  Klarheit  gewonnen  hätte,  wenn 
L.  gezwungen  gewesen  wäre,  sie  unter  Verzicht  auf  jede  Weitschweifigkeit 
auf  engeren  Raum  zusammenzupressen.  Aber  dieser  Vorwurf  trifft  nicht  so 
sehr  L.  persönlich  als  die  in  Frankreich  sich  immer  mehr  einbürgernde  Un- 
sitte, Dissertationen  um  jeden  Preis  zu  Bänden  von  mindestens  einem  halben 
Tausend  Seiten  anschwellen  zu  lassen. 

Freiburg  i.  Br.  H.  Heiß. 

Leo  Spitzer,  Über  einige  Wörter  der  Liebessprache.  Vier  Auf- 
sätze.   Leipzig,  0.  R.  Reisland,  1918.    74  S.  Gr.-8".    (I.) 

Ders.,  Anti-Chamberlain.  Betrachtungen  eines  Linguisten  über 
Houston  Stewart  Chamberlains  'Kriegsaufsätze'  und  die 
Sprachbewertung  im  allgemeinen.  Leipzig,  0.  R.  Reisland, 
1918.   82  S.  Gr.-8°.    (H.) 

*  Vgl.  auch  den  immer  noch  lesenswerten  Abschnitt  in  H.  von  Steins 
Entstehung  der  neueren  Ästhetik  (1886)   S.  238. 


168  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Ders.,  Fremdwörterhatz;  und  Fremdvölkerhaß.  Eine  Streitschrift 
gegen  die  Sprachreinigung.  Wien,  Manz'sche  Buchhandlung, 
1918.    66  S.  Gr.-8«.    (III.) 

I  enthält  vier  Arbeiten:  1.  'Onomasiologische  Bemerkungen  zu  den  ro- 
manischen Ausdrücken  für  "lieben"'  {amare;  span.  querer,  kat.  e^timar  und 
voler,  ptg.  gostar,  ital.  voler  hcne,  rhätorom.  voler  hene  und  aver  gugent 
usw.).  Auf  die  hübschen  Einzelbeobachtungen  kann  ich  nicht  eingehen;  wenn 
Sp.  sie  (wofern  ich  ihn  recht  verstehe)  dahin  summieren  möchte,  daß  sich 
aus  der  Bevorzugung  des  einen  Ausdrucks  (und  dem  Verwerfen  der  an- 
deren) für  die  Psyche  des  betreffenden  Volkes  so  gut  wie  gar  nichts  schließen 
lasse,  so  scheint  mir  das  ebenso  einseitig  wie  die  von  ihm  an  seinem  Vor- 
gänger Abel  bekämpfte  'zu  weitgehende  Verwertung  eines  allgemein  psycho- 
logischen Bedeutungsvorganges  zur  psychologischen  Charakteristik  eines 
Volkes'.  Gewiß  ist  die  Neigung,  das  vieldeutige  amare  einerseits  durch  sipn- 
lichere  Ausdrücke  wie  querer  und  anderseits  durch  spiritualistische  wie 
estiinar  zu  ersetzen,  etwas  Allgemeines,  bei  allen  Völkern  zu  Findende^:  der 
Liebende  hat  eben  überall  das  Bestreben,  der  Geliebten  zu  sagen,  daß  er  sie 
'anders'  liebe  als  'die  andern'  lieben,  'heißer'  öder  'edler';  im  Deutschen  ge- 
braucht er  im  ersteren  Falle  etwa  verlangen  (Heine:  '.  .  .  Da  hab'  ich  ihr 
gestanden  Mein  Sehnen  und  Verlangen';  Ric.  Huch:  '.  .  .  Mich  verlangt  nach 
dir  Wie  die  Flut  nach  dem  Strande  ...'),  ja,  er  würde  wohl  sogar  vor  6e- 
gehren  (das  R.  Dehmel  indessen  gebraucht:  'Da  ich  dich  liebe,  darf  ich  dich 
begehren',)  nicht  zurückseheuen,  wenn  dieses  Wort  nicht  von  den  Zehn  Ge- 
boten her  mit  der  Bedeutung  des  Sündigen  behaftet  wäre,  wohingegen  der 
Spanier  dort  sagt.:  No  cobdiciaräs  ...  ('Futurum'  S.  68),  querer  für  'heiß 
lieben'  also  unbedenklich  verwenden  konnte,  so  daß  es  freilich  falsch  wäre, 
aus  der  Bevorzugung  von  querer  und  der  Abneigung  gegen  begehren  {querer 
wäre  übrigens  zutreffender  zu  übersetzen  mit  erstreben)  Schlüsse  auf  die 
Verschiedenheit  des  spanischen  und  des  deutschen  Volkscharakters  zu  ziehen. 
Aber  ich  glaxibe  doch,  daß  eine  kulturhistorische  Untersuchung  des 
Problems,  warum  die  eine  oder  die  andere  romanische  Sprache  amare  zu- 
gunsten anderer  Wörter  zurückgedrängt  hat,  und  warum  gerade  zugunsten 
des  einen  und  nicht  des  anderen,  bemerkenswerte  Unterschiede,  wo  nicht 
zwischen  den  verschiedenen  Völkern,  so  doch  zwischen  den  verschiedenen 
Kulturepochen  innerhalb  einer  bestimmten  Volksgemeinschaft  ergeben 
müßte.  Sp.  hat  das  Problem  hier  nur  negativ,  nihilistisch  gestreift  —  viel- 
leicht schenkt  er  uns  einmal  eine  positive  Bearbeitung.  Auch  die  sprach- 
lichen Unterschiede  und  Wandlungen  beruhen  nicht  auf  purem  Zufall. 

2.  'Frz.  cocotte':  Zugunsten  von  Nyrops  Etymologie  (IV  302):  'Cocotte, 
formation  onomatopöique  (comp,  coq,  coco,  cocorico),  s'emploie  comme  terme 
enfantin  pour  dösigner  une  poule;  c'est  atissi  un  terme  d'amitiß  qu'on  adresse 
ä  une  petite  fille:  ma  petitc  cocotte.  Comme  mot  hypocoristique  le  mot  a 
6t6  appliqu^  aux  filles  galantes'  wird  Meyer-Lübkes  Erklärung  (mfrz.  cocotte, 
coquasse  'Art  Kasserolle'  >  'zinnernes  Weingefäß'  >  'betrimkene  Frau'  > 
Dirne)  abgelehnt;  Meyer-Lübkes  Einwand,  ein  solcher  Ausdruck  habe  sich 
schwerlich  aus  einem  Kosewort  entwickeln  können,  wird  durch  ein- 
leuchtende Erwägungen  und  Parallelen  widerlegt  ('der  die  Dirne  Liebchen 
nennende  Mann  schont  nicht  nur  die  Dirne,  sondern  sich'). 

3.  'Deutsch  Elefant  =  "Vertrauter  zweier  Liebenden",  französisch  chan- 
delier  "dasselbe"'.  Deutsch  Elefant  in  diesem  Sinne  ist  schon  1841  von 
dem  Humoristen  Saphir  erwähnt  und  'vielleicht  vollständig  richtig'  erklärt 
worden:  'Warum  man  die  Vertrauten,  Rendezvous-Garden,  Brief -Übermittler, 
Schildwachposten  der  Liebe  "Elefanten"  nennt?  Warum?  Wahrscheinlich 
weil  zu  der  Liebe  selbst  eine  Engelsgeduld  gehört;  der  Vertraute  aber 
von  Liebenden  zu  sein,  dazu  gehört  eine  Elefanten-Natur!    Man  muß  eine 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  169 

solche  Ausdauer  haben  wie  ein  Elefant;  man  muß  so  klug  sein  wie  ein  Ele- 
fant; man  muß  eine  solche  alles  riechende  Nase  haben  wie  ein  Elefant,  und 
man  muß  sich  so  zu  allen  Kunststücken  abrichten  lassen  können  wie  ein 
Elefant!'  Frz.  wird  das  Wort  in  derselben  Bedeutung  bei  Sachs -Vilatte 
und  im  Supplement  (nach  1878)  belegt.  Da  nun  im  Französischen  die 
ältere  Benennung  le  chayidelier  ist  (Titel  einer  Komödie  von  Musset,  1835), 
so  zögert  Sp.,  den  deutschen  Gebrauch  aus  dem  Französischen  herzuleiten 
(für  das  Umgekehrte  kann  er  sich  begreiflicherweise  noch  schwerer  ent- 
scheiden). Aber  können  denn  um  1835 — 40  in  Frankreich  nicht  eliphant 
und  chandclier  (vielleicht  mit  einer  kleinen  Bedeutungsnuance  oder  in  ver- 
schiedenen Gesellschaftskreisen)  nebeneinander  bestanden  haben?  —  Ein 
neuerer  deutscher  Beleg  für  Elefant  wäre:  Walter  Bloem,  Das  lockende  Spiel, 
Berlin,  Ullstein,  S.  194. 

4.  'Afrz.  cotip,  nfrz.  cocu  "Hahnrei".'  Unter  den  Deutungen  des  afrz. 
Wortes  für  'Hahnrei'  scheint  mir  die  ansprechendste  die  von  Brinkmann: 
coiipaud  von  couper  in  der  Bedeutung  'kappen',  also  als  'Kapaun'  (wie 
Hahnrei  r=:  Hahnreh),  coup  müßte  dann  rückgebildet  sein.  Sp.  denkt  an 
zwei  weitere  Möglichkeiten:  1.  coup  'Hahnrei'  (nebst  coupeau,  couperau) 
gehöre  zu  Godefroys  acouper  'rendre  un  mari  sot'  (nebst  acoupee  =  'd6- 
bauchöe,  en  parlant  d'une  femme  mariöe'  etc.)  und  prov.  copar  ('couvrir  d'un 
chapeau'?  Levy;  bei  Marcabru  nach  Sp.  auch  'ehelich  betrügen');  diese  acou- 
per und  copar  bringt  Sp.  mit  afrz.  alve  (a)coupee,  aprov.  acopada  'Hauben- 
lerche' zusammen :  gehaubter  Vogel  >  dummer  Vogel  >  dummer  Mensch. 
2.  coupaude  eine,  der  man  als  Zeichen  der  Entehrung  den  Rock  abgeschnitten 
hat,  danach  maskulines  coupaud  und  rückgebildetes  coup.  —  cocu  <  cuculus 
'Kuckuck'  (wie  deutsch  Gauch,  englisch  cuckold),  schon  bei  T.  Atkinson 
Jenkins. 

IL  Die  beiden  anderen  Schriften  sind  'Kriegsschriften'  und  werden  dem 
Schicksal  derartiger  Veröffentlichungen  (seien  sie  nun  'kriegerischer'  oder, 
wie  diese,  'pazifistischer'  Richtung)  kaum  entgehen.  Sie  bekämpfen  Sub- 
jektivität mit  Subjektivität,  nationalistische  Einseitigkeit  mit  inter-  bzw. 
antinationalistischer.  Und  warum  hat  Sp.  sich  überdies  gerade  H.  St.  Cham- 
berlain,  diesen  heillosen  Dilettanten  und  Fälscher  von  Goethe-Zitaten,  dem 
man  nicht  einmal  die  iona  fides  zubilligen  kann,  dessen  Betrachtungen  über 
pax  und  Friede  kein  vernünftiger  Mensch,  geschweige  denn  ein  Linguist 
ernst  nimmt  —  warum  hat  er  sich  ausgerechnet  ihn  als  Zielscheibe  ge- 
wählt? Warum  sagt  er,  gegen  die  'Sprachwürderung'  (=  Sprachbewertung) 
kämpfend,  'Chamberlain',  wo  er  doch  'Voßler'  meint?  Glaubt  er  wirklich, 
mit  Chamberlains  Unglaublichkeiten  etwas  gegen  Voßler  beweisen  zu  kön- 
nen? Warum  übersieht  er  den  gewaltigen  Unterschied  zwischen  der  vor- 
eingenommenen, nur  der  Rechtfertigung  schon  fertiger  Meinungen  dienenden 
Wertung  Chamberlains  %-on  der  vorbildlich  unbefangenen  Deutung 
sprachlicher  Erscheinungen  durch  Voßler,  der  nichts  will  als  erkennen?  — 
Es  wäre  Papiervenschwendung,  ihm  in  diesem  Kampfe  gegen  Windmühlen 
folgen  zu  wollen.  Gewiß:  wer  wäre  nicht  einverstanden  mit  seinem  Kampf 
gegen  Leute,  die  auch  die  sprachlichen  Verschiedenheiten  als  Mittel  der 
Völkerverhetzung  mißbrauchen  —  aber  muß  man  nun  gleich  das  Kind  mit 
dem  Bade  ausschütten  und  solche  Verschiedenheiten  einfach  leugnen  wollen' 

III.  Wer  die  These  aufstellt,  die  'Allesverdeutscher'  seien  identisch  mit 
den  'Alldeutschen'  und  wie  diese  zu  bekämpfen,  darf  sich  nicht  wundern, 
wenn  er  Widerspruch  findet,  und  auch  ich  kann  Sp.  in  diesem  Falle  nicht 
beispringen.  Er  beruft  sich  auf  meine  Zurückweisung  des  pöbelhaften  Radau- 
Sprachreinigers  Eduard  Engel  —  allein  wie  ich  mich  gegen  dessen  Über- 
treibungen gewandt  habe,  so  muß  ich  mich  nun  gegen  die  entgegengesetzten 
Übertreibungen  Spitzers  wenden.  Sp.  freilich  wird  den  Widersprechenden 
für  national  befangen  halten  —  ich  glaube,  die  Befangenheit  ist  eher  auf 


170  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

seiner  Seite.  Gewiß  hat  der  Allgemeine  Deutsche  Sprachverein  sich  gern  der 
vaterländischen  Begeisterung  bedient  und  sich  von  ihr  tragen  laasen  —  aber 
war  das  nicht  sein  gutes  Recht?  Schaden  wir  denn  einem  anderen  Volke 
damit,  daß  wir  uns  bemühen,  möglichst  Deutsch  zu  sprechen?  Wenn  die 
anderen  Völker  es  uns  etwa  verübelten,  daß  wir  in  Sprache,  Sitte,  Kleidung 
usw.  deutsch  sein  wollen,  so  wäre  mtnnes  Erachtens  der  Chauvinismus  auf 
ihrer  Seite.  Für  mich  ist  der  Kampf  zwischen  den  'Puristen'  und  den 
'Fremdwörtlern'  gar  nicht  in  erster  Linie  ein  Kampf  zwischen  den  mehr 
national  und  den  mehr  international  Gesinnten,  sondern  zwischen  den  Mehr- 
und  den  Mindergebildeten,  und  sieh  diesem  Verlangen  des  'Volkes',  Zutritt 
zu  erhalten  zu  den  Schätzen  der  Wissenschaften,  widersetzen  zu  wollen, 
schiene  mir  engherzig  und  dünkelhaft.  'Reaktionär'  ist  in  diesem  Sinne 
nicht  die  Sprachreiniguiig,  sondern  der  Kampf  gegen  sie.  Im  übrigen  aber 
gehört  diese  Schrift,  strenggenommen,  nicht  in  den  Rahmen  dieser  Zeit- 
schrift; wenn  meine  längeren  Ausführungen  an  anderem  Orte  Sp.  nicht  über- 
zeugen konnten,  so  wird  es  mir  hier,  auf  engerem  Räume,  noch  weniger 
gelingen.* 


*  Eine  Kleinigkeit:  S.  12  wird  (neben  Karl  Kraus  und  Hugo  v.  Hof- 
mannsthal)  Gustav  Landauer  als  'führender  Geist'  bezeichnet;  sollte  hier 
nicht  eine  Verwechslung  vorliegen  mit  dem  S.  12  erwähnten  Verfasser  einer 
Schrift  'Der  Verruf  des  Fremden'  namens  Georg  Landauer? 

München.  Eugen  Lerch. 


Berichtigung. 


Die  in  Wager's  Magdalena  ed.  Carpenter  ^1902  ausgefallenen  Verse  (vgl. 
Arch.  139  213)  gab  ich  im  Shaksp.-Jb.  39  316  exakt  an;  auch  meinen  Ab- 
schreiber und  —  da  ich  ein  Jahr  zugewartet  hatte  —  gleich  die  Selbst- 
verbesserung des  Herausgebers.  A.  B. 


Zur  Katharinenlegende: 

Die  Quelle  der  Jugendgeschichte  Katharinas,  insbesondere 
in  der  mittelniederdeutschen  Dichtung  und  in  der  mittel- 
niederländischen Prosa  (hg.  Collinson,  1915). 

A.    Die    lateinischen   Handschriftengruppen. 

Die  lateinischen  Quellen  der  Bekehrungsgeschichte  (Conver- 
sio)  Katharinas  von  Alexandrien  haben  bisher,  da  stets  die 
Passio  im  Vordergrunde  der  Forschung  stand,  nur  geringe  Be- 
achtung erfahren,  zumal  das  handschriftliche  Material  noch  nicht 
zur  Genüge  hervorgezogen  worden  ist.  H.  Knust  ^  bringt  nur 
spärliche  Anspielungen  hierauf  vorwiegend  in  den  Landes- 
sprachen, kennt  aber  keine  alte  lateinische  Aufzeichnung  dieser 
romanhaft  ausgeschmückten  Geschichte,  höchstens  verweilt  er 
etwas  länger  bei  der  späten  lateinischen  Fassung  des  Kartäuser- 
mönchs Petrus  Dorlandus,  die  freilich  entgegen  Knusts  Vermutung 
kein  Gebilde  von  dessen  klösterlicher  Phantasie,  sondern  eine 
nur  wenig  ausgeschmückte  Nacherzählung  nach  einer  alten  Vor- 
lage darstellt.  Der  Bollandistentext  ihres  Brüsseler  Katalogs  ^ 
bietet  kein  einheitliches  Bild,  da  die  beiden  dort  mitgeteilten 
Teile  der  Nativitas  und  der  Conversio  zwei  verschiedenen  Fas- 
sungen entsprechen,  die  in  derselben  Handschrift  nacheinander 
stehen.  H.  Varnhagens^  Fassung  ist  nur  einer  der  letzten,  frei 
ausgestalteten  Ausläufer  dieser  Erzählung.  Dies  gilt  ebenso  von 
Spinas  ■*  Fassung,  der  Quelle  der  alttschechischen  Dichtung. 

Eine  Durchsicht  des  Bestandes  der  an  Katharinentexten  über- 
aus reichen  Breslauer  Kgl.  und  Universitäts-Bibliothek,  der  den 
von  Spina  S.  XIV  ff.  aufgezählten  Prager  Codices  kaum  nachsteht, 
zumal  in  Schlesien  wie  in  Böhmen  der  Kult  der  Heiligen  in 
außerordentlicher  Blüte  stand,  ergab  folgendes: 

Diese  Geschichte  vom  König  Costus,  dem  Vater  Katharinas, 
von  der  Geburt  seiner  Tochter,  ihrer  gelehrten  Erziehung,  ihrer 
Bekehrung  durch  einen  Einsiedler  zum  Christentum  und  von 
ihrer  mystischen  Vermählung  mit  Christus  wurde  in  C  y  p  e  r  n 
lokalisiert.  Sie  ist  sekundären  Ursprungs.  Die  hier  vorgetragene 
Deutung  des  Namens  Catharina  =  universalis  ruina 
(seil,  deorum),  die  durch  die  Legenda  aurea  so  bekannt  ge- 
worden ist,  weist  auf  die  Lateiner  als  ihre  Urheber  hin.     Die 

1  Geschichte  der  Legenden  der  heiligen  Katharina  von  Alexandrien  und 
der  heiligen  Maria  Aegyptiaca.  Halle  1890,  S.  44.  46.  58.  70.  89.  99.  114. 
121   ff.   137.    140. 

2  Cat.   codd.  hagiogr.     Bibl.   regiae   Bruxellensis   I   2    (1889),   S.    162   ff. 

*  Zur  Geschichte  der  Legende  der  Katharina  von  Alexandrien.  Erlangen 
1891,  S.  18  ff. 

♦  Die  alttschechische  Katharinenlegende.     Prag  1913,  S.  1   ff. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.     140.  12 


172  Zur   Katharinenlegende 

Angabe  des  Stephan  von  Lusignan,^  er  habe  die  Legende  zu 
Famagusta  in  einem  griechischen  Buche  gelesen,  muß  auf  ge- 
gründeten Zweifel  stoßen.  Ein  solcher  griechischer  Text  ist  uns 
überdies  nicht  erhalten. 

Die  schlesischen  Handschriften  enthalten  folgende  Gruppen 
dieser  Überlieferung: 

Gruppe  la.  Der  zyprische  König  Costus,  nach  der  Stadt 
Costa,  dem  späteren  Famagusta,  so  benannt,  ist  lange 
ohne  Thronerben.  Er  herrscht  über  Griechenland,  Cypern,  Alex- 
andrien,  Damaskus  und  die  Insel  Rodis  (sie).  In  der  ägyptischen 
Stadt  Rodiam  veranstaltet  er,  um  einen  Erben  von  seinen  Göt- 
tern zu  erlangen,  ein  feierliches  Opferfest,  woran  sich  das  ganze 
Volk  beteiligen  muß.  Aber  alles  Flehen  ist  umsonst,  die  Königin 
bleibt  unfruchtbar.  Da  entbietet  er  durch  einen  Brief  den  Astro- 
nomen Alphoncius  (oder  Alphorius)  zu  sich,  auf  daß  er 
ihm  helfe.  Dieser  rät  ihm,  eine  goldene  Bildsäule  mit  der  Auf- 
schrift 'Dem  obersten  aller  Götter'  zu  errichten,  da  dieser  viel- 
leicht eigens  geehrt  sein  wolle.  Aber  das  neue  Götterbild  ver- 
wandelt sich  zum  Staunen  und  Schrecken  aller  in  das  Bild  des 
Gekreuzigten.  Ihm  wird  nun  nach  dem  Rat  des  Astronomen 
geopfert  und  das  Bild  vom  König  selbst  feierlich  in  einen  Tempel 
gebracht,  wo  sofort  die  Götzen  von  ihren  Fundamenten  herab- 
stürzen. Die  Königin  gebiert  darauf  eine  schöne  Tochter.  Die 
Geburt  wird  dem  König  von  Alphoncius,  da  beide  in  einer  nahen 
Burg  in  jener  Nacht  weilen,  mittels  seiner  Sternenkunde  verkün- 
digt und  unmittelbar  darauf  die  frohe  Nachricht  durch  einen  Eil- 
boten bestätigt.  Alphoncius  veranlaßt  den  beglückten  Vater,  dem 
Kinde  den  Namen  Katherina  =  universalis  deorum 
ruina  zu  geben. 

Costus  wird  einer  Verschwörung  mit  dem  Perserkönig  beim 
Kaiser  verdächtigt,  der  nach  Alexandrien  eilt  und  ihn  dahin 
nebst  Familie  entbietet.  Obwohl  seine  Unschuld  bald  heraus- 
kommt,  muß   er  fortab  in   Alexandrien  residieren. 

Katherina  zeichnet  sich  durch  Schönheit  nicht  minder  wie 
durch  Gelehrsamkeit  aus,  so  daß  sie  als  Kleinod  Griechenlands 
(gemma  Graeciae)  gilt.  Auf  dem  Totenbette  setzt  sie  ihr 
alter  Vater  zur  Regentin  ein  und  gebietet  ihr,  nur  einen  ihr 
völlig  Ebenbürtigen  zu  heiraten.  Die  Mutter  bemüht  sich  ver- 
gebens, sie  zu  einer  passenden  Ehe,  nämlich  mit  dem  Sohne  des 
Kaisers  selbst,  zu  bestimmen,  da  Katherina  ihre  Bedingungen 
nicht  erfüllt  sieht. 

Bei  einer  dringenden  Reise  an  die  Grenzen  des  Reiches  ver- 


1  Vgl.  J.  Hackett,  A  history  of  the  orthodox  Church  of  Cyprus. 
London  1901,  S.  395,  und  H.  Delehaye,  Les  legendes  hagiographiques. 
Bruxelles  1906,   S.  64. 


Zur   Katbarinenlegende  173 

fehlen  Mutter  und  Tochter  nebst  Gefolge  den  Weg  und  müssen 
im  Walde  übernachten;  die  Jungfrau  ruft  um  Mitternacht  den 
Heiland  an.  Am  nächsten  Morgen  sieht  sie  in  einem  Tale  die 
von  einem  Kreuz  überragte  Hütte  eines  Einsiedlers.  Die  Mutter 
tritt  bei  ihm  ein  und  berichtet  dem  frommen  Manne  unter  anderem 
den  Widerstand  ihrer  Tochter  gegen  eine  Ehe.  Der  Klausner 
verspricht,  ihr  zuzureden,  und  bringt  alle  auf  den  richtigen  Weg, 
worauf  die  Staatsgeschäfte  erledigt  werden  können.  Hierauf 
kehren  Mutter  und  Tochter  zum  Einsiedler  zurück.  Mit  Ver- 
wunderung vernimmt  dieser  aus  Katherinas  Mund,  wie  sie  an  den 
letzten  Wunsch  ihres  Vaters  gebunden  sei,  zugleich  auch  ihre 
gelehrten  Zitate  über  den  Wert  jungfräulichen  Lebens.  Da 
kommt  ihm  der  Gedanke,  daß  Gott  dies  herrliche  Geschöpf  zu 
seinem  besonderen  Werkzeug  auserlesen  habe,  und  er  erzählt 
ihr  von  jenem  allmächtigen  und  allweisen  König  und  seiner 
jungfräulichen  Mutter,  der  eine  reine  Braut  für  evnge  Zeiten 
suche.  Sie  bestürmt  ihn  mit  neugierigen  Fragen  und  Bitten, 
ihr  Mutter  nebst  Sohn  zu  zeigen.  Endlich  überreicht  er  ihr 
deren  Bild  und  heißt  sie  in  der  kommenden  Nacht  daheim  in 
ihrem  Kämmerlein  auf  den  Knien  das  Erscheinen  beider  im 
heißen  Gebet  herabzuflehen.  Da  sie  nicht  sofort  sich  ihr  zeigen, 
schläft  sie  ermattet  ein,  und  im  Traume  erblickt  sie  auf  einer 
herrlichen  Wiese  die  Mutter  in  strahlender  Schönheit,  wie  sie  das 
Kind  auf  ihren  Armen  trägt.  Aber  dieses  wendet  sein  Antlitz 
von  der  Jungfrau  ab  und  bemerkt  auf  die  Fürsprache  der  Mutter 
hin,  daß  Katherina  sich  auch  nicht  mit  einer  einzigen  der  ge- 
ringsten Dienerinnen  ihres  Palastes  messen  dürfe.  Die  Vision 
entschwindet,  und  Katherina  sucht,  von  nur  wenigen  Dienern 
angeblich  zur  Jagd  begleitet,  den  Einsiedler  auf,  dem  sie  das 
Gesehene  berichtet.  Ein  Engel  befiehlt  diesem,  sie  zu  taufen 
und  in  den  Heilswahrheiten  zu  unterweisen.  Er  vollführt  den 
Auftrag,  und  aufgefordert,  nunmehr  gereinigt  nochmals  in  der 
Nacht  vor  dem  Bilde  zu  wachen,  erhält  sie  dasselbe  Traumgesicht 
in  so  überwältigendem  Glänze,  daß  sie  sich  schämt,  früher  selbst 
ob  ihrer  Schönheit  von  den  Menschen  gepriesen  worden  zu  sein. 
Jetzt  erst  erkennt  das  Kind  ihre  Reinheit  und  Demut  an,  nimmt 
Katherina  auf  Fürbitten  Marias  zur  Seelenbraut  an  und  über- 
reicht ihr  den  Verlobungsring  mit  einer  von  Engelshand  ver- 
fertigten Umschrift.  Darauf  verläßt  es  die  Arme  der  Mutter, 
erscheint  ihr  als  der  Heiland  mit  der  Dornenkrone  und  den  fünf 
blutigen  Wundmalen  und  verheißt  ihr  die  ewige  Krone  des  Lebens 
als  Lohn  ihrer  Treue.  Unter  Engelsgesängen  entschwindet  die 
Vision,  und  als  Katherina  erwacht,  bestätigt  der  Ring  an  ihrem 
Finger  die  Wahrheit  des  Gesehenen.  Voll  Freude  eilt  sie  zum 
Klausner   zurück,    der    diese    Kunde    mit   heißem    Dank   gegen 

12* 


174  Zur   Katharinenlegende 

Christus  begrüßt  und  sie  zur  Standhaftigkeit  ermahnt,  da  ihr  die 
Krone  des  Martyriums  für  den  himmlischen  Bräutigam  bald  be- 
vorstehe. Auch  ein  Evangelienbuch  gibt  er  ihr  mit,  damit  sie 
im  Glauben  befestigt  werde.  Unter  heißen  Tränen  und  Segens- 
wünschen verläßt  sie  den  Mann  Gottes.  Nach  dem  baldigen  Tode 
der  Mutter  übernimmt  sie  selbständig  die  Zügel  der  Regierung 
zwei  Jahre  hindurch,  bekehrt  ihre  Untertanen,  spendet  Almosen 
und  gewährt  Zuflucht  den  vor  dem  römischen  Kaiser  flüchtigen 
Christen.-^ 

Gruppe  Ib.  Mit  einigen  Änderungen  stilistischer,  aber  auch 
inhaltlicher  Art  erscheint  dieselbe  Hauptfassung  in  drei  Bres- 
lauer Handschriften.^  Hier  ist  ein  Brief  des  Kaisers  an  den 
König  Costus  eingeschoben,  und  von  der  Mutter  wird  erzählt,  daß 
sie  in  Katherina  dringt,  dem  Sohne  des  Kaisers  ihre  Hand  zu 
reichen.  Während  der  Vision  ist  auch  der  Einsiedler  neben 
Mutter  und  Kind  redend  und  fürbittend  eingeführt,  überhaupt 
der  Schlußteil  stark  erweitert,  z.  B.  Christus  selbst  befiehlt  Ka- 
therina, zum  Einsiedler  zurückzukehren,  um  in  einem  reinen 
Quell  getauft  zu  werden.  Sie  fragt  den  Mann  Gottes  zunächst, 
ob  dies  seltene  Wasser  auch  käuflich  werde  zu  beschaffen  mög- 
lich sein.  Es  fehlt  die  Verwandlung  des  Jesuskindes  in  den 
leidenden  Christus  mit  Dornenkrone,  ferner  die  Überreichung  des 
Evangelienbuches  durch  ihren  Berater.  Katherina  wird  als  Herr- 
scherin über  Cypern  ausdrücklich  genannt:  regnum  patris 
sui,  quod  ut  testatur  quedam  scriptura  satis 
autentica,  fuitregni  Cypri,  iurehereditario  pos- 
sidebat;  reges  enim  Cypri  de  cognatione  sancte 
Katherine  se  esse  protestantur.  Dies  ist  wiederum  ein 
deutlicher  Hinweis  darauf,  daß  sich  in  Cypern  dieser  Zweig  un- 
serer Legende  entwickelt  hat. 

Gruppe  II.  Die  ganze  Geburtsgeschichte  Katherinas  nebst 
der  Rolle  des  Astrologen  Alphoncius  (Alphorius)  fehlt.  Ihr 
Vater  Costus  hat  seine  Residenz  in  Constantia  =  Sala- 
mi nia.  Der  Kaiser  Maxentius  verbannt  ihn  auf  die  falsche 
Nachricht  von  seinem  geheimen  Bündnis  mit  dem  Perserkönig 
nach  Alexandria,  wohin  Costus  auch  seine  Gemahlin  nebst  Toch- 
ter kommen  läßt.  Er  genießt  das  Vertrauen  des  Kaisers,  und  die 
Witwe  wird  nach  dem  Tode  des  cyprischen  Königs  gebeten, 
Katherina  mit  dem  Sohne  des  Kaisers  zu  vermählen.  Diese  wei- 
gert sich  beharrlich,  mit  der  bekannten  Motivierung  der  völligen 
Ebenbürtigkeit  seitens  des  Bräutigams,  ihrem  Drängen  nach- 
zugeben, was  die  Mutter  mit  tiefstem  Schmerze  erfüllt  und  ver- 

1  Hss.  Univ.-Bibl.  Breslau:  I  Qu.  126,  Bl.  137;  I  Qu.  308,  BL  185; 
IV  Fol.  51,  Bl.  324;   IV  Qu.  163,  Bl.  1;   IV  Qu.  164  a,  Bl.  1. 

»  I  Fol.  530,  Bl.  242  v;  IV  Fol.  64,  Bl.  32  v;  IV  Fol.  18311,  Bl.  393  v. 


Zur  Katharinenlegende  175 

anlaßt,  den  Beistand  eines  nahe  bei  Alexandria  wohnenden  Ein- 
siedlers nachzusuchen,  der  aber  bald,  von  der  Klugheit  der  Jung- 
frau gefesselt,  zu  ihrer  Bekehrung  schreitet.  Die  Visionen  und 
die  subarrhatio  sind  in  den  einzelnen  Texten  mehr  oder  min- 
der ausgeschmückt.  Überall  befiehlt  Christus  selbst  Katherinas 
Rückkehr  zum  Einsiedler,  damit  sie  das  Bad  der  Taufe  emp- 
fange.^ 

Gruppe  III.  Dies  ist  die  von  Spina  als  Spiegel version 
bezeichnete  Verflachung  der  Legende.  Wiederum  fehlt  die  Ge- 
burtsgeschichte, die  Gelehrsamkeit  Katherinas  wird  aber  kurz 
gestreift,  ebenso  der  Tod  ihres  Vaters  Custos.  Es  melden  sich 
viele  Freier,  darunter  ein  vornehmer  Jüngling.  Auf  Wunsch 
der  Mutter  nimmt  sie  dessen  Werbung  an,  betrachtet  aber  dann 
reuevoll  im  Spiegel  ihre  Schönheit  und  entschließt  sich  'ex 
quadam  presumptione',  keinen  zu  heiraten,  der  nicht  so  schön, 
so  klug  und  so  vornehm  sei  wie  sie  selbst.  Umsonst  ist  das 
Drängen  der  Mutter  und  der  Verwandten.  Die  Mutter  bringt  sie 
zu  einem  christlichen  Einsiedler,  bei  dem  Christen  wie  Heiden 
sich  oft  Rat  holen.  Er  spannt  ihre  Neugierde  wegen  des  von  ihm 
vorgeschlagenen,  über  alle  erhabenen  Bräutigams  auf  die  Folter, 
da  er  ihr  erst  bei  einem  zweiten  Besuche  Näheres  über  ihn  mit- 
teilt. Das  Madonnenbild,  das  er  ihr  überreicht,  ist  aus  Holz. 
In  der  ersten  Vision  erscheint  auch  der  Einsiedler,  der  hier  die 
Rolle  des  Vermittlers  spielt.  Wie  in  Gruppe  II  fragt  ihn  Ka- 
therina, ob  jenes  Reinigungswasser  für  Geld  zu  haben  sei.  Er 
beginnt  die  Predigt  mit  dem  Hinweis  darauf,  daß  diese  Quelle 
(fontanea  aqua)  aus  der  Seite  Christi  hervorfließe.^ 

B.  Die  lateinische  Quelle  für  die  niederdeutsche 
Dichtung  und  die  niederländische  Prosa. 
Die  neueste  Publikation  zur  Katharinenlegende  von  Dr.  Wil- 
liam Edward  Collinson,-^  die  infolge  des  Ausbruchs  des  Krieges 
allzu  rasch  abgeschlossen  werden  mußte,  behandelt  nur  kurz  die 
Quelle  für  die  Jugend  Katherinas,  wie  sie  in  der  mittelnieder- 
deutschen Dichtung  (B)  und  in  der  mittelniederländischen  Prosa 
(N)  geschildert  ist.  Er  begnügt  sich,  die  bedeutenderen  Ab- 
weichungen beider  Texte  voneinander  hervorzuheben,  und  zieht 
zur  Vergleichung  nur  die  späte  Form  bei  Petrus  Dorlandus 
heran,  da  er  eben  mit  völlig  unzulänglichem  Material  arbeitet. 
Es  ist  aber  ganz  überflüssig,  dem  Bericht  des  holländischen  Kar- 
täusers quellgeschichtlichen  Wert  beizulegen,  weil  uns  die  Vor- 

»  Hss.  Univ.-Bibl.  Breslau:  I  Qu.  70,  Bl.  157;  I  Qu.  364,  Bl.  7. 

2  Ebenda:   I  Fol.  587,  Bl.  121;   IV  Qu.  167,  Bl.  33  v. 

3  Die  Katharinenlegende  der  Hs.  II,  143  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Brüssel. 
Heidelberg  1915.     Germanist.  Bibl.,  Heft  10. 


176  Zur   Katharinenlegende 

läge  für  beide  Texte  zur  Verfügung  steht,  die  CoUinson  nur 
geahnt  hat:  'Die  angeführten  Abweichungen  zeigen,  daß  B  und  N 
unabhängig  entstanden  sind;  es  ist  aber  wohl  möglich,  daß  die 
beiden  auf  dieselbe,  noch  nicht  ermittelte  lateinische  Quelle 
zurückgehen'   (S.  75). 

Zunächst  ergibt  sich,  daß  N  einer  besseren  und  vollständigeren 
Überlieferung  als  B  folgt,  die  zu  unserer  Gruppe  I  gehört.  Aber 
diese  ist  bereits  getrübt: 

1)  Costus  herrscht  lange  über  Alexandria,  ohne  einen 
Nachkommen  zu  haben.  Da  versammelt  er  seine  Philosophen, 
und  ein  alter  Ritter  gibt  ihm  den  Rat,  sein  ganzes  Volk  zum 
Opferfest  einzuberufen.  Dies  geschieht,  aber  da  die  heidnischen 
Götter  nur  Teufel  sind,  bleibt  sein  Wunsch  unerfüllt.  In  B 
fehlt  die  Vorberatung,  die  Handlung  setzt  gleich  mit  dem  Ein- 
laden des  gesamten  Volkes  nach  der  Stadt  Rodyan  ein. 

2)  In  B  und  N  wird  der  König  von  einem  seiner  Untertanen 
auf  den  Astronomen  aus  Griechenland  aufmerksam  gemacht,  der 
in  B  Alphorius,  in  N  Alphoncius  heißt.  Dieser  Hinweis 
ist  sicher  nur  eine  Wiederholung  des  obigen  Motivs,  das  in  der 
Quelle  steht,  also  ein  Zusatz.  In  B  fehlt  der  Wortlaut  des  Briefes 
an  Alphoncius,  in  N  steht  er  in  indirekter  Rede. 

3)  Für  die  Erzählung  vom  Gießen  des  Bildes  mit  der  Auf- 
schrift 'Gott  aller  Götter'  und  von  seiner  Verwandlung  in  das 
Bild  des  Gekreuzigten  ist  N  genauer  als  B,  wo  auch  der  Gold- 
schmied nicht  ausdrücklich  erwähnt  wird.  Wenn  in  N  das 
Wunder  zweimal  geschieht,  so  tritt  für  uns  sicher  wieder  ledig- 
lich die  kürzende  Tendenz  von  B  hervor.  Das  Wehklagen  des 
Teufels  beim  Aufstellen  des  neuen  Bildes  im  Tempel  ist  ein 
dichterischer  Zug  von  B. 

4)  Die  Prosa  macht  aus  dem  lateinischen  castrum,  in  dem 
Costus  und  der  Astronom  vor  der  Geburt  Katherinas  weilen,  ein 
Kloster,  was  auf  einen  Lesefehler  (claustrum  statt  castrum) 
zurückgehen  wird,  hingegen  hat  der  Dichter  die  Entfernung 
dieses  Schlosses  von  der  Residenz  (zwei  Meilen)  nicht  auf- 
genommen. 

5)  Nach  B  und  N  ist  die  Reise  und  das  Verirren  Katherinas 
in  einem  Walde  durch  ihre  Flucht  bedingt,  da  Streitig- 
keiten im  Reiche  entstehen.  Diese  seltsame  Begründung  be- 
weist, daß  beide  Texte  einem  (eher  germanischen  als  lateinischen) 
Typus  ^   folgen,   der  den  lateinischen  Wortlaut  an   jener  Stelle 

1  Dieser  Typus  könnte  auch  für  die  gemeinsame  Umstellung  (das  Kreuz 
wird  erst  nach  der  Geburt  der  Königstochter  nach  dem  heidnischen 
Tempel  gebracht)  verantwortlich  gemacht  werden.  Aber  in  N  wie  in  B 
ist  außerdem  an  richtiger  Stelle  diese  Tatsache  bereits  vermerkt,  so  daß 
dies  Motiv  zweimal  gebracht  wird. 


Zur   Katharinenlegende  177 

entweder  mißverstanden  oder  absichtlich  abgeändert  hat.  Für 
diesen  Teil  ist  ferner  bemerkenswert,  daß  die  Rolle  der  Mutter 
völlig  weggefallen  ist,  dies  ist  demnach  bereits  dem  Original  zu- 
zuweisen. Für  die  Schilderung  von  der  Zusammenkunft  mit  dem 
Einsiedler  ist  N  weit  getreuer  als  B,  wo  Katherina  sofort  an  die 
Zelle  des  heiligen  Mannes  klopft,  während  es  in  N  heißt:  'Sie 
mußte  mit  ihrem  Gefolge  (10  Jungfrauen,  12  Frauen  und  12  Rit- 
tern) im  Walde  übernachten,  aber  um  Mitternacht  stand  sie  auf 
und  betete  zum  Gott  aller  Götter,  wie  es  ihr  Vater  befohlen 
hatte.  Am  Morgen,  da  sie  ihren  Weg  suchten,  sah  sie  in  einem 
Tal  eine  kleine  Zelle  und  befahl  ihrem  Gesinde,  nachzusehen, 
wer  dort  wohne.  Zuletzt  ging  sie  aber  selbst  mit,  erblickte  das 
Kreuzesbild  über  der  Zelle  und  hörte  von  den  Boten,  daß  dort  nur 
ein  alter  Mann  lebe,  der  den  Weg  nicht  kenne.  Da  wollte  sie 
selbst  eintreten,  zumal  er  und  sie  denselben  Gott  anbeteten.  Sie 
fragte  ihn,  warum  er  dies  einsame  Leben  gewählt  habe.' 

6)  B  bringt  den  Zusatz,  daß  ihr  Gefolge  ob  ihrer  langen 
Unterredung  mit  dem  Klausner  ungeduldig  und  unwillig  ge- 
worden sei.  Dies  findet  sich  in  keinem  lateinischen  Text  an- 
gedeutet. 

7)  Der  Hinweis  auf  die  geringste  Dienerin  des  himmlischen 
Hofes  fehlt  in  B,  auch  das  Gespräch  zwischen  Gottesmutter  und 
Sohn.  Der  Befehl  zur  Taufe  Katherinas  durch  den  Einsiedler 
kommt  in  N  durch  Christus  selbst  in  einer  Offenbarung,  während 
in  B  infolge  eines  Gebets  des  Greises  eine  Stimme  ihm  diesen 
Auftrag  gibt.  Auch  hier  ist  die  Fassung  IST  durchsichtiger,  doch 
werden  wir  sehen,  daß  beide  Texte  einander  einfach  ergänzen. 

8)  Dies  ist  ebenso  für  die  Vermählungsszene  der  Fall,  denn 
abermals  schaltet  B  die  Anrede  Marias  an  ihren  Sohn  aus,  er- 
wähnt nichts  von  der  Dornenkrone  und  den  Wundmalen  Christi, 
noch  von  Katherinas  Rückkehr  zum  Einsiedler,  der  sie  auffordert, 
fortab  den  Brautschleier  zu  tragen,  und  ihr  ein  Evangelienbuch 
mitgibt.  N  hingegen  läßt  die  Engelsgesänge  beim  Entschwinden 
der  Vision  weg,  auch  die  Angabe,  daß  der  Ring  von  Engels- 
händen angefertigt  war,  fügt  aber  zuletzt  hinzu,  daß  Katherina 
ihre  Umgebung  wegen  ihrer  langen  Abwesenheit  trösten  muß. 

In  der  noch  inedierten  lateinischen  Sammlung,  die  unter  dem 
Namen  Viaticum  narrationum  bekannt  ist,  stieß  ich  auf 
eine  Erzählungsform  dieser  Jugendgeschichte  Katherinas,  die 
ziemlich  die  gleichen  Eigentümlichkeiten  wie  die  beiden  ger- 
manischen Texte  enthält,  jedenfalls  also  jene  gemeinsame  latei- 
nische Quelle,  aus  der  der  Kompilator  geschöpft  hat.  uns  getreu 
darbietet.  Dies  Viaticum  narrationum  wird  einem  Henmannus 
Bononiensis  zugeschrieben  und  befindet  sich  in  der  einzigen 
Handschrift  der  Kgl.  Bibliothek  Kopenhagen  ¥r.  380  Fol.  (An 


178  Zur  Katharinenlegende 

fang  oder  Mitte  XV.  Jahrhunderts).^  Über  dessen  Benutzung 
durch  Hermann  Korner  in  seiner  Chronik  hat  J.  Schwalm  ^ 
bereits  gehandelt.  Eine  Abschrift,  die  heute  das  Eigentum  der 
AVedekindstiftung  in  Götiingen  bildet,  stand  mir  zur  Verfügung. 
Unser  Text  steht  dort  auf  Bl.  23^' — 2^  nach  den  Stichworten: 
Gratia  Dei  predestinantur  homines  ad  vitam  eternam.  Mehrere 
Fehler  dieser  Handschrift  zeigen,  daß  uns  hier  kein  Original,  nur 
eine  Abschrift  des  Werkes  vorliegt,  was  auch  unser  Text  be- 
stätigt. Der  Kompilator  folgt  einer  von  mir  bisher  nicht  auf- 
gefundenen lateinischen  Gruppe,  die  ich  als  Ic  bezeichne  und  die 
sicher  im  deutschen  Sprachgebiet  ihren  Ursprung  hat,  da  im 
Viaticum  auch  ein  deutscher  Satz:  du  kanst  wol  wrien  sich  er- 
halten hat.  Auch  in  dieser  Rezension  ist  bereits  die  Rolle  der 
Mutter  ausgeschaltet,  und  die  hervorstechendsten  Merkmale  sind 
die  folgenden:  1)  Costus  gilt  nur  als  König  von  Alexandria,  es 
fehlt  also  die  Einleitung  über  das  cyprische  Costa  =  Famagusta. 
2)  Das  Gießen  der  Bildsäule  findet  wiederholt  statt.  3)  Die 
Verleumdung  des  Königs  Costus  fehlt,  die  Unterweisung  Kathe- 
rinas ist  kürzer  dargestellt.  4)  Die  Königinmutter  stirbt  kurz 
nach  ihrem  Gemahl.  5)  Das  Gefolge  Katherinas  wird  näher  an- 
gegeben. Bevor  sie  in  die  Zelle  des  Einsiedlers  tritt,  schickt  sie 
einige  Diener  voraus,  die  ihr  melden,  daß  deren  Bewohner,  ein 
Greis,  weder  eine  Kenntnis  des  richtigen  Weges  noch  der  Men- 
schen überhaupt  habe.  Katherina  fragt  ihn  zunächst  nach  der 
Ursache  seiner  Zurückgezogenheit,  er  aber  beginnt  ihr  sofort  von 
den  wichtigsten  christlichen  Lehren  zu  berichten.  Die  Arbeit 
des  umgestaltenden  Kompilators  erscheint  klar  darin,  daß  ein 
Stück  aus  den  Zureden  der  Mutter  an  die  Jungfrau  aus  Gruppe  la 
in  der  Rede  des  Klausners  entsprechend  verwendet  wird:  Äd  hec 
senex  respondit:  'Quid  est  hoc  quod  dicis,  filia?  de  quo  iactas  te, 
Katherina?  Ecce  nobilissimus  imperatoris  unicus  filius  forte 
acciperet  te  in  uxorem,  si  voluntatem  tuam  et  consensum.  sihl 
intimare  velles.'  6)  Katherina  lächelt  über  das  Bemühen  des 
Alten,  den  Heiratsvermittler  spielen  zu  wollen,  ein  Motiv,  das 
noch  einmal  auftritt.  7)  Auf  sein  Gebet  hin  offenbart  sich  ihm 
Christus,  der  ihm  befiehlt,  die  Jungfrau  zu  taufen.  8)  Die  Ver- 
mählungsszene endet  damit,  daß  der  Heiland  ihre  Linke  unter 
sein  Dulderhaupt  legt,  und  sich  von  ihrer  Rechten  keusch  um- 
fangen läßt.  9)  Der  Schluß  fehlt  im  Viaticum,  aber  es  bleibt  die 
Vermutung  gerechtfertigt,  daß,  wie  auch  die  deutschen  Texte  be- 
weisen, seine  Quelle  vollständig  gewesen  ist. 


i  Vgl.  E.  Steffenhagen  und  A.  W  e  t  z  e  1  ,  Die  Klosterbibliothek 
zu   Bordesholm   und   die  Gottorfer    Bibliothek    (Kiel    1884),   S.   89,    Nr.    18. 

2  Hermann  Korner,  Chronica  novella,  hg.  von  J.  Schwalm 
(Göttingen  1895),  S.  XXIII  ff. 


Zur   Katharinenlegende  179 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  der  niederdeutsche  und  der 
niederländische  Text  durch  eine  besondere  Zwischenstufe  auf  die- 
ser lateinischen  Fassung  Ic^  fußen.  Inhaltlich  stellen  sie  eine  be- 
trächtliche Kürzung  der  Bekehrungsgeschichte  dar,  so  daß  der 
Gesamteindruck  nicht  gerade  erfreulich  ist  für  den,  der  die  Ge- 
samtentwicklung in  ihren  Phasen  verfolgt  hat  und  endlich  bei  B 
und  IST  anlangt. 

Ist  es  demnach  gelungen,  die  Quelle  von  B  (v.  1 — 500)  nebst 
N  zu  ermitteln  und  Collinsons  Ausgabe  nach  dieser  Richtung  hin 
zu  vervollständigen,  so  dürfte  den  Germanisten  auch  ein  Hinweis 
auf  eine  md.  Katharinenlegende  in  Prosa  nicht  unwill- 
kommen sein,  die  noch  enger  als  B  und  N  an  die  lateinische 
Gruppe  Ic  angelehnt  ist  und  die  oben  angeführten  eigentümlichen 
Züge  in  völliger  Reinheit  enthält.  Es  handelt  sich  um  die  bisher 
unbeachtete  Handschrift  der  Breslauer  Kgl.  und  Universitäts- 
Bibliothek  IV  Qu  165  (XV.  Jahrhunderu;  auf  die  Conversio  folgt 
die  Passio),  über  die  gelegentlich  wird  Näheres  zu  berichten  sein. 

C.  Zum  cyprischen  Ursprünge   der  Bekehrungs- 
geschichte der  heiligen   Katharina. 

Der  Anfang  der  lat.  Hauptversion  der  Conversio  der  hei- 
ligen Katherina  weist  auf  Cypern  als  die  Heimat  dieser  Tradition 
hin:  Costus  habe  seinen  Namen  von  seiner  cyprischen  Haupt- 
stadt Costa,  dem  späteren  Famagusta,  erhalten.  Die  Ruinen 
seines  Palastes,  der  früher  mitten  in  der  Residenz  gestanden  habe, 
§eien  jetzt,  eine  Meile  davon  entfernt,  noch  zu  sehen.  Eine  Kirche 
darin,  jetzt  im  Besitze  der  Griechen,  gelte  als  die  Geburtsstätte 
Katherinas.  Die  Gruppe  II  weiß  zu  berichten,  daß  Costus  nach 
seiner  Residenzstadt  Constantia,  dem  sonstigen  Salaminia, 
benannt  worden  sei.  Doch  lassen  sich  diese  scheinbar  abweichen- 
den Angaben  wohl  miteinander  vereinigen,  denn  die  glänzende 
Handels-  und  Hafenstadt  Famagusta,  früher  'Afi(.i6xo)atoq  (ge- 
gründet 274  V.  Chr.  durch  Ptolomaeus  Philadelphus),  mit  ihrem 
romanisierten  Namen,  ward  auf  den  Trümmern  von  Constantia 
aufgebaut.  So  vermerkt  Alex.  Palma  di  Cesnola:  ^  'It  appears 
that  the  town  of  Arsinoe  was  anterior  in  point  of  date  to 
Salaminia,  and  from  the  former  the  town  of  Salamis  was 
colonised-  Among  the  ruins  of  Salamis  a  village  gradually  arose, 
and   rapidly   increased   in    size,   which   afterwards   acquired  the 

*  Infolge  Raummangels  konnte  der  Abdruck  der  Version  des  Viaticum 
narrationum  neben  dem  der  ausgedehnten  Hauptfassung  nicht  erfolgen. 
Sein  umfängliches  Material  an  Katharinentexten  gedenkt  der  Verfasser 
späterhin  in  einer  Sonderpublikation  niederzulegen. 

2  Salaminia.     2nd  ed.  London  1884,  S.  5. 


180  Zur   Katharinenlegende 

name  of  Constantia.  lipon  the  ruins  of  this,  in  its  turn,  the 
city  of  Famagusta  was  built.  Famagusta,  too,  feil  under  the 
power  of  the  Turks.'  Auch  Knust  ^  zitiert  Berichte  von  Reise- 
Schriftstellern  über  die  Spuren  einer  solchen  c,ypriotischen  Über- 
lieferung: 'Doch  nicht  bloß  die  Stätten,  welche  die  ursprüngliche 
Tradition  mit  dem  Märtyrertum  der  Heiligen  verbanden,  rühmten 
sich  vielfacher  Erinnerungszeichen  an  sie,  auch  der  Ort,  in  wel- 
chem sie  der  späteren  Legende  zufolge  geboren  sein  sollte,  wollte 
^icht  leer  ausgehen.  Salamina  auf  Zypern  besaß  nach  Ludolf 
und  Tschudi  eine  ihr  geweihte  Kapelle,  und  nach  Gumpenberg 
und  Tschudi  wurde  dort  auch  ihr  Palast,  und  heute  noch  dessen 
Ruinen,  gezeigt.  Dies  ist  insofern  nicht  ohne  Wichtigkeit,  als 
dadurch  das  Alter  und  die  Lebenskraft  dieses  Teils  der  Sage 
bewiesen  wird.' 

Wir  haben  demnach,  einfach  auf  Grund  unseres  erweiterten 
handschriftlichen  Materials,  bezüglich  der  cyprischen  Herkunft 
der  Bekehrungsgeschichte  Katherinas  die  Tatsache  festzustellen, 
daß  hierzu,  ganz  ähnlich  wie  die  Deutung  des  Namens  Kathe- 
rina =  Cataruina,  eine  falsche  Etj^mologie  die  Veranlassung 
gegeben  hat,  die  eben  den  Namen  Costus  an  Famagusta  oder 
gar  an  Constantia  gewaltsam  anknüpfen  wollte.  Damit  ist 
des  Rätsels  Lösung  erbracht,  die  Knust  zwar  geahnt,  aber  durch 
ein  nachdrücklicheres  Forschen  nach  den  lateinischen  Texten  zu 
erbringen  versäumt  hat:  'Da  auch  drei  deutsche  Bearbeiter  Costus 
in  Cypern  herrschen  lassen,  so  muß  auch  in  diesem  Punkte  für 
alle  eine  gemeinschaftliche  Quelle  vorausgesetzt  werden.  Von 
einer  lateinischen  Katharinenlegende,  welcher  diese  Stelle  zu- 
geschrieben werden  könnte,  hat  sich  aber  bis  jetzt  keine  Spur  ge- 
funden. Oder  hätten  wir  anzunehmen,  die  Sage  sei  überhaupt 
nur  durch  schriftliche  oder  mündliche  Reiseberichte  über  cy- 
prische,  mit  Katharinens  Namen  im  Laufe  der  Zeit  verknüpfte 
Denkmäler  weiterverbreitet  worden?  Wie  aber  entstand  die 
Sage  selbst?  Verdankte  sie  etwa,  worauf  uns  Capgraves  ehrlich 
gemeinte  Erklärung  hinweisen  könnte,  ihren  Ursprung  einer  fal- 
schen Etymologie?  Dann  haben  wir  hier  ein  Seitenstück  zu 
Cataruina.'  ^ 

Zu  Anfang  unseres  Aufsatzes  haben  wir  bereits  die  merk- 
würdigen Angaben  des  Stephan  von  Lusignan  erwähnt,  der  eine 
griechische  Katharinenlegende  in  Famagusta  mit  ähnlicher  Über- 
lieferung gelesen  haben  will,  wie  ich  zuerst  aus  dem  Werke  des 
Bollandisten  Hippolyte  Delehaye^  ersehen  habe,  der  sich  seiner- 
seits auf  J.  IJackett  beruft.  Ich  muß  Delehayes  Zitat  ganz  hier- 
hersetzen, da  es  näher  geprüft  zu  werden  verdient:  'Tout  le  monde 


■ 


a.  a.  0.  S.  169.       ^  ^    a.  0.  S.  100,  Anm.  5.       ^  a.  a.  0.  S.  64. 


Zur  Katharinenlegende  181 

connait  la  legende  de  la  grande  sainte  Catherine.  Par  sa  nais- 
sance  et  par  son  martyre,  les  biographes  l'ont  rattachee  ä  la  ville 
d'x'^lexandrie.  Cela  n'a  pas  empeche  les  Cypriotes  d'accaparer, 
par  des  artifices  aussi  naifs  que  peu  avouables,  une  sainte  dont 
le  culte,  comme  aussi  la  legende,  fut  des  plus  populaires  dans 
l'eglise  grecque  comme  dans  l'eglise  romaine.  Or,  £tienne  de 
Lusignan  pretend  avoir  lu  ä  Famaguste  le  texte  grec  d'une  his- 
toire  de  sainte  Catherine,  oü  l'on  apprend  d'abord  que  le  fameux 
Costos,  pere  de  la  sainte,  n'etait  point  roi  d'figj^pte,  mois  bien  de 
Chypre,  et,  pour  preuve,  il  a  laisse  son  nom  ä  la  ville  de  Sala- 
mine.  appelee  desormais  Constantia.  Dans  des  circonstances 
difficiles,  Diocletien  fit  venir  Costos  ä  Alexandrie  et  lui  confia 
le  gouvernement  de  l'figypte.  C'est  alors  que  naquit  Catherine. 
On  sait  avec  quel  soin  eile  fut  elevee  et  comme  eile  devint  habile 
dans  tous  les  arts  liberaux.  Apres  la  mort  de  son  pere,  eile 
retourna  dans  l'ile  de  Chypre,  oü  son  oncle,  apprenant  qu'elle 
etait  chretienne,  la  mit  en  prison  —  une  prison  que  l'on  montrait 
encore  du  temps  de  Lusignan  —  puis  la  renvoya  en  Egypte,  oü 
l'empereur  Maxence,  desesperant  de  la  convaincre,  la  fit  mettre 
ä  mort.  Elle  subit  le  martyre  ä  Alexandrie,  ce  qui  fit  dire, 
ajoute  le  chroniqueur,  qu'elle  etait  originaire  de  cette  ville.' 

Ich  habe  nicht  geruht,  bis  ich  jenes  sehr  seltene  Werk  des 
Cyprioten  Stephan-^  mir  besorgt  habe.  Der  Titel  des  Exemplars 
der  Göttinger  Universitäts-Bibliothek  lautet:  Chorograffia,  et 
breve  historia  universale  dell'Isola  de  Cipro  principiando  al  tempo 
di  ISToe  per  in  sino  al  1572,  per  il  R.  P.  Lettore  Fr-  Steffano  Lu- 
signano  di  Cipro  dell'Ordine  de  Predicatori.  In  Bologna,  Per 
Alessandro  Benaccio.  1573.  Con  licentia  de'Superiori.  Hier 
stößt  man  auf  folgende  Stellen:  (Beschreibung  von  Salamina) 
Questa  dunque  e  alla  marina  discosta  daFamagosta  due  leghe: 
e  fu  chiamata  dipoi  Costanza  dal  Re  Costa  padre  di  Santa 
Catherina  martire:  &  in  greca  si  chiama  Famagosta  Vecchia 
. . .  Fuori  della  cittä  e  la  prigione  di  Santa  Catherina;  laquale  ha 
edificata  le  murra,  fondamenti,  &  il  tetto  in  cinque  pietre;  e  iui 
fü  prima  posta:  e  volendola  condurre  in  Alessandria,  fü  menata 
ä  PafFo,  e  posta  in  prigione:  e  condutta  poscia  in  Alessandria, 
fü  martirizata  (Bl.  12"").  —  (Berühmte Personen  Cyperns)  Caterina. 


*  Geboren  1537  in  Nicosia  auf  Cypern.  Sein  Werk  begann  er,  nachdem 
er  vor  dem  Ansturm  der  Türken  erst  nach  Eom  geflohen  war,  in  Neapel 
1570  und  vollendete  es  in  Bologna  1572.  Seit  1577  lebte  er  in  Paris.  Auch 
französische  Ausgaben  sind  vorhanden  unter  dem  Titel:  Estienne  de  Lu- 
signan. Description  et  histoire  abr^g^e  de  toute  l'isle  de  Cypre  depuis  le 
temps  de  No^  jusqu'en  1572,  Paris  1580,  ferner  Histoire  gönörale  du  Royaume 
de  Cypre.  Paris  1613.  Vgl.  E.  Oberhummer,  Die  Insel  Cypern,  Bd.  I 
(München  1903),  S.  466.    Nouv.  Biogr.  Universelle,  t.  XXXII  (1860),  S.  278. 


182  Zur   Katharincnlegende 

La  leggenda,  e  tutti  li  historiografi  pongono,  che  ella  fusse  di 
Alessandria,  ma  li  Famagostani  hanno  una  leggenda 
greca,  laquale  dice  esser  di  Cipro,  da  Famagosta  vecchia  ; 
e  era  figliuola  del  Re  Costa:  dal  quäle  la  cittä  fü  chiamata  da 
Salamina  Constantia:  e  in  essa  citta,  come  habbiamo  detto 
di  sopra,  e  la  Ina  prigione;  e  poi  condutta  ä  Paffo,  e  posta  in 
prigione,  e  de  li  in  Alessandria;  fü  martirizata.  II  padre  suo 
Costa  fü  al  tempo  di  Diocletiano  Imperatore,  alquale  l'Egitto  gli 
era  ribellato  per  causa  di  Achilleo,  ö  Arclieo;  e  havendolo  Dio- 
cletiano superato,  e  vinto,  chiamo  Costa  da  Cipro,  e  lo  fece  Re 
di  Alessandria:  e  cosi  fu  martirizata  Caterina,  come  habbiamo 
detto.  Pietro  Calo  da  Chiosa  ^  chiama  Chaterina  Regina  de  Cipro 
nella  sua  historia,  e  di  cio  esser  Cipriota  vedesi  nel  dominio  piu  di 
sotto  (Bl.  25'').  —  (Die  Herrscher  in  Cypern)  Circa  li  anni  del  nostro 
Signore  290.  in  Cipro  era  Re  Costa:  il  quäle  fece  chiamare  la 
cittä  di  Salamina  Constantia  dove  esso  f aceva  residentia, 
e  li  suoi  Re  predecessori.  Era  in  questo  tempo  Diocletiano  Im- 
peratore, ed  in  Egitto  regnava  Achilleo;  il  quäle  si  rebellö  dalF 
Imperio  Romano:  onde  Diocletiano  andö  da  Roma  in  Egitto, 
e  vinse  Achilleo,  e  gli  diede  la  morte,  e  la  cittä  la  mise  ä  sacco. 
Allhora  chiamo  il  Re  Costa  da  Cipro,  e  gli  diede  il  governo  del 
Regno  di  Egitto;  il  quäl  lascio  nel  Regno  di  Cipro  un  suo  fra- 
tello:  ed  essendo  in  Alessandria,  mori,  e  lascio  una  figliuola  Cathe- 
rina:  la  quäle  cosi  giovinetta;  diventö  delle-arti  liberali  sapientis- 
sima.  II  Regno  di  Alessandria  fü  preso  da  Maxentio  figliuolo  di 
Diocletiano  Imperatore.  Catherina,  essendo  morto  il  padre,  fü 
condotta  in  Cipro  al  Zio  Re,  il  quäle  stantiava  in  Salamina,  over 
Constantia.  Costui  vedendo  la  nepote  essere  Christiana,  temendo 
Maxentio,  mise  in  prigione  Catherina  in  Salamina:  la  quäl  pri- 
gione, come  dicemmo,  sta  in  piedi:  e  dipoi  la  volse  mandare  ä 
Maxentio  in  Egitto,  ö  per  revocarla,  ö  per  castigarla:  perche  era 
bellissima  giovane,  e  sapientissima.  La  cavö  dalla  prigione,  e  la 
mandö  ä  Paffo  per  imbarcarla:  e  quivi  di  novo  fü  posta  in  pri- 
gione, fin  che  la  nave  fusse  preparata,  e  poi  la  condussero  in 
Allessandria.  Ella  andö  nel  palazzo  del  padre,  e  vedendo  un 
giorno  Maxentio,  che  perseguitava  li  Christiani,  andö  da  lui,  e  lo 
riprese,  e  la  martirizö,  come  per  l'historia  e  noto,  e  perche  e  mar- 
tirizata in  Alessandria,  tutte  le  historie  latine  eccetto  Pietro  Calo 


*  Gestorben  1310.  Der  Dominikaner  Petro  Calo  da  Chiosa  (Chiozza, 
Chioggia)  ist  der  Verfasser  zweier  starker  Bände  Vite  de'  Santi  (nur  hand- 
schriftlicli  in  Italien  vorhanden).  Vgl.  über  ihn  außer  Fabricius.  Bibl. 
medii  aevi  s.  v.  Calo  besonders  Tiraboschi,  Storia  della  letter.  ital.  Vi  (1795), 
S.  168.  Es  wäre  wichtig,  Calos  Bericht  näher  kennenzulernen.  Jeden- 
falls stammt  also  die  cypriotische  Lokalisierung  der  Eltern  Katharinas 
bereits  aus  der  Zeit  vor  1300. 


Zur  Katharinenlegende  183 

da  Chioza  dicono  essere  Alessandrina:  ma  giä  dicemo  de  sopra 
(Bl.  39^). 

Schwerlich  kann  man  diesem  durch  allerlei  historische  Zu- 
taten bemerkenswerten  Berichte  Stephans  von  Lusignan  ent- 
nehmen, daß  dies  alles  in  einem  griechischen  Buche  ent- 
halten gewesen  sei,  da,  wie  bereits  bemerkt,  wir  von  der  Existenz 
eines  solchen  nichts  wissen  und  jene  Anspielung  auf  die  1  e  - 
genda  graeca  nur  die  allgemeine  volkstümliche  Tradition  im 
Auge  hat,  vor  allem  angelehnt  an  ein  Gefängnis  Katharinas. 
Einen  anderen  Bericht,  den  des  Archimandriten  Kyprianos,  des- 
sen Buch  'lotOQia  XQOvo/.oyim)  vf]g  viqoov  Kvjvqov  (Venedig 
1788)  mir  nicht  zugänglich  ist,  erwähnt  J.  Hackett:  ^  'Kyprianos' 
Version  of  the  legend  differs  materially  from  the  above.  He  says 
that  her  father,  whom  he  calls  Constans,  was  removed  from 
his  Kingdom  of  Cyprus  and  banished  to  Alexandria  because  he 
was  suspected  by  the  Emperors  of  plotting  with  the  Persians. 
On  his  death  in  exile  Catharine,  who  had  accompanied  him,  re- 
turned  to  Cyprus.  Moved  by  the  persecutions,  to  which  she  saw 
the  Christians  there  subjected,  she  resolved  to  court  a,  martyr's 
death.  Boldly  proclaiming  her  faith  in  Christ,  she  was  appre- 
hended  by  the  governor  and  cast  into  prison  at  Famagusta. 
Subsequently,  by  order  of  the  tyrant  Maximinus,  who  was  her 
father's  personal  enemy,  she  was  conveyed  to  Alexandria,  and 
there  put  to  death'.  Auch  hier  ist  von  der  Bekehrungsgeschichte 
selbst  nichts  gesagt,  nur  jenes  Stück  über  die  Verleumdung  des 
Königs  Costus,  als  ob  er  sich  mit  den  Persern  verschworen  hätte, 
begegnet  uns  in  unseren  lateinischen  Texten.  Ähnlich  fabeln 
übrigens  Stephan  und  Kyprianos  über  den  Ursprung  des  Städte- 
namens Constantia,  nämlich  daß  er  auf  einen  König  Con- 
stans zurückgehe.  Hackett  (S.  244)  erwähnt  dies  gleichfalls: 
'We  are  informed  that  the  Emperor  Hadrian,  having  regard  to 
the  remoteness  of  some  of  the  provinces  from  Rome,  sent  thither 
certain  governors,  or  petty  kings,  as  they  are  called,  whom  he 
invested  with  independant  powers  f or  their  good  order  and  go- 
vernment.  One  of  these  so-styled  Kinglets,  who  exercised  autho- 
rity  about  A.  D.  290,  during  the  reign  of  the  Emperor  Diolectian, 
was  Constans,  after  whom  the  city  of  Salamis  was  called 
Constantia.'  Hingegen  steht  es  fest,  daß  diese  Benennung 
nach  Kaiser  Flavius  Constantius  IL,  dem  dritten  Sohne  Kon- 
stantins des  Großen,  erfolgt  ist,  der  die  Ruinen  von  Salamis 
nach  dem  großen  Erdbeben  345  wieder  aufbaute  und  die  neue 
Stadt  nach  sich  selbst  benannte.  Doch  ist  es  nicht  unsere  Absicht, 
die  Fäden  dieser  cypriotischen  Sage,  die  von  der  Conversio  selbst 

1  a.  a.    0.   S.  396. 


184  Zur  Katharinenlegende 

nichts  sagt  und  übrigens  unseren  lateinischen  Versionen  ganz 
fremde  Bestandteile  angesetzt  hat,  noch  weiter  zu  verfolgen.  Wir 
weisen  aber  auf  die  merkwürdige  Katharinendichtung  des  John 
Capgrave  (1394 — 1464)  hin,  demzufolge  der  Priester  Arrek 
das  griechische  Original  des  Athanasius,  die  die  Passio  enthält, 
in  Cypem  auf  wunderbare  Weise  zur  Zeit  Urbans  V.  (1362  bis 
1370)  gefunden  und  ins  Lateinische  übersetzt  haben  soll.-^  Bei 
Capgrave  ist  Costus  König  von  Griechenland,  Syrien  und  Cypern. 
Die  beiden  Hauptstädte  seines  Reiches  sind  Amalek  in  Cypern, 
der  Freihafen  für  Syrien,  und  Alexandria  in  Ägypten.  Im  hohen 
Alter  wird  ihm  und  der  Königin  Meliades  von  Armenien  die 
Tochter  geboren,  deren  Namen  over  all  +  ryne  (=  ruina) 
bedeutet.  Aber  Capgrave  weiß  nichts  von  den  Opfern  in  Rodyan, 
noch  von  Alphoncius,  auch  die  Bekehrungsgeschichte  (Einsiedler 
Adrian,  ein  Felsenheiliger,  der  auf  Marias  Geheiß  nach  Alexan- 
dria kommt)  weicht  von  sämtlichen  Texten  bedeutend  ab.  Darin 
zeigt  sich  das  Streben  nach  Variation,  daß,  um  das  Gedächtnis 
des  Königs  Costus  zu  ehren,  seine  Residenzstadt  Amalek,  wo  er 
zumeist  lebte  und  auch  starb,  den  Namen  Famagost  bekommen 
haben  soll,  indem  das  c  von  Costus  in  ein  g  hierbei  verwandelt 
wurde  (I  v.  489  ff.).  Weit  einleuchtender  wird  in  unserem  lat. 
Haupttext  der  Conversio  das  Gegenteil  ausgesagt,  daß  eben  Costus 
nach  der  Stadt  Costa  =  Famagosta  benannt  wurde.  Jene 
angebliche  lateinische  Vorlage  Capgraves,  die  er  dem  Arrek 
zuschreibt,  dürfte  von  ihm  erdichtet  sein.  Auch  ist  es  möglich, 
daß  ihn  dazu  eine  dunkle  Erinnerung  an  die  lateinische  Be- 
arbeitung der  Passio  durch  einen  Arechis^  veranlaßt  hat. 


*  The  Life  of  St.  Katharina  of  Alexandria  ed.  by  C.  Hör  at  mann. 
London  1893  =  Early  English  Text  Society.  Original  Series.  100.  Vgl. 
K  n  u  s  t  a.  a.  0.  S.  97. 

2  Vgl.  H.  Varnhagen  a.  a.  0.  S.  2  ff. 

Greifswald.  Alfons  Hilka. 


Aus  dem  Lager  der  Berliner  Romantik. 

1803 — 1804  hielt  A.  W.  Schlegel  seine  berühmten  Vorlesungen 
in  Berlin,  in  denen  er  über  altdeutsche  Dichtung  und  über  das 
Nibelungenlied  ungeahnte  Enthüllungen  darbot.  Unter  seinen 
Zuhörern  saßen  zwei  junge  Männer,  die,  von  seiner  Darstellung 
bis  in  ihr  Innerstes  ergriffen,  sich  mit  voller  Begeisterung  in  die 
neuverkündete  Herrlichkeit  altdeutscher  Poesie  vertieften  und 
sich  zur  Zeit  der  größten  nationalen  Unterdrückung  befruch- 
tenden Träumereien  von  deutscher  Größe  und  deutschem  Helden- 
ruhm —  in  der  Vergangenheit  —  überließen.  Der  eine  von  ihnen 
sollte  zum  begeisterten  Vorkämpfer  des  Nibelungenliedes,  der 
andere  zum  Wiedererwecker  des  germanischen  Rittertums  werden. 

Die  persönliche  Freundschaft  von  v.  d.  Hagen  und  Fouque,^ 
ihre  schriftstellerischen  Beziehungen  und  auch  die  Ähnlichkeit 
ihres  literarischen  Schicksals^  rechtfertigen  ihre  Zusammenstel- 
lung an  dieser  Stelle,  an  der  wir  einige  ungedruckte  Briefe  aus 
der  Wiener  k.  k.  Hofbibliothek  der  Öffentlichkeit  zu  übergeben 
beabsichtigen. 

Es  ist  bekannt,  daß  außer  A.  W.  Schlegel  auch  Johannes 
V.  Müller  und  L.  T^eck  auf  die  Entstehung  der  von  der  Hagen- 
schen  Nibelungen-Bearbeitung  eingewirkt  haben, ^  ebenfalls  be- 
kannt ist  die  ärgerliche  Äußerung  Friedrich  Schlegels  über  dies 

^  Ein  poetischer  Widerhall  dieser  Freundschaft  findet  sich  in  der  Wid- 
mung 'An  Fichte'  im  Heldendes  Nordens: 

Nun   ist  verschwunden  jener   Zweifel   Wahn, 

Verschwunden  vor  den  Bessern,  Liebenden; 

Wie  sich  auch  Dumpfheit  sperrt  und  Leerheit  wundert. 

Denn  viele  starke  Jünger,  bergmannskühn, 

Sie  drangen  froh  den  lieben  Vätern  nach 

In  den  verrufnen,  vielgescheuten  Fels, 

Und  von  den  alten,  treuen  Geistern  unten 

Mit  elterlicher  Traulichkeit  begrüßt, 

Erforschten  sie  manch  edlen  Schatzes  Kammer 

Und  brachten  schön  geläutert  Gold  herauf; 

Vor  allem  das  vom  Nibelungenhort. 

Drob  ein  geweihter   Sehatzesgräber,  noch 

Mit  starker  Wünschelrut  ein  Hagen  kämpft, 

Verbessernd  so  des  grimmen  Hagne  Schuld. 

Viel  schon  gewann  er,  wird  noch  mehr  gewinnen. 

Daß,  die  noch  Kinder  sind  in  dieser  Zeit, 

Dereinst  aufwachsen  mit  der  teuern  Lehre 

Von  Siegfrieds  Taten,  von  Kriemhildens  Treu! 

2  Josef  Körner,  'Nibelungenforschungen  der  deutschen  Romantik'  (Leipzig 
1»11),  p.  128  ff. 

*  Hagen  widmete  sein  Werk  Job.  Müller;  als  Muster  zu  seiner  Moderni- 
sierung diente  ihm  Tiecks  Übertragung  der  Minnesänger.  (Vgl.  R.  Raumer, 
'Geschichte  der  germ.  Philologie'  [1870],  p.  331  ff. 


186  Aus  dem  Lager  der  Berliner  Romantik 

Unterfangen  'eines  anderen'.-^  Friedrich  Schlegel  wurde  in  dieser 
seiner  Haltung  durchweg  von  persönlichen  Motiven  geleitet,  auch 
konnte  er  v.  d.  Hagen  gegenüber  um  so  weniger  im  Recht  sein, 
da  dieser  bei  seinem  Unternehmen  selbst  von  Fr.  Schlegelschen 
Ideen  Anregungen  erhalten  und  dies  in  einem  höflichen  Briefe 
nach  Köln  dankbarst  anerkannt  hatte.  Er  suchte  in  seiner  naiven 
Unwissenheit  ein  näheres  Verhältnis  zu  Schlegel  anzubahnen  und 
ihn  für  seine  verschiedenen  wissenschaftlichen  Pläne  zu  gewinnen. 
Im  Mittelpunkte  seiner  Untersuchungen  stand  sein  ganzes 
Leben  hindurch  das  Nibelungenlied  und  die  epische  Dichtung  des 
Mittelalters,  darum  beziehen  sich  seine  Bitten  und  Wünsche 
hauptsächlich  auf  dieses  Gebiet  seines  literarischen  Wirkens. 
Seine  Zuschrift  eröffnete  tatsächlich  eine  briefliche  Verbindung 
der  beiden  Schriftsteller. 

Heinrich  v.  d.  Hagen  an  Friedrich   Schlegel. 

1. 

Berlin  d.  25  t  Sept.  7. 
Hochgeehrtester  Herr  Professor, 
Mit  Vergnügen  ergreife  ich  diese  Gelegenheit,  dem  Exemplare  meiner 
Bearbeitung  der  Nibelungen,*  welches  die  Frau  Professorin  Unger^  Ihnen 
zusenden  will,  diese  wenigen  Worte  zum  Zeichen  meiner  schon  lange  ge- 
hegten Achtung  beizufügen  u.  mich  auch  um  Ihr  freundliches  Wohlwollen 
zu  bewerben,  besonders  da  Ihr  allbekanter  Eifer  für  die  alte  vaterländische 
Literatur  nicht  wenig  den  meinen  angefacht  u  genährt  hat.*  Meine  Plane 
in  Ansehung  derselben  werden  Sie  aus  dem  Anhange  ersehen,  u  wen  ich  Ihnen 
nach  dem  Geleisteten  derselben  nicht  unwürdig  erscheine,  so  bitte  ich  Sie  recht 
freundlich  um  Mitwirkung  zu  denselben,  besonders  was  die  Aufstellung 
eines  vollständigen  Heldenbuchs  deutscher  Nazion  angeht,  in  gleicher  Weise 
wie  die  Nibelungen  bearbeitet  u  aus  den  ältesten  Urkunden  ;6  ich  habe  dazu 
schon  die  Dresdner,  Straßburger  u  Münchener  Handschriften  u  Drucke, 
auch  habe  ich  durch  Uhden  Hoffnung  zu  den   Vatikanischen,^  mich  dünkt 


1  Schlegel  an  Tieck,  26.  August  1807.  (K.  Holtei,  'Briefe  an  L.  Tieck' 
[Breslau  1864],  III,  p.  332.) 

2  'Der  Nibelunden  Lied.'     Berlin,  Unger,  1807. 

ä  Die  Frau  des  Verlegers  Unger,  auch  als  Romanschriftstellerin  bekannt 
und  hierin  Rivalin  von  Dorothea  Schlegel. 

*  Über  Schlegels  Verdienste  um  das  deutsche  Altertum  vgl.  R.  Soko- 
lowsky,  'Der  altdeutsche  Minnesang  im  Zeitalter  der  deutschen  Klassiker 
und  Romantiker'  (Dortmund  1906),  p.  120;  Raumer,  'Geschichte  der  ger- 
manischen Philologie'  (1870),  p.  308  fiF. 

»  Auch  L.  Tieck  beschäftigte  sich  lange  Zeit  mit  dem  Plane  eines  moder- 
nisierten Heldenbuches  und  trat  zu  einem  gemeinschaftlichen  Unternehmen 
mit  Hagen  in  Verbindung,  er  stellte  ihm  auch  seine  Abschriften  und  Be- 
arbeitungen zur  Verfügung,  dieser  gab  aber  das  Heldenbuch  doch  allein 
heraus.  (Vgl.  L.  G.  Klee,  'Zu  L.  Tiecks  germanistischen  Studien'.  Progr. 
[Bautzen  1895],  p.  25  ff.) 

8  Später  erhielt  er  die  Abschrift  der  Vatikanischen  Manuskripte  von 
Tieck  (Klee,  a.a.O.).  — •  Wilh.  Uhden,  Archäologe  und  preußischer  Geschäfts- 
träger im  Vatikan  vor  Humboldt;  Förderer  deutscher  Kunst  in  Rom.  (Vgl. 
Fr.  Noack,  'Das  deutsche  Rotn'  [Rom  1912],  p.  143.) 


Aus  dem  Lager  der  Berliner  Romantik  187 

aber  imer,  es  müßten  in  Ihrer  Gegend,  dem  eigentlichen  Schauplatz  so  vieler 
dieser  Fabeln  (der  Nibel.,  des  Rosengarten,  Ecken  Ausfahrt)  u  dem  alten 
Mittelpunkt  des  Fränkischen  Reichs,  noch  manche  Stücke  dieser  Art  zu 
finden  sein,  zur  Ausfüllung  verschiedener  Lücken  in  diesem  sonst  so  großen 
u  eng  verbundenen  Cyklus.  Bis  dahin  muß  die  Vorrede  zum  gedruckten 
Heldenbuch^  u  besonders  die  Wilkina-  u  Niflunga-Saga,  welche,  beide  Ein 
Werk,  ein  wahrer  thesaurus  deutscher  Heldenfabeln  sind,^  zur  Ergänzung, 
so  wie  zum  Leitfaden  des  mythischen  Zusamenhanges  dienen.  Eine  Ent- 
deckung dieser  Art  würde  äußerst  erfreulich  sein.  Außerdem  werden  Sie 
nächstens  wohl  eine  Ankündigung  zur  Fortsetzung  der  MüUerschen  Sam- 
lung,^  oder  vielmehr  Anfang  einer  neuen,  durch  mich  u  meinen  Freund 
Büsching  zu  Gesicht  bekomen:*  sollten  Sie  auch  hiezu  durch  Mittheilung 
guter  Originale,  oder  Abschriften  derselben  mitwirken  köjTen  u  wollen,  so 
würden  wir  es  mit  Dank  erkenen.  Endlich  möchten  wir  diese  Bitte  auch 
zur  Fortsetzung  einer  von  uns  vor  1/2  Jahr  herausgegebenen  Samlung  deut- 
scher Volkslieder*  (denen  Niederländische  u  Französische  beigefügt  sind) 
wiederhohlen.  Sie  sehen  der  Plane,  wie  der  Bitten,  sind  auf  einmal  viele, 
aber  was  auch  nur  davon  in  Erfüllung  gehen  mag,  so  ist  schon  der  gute 
Wille,  sowie  das  Vergnügen  des  Planmachens,  so  ist  schon  der  Beifall  der 
Trefl'liclien  und  Verehrten  Lohnes  genug;  u  mein  nächster  Wunsch  ist  nur, 
mir  diesen  von  Ihnen  in  etwas  zu  verdienen. 

Ihr  ergebenster 

Fr.  Heinrich  v.  d.  Hagen. 

Die  historische  Einleitung  zu  den  Nib.,  worin  ich  von  der  Geschichte  des 
Mythus  u  aller  damit  zusameuhangenden  Fabeln  des  Heldenb.,  von  ihrer 
historischen  Grundlage  u  Literatur  handele  wird  nächstens  als  ein  beson- 
deres Werk  erscheinen,"  dahin  gehörige  Mittheilungen  wären  mir  aber  imer 
noch  willkomen. 

Adresse:    An  den  Herrn  Professor   Friedrich   Schlegel 
Wohlgebohren  zuCöln. 

Mittlerweile  war  Schlegel  nach  Wien  übersiedelt.  Eine 
mehrere  Jahre  später  erschienene  Lebensskizze  von  ihm  berichtet 
über  diese  Übersiedelung:  'Ein  von  ihm  mit  vorzüglicher  Liebe 
bearbeitetes,  aber  niemahls  herausgekommenes  historisches  Drama, 
Carl  der  Fünfte,  war  die  Ursache,  daß  er  sich  im  Herbst  des 
Jahres  1808  nach  Wien  begab,  um  daselbst  durch  Benutzung  der 
historischen  Documente  der  Archive  seinem  streng  historischen 
Dichterwerke  eine  größere  Vollendung  zu  ertheilen.''^  Er  arbeitete 

^  Es  ist  die  prosaische  Vorrede  des  zuerst  im  15.  Jahrhundert  gedruckten 
'Heldenbuches'  gemeint  (neu  hg.  A.  v.  Keller,  'Bibl.  des  Lit.  Vereins  in  Stutt- 
gart', Bd.  87),  die  aus  einer  Straßburger  Handschrift  auch  in  Hagens 
'Grundriß'  (p.  2  ff.)  mitgeteilt  ist. 

'  Dieselbe  Meinung  in  Hagen-Büsching,  'Museum  für  altdeutsche  Lite- 
ratur und  Kunst'  II,  p.  337  ff.,  und  'Grundriß',  p.  1. 

3  Chr.  H.  Myller,  'Sammlung  deutscher  Gedichte  aus  dem  12.,  13.  und 
14.  Jahrhundert'  I,  1782—1784. 

«  'Deutsche  Gedichte  des  Mittelalters'  I,  1808. 

^  'Sammlung  deutscher  Volkslieder'  von  v.  d.  Hagen  und  Büsching,  1807. 

8  In  dieser  Form  nicht  erschienen.  (Vgl.  Th.  Abeling,  'Das  Nibelungen- 
lied und  seine  Literatur',  Leipzig  1907,  Suppl.  1909.) 

^  Hormayrs  'Archiv  für  Geographie,  Historie,  Staats-  und  Kriegskunst' 
1817,  p.  149. 

Archiv   f.  n.  Sprachen.     140.  23 


188  Aus  dem  Lager  der  Berliner  Romantik 

tatsächlich  schon  seit  Jahren  an  einem  Drama  über  Karl  V./ 
und  leicht  möglich  konnte  er  dies  Werk  als  Vorwand  zu  seiner 
Wiener  Reise  angeführt  haben.  In  Wirklichkeit  aber  waren  es 
politische  Gründe,  die  ihn  dahin  führten.  Wenn  Dorothea  am 
30.  Juni  1806  Caroline  Paulus  zuruft:  'Ich  sage  Dir,  es  ist  jetzt 
in  ganz  Deutschland  kein  Heil  als  unter  dem  Hause  Oesterreich!',^ 
so  bringt  sie  eigentlich  die  Anschauung  Friedrichs  zum  Aus- 
druck; schon  seit  dem  November  desselben  Jahres  kommen 
wiederholt  die  Wiener  Pläne  und  Aussichten  in  ihrer  Korrespon- 
denz zur  Sprache.^  Ihre  Hoifnungen  sollten  sich  bald  verwirk- 
lichen, Schlegel  war  in  österreichischen  Staatsdienst  getreten  und 
hatte  eine  nicht  unbedeutende  politische  Rolle  überkommen, 
außerdem  aber  fand  er  als  Journalist  und  Redakteur  einen  auch 
seiner  literarischen  Vergangenheit  angemessenen  Wirkungskreis. 
Auch  die  in  Wien  befindlichen  literarischen  Schätze  aus  dem 
deutschen  Altertum  zogen  seine  Aufmerksamkeit  auf  sich,  so  daß 
er  ihre  Erschließung  und  Veröffentlichung  zu  einer  der  Haupt- 
aufgaben seines  1812  gegründeten  'Deutschen  Museums'  machen 
konnte.  So  parallellaufende  Bestrebungen  mußten  eine  weitere 
Annäherung  v.  d.  Hagens  zur  Folge  haben,  auch  die  wechsel- 
seitigen Beziehungen  zu  Fouque,  den  ja  A.  W.  Schlegel  in  die 
Literatur  eingeführt  hatte,  mußten  die  weitere  Verbindung  mit 
Hagen  ermöglichen.  Ein  Brief  des  letzteren,  der  auf  Wiener 
Manuskripte  bezügliche  Bitten  enthalten  haben  muß,  ist  derzeit 
verschollen;  der  nächste  aber,  der  an  Schlegel  mit  neuen  Bitten 
herantritt,  ist  erhalten  geblieben. 

2. 

Berlin  d.  Uten  Oct.  1811. 

Von  unserm  gemeinschaftlichen  Freunde,  dem  wackern  Fouqug  (oder 
Volk»r,*  wie  ich  ihn  lieber  nenne)  habe  ich  einige  Papiere  für  Sie  erhalten, 
welche  ich  Ihnen  hier  übersende.  Wir  haben,  wie  ich  höre,  von  Ihnen  eine 
Rezension  zu  erwarten  von  dem  Helden  des  Nordens,^  auf  welche  ich  sehr 
begierig  bin.     Den    Iten  Theil  habe  ich  damals   in   der   Hall.    Lit.    Z.   an- 


^  'Dorothea  von  Schlegel  und  deren  Söhne  Johannes  und  Philipp  Veit. 
Briefwechsel',  hg.  von  J.  M.  Raich  (Mainz  1881),  I,  p.  192  f.,  206,  214,  221, 
247,  250,  290.  —  In  Wien  ließ  er  seinen  Plan  ganz  fallen.  (Hormayr  an 
Böttiger  6.  II.  1829.     Kgl.  Bibliothek  zu  Dresden.) 

»  Raich  I,  p.  166.       ^  Ebenda  I,  p.  187,  208. 

♦  Wahrscheinlich  infolge  der  Ähnlichkeit  der  beiden  Namen.  Fouquö 
selbst  leitete  seinen  Familiennamen  von  einem  normannischen  'Folko'  ab, 
den  er  dann  auf  seinen  Lieblingshelden  in  der  Erzählung  'Sintram  und  seine 
Gefährten'  und  im  Roman  'Der  Zauberring'  übertrug.  Freunde  wie  Doro- 
thea begegneten  dieser  Vorliebe  mit  zuvorkommender  Nachsicht  und  nannten 
ihn  in  ihrem  Briefwechsel  mit  seinem  Lieblingsnamen.  (Vgl.  'Briefe  an 
Fouquö'  [Berlin  1848],  p.  374  ff.) 

"*  Die  bekannte  Nibelungen-Trilogie  Fouqu6s  (1810).  Schlegels  Rezension 
erschien  im  'Deutschen  Museum'  (1812),  p.  185  ff. 


Aus  dem  Lager  der  Berliner  Romantik  189 

gezeigt,*  werde  es  aber  wol  dabei  bewenden  lassen.  —  Bei  dieser  Gelegen- 
heit bitte  ich  Sie  auch  recht  freundlich  um  eine  baldige  Antwort  meines 
vielleicht  zu  langen  Briefes;  ich  habe  schon  lange  auf  eine  oder  andre  der 
darin  erbetenen  Abschriften  gehoft,  u  thue  es  jetzt  um  so  mehr,  da  ich 
nächstens  eine  Ankündigung  des  2-ten  Bandes  der  Saml.  Altd.  Ged.  bekannt 
machen  werde.  Unterdeß  ist  von  mir  (außer  dem  Narren-*  u  Heldenbuch*) 
jetzt  eben  der  liter.  Grundriß  zur  Gesch.  der  deut.  Poesie  bis  1500  fertig 
geworden,*  welchen  Ihnen  Hitzig^  vermuthlich  auch  schicken  wird.  In 
Rücksicht  auf  diesen  ist  immer  noch  die  Entdeckung  eines  deutschen 
Walther  von  Aquitanien  zu  Wien*  ein  f romer  Wunsch,  der  viel- 
leicht Ihnen  zu  erfüllen  aufbehalten.  Demnächst  möchte  ich  Sie  besonders 
auf  das  S.  548  angeführte  Mspt.  der  ehmaligen  Windhagenschen 
Bibl.,  jetzt  zu  Wien,  aufmerksam  machen.^  Ist  es  ein  besonderes  Gedicht 
Dietrich  von  Bern,  oder  nur  Theil  einer  aus  solchen  Gedichten  mit  ge- 
zogenen Chronik,  wie  die  Heinrichs  von  München?^  Es  liegt  uns  doch  so 
besonders  viel  daran,  den  ganzen  Cyklus  der  nazionalen  Dichtungen  kennen 
zu  lernen. 

Ich  freue  mich  sehr  darauf,  Ihnen  bald  beträchtlich  näher  zu  kommen, 
indem  ich  in  wenigen  Tagen  von  hier  als  Bibliothekar  nach  Breslau  gehe; 
u  ich  hoffe  zuverlässig  von  dort  aus  Sie  nächstens  zu  besuchen  u  Ihre  mir 
schon  so  lange  erwünschte  persönliche  Bekanntschaft  zu  machen.  Die 
erste  Reise,  die  ich  von  dort  mache,  ist  gewiß  Wien,  wohin  mich  auch  be- 
sonders der  große  Hort  altdeutscher  Hdst.  so  mächtig  zieht.  —  Zuförderst 
bitte  ich   Sie  aber  noch,  mich   recht  bald  mit  einer  Antwort  zu  erfreuen 

u   mich  in   freundschaftlichem   Andenken   zu   behalten.        T^       ti.   • 

Der  Ihrige 

F.  H.  V.  d.  Hagen 
Ich  bin  so  frei  gewesen.  Hitzigen  aufzutragen  Ihnen  ein  Exempl.  von 
Nyerups  Symbol,  ad  lit.  Teut.  ant.^  beizulegen,  von  welchem  der  Heraus- 
geber mir  die  12  letzten  Exempl.  zum  gelegentlichen  Absatz  geschickt  hat. 
Da  diese  Samlung  reichhaltig  u  nicht  häufig  ist,  so  ist  sie  Ihnen  vielleicht 
willkommen.  Sonst  findet  sich  dort  auch  wol  irgend  ein  Liebhaber  dazu. 
Eben  erhalte  ich  Hofstäters  Buch;"  es  scheint  mir  doch  sehr  überflüßig. 


1  Der  erste  Teil  'Sigurd  der  Schlangen  töter'  war  1808  erschienen. 
Hagens  ausführliche  Rezension  steht  in  Nr.  245—246,  7.  und  8.  Sept.  1809, 
der  Haller  Allg.  Lit.  Zeitung  III,  Sp.  49—59. 

2  Halle  1811. 

*  Die  Erneuerung  des  Heldenbuches,  Bd.  I,  1811. 

*  Berlin,  Duncker  und  Humblot,  1812.  Als  Verfasser  sind  Hagen  und 
Büsching  angegeben,  doch  ist  es  ganz  das  Werk  des  ersteren. 

*  Julius  Eduard  Hitzig,  der  Freund  und  Verleger  Fouqu4s. 

°  Kritische  .Behandlung  der  Wiener  Walther-Manuskripte  durch  R.  Hein- 
zel  in  den  Sitzungsberichten  der  Wiener  Akademie,  Phil.-Hist.  Klasse, 
Bd.  117,  1889. 

^  Es  handelt  sich  um  den  Cod.  ms.  2779  ('Deutsches  Heldenbuch'  III 
[1871],  S.  VI,  irrtümlich  2279)  der  Wiener  Hofbibliothek,  enthaltend  die 
'Kaiserchronik  bis  auf  die  Gegenkaiser  Konrad  und  Friedrich',  'Dietrichs 
Flucht  zu  den  Hunnen',  die  'Ravennaschlacht'  usw.  (Hoffmann  von  Fallers- 
leben:  'Verzeichnis  der  altdeutschen  Handschriften  der  k.  k.  Hofbibliothek 
zu  Wien'   [Leipzig  1841],  p.   13  ff.). 

8  Es  ist  die  Fortsetzung  der  'Weltchronik'  von  Rudolf  v.  Ems  gemeint. 

8  Rasmus  Nyerup,  dänischer  Germanist,  Professor  in  Kopenhagen,  Mit- 
arbeiter und  Freund  v.  d.  Hagens.  Sein  Werk  'Symbolae  ad  literaturam 
Teutonicam  antiquam'  war   1787  erschienen. 

*»  Felix  Franz  Hofstätter,  'Altdeutsche  Gedichte  aus  den  Zeiten  der 
Tafelrunde',  2  Teile,  Wien  1811. 

13* 


190  Aus  dem  Lager  der  Berliner  Romantik 

Auch  Fouque,  der  Freund  v.  d.  Hagens,  stand  mit  Friedrich 
in  Korrespondenz.  In  der  Ausgabe  des  Fouqueschen  Brief- 
wechsels sind  drei  Briefe  Schlegels  mitgeteilt/  von  Fouques  Ant- 
worten aber  sind  bloß  einige  Zeilen  erhalten,  die  er  einem  Brief 
Philipp  Veits  beigefügt  hat,^  außerdem  ist  ein  Brief  an  Doro- 
thea und  Friedrich^  und  einer  an  Dorothea  allein'^  bekannt.  Ein 
weiteres  Schreiben  an  Friedrich  kommt  hier  zum  Abdruck.  Es 
ist  die  Antwort  auf  den  Brief  Schlegels  vom  22.  Juni  1811,  in 
dem  dieser  dem  preußischen  Dichter  über  den  Eindruck  des  'Sigurd' 
und  über  seine  geplante  Rezension  berichtet,  ferner  Aufschluß 
über  Hülsens  Nachlaß  bittet  und  Fouque  ermuntert,  'der  nordi- 
schen Muse  nicht  ungetreu'  zu  werden.  Auf  diese  Zeilen  über- 
strömt der  Dichter  des  Nordens  seinen  geistigen  Führer  mit  einer 
endlosen  Reihe  von  literarischen  Plänen. 

Fouque  an  Friedrich   Schlegel. 

Nennhausen  bei  Rathenaw  in  der  Mark  Brandenburg, 
am  25.  Julius  11. 

Ihr  liebreicher  und  ehrender  Brief  hat  mich  unendlich  erfreut.  Ich 
erkenne  es  für  einen  großen  Seegen  Gottes  an,  daß  mein  Sigurd  so  tief  in 
Gemüther,  wie  das  Ihrige  und  das  Ihrer  Frau  Gemahlin  —  denn  ich  weiß 
durch  unsern  Isidorus,^  daß  auch  sie  ihn  gern  und  öfters  wieder  liest  — 
zu  dringen  vermochte.  Schon  früher  habe  ich  es  Ihnen  gesagt,  daß  ganz 
besonders  bei  jenem  Gedichte  das  Leben  Ihrer  Poesie  mich  umschwebte,  und 
daß  ich  Niemandem  auf  der  Welt  lieber  damit  gefalle,  als  eben  Ihnen.  Daß 
mir  nun  dieser  Wunsch  in  solchem  Maa.ße  erfüllt  ist,  verdanke  ich,  wie  es 
mir  mein  klarstes  Gefühl  sagt,  nicht  eigner  Kraft,  sonder  dem  unnenn- 
baren Etwas,  welches  Gott  aus  Gnaden  giebt  und  das  sich  oftmals  aus  dem 
Menschen  auf  eine  Weise  herausspricht,  über  die  er  in  seiner  Ichheit  kaum 
Rechenschaft  geben  kann,  dafern  er  aber  ehrlich  mit  sich  umgeht,  in  eben 
dieser  Ichheit  nicht  anders,  als  die  tiefste  Demuth  empfinden  kann.  — 
Sie  haben  mir  das  ganze  Herz  aufgeschlossen  mit  Ihren  Worten,  und  müssen 
es  nun  schon  gütig  aufnehmen,  wenn  sich  Ihnen  auch  das  Verborgenere 
darin  kund  zu  geben  strebt. 

Ohne  Zweifel  sind  nun  die  vaterländischen  Schauspiele^  bereits  in  Ihren 
Händen,  und  ich  wünsche  vom  ganzen  Herzen,''  daß  Sie  und  Ihre  Frau  Ge- 
mahlin auch  an  dieser  Dichtung  Freude  finden  mögen.  Den  Waldemar 
trage  ich  seit,  meiner  Kindheit  mit  mir  herum,^  und  habe  ihn  oftmalen  in 


^  'Briefe  an  Friedrich  Baron  de  la  Motte  Fouquö',  hg.  von  Albertine 
Baronin  de  la  Motte  Fouqu6   (Berlin  1848),  p.  368—373. 

2  Raich,  'Dorothea  v.  Schlegel'  (Mainz  1881)  II,  p.  201.  —  6.  Sept.  1813. 

3  Ebenda  II,  210.  —  29.  Sept.  1813. 

4  Ebenda  II,  267.  —  24.  Juni  1814. 

6  Schriftstellername  des  Grafen  Otto  Heinrich  v.  Loeben  (1786—1825), 
der  als  Lyriker  in  der  romantischen  Bewegung  einen  geachteten  Platz  ein- 
nahm. 

8  'Vaterländische  Schauspiele'  1811.  —  I.  'Waldemar  der  Pilger,  Mark- 
graf von  Brandenburg.'  —  IL  'Die  Ritter  und  die  Bauern.' 

^  Ursprünglich  'Seele'  statt  'Herzen'. 

8  Die  'Lebensgeschichte  des  Baron  Friedrich  de  la  Motte  Fouqu6.     Auf- 


Aus  dem  Lager  der  Berliner  Romantik  191 

Wald  und  Garten  vor  andern  Kindern  oder  auch  ganz  allein  aufgeführt. 
Es  ist  gut,  daß  ich  ihm  diese  theatralischen  Darstelhmgen  im  Voraus  habe 
angedeihen  lassen;  auf  unsern  heutigen  Bühnen  möcht«  er  schwerlich  dazu 
gelangen.  Ihr  Bruder  —  mein  mir  unendlich  lieber  und  verehrter  Meister 
—  ließ  mir  vor  einiger  Zeit  einmal  durch  Chamisso  schreiben,  ich  solle 
doch  für  die  Bühne  dichten;  es  seien  ja  selbst  Aeschylos  und  Shakespeare 
bereit  gewesen,  sich  nach  ihr  zu  fügen.  Aber  ich  mußte  ihm  erwiedern, 
daß  Aeschylos  und  Shakespeare  auch  keine  Ahnung  von  einem  Bühnenwesen, 
wie  unser  heutiges  leider  ist,  gehabt  hätten,  und  daß  ich  nun  schon  bei 
meiner  Weise  bleiben  müsse,  höchstens  auf  eine  mögliche  Darstellbarkeit 
Rücksicht  nehmend.  Was  meinen  Sie  dazu?  —  Der  nordischen  Muse  will 
ich,  Ihrer  Mahnung  getreu,  gewiß  immer  meine  hauptsächlichsten  Kräfte 
zuwenden.  Zwei  Heldenspiele  liegen  fertig,  zu  deren  Beschluß  aber  mir  die 
Sage  noch  immer  zu  dunkel  leuchtet.^  Ich  denke  mich  um  deren  willen  mit 
Gräter^  in  Briefwechsel  zu  setzen.  Jetzt  dichte  ich  an  einem  großen  Ritter- 
roman, welcher  Deutsche,  Spanische,  Französische,  Englische  und  vorzüg- 
lich meine  lieben  Nordländischen  Ritter  unter  einander  in  Berührung 
bringen  soll.^  Nach  dessen  Beendigung  schwebt  mir  ein  Heldenspiel  von 
dem  Leben  und  Thaten  Alboins  vor,*  deren  Lesung  in  Paul  Warnefrieds 
gestis  Langobardorum  mich  sehr  anregt.  —  Was  unsres  Hülsens^  Nachlaß 
betrifft,  der  allerdings  in  sofern  er  der  Welt  bestimmt  war,  ihr  nicht  vor- 
enthalten werden  darf,  so  habe  ich  darüber  an  seinen  nächsten  und,  wenn 
ich  mich  so  ausdrücken  darf,  von  ihm  durchdrungensten  Freund,  Erich 
von  Berger,^  geschrieben.  Er  muß  die  Papiere  in  Händen  haben,  und  ist 
wohl  befugt,  sie  zu  ordnen  und  bekannt  zu  machen.  Ich  habe  ihm  meine 
Hülfe  bei  der  Herausgabe  angeboten,  oder  ihn,  falls  er  mir  das  Geschäft 
übertragen  will,  um  die  seinige  gebeten.  Nur  werden  wir  leider  in  Hin- 
sicht des  W  i  e  vielleicht  genöthigt  sein  auf  Aeußerlichkeiten  Rücksicht 
zu  nehmen,  denn  Hülsens  Wittwe  und  Kind  sind  arm  zurückgeblieben. 
Inwiefern  dies  bestimmen  kann,  muß  Berger,  der  die  Umstände  der  Fa- 
milie genau  kennt,  am  besten  entscheiden,  und  ich  habe  desfalls  bei  ihm 
angefragt.  Sobald  dies  Geschäft,  für  das  Sie  sich  mit  so  freundschaftlicher 
Treue  interessiren,  einen  bestimmten  Gang  nimmt,  erhalten  Sie  Nachricht 
darüber  von  mir.  — 

Eine  Abschrift  der  Hagenschen  Sigurdrezension  erhalten  Sie  entweder 
beigehend  oder  nächstens  durch  meinen  Freund  Hitzig.  Was  er  Ihnen  aber 
gewiß  bei  legt,  ist  das  Frühlingsheft  meiner  Jahreszeiten  (  der  Verfasser  des 
Todesbundes  bin  ich  selbst).'  Hier  komme  ich  nun  mit  einer  recht  herzlichen 


gezeichnet  durch  ihn  selbst'  (Halle  1840,  p.  305),  erwähnt  auch,  daß  dieses 
Stück  seit  seinen  Knaben  jähren  in  ihm  geschlummert  hat. 

1  Wahrscheinlich  zwei  der  1813  erschienenen  'Dramatischen  Dichtungen 
für  Deutsche',  von  denen  'Alf  und  Yngwi',  'Irmensäule'  und  'Runenschrift' 
in  Betracht  kommen  können. 

'  Der  bekannte  Germanist. 

3  'Der  Zauberring'   (1812). 

*  'Alboin  der  Laugobardeukönig.     Ein  Heldenspiel'   (1813). 

"*  Der  mystische  Philosoph  der  romantischen  Schule,  Erzieher  und  Freund 
Fouquäs,  Gatte  seiner  Kusine.  Vgl.  über  ihn:  R.  Haym,  'Die  romantische 
Schule' (1914') ;  'Lebensgeschichte  des  Baron  Fr.  de  la  Motte  Fouqu6',  p.  66ff., 
294  f.  —  Auch  Schelling  interessierte  sich  für  den  Nachlaß  ('Briefe  an 
Fouquß',  p.  349),  den  Fouqug  in  seiner  'Allgemeinen  Zeitschrift  von  Teut- 
schen  für  Teutsche'  (1813)  Heft  2  herausgab. 

«  Joh.  Erich  v.  Berger,  Professor  der  Philosophie  in  Kiel   (1772—1833). 

'  'Jahreszeiten,  eine  Vierteljahrsschrift  für  romantische  Dichtungen',  die 
schon  mit  dem  Winterheft  1814  einging.  Das  erste  Heft  brachte  'Undine, 
eine  Erzählung  vom  Verfasser  des  Todesbundes'.     Anfänglich  wurde  infolge 


192  Aus  dem  Lager  der  Berliner  Romantik 

Bitte.  Unterstützen  Sie  diese  Zeitschrift  mit  Beiträgen;  wenn  es  sein 
kann,  recht  bald.  Romanze,  JErzählung,  Dramatisches  Gedicht,  was  es  auch 
sei,  ich  werde  es  aus  Ihrer  Hand  mit  innigem  Dank  empfangen.  Durch  die 
Aeußerung  im  Vorwort,  man  wolle  blos  unterhalten,  lassen  Sie  sich  gewiß 
nicht  abschrecken,  wohl  fühlend,  es  sei  dies  ein  Versuch,  ob  es  sich  das  Volk 
einmal  gefallen  lassen  wolle,  daß  man  ihm  nach  einer  Einleitung,  wie  es  sie 
fordert,  etwas  Gutes  geben  könne.  Machen  Sie  meine  Hoffnung  auf  Ihre 
freundschaftliche  Beihülfe  nicht  zu  Wasser;  ich  vertraue  so  fest  darauf,  und 
sehe  ihr  mit  so  vieler  Freude  entgegen.^ 

Dem  lieben  Isidorus  habe  ich  Ihren  Gruß  bereits  zugeschrieben.  Ja  wohl 
ist  das  ein  recht  herzensguter,  kindlich  reiner  Mensch,  in  dem  gewiß  noch 
vieles  Herrliche  liegt,  und  zu  seiner  Zeit  hervorströmen  wird  an  das  Licht 
der  Welt.  Es  ist  mir  gelungen,  ihn  zu  einem  recht  ernsten  Studium  der 
Nibelungen  zu  bringen,  und  ich  habe  eine  große  Freude  darüber. 

Leben  Sie  wohl,  und  kann  es  sein,  so  erquicken  Sie  mich  bald  wieder 
einmal  durch  Ihre  Worte.  Ihrer  Frau  Gemahlin  meinen  innigsten  und  ehr- 
erbietigsten Gruß.     Ich  bin  mit  herzlicher  Achtung  und  Freundschaft 

ganz  der  Ihrige 

Fouquö. 

Aus  zeitgenössischen  Berichten  erhellt  die  ungemeine  Popu- 
larität, deren  sich  Fouque  im  zweiten  Jahrzehnt  des  19.  Jahr- 
hunderts in  Wien  erfreute.  Wenn  auch  die  Lobeserhebungen 
seiner  Wiener  Korrespondenten,  wie  die  Familie  Schlegel  oder 
M.  V.  Collin^  nicht  eben  hoch  beanschlagt  werden  können,  muß 
dem  unparteiischen  Zeugnis  Brentanos^  um  so  mehr  Wichtigkeit 
beigemessen  werden.  Fouque  war  in  Wien  Mode  geworden,  Bei- 
träge von  ihm  efschienen  in  den  Zeitschriften,  Werke  von  ihm 
wurden  nachgedruckt,  und  seine  Beliebtheit  erstreckte  sich  auch 
auf  die  Provinzgebiete  der  Wiener  Kultur.'*  In  den  'Briefen  an 
Fouque'  ist  aus  der  Wiener  Schriftstellerwelt  außer  dem  Ehepaar 
Schlegel  bloß  Matthäus  v.  Collin  vertreten,  doch  wissen  wir,  daß 
auch  Frau  Pichler  freundschaftlich  mit  ihm  verkehrte,  und  selbst 
eine  Verbindung  mit  Hormayr  wird  vielleicht  angenommen 
werden  können.^  Von  Collin  brachten  die  'Briefe'  fünf  Zu- 
schriften; sein  erstes  Schreiben  wird  wohl  verlorengegangen  sein, 
da  der  undatierte  Brief  Collins,  der  in  der  Ausgabe  an  erster 
Stelle  steht,  schon  eine  Antwort  auf  Fouques  hier  folgenden 
ersten  ist. 


einer  Verwechslung  von  'Todesbund'  und  'Tugendbund'  Gneisenau  für  den 
Verfasser  gehalten  ('Lebensgeschichte  von  Fouquö',  p.  306).  Fouqu6  scheint 
diesem  Gerücht  vorbeugen  zu  wollen. 

^  Schlegel  lieferte  keine  Beiträge  zu  den  'Jahreszeiten'.  Vgl.  'Bibliographi- 
sches Repertorium'  I.     Walzel-Houben,  'Zeitschriften  der  Romantik',  212  ff. 

2  'Briefe  an  Fouqu6',  p.  58  ff.,  368  ff. 

3  Reinhold  Steig,  'Achim  von  Arnim  und  Clemens  Brentano'  (Stuttgart 
1894),  p.  336.  —  Wien,  5.  April  1814. 

*  M.  Murko,  'Deutsche  Einflüsse  auf  die  Anfänge  der  böhmischen  Ro- 
mantik'  (Graz  1897),  p.  26,  41. 

ö  In  Hormayrs  'Archiv'  war  1813  eine  prosaische  Sage  und  eine  Ballade 
von  Fouqu6  erschienen. 


Aus  dem  Lager  der  Berliner  Romantik  193 

Fouque   an   Matthäus  v.  Colli n. 

1. 
An  Herrn  Matthäus  Edlen  von  Collin. 

Die  herzliche  Achtung,  welche  ich  Ihrem  seeligen  Bruder^  schon  seit  dessen 
erstem  Auftreten  schuldigerweise  zollte,  hat  sich  noch  sehr  gesteigert  seit 
vor  Ihrer  kräftigen  Schilderung  sein  Bild  in  höchster  Eigenthümlichkeit  und 
unverkennbarer  Wahrheit  vor  mir  heraufgestiegen  ist.  Aber  Sie  haben  mir 
noch  mehr  bescheert,  als  das;  Sie  haben  mir  und  jedem  Empfänglichen  ein 
klares  Bild  des  so  höchst  wichtigen,  so  vielfach  ringenden  Zeitalters  auf- 
gestellt, in  welches  Heinrich  CoUins  edles  Leben  fiel.  Sehr  vieles  ist  mir 
anschaulicher,  reiner,  freier  seitdem  geworden,  und  es  versteht  sich  also 
von  selbst,  daß  ich  Ihnen  für  eine  Kräftigung  und  Erhellung  meines  ganzen 
Seins  zu  danken  habe.     Sie  wissen  ohne  Weitres,  wie  viel  das  sagt. 

Sodann  empfangen  Sie  auch  freundlich  meinen  herzlichen  Dank  für  die 
Mittheilung  Ihrer  dramatischen  Dichtungen.*  Mein  Lieblingsheld  darunter 
bleibt  der  tapfre  Babenberger,^  der  mir  gar  tief  ins  Herz  gegriffen  hat! 
Der  Marius  ist  sehr  reich  an  erhebenden  und  erschütternden  Momenten,  und 
vielleicht  rührt  meine  ausschließliche  Vorliebe  für  den  streitbaren  Friedrich 
mit  von  meiner  Vorliebe  für  alles  Ritterthum  her.  Aber  es  ist  nun  ein- 
mal so. 

Ich  schrieb  Ihnen  nicht  früher,  weil  ich  erst  Alles,  was  Sie  mir  so  gütig 
zusandten,  lesen  wollte,  und  weil  man  Werke,  wie  die  Ihrigen,  weder 
flüchtig  lesen  kann,  noch  darf. 

Nächstens  sende  ich  Ihnen  durch  unsern  Freund  Büsching  ein  Werklein 
von  mir,  dessen  Titelkupfer  Ihnen,  dem  persönlich  unbekannten  gütigen 
Freunde  sagen  mag,  wie  ich  aussehe.*  Lassen  Sie  mich  doch  wissen,  ob  Ihr 
Antlitz  dem  Ihres  seeligen  Bruders  gleicht.' 

Mit  aufrichtiger  Achtung 

Ihr  ganz  ergebener 

Friedrich   Baron   de  la  Motte   Fouqu§ 
Major  und  Ritter. 

Anmerkung  auf  der  Außenseite:  'pr.  19t  Xbr  814'. 

Nach  längerer  Pause  suchte  Collin  Fouque  am  7.  August  1816 
wieder  auf,  doch  hat  sich  dessen  Antwort  nicht  erhalten.  Auf 
seine  nächste  Zuschrift  vom  31.  März  1817  erfolgte  folgendes 
Schreiben: 


^  Der  zu  seiner  Zeit  gefeierte  Wiener  Dramatiker  Heinrich  Josef 
V.  Collin  (1772—1811),  dessen  sämtliche  Werke  der  jüngere  Bruder  (1813—14) 
herausgab  und  mit  einer  eingehenden  Biographie  (Bd.  VI)   versah. 

^  'Dramatische  Dichtungen  von  M.  v.  Collin'  I — II  (Pest,  Hartleben, 
1813),  enthaltend:  'Der  Tod  Friedrichs  des  Streitbaren',  'Der  Cid',  'Marius', 
'Calthon  und  Colmal'. 

3  Friedrich  der  Streitbare. 

*  Wie  aus  der  Antwort  CoUins  ersichtlich,  war  auch  dieser  Brief  durch 
Büsching  vermittelt  worden.  Fouquö  meint  hier  das  Winterheft  1814  der 
'Jahreszeiten',  dem  ein  Porträt  von  Philipp  Veit  beigefügt  war,  das  aber 
im  Kupferstich  in  Wien  schon  früher  allgemein  verbreitet  gewesen. 

5  Das  Bild  H.  J.  Collins  in  der  Gesamtausgabe  von  1813—1814. 


194  Aus  dem  Lager  der  Berliner  Romantik 


Herrn  v.  Colli  n. 

Nennhausen,  am  5  t  Julius  1817. 

Ihre  vaterländischen  Dichtungen^  sind  mir  wie  aus  der  Seele  geschrieben, 
geehrter  Herr  und  Freund.  Ich  konnte  gar  nicht  vom  Lesen  fortkommen, 
und  ward  dann  natürlich  nochmals  zu  Friedrich  des  Streitbaren  Tode  hin- 
gezogen. Sie  schreiten  rüstig  und  schön  vorwärts  auf  der  betretnen,  edlen 
Bahn,^  in  Eigenthümlichkeit  und  Kraft,  der  Tugend  und  den  Mängeln, 
ja  den  Lastern  Ihrer  Helden  das  volle  Recht  gebend,  und  eben  dadurch  sie 
unserm  Gemüthe  so  nahe  rückend,  und  —  wo  Versöhnung  möglich  ward  — 
uns  die  Versöhnung  so  freudig  in's  Herz  legend.  Wenn  ich  Einzelnheiten 
loben  soll,  so  stelle  ich  den  Hadmar  Kunring*  oben  an,  diesen  Helden  von 
furchtbar  tragischer  Größe,  beinah  so  schauerlich,  ja  gräßlich  als  Hagene, 
und  dennoch  von  tiefer,  bisweilen  wirklich  zarter  Liebenswürdigkeit.  Man 
geräth  nahe  dran,  an  der  Möglichkeit  seiner  innern  Rettung  zu  verzweifeln, 
und  fühlt  sich  nun  unbeschreiblich  beruhigt.,  und  sicher  darüber  am  Schluß. 
Er  faßt  seine  Buße  eben  so  kräftig,  oder  vielmehr  weit  kräftiger  an,  als 
vorhin  die  Sünde,  und  wird  gewiß  gar  herrlich  und  klar  damit  zu  Stande 
kommen.  Nun  bekenne  ich  noch,  daß  mir  eine  Kleinigkeit  fehlt,  eine  Thor- 
heit  vielleicht.  Ich  hätte  gern  von  der  dummen  Liese^  Dummheiten  —  von 
den  nicht  unsittlichen  versteht  sich  von  selbst  —  mehr  aus  der  wunderlichen 
Kreatur  eignem  Munde  vernommen.  Es  war  aber  freilich  wohl  in  gewisser 
Hinsicht  allzuverletzlich  geworden.  Steckt  ja  doch  ohnehin  ein  tiefer,  war- 
nender, fast  schwermüthiger  Ernst  in  dieser  tollen  Erscheinung  und  der 
Bethörung  zwei  muthiger  Ritter  für  sie!  —  Nur  daß  freilich  ein  Hartneid' 
ganz  drüber  zu  Grunde  gehn  muß;  für  einen  Hadmar  wird  es  nur  eine 
irdische  Fegfeuerflamme  mehr.  —  Butes  hat  mich  mit  Bewunderung  erfüllt, 
aber  doch  am  Schlüsse  mit  allzutrübem  Entsetzen.  Es  leuchtet  der  ewige 
Himmel  wohl  mit  seiner  Wahrheit  durch  die  heidnischen  Wetterwolken  hin. 
aber  ich  hätte  gern  noch  mehr  von  der  lichten  Bläue  mit  eigenen  Augen 
erschaut.  —  Nehmen  Sie  meinen  herzlichsten  Dank  für  die  ganze  reiche 
Gabe,  und  möge  es  Ihnen  Gott  verleihen,  noch  recht  viel,  vorzüglich  in 
Ihrer  oesterreichischen  Heldenbahn  zu  dichten,  Ihnen  und  uns  Allen  zur 
Erquickung  und  Erhebung. 

Hoffentlich  ist  mein  früherer  Brief  nun  schon  längst  in  Ihren  Händen. 
]\lit  meinem  altsächsischen  Bildersaale*  schreitet  es  rasch,  und  wie  ich  hoflfe, 
gut  vorwärts.  Ueberhaupt  werde  ich  Sie  nun  bald  mit  erwiedernden  Liebes- 
grüßen fast  überschütten  können.  Möchten  Sie  so  viele  Freude  daran 
finden,  als  ich  an  den  Ihrigen.  —  Mit  meiner  Gesundheit  geht  es  Gottlob 
sehr  erträglich;   weit  besser  wenigstens,  als  im  vorigen  Jahr. 

Erhalten  Sie  mir  Ihre  Freundschaft,  und  lassen  Sie  unsre  Mittheilungen 
nicht  so  lange  unterbrochen  werden. 

Mit  aufrichtiger  Hochachtung  der  Ihrige 

L.  M.  Fouquß. 

1  'Dramatische  Dichtungen'  III— IV  (Pest,  Hartleben,  1817),  enthaltend: 
'Bela.s  Krieg  mit  dem  Vater',  'Die  feindlichen  Söhne',  'Der  Tod  Heinrich 
des  Grausamen',  'Butes',  'Der  Streit  am  Grabe',  'Die  Kunringer'. 

2  Vgl.  Jos.  Wihan,  'M.  v.  Collin  und  die  patriotisch-nationalen  Kunst- 
bestrebungen in  Österreich  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts'.  ('Euphorien' 
1901,  Ergänzungsheft  V.) 

'  Personen  in  den  'Kunringern'.  Liese,  die  Geliebte  Hadmars,  trotz 
ihrem  Namen  gar  nicht  dumm.  Die  ganze  Gestalt  ist  verfehlt.  Hartneid 
von  Ort  ist  Hadmars  Rivale  bei  Liese. 

«  I— IV,  1818—1820. 


Aus  dem  Lager  der  Berliner  Romantik  195 

Sein  letzter  Brief  ist  die  Antwort  auf  Collins  Zeilen  vom 
30.  Januar  1818. 

3. 

An  H.  Matthäus  v.  Coli  in. 

Nennhausen,  am  14  t  April  1818. 
Mein  hochverehrter  Freund, 

Während  Sie  mit  der  Sorge  um  Ihr  liebes  Kind  kämpften,^  und  der 
Herr  Ihnen  seine  Gnade  erwies,  sah  es  auch  bei  mir  gar  ernsthaft  aus. 
Zwar  Gottlob  so  beängstigend  traf  es  mich  nicht,  als  Sie,  denn  die  Gefahr 
galt  nur  mir  selbst.  Alle  Nachwehen  des  Jahres  Dreizehn  waren  in  mir 
aufgewacht,''  und  hatten  sich  zum  concentrischen  Angriff  verbündet,  der 
aber  durch  eine  glückliche  Kriesis  zu  meinem  Besten  ausschlug,  so  daß 
auch  ich  zum  innigsten  Dankgefühl  gegen  unsern  lieben  Vater  im  Himmel 
angeregt  bin.  Das  Nähere  wird  Ihnen  Freund  Büsching  mittheilen;  ich 
Genesender,  durch  ärztliche  Vorschriften  und  rückgebliebene  Arbeiten  noch 
immer  in  meiner  Zeit  sehr  beengt,  sage  Ihnen  heut  nur  in  gedrängten 
Worten,  daß  ich  mich  gar  herzlich  auf  die  verheißenen  Kinder  Ihrer  Muse 
freue,  und  daß  ich  beikommenden  Sohn  der  meinigen  Ihrem  freundschaft- 
lichen Wohlwollen  bestens  empfehle.  —  Ueber  unsre  Ansichten  des  gegen- 
wärtigen Zeitmomentes'  müssen  wir  uns  bei  bessrer  Muße  noch  einmal 
gegenseitig  recht  gründlich  aussprechen.  Und  das  wird  uns  nicht  schwer 
fallen,  denn  in  dem  Hauptsatze:  'Was  Gott  thut,  da.s  ist  wohlgethan!'  sind 
wir  ja  vollkommen  einig.  Wer  auf  dieses  Fundament  bauet  baut  recht  und 
gut  und  zu  Gottes  Ehre,  und  wird  sich  mit  den  andern  Baumeistern 
von  gleicher  Gesinnung  irgendwo  überraschend  auf  gleicher  Bahn  zusammen- 
finden, mag  auch  in  den  ersten  Baurissen  dort  und  hier  eine  noch  so 
scheinbare  Verschiedenheit  kund  geworden  sein.  —  Nur  für  die  Einleitung 
einer  Frage:  haben  Sie  Hallers  Restauration  der  Staatswissenschaft  ge- 
lesen?* Ich  verdanke  diesem  Werke  manchen  Kampf  und  manchen  Sieg 
in  meinem  Innern.  — 

Noch  komme  ich  mit  einer  Bitte.  In  Ihrer  Kaiserstadt  wohnet  auf 
der  Landstraße  in  der  Ungergasse  im  sogenannten 
Ritternschen  Poststall  Nr.  .3  0  6.  ein  Dichter,  Namens  Joh.  Nep. 
Gunz.5  der  mir  ein  Trauerspiel  zur  Ansicht  mittheilen  ließ,  genannt:  die 
Größen.  Ich  glaube  unverkennbare  Spuren  der  ächten  Begeisterung  darin 
zu  entdecken,  aber  auch  das  eben  so  unverkennbare  Bedürfniß  einer  kräf- 
tigen kritischen  Leitung.  Möchten  doch  Sie  dies  gute  Werk  an  ihm  voll- 
führen! Sie  würden  mich  sehr  verbinden,  wenn  Sie  ihm  in  meinem  Namen 
sagen  wollten,  daß  nur  meine  Krankheit  mich  habe  verhindern  können,  ihm 


^  Vgl.  Collins  Brief  vom  30.  I.  1818  ('Briefe  an  Fouqu6',  p.  70). 

'  Über  die  Erkrankung  Fouqu6s  bei  Lützen  und  den  Wiederausbruch 
der  Krankheit  1818  vgl.  'Lebensgeschichte  Fouquäs',  p.  317,  331. 

3  Er  spürte  die  Veränderung  des  Zeitgeistes,  die  er  auch  an  der  all- 
gemeinen Beurteilung  seiner  Leistungen  wahrnehmen  konnte.  Die  freieren 
Gesinnungen  und  die  studentischen  Bestrebungen  der  Zeit  waren  ihm  ziem- 
lich verhaßt.  Daraus  läßt  sich  auch  sein  Auftreten  für  das  Andenken  Kotze- 
bues  erklären. 

*  Karl  Ludwig  v.  Haller,  'Restauration  der  Staatswissenschaft  oder 
Theorie  des  natürlichen  geselligen  Zustandes,  der  Chimäre  des  künstlich 
bürgerlichen  entgegengesezt'  I — VI  (1816 — 1825).  Es  machte  einen  großen 
Eindruck  auf  die  Zeitgenossen,  so  auf  Adam  Müller  ('öst.-ung.  Revue'  N.  F. 
VIII,  287),  Stolberg  ('Auz.  f.  deutsches  Altertum'  IV,  383). 

^  Ein  wenig  bekannter  Wiener  Schriftsteller. 


196  Aus  dem  Lager  der  Berliner  Romantik 

auf  seinen  freundlichen  Brief  vom  22t  December  zu  antworten;  aus  der- 
selben Ursache  auch  sei  es  mir  unmöglich  gewesen,  mit  dem  Grafen  Brühl^ 
in  Berlin  ordentlich  wegen  der  Aufführung  jener  Dichtung  zu  unterhandeln, 
doch  seie  wohl  auch  überhaupt  bei  dem  nur  kaum  von  der  Asche  erstehenden 
Theater'  wenig  Aussicht  dazu.  —  "Vielleicht  wehrte  und  wehrt  mir  Gott 
eben  deshalb  das  direkte  Antworten,  um  den  hoffnungsvollen  Dichter  in 
Ihren   Schutz  und   Schirm  zu  bringen.  — 

Gott  sei  mit  Ihnen,  und  erhalte  mir  Ihre  Freundschaft.  —  Viel  Glück 
zu  der  Wiener  Literaturzeitung I^  Ich  freue  mich  allemal  herzlich,  wenn 
ein  solches  Institut  in  solche  Hände  kommt.  —  Habe  ich  erst  einmal  wieder 
die  Hand  etwas  freier,  so  biete  ich  Ihnen  wohl  einen  oder  ein  paar  Bei- 
träge an.  —  y^j^  Herzen  der  Ihrige 

Fouqu6.* 

Karoline  Pichler  berichtet  in  ihren  Memoiren  über  ihre  Ver- 
bindung mit  Fouque:  'Ich  stand  schon  längere  Zeit  mit  unserm 
gefeierten  Sänger  der  Undine,  dem  Freiherrn  von  Fouque  in  brief- 
lichem Verkehr,  welcher  sich,  wenn  ich  nicht  irre,  bei  Gelegen- 
heit eines  Geschäfts  mit  der  Buchhandlung  meiner  Schwägerin 
durch  meine  nachgesuchte  Vermittlung  angesponnen  hatte. 
Später  hatte  mir  Baron  Fouque  seine  Gunlaugurssage  sehr  ehren- 
voll gewidmet,  und  so  kam  es,  daß  ich  einige  Jahre  hindurch 
mit  ihm  und  auch  einmal  mit  seiner  Gemahlin,  der  Dichterin, 
Briefe  wechselte.'^  Ihre  Verbindung  mußte  schon  1813  erfolgt 
sein,  da  Pichler  damals  schon  als  Mitarbeiterin  von  Fouqu^s 
'Musen'  erscheint,  ihr  Briefwechsel  scheint  aber  erst  1825  oder 
1826  begonnen  zu  haben. ^  Diese  Briefe  der  Pichler  sind  nicht 
bekannt,  von  den  Schreiben  des  Dichters  befinden  sich  zwei  in  der 
Autographensammlung  der  Wiener  k.  k.  Hofbibliothek,  wohin  sie 
aus  dem  Pichlerschen  Nachlaß  gekommen  sind. 

Fouque  an  Karoline  Pichler. 
1. 
Gnädigste  Frau, 
Die   Huld,    mit    welcher    Sie   meine    früheren    ehrerbietigen    Grüße    auf- 
genommen haben,  erweckt  mir  die  Dreistigkeit,  Sie  unterthänigst  um  einen 
gütigen   Rath   zu  bitten.     Ich   arbeite  an   einem   Trauerspiel:    Der   Jarl 


I 


1  Karl  Friedrich  Moritz  Paul  Graf  v.  Brühl  (1772—1837),  seit  1815 
Generalintendant  der  Königlichen  Schauspiele  in  Berlin. 

2  Das  Berliner  Theater  brannte  am  29.  Juni  1817  ab. 

'  Ein  eigentümlicher  Glückwunsch,  wenn  man  bedenkt,  daß  die  'Wiener 
Allg.  Literaturzeitung',  deren  Redakteur  Collin  von  1814  an  gewesen,  eben 
1818  einging.  Oder  sollte  hier  eine  Verwechslung  mit  den  1818  gegründeten 
'Wiener  Jahrbüchern  der  Literatur'  obwalten?  _ 

*  Randbemerkung  mit  Bleistift:   'praes.  12  t  May  818'. 

s  'Denkwürdigkeiten  aus  meinem  Leben  1769 — 1843',  hg.  von  E.  K. 
Blümml  ('Denkwürdigkeiten  aus  Altösterreich';  München,  Müller,  1914), 
II,  p.  226. 

6  Ebenda  II,  p.  547  Anm. 


Aus  dem  Lager  der  Berliner  Romantik  197 

der  Orkney -Inseln  geheißen,!  und  möchte  wohl  gern  einmal  ein 
Werk  von  mir  früher  auf  der  Bühne,  als  im  Druck  vor  der  Welt  er- 
scheinen lassen.  Hier  in  Berlin  hat  die  Opern-  und  Balett-Lust  die 
Repertoire  dergestalt  ueberhäuft,  daß  selbst  die  Wiederbelebung  meiner  von 
den  Flammen  verscheuchten  Undine,  obgleich  das  Publikum  mannigfach 
nach  ihr  verlangt  und  sie  doch  auch  ein  Opernkleid  anhat,  erst  im  Herbst 
dieses  Jahres  stattfinden  wird.*  Glauben  Sie,  daß  eines  der  Theater  Ihrer 
Kaiserstadt  sich  für  meinen  Jarl  interessiren  könnte,  so  bitte  ich  um  einen 
gütigen  Wink,  wie  ich  die  Sache  anzustellen  hätte.  Auf  jeden  Fall  möchte 
ich  die  einzuschickende  Abschrift  am  liebsten  erst  in  Ihre  Hand  senden. 
Dieser  Jarl  der  Orkney-Inseln  ist  mir  sehr  lieb,  und  deshalb  würde  es 
mich  freuen,  ihn  ehr,  als  jedem  Andern  in  dem  mir  sehr  theuern  Wien, 
einer  verehrten   Dichterin  vorzustellen. 

Hoffentlich  haben  Sie  ein  Exemplar  meiner  Gunlaugur-Saga'  erhalten, 
für  deren  schöne  Ausstattung  ich  der  Verlagshandlung  aufs  lebhafteste 
dankbar  bin. 

Voll  inniger  Hochachtung  habe  ich  die  Ehre,  zu  verharren  Gnädige  Frau 

Ihr  ganz  unterthäniger 
Berlin,  am  5ten  Maerz  1826.  La  Motte  Fouquö. 

Eine  gütige  Antwort  von  Ihnen  würde  mich  wieder  auf  dem  Lande 
finden:   zu  Nennhausen  bei   Rathenaw,  in  der  Kurmark  Brandenburg. 


Nennhausen  bei  Rathenaw,  in  der  Kurmark  Brandenburg 
am  23.  Nov.  31. 

Sie  werden  es  nun  schon  wissen,  gnädige  Frau,  wie  arm  und  umdüstert 
für  diese  Welt  Ihr  unglücklicher,  hier  unterzeichneter  Sanges  Freund 
geworden  ist,  durch  den  Tod  seines  Liebsten  auf  dieser  Welt.* 

Oft.  wann  die  Zäher n  so  recht  heiß,  und  just  eben  dann  doch  so  recht 
mild  und  kindlich  aus  meinen  Augen  strömen,  muß  ich,  auch  jetzt  noch 
unwillkürlich,  wie  staunend  ausrufen:  'Ach,  ich  hätt'  es  nicht  gedacht!' 
und  dann  fließen  die  Zähren  reicher  noch.  Ja :  'reich!'  Das  ist  das  rechte 
Wort  dafür,  denn  es  bringt  so  holde  Linderung  mit  diesen  Strömen  in 
meine  bis  an  den  Tod  wunde  Seele,  als  mit  den  irdischen  Strömen  Gold 
und  Erquickung  über  die  irdische,  paradiesverarmt-e  Welt.  — 

Ihrer  gütigen  Theilnahme,  gnädige  Frau,  eben  so  gewiß,  als  meines 
frommen  Leides,  hatte  ich  Ihnen  schon  vor  etwa  14  Tagen  durch  meinen 
Freund,  den  Buchhändler  Reimer^  in  Berlin,  eine  Denkschrift,  nur  für 
nähere  Theilnehmende  bestimmt,  zusenden  lassen.  Hoffentlich  sind  die 
ernsten  Kunden  schon  in  Ihrer  Hand.  Dann  gewiß  in  Ihrem  Herzen  auch.  — 

Das   beifolgende   kleine   Gedicht   bittet   um   Ihren    Schutz    für    die   Ein- 


1  'Der  Jarl  der  Orkney-Inseln',  Trauerspiel  in  5  Aufzügen,  Prag  1829. 

'  Der  erste  Komponist  der  'Undine'  war  E.  T.  A.  Hoffmann,  dessen  Ver- 
tonung großen  Erfolg  hatte,  durch  den  Brand  von  1817  aber  von  der  Bühne 
verschwand.  Später  unternahm  Fouquö  mit  dem  Kapellmeister  Karl 
Girschner  eine  vollständige  Umarbeitung,  die  aber  erst  1837,  und  zwar  in 
Danzig  ein  einziges  Mal  zur  Aufführung  gelangte.  {'Lebensgeschichte  von 
Fouqug',  p.  345  f.) 

'  'Die  Sage  von  dem  Gunlaugur,  genannt  Drachenzunge  und  Rafn  dem 
Skalden.'     Wien,  Anton  Pichler,  1826. 

*  Tod  seiner  Frau,  der  Dichterin  Karoline  Fouqu6  geb.  Briest,  gestorben 
11.  Juli  1831. 

5  Georg  Andreas  Reimer,  der  bekannte  Buchhändler  in  Berlin. 


198  Aus  dem  Lager  der  Berliner  Romantik 

rückung  in  irgend  ein  Wiener  Blatt,^  nebst  der  hinzugefügten  Anmerkung, 
durch  die  unwillkürliche  Verspätung  wol  nothwendig  geworden,  überhaupt 
wol  aber  auch  beachtenswerth  als  Zeichen  der   Zeit.  — 

Ihre  mir  verheißne  Dichtung  hat  mir  Herr  Liebeskind  in  Leipzig'  bis 
heute  noch  nicht  gesendet.  Meine  Tochter  Maria'  und  ich  sehe  verlangend 
darnach  aus. 

Bald  hoffe  ich  durch  eine  Anstellung  im  Kriegs-Dienst  den  Unbilden 
der  heutigsten  Druckwelt  enthoben  zu  sein,  nimmer  aber,  will's  Gott,  treu- 
los zu  werden  dem  Umgang  der  Muse.  Sie  besucht  mich  in  meiner  Trauer 
hold  und  reich.  Ueber  meinem  Grabe  mögen  die  Blüthen,  welche  sie  mir 
bringt,  auch  einst  aufgehn  für  die  Welt.  — 

Voll  der  innigsten  Verehrung  Ihr  ganz  unterthäniger 

La  Motte  Fouquß. 

Budapest.  Arthur  Weber. 


1  über    dieses    Gedicht   und    seine    Erscheinung    konnte    nichts    Näheres 
festgestellt  werden. 

2  August  Liebeskind,  Buchhändler  zu  Leipzig. 

3  Fouqu^s  1803  geborene  Tochter  Maria  Luise  Caroline. 


Die  Reimsprache  der  sog.  kentisehen 
Fassung  der  'Sieben  weisen  Meister'. 

Die  sog.  kentische  Fassung  der  'Sieben  weisen  Meister'  (B  ran  dl, 
Pauls  Grdr.  11,  1.  S.  635,  Körting,  Grundr.^  §  717)  hat,  wie 
schon  K  öl  hing  (Ausg.  des  Arthour  und  Merlin,  altengl.  Bibl.  4, 
Leipz.  1890,  S.  LXXXVI  f.)  erwähnt,  viele  sprachliche  Eigentüm- 
liclikeiten  gemeinsam  mit  Arthour  u.  Merlin,  Kyng  Alysau7ider 
(Hs.:  0  =  Land  622,  Oxford;  L  =  Lincoln's  Lm  150,  und  Auchin- 
leck-Hs.,  fragment,  ed.  Weber,  Metr.  Romances  I,  Edinb.  1810, 
nach  0)  und  Richard  Löivenherx.  Brandl  (a.  a.  0.)  reiht  diese 
Denkmäler  ihrer  Sprache  wegen  unter  die  kentischen,  Morsbach 
[Me.  Oram.  S.  10)  unter  die  dem  Kentischen  verwandten  ein,  wäh- 
rend neuerdings  W.  Heuser  {Alt-Lo?idon,  Osnabrück  u.  Straß- 
burg 1914)  die  Sprache  als  Londonerisch  bezeichnet.  Bezüglich 
des  Richard  verweise  ich  auf  die  Darstellung  in  meiner  Ausgabe 
dieses  Romans  (Wiener  Beiträge  f.  engl.  Phil.  42,  S.  37  f.,  bes. 
S.  48),  worin  die  Berücksichtigung  der  gesamten  Überheferung  die 
Ergebnisse  der  Untersuchung  Kölbings  korrigiert.  Abschriften  aller 
Hss.  der  Sieben  weisen  Meister,  die  ich  in  HinbHck  auf  eine  Text- 
ausgabe 1914  herstellte  (A  =  Auchinleck-Ms.,  Ar  =  Arundel-Ms. 
140,  fragmentarisch,  E  =  Egerton  Ms.  1995,  B  =  Hs.  Balliol 
College,  Oxford,  354,  F  =  Hs.  Ff.  H— 38  der  Univ.  Bibl.  Cam- 
bridge) ermöghchen  mir  eine  ähnhche  Korrektur  bezüglich  dieses 
Denkmals.  Die  Untersuchung  des  Hss.-Yerhältnisses  durch  Killis 
Campbell  {Study  of  the  romance  of  the  Seven  Sages.  Diss. 
Baltimore  1898,  auch  in  Publ.  Mod.  Lang.  Ass.  of  Am.  XIV, 
1899,  S.  1 — 107)  und  in  seiner  Ausgabe  der  nördl.  Version  [Alhion 
Series,  Boston  1907,  S.  XL  f.),  der  ich  nichts  hinzuzufügen  habe, 
ergibt,  daß  A  und  Ar  eine,  E  und  B  eine  zweite  Gruppe  von  Hss. 
sind,  während  F  selbständig  eine  dritte  darstellt,  eine  bis  zum  Be- 
ginn der  13.  Erzählung  überhaupt  sehr  freie  Bearbeitung,  welche 
die  Reihenfolge  der  Geschichten  ändert,  neue  einführt  und  vor 
allem  sehr  kürzt.  Ich  betrachte  daher  in  zwei  dieser  Gruppen 
gleich  überlieferte  Reime  als  höchstwahrscheinhch  original,  wobei 
ich  jedoch  F  erst  vom  Beginn  der  13.  Erzählung  benütze.  Das 
Ergebnis  ist  (Verszählung  nach  A  oder  Ar): 

1.  Reimtechnik. 

A.  Konsonantisch  unreine  Reime:  Verschiedene  Nasale  reimen  unterein- 
ander man-.came  Ar  215,  665;  ioun-.costom  A  2213;  versch.  Zischlaute 
broth  :  therof  A  961,  dissche :  ywis  Ar  978,  1016;  verwandte  Dentale  tcot: 
maidenhod  A  326. 

B.  Vokalisch  unreine  Reime:  Vernachlässigung  der  Vokalquantität  wahr- 
scheinlich in  men  :  sleen  A  384,  therinne  :  steine  (Schwein)  A  750,  liuind  :  fi?id 


200  Die  Roimsprache  der  sog.  kent.  Fassung  der  'Sieben  weisen  Meister' 

A  2245,  isitvyse  Ar  2575  (doch  hier  Quantitätsausgleich  möglich;  Luick, 
Unters,  x.  engl.  Lautgesch.  §  419;  Morsbach,  Areh.  C,  S.  TOf.);  wahrschein- 
lich Kürzung  des  langen  Vokals  in  vpon  :  doti  (Inf.)  A  240,  anon  :  vpon  A  730, 
Ar  2393,  euerychone  :  on  Ar  283,  lemman  :  anone  A  2339,  men  :  ajen  A  714, 
1069,  1137,  uimmen :  ajen  A  662,  tenimen  Ar  1965;  Vernachlässigung  der 
Vokaliqualität  (außer  gemein-me.  g :  ö  und  ^ :  f  im  Auslaut)  bei  Reimen  von 
^ :  e  im  Inlaut  teß  :  dep  A  805,  quen  :  sien  A  935,  rede  {read) :  glede  (gled)  Ar  934, 
grete  :  jete  {gut)  Ar  2527,  lere  {Imran) :  here  {hieran)  E  3342  (belegt  EF),  dann 
au :  pu  in  owe  {aice)  :  elbowe  A  1753.  Nur  scheinbar  unrein  sind  bifel  (ae. 
bifeoll  prät.  sing.) :  Aueril  A  945  wegen  der  auch  von  Chaucer  benutzten 
Kürzungsform  mit  i  (siehe  Wild,  Spracht.  Eigentümlichkeiten  der  wichtigsten 
Chaucer-Hss.  Wiener  Beitr.  44,  S.  135  f.),  dann  here  (ne.  hair) :  tere  (prät. 
sing,  zu  teran)  A  344  wegen  möglicher  Analogieform  an  das  Prät,  Plur.  und 
hale  (ae.  hälo) :  tale  Ar  491  wegen  möglicher  früher  Kürzung  und  späterer 
Dehnnng  (siehe  Wild,  a.  a.  0.  S.  71  als  Erklärung  entsprechender  Schrei- 
bungen in  Ch.-Hss.) ;  weiteres  afterward :  lord  A  1675,  1.  louerd.  Reime  von 
ü-:ö  kommen  wie  in  anderen  südl.  Denkmälern  vor:  bilwuep  :  louep  Ar  911, 
sone  {sunu) :  done  (Inf.)  A  1121,  :  mone  Ar  2570.  In  conie  (prät.  Sing.) :  Rome 
A  2263  kann  die  Analogieform  com  vorliegen  (Luick,   Unters.  §  584). 

2.  Reimsprache. 

1.  Vokale  in  HochtonsUben.  Die  Vokal  Quantität  ist  wegen  ihrer  Vernach- 
lässigung im  Reim  nicht  genau  festlegbar. 

Vokalqualität.  Wg.  a  >  ws.  cb  gebunden  mit  a  in  fast :  käst  (an  kasta) 
A  310;  mit  e  in  had  :  bed  Ar  610.  Wg.  a  >  ws.  ea  neben  Palatal  reimt  mit  a  in 
gute :  abate  (frz.  abaitre)  Ar  1899,  doch  ae.  Plur.  gaiu  neben  Sing.  geat.  Wg. 
a  >  WS.  ea  vor  r  -f  Kons,  reimt  mit  a  in :  scharp  :  carp  (an  karpa)  A  2438,  mit  e 
in  yyiark  :  derk  (ae.  deorc)  A  1464,  sterc  :  icerk  A  1989.  Wg.  a  vor  Nasal  reimt 
1.  vor  gedeckter  Nasalis  m.  o  in  lemman :  anone  Ar  2339 ;  2.  vor  Nas.  in 
offener  Silbe  mit  a  in  schäme -.blame  Ar  1586,  -.dame  A  1658,  2014,  2125, 
2498;  name-.fame  A  1097,  2207,  :  Jawe  (Eigenn.)  Ar  1535.  Wg.  a  vor  Z  -f 
Kons.  >  WS.  ea,  angl.  a  reimt  mit  e  in  helde :  weide  A  1433 ;  ohne  Dehnung  helue 
:  seine  A  251,  bihelue  :  himselue  A  192.  Ae.  ce  -\-  g  >  ws.  es  reimt  gew.  mit 
gemein-me.  ai,  so  seid :  ipaied  A  100,  1483,  2083,  :  itraid  A  1581 ;  aber  auch 
mit  e  in  ised :  red  A  1780.  Ae.  e  -\-  g  >  ws.  S  in  ongegn,  ws.  ongeän,  ongen 
liegt  folgenden  Reimen  zugrunde:  ajen-.tvimmen  A  663,  -.men  A  715,  1138. 
Für  die  gemein-me.  Form  mit  ai  keine  Reime.  Palatal  +  wg.  e  reimt  mit  e  in 
jelp-.help  A  1160,  scheid:  held  Ar  1901;  mit  i  in  bijete :  wite  (Konj.  Präs.) 
A  918,  (Inf.)  939,  955;  forjet :  wryt  (Part.  Prät.)  Ar  2219,  jeue  {Iiii.):lyue 
(Inf.)  Ar  2005,  doch  ist  hier  auch  e  möglich  (von  ae.  leofast,  leofast,  vgl. 
Sievers,  Ägs.  Qram.^  §  416  A.  2b,  Bülbring,  AI.  Eletn.  Buch  §  235—239). 
Umlaut  von  u  >  ae.y  in  geschl.  Silbe  reimt  mit  e  in  hid  (prät.  zu  hydan) :  bed 
A  69,  147,  feile  (fyllo)  :  asmelle  A  759,  kynde  :  ende  Ar  373,  :  sehende  A  1659, 
:  ende  Ar  1528,  sinne :  heniie  A  1176,  knet  (zu  cmjttan) :  ifet  A  1382,  list  (zu 
lystan) :  best  A  1521,  hei  {hyll) :  tvell  A  2277,  jschet :  set  Ar  2075,  fullfyll :  teil 
Ar  2528,  hirie  (afrz.  ü,  hurter) :  smerte  A  134;  mit  i  in  rigge:ligge  A  791, 
sy7ie  :  winne  Ar  704,  fullfyll :  tinjll  Ar  2436,  gylt  (ae.  gylt  sb.) :  tvylt  Ar  2536. 
In  offener  Silbe  reimt  es  mit  e  in  dide  istede  Ar  2147,  iuel :  detiel  A  739.  Wg. 
ai  >  ae.  ä  reimt  ausnahmslos  mit  g  und  ö,  Beispiele  zahlreich.  Wg.  ai  >  ae. 
ä  -\-  g,  w  reimt  mit  au  in  aknaice :  drawe  A  920,  thraive :  drawe  A  708,  awe 
:  latve  A  1476.  nought  (ae.  Tiäiviht)  reimt  mit  au  und  ou  z.  B.:  bicaujt  A  1157; 
broujt  Ar  477.  Ae.  ä  (<  wg.  ai  mit  «-Umlaut)  reimt  gekürzt  mit  a  in  lasse 
-.passe  A  1172,  neuyrthelasse  :  solas  Ar  2320,  nepeles  :  was  Ar  2184  (stets  mit 
a,  siehe  später),  last :  hast  (Subst.)  A  1132.  (}ot.  e,  wg.  ä  >  ws.  ^,  angl.  kent.  S 
reimt  bis  auf  streie  {strttkt) :  het  (ae.  het,  Prät.  zu  hätan)  Ar  404  stets  mit  f 
verschiedener  Herkunft  in  sptche :  teehe  A  14,  wede :  siede  (ae.  stede)  A  607, 


Die  Reimsprache  der  sog.  kent.  Fassung  der  'Sieben  weisen  Meister'    201 

eue  {mfm) :  leue  A  739,  red.  {rcBd) :  ded  A  1161,  2150,  :  lede  A  2391  usw.  Ge- 
kürzt reimt  es  mit  Kürzung  aus  ae.  «  in  dmd  (Prät.) :  mad  A  770.  Reime 
mit  nede  {dede  :  nede  A  1318,  rede  :  nede  A  1623,  Ar  1796)  lassen  keine  Schlüsse 
zu  wegen  ae.  nead  neben  nied,  ned,  siehe  NED.  Ae.  pär  reimt  als  pere 
(gemein-me.)  :  forbere  E  2903  (belegt  EBF),  dann  als  pare :  kare  A  1347.  Got.  e, 
wg.  ä  nach  Palatal  >  ws.  eä,  angl.  kent.  e  reimt  mit  e  in  yere  (Jahr) :  dere 
F  2386  (belegt  FB).  Wg.  au  >  ae.  Sa  +  t-Umlaut  >  streng  ws.  U,  angl.,  kent. 
und  sächs.  Patois  e  reimt  nur  mit  e  in  here  :  ehere  A  11,  :  7nanere  A  177,  2202, 
poivere  A  1425,  -.lere  E  3343  (belegt  EF),  herde:ferde  A  1311,  1365.  Ae.  te 
in  gtet  (Herkunft  unklar,  Sievers,  Ags.  Gramß  §  74,  A.  1)  reimt  mit  e  in 
jete  :  grete  (groß)  Ar  2528.  Ae.  e,  eo,  ea  (mit  Ebnung)  +  g,  h,  an.  eyj  in 
deyja  (sterben)  reimt  1.  mit  ai  in  neghj :  sfeghj  (Prät.  *steah  st.  stäg)  A  773, 
bewraid  :  biiraicl  A  1889,  hyje  (heah) :  seje  {seah)  Ar  2130,  daide  (starb) :  laide 
(legte)  A  2449;  2.  mit  *  in  lie  (lügen) : /?a/ene  A  2022,  :  pie  (Elster)  A  2085, 
2146,  :  signifie  A  2275;  :  Hongry  Ar  2032,  ye  (Auge)  :  hy  (Eile)  E  3197  (belegt 
EF).  Umlaut  von  il  >  ae.  y  reimt  1.  mit  e  in  /es^  (/^«O  •  ^^^^^  -^  342,  /er 
•.gardiner  A  1632,  1640,  :  ihere  A  1738,  :  .s^oe/er  A  2471,  :  eher  A  2501;  2.  mit 
i  in  pride  :  side  A  472,  Ute  :  i'tszVe  A  1003,  :  respite  Ar  55,  :  profite  A  1038, 
'.sodomite  A  1429,  •.smite  A  2565. 

2.  Vokale  in  Nebentonsilben.  Für  Veränderungen  der  Vokale  unter  starkem 
Nebenton  keine  Reimbelege.  Aussprache  eines  End-e  nirgends  für  den  Reim 
erforderlich. 

3.  Konsonanten.  Ae.  p  reimt  mit  d  in  ded  (deap) :  red  (Rat)  A  1394, 
Ar  2009,  wie  auch  in  anderen  Dichtungen  (siehe  meine  Richard- Ausg.  S.  29). 
Über  Reime  von  § :  s  siehe  vorn.  Die  Adverbialendung  reimt  als  -lieh  in 
sikerlich  :  suich  A  1392,  n-onderlich  :  rych  Ar  2328,  preuelich  :  lieh  Ar  2360; 
als  -li  in  sikeli :  ivhi  A  142,  2299,  :  redy  Ar  2266,  :  lotebi  A  1310. 

4.  Flexivisches.  Dat.  Sing,  von  mayi  reimt  wahrscheinlich  als  men :  ajen 
A  1137.  Plurale  auf  -n  reimen  in  fon :  tion  A  736,  :  anon  A  1884.  Pron. 
Pers.  reimt  in  scho  (1.  sehe) :  fre  Ar  2045  wie  gemein-me.  Verbum  :  Ind.  Präs. 
3.  Pers.  Sing,  nur  mit  der  Endung  -ep  in  doth :  soth  A  130,  bep :  tep  A  2575. 
Part.  Präs.  mit  -ing  in  habbyng  :  icit^iessing  (Verb.-Subst.)  A  558;  mit  -ind 
in  liuind :  find  A  2245.  Inf.  in  mehrsilbigen  Formen  stets  endungslos,  ein- 
silbig mit   oder   ohne  w  in   zahlreichen  Beispielen.     Der  Präsensstamm  der 

2.  schw.  Konj.  wird  ohne  -i-  gebildet  (zahl.  Beisp.)  bis  auf  die  analog.  Form 
waranty  :  amy  (afrz.  ami)  Ar  1917.  Das  Part.  Prät.  der  starken  Verba  ist  bis 
auf  boren :  com  (Subst.)  A  1058  in  mehrsilbigen  Formen  stets  endungslos,  in 
einsilbigen  ist  -n  gewöhnlich  erhalten:  igo^i :  non  A  1056,  1630,  :  anon  A  644, 
lain : puteyn  A15ß6,  idon:euerichon  A  1799,  misdon -.non  A  1964:,  done:anon 
Ar  2345,  2454;  aber  endungslos  ido :  therto  A  460,  :toA905,  2580,  :mo 
A  1858,  vndo  :  to  A  1803,  ybee  :  me  E  3349  (belegt  EF).  Ausgleich  zwischen 
Sing,  und  Plur. -Vokal  im  Prät.  ist  durch  Reime  nicht  zu  belegen;  der  Sing.- 
Vokal  ist  noch  nicht  an  den  Plur.  angeglichen  in  spak :  blac  A  1846,  fond 
:  hond  A  2155.  stale :  s?nale  A  1988  ist  die  'Kompromißform'  mit  Vokal- 
qualität des  Sing,  und  Quantität  des  Plurals,  jeue  (Part.  Prät.)  :  leue  Ar  2233 
die  auch  sonst  belegte  Analogieform,  siehe  Cornelius,  Palatalisierung 
(Morsbachs  Studien  30),  S.  19.  Ae.  habban  reimt  als  kabbe  :  gabbe  A  1610, 
als  haue-.knaue  Ar  37,  2142  und  E  3396  (belegt  EF);  libban  als  libbe-.sibbe 
A  154,  iribbe  A  1437;  als  liueiidrzue  A  1530,  -.jene  Ar  2004;  licgan  als 
ligge :  rigge  A  792 ;  secgan  als  sai :  dai  1588.     Vom  Verb.-Subst.  lautet  die 

3.  Pers.  Präs.  Ind.  Sing,  bloß  is  (zahlreiche  Beispiele),  die  3.  Pers.  Präs.  Konj. 
Sing,  be  (:  he  Ar  2105),  die  3.  Pers.  Prät.  Ind.  Sing,  tvas  (zahlreiche  Beispiele), 
der  Plur.  Prät.  were  (:  bere  A  38,  Ar  2316,  :  dere  B  3587,  belegt  BF).  Von 
Prät.  Präs.  stehen  im  Reim  von  cunnan  conne  (hxi.) :  sonne  (Sonne)  A4, 
(Konj.  Präs.)  :  sonne  (desgl.)  A  1030;  von  magan  mag  (Präs.  Konj.) :  rfay 
Ar  1520;  von  möt  mote  (Präs.  Plur.) :  böte  (Subst.)  A  1442. 


202     Die  Reimsprache  der  sog.  kent.  Fassung  der  'Siebe»  weisen  Meister' 

In  der  Reimtechnik  weichen  also  die  'Sieben  weisen  Meister' 
von  den  besser  reimenden  me.  Dichtungen  im  kurzen  Eeimpaar  bis 
auf  den  vereinzelten  au :  o^^-Reim  nicht  ab,  sie  ist  ähnUch  der  im 
R(ichard),  aber  bedeutend  besser  als  im  A(rthour)  und  M(erlin)  und 
(Kyng)  A(lysauudre).  Siehe  die  Zusammenstellung  auf  S.  31  f. 
meiner  R-Ausgabe. 

Sprachlich  unterscheiden  sich  die  'Sieben  weisen  Meister'  vom 
R.  bloß  geringfügig  {ongen  ist  im  R.  nicht  belegt,  in  den  'S.  w.  M.' 
die  Formen  mit  ai  nicht;  pore  einmal  im  R,  jare  für  jeär  ein- 
mal im  R;  i/  im  R  gewöhnlich  e,  seltener  ?,  in  'S.  w.  M.'  um- 
gekehrt; -liehe  im  R  nur  einmal,  neben  seltenem  -lik  und  gewöhn- 
Uchem  -ly,  hier  -liehe  neben  seltenerem  -ly  die  gewöhnliche  Form; 
die  3.  Pers.  Sing.  Präs.  auf  -s,  die  im  R  einmal  vorkommt,  nicht 
in  'S.  w.  M.';  Part.  Präs.  -end  und  wes  für  was,  je  einmal  im  R, 
neben  -ing  und  -ind  wie  in  'S.  w.  M.'  hier  nicht,  Eindringen  des 
Sing.-Vok.  in  den  Plur.  Prät.  d.  st.  Verba);  man  kann  also  als  be- 
wiesen ansehen,  daß  diese  beiden  Dichtungen  den  gleichen 
Sprachgebrauch  in  ihren  Reimen  zeigen.  Anders  bei  AM  und 
A;  siehe  hierüber  Kölbings  Darstellung  in  der  Einleitung  seiner 
AM-Ausgabe,  die  ich  für  A  durch  Ausscheidung  aller  nicht  auch 
in  Hs.  L  gleich  wie  in  0  überlieferten  Reime  korrigiere.  Die  Kol- 
lationen beider  stellte  mir  Prof.  Brandl  seinerzeit  zur  Verfügung. 
Hierbei  ergibt  sich: 

1.  Vokalismus:  Wg.  a  >  ws.  cb  ist  a  bis  auf  gres  -.pres  {in. presse)  AM  7972. 
Wg.  a  >  WS.  ea  neben  Palatal  reimt  mit  a  in  jare  (jearu)  :  fare  (ae.  faran) 
AM  1423,  2357,  3694,  A  1187;  mit  e  in  schaß:  laß  AM  7457,  dann  togedre 
(ae.  togcedere)  :  ivedre  A  3741,  6084.  Wg.  a  >  ws.  ea  vor  r  +  Kons,  läßt  sich 
in  AM  und  A  hinsichtlich  seiner  Lautqualität  nicht  festlegen,  weil  hier  auch 
sicheres  me.  a  mit  sicherem  e  vor  r  reimen.  Wg.  a  vor  Nasal.  Vor  ge- 
decktem Nasal  bloß  Selbstreime  oder  solche  mit  Eigennamen,  vor  Nas.  in 
offener  Silbe  bloß  a.  Wg.  a  vor  /  >  ws.  ea,  angl.  a  reimt  mit  Dehnung  im 
A  mit  e  oder  o,  im  A  bis  auf  einen  Fall  stets  mit  e.  Ohne  Dehnung  in 
AM  und  A  bloß  mit  e.  Ae.  ce  -\-  g  >  ws.  «  in  sade  kommt  neben  Formen 
mit  ai  vor.  Über  Reime  von  smde  mit  ae.  a  in  offener  Silbe  und  ai  :  oi- 
Reime  siehe  später.  Ae.  e  -\-  g  >  ws.  e  in  ongegn,  ws.  ongeän,  ongen  reimt 
in  AM  und  A  häufig  mit  e,  e  und  gelegentlich  mit  a.  Palatal  +  wg.  e  reimt 
mit  i  in  giefan  und  gietan,  mit  e  in  gieldan,  gielpan.  Mit  i  reimt  auch  ae. 
genge.  /-Umlaut  von  tc  >  ae.  y  reimt  mit  e,  seltener  mit  i.  Wg.  ai  >  ae.  ä 
reimt  ausnahmslos  mit  g.  Die  von  Kölbing  verzeichneten  Reime  mit  a  sind 
teils  Eigennamen,  drof-.gave  A  3896  ist  in  L  anders  überliefert,  on:ojan 
AM  3630  und  nan  :  ojan  AM  6263  sind  wohl  Kürzungsformen,  mare  :  fare 
AM  69  kann  auf  ae.  m^ra  zurückgehen  und  ein  «  :  ä-Reim  sein,  abade  :  sade 
AM  6423  ist  wohl  irgendwie  verderbt.  Wg.  ai  >  ae.  ä  -\-  g  oder  w  reimt  ge- 
wöhnlich mit  au,  im  AM  zweimal  mit  ou.  nought,  ought  reimt  mit  au  und 
ou.  Got.  e,  wg.  ä,  WS.  <«,  angl.  kent.  e  reimt  mit  q  und  e,  die  im  Reim  nicht 
geschieden  werden.  Über  Reime  mit  me.  ä  siehe  später.  Got.  e,  wg.  ä  neben 
Palatal  >  ws.  eä,  angl.  kent.  e  reimt  mit  e,  in  ws.  jcär  auch  mit  a  in  jare 
■.fare  AM  6771.,,  Ae.  e.  So,  ea  (mit  Ebnung)  -f-  g,  h,  an  eyj  in  degja  reimt 
mit  ai  und  t.  Über  den  Reim  sleije :  anuye  (ne.  annoy)  A  9  f .  siehe  später. 
7-Umlaut  von  ü>  SiG.y  reimt  im  A  ziemlich  gleich  häufig  mit  t  und  e,  ein- 


Die  Reimsprache  der  sog.  kent.  Fassung  der  'Sieben  weisen  Meister'    203 

mal  mit  frz.  ü  in  füre :  dure  4323 ;  im  AM  häufiger  mit  e,  seltener  mit  T. 
Reime  von  ae.  u- :  ö  kommen  gelegentlich  vor.  Reime  mit  Abschwächung 
von  Vokalen  unter  starkem  Nebenton  und  mit  ausgesprochenem  unbetontem 
End-e  kommen  nicht  vor.  Auffallend  sind  aber  Reime  von  me.  ai  ver- 
schiedener Herkunft  mit  afrz.  oi,  ui  und  zw.  byurye  {biirreyan) :  boye  A  4377 
(ev.  nicht  ne.  boy,  sondern  boie,  Henker,  nach  NED  und  Diez  mit  afrz.  buie 
'Kette'  in  Zusammenhang  zu  bringen),  seide :  anoycd  A  877,  1288,  1599,  1668, 
2941,  3087,  4159,  AM  7226,  day  :  anoy  AM  7080,  7263,  sleije  {sleah)  :  anuye 
A  9,  neije  {neah)  :  anoye  A  6116,  dye  (sterben) :  anoye  A  6569.  Dann  Reime 
von  me.  f  >  ae.  <b  =  wg.  ai  +  /-Umlaut  und  ws.  ce,  angl.  kent.  e  <  ws.  ä, 
got.  e  mit  me.  ä  <  ae.  a  in  offener  Silbe  oder  frz.  a  und  zw.  seide.  (1.  sede) 
:  made  A  524,  7339,  AM  526,  1358,  1872,  2398,  clanc  (ae.  däne) :  mane  (ae. 
manu)  A  2228,  arerith  :  farith  A  4077,  rade  (ae.  rcedan)  :  made  A  4649, 
AM  4258,  5016,  6118,  hale  (ae.  hcelo) :  tale  AM  30,  hapen  (ae.  h^pen)  :  matpcn 
(zu  ae.  maäa)  AM  483  und  8107,  :  scapcn  (zu  ae.  scaäa)  AM  6718,  7004,  7012, 
7511,  -.bapen  (ae.  bapian)  AM  6813,  9918,  ferrade :  yludc  AM  1788,  8583, 
:  made  AM  3528,  rade  (ae.  rted)  :  ymade  AM  62,  1601,  2048,  2824,  2860,  4117, 
slapc  :  ape  AM  814,  sade  (ae.  sM) :  made  AM  936,  forlate  (ae.  forlMan) :  gate 
A]\I  1310,  bilaue  {belcefan) :  haue  AM  1999,  dale  (ae.  dml)  :  smale  AM  3835, 
mast  (ae.  m^st) :  bast  (afrz.  bast)  AM  4443,  aue  (ae.  ^fen) :  haue  AM  5381, 
grade :  made  AM  7118.  Weitere  Reime  mit  frz.  haste,  die  auch  in  anderen 
Denkmälern  vorkommen  (vgl.  Behrens,  Z.  Oesch.  d.frx.  Spr.  in  Engl.,  S.  75), 
so  daß  an  Beeinflussung  durch  ae.  hmst  zu  denken  sein  könnte,  nämlich  mast 
:  hest  A  1417,  AM  115,  1725,  2213  u.  ö.,  best :  hast  A  3396,  fairest :  hast  A  5242 
und  Reime  mit  Prät.,  wo  'Kompromißformen'  (Vokalqual,  des  Sing.,  Quantität 
des  Plurals)  möglich  sind,  spake  :  ytake  A  2922,  :  lake  A  5310,  bispake :  take 
AM  2505,  :  rake  (ae.  racian)  AM  8037,  bare  :  care  A  5452,  :  ivare  (ae.  warian) 
AM  1686,  jaue:  staue  A5842,  bade -.made  AM  376,  quape:rape  AM  1592,  8027. 
Endlich  Reime  von  i  mit  e,  z.  B.  skile  :  iiele  (z.  helian)  A  439  f.,  deine  :  ivithinne 
A  5928,  seile  :  stille  AM  1300  f.,  ivesche  :  yivis  AM  2583  und  zahlreiche  Reime 
mit  iville  wie  seile  :  wille  A  3724  f.,  wille  :  teile  A  5042  f.  u,  a.,  aber  auch  ver- 
einzelt von  t:e  wie  stedc-.ride  A  2237,  wide:glede  AM  1499.  Reime  von 
gekürztem  e  :  *  und  i  :  e  auch  wo  Kürzung  kaum  eingetreten  ist  (qwede  :  niyde 
A  8020,  jede  :  myde  A  4780,  5772,  6832,  AM  4859,  5267,  stille :  castel  AM  1973) 
sind  häufig. 

2.  Konsonantismus.  Ae.  deap  reimt  im  AM  zweimal  mit  d.  Me.  S  reimt 
häufig  mit  s. 

3.  Flexion.  Plurale  auf  -n,  endungslose  und  umgelautete  Plurale  stehen 
häufig  im  Reim.  Von  den  Verbalendungen  erscheinen  die  3.  Pers.  Sing.  Ind. 
Präs.  mit  -p  und  gelegentlich  mit  -s,  der  Ind.  Plur.  auf  -p,  oder  er  ist  endungs- 
los {-n  ist  stellenweise  möglich,  aber  nirgends  nötig;  solche  auf  -s  sind  mit 
Kölbing,  a.  a.  0.  S.  XCIII,  nicht  beweisbar).  Plui-.  Konj,  Präs.,  Prät.  Plur., 
Indik.  und  Part.  Prät.  sind  endungslos;  in  Reimen  mit  Subst.  im  Plur.  wäre 
stellenweise  ein  -n  möglich.  Einsilbige  Inf.  u.  Part,  reimen  mit  und  ohne  -n. 
Das  Part.  Präs.  endigt  auf  -iyig  und  -ind.  Der  Präs. -Stamm  der  zweiten 
BW.  Konj.  hat  gelegentlich  das  -i-  bewahrt,  auch  kommen  analogisch  frz. 
Verba  mit  -i-  vor.  Die  Ablautsstufe  des  Prät.-Plur.  ist  vom  Sing,  ver- 
schieden bis  auf  fleyje  (z.  fleogan)  :  cyje  (Augen)  A  2360,  stoive  (z.  stlgan) 
ibowe  (boga)  A  1209,  schof-.grof  AM  8780.  Ae.  bycgan  reimt  als  abuyne 
•.reyn  A  2992,  als  abuyge-.egge  {ae.  ecg)  A  2971,  abigge :  flegge  (schrecklich, 
vgl.  ae.  fleegan)  AM  3364.  —  habhan  als  habbe :  gabbe  (an  gabba)  A  312, 
idahbe  A  2305,  2793,  7303,  habben  (Präs.-Plur.) :  tmiien  {ae.  crabba,  Plur.) 
A4982,  :pra66e  A4966;  als  haue  :  knaue  A413,  :  bilaue  {bil^fan  Inf.)  A2000, 
:  awe  («/en)  A  5382.  —  libban  als  libbe  :  sibbe  A  bOSQ,  5983,  6328,  :  ribbe 
A7965,  AM  8192;  als  lyue  :  forjeue  A  IGll ,  AM  1589,  :  jiwe  AM  2455,  4147, 
4154,  4912,  6576,  6569,  8961,  :  dryuen  A  5730.  —  lecgan  bloß  als  legge :  egge 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    140.  _[^ 


204     Die  Reimsprache  der  sog.  kent,  Fassung  der  'Sieben  weisen  Meister' 

A  3662,  AM  2026,  6426,  7466,  u.  ö.  —  lecgan  als  legge :  egge  A  3662,  AM 
2026,  6426,  7466,  9086  u.  ö.  —  seegan  als  segge :  egge  A  1839,  2151,  :  brigge 
AM  7730,  7794;  als  sag  sehr  oft.  Vom  Verb,  subst.  reimt  die  3.  Pers.  Sing. 
Ind.  Präs.  als  is,  die  1.  u.  3.  Pers.  Sing.  Ind.  Prät.  als  was  und  im  AM 
\iermal  als  wes,  der  Plur.  u.  d.  Konj.  Prät.  als  were  und  wäre.  Von  den 
Prät.  Präsentien  und  Anomalen  stehen  im  Reim  von  icitan  des  Präs.  Plur. 
loite  :  bijete  AM  4561  und  6474;  von  cimnan  des  Präs.  Plur.  conne  :  nonne 
AM  1191;  von  dearr  bloß  die  2.  Pers.  Sing.  Präs.  darst :  arst  {^rcst)  AM  1089; 
von  seulan  das  Plur.  Präs.  sehidlc :  falle  AM  8424;  von  mag  an  das  Plur. 
Ind.  Präs.  mowe  :  avowe  A  3452,  6323,  AM  946,  mag  :  dag  A  144,  AM  74, 
:  Tholomcg  A  7505;  das  Konj.  Präs.  mow  :  avowe  AM  1051;  mot  bloß  das  Plur. 
Präs.  tnote  :  böte  AM  3411. 

Die  zwei  Dichtungen  zeigen  also  alle  spracbliclien  Eigentüm- 
lichkeiten der  'S.  w.  M.'  und  des  R,  darüber  hinaus  aber  noch  die 
Formen  ogan,  togedere,  dann  vor  allem  Reime  von  e :  a  vor  r,  von 
cd :  oi,  ae.  <s,  d:ä,  l:e  und  zahlreicher  gekürzter  e  :  ^.  Die  Sprache 
aller  vier  Denkmäler  unterscheidet  sich  deutlich  von  strengkentischen 
(siehe  die  Zusammenstellung  in  meiner  R- Ausgabe  S.48);  die  Sprache 
der  'S.  w.  M.'  und  des  R  unterscheidet  sich  von  der  Chaucers  bloß 
in  folgendem:  vereinzeltes  e  für  ae.  <^,  Vorkommen  der  Form  sede 
statt  Saide,  au  <  ö  -\-  w,  g  und  das  Part.  Präs.  auf  -ind.  Dies  alles 
sind  Formen,  die  in  London  zwar  nicht  unbekannt  waren  und  die 
bloß  der  auf  Sprachreinheit  bedachte  Chaucer  gemieden  hat.  Doch 
findet  sich  gres  für  gras  in  Ch.-Hss.  (Wild,  a.  a.  0.  S.  42)  und 
Londoner  Kirchenurkunden  (W.  Zopf,  Zimi  Sprachgebrauch  in 
den  Kirchen-  Urkunden  von  St.  Mary  at  Hill,  London.  Berl.  Diss. 
1910,  S.  20).  Bis  zur  Londoner  Proklamation  Hemrichs  IIL  (1258) 
scheint  sich  überhaupt  der  Lautwert  c?  erhalten  zu  haben  (E.  Dölle, 
Zur  Sprache  Londons  vor  Chaucer,  Morsbachs  Studien  32,  S.  92). 
sede  findet  sich  bei  A.  Davy  (ds.  S.  30);  au  <  ä  -\-  w,  g  ist  in  den 
ältesten  Londoner  Urkunden  üblich  (Dölle,  a.a.O.  S.  41),  wird 
aber  dann  bis  auf  einen  Reim  von  Jmoiv  mit  au  bei  Capgrave 
(Dibelius,  Angl.  XXIII,  S.  186)  allgemein  durch  ou  verdrängt;  erst 
im  15.  Jahrh.  tauchen  wieder  az/-Schreibungen  auf  (Zopf,  a.  a.  0. 
S.52,  Süßbier,  Sprache  der  Cely-Papers.  Berl.  Diss.  1905.  S.51, 
52).  Part.  Präs.  auf  -inde  erhalten  sich  bis  Caxton  und  in  die 
Cely-Papers  (Zopf,  a.  a.  0.  S.  85,  Süßbier,  a.  a.  0.  S.  86).  Aber 
auch  die  besonderen  Eigentümhchkeiten  des  Reimgebrauchs  im  A 
und  AM  lassen  sich  am  ehesten,  als  Londonerisch  erklären,  sie 
lassen  sich  freilich  erst  in  der  Überlieferung  aus  dem  14.  imd 
15.  Jahrh.  nachweisen.  So  Verwechslung  von  a  und  e  vor  r  in 
Ch.-Hss.  (Wild,  a.a.O.  S.  8— 39)  und  häufig  im  15.  Jahrh.  (Zopf, 
a.  a.  0.  S.  18,  19),  Verwechslung  von  i  und  e  in  Schreibungen,  bei 
gekürztem  und  ungekiü-ztem  e  (Zopf,  a. a.  0.  S.  36,  Süßbier,  a.a.O. 
S.  39,  Zachrisson,  Pronunciation  of  Engl,  voivels  1400 — 1700, 
Göteijorg  1915,  S.  69).  togedere  (bei  Ch.  togider)  ist  eine  gewöhn- 
liche Form  (Süßbier,  S.  23).    ä  für  ae.  W  und  ^  endhch  erweist 


Die  Reimsprache  der  sog.  kent.  Fassung  der  'Sieben  weisen  Meister'     205 


Heuser,  a.a.O.  S.  37  f.  als  in  London  heimisch.  Die  Reime  ai:oi 
endlich  erklärt  Behrens,  Z.  Gesch.  d.  frx,.  Spr.  in  Engl.  (frz.  Stud. 
V/2,  18SG)  S.  160  als  Nachwirkung  der  zentralfrz.  Form  mit  [ilei\ 
während  Heuser  (a.  a.  0.  S.  61)  an  eine  hauptstädtische  Sprach- 
gewohnheit denkt,  also  etwa  an  eine  Aussprache  [a/J,  wie  sie  für 
die  spätere  Zeit  durch  Schreibungsverwechslungen  mit  i,  y  erwiesen 
ist  (Zachrisson,  a.  a.  O.  S.  89). 

Es  ist  daher  mit  ziemhcher  Sicherheit  anzmiehmen,  daß  die 
vier  Gedichte  in  London  entstanden  sind,  bzw.  zumindest  Londoner 
Sprachgebrauch  in  ihren  Reimen  folgen,  und  zwar  die  'S.  w.  M.' 
und  R  (in  den  ursprünghcheu  Teilen)  der  gewählteren  Sprache, 
wie  sie  Chaucer  noch  etwas  verfeinert  benutzt,  A  und  AM  sorg- 
loser, ohne  besondere  Auswahl,  was  auch  zu  der  wenig  sorgfältigen 
Reimtechnik  dieser  Dichtungen  recht  gut  paßt.  Ihre  (oder  ihr)  Ver- 
fasser stehen  jedenfalls  eine  sociale  Schicht  tiefer  als  die  der  beiden 
anderen  Denkmäler. 


Wien. 


Karl  Brunner. 


14 . 


Ariosts  Satiren. 

Im  Nachlasse  Ariosts  fanden  sich  neben  vielen  unausgeführten 
Arbeiten  sieben  fertige  Satiren  in  einer  sauberen,  zusammen- 
hängenden Abschrift.  Jahrhundertelang  war  man  der  Ansicht, 
daß  der  Dichter  das  Manuskript  eigenhändig  geschrieben  habe,  und 
zu  Ehren  seines  dreihundertjährigen  Geburtstages  hat  Viani  ein 
Faksimile  dieses  nachgelassenen  Werkes  herausgegeben.  Neuere 
Untersuchungen  haben  diese  Annahme  erschüttert,  ein  genauer  Ver- 
gleich der  Schrift  der  Satiren  und  der  zahh-eichen  von  Ariost  selbst- 
geschriebenen Briefe  hat  ergeben,  daß  der  Schreiber  nicht  mit  dem 
Verfasser  identisch  ist.  Immerhin  handelt  es  sich  um  eine  Hand- 
schrift, die  Ariost  zu  seinem  eigenen  Gebrauche  hatte  herstellen 
lassen  und  in  die  er,  solange  er  lebte,  Verbesserungen  eintrug. 
Es  ist  ja  bekannt,  daß  er  sich  nur  schwer  entschließen  konnte,  ein 
Werk  als  fertig  herauszugeben,  und  daß  er  unermüdlich  im  Aus- 
feilen und  Verbessern  war.  So  enthalten  auch  die  vergilbten  Blätter 
der  Satiren  zahlreiche  Kon-ekturen,  die  aber  nicht  alle  von  dem 
Dichter  selber  stammen.  Nach  ihm  hat  noch  eine  zweite  Hand 
eingegriffen,  vermutKch  Doni,  als  er  1550  die  Venezianer  Ausgabe 
der  Satiren  für  Giolito  besorgte.  Auf  jeden  Fall  sind  diese  Ab- 
änderungen erst  nach  dem  Tode  des  Verfassers  hinzugekommen, 
denn  sie  fehlen  in  den  ersten  Drucken,  die  unmittelbar  nach  seinem 
Ableben  erschienen.  Die  früheste,  uns  bekannte  Ausgabe  stammt 
aus  dem  Jahre  1534,  sie  trägt  zwar  den  Vermerk  di  nuovo  stam- 
jpate,  aber  die  WahrscheinHchkeit  spricht  dafür,  daß  sie  die  erste 
war.  Weitere  Ausgaben  sind  im  16.  Jahrhundert  zahlreich,  Poli- 
dorii  fürt  etwa  zwanzig  auf,  ohne  daß  seine  Zusammenstellung  voll- 
ständig wäre;  ich  selbst  besitze  eine  Ausgabe  der  Satiren  von  1581 
(Venezia  Orazio  de'  Gobbi),  die  ihm  unbekannt  ist.  Im  17.  Jahr- 
hundert sind  die  Gedichte  so  gut  wie  verschollen,  teilweise  infolge 
der  Unduldsamkeit  der  Kirche,  die  an  ihren  meist  sehr  harmlosen 
Spaßen  und  Angriffen  Anstoß  nahm,  ja  sie  in  verschiedenen  Orten 
auf  den  Index  setzte.  Das  18.  Jahrhundert  zeigte  wieder  stärkeres 
Interesse  für  Ariosts  Werke,  darunter  auch  für  die  Satiren,  doch 
betrachtete  man  sie  zumeist  als  eine  Nebenarbeit,  die  im  Anschluß 
an  den  Orlando  unter  den  opei-e  tninori  untergebracht  wurde. 
Einzelausgaben  sind  in  dieser  Zeit  selten,  zumeist  nichtitalienischen 
Ursprungs.  Neuerdings  hat  man  den  Satiren  eine  erhöhte  Auf- 
merksamkeit zugewendet.  Wir  betrachten  es  als  wichtigste  Auf- 
gabe der  literarischen  Forschung,  durch  das  Kunstwerk  zu  der 
Person  des  Schöpfers  durchzudringen,  und  in  dieser  Hinsicht  bieten 
die  sieben  Gedichte  äußerst  wertvolles  Material.   Mag  auch  in  ihnen 

^  Ppere  minori  in  versi  e  in  i^rosa.     Firenze  1857  I,  X  f. 


Ariosts  Satiren  207 

manches  auf  Konvention  und  Überlieferung  beruhen,  mag  nicht 
jedes  Wort  eine  persönhche  Bedeutung  besitzen,  so  tritt  hier  Ariost 
doch  ähnlich  wie  in  den  Prologen  seiner  Komödien  in  eigener  Ge- 
stalt vor  uns  hin  und  spricht  mit  eigenen  Worten  zu  uns. 

Es  ist  fraglich,  ob  wir  in  den  sieben  Satiren  alle  Gedichte  dieser 
Gattung  besitzen,  die  Ariost  geschrieben  hat.  Die  Herausgeber  der 
wertvollen  x4.usgabe  von  1550  versprechen  auf  dem  Titelblatt  neben 
den  bekannten  zwei  weitere  unveröffentlichte  Satiren,  die  freilich  in 
ihrem  Bande  nicht  enthalten  sind,  und  der  Sohn  des  Dichters  Vir- 
ginio  erzählt  in  seinen  Memoiren,  daß  sich  im  Nachlaß  seines  Vaters 
das  Bruchstück  einer  an  Castiglione  gerichteten  Satire  gefunden 
habe.  Auch  von  ihr  ist  nichts  auf  uns  gekommen;  aus  der  Tat- 
sache geht  jedoch  hervor,  daß  Ariost  die  ihm  offenbar  sympathische 
Dichtungsart  fortzusetzen  gedachte,  ja  ihr  einen  größeren  Aufschwung 
geben  wollte,  als  er  der  letzten  Krankheit  zum  Opfer  fiel.  Die 
ersten  fünf  Satiren  sind  alle  an  Verwandte  und  Freunde  des  Dich- 
ters gerichtet,  die  sechste  an  den  Sekretär  des  Herzogs,  sie  halten 
sich  also  innerhalb  des  begrenzten  Ferrareser  Kreises,  während  die 
siebente  an  Bemlo  und  die  geplante  achte  an  Castiglione  darüber 
hinausgehen  und  in  die  hohe  Literatur  eintreten,  die  sich  in  diesen 
beiden  führenden  Geistern  verkörperte.  In  ihnen  spricht  oder  wollte 
Ariost  zu  ganz  Italien  sprechen. 

Er  selbst  hat,  wie  gesagt,  diese  Gedichte  nicht  herausgegeben; 
sei  es,  daß  er  die  Korrektur  der  vorhandenen  noch  nicht  für  ab- 
geschlossen hielt,  sei  es,  daß  er  sie  durch  weitere  zu  vermehren 
wünschte,  aber  die  Satiren  waren  doch  schon  zu  seinen  Lebzeiten 
bekannt.  Der  Dichter  Alamani,  der  sich  auch  mit  Erfolg  als  Sa- 
tiriker betätigte,  erkennt  1532  Ariost  als  Vorbild  und  Meister  auf 
diesem  Gebiete  an,i  und  da  jener  damals  schon  seit  längerer  Zeit 
in  Frankreich  lebte,  so  setzt  seine  Kenntnis  einen  ziemhch  aus- 
gedehnten Umlauf  der  Satiren  voraus.  Der  Gedanke  liegt  nahe, 
daß  die  Personen,  an  die  die  Satiren  gerichtet  sind,  diese  wirklich 
erhielten  und,  stolz  auf  diese  Ehre,  weitergaben.  Aber  man  darf 
sich  durch  die  Briefform  nicht  täuschen  lassen;  sie  ist  traditionell, 
übernommen  von  Horaz  und  Juvenal,  und  beruht  schon  bei  diesen 
auf  Konvention.  Wenn  beispielsweise  Horaz  in  einem  Gedicht  an 
den  steinreichen  Mäcenas  das  Lob  der  Einfachheit  singt,  so  fehlt  jede 
Beziehung  zu  dem  angeblichen  Adressaten.  Ahnhch  verhält  es 
sich   mit    der   dritten  Satire  2  Ariosts.    Er  erteilt  dort  dem  Vetter 


'  Tambara,  Ausgabe  der  Satiren.  Livomo  1903.  Einleitung  S.  4.  Auch 
der  mit  Ariost  befreundete  Bentivoglio  hat  sie  offenbar  zu  Lebzeiten  des 
Verfassers  gekannt  und  ist  durch  sein  Vorbild  zum  Satiriker  geworden.  Das 
läßt  sich  der  Sat.  V  des  Bentivoglio  entnehmen. 

2  Die  Numerierung  nach  der  von  Polidori._,  In  der  Ausgabe  von  Berardi 
Campobasso  1918  ist  dies  die  fünfte,  in  der  Übersetzung  von  Gildemeister, 


208  Ariosts  Satiren 

Annibale  Maleguccio  Ratschläge  wegen  der  Wahl  einer  Frau,  aber 
wie  sich  aus  der  Einleitung  ergibt,  hatte  dieser  schon  seine  Wahl 
getroffen,  er  hätte  also  nicht  die  geringste  Verwendung  für  die 
Weisheiten  des  Dichters  gehabt.  Die  zweite  Satire  wendet  sich 
an  den  Bruder  Alessandro  und  seinen  Freund  Ludovico  da  Bagno, 
die  beide  den  Kardinal  von  Este  auf  seiner  Fahrt  nach  Ungarn 
begleiteten,  während  der  Dichter  auf  diesen  anstrengenden  Dienst 
verzichtet  hatte;  sie  enthält  so  scharfe  Ausfälle  gegen  seinen  früheren 
und  den  jetzigen  Patron  der  Adressaten,  daß  sie  für  diese  bei  der  auf- 
brausenden Gemütsart  des  Kardinals  ein  gef  ährhches  Danaergeschenk 
gewesen  wäre.  Wenn  diese  Satire  überhaupt  bei  dessen  Lebzeiten 
geschrieben  wurde,  so  behielt  sie  der  Autor  sicher  vorsichtig  in 
seinem  Schreibtisch.  Auch  die  sechste  Satire  kann  nicht  wirklich 
abgeschickt  sein.  Ariost  war  gewiß  durch  und  durch  Dichter,  aber 
den  ehrenvollen  Antrag,  als  Gesandter  des  Herzogs  nach  Rom  zu 
gehen,  lehnte  der  im  Staatsdienst  ergraute  Verfasser  sicher  nicht 
in  Terzinen,  sondern  in  einem  prosaischen  Aktenstück  ab.  In  der 
siebenten  Satire  endlich  empfiehlt  Ariost  seinen  Sohn  dem  gelehrten 
Bembo  und  bittet  ihn,  einen  guten  griechischen  Lehrer  für  den 
Jüngling  zu  suchen.  Das  wirkhche  Begleitschreiben,  das  Virginio 
nach  Padua  mitnahm,  ist  aber  erhalten,  und  in  ihm  findet  sich 
noch  nicht  einmal  ein  Hinweis  auf  die  poetische  Einführung.  Bei 
diesen  vier  Satiren  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  daß  die  Briefform  nur 
eine  äußerliche  Einkleidung  ist,  daß  es  sich  um  selbständige  Gedichte 
handelt,  die  nur  von  einem  bestimmten,  den  Adressaten  besonders 
interessierenden  Ereignis  ihren  Ausgang  nehmen.  Die  Anrede 
des  Freundes  hat  kaum  eine  größere  Bedeutmig  als  die  Widmung, 
die  man  einer  Komödie  oder  sonstigen  Dichtung  vorzusetzen  pflegte. 
Bei  den  Satiren  I,  IV  und  V  ist  es  dem  Inhalte  nach  nicht  un- 
bedingt ausgeschlossen,  daß  sie  als  poetische  Sendschreiben  ver- 
wendet wurden,  wenn  auch  die  freimütige  Kritik  an  der  Gönner- 
schaft des  Herzogs  Bedenken  erregt.  Die  Gleichheit  des  Stils 
zwingt  aber  zu  der  Annahme,  daß  diese  Satiren  dieselbe  Bedeutung 
wie  die  andern  vier  besitzen,  und  daß  sie  zum  mindesten  in  der 
jetzigen  Form  nicht  abgeschickt  wurden.  Wir  können  uns  den  Her- 
gang wohl  so  erklären,  daß  der  ersten  Satire  ein  wirklicher  ge- 
reimter Brief  zugrunde  liegt.  Der  Dichter  kündigte  dem  jüngeren 
Bruder  Galasso  seine  bevorstehende  Ankunft  in  Rom  in  Terzinen 
an  und  beauftragt  ihn,  für  ein  angemessenes  Quartier  zu  sorgen. 
Die  beifällige  Aufnahme  dieses  Scherzes  mag  Ariost  dann  zur 
künstlerischen  Durcharbeit  des  ersten  Entwurfes  und  zur  Fortsetzung 
der  Satirendichtung   bestimmt   haben.      Er   beabsichtigte    offenbar, 

herausgegeben  von  Hej^se  (Berlin  1904),  steht  dies  Gedicht  an  erster  Stelle. 
Die  Zitate,  soweit  sie  deutsch  sind,  entstammen  dieser  vortrefflichen  Über- 
tragung. 


Ariosts  Satiren  209 

erst  mit  der  ganzen  Sammlung  in  die  Offentliclikeit  zu  treten,  aber 
bei  der  Harmlosigkeit  der  meisten  Gedichte  bestand  kein  Bedenken, 
Freunden  und  Bekannten  schon  einen  Einblick  in  das  Manuskript 
zu  gewähren. 

Dadurch,  daß  die  Satiren  mit  den  in  ihnen  erwähnten  Ereig- 
nissen nur  in  einem  mittelbaren  Zusammenhang  stehen,  wird  ihre  Da- 
tierung erschwert.  Die  tatsächhchen  Vorgänge  lassen  auf  die  Ab- 
fassungszeit nur  insoweit  einen  Schluß  zu,  als  sie  einen  frühesten 
Termin,  einen  termiuus  post  quem  bilden.  Immerhin  läßt  sich  das 
Entstehungsjahr  der  meisten  mit  ziemlicher  Genauigkeit  angeben, 
mit  Ausnahme  der  ersten,  die  nach  Tambarai  1512  oder  1513, 
nach  Berardi^  und  anderen  erst  1517  verfaßt  ist.  Der  spätere 
Termin  muß  als  der  wahrscheinlichere  angesehen  werden,  da  sonst 
die  erste  Satire  durch  einen  Zeitraum  von  fünf  Jahren  von  den 
nachfolgenden  getrennt  wäre.  Die  zweite  ist  nach  dem  Aufbruch 
des  Kardinals  und  vor  dem  Eintritt  in  den  herzoglichen  Dienst 
geschrieben.  Von  der  di'itten  läßt  sich  nur  sagen,  daß  sie  nach 
der  Hochzeit  des  Vetters  Annibale  Malaguzzi  entworfen  wurde,  die 
1520  stattgefunden  haben  soll.  Die  vierte  fällt  nach  dem  April 
1918,  wo  Ariost  in  den  Dienst  des  Herzogs  trat,  und  vermutlich 
vor  dem  Juli  desselben  Jahres,  in  dem  der  Kardinal  Bibbiena  nach 
Frankreich  abreiste.  Die  fünfte  und  sechste  stammen  aus  der 
Garfagnana,  und  zwar  aus  dem  Jahre  1523;  in  der  sechsten  gibt 
der  Dichter  selber  an,  daß  er  damals  49  Jahre  zählte.  Die  siebente 
endlich  ist  1531  anzusetzen,  etwa  gleichzeitig  mit  dem  Brief,  den 
Virginio  dem  z.  Z.  in  Padua  lebenden  3embo  überbrachte.  Die 
Satirendichtung  beginnt  danach  mit  dem  40.  Lebensjahre  des  Ver- 
fassers und  erstreckt  sich  bis  zu  seinem  Tode.  Dem  entspricht  auch 
der  Ton  der  Gedichte :  es  ist  der  des  gereiften  Mannes,  der  manches 
erlebt,  mit  den  großen  Hoffnungen  der  Jugend  abgeschlossen  hat 
und  dem  die  Enttäuschungen  nicht  erspart  geblieben  sind. 

Wie  das  gesamte  poetische  Schaffen  der  Renaissance,  so  steht 
auch  die  Satire  unter  antikem  Einfluß.  Darüber  waren  sich  so- 
wohl die  Autoren  als  die  Theoretiker  des  16.  Jahrhunderts  klar,  3 
nur  vermischten  die  letzteren  die  griechischen  2'drt;^0i  mit  der  satura, 
die  altrömischen  oder  besser  lateinischen  Ursprunges  ist,  denn  die 
Dichter,  die  sie  pflegen,  entstammen  in  der  Hauptsache  der  Pro- 
vinz.  Quintihan  erklärt  mit  Stolz:  Satira  tota  7wstra.   Und  in  der 

1  Giov.  Tambara,  Sfudi  sulle  Satira  di  L.  A.    Udine  1877.    S.  20  ff. 

2  Berardi.  1.  c.  35.  Die  dritte  Satire  wird  von  Berardi  (nach  seiner  Zäh- 
lung die  fünfte)  zwischen  1519  und  1523  angesetzt. 

^  Sansovino  in  Discorso  sopra  la  Materia  della  Satira,  Einleitung  zu  einer 
Sammlung  Sette  Libri  di  Satire.  Venetia  1560  und  Paterno  in  Lcttra  sovra 
la  Materia  della  Satira  in  Satire  di  cinqtie  Poeti  illustri.  Venetia  1560.  Auch 
Dietrich  in  Pidcüiella  75  ff.  (Leipzig  1907)  bringt  die  Satura  mit  den  ^läxv^oi 
in  Verbindung. 


210  Ariosts  Satiren 

Tat  können  wir  in  ihr  eine  dem  italienischen  Geist  im  besonderen 
Maße  angepaßte  Form  und  Gattung  sehen.  Es  ist  daher  begreif- 
lich, daß  Ariost  sich  zur  Satire  berufen  fühlte,  denn  er  ist  der 
Dichter,  der  nach  dem  Urteil  Carduccis  ü  genio,  il  sentimento,  e 
Vindole  des  itaüenischen  Volkes  am  schärfsten  zusammengefaßt 
und  zum  Ausdruck  gebracht  hat.  Um  Ursprung  und  Wesen  der 
Satire  und  zunächst  der  römischen  satura  zu  verstehen,  muß  man 
sich  vor  Augen  halten,  daß  die  ersten  Verfasser  von  Satiren,  wie 
Ennius  und  Pacuvius,  in  ihren  hohen  Dichtungen  nur  Nachahmer 
der  Griechen  waren,  aber  sie  blieben  doch  Dichter,  die  gelegent- 
lich das  Bedürfnis  fühlten,  dem  Zwang  der  Nachahmung  und  dem 
gleich  lästigen  Zwang  des  stilisierten  Wortes  zu  entfliehen.  Für 
diese  Gedichte,  in  denen  sie  sich  selber  geben  durften,  in  denen 
sie  frei  von  der  Leber  weg  redeten  und  sich  mit  den  Ereignissen 
ihrer  Zeit  auseinandersetzten,  erfand  Ennius  die  Bezeichnung  satura, 
die  wir  am  besten  durch  Vermischtes  oder  Allerlei  wiedergeben. 
Die  Satura  war  in  erster  Linie  Gelegenheitsgedicht,  und  diesen 
Charakter  behielt  sie  auch,  als  sie  von  Lucilius,  der  zu  dem  KJreis 
des  jüngeren  Scipio  gehörte,  zu  einer  literarischen  Gattung  erhoben 
wurde.  Mommsen  vergleicht  ihn  mit  Beranger,  und  dieser  Ver- 
gleich ist  richtig,  insofern  die  Dichtungen  beider  sich  durch  Volks- 
tümlichkeit, Unmittelbarkeit  der  Empfindung  und  Freiheit  der  Form 
auszeichnen,  aber  diese  Freiheit  ist  bei  dem  Franzosen  eine  Folge 
seiner  souveränen  Beherrschung  der  Form,  bei  dem  Lateiner  Flüchtig- 
keit und  Lässigkeit.  Lucilius  schreibt  schlechte  Verse;  mit  spielen- 
der Leichtigkeit  plaudert  er  über  aktuelle  Ereignisse,  zumeist  poli- 
tische, die  natürlich  ihn  und  die  Römer  des  2.  Jahrhunderts  v.  Chr. 
zumeist  interessieren;  gelegentlich  werden  aber  auch  literarische  und 
moralische  Fragen  mit  guter  Laune  erörtert.  Eine  beißende  Kritik 
liegt  dem  Verfasser  fern,  doch  stellt  er  gern  die  schlechtere  neue 
Zeit  in  Gegensatz  zu  der  guten  alten.  Ihre  Einfachheit  wird  ge- 
rühmt, die  neumodische  Üppigkeit  und  der  zunehmende  Luxus  ge- 
tadelt. Das  sind  die  Töne,  die  sich  bei  allen  späteren  Satirikern, 
auch  bei  Ariost,  vsiederfinden. 

Varros  Menippische  Satiren,  die  in  populärer  Form  moralphilo- 
sophische Themen  behandeln,  sind  für  die  Entwicklung  von  geringer 
Bedeutmig.  Der  belesene  Polyhistor  steht  stark  unter  dem  Ein- 
fluß der  Griechen,  und  vielleicht  ist  es  diesem  Umstände  zuzu- 
schreiben, daß  die  späteren  Römer  nicht  an  ihn,  sondern  an  Lucilius 
anknüpfen.  Horaz  hat  diese  Abhängigkeit  ausdrücklich  anerkannt, 
Persius  ließ  sich  durch  Lucilius  für  die  Satire  begeistern,  und  wenn 
für  Juvenal  keine  direkten  Zeugnisse  vorliegen,  so  sind  seine  Be- 
ziehungen zu  dem  ältesten  Satiriker  darum  nicht  weniger  deutlich. 
Horaz  steht  ihm  nicht  nur  zeitlich,  sondern  auch  geistig  am  näch- 
sten, aber  er  unterscheidet  sich  durch  die  bessere  Form  von  seinem 


Arioöts  Satiren  211 

Vorgänger.  Während  dieser  noch  verschiedene  Metren  anwendet, 
hält  der  Zeitgenosse  des  Augustus  an  seinen  eleganten  Hexametern 
fest.  Auch  er  bietet  keine  mitleidlose  Enthüllung  von  menschlichen 
Lastern,  sondern  entwirft  fein  abgerundete  Augenblicksbilder  gesell- 
schaftlicher Schwachheiten,  die  mit  liebenswürdigem  Spott  und  bester 
Laune  gezeichnet  sind.  Horaz  ist  kein  Mann  der  sittlichen  Empö- 
rung, er  weiß  es  selber,  und  durchdrungen  von  dem  Gefühl  der 
eigenen  Schwäche  schildert  er  seine  Menschlichkeit  mit  behaglichem 
Humor.  Er  fühlt  nicht  den  Beruf  zum  Sittenrichter,  er  verurteilt 
nicht  die  Torheiten  seiner  Mitmenschen,  sondern  plaudert  und  lächelt 
über  sie  im  Bewußtsein  seiner  überlegenen,  allerdings  nicht  sehr 
tiefen  Weisheit.  Von  einem  aktuellen  Ereignis  ausgehend,  läßt  er 
sich  scheinbar  wie  Lucilius  treiben,  aber  er  ist  ein  Künstler,  der 
bei  aller  Freiheit  sein  Ziel  fest  im  Auge  behält.  Seine  Satiren 
sind  ein  geschlossenes  Kunstwerk,  kein  wirres  Durcheinander  wie 
die  seines  Vorgängers.  Auch  er  tut  einen  Griff  in  das  volle 
Leben  und  schreibt  Gelegenheitsgedichte,  nur  daß  er  sich  ent- 
sprechend den  Zeitverhältnissen  von  der  Politik  fernhält.  Das  war 
zu  gefährlich,  und  Horaz  ist  kein  Mann,  sich  der  Gefahr  auszusetzen. 
Der  aktuelle  Charakter  der  Satire  geht  bei  Persius  und  Juve- 
nal  verloren.  Ersterer  deklamierte  zwar  mit  der  ganzen  Empörung 
der  Jugend  gegen  ein  verderbtes  Jahrhundert,  aber  mit  Ausnahme 
der  ersten  Satire  gegen  die  Schriftsteller  seiner  Zeit  trägt  er  einen 
zeitlosen  Charakter  und  behandelt  stoische  Lehrsätze,  wobei  er  aller- 
dings ganz  im  Sinne  des  Horaz  die  goldene  Mittelstraße  empfiehlt. 
Persius  ist  abstrakt  und  theoretisch,  ohne  Witz  und  ohne  Humor. 
Wo  Horaz  launig  ist,  wird  er  pathetisch;  wo  jener  lächelt,  dekla- 
miert der  jüngere  Dichter.  Dieser  rhetorische  Charakter  tritt  bei 
Juvenal  noch  stärker  hervor.  Wer  seine  Satiren  liest,  ist  geneigt, 
ihn  wegen  der  Rücksichtslosigkeit  und  des  Freimuts,  mit  denen  er 
die  Laster  der  höchsten  Kreise  geißelt,  zu  bewundern;  aber  diese 
rücksichtslosen  Angriffe  richten  sich  gegen  Leute,  die  seit  100  Jahren 
im  Grabe  modern,  sie  haben  nur  theoretische  Bedeutung;  die  Ent- 
rüstung ist  künstlich,  nicht  die  des  in  seinen  heiligsten  Gefühlen 
beleidigten  Moralisten,  sondern  des  Rhetors,  den  Enttäuschungen 
und  persönliche  Verbitterung  zur  Darstellung  der  schwärzesten 
Seiten  des  gesellschaftlichen  Lebens  drängen.  Juvenals  Satire  ist 
persönlich,  aber  nicht  zeitlich.  Auch  er  besitzt  keinen  Humor  und 
wenig  Witz.  Seine  gleichmäßig  gallige  Schilderung  wirkt  eintönig 
und  auf  die  Dauer  langweilig,  zumal  da  sein  künstlerisches  Gefühl 
äußerst  gering  ist.  Seine  Komposition  ist  schlecht;  die  Satire  zer- 
flattert und  verfehlt  trotz  der  schwärzesten  Farben  ihre  Wirkung. 
Juvenal  will  ein  strenger  Sittenrichter  sein,  aber  ihm  fehlt  dazu  die 
Größe  des  Charakters,  und  in  dieser  Beziehung  bleibt  er  selbst 
hinter  Persius  zurück. 


212  Ariosta  Satiren 

Gleiche  Ursachen  bringen  gleiche  Erscheinungen  hervor.  Wie 
einst  die  Lateiner,  so  fühlten  sich  auch  die  Italiener  des  ausgehen- 
den Quattrocento  durch  die  Nachahmung  und  den  kasuistischen 
AVortzwang  eingeengt.  Auch  sie  suchten  einen  Ausweg,  eine 
Möglichkeit,  sich  freier,  selbständiger  und  persönlicher  auszugeben, 
als  es  die  Nachbildung  der  Antike  und  der  mustergültige  Petrar- 
kismus  erlaubten.  Da  die  hohe  Poesie  diesem  Drang  vorschlossen 
war,  brach  er  sich  in  einer  bodenständigen,  realistischen  Dichtung 
Bahn,  in  der  die  Verfasser  alles  und  jedes,  selbst  das  Gemeinste 
aussprachen  und  sich  selbst  mit  zynischer  Offenheit  gaben.  Als 
Reaktion  gegen  die  Unnatur  einer  gewaltsam  aufgepfropften  Kunst- 
poesie erschien  zu  Ende  des  15.  und  noch  mehr  im  16.  Jahi'hundert 
eine  unübersehbare  Menge  von  Capitoli,  Epistole,  Satiren,  Madriga- 
lessi u.  a.  m.,  die  man  teilweise  nur  als  Schmutzliteratur  bezeichnen 
kann.  Der  antike  Einfluß  fehlt  auch  hier  nicht,  aber  er  fällt 
weniger  ins  Gewicht,  da  er  auf  Realismus  und  Beobachtung  der 
Wirklichkeit  drängt.  Die  Eigenschaften  des  italienischen  Volkes, 
die  in  der  hohen  Poesie  unterdrückt  wurden,  seine  Spottsucht,  Lach- 
lust, seine  Freude  am  Niedrigen,  sein  gesunder  Wirklichkeitssinn, 
seine  Skepsis,  seine  Fähigkeit,  dem  Großen  eine  komische,  dem 
Kleinen  eine  ernste  Seite  abzugewinnen,  kommen  in  dieser  Literatur  zum 
Ausdruck.  Die  Bezeichnung  spielt  dabei  eine  untergeordnete  Rolle, 
und  es  ist  schwer,  einen  begrifflichen  Unterschied  zwischen  Satire, 
Epistel  und  einem  Capitolo  anzugeben.  Auch  die  Zeitgenossen  ver- 
mochten es  nicht.  Wenn  z.  B.  Sansovino  (1.  c.)  als  das  Wesen  der 
Satire  betrachtet,  daß  sie  cose  umili  e  hasse  in  einem  stil  umile  e 
basso  behandelte  und  simplicitä  mit  acerhitä  verbindet,  so  ..sind 
das  Allgemeinheiten,  die  ebensogut  auf  das  Capitolo  passen.  Ahn- 
hch  äußert  sich  Paterno  (1.  c):  Der  Stil  der  Satire  soll  umile  e 
pedestre,  non  molto  dalla  prosa  lontano  sein,  aber  nicht  insipido, 
troppo  sordido,  e  osceno]  sie  verlangt  spirito  e  energia  e  con  pen- 
sata  temperanxa  impensato  progresso,  sowie  Witz,  Geist  und  Lebendig- 
keit. Auch  damit  ist  nicht  viel  anzufangen.  Wichtiger  ist,  wenn 
er  als  Zweck  der  Satire  bezeichnet:  esaltare  la  viriü  e  diradicare 
i  vüii.  Die  moralische  Absicht  ist  offenbar  das  entscheidende  Merk- 
mal, das  die  Satire  von  den  anderen,  ihr  nahestehenden  Gattungen 
trennt.  Diese  Auffassung  fügte  sich  trefflich  in  die  ästhetische  Lehre 
der  Renaissance  ein,  der  es  ja  vor  allem  darauf  ankam,  den  mora- 
lischen Nutzen  der  Poesie  nachzuweisen.  Wenn  also  die  Satire  diesen 
lehrhaften  Zweck  in  besonderem  Maße  erfüllte,  so  folgt  daraus,  daß 
sie  auch  besonders  hoch  geschätzt  und  mit  besonderer  Vorhebe  gepflegt 
wurde.  Ariost  war  viel  zu  sehr  Künstler,  um  sich  mit  Kunsttheorien 
zu  befassen,  aber  es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  auch  er 
dieser  Ansicht  huldigte  und  daß  er  es  als  Aufgabe  der  Satire  be- 
trachtete, zu  der  Belehrung  und  Besserung  der  Menschen  beizutragen. 


Ariosts  Satiren  213 

Man  kann  ihn  als  den  Schöpfer  der  itahenischen  Satire  be- 
zeichnen, wenn  er  auch  einen  und  zwar  sehr  bedeutenden  Vor- 
gänger in  Antonio  Vinciguerra,  dem  Sekretär  der  Repubhk  Venedig, 
besaß,  dessen  sechs  Satiren  1485  erschienen.  Aber  dieser  steht 
mit  seinem  ungeheuren  Pessimismus,  mit  seiner  Verzweiflung  an 
der  Welt  völlig  allein.  Misera  eiade  sccolo  infelice!  ruft  er  aus. 
In  den  cieco  viver  7wstro,  dem  sinnlosen  Leben,  sieht  er  nichts  als 
die  kurze  Dämmerung  einer  zwecklosen  Hoffnung.  Der  Mensch 
ist  das  elendeste  Geschöpf,  Nascemo  infetti.  Die  Welt  erscheint 
ihm  wie  Hamlet  als  ein  Garten  voll  Unkraut.  Er  vergleicht  sich 
selbst  mit  einer  Latrine,  die  Kot,  Urin,  Krankheit,  Schmerzen  und 
Trauer  von  sich  gibt,  und  drei  Jahrhunderte  vor  Leopardi  bezeichnet 
er  die  Welt  als  fango  mortal  che  e  hello  in  vista.  Daß  Ariost 
die  Gedichte  Vinciguerras  gekannt  hat,  ist  anzunehmen,  aber  einen 
Einfluß  konnte  deren  verzweifelte  Stimmung  auf  sein  kindHch- 
fröhliches  Dichtergemüt  nicht  ausüben,  höchstens  daß  sie  ihn  zum 
Widerspruch  reizte.  Wenn  z.  B.  der  Venezianer  die  Ehe  für  einen 
Iniomo  d'intelletto  verwirft,  das  Weib  ein  idolo  di  lussuria  nennt 
und  in  beinahe  Schopenhauerscher  Weise  den  Geschlechtstrieb  als 
eine  Verblendung  des  Einzelnen  zwecks  Erhaltung  des  Ganzen  be- 
zeichnet, so  erklärt  Ariost  (Sat.  IH): 

daß  niemand  ohne  Frau  zur  Seite 

im  Guten  nicht  vollkommen  werden  kann, 

noch  ohne  Sünden  leben,  wer  nicht  freite.  ' 


Was  Liebe  ist,  was  Menschlichkeit  bedeute, 

erfährt  er  (der  Ehelose)  nie. 
Stärker  können  die  Gegensätze  nicht  sein.  Dagegen  hat  der  jüngere 
Dichter  die  Form  des  älteren  übernommen,  es  ist  die  Terzine.  Der 
Vers  der  Bivina  Commedia  hatte  im  Laufe  der  Jahrhunderte  seine 
Erhabenheit  zugunsten  der  Ottava  eingebüßt.  Bei  Vinciguerra  be- 
sitzt er  noch  einen  Rest  vom  Geiste  und  der  Kraft  Dantes,  im 
16.  Jahrhundert  dagegen  wurde  er  völlig  zum  Metrum  der  realisti- 
schen Tagespoesie.  Ariost  verwendet  in  seinen  Satiren  ausschließ- 
hch  die  Terzine,  die  meisten  Satiriker  folgten  seinem  Beispiele,  und 
nur  in  Ausnahmefällen  finden  sich  der  sdrucciolo  sciolto,  der  ende- 
casillabo  sciolto  oder  die  Stanze. 

Inniger  sind  die  Beziehungen  Ariosts  zu  den  römischen  Satiri- 
kern. Zwar  die  Fragmente  des  Lucilius  wurden  erst  1597  heraus- 
gegeben, jedoch  konnte  sich  unser  Dichter  aus  den  zahlreichen 
Zitaten  bei  Cicero  und  Varro  ein  Bild  von  dessen  Kunst  machen. 
Ein  direkter  Einfluß  ist  trotzdem  nicht  wahrnehmbar;  was  die 
beiden  Satiriker  gemeinsam  haben,  wird  durch  Horaz  vermittelt, 
höchstens  der  Spott  über  die  Ausländerwelt,  sei  es,  daß  man  sich 
als  Spanier  gebärdet  (Sat.  I,  76  ff.)  oder  seinen  guten  christhchen 


214  Ariosts  Satiren 

Taufnamen  in  einen  klassischen  verwandelt  (VII,  58  ff.),  könnte 
durch  Lucilius'  Schilderung  der  Gräkomanie  (II,  85)  hervorgerufen 
sein.  Am  meisten  verdankt  Ariost  dem  Horaz,  der  bekanntlich 
sein  Lieblingsschriftsteller  war.  Der  Römer  diente  ihm  als  Vor- 
bild für  seine  jugendliche  lateinische  Liebeslyrik,  und  durch  die 
Erklärung  horazischer  Gedichte  soll  er  später  die  bewundernde  An- 
erkennung der  römischen  Gelehrten  errungen  haben.  Wenn  der 
Sänger  des  Furioso  dem  Lateiner  an  schaffender  Phantasie  auch 
weit  überlegen  ist,  so  besteht  zwischen  beiden  doch  eine  geistige 
Wahlverwandtschaft,  die  besonders  in  ihren  Satiren  zum  Ausdruck 
kommt.  Beide  standen  schon  im  reifen  Alter,  als  sie  sich  dieser 
Dichtungsart  widmeten;  beide  hatten  das  Leben  von  der  ernsten 
Seite  kennengelernt  und  manche  Enttäuschung  erlebt;  beide  wissen, 
daß  die  Welt  voll  von  Fehlern  und  Unvollkommenheiten  ist,  aber 
die  Torheit  der  Menschen  versetzt  sie  nicht  in  flammende  Ent- 
rüstung, sondern  lockt  ihnen  nur  ein  kluges  Lächeln  weltmännischer 
Weisheit  ab.  Beiden  ist  die  künstlerisch  vollendete  Darstellung 
dieser  Verkehrtheiten  zum  Schluß  wichtiger  und  interessanter  als 
die  Besserung  der  Menschen,  zu  der  weder  der  Zeitgenosse  Leos  X. 
noch  der  des  Augustus  Vertrauen  hat.  Ariost  steht  seiner  eigenen 
Weisheit  skeptisch  gegenüber.  Er  macht  (Sat.  III)  die  schönsten 
Vorschläge,  wie  man  sich  der  Treue  seiner  Frau  vergewissern  kann, 
um  wehmütig  zuzugeben,  daß  seine  Ratschläge  nichts  nützen  werden, 
wenn  sie  die  Absicht  hat,  ihren  Mann  zu  betrügen.  Er  wie  Horaz 
leben  in  einem  Jahrhundert,  wo  die  großen  Interessen  des  öffent- 
lichen Lebens  längst  erloschen  sind,  und  wo  es  nur  noch  eine  be- 
deutende Idee  gibt,  die  Kunst.  Das  Bewußtsein  ihres  Künstler- 
tums  ist  die  treibende  Kraft  ihres  Lebens  und  Schaffens,  es  ver- 
leiht beiden  den  Mut,  sich  mit  ihren  Fehlern  und  menschlichen 
Unvollkommenheiten  hüllenlos  darzustellen.  Sie  sind  groß  als  Künstler, 
warum  sollten  sie  auch  groß  als  Menschen  sein?  Es  liegt  auf  der 
Hand,  daß  Ariost  dabei  der  empfangende,  Horaz  der  gebende  Teil 
ist,  aber  nichts  wäre  falscher  und  ungerechter,  als  von  einer  Nach- 
ahmung zu  reden.  Die  Ähnlichkeit  ergibt  sich  aus  der  Wesens- 
gleichheit der  beiden  Dichter.  Wenn  z.  B.  Ariost  die  Einfachheit 
rühmt  und  das  ärmliche  Mahl  am  eigenen  Tisch  der  Schlemmerei 
an  der  Tafel  des  Gönners  vorzieht,  so  konnte  er  die  Idee  dem 
Horaz  entnehmen,  aber  sie  ist  darum  nicht  weniger  seine  eigenste 
Empfindung,  ja  sie  trägt  vielleicht  in  seinem  Munde  sogar  einen 
persönlicheren  Charakter  als  in  dem  seines  Vorgängers.  Die  Welt- 
anschauung beider  Dichter  ist  in  vieler  Hinsicht  die  gleiche,  aber 
es  spricht  für  die  Selbständigkeit  des  Italieners,  daß  er  stofflich 
von  Horaz  herzhch  wenig  übernommen  hat.  In  dieser  Beziehung 
boten  ihm  Persius  und  Juvenal  mehr.  Wenn  er  beispielsweise  in 
der  siebenten  Satire  gegen  die  Humanisten  loszieht,  so  spürt  man 


Ariosts  Satireu  215 

den  Einfluß  der  ersten  des  Persius.  Wenn  Juvenal  über  die 
Nichtigkeit  der  voniehmen  Abstammung  ohne  eigene  Tüchtigkeit 
spottet,  so  greift  Ariost  dieses  Thema  auf,  freihch  um  es  in  ganz 
anderem  Geiste  zu  verarbeiten.  Der  Römer  klagt  auch  über  die 
unwürdige  Behandlung  der  Hienten  durch  den  Patron  sowie  über 
die  geringe  Schätzung  und  schlechte  Entlohnung  der  gelehrten  Be- 
rufe; diese  Beschwerden  mußten  besonderen  Eindruck  auf  den 
modernen  Dichter  machen,  der  schwer  unter  dem  Joch  seines 
Gönners,  des  Kardinals  von  Este,  litt  und  später  nur  kümmerlich 
von  den  dürftigen  Zuwendungen  des  Herzogs  Alfonso  lebte.  Wo 
er  z.  B.  in  der  zweiten  Satire  auf  diese  schlimmen  Erfahrungen  zu 
sprechen  kommt,  geschieht  es  mit  einer  Bitterkeit,  die  ihm  sonst 
fremd  ist  und  sich  vielleicht  wenigstens  teilweise  auf  den  Einfluß 
Juvenals  zurückführen  läßt.  Diesem  ist  unser  Dichter  an  Menschen- 
Hebe,  Humor  und  Liebenswürdigkeit  ebenso  weit  überlegen  wie  als 
Künstler.  Er  erreicht  zwar  nicht  ganz  die  Kunstfertigkeit  des 
Horaz;  offenbar  hat  er  die  geschickte  Technik,  mit  der  dessen 
Satiren  aufgebaut  sind,  nicht  erkannt.  Er  sah  Zufall,  Laune  und 
Willkür,  wo  in  Wirklichkeit  die  genaueste  Berechnung  waltet,  oder 
glaubte  im  Geiste  Horaz'  zu  handeln,  wenn  er  sich  planlos  treiben 
läßt,  ohne  zu  merken,  daß  sein  Vorbild  wohl  die  Zügel  lockert, 
aber  stets  fest  in  der  Hand  hält,  während  sie  bei  ihm  gelegentlich 
am  Boden  schleifen.  Dante  in  De  vulg.  eloquentia  I,  15  erhebt 
gegen  die  Ferrareser  den  Vorwurf  der  garrulitas  (loquacitä);  in 
Ariosts  Satiren  gibt  es  verschiedene  Stellen,  die  ihn  rechtfertigen, 
aber  wenn  dieser  Mangel  auch  besteht,  wenn  der  Dichter  bisweilen 
abschweift  imd  sein  Thema  aus  dem  Auge  verliert,  so  verfällt  er 
doch  niemals  in  die  Planlosigkeit  und  Zerfahi-enheit  Juvenals. 

Sansovino  bezeichnet  die  Satiren  als  ardentissime  riprenditrici 
delle  cose  non  buone.  Das  trifft  auf  die  Gedichte  Ariosts  nicht 
zu  und  kann  es  auch  nicht  bei  einem  Verfasser,  den  selbst  ein 
scheelsüchtiger  Beurteiler  wie  Aretin  ^  als  die  somma  bo?itade,  als 
den  Inbegriff  der  Güte,  bezeichnet.  Diese  Güte  oder  milde  Nach- 
sicht kommt  überall  zum  Ausdruck.  Ariost  rät  (Sat.  IH)  zu  einer 
humanen  Behandlung  der  Frau,  während  noch  Shakespeare  eine 
Tracht  Prügel  für  ein  geeignetes  Mittel  zur  Herstellung  des  ehe- 
lichen Friedens  hält;  er  empfiehlt  (Sat.  VII),  die  Jugend  mit  Güte 
zu  erziehen,  selbst  auf  Kosten  der  Gelehrsamkeit,  und  sogar  für 
die  Tiere  hat  er  ein  fühlendes  Herz.  Er  ermahnt  (Sat.  I)  den 
Bruder  Galasso,  der  ihm  in  Rom  Quartier  bestellen  soll:  'An  den 
Pferden  auch  tu  deine  Pflicht'.  Über  seine  eigene  Harmlosigkeit 
und  über  die  seiner  Satiren  ist  der  Dichter  völhg  klar,  wenn  er 
V,  49  f.  erklärt: 


Im  Prolog  der  Cortigiana. 


216  Ariosts  Satiren 

Ich  töte  nicht,  ich  haue  nicht,  vor  mir  ist 

ein  jeder  sicher. 
Er  schildert  wohl  die  Laster  der  Humanisten,  aber  er  weiß  (VII,  94  ff.): 

Wollt  ich  jedoch  auf  sie  die  Geißel  schwenken, 

so  kam  ich  wegen  Raubes  in  Verdacht 

an  Aretins  und  an  Pistojas  Schränken. 
Nein,  die  giftigen  Waffen  dieser  Satiriker  will  und  kann  Ariost 
nicht  führen;  bei  ihm  überwiegt  der  Humor,  das  verzeihende  Mit- 
leid eines  großen  und  weichen  Herzens,  die  Schärfe.  Er  stellt 
menschliche  Laster  und  Torheiten  dar,  und  gewiß  fällt  manchmal 
ein  hartes  Wort  des  Unmuts,  aber  der  Geist,  der  das  Ganze  be- 
seelt, ist  milde  und  verzeihend.  Sein  Humor  versöhnt  mit  den  dar- 
gestellten Schwächen,  er  lächelt  sie  weg  und  löst  sie  in  Nichts  auf. 
Verkehrtheiten,  über  die  man  so  harmlos  und  launig  plaudern  kann, 
können  nicht  so  schlimm  sein,  es  sind  Zufälligkeiten,  die  man  be- 
lacht, keine  Fehler,  die  notwendigerweise  der  Menschheit  anhaften. 
Ariosts  Welt  ist  trotz  einzelner  Mängel  gut,  während  der  Pessimis- 
mus die  eigenthche  Grundlage  der  Satire  ist.  Er  gehört  nicht  zu 
den  größten  auf  diesem  Gebiet,  aber  wenn  er  durch  seinen  Optimis- 
mus als  Satiriker  verliert,  so  gewinnt  er  dadurch  als  Mensch  und 
Dichter. 

Der  Verfasser  des  Orlando,  der  auf  einem  Flügelroß  über  Meer 
und  Länder  jagt,  ist  kein  Weltverneiner.  Aber  man  kann  nicht 
immer  durch  die  Wolken  fhegen,  in  den  Satiren  schickt  er  sich  zu 
einem  irdischen  Spaziergang  an.  Auch  ein  solcher  hat  seine  Reize 
mid  ist  geeignet,  ihn  und  seine  Freunde  zu  amüsieren,  wenn  man 
dabei  auch  keine  wunderbaren  und  überraschenden  Dinge  sieht,  wie 
bei  einem  Ausflug  nach  dem  Mond.  Ariost  legt  nur  Wert  auf  die 
Darstellung,  nicht  auf  den  Stoff.  Die  Gegenstände  seiner  Satire 
sind  alles  andere  als  neu.  In  erster  Linie  müssen  natürlich  die 
Pfaffen  herhalten.  Das  war  im  16.  Jahrhundert  selbstverständlich. 
Zwar  hatte  schon  das  ganze  Mittelalter  über  ihre  Streiche  und 
ihre  Verkommenheit  gelacht,  aber  das  Thema  war  unerschöpflich 
und  wurde  von  dem  Publikum  der  Renaissance  stets  dankbar  auf- 
genommen. Ariost  hat  es  gründlich  ausgebeutet,  besonders  die 
Ehelosigkeit  der  Priester,  die  mit  Notwendigkeit  zur  Unsitthchkeit 
führt,  mißfällt  ihm, 

drum  ist  die  Klerisei 
auch  solche  gierige,  grausame  Meute, 
wie  wölfisch  sie,  wie  eselhaft  sie  sei.     (III,  24—26.) 
Fast  die  ganze  erste  Satire  ist  diesem  Thema  gewidmet.   Er  schil- 
dert  den  Pater,    der   'rot   wie    ein  Krebs',    voll  von  Wein  auf  die 
Kanzel   steigt,   um   dem  'nüchternen'  Volk  das  Evangelium  auszu- 
deuten.    Er   spottet    über   die  Schlemmerei   der  Mönche,   über  die 
Bischöfe,  die  ihr  Amt  auf  Vorschuß  gekauft  haben  und  daher  be- 


Arioats  Satiren  217 

ständig   in  Geldnot   sind,    und   über  die  ehrgeizigen  Kardinäle,   ja 
selbst  bis  zum  Papste  erhebt  er  sich, 

der  nicht  ruht,  bis  Kinder  und  Nepoten 

er  aus  dem  bürgerlichen  Stand  erhebt, 

der  sich   nicht  scheut,   Italien   dem  Bürgerkrieg  preiszugeben,   um 

seine  Bastarde  zu  versorgen.     Es  klingt  sehr  bedenküch,   wenn  es 

von  ihm  heißt: 

Bannflüche  fertigt  er  in  aller  Eil' 
für  seine  Nachbarn;  für  die  Wölfe  und  Raben 
des  grimmen  Mars  hält  man  den  Ablaß  feil, 
aber  man  muß  bedenken,   daß  weder  die  Flüche  noch  der  Ablaß- 
handel in  Italien  tragisch  genommen  wurden.     Ein  deutscher  Mönch, 
wie  Fra  Martino,   dessen  Unglauben  Ariost  übrigens  nicht  'streng 
und  grämlich'  nimmt  (VII,  43),    mochte  sich  über  derartige  Dinge 
empören,  die  Italiener  hatten  sich  längst  daran  gewöhnt  und  lachten 
darüber.     Man  braucht  nur  an  Macchiavelhs  Fra  Timoteo  zu  denken, 
um  die  Harmlosigkeit  der  Ariostschen  Ausfälle  zu  verstehen. 

Einen  ebenso  dankbaren  und  behebten  Stoff  wie  die  Pfaffen 
boten  die  Weiber.  In  der  dritten  Satire  schildert  Ariost  die  Miß- 
stände der  Ehe,  die  nicht  ausbleiben  können,  ob  man  nun  eine 
schöne  oder  eine  häßliche  Frau  wählt.  Im  ersten  Fall  hat  man 
Sorgen  und  Eifersucht,  im  zweiten  'Pein  fürs  Leben',  wenn  mau 
auch  nicht  die  Gefahr  läuft,  betrogen  zu  werden.  Dieses  Unglück 
ist  bei  einer  schönen  Frau  beinahe  unvermeidlich,  und  nur  ein 
sicheres  Mittel  gibt  es  dagegen,  das  der  Teufel  einem  armen,  von 
der  Eifersucht  gequälten  Maler  in  einer  Facetie  des  Poggio  (No.  133) 
angibt.  Ariost  hat  diesen  derben  Spaß,  der  auch  sonst  sehr  be- 
liebt war^  und  dem  unerschöpflichen  Repertoire  mittelalterlicher 
Schwanke  entstammt,  in  graziöse  Verse  gebracht.  Auch  was  er 
sonst  an  den  Frauen  zu  tadeln  hat,  ihre  Putzsucht,  Uberhebung, 
ihren  Stolz  und  ihre  Mißwirtschaft,  beruht  auf  Überheferung,  und 
der  konventionelle  Charakter  dieser  Kritik  tritt  um  so  klarer  zu- 
tage, als  sie  sowohl  zum  Leben  des  Dichters  als  zu  den  Stellen, 
wo  er  seiner  eigenen  Auffassung  folgt,  im  schärfsten  Widerspruch 
steht.  Er  selbst  betrachtete  es  als  das  größte  Glück,  als  er  end- 
lich seine  Alessandra  heimführen  konnte,  und  er  lebte  mit  ihr  in 
ungestörtester  Harmonie,  ja  in  derselben  Satire,  wo  er  in  der  be- 
liebten Form  des  Mittelalters  über  die  Frauen  spottet,  zeigt  er 
sich,  wo  er  seine  eigene  Ansicht  ausspricht,  als  ein  begeisterter 
Verehrer  der  Ehe,  ohne  die  man  'im  Guten  nicht  vollkommen 
werden  kann'  und  nicht  weiß,  was  'Liebe  und  MenscliHchkeit  be- 
deuten'.  Hier  spricht  er  wirklich  aus,  was  er  für  seine  Alessandra, 

'  Er  findet  sich  bei  Rabelais  'Pantagruel'  III,  38,  und  Lafontaine,  Confes 
in,  12.  Auch  Shakespeare  nimmt  im  Kaufmann  von  Venedig  auf  diese  ßing- 
fabel  Bezug. 


218  Ariosts  Satiren 

die  den  Mittelpunkt  seines  Lebens  und  Denkens  bildete,  empfand: 

Sei  zärtlich,  liebe  sie  mit  solchem  Sinn, 

wie  sie  dich  Heben  soll;  lob  ihre  Sachen, 

und  was  sie  tut  für  dich,  nimm  dankbar  hin.  (II,  253—255.) 
Dieses  Gedicht  zeigt  deutlich,  wie  Persönliches  und  Unpersönhches 
in  den  Satiren  nebeneinander  stehen.  In  den  meisten  Fällen  durch- 
dringen sich  die  beiden  Elemente.  Die  Laster  der  Humanisten, 
die  Nichtsnutzigkeit  der  Höfhnge,  der  Geiz  und  die  Kargheit  der 
Gönner  hat  Ariost  sicher  selber  gesehen  und  gespürt,  aber  darum 
gehörten  sie  doch  zu  den  üblichen  Themen  seiner  Zeit,  die  zahl- 
reiche Schriftsteller  vor  und  nach  ihm  behandelt  haben,  manche, 
z.  B.  Aretin,  sogar  viel  schärfer  als  er.  Er  empfiehlt  die  goldene 
Mittelstraße,  wie  alle  Sath-iker  seit  Lucilius,  aber  er  hatte  dabei 
sicher  nicht  das  Bewußtsein,  daß  er  eine  tausendjährige  Weisheit 
wiederholte,  sondern  es  geschah  aus  semer  eigenen  Empfindung 
heraus.  Er  war  ein  Mann  der  Mäßigung.  Selbst  in  der  Religion 
wünscht  er  eine  wohlabgestimmte  Frömmigkeit  (III,  197 — 199); 
seine  Vaterlandsliebe  findet  sich  mit  den  Grenzen  eines  Hein- 
staates  ab,  und  selbst  seine  Liebe  ist  in  der  Jugend  mehr  ästhetisch, 
später  mehr  treue  Anhänglichkeit  als  stürmische  Wallung.  Seine 
Phantasie  ist  überschwenghch,  im  Leben  steht  er  ohne  größere 
Leidenschaften  da,  und  das  Bekenntnis  zur  guten  Mitte,  das  im 
Munde  eines  großen  Dichters  etwas  spießbürgerlich  anmutet,  ent- 
spricht seiner  Neigung,  wenn  es  auch  in  keiner  Weise  originell  ist. 
Die  Originalität  des  Satirikers  liegt  nicht  im  Stoff,  sondern  vor 
allem  in  der  Stellung,  die  der  Verfasser  innerhalb  dieses  Werkes 
sich  selber  zuweist.  Er  ist  nicht  nur  Subjekt,  sondern  auch  Ob- 
jekt der  Komik.  Er  selbst,  der  Dichter  im  praktischen  Leben, 
ist  der  Gegenstand  seiner  Satü^e. 

Ariost  ist  durch  und  durch  Künstler,  d.  h.  ein  Mensch,  der  völhg 
von  seinen  Launen,  Stimmungen  und  augenbhcklichen  Eingebungen 
abhängig  ist.  Er  kennt  seinen  Charakter,  und  schon  in  jungen 
Jahren  schreibt  er  ein  lateinisches  Gedicht  De  sua  ipisus  ?nobüi- 
iate.  Zwang  verträgt  er  nicht.  In  Satire  I  sagt  er: 
Ich  hab'  ein  unbeständig  Herz  im  Leibe, 
drum  war  mir,  mich  zu  binden,  stets  verhaßt. 
Er  weiß,  wenn  er  heiratet,  hat  er  Lust,  Priester  zu  werden,  und 
wenn  er  Priester  wird,  hat  er  das  Bedürfnis  nach  einer  Frau.  Er 
ist  Dichter,  aber  vom  Dichten  kann  man  nicht  leben,  zumal  in 
jener  Zeit,  wo  die  Kunst  des  Lesens  auf  eine  kleine  Oberschicht 
beschränkt,  der  Nachdruck  aber  so  gut  wie  unbeschränkt  war.  Er 
hat  nicht  nur  für  sich,  sondern  auch  für  die  zahbeichen  jungen 
Geschwister  und  seine  alternde  Mutter  zu  sorgen.  Der  Konflikt 
zwischen  Kunst  und  Broterwerb  durchzieht  sein  ganzes  Leben;  aber 
so  ernst  er  im  Leben  gewesen  sein  mag,  in  der  Dichtmig  wird  er 


Ariosts  Satiren  219 

niemals  tragisch.  Nach  der  Sitte  der  Zeit  trat  er  in  den  Dienst 
des  Kardinals  von  Este  __und  erwartet  von  ihm  eine  angemessene 
Pension,  doch  zu  seiner  Überraschuug  ist  dem  wenig  kunstsinnigen 
Gönner  mit  Versen  nicht  gedient,  sondern  er  will  praktische 
Leistungen,  er  gönnt  Ariost 

selten  einen  Ruhetag, 
und  statt  zum  Dichten  braucht'  er  mich  zum  Reiten, 
und  über  Stock  und  Stein  im  steten  Flug.    (VII,  237—239.) 
Er  sandte  ihn  als  Vertreter  an  verschiedene  italienische  Höfe,   ein 
diplomatischer  Dienst,  zu  dem  man  Dichter  und  Gelehrte  von  Ruf 
gern  verwendete,  da  sie  das  Latein  glänzend  beherrschten  und  durch 
ihren  Ruhm  überall  Eingang  fanden.     Aber  das  Reisen  ist  Ariost 
ein  Greuel,   vielleicht  weniger  das    Reisen   selber   als    der    Zwang, 
daß  er  reisen  muß.     Während  er  von  Ort  zu  Ort  gejagt  wh-d,  ist 
sein  Ideal,    still   im  bescheidenen  eigenen  Häuschen  zu  leben  oder 
die  Villeggiatura  guter  Freunde  zu  teilen,  wie  er  Sat.  V,  115  ff.  sie 
beschreibt: 

Anmut'ge  Landschaft  stimmte  stets  aufs  beste 

zum  Schreiben  mich;  sie  hat  es  oft  getan 

in  unserm  Reggio,  meinem  Wiegenneste. 

Noch  heut'  entzückt  mich  dein  Maurizian, 

das  schöne  Haus,  das  Flüßlein,  die  Asyle,  (ombroso  seggio) 

die  schatt'gen,  so  die  Nymphen  sich  ersahn; 

der  Weiher,  der  den  Garten  rings  mit  Kühle 

umschließt,  der  frische  Bach,  der  erst  die  Au 

bewässert  und  hernach  treibt  er  die  Mühle. 
Dort  möchte  er  träumen,  dichten,  fabulieren.  Seine  Phantasie  er- 
schließt ihm  Herrlichkeiten,  mit  denen  keine  Ferne  wetteifern  kann. 
Wozu  also  reisen?  Nur  weil  der  Patron  es  befiehlt.  Im  Jahre  1513 
scheint  sich  eine  Gelegenheit  zu  bieten,  das  verhaßte  'Joch  des 
heiligen  Kardinals'  abzuschütteln.  Leo  X.  besteigt  den  päpstlichen 
Tliron,  dem  Ariost  früher  freundschafthch  nahegestanden  hat.  Mit 
köstlicher  Selbstironie  erzählt  er,  wie  er  nach  Rom  kommt,  um  sich 
bei  dem  neuen  Oberhirten  in  Erinnerung  zu  bringen.  Die  Auf- 
nahme entspricht  seinen  kühnsten  Hoffnungen.  Der  Papst  erhebt 
sich  von  seinem  heihgen  Sitze,  nimmt  die  Hand  des  Dichters,  um- 
armt und  küßt  ihn  auf  beide  Wangen  'väterhch'.  Doch  der  prak- 
tische Erfolg  bleibt  aus,  im  strömenden  Regen  muß  er  zu  seinem 
emsamen  Abendessen  im  'Lamm'  zurückkehren.  Er  tröstet  sich 
damit,  daß  der  Papst  erst  an  die  vielen  Nepoten  denken  müsse, 
und  daß  man  zum  Schluß  als  Kardinal  auch  nicht  glücklich  sei. 
Aber  auf  Rom  hofft  er  nicht  mehr.  Als  ihm  zehn  Jahre  später 
der  Gesandtenposten  bei  der  Kurie  angetragen  wird  (Sat.  VI),  mit 
dem  Bemerken,  daß  er  dort  'Ehi'e  und  Gut'  einheimsen  könne, 
lehnt  er  ab:   An  Ehre  habe  er  genug  und  auf  Reichtum  hoffe  er 

ArchiT  f.  n.  Sprachen.    140.  ]^5 


220  Ariosts  Satiren 

nicht  mehr.    So  verbringt  er  weitere  Jahre  im  Dienste  des  Kardi- 
nals, aber  stolz  erklärt  er  (11,  262),  wenn  dieser 

Meint,  daß  er  mich  gekauft  mit  seinen  Gaben, 
so  geb'  ich  sie  zurück,  leicht  fällt  die  Wahl, 
und  will  nur  meine  Freiheit  wieder  haben. i 
Endlich  erfolgt  der  Bruch.    Der  Dichter  hat  nun  die  Freiheit,  aber 
auch  die  Armut.    Natürlich  kann  er  sie  nicht  ertragen,  und  schon 
nach  wenigen  Monaten  begibt  er  sich  wieder  in  den  'Käfig,  der  der 
Nachtigall  zur  Plage  wird'.     Er  tritt  in   den  Dienst  des  Herzogs. 
Und  weil  ich  leben  muß  von  fremdem  Gut, 
ist's  besser,  mich  beim  Herzog  satt  zu  laben, 
als  bei  geringem  Volk  mit  Bettelei 
mein  täglich  Brot  zusammen  mir  zu  schaben.  (IV,  24—28.) 
Nun  klagt  er  wieder  über  den  Dienst,   der  sich  von  dem  früheren 
nur   dadurch  vorteilhaft    unterscheidet,    daß    er   zu   Hause    bleiben 
kann.     Aber  Alfons'  Kasse  ist  durch  den  Krieg  erschöpft,  er  hat 
kein  Geld    mehr   für    das   Mäzenatentum,    und    so   schickt   er  den 
Dichter  als  Statthalter  in  die  Garfagnana,  ein  wildes  Bergland  mit 
einer  verwilderten   Bevölkerung,   das   nach    den  letzten  Wirren  an 
Ferrara  gefallen  war.    Ariost  selbst  meint  (V,  177),  der  Fürst  habe 
mehr   an   die  Not   seines  Dichters  als  an  die  seiner  neuen  Unter- 
tanen gedacht.    Eine  ungeeignetere  Wahl  konnte  er  kaum  treffen, 
sie   wird   höchstens  noch  durch  die  Berufung  Sancho  Pansas  zum 
Statthalter  seiner  Insel  überboten.     Ariost  hat  die  volle  Einsicht 
in  das  Groteske  seiner  Stellung: 

Wie  man  ein  Land  regiert,  will  der  ermessen? 
Ein  Mann,  den  wenig  von  den  Fünfzig  trennt 
und  noch  von  Knabennarretei  besessen? 
Sein  Reich   besteht  aus    83  Ortschaften,   und   in  allen  gibt  es  nur 
Mord  und  Totschlag,  nur  Diebstahl  und  Zank.     Die  Mörder  sind 
zahlreicher  als  die  Häscher,  und  mit  emgerollter  Fahne  geht  ihnen 
die  Polizei  vorsichtig  aus  dem  Wege.   Er  selbst,  der  Herr  Gouver- 
neur, bittet,  schmeichelt,  droht,  verurteilt,  spricht  frei  und  vor  allem 
schreibt  er  Akten,   'täglich   neue  Bogen  an  seinen  Herrn  um  Bei- 
stand oder  Rat\    Mit  hinreißender  Selbstü-onie  schildert  er  sich  in 
seiner   ganzen    Hilflosigkeit.     Er  vergleicht    sich    mit    dem    Huhn, 
das    mit  dem  gefundenen  Juwel  nichts  anzufangen  weiß,   und  mit 
dem  Schiffer,  der  vom  König  ein  Pferd  erhält,  aber  nur  zu  rudern, 
und  nicht   zu  reiten  versteht,   und  er  kommt  zu  der  Einsicht,    daß^ 
er  kein  Reiter  ist.   Auch  der  Herzog  muß  wohl  allmählich  erkannt 
haben,  daß  man  aus  einem  Dichter,  und  noch  dazu  dem  piü  fan- 
tastico   e   capriccioso,    wie   ihn   Carducci^   nennt,   keinen    Landrat 

1  Übrigens  auch  eine  Erinnerung  an  Horaz,  Sat.  I,  VII,  35—39.   Inspice 
si  possum  donata  reponere  laetus,  cf.  Berardi  1.  c.  S.  30. 

2  Delle  Poesie  latine  edite  ad  ineditc  d.  L.  A.  S.  18. 


Ariosts  Satiren  221 

machen  kann.  Er  rief  ihn  nach  Ferrara  zurück,  wo  Ariost  seine 
letzten  Lebensjahre  in  dem  heiß  ersehnten  eigenen  Heim,  an  der 
Seite  seiner  Alessandra  in  Unabhängigkeit,  frei  von  jedem  lästigen 
Zwang  verbringen  dm-fte.  Ob  das  Glück  seinen  Erwartungen  ent- 
sprach? Es  scheint  fast  nicht  so,  denn  er,  dem  das  Reisen  so 
verhaßt  war,  solange  er  reisen  mußte,  besucht  in  den  nächsten 
Jalu'en  Venedig,  Correggio  und  Mantua.  Ariost  war  eine  gesellige 
Natur.  Schon  der  Gedanke,  allein  zu  Mittag  zu  speisen,  ist  ihm 
unerträglich  (II,  163),  er  brauchte  Menschen  und  Bewegung,  und 
vermutlich  trieb  es  ihn  von  der  Stille  des  eigenen  Heims  wieder 
in  den  Lärm  des  Lebens  hinaus. 

Die  Forscher,  die  sich  mit  den  Satiren  beschäftigen,  greifen 
zumeist  nur  einzelne  Stellen  heraus,  die  sie  als  Belege  für  Ariosts 
Ehrenhaftigkeit  und  Aufrichtigkeit,  seine  Bescheidenheit  und  seine 
Vorliebe  für  die  Einfachheit  anführen.  Das  ist  eine  äußerliche 
Betrachtung,  die  an  Eigenschaften  haftet,  die  sich  entweder  von 
selbst  verstehen  oder  doch  für  das  innerste  Wesen  des  Dichters 
wenig  besagen.  Der  Wert  der  Satiren  besteht  in  dem  Lebensbild, 
das  er  von  sich  selber  entwü-ft.  Beruht  dieses  auf  Wahrheit?  Das 
Dasein  des  Dichters  war  nicht  leicht,  reich  an  Ungnade,  Zurück- 
setzung und  Kränkung;  mid  ist  es  ihm  wirklich  gelungen,  alle  diese 
Widerwärtigkeiten, 

des  Unterdrückers  Zwang,  des  Stolzen  Hohn, 

des  Rechtes  Aufschub, 

den  Übermut  der  Amter  und  die  Schmach, 
die  Unwert  schweigendem  Verdienst  erweist, 
so  leicht  zu  tragen,  wie  es  nach  den  Gedichten  den  Anschein  hat? 
Es  ist  wenig  wahrscheinlich,  eher  muß  man  annehmen,  daß  sein 
empfindliches  Dichterherz  schwer  darunter  gelitten  hat.  Aber  das, 
was  ihm  das  Leben  vergällte,  das  rang  er  in  der  Poesie  nieder, 
das  löste  er  mit  überlegenem  Humor  in  Scherz  auf.  Das  Lebens- 
bild der  Satiren  ist  ein  Kunstwerk,  vielleicht  das  größte,  das  unser 
Dichter  geschaffen  hat,  imd  um  es  zu  schaffen,  dazu  bedurfte  er 
nicht  nur  eines  starken  Talentes,  sondern  in  erster  Linie  einer 
seehschen  Größe,  die  sich  durch  äußerliches  Mißgeschick  zwar  ge- 
legenthch  verstimmen,  aber  nicht  dauernd  erbittern  ließ.  Pietro 
Aretino  hat,  wie  schon  erwähnt,  Ariost  als  die  somma  boyitade  be- 
zeichnet. Vielleicht  war  .  niemand  besser  geeignet,  den  Charakter 
unseres  Dichters  zu  beurteilen,  als  der  Pamphletist,  der  in  jeder 
Beziehung  sein  Widerpart  war.  Er  ließ  sich  von  dem  Bösen  über- 
winden, Ariost  überwand  das  Böse  mit  Gutem. 

Berlin.  Max  J.  Wolff. 


15^ 


Maupassant  und  Flaubert. 

inlaubert  hat  bis  zu  seinem  Tode,  am  5.  Mai  1880,  Maupassant 
X  seine  Freundschaft  und  Sorge  geschenkt,  die  fast  an  Vaterliebe 
grenzte.  Maupassant  war  ihm  ein  Erinnerungsbild  seiner  Jugend, 
ein  Stück  neugeschenkter  Jugend  aus  der  Zeit  des  Freundschafts- 
bundes von  Gustave  und  Caroline  Flaubert  mit  Alfred  und  Laure 
le  Poittevin.  Fl.s  Liebe  zu  dem  etwas  älteren,  früh  verstorbenen 
Alfred  hat  nie  aufgehört.  Als  er  an  Laure  de  Maupassant  geb. 
le  Poittevin  den  ersten  —  erhaltenen  —  Brief,  nachdem  sie  sich 
längere  Zeit  aus  den  Augen  verloren  hatten,  als  Antwortbrief  schreibt, 
wohl  Ende  1863,  da  ist  der  ganze  Brief  voll  vom  Andenken  an 
Alfred:  Elle  (der  Brief)  m'a  appoj'U,  comme  sur  im  souffle  d'air 
frais,  toute  la  senteur  de  ma  jeiinesse,  oü  notre  jpauvre  Alfred  a 
tenu  une  si  grande  jüace!  Ce  sotivenir  ne  me  quitte  pas.  II 
n'est  point  de  joiir,  et  fose  dire  presqiie  point  d'heure  oü  je  ne 
songe  ä  lui!  Aus  dieser  romantisch-sentimentalen  Erinnerungs- 
stimmung heraus  warf  er  sich  mit  seiner  unverbrauchten  Liebes- 
kraft, die  er  so  gerne  gab,  wenn  er  die  eigenen  Hemmungen  über- 
winden konnte,  auf  den  jungen  Guy,  den  Sohn  der  Freundin  und 
vor  allem  den  Neffen  des  Freundes,  dem  er  auffallend  glich.  So 
wurde  er  Mentor  und  Freund  M.s,  sobald  dieser  reif  und  fähig 
war,  Fl.  zu  begreifen.  Und  der  frühreife,  begabte  Junge  dankte 
ihm  mit  getreuer  Liebe  und  Verehrung.  Der  weise  Einsiedler  von 
Croisset  gab  dem  jungen  Guy  seine  Prägung,  und  über  den  Tod 
Fl.s  hinaus  wirkt  sie.  Nicht  allzulange  darüber  hinaus;  denn,  wenn 
auch  die  Verehrung  bis  zu  M.s  Tode  fortdauerte,  die  Schülerschaft, 
das  Verständnis  und  die  Nachfolge  Flaubertscher  Kunstanschauung 
schwand.  M.  ging  eigene,  künstlerisch  schlechtere  Wege;  vielleicht 
hat  er  Fl.s  Wege  nie  ganz  verstanden,  er  folgte  ihm  nur  als 
Schüler.  Aber  der  Einfluß  Fl.s  ist  doch  sehr  groß  gewesen  und 
soll  im  folgenden  abgegrenzt  und  festgelegt  werden. 

Am  sinnfälligsten,  aber  auch  am  äußerlichsten  ist  der  Einfluß 
Fl.s  auf  die  Kunsttheorie  und  Weltanschauung  M.s  zu  merken. 
Neubert  hat  kürzlich  'Die  literarische  Kritik  Guy  de  Maupassants', 
Supplementheft  VIII  u.  IX  der  Zeitsclu-ift  für  franz.  Sprache  und 
Literatur  1914  und  1919  passim  darauf  hingewiesen.  Die  Leit- 
sätze Fl.s:  Les  ho7i7ieurs  deshonoretit,  le  titre  degrade,  la  fonction 
abrutit,  kehren  bei  M.  wieder:  Trois  choses  de^honorent  un  ecri- 
vain:  La  Revue  des  deux  mondes,  la  decoratiofi  de  la  Legion 
d'honneur  et  l'Äcademie  frangaise,  also  stark  ins  Praktische,  Kon- 
krete und  Oberflächliche  gewandt.  Dieser  Ausspruch  M.s  ist  be- 
stritten, vielleicht  deshalb,  weil  M.  zum  mindesten  seine  Ansicht 
über  die  'Revue'  geändert  hat.    1880  lehnt  sie  seine  'Derniere  es- 


Maupassant  und  Flaubert  223 

capade'  ab;  aber  später  schloß  er  einen  günstigen  Vertrag  mit  ihr 
ab,  jährlich  mindestens  15  Druckbogen,  den  Bogen  zu  1500  Frank, 
zu  liefern.  Er  hätte  nicht  der  praktische  Xormanne  sein  müssen, 
wenn  er  solch  eine  Anerbietung  aus  prinzipiellen  Gründen  ausge- 
schlagen hätte.  Er  ist  als  Schriftsteller  nur  40  Jahre  alt  geworden; 
wer  weiß,  was  aus  seinen  Theorien  über  Orden  und  Akademie 
noch  geworden  wäre. 

In  ähnlicher  Weise  übernimmt  M.  weitere  Leitsätze  Fl.s,  aber 
er  kehrt  sie  immer  ins  Schlagworthafte  und  Phrasenhafte.  Was  bei 
Fl.  errungenes  Resultat  ist,  ist  bei  M.  übernommenes  Programm. 
Die  fanatische,  alles  andere  verzehrende,  uneigennützige  Liebe  zur 
Kunst  macht  den  Künstler  aus.  Das  hat  M.  von  Fl.  gelernt,  aber 
er  konnte  die  Kunst  nicht  ausschließhch  lieben,  er  liebte  das  Leben, 
er  liebte  Sport  und  Weiber  zu  sehr.  Am  15.  Juli  1878  schreibt 
Fl.  an  M.:  Pour  un  ariiste,  ü  n'y  a  qu'un:  fout  sacrifie?'  ä  l'art. 
La  vie  doit  etre  considerce  par  lui  comme  un  moyen,  rien  de 
plus  ...  In  den  Briefen  M.s  an  Fl.  (Edition  Conard,  Boule  de 
Suif)  finden  wir  keine  Töne,  die  wie  die  von  Fl.  angeschlagenen 
klingen.  Wohl  Entmutigung  und  Depression,  aber  nicht  über  die 
Kunst,  sondern  über  das  Leben.  Und  wenn  M.  in  dem  oft  zitierten 
Aufsatz  über  George  Sand  im  Gaulois  13.  Mai  1882  sagt:  'Neben 
dem  sehr  berechtigten  Wunsch,  Geld  zu  verdienen,  neben  dem  ganz 
natMichen  Verlangen  nach  Ruhm  liebt  der  Künstler  leidenschaft- 
lich, was  er  hervorbringt,  und  muß  es  heben',  so  zeigt  das  mehr 
'gesunden  Menschenverstand'  als  Flaubertschen  Kunstfanatismus. 
Man  verstehe  mich  recht:  nicht  daß  er  anders  urteilt  als  Fl.  soll 
ihm  vorgeworfen  werden,  das  ist  sein  gutes  Recht;  aber  daß  er  so 
tut  —  wenn  es  ihm  paßt  — ,  als  stände  er  auf  dem  Standpunkt 
Fl.s,  daß  er  sich  mit  Redensarten  schmückt,  während  Fl.  sein 
Leben  daransetzte,  das  ist  Pose  oder  Unehrlichkeit  oder  Nicht- 
verstehen. 

Zusammenfassend  äußert  er  sich  über  sein  Verhältnis  zu  Fl. 
in  der  Vorrede  zu  den  Briefen  Fl.s  an  George  Sand:  bewundernd, 
aber  wieder  oberflächlich,  das  wichtigste  mißverstehend  bewundernd; 
er  spricht  von  Fl.s  erhabener  Objektivität  und  der  ImpassibüiU 
des  Künstlers,  bewmidernd  und  als  ob  er  ganz  auf  dem  gleichen 
Boden  stände.  Dann  fügt  er  nüchtern  und  kühl  hinzu:  'Das  waren 
für  ihn  Glaubensartikel'.  Das  heißt  auf  deutsch:  Für  mich  sind 
sie  es  nicht!  M.  spricht  von  der  ImpassibüiU  des  Dichters  und 
gleichzeitig  'fecris  jMvce  que  je  souffre' .  Auch  hier  will  ich  sein 
Prinzip  —  falls  es  eins  ist  —  nicht  angreifen.  Aber  er  kann 
nicht  Fl.  als  sein  Ideal  hinstellen,  wenn  er  auf  ganz  anderem  Stand- 
punkt steht.  Die  Wesensähnlichkeit  der  'beiden  Normannen'  haben 
auch  die  Literarhistoriker  immer  viel  mehr  betont  als  M.  selber, 
80  daß  es  zur  Binsenwahrheit  geworden  ist,  Fl.  und  M.  als  eine 


224  Maupassant  und  Flaubert 

Art  künstlerische  Einheit  anzusehen.  M.  ist  Fl.s  Schüler  gewesen, 
aher  im  äußerlichen  Sinne,  er  ist  von  ihm  literarisch  eingepaukt 
worden.  Was  jedoch  die  große  Schülerschaft  ausmacht,  das  Durch- 
drungensein von  den  Ideen  des  Meisters  und  eigenes  Verarbeiten 
des  vom  Meister  Übernommenen,  etwa  wie  Nietzsche  um  Wagner 
gerungen  hat,  das  hat  M.  nie  getan  und  nie  versucht.  Er  hat  nie 
mit  Fl.  innerlich  abgerechnet,  er  hat  nur  von  ihm  genommen,  was 
und  wann  es  ihm  paßte.  Er  wußte,  daß  Fl.  ein  großer  Künstler 
war,  und  er  liebte  und  verehrte  zeitlebens  den  großen  Menschen, 
aber  er  hat  nie  um  Fl.s  Kunst  gerungen,  sie  wohl  in  ihrer  Aus- 
schließlichkeit nie  verstanden. 

Als  weitere  'Erbschaft'  Fl.s  fülirt  Neubert  IX,  101  die  Ver- 
achtung des  Bourgeois  an.  Er  sagt:  'Es  unterliegt  nicht  dem  ge- 
ringsten Zweifel',  fährt  dann  fort:  'nur  daß  sie  nicht  in  dem  Maße 
bei  dem  Schüler  ausgeprägt  war  wie  bei  dem  Meister,  der  den 
"Bourgeois"  mit  einem  fast  krankhaften  Hasse  verfolgte.'  Aber 
das  ist  gerade  das  Entscheidende ;  der  Haß  gegen  das  Unkünstlerische, 
Unschöne  ist  das  Charakteristische  bei  Fl.,  ist  das  eminent  Künst- 
lerische, diese  grenzenlos  gesteigerte  Sensibihtät  gegen  das  Häß- 
liche und  Banausische;  nicht  daß  Fl.  den  Bourgeois  haßt,  sondern 
wie  er  ihn  haßt;  nicht  die  Tatsache,  sondern  der  Grad.  Bei  Fl. 
ist  es  Haß,  bei  M.  Verachtung.  Die  Verachtung  des  Bourgeois 
ist  ein  literarischer  Gemeinplatz;  den  Bourgeois  haben  auch  die 
ganzen  Romantiker,  Murger,  Leconte  de  Lisie  und  die  Parnassiens, 
Zola,  Mendes,  Barres,  die  Symbolisten  und  unzählige  andere  ver- 
achtet. Jeder  Künstler,  jeder  Boheme,  ja  sogar  jeder  junge  Mensch 
verachtet  den  Spießer.  Dieser  Gemeinplatz  mündet  in  die  Trivi- 
alität des  Studenten,  der  den  Philister  verspottet  und  verlacht;  es 
ist  fast  eine  Pubertätserscheinung.  Aber  Fl.s  Haß  gegen  den 
Bourgeois  ist  ein  Kunstprinzip,  hervorgegangen  aus  der  feindlichen 
Einsamkeit  des  Großen,  aus  dem  Kampfe  des  Denkers  und  Phan- 
tasten gegen  die  Realitäten  der  Welt;  es  ist  der  Kampf  von  Don 
Quijote,  von  Stendhal,  Schopenhauer  und  Nietzsche  gegen  die  blöde 
Umwelt,  während  M.s  Bourgeoisverachtung  die  von  Mm'ger  ist, 
wenn  einem  PhiHster  ein  Streich  gespielt  wird,  oder  die  des  Stu- 
denten, der  'Ruhig,  Philister!'  singt.  Also  M.  hat  von  Fl.  gelernt, 
daß  man  als  Künstler  den  Bourgeois  verachten  muß,  aber  er  hat 
die  Tiefe  und  das  Leidenschaftliche  daran  nicht  verstanden.  Der 
abgründige  Haß  bei  Fl.  (man  denke  an  'Bouvard  et  Pecuchet'  und 
den  'Dictionnaire  des  idees  regues')  ist  zu  einem  Gemeinplatz  und 
zu  einer  Platitüde  geworden.  Ich  muß  somit  der  herrschenden 
Ansicht  widersprechen,  daß  M.  von  Fl.s  Kunsttheorie  imprägniert 
gewesen  wäre;  es  war  bloß  eine  leichte  Tünche. 

Viel  wichtiger  ist  die  ganz  persönliche  und  direkte  Beeinflussung 
M.s  durch  Fl.,  als  M.  richtigen  Unterricht  bei  Fl.  hatte;  mündlich 


Maupassant  und  Flaubert  225 

und  iu  Briefen  belehrt  und  ermahnt  er  den  jungen  Guy  während 
dessen  ganzer  Vorbereitungszeit  bis  zu  seinem  Tode.  M.  selbst  be- 
richtet darüber  in  dem  Vorwort  'Le  Roman'  zu  'Pierre  et  Jean': 
Plus  tard,  Flaubert,  que  je  voyais  quelquefois,  se  prit  d'affection 
jjour  moi.  J'osai  lui  soivmettre  quelques  essais.  B  les  lut  avec 
honte  et  me  rcpondit:  Oe  ne  sais  pas  si  vous  aurez  du  talent.  Ce 
que  vous  m'avex  apporte  prouve  une  cei'taine  intelligence,  mais 
71  ouhliex  point  ceci,  jeune  komme,  que  le  talent  —  suivant  le 
tnot  de  Buffon  —  n'est  qu'une  longue  patience.  Travaillez!'  Je 
travaülai,  et  je  revins  souvent  chez  lui,  compi-enant  que  je  lui 
jjlaisais,  car  il  s'etait  mis  ä  m'appeller,  en  riant,  son  disciple. 
Pendant  $ept  ans  je  fis  des  vers,  je  fis  des  contes,  je  fis  des  nou- 
velles,  je  fis  meine  un  drame  detestable.  B  n'en  est  rien  reste. 
Le  maitre  lisait  tout,  puis,  le  dimanche  suivant,  en  dejeunant, 
developpait  ses  criiiques  ...  Fl.  lehrte  ihn :  B  s'agit  de  regarder 
tout  ce  qu'on  veut  exprimer  assex  longtemps  et  avec  assez  d' atten- 
tion pour  en  decouvrir  un  aspect  qui  n'ait  ete  vu  et  dit  par 
yersonne.  B  y  a,  dans  tout,  de  l'inexplore,  parce  que  nous  sommes 
habitues  ä  ne  nous  servir  de  nos  yeux  qu'avec  le  souvenir  de  ce 
qu'on  a  pense  avant  nous  sur  ce  que  nous  coyitemplons.  La 
moindre  chose  contient  un  peu  d'inconnu.  Trouvous-le.  Pour 
decrire  un  feu  qui  flamhe  et  un  arbre  dans  une  plaijie,  demeu- 
rons  en  face  de  ce  feu  et  de  cet  arbre  jusqu'ä  ce  qu'ils  ne  ressem- 
blent  plus,  pour  nous,  ä  aucun  autre  arbre  et  ä  aucun  autre 
feu.  C'est  de  cette  fagon  qu'on  devient  original.  Ayant,  en  outre, 
pose  cette  verite  qu'il  n'y  a  pas,  de  par  le  monde  entier,  deux 
grains  de  sable,  deux  7nouches,  deux  fnairis  ou  deux  nez  absolu- 
ment  pareils,  il  me  forgait  ä  exprimer,  en  quelques  phrases,  un 
etre  ou  im  objet  de  maniere  a  le  particulariser  nettement,  ä  le 
distinguer  de  tous  les  untres  etres  ou  de  tous  les  autres  objets 
de  meme  race  ou  de  meme  espece. 

Also  Durchkorrigieren,  theoretische  Anweisungen  und  Aufgaben- 
stellen umfaßte  die  Lehrtätigkeit  Fl.s.  Das  Korrigieren  stelle  ich 
zurück,  da  Fl.  das  bis  zu  seinem  Tode  durchführte;  zu  den  theo- 
retischen Anweisungen,  die  er  bei  Fl.  in  Paris,  in  der  Rue  Murillo, 
und  in  Croisset  erfuhr,  kommen  die  Anregungen  und  Ermahnungen 
in  den  Briefen.  Zunächst  das  Aufgabenstellen.  M.  gibt  selbst  ein 
Beispiel  1.  c:  Quand  vous  passez,  me  disait-il,  devant  un  epicier 
assis  sur  sa  jJorte,  devant  un  concierge  qui  fume  sa  pipe,  devant 
une  Station  de  fiacres,  montrez-moi  cet  epicier  et  ce  concierge, 
leur  pose,  toute  leur  äpparence  physique  contenant  aussi,  indique 
par  l'adresäe  de  l'image,  toute  leur  nature  morale,  de  fagon  ä  ce 
que  je  ne  les  confonde  ,avec  aucun  autre  epicier  ou  avec  aucu7i 
autre  concierge,  et  faites-moi  voir,  par  un  seid  mot,  en  quoi  un 
cheval  de  fiacre  ne  ressemble  pas  aux  cinquante  autres  qui  le 


226  Maupassant  und  Flaubert 

siävent  et  le  precedent.  Ein  glücklicher  Zufall  hat  uns  einen  zweiten 
Bericht  über  diese  Aufgabestellung  erhalten.  Adolphe  Brisson 
erzählt,  Lumbroso,  Souvenirs  sur  Maupassant,  Rome  1908, 
S.  127 :  Demain  matin,  tu  mar  eher  as  dans  la  rue  jusqu'ä  ce  qiie 
tu  apergoives'un  concierge  s'appliquant  ä  balayer  le  trottoir  de- 
vant  sa  maison.  Alors  tu  t'arreteras,  tu  co?itempleras  ce  spec- 
tacle,  tu  fen  penetreras  et  tu  consigneras  fidelement  les  sensations 
de  tout  ordre  qu'il  aura  suggerees  ä  ton  imagination.  Vite  ä 
l'ouvrage!  et  soigne  ton  pipelet!  Que  je  le  reconaisse  si  jamais 
je  le  rencontrc.  Diese  Version  ist  sicher  die  richtige;  schon  der 
Stil  ist  ganz  der  gutmütig  polternde  Fl.s,  und  der  'pipelet'  in  dieser 
famihären  Verwendung  ist  typisch  Fl.  Wenn  M.s  Bericht  etwas 
abweicht,  so  genügt  schon  der  zeithche  Unterschied  zur  Begründung. 
'Pierre  et  Jean'  ist  1888  erschienen.  Damals  lag  das  weit  zurück, 
M.  war  der  arrivierte  Schriftsteller  und  legte  vielleicht  keinen  iiber- 
triebenen  Wert  darauf,  gerade  das  Schülermäßige  hervorzuheben. 
Das  Duzen  ist  kein  Grund  gegen  sorgfältige  Überlieferung  Brissons, 
wenn  auch  Fl.  erstmalig  unter  dem  13.  Februar  1880  (Corr.  IV) 
M.  duzt,  während  er  ihn  am  8.  Januar  1880  noch  mit  vous  an- 
redet; es  paßt  ganz  zu  der  hitzigen,  stürmisch-väterlichen  Art  Fl.s, 
daß  er  den  Schüler  im  Eifer  der  Kunstbegeisterung  duzt,  wie  auch 
im  Brief  über  Boule  de  Suif,  Corr.  IV,  354  das  Du  durchbricht. 
Diesen  hitzigen,  etwas  tyrannischen  Eifer  und  Sorge  hat  Fl.  auch 
in  den  Briefen  an  M.  Er  ist  ihm  ans  Herz  gew^achsen  als  Neffe 
und  Sohn  Le  Poittevin,  als  Schriftsteller  von  Zukunft,  und  er  ge- 
fiel ihm  als  Mensch,  was  ja  auch  M.  an  der  oben  zitierten  Stelle 
etwas  unbescheiden  deutlich  hervorhebt.  Im  Briefe  an  Laure 
de  Maupassant,  23.  Febmar  1873,  lobt  er  den  Sohn,  behält  sich 
aber  ein  endgültiges  Urteil  über  Guys  Talent  vor:  Je  crois  notre 
jeune  gargon  un  peu  flmieur  et  mediocrement  apre  au  t?'avaü. 
Je  voudrais  lui  voir  entreprendre  une  oeuvre  de  longue  haieine, 
füt-elle  detestablef  Ce  qu'il  m'a  montre  vaut  bien  tout  ce  qu'on 
i?nprime  chez  les  Parnassiens  . . .  Ävec  le  temps  il  gagnera  de 
Voriginalite,  une  maniere  individuelle  de  voir  et  de  sentir  (car 
tout  est  lä);  pour  ce  qui  est  du  resultat,  du  succes,  qu'  importe!  . . . 
Darin  steckt  das  ganze  Kunstprinzip  Fl.s.  Ob  es  auch  Mutter  und 
Sohn  M.  ganz  lag?  Wenn  Fl.  sagt:  'N'en  faisons  ptas  un  rate!' 
so  ist  die  Mutter  einverstanden;  sobald  er  es  verstehen  kann,  auch 
Guy.  Aber  Fl.  meint  verfehlte  Künstlerschaft,  die  M.s  verfehlte 
Existenz  schlechthin.  Ist  das  nicht  der  Gegensatz  zwischen  künst- 
lerischer Anschauung  und  Anschauung  des  'gesunden  Menschen- 
verstandes' oder,  wenn  es  auch  M.  entsetzen  würde,"  des  Bour- 
geois? Am  20.  Juni  1873  empfiehlt  Fl.  Guy  gute  Lektüre:  'L'aba^i- 
donnee'  von  Turgenjeff.  Am  25.  Oktober  1876  empfiehlt  er  ihm 
einen    Stoff   für   Artikel,    Geschichte    der    modernen   Kiitik,    also 


Maupassant  und  Flaubert  227 

wieder  eine  Aufgabe,  die  M.  übrigens  nie  geschrieben  hat.  "Weih- 
nachten 1876  erkundigt  er  sich  nach  dem  Gedeihen  eines  histo- 
rischen Dramas, 

Einmal  hat  M.  deprimiert  und  in  bilHger  "Weltverachtung  an 
Fl.  geschrieben,  in  dem  —  gekürzten  —  Brief  vom  3.  August  1878 
(Boule  de  Suif,  Ed.  Conard  S.  CVIIIfi).  Fl.  antwortet  unter  dem 
15.  Juli  1878:  Vous  vous  plaig?iex  des  femmes  qui  sont  'mo7io- 
tones' .  II  y  a  im  remede  hien  siynple,  c'est  de  ne  pas  vous  en  ser- 
vir.  'Les  ev^nements  ne  so7it  pas  varies.'  Cela  est  une  plainte 
realiste  et  d'aüleurs,  qu'en  savex-vous?  II  s'agit  de  les  regarder 
de  plus  preß.  Avez-vo?(s  jamais  cru  ä  l'existe?ice  des  choses,  est- 
ce  que  tont  ii'est  pas  une  Illusion?  II  n'y  a  de  vrai  que  les 
'rapports' ,  c'est-ä-dire  la  fago7i  dont  nous  percevons  les  objets. 
'Les  vices  sont  mesquins' ,  mais  tout  est  mesquin!  'E  n'y  a  pas 
assex  de  tournures  de  phi'asesf  Cherchex  et  vous  trouverex  . . . 
II  faut,  entendex-vous,  jeune  liomme,  ü  faut  travailler  plus  que  ga. 
J'arrive  ä  vous  soiqjgonne?-  d'etre  legerement  caleux.  Trop  de 
putains!  trop  de  canotage!  oui,  vionsieur!  Le  civilise  n' a  pas  tant 
besoin  de  locomoiion  que  pretendent  messieiü's  les  medecins.  Vous 
etes  ne  pour  faire  des  vers,  faites-en.  Er  warnt  ihn  vor  der  'tristesse' 
und  schließt  rührend-humorvoll:  Croyex-en  V ejcperience  d'un  scJieik 
ä  qui  aucune  exiravagance  n'est  etrangere.  Hinter  dieser  derben, 
polternden  und  wieder  humorvollen  Art  des  Ermahnens  und  Aus- 
schimpfens  sehen  wir  das  innere  Wohlwollen,  die  väterliche  Art 
bei  Fl.,  die  sich  nicht  nur  auf  den  Schriftsteller,  sondern  auch  auf 
den  Menschen  M.  erstreckt.  Fl.  führt  M.  bei  nützlichen  Leuten 
ein;  er  empfiehlt  ihn  an  Zeitungen  und  Zeitschriften;  er  inter- 
essiert sich  für  seine  amtliche  Karriere,  er  drückt  durch,  daß  M. 
das  Marineministerium  mit  dem  des  öffentlichen  Unterrichts  ver- 
tauschen kann,  was  etwas  angenehmer  ist;  er  empfiehlt  ihn  an 
Raoul  Duval  von  der  'Nation',  der  später  beim  Prozeß  wegen  des 
'unsittlichen'  Gedichtes  in  'Des  Vers'  helfen  muß;  er  schlägt  ihm 
Themen  für  Zeitungsartikel  vor,  er,  der  die  Zeitungen  gehaßt  hat; 
er  verschafft  ihm  Verleger;  schreibt  den  berühmten  Verteidiguugs- 
brief  für  den  Gedichtband  im  Gaulois  (21.  Februar  1880),  schreibt 
ihm  alle  vorzunehmenden  Schritte  genau  vor  und  gibt  ihm  die 
nötigen  Empfehlungen,  um  eine  öffentliche  Anklage  zu  verhindern; 
als  er  annimmt,  daß  M.  kein  Geld  hat,  ihn  in  Croisset  zu  be- 
suchen: J'ai  un  double  louis  sujjerbe  ä  ton  Service.  Un  refus  par 
delicatesse  serait  de  la  canaillerie  ä  mon  endroit  (wohl  Februar 
1880,  Corr.  IV,  S.  378).  Kurz,  in  den  Briefen  kommt  die  ganze 
zärtlich  sorgende  Liebe  Fl.s  heraus,  der  Guy  alles  geben  will,  was 


^  Einer  der  Briefe  muß  falsch  datiert  sein,  da  Fl.s  Brief  evident  die  Ant- 
wort auf  den  von  M.  ist. 


228  Maupassant  und  Flaubert 

er  hat:   Unterstützung  jeder  Art^   in  Dingen  der  Kunst  wie  des 

Lebens.     Und  M.  dankt  mit  der  Widmung  seines  Gedichtbandes: 

A  Gustave  Flaubert 

A  rUlustre  et  paternel  a7ni 

que  faime  de  toute  ma  tendresse, 

ä  l'irreprochable  mattre 

que  fadmire  avant  tous. 

Nun  als  letztes  das  kritische  Durchkorrigieren,  daß  Fl.  bis  zu 
seinem  Tode  durchgeführt  hat,  ein  schulmäßiges  Durchkämmen  des 
Stils,  das  sich  aus  Fl.s  enorm  hoher  Einschätzung  des  Stils  ergab, 
und  das  er  auch  z.  B.  bei  Zolas  'Conquete  de  Hassans'  in  einem 
Brief  an  Zola  vom  3.  Juni  1874  und  'Nana',  am  15.  Februar  1880 
anwendet.  Er  kritisiert  schonungslos  die  Versuche  und  später  die 
Werke  M.s  dm-ch.  Der  schon  erwähnte  A.  Brisson  erzählt,  Lum- 
broso  1.  c.  S.  197,  von  einer  solchen  Lektion:  '3Io7i  fils,  tu  vas  me 
couper  ces  epithetes.  Et  ce  verbe?  Que  vient  faire  ici  ce  verbe?' 
II  se  fächait  lorsque  deux  phrases  se  suivant  avaient  le  mhne 
destin  et  le  meme  rytkme.  Mahn,  Guy  de  Maupassant,  Berlin 
1908,  sagt  S.  79:  'Randbemerkungen  zu  dem  bis  jetzt  Manuskript 
gebhebenen  Gedichtband,  den  Leon  Fontaine  aufbewahrt,  rühren 
unzweifelhaft  von  Fl.  her  und  legen  Zeugnis  ab  von  seiner  Uner- 
bittlichkeit.' Schade,  daß  das  unveröff enthebt  ist.  M.  erwähnt 
diese  Schulung  durch  Fl.  in  der  Vorrede  zu  Pierre  et  Jean  nicht, 
aber  darauf  zielt  wohl,  wenn  Pol  Neveux  von  M.  gehört  hat  (Boule 
de  Suif,  Ed.  Conard  S.  XXII):  Durant  sept  annees  Fl.  depega, 
pulverisa  les  gaiiches  essais  de  l'eleve,  dont  les  progres  restaient 
incertains.  Dafür  haben  wir  die  Kritik  Fl.s  über  einzelne  Gedichte, 
die  später  in  'Des  Vers'  erschienen,  aus  seinen  Briefen  an  M.,  also 
Werke  des  Dreißigjährigen,  deren  einem  Fl.  dieselbe  Unerbittlich- 
keit zeigte  wie  denen  des  Jünglings.  Am  25.  Oktober  1879  schreibt 
er:  C'est  tres  bien  votre  Venus.  Je  n'y  vois  rien  ä  reprendre  que 
deux  petites  mco?'rectio7is  grammaticales,  mais  elles  peuvent  se 
defendi'e.  Dormez  su7'  vos  deux  oreüJes.  Ccst  boyi.  Es  handelt 
sich  um  die  'Venus  rustique'  aus  dem  Gedichtband,  Ed.  Conard 
S.  117  ff.;  die  beiden  Unkorrektheiten  lassen  sich  natüi*hch  nicht 
feststellen.  Sonst  ist  Fl.  also  zufrieden.  Wohl  aus  dem  Januar 
1880  (Corr.  IV,  353):  Quant  ä  votre  mur  plein  de  vers  splendides, 
ü  y  a  des  disparates  de  ton.  Aussi  le  mot  bagatelle  nous  verse 
une  douche  glacee.  Ueffet  comique  arrive  trop  tot,  mais  admettons 
que  je  n'aie  rien  dit;  il  faut  voir  V ensemble.  Es  handelt  sich  um 
'Le  mur',  Ed.  Conard  S.  Iff.  Das  Wort  bagatelle  kommt  nicht 
darin  vor.  Das  Gedicht  ist  im  Januarheft  1880  der  'Revue  mo- 
derne  et  naturaliste' 1   erschienen;   vielleicht  hat  Fl.  'Le  mur'   in 

^  In  Deutschland  unauftreibbar. 


Maupassant  und  Flaubert  229 

dieser  Zeitschi'ift  gelesen,  vielleicht  steht  dort  noch  das  angefeindete 
Wort.  Die  Edition  Conard  sagt  1.  c.  S.  8  darüber:  le  texte,  assez 
differant  d'aiUeiirs  en  certains  passages.  Das  wichtige  ist,  daß 
M.  Fl.  folgt;  in  der  definitiven  Ausgabe  fehlt  das  Wort.  Die  Ejritik 
ist  streng,  erkennt  aber  auch  manches  an. 

Unter  dem  8.  Januar  1880  schreibt  Fl.:  Le  füre  est  hon!  Des 
Vers,  pur  G.  de  M.  Gardez-le.  Februar  oder  März  1880  (Corr.  IV, 
378)  schreibt  Fl.:  Maintenant  causons  de  Desirs.  Eh  hien!  mon 
jeune  komme,  la  dite  piece  ne  me  platt  pas  du  tout.  Elle  indiqtie 
une  facilite  deplorable.  Un  de  mes  chers  desirs,  un  desir 
qid  est  eher!  Avoir  des  ailes,  parhleu!  le  souhait  est  com- 
mun.  Les  deux  vers  suivants  so7it  bons,  mais  au  quatrieme  les 
oiseaux  surpris  ne  sont  pas  surpris  puisqiie  tu  es  ä  les 
poursuivre,  ä  rnoi?is  qiie  suiyris  ne  veuille  dire  etonnes?  Je 
voudrais,  je  voudrais.  Ävec  une  pareille  tou7'nure  on  peut 
aller  indefiniment  tant  qu'on  a  de  Vencre!  Et  la  composition? 
oü  est  eile?  Ainsi  qu'un  grand  flambeau,  Vimage  me  semble 
comique;  outre  qu'un  flambeau  ne  laisse  pas  de  flamme,  jmisqu'  il 
la  jjorte.  Des  fronts  en  cheveux  noirs  aux  fronts  en  che- 
veux  roux.  Charmant,  7nais  rappelle  trop  le  vers  de  Menard: 
So7(s  ies  cheveux  chätains  et  sous  tes  cheveux  gris.  Oui  je  vou- 
drais. Pourquoi  oui?  Clair  de  lune  excellent.  L'affolante 
bataille,  atroce!  En  soninie  je  fengage  ä  supprimer  cette  piece, 
eile  n'est  pas  ä  la  hauteur  des  autres.  Lä-dessus  ton  vieux 
t'embrasse.    Severe,  nuäs  juste. 

Das  Gedicht  'Desirs'  steht  in  der  Ed.  Conard  S.  65  ff.  Es  läßt 
sich  zum  Teil  feststellen,  wie  M.  sich  zu  der  Kritik  gestellt  hat. 

Un  de  mes  chers  desirs  ist  ersetzt  durch  Le  reve  p)Oiir  les 
uns;  aber  dadurch  änderte  er  auch  in  der  zweiten  Strophe,  die  mit 
D'autres  voudraient  beginnt.  '"Offenbar  sind  die  beiden  ersten 
Strophen  nicht  unwesentlich  verändert,  weil  in  der  definitiven  Aus- 
gabe die  erste  davon  handelt,  was  les  U7is,  die  zweite,  was  les 
autres  möchten;  erst  die  dritte  beginnt  mit:  Moi,  ce  que,  j'aimerais. 
Ursprünglich  ha,ndelten  offenbar  auch  die  ersten  zwei  von  dem, 
was  der  Dichter  wollte. 

Avoir  des  ailes  ist  geblieben.  Die  vierte  Zeile  der  ersten 
Strophe  hat  M.  total  geändert,  statt  oiseaux  surpris  reimt  jetzt 
les  cieux  assoynbris,  was  eine  Umformung  der  ganzen  Zeile  be- 
dingte. Je  voudrais  steht  immer  noch  an  drei  Strophenanfängen, 
das  neue  J'adorerais,  das  erste  Wort  der  sechsten  Strophe,  ersetzt 
offenbar  das  angefeindete  Oui  je  voudrais  und  streicht  gleichzeitig 
ein  voudrais.  Ainsi  qu'un  grand  flambeau  ist  ersetzt  durch  une 
fJainme  eternelle,  wodurch  Reim  und  Sinn  umgestaltet  werden 
mußte.  Der  Vers:  Des  fronts  en  cheveux  7ioirs  etc.  ist  geblieben; 
das  ironisch  gelobte  clair  de  lune  ebenfalls.    L'affolante  bataille, 


230  Maupassant  und  Flaubert 

die  Fl.  atroce  fand,  ist  verschwunden;  sie  muß  in  der  letzten 
Strophe  gestanden  haben,  wohl  in  den  ersten  Zeilen;  wo,  kann  ich 
nicht  erraten. 

M.  hat  also  das  meiste  dieser  recht  scharfen  Kritik  angenommen. 
Er  vertrug  auch  derben  Tadel,  was  ihn  nur  ehrt.  Noch  bei  einem 
weiteren  Gedicht  sind  wir  in  der  Lage,  die  definitive  Gestalt  mit 
einer  früheren  Fassung  zu  vergleichen:  'Sommation  sans  respect' 
(Ed.  Conard  S.  91  ff.).  In  einem  Briefe  an  die  Mutter  (Boule  de 
Suif  S.  XXXV f.)  vom  8.  März  1875  sagt  M.:  'Voici  une  piece  de 
vei's  que  j'ai  faite  dernierement.  Sommation  respectueuse.'  Und 
nun  zitiert  er  die  erste  Fassung  des  Gedichtes.  Sie  hat  1 1  Strophen, 
die  definitive  14.  Bloß  sechs  Strophen  der  ersten  Fassung  sind  in 
definitive  übernommen  worden,  die  drei  ersten,  die  zwei  letzten  und 
die  siebente  des  Entwurfs,  die  der  fünften  der  definitiven  Fassung 
entspricht.  Die  Varianten  in  diesen  Strophen  sind  nicht  sehr 
wichtig:  In  der  zweiten  Zeile  der  ersten  Strophe  ist  in  der  defini- 
tiven Fassung  bete  durch  g7'os  ersetzt,  weil  bete  in  der  ersten  Zeile 
der  zweiten  Strophe  Reimwort  ist.  Die  dritte  Strophe  ist  ganz  um- 
geändert worden,  mit  neuem  Reimschema.  Bei  grotesque  epou- 
vantail  der  vorletzten  Strophe  ersetzt  grotesque  ein  inieril  der  ersten 
Fassung;  M.  entfernte  die  metrische  Härte,  jmeril  zweisilbig  zählen 
zu  müssen.  Schließlich  ist  auch  der  Titel  verändert,  das  ironische 
Sommation  respectueuse  durch  das  positive  Sommation  sans 
respect.  Wichtiger  ist,  was  M.  inhaltlich  geändert  hat.  Die  nicht 
in  die  definitive  Fassung  übernommenen  Strophen  bringen  die  Rede, 
daß  Gott  uns  beide  füreinander  geschaffen  hat,  Gott  sieht  nicht 
nach  der  Mitgift,  Gott  lachte  selbst  über  den  häßlichen  Ehemann. 
Diese  Tirade  ist  in  der  definitiven  Fassung  ersetzt  durch  eine 
boshafte,  anschauliche  Schilderung  des  Äußeren  und  der  Art  des 
Gatten.  Also  sentimentale  Gemeinplätze  ersetzt  durch  anschauliche 
Schilderung;  ,das  subjektiv  Triviale  durch  das  objektiv  Plastische. 
Wäre  diese  Änderung  nicht  ganz  im  Sinne  Fl.s,  wenn  sie  nicht 
tatsächlich  von  Fl.  selbst  ist? 

M.  konnte  mit  dem  Gesamturteil  Fl.s  durchaus  zufrieden  sein. 
Ganz  einverstanden  war  Fl.  immer  noch  nicht;  er  schreibt,  ohne 
Datum,  Corr.  IV,  380:  J'ai  lu  immediatement  ton  volume,  que  je 
connaissais  du  reste,  aux  trois  quarts.  Nous  le  reverrons  ensemble. 
Also  er  will  ihn  mit  M.  nochmals  durchgehen.  Immerhin  wertete 
er  den  Band  ziemlich  hoch,  höher  als  M.  selbst,  der  ihn  nie  ge- 
liebt hat  und  später  bereut  hat,  ihn  veröffentlicht  zu  haben.  Jules 
Lemaitre  sagte:  Vers  d'un  yrosateur.  Versen  gegenüber  war  Fl., 
der  die  Verse  von  Bouilhet  wunderschön  fand,  offenbar  nicht  so 
kritisch  wie  sonst.  Sein  Wichtigstes  bei  der  Kritik  waren  Fragen 
des  Stils,  und  mit  drei  Punkten,  der  deplorable  facilite,  der  'scie' 
der    vielen   je  voudrais    und    der    von    Brisson    erwähnten   Über- 


Maupassaut  und  Flaubert  231 

lastung  mit  überflüssigen  und  liederlich  gewählten  Worten  trifft  er 
ins  Schwarze.  Ich  werde  noch  oft  bei  der  Stilkritik  der  Werke 
M.s  darauf  zurückkommen  müssen. 

1880,  ein  paar  Wochen  vor  'Des  Vers'  erschien  'Beule  de  Suif 
in  dem  Sammelband  'Soirees  de  Medan'.  Er  wurde,  besonders 
durch  M.s  Novelle,  ein  großer  Erfolg.  Fl,  hatte  von  der  geplanten 
Novelle  schon  gewußt,  wohl  nicht  von  der  geplanten  Zusammen- 
arbeit der  sechs  'Medanistes'.  So  verstehe  ich  eine  Stelle  aus  Fl.s 
Brief  vom  2.  Januar  1880:  Ah!  ga,  vous  allez  donc  puhlier  im 
volume!  Un  volume  de  vers  bien  entendu,  mais  d' apres  votre 
lettre  le  conte  rouennais  e?i  fait  partie?  Et  puis  vous  dites  nos 
epreuves;  qui  cela,  nous?  J'ai  grande  envie  de  voir  l'elucubra- 
Uon  anti-patriotique.  II  faudrait  qu'elle  füt  bien  forte  pour  me 
revolter.  Fl.  denkt  zunächst  an  den  Gedichtband,  an  dem  M. 
ja  schon  seit  Jahren  arbeitete;  aber  'conte  rouennais'  geht  wohl 
sicher  auf  Boule  de  Suif,  denn  Üucuhration  anti-patriotique  paßt 
doch  nur  darauf,  und  'nous'  sind  die  Medanisten. 

Vor  dem  Erscheinen  sah  Fl.  das  Manuskript  mid  war  begeistert; 
ohne  Datum  (wohl  Anfang  Januar  1880,  Corr.  IV,  354)  schreibt 
er  den  bekannten  Brief:  Mais  il  me  tarde  de  vous  dire  que.je 
considere  'Boule  de  Suif  comme  un  chef  d' oeuvre.  Oui!  jeune 
komme!  Ni  plus,  ni  m.oins,  cela  est  d'un  mattre.  C'est  bien 
wiginal  de  conception,  entieremeyit  bien  compris  et  d'un  excelletit 
style.  Le  paysage  et  les  persomiages  se  voient  et  la  jjsychologie 
est  forte.  Bref,  je  suis  ravi,  deux  ou  trois  fois  j'ai  ri  tout  haut 
(sie)  ...  Ce  petit  coute  restera,  soyex-en  sür!  ...  J'ai  envie 
de  te  becotter  pendant  un  quart  d'heure!  Non!  vraiement,  je  suis 
content!  Je  me  suis  amuse  et  j'admire.  Ferner  undatiert  (nach 
dem  19.  Februar  1880,  Corr.  IV,  37 9 f):  J'ai  relu  Boule  de  Suif 
et  je  maintiens  que  c'est  un  chef  d' oeuvre.  Täche  d'en  faire  une 
douxaine  comme  ga!  et  tu  seras  unhomme!  Er  empfiehlt  in  dem 
ersten  Brief  (Corr.  IV,  354),  zwei  Stellen  zu  streichen:  qui  ne  sont 
mauvttises  du  tout,  mais  qui  peuvent  faire  crier  les  imbeciles 
parce  qu'elles  out  l'air  de  dire:  'moi  je  m'en  f...:  i°  dans 
quelles  fosses'.^  Zum  Verständnis  muß  ich  die  Stelle  nach  ihrem 
Wortlaut  im  Manuskript  von  'Boule  de  Suif  ergänzen;  also:  dans 
quelles  fosses  d'aisances  avez-vous  plonge,  ö  fusils  ä  tabatiere, 
es  handelt  sich  um  von  den  Franzosen  weggeworfene  Flinten.  Der 
Brief  Fl.s  lautet  weiter:  Ce  jeune  komme  jette  de  la  fange  ä  nos 
arynes;  et  2°  le  mot  tetons  (bei  der  Beschreibung  von  Boule  de 
!  Suif).  Aj)res  quoi  le  goüt  le  plus  begueule  n'aurait  rie?i  ä  vous 
i  reprocker.  Er  sagt  ferner:  Je  vous  ai  mis  sur  U7i  petit  'tnorceau 
\  de  papier  mes  remarques  de  pion.     Tenez-en  compte,  je  les  crois 

*  In  der  Corr.  IV,  355  steht  ein  sinnloses  frises  statt  foases;  überhaupt 
läßt  die  Herausgabe  der  Corr.  sehr  zu  wünschen  übrig. 


232  Maupassant  und  Flaubert 

bonnes.  Natürlich  ist  der  Zettel  nicht  erhalten,  aber  im  Manuskript 
finden  sich  eine  Anzahl  Korrekturen,  darunter  die  zwei  eben  an- 
geführten Stellen,  die  M.  in  FI.s  Sinn  geändert  hat;  ferner  haben 
im  Gedichtband  das  Gedicht  'Desirs'  und  das  Gedicht  'Sommation' 
allein  Korrekturen  erfahren,  bei  'Desirs'  nachweislich  und  bei 
'Sommation'  wahrscheinlich  von  FL,  und  endlich  sind  die  Korrek- 
turen in  der  Tat  gut  und  stimmen  durchaus  zu  FI.s  Stilkritik;  so 
habe  ich  wohl  ein  Recht,  anzunehmen,  daß  der  Zettel  in  M.s 
Hände  gekommen  ist,  und  daß  die  Korrekturen  in  das  Manuskript 
aufgenommen  sind.  Ob  alle  Korrekturen  von  Fl.  stammen,  läßt 
sich  natürlich  nicht  erweisen,  aber  die,  die  nicht  von  Fl.  sind,  sind 
zum  mindesten  in  seinem  Sinne. 

M.  spricht  in  der  Einleitung  zu  Pierre  et  Jean  S.  XXXIII 
über  FI.s  Stillehre:  Quelque  soit  la  chose  qii'on  veut  dire,  il  n'y  a 
qu'un  mot  pour  l'exprmier,  qu'un  verbe  jJOiir  l'animer  et  qu'un 
adjectif  pour  la  qualifier.  II  faul  donc  cherclier,  jusqu'ä  ce 
qu'on  les  ait  decouverts,  ce  mot,  ce  verbe  et  cet  adjectif,  et  7ie 
Jamals  se  contenter  de  l'ä  peu  jjres,  ne  jamais  avoir  recours  ä 
des  super cheries,  meme  heureuses.  . . . 

Von  diesem  Standpunkt  aus  verstehen  wir  den  Sinn  von  FI.s 
Korrekturen  zu  Boule  de  Suif.    Ich  greife  die  wichtigsten  heraus: 

Ed.  Conard  S.  3:  allure  molle  für  tratnee,  eparpülee,  das  be- 
zeichnende Adjektiv  statt  zweier  nichtssagender. 

S.  4:  division  moulue  dans  une  grande  bataüle  statt  hachee, 
das  originelle  Wort  statt  des  trivialen. 

S.  6:  De  par  le  monsti'ueux  'droit  de  guerre' .  Das  überflüssige, 
die  Wirkung  schwächende  monstrueux  ist  gestrichen. 

S.  8:  Schilderung  des  besetzten  Rouen:  Les  rues  semblaient 
Vivantes  comme  au  temps  des  Franr-ais;  rien  en  apparence 
n'etait  change  que  Vuniforme  des  soldats.  Dafür  knapp  und  an- 
schaulich: Les  Franc;ais  ne  sortaient  guere  encore,  mais  les  sol- 
dats prussiens  grouillaie^it  dans  les  rues. 

S.  9:  souve7it  für  chaque  jour.  Die  billige  Übertreibung  ist 
gestrichen. 

S.  10:  Les  vases  du  fleuve  etaient  pleinefsj  de  ces  vengearices 
obscures.  Statt  des  sehr  beliebig  gewählten  Adjektivs  pleines: 
e?isevelissaient. 

S.  10:  Die  sentimentale  Tirade:  C  etaient  le  devouement  des 
pauvres  ä  leurs  miserables  foyers  qui  travaillaient  chaque  nuii 
dans  Vombre,  streicht  Fl.  weg. 

S.  16:  toute  petite,  toute  mignonne,  toute  jolie.  toute  petite 
gestrichen. 

S.  16:  d'un  oeil  ravi,  dafür  air. 

S.  19:  un  gros  bedon  ersetzt  durch  une  gorge  enorme,  um 
nicht  faire  crier  les  imbeciles. 


Maupassant  und  Flaubert  233 

S.  33:  la  voix  (Iure  d'ioi  allemand,  dure  gestrichen,  da  über- 
flüssig und  nur  den  Stil  belastend. 

S.  37:  Sa  gi'cinde  harhc,  qui  avait  pris  elle-meme  la  nuance 
de  son  breuvage  atme,  für  pr/s  elle-meme:  ga7~de,  knapp  und  pla- 
stisch. 

S.  41:  Boide  de  Suif,  dont  le  ve^itre  et  les  teto7is  se  melaient 
soiis  un  'peignoir  de  cachemir,  dafür:  qui  paraissait  plus  7'eplete 
eneore,  abgeschwächt,  um  die  Spießer  nicht  zu  ärgern. 

Alle  Korrekturen  bedeuten  eine  Präzisiening  und  ein  Erzielen 
von  deutlicherer,  bildhafterer  Anschaulichkeit.  So  ist  Beule  de  Suif 
stilistisch  wohl  das  beste  Werk  von  M.  Es  hatte  einen  großen 
Erfolg  beim  Publikum,  wohl  wegen  des  pikanten  Themas,  aber 
auch  infolge  der  graziösen  und  diurchaus  lustigen,  liebenswürdig- 
ironischen  Darstellung.  Fl.  erklärte  es,  wne  schon  erwähnt,  als  ein 
Meisterwerk;  es  mußte  ihm  auch  liegen;  die  Verhöhnung  des  Bour- 
geois war  sehr  deutlich  und  ziemlich  heftig,  dazu  konnte  es  als 
Dokument  menschhcher  Dummheit  und  Gemeinheit  angesprochen 
werden,  war  also  ganz  imprägniert  von  Flaubertschen  Ideen.  Eigen 
war  der  leichte,  tändelnde,  spöttelnde  Ton,  über  den  Fl.  nicht  ver- 
fügte; aber  m  der  Gesinnung,  im  Tenor  war  es  em  Kind  von  Fl. 
Deshalb  — -  sicher  unbewußt  —  liebte  er  die  Novelle  und  übersah, 
woran  wir  ims  stoßen:  das  zu  derb  Aufgetragene  und  zu  sehr  Kon- 
struierte. Die  Vertreter  der  'guten  Gesellschaft'  sind  feige  und  er- 
bärmlich, die  einzig  Anständige  in  Gesinnung  und  Handeln  ist  die 
Dirne;  also  ein  sentimentales  Requisit  der  Romantik.  Die  Dirnen 
als  Heldinnen  sind  ja  überhaupt  sehr  beliebt  bei  M.,  der  für  sie 
immer  \iel  übrig  hatte  (cp.  A.  Brisson,  1.  c.  S.  128).  Nun  das 
Konstruierte:  der  Edelmann,  der  Fabrikant,  der  Kaufmann  (jetzt 
würde  man  Schieber  sagen),  der  demoki-atische  Agitator,  die  Kirche, 
repräsentiert  dm'ch  die  zwei  Nonnen;  außerhalb  der  Gesellschaft 
die  Dirne,  die  geschwätzige,  impulsive  und  naive  'Stimme  des 
Volkes',  die  am  Ende  die  einzig  respektable  ist. 

Der  Erfolg  von  Boule  de  Suif  war  eine  der  letzten  Freuden 
.Fl.s.  Am  5.  Mai  1880  ist  er  gestorben.  Aber  hört  mit  seinem 
Tode  sein  Einfluß  auf?  Ich  denke  nicht.  Mindestens  sieben  Jahre 
des  Unten-ichts  in  Flaubertschen  Ideen  und  Flaubertscher  Stil- 
theorie können  nicht  mit  einem  Schlage  vergessen  sein.  Ich  habe 
M.s  Werke  daraufhin  durchgelesen;  je  weiter  man  sich  von  Fl.s 
Todesjahr  entfernt,  desto  größer  werden  die  Unterschiede,  und 
andere  Einflüsse  machen  sich  bemerkbar.  So  finde  ich  Spuren 
Flaubertschen  Geistes  bloß  in  zwei  Büchern,  in  dem  Novellenband 
'La  Maison  Tellier'  und  dem  Roman  'Une  Vie',  die  Novellen  aus 

I(  dem  Jahre  1881,  der  Roman  von  1883.  Dies  Resultat  paßt  zu 
'dem  Bilde,  das  ich  von  Fl.s  Einfluß  auf  M.  gab:  mehr  eine  ober- 
:  flächhche  Tünche,  mehr  Respekt  vor  einem  anerkannten  und  ver- 


234  Maupassant  und  Flaubert 

ehrten  Künstler  als  ein  Verarbeiten  und  Insichaufnehmen  eines 
Kunstprinzips.  Sobald  der  persönliche  Kontakt  fehlt,  schwächt  sich 
der  Einfluß;  bloß  die  ersten  paar  Jahre  nach  dem  Tode  des 
Meisters  wirkte  er  noch,  bloß  beim  ersten  Novellenband  und  beim 
ersten  Roman.  Auch  nicht  alle  Novellen  dieses  Bandes  zeigen 
die  Spuren  Fl.s,  sondern  nur  zwei:  die  Titelnovelle  und  'Histoire 
d'une  fille  de  ferme'. 

Mit  der  Novelle  'La  Maison  Tellier'  blieb  M.  im  alten  Fahr- 
wasser, er  nützte  den  Erfolg  von  Boule  de  Suif  aus.  Er  dachte 
vielleicht  an  den  Rat  Fl.s  nach  Boule  de  Suif,  Corr.  IV,  380: 
Täche  d'en  faire  une  douzame  comme  ga.  Im  Januar  1881  ist 
die  NoveUe  fast  vollendet;  Boule  de  Suif  S.  CXLVI  an  die  Mutter: 
J'ai  presque  fini  ma  nouvelle  sur  les  femmes  de  hordel  ä  la 
premiere  communion.  Je  crois  que  c'est  au  moins  egal  ä  Boule 
de  Suif,  si  non  superiem .  Auf  seiner  Reise  in  Algier,  Sommer 
1881,  trifft  er  Lemaitre  und  erzählt  ihm  von  seiner  Novelle,  dont  la 
premiere  partie  se  passait  dans  un  mauvais  lieu  ei  la  seconde  dans 
une  eglise.  Die  Grundidee  der  Novelle  ist  stark  im  Sinne  Fl.s.  Die 
Dirnen,  die  unter  Führung  der  Bordellmutter  an  der  ersten  Kom- 
munion im  kleinen  Dorfe  teilnehmen,  die  durch  ihr  Beispiel  das 
ganze  Dorf  in  eine  Woge  des  Glaubens  mit  hineinreißen,  die  den 
alten  Priester  zum  einzigen  Male  seines  Lebens  ein  Wunder  des 
Glaubens  erleben  lassen,  die  dann  glücklich  und  zufrieden  zu  ihrer 
alten  Tätigkeit  zurückkehren,  dies  Spielen  mit  den  sogenannten 
höchsten  Dingen  (wie  in  'Coeur  simple'  Felicites  Papagei  zu  einer 
Art  heiliger  Geist  wird),  diese  Erkenntnis  menschlicher  Dummheit 
zeigt  noch  die  Tatze  des  alten  Löwen  von  Croisset.  Vermieden 
hätte  Fl.  die  bilHgen  Outriertheiten,  die  er  ja  auch  bei  Boule 
de  Suif  zu  streichen  riet:  den  Vergleich  der  Laterne  am  Bordell 
mit  der  Laterne  einer  Madonnenstatue,  la  ijetite  lanterne  de  7nado7ie.^ 
Als  die  'Damen'  im  Dorfe  Spazierengehen,  bekreuzigt  sich  eine 
halbblinde  Alte  comme  devant  une  jjrocessio7i.  Auch  hier  ist  der 
Witz  dürftig  und  zu  billig,  das  Ausspielen  der  Gegensätze  'Kirche 
und  Bordell'  ist  zu  sehr  gewollt  und  konstruiert.  Das  schlimmste 
ist  das  Kinobild,  wie  die  kleine  Konstanze  im  Bett  zusammen  mit 
Rosa  la  Rosse  schläft.  Et  jusqu'au  jour  la  commimiante  reposa 
son  fro7it  sur  le  sein  nu  de  la  jjrostituee! 

Fl.  hätte  auch  den  Stil  gekämmt,  einige  überflüssige  und  lästige 
Adjektiva  gestrichen  oder  ersetzt:  calme  et  profond  sonimeil,  coeur 


^  Diese  Pointe  findet  M.  so  ausgezeichnet,  daß  er  sie  zweimal  bringt. 
Ebenso  den  Anschlag  am  Bordell:  Ferme  pour  cause  de  preyniere  communion, 
den  er  auch  zweimal  wörtlich  zitiert.  Es  ist  sonst  nicht  M.s  Art,  seine 
Witze  so  breitzutreten;  dazu  versteht  er  zuviel  von  der  Technik  des  Witzes, 
daß  Wiederholung  die  Pointe  abbricht.  Ich  erinnere  mich  auch  nicht,  in 
anderen  Novellen  dieses  Ausquetschen  eines  Witzes  gefunden  zu  haben. 


Maupassant  uud  Flaubert  235 

inqidet  et  trouhle,  emotion  vague  et  penible;  er  hätte  der  facilite 
der  Trivialitäten,  wie:  De  cet  oeil  qui  i'epond  'oui',  un  'oui'  jüiis 
disant  et  plus  delicieux  qu'ime  parole!  Einhalt  geboten.  Er  hätte 
also  die  zu  billigen  Wirkungen  nicht  geduldet  und  M.  zum  'Travail 
du  style'  ermahnt.  Aber  er  wäre  mit  der  Novelle  zufrieden  ge- 
wesen; auch  sie  ist  graziös  erzählt,  der  Höhepunkt,  die  Feier  in 
der  Kirche,  ist  recht  diskret  und  geschickt  herausgearbeitet,  das 
Tempo  der  Novelle  ist  leicht  und  nicht  ermüdend  und  der  Schluß- 
wirbel uud  die  Schlußpointe  gut  gewählt.  Varianten  zu  Maison 
Tellier  existieren  nicht.  Novellen  pflegte  M.  nur  zu  feilen,  wenn 
sie  früher  in  einer  Zeitung  oder  Zeitschrift  erschienen  waren; 
Maison  Telher  kam  gleich  in  Buchform  heraus. 

Die  zweite  für  mich  wichtige  Novelle  ist:  'Histoire  d'une  fille 
de  ferme'.  Es  ist  die  Geschichte  einer  Magd  auf  einer  Ferme, 
die  einen  Geliebten  hat,  der  sie  schwanger  sitzen  läßt;  sie  heiratet 
später  den  Fermier  und,  da  sie  zusammen  keine  Kinder  haben, 
nimmt  er  schließlich  ihren  unehelichen  Jungen  an  Kindes  Statt  an. 
Der  Einfluß  von  Fl.s  Novelle  'Un  cceur  simple'  ist  evident.  Das- 
selbe Problem,  die  Geschichte  eines  braven,  unselbstischen  und  un- 
selbständigen Dienstmädchens,  die  gleiche  Desillusionierung  durch 
die  liebe,  die  —  gehemmt  —  in  der  Liebe  zur  Arbeit  und  für 
andere  einmündet.  Was  M.  Eigenes  hinzutat,  war  —  natürlich  — 
die  Unterstreichung  des  Geschlechtlichen,  was  Fl.  nur  eben  mit 
andeutet,  und  der  verschiedene  Ausgang:  bei  M.  ein  bourgeoiser 
Schluß,  Ende  gut,  alles  gut,  mit  der  Schlußpointe  aus  dem  Rühr- 
stück. 

Manches  am  Stil  hätte  FL  nicht  gefallen:  die  Leichtigkeit  der 
Trivialitäten,  wie:  une  douceur  qui  lui  penetrait  au  coeur;  tout 
envahi  par  le  desir;  folle  d' impalience  et  d'inquietude;  u?ie  souf- 
france  iiouvelle,  une  souffrance  de  toutes  les  heures,  de  toutes 
les  minutes;  eile  voulait  la  paix,  le  repos  complet,  dormir  sans 
fin;  etranglee  par  une  angoisse;  son  pietit  d'oü  venait  tout  son 
malheur,  mais  d'oü  venait  aussi  tout  son  bonheur  sur  la  terre; 
die  beliebigen  und  unpräzisen  Adjektiva:  midi  brillant;  mollesse 
delicieuse;  yeux  brillants;  persistance  acharnee;  aurore  empour- 
pree;  frafcheur  delicieuse;  mare  profonde;  immense  douleur;  re- 
volte  desesperee;  larmes  ruisselantes. 

Stilistisch  ist  diese  Novelle  vernachlässigter  und  liederUcher  als 
'Boule  de  Suif  und  'Maison  Tellier'.  M.  ist  schon  hier,  was  Henri 
Gheon  später  von  ihm  sagt:  'un  iinprovisateur  plein  de  mau- 
vais  goüt  et  d'ime  speciale  gräce' .  Dabei  hat  M.  diese  Novelle 
umgearbeitet  und  korrigiert.  Sie  war  schon  vor  der  Buchform  am 
26.  März  1881  in  der  'Revue  politique  et  litteraire'  erschienen,  und 
die  damahge  Gestalt  weicht  nicht  unwesentlich  von  der  endgültigen 
Fassung  ab.     Am  Ende  des  vierten  Kapitels  gibt  Rose  sich  dem 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    140.  jß 


236  .  Maupassant  und  Flaubert 

Pächter  hin,  während  in  der  definitiven  Form  sie  sich  nach 
Widerstand  nehmen  läßt.  Auch  die  Herbeiführung  der  Lösung  ist 
eine  andere:  sie  sieht,  wie  ihr  Mann  mit  dem  Cure  spricht,  sie 
besucht  den  Cure  und  gesteht  dann  ihrem  Manne  alles.  Die  defi- 
nitive Fassung  ist  die  psychologisch  bessere;  die  Passivität  des 
Mädchens  ist  stärker  betont,  sie  hat  keine  Initiative  und  läßt  mehr 
alles  mit  sich  geschehen,  sie  läßt  sich  ins  Glück  wie  ins  Unglück 
treiben.     Die  stilistischen  Varianten  sind  ganz  unbedeutend. 

Als  letztes  Werk,  worin  Fl.s  Einfluß  stark  mitspricht,  betrachte 
ich  'Une  Vie',  erschienen  als  Feuilleton  im  Gil-Blas  vom  27.  Fe- 
bruar bis  6.  April  1883,  im  selben  Jahre  noch  in  Buchform.  Die 
Komposition  ist  hier  eine  andere;  das  liegt  nicht  am  Charakter  des 
Romans,  denn  die  behandelten  drei  Novellen  sind  ja  kleine  Romane. 
Es  hegt  offenbar  ein  neuer  Einfluß  vor.  Unter  dem  2.  Dezember 
1878  schreibt  M.  an  Fl.  über  'Nana'  (Boule  de  Suif  S.  CXnf.): 
La  dimsion  du  livre  ne  me  platt  ims.  Au  Heu  de  conduire  son 
action  directemeiit  du  commencemerit  ä  la  fin,  ü  la  divise,  comme 
le  Nabab  en  chapitres  qui  forment  de  veritables  actes  se  passant 
au  mime  Heu,  ne  renfermant  qu'un  fait  et,  par  conseqiietit,  il 
evite  ainsi  touie  espeee  de  transitio7i,  ce  qui  est  plus  facile.  — 
Ainsi:  i*'"  chapitre:  Une  representation  aux  Varietes.  —  2*  cha- 
pitre:  L' ajypartement  de  Nana.  —  3^  chapitre:  Une  soiree  chex  le 
comte  Nupha  [im  Buche :  Muffat].  —  4^  chapitre :  Un  soujjer  chez 
Nana  etc.  Diese  —  hier  befeindete  —  Technik  der  Komposition 
wendet  M.  in  seinem  Roman  an:  Kapitel  I:  Mädchenleben.  Ka- 
pitel II:  Fernes  Auftauchen  des  Zukünftigen.  Kapitel  III:  Ver- 
lobung etc.  In  diese  14  Kapitel  sind  Einlagen  eingestreut,  die 
zum  Teil  —  wie  immer  bei  M.  —  aus  Chi'oniken  aus  dem  Gil- 
Blas  und  Gaulois  übernommen'  sind.  Die  rührende  Geschichte  der 
Tante  Lison  erschien  am  7.  Mai  1881  im  Gaulois,  dann  1900  im 
'Pere  Milon',  dem  Nachlaßband,  der  aus  alten  Chroniken  etc.  vom 
Verleger  fabriziert  wurde,  als  'Par  un  soir  de  printemps';  die  Hoch- 
zeitsreise als  'Voj-age  de  noce'  im  Gaulois  18.  August  1882;  die 
korsischen  Vendettageschichten  (Une  Vie,  Ollen dorf f  o.  J.  S.  97ff.) 
gehören  in  Stil  und  Inhalt  zu  der  Geschichte  'Un  bandit  corse' 
im  Pere  Milon;  die  normannische  Heirat,  Une  Vie  S.  178 — 182, 
ist  auf  den  Ton  der  kleinen  Bauerngeschichten  gestimmt,  wo  die 
ganze  Komik  in  der  Situation  liegt,  wie  die  Bauern  sich  bei  gleich- 
gültig welchem  Anlaß  imerwartet,  gerissen  oder  bodenlos  indifferent 
zeigen,  etwa  wie  im  'Aveu',  'Lapin',  'Une  Vente',  'Tribunaux  rusti- 
ques'  etc.  Die  Entdeckung  des  Ehebruchs  der  Mutter  durch  die 
Briefe,  S.  214  ff.,  cp.  'La  Veillee'  im  Pere  Milon;  das  Drama  in 
der  Hirteuhütte,  S.  247  ff.,  war  im  Thema  schon  benutzt  im  'Saut 
du  berger',  Gil-Blas  vom  9.  März  1882  und  wieder  im  Pere  Milon; 
sogar  die  unnovellenhafte  Beschreibung  des  Abschiedes  Jeannes  von 


Maupassant  und  Flaubert  237 

ihren  Möbeln,  an  denen  ihr  halbes  Leben  hängt,  S.  294  f.,  erscheint 
als  'Vieux  ob^ets'  als  Brief  zurechtgemacht  im  Pere  Milon. 

Also  die  Komposition  zeigt  den  Einfluß  von  Zola  und  M.s 
eigenartige  Manier  der  Verwertung  eigener  früherer  Produkte.  Der 
Einfluß  Fl.s  tritt  dagegen  hervor  in  der  leitenden  Idee  und  im 
Inhalt.  Die  leitende  Idee  ist  die  der  Desillusion;  die  Heldin  wird 
vom  Leben  enttäuscht  als  Frau,  als  Tochter  und  als  Mutter.  Alles 
wird  anders  und  niedriger,  als  sie  in  ihren  Träumen  erhofft  hatte; 
als  letztes  bleibt  ihi'  die  kleine  Enkeltochter.  Wird  sie  an  der 
auch  wieder  eine  Enttäuschung  erleben? 

Man  hat  auf  die  Ähnlichkeit  mit  Fl.  schon  früher  hingewiesen 
(Mahn  S.  319),  aber  merkwih'digerweise  auf  'Un  coeur  simple'. 
Mahn  hat  es  nicht  schwer,  das  nur  sehr  summarische  der  Über- 
einstimmungen darzulegen  und  diese  Ansicht  abzulehnen.  Er  über- 
sieht, daß  eine  viel  stärkere  und  wirklich  vitale  Beeinflussung  durch 
em  anderes  AVerk  Fl.s  vorliegt,  durch  die  'Education  sentimentale'. 
Das  junge  Mädchen  ist  eigentlich  schon  imfähig  fürs  Leben,  eben 
durch  eine  education  se)itime)itale;  und  nun  erlebt  sie  eine  Ent- 
täuschung nach  der  anderen.  Jeanne  ist  eigentlich  nur  ein  weib- 
licher Frederic;  und  am  Schluß  des  Buches  sprechen  Frederic  und 
Charles  von  einem  Schülerstreich:  C'est  lä  ce  que  nous  avons  eu 
de  yneüleur!  dit  Frederic.  Oui,  peut-eh'e?  C'est  lä  ce  que  iioiis 
avons  eu  de  meilleurf  dit  Deslauriers.  Ganz  ähnhch  schließt 
'Une  Vie'  mit  der  Betrachtung  Rosalies:  La  me,  voyex-vous,  ga 
n'est  jamais  si  bon  ni  si  mauvais  qa'on  croit.  Trotz  dieser 
Ähnlichkeit  der  Schlußpointe  wieder  die  diametrale  Verschiedenheit 
der  'beiden  Normannen'.  Bei  Fl.  tiefe  tragische  Resignation,  die 
sich  einen  halb  ironischen,  halb  lachenden  Anstrich  gibt,  weil  sie 
weinen  möchte;  bei  M.  die  Resignation  des  oberflächlichen  soge- 
nannten gesunden  Menschenverstandes. 

Die  'Education'  war  das  große  Vorbild  für  'üne  Vie',  aber  M. 
hat  die  Geschichte  hi  ein  anderes  Milieu  gehoben,  in  das  ihm  ver- 
traute der  kleinen  normannischen  Landedelleute,  seine  eigene  Sphäre 
der  Jugendzeit.  Jeanne  ist  in  vielem  das  Abbild  seiner  Mutter, 
Laure  le  Poittevin  de  Maupassant.  Der  leichtsinnige  Ehemann, 
das  Nebeneinanderleben,  die  Tragödie  in  der  Hirtenhütte,  die  in 
Wirklichkeit  durchaus  untragisch  verlief,  das  Verbummeln  des 
Sohnes  (Herve  de  Maupassant),  die  Hoffnung  auf  die  Enkelin 
(Simonne),  alles  das  hat  M.  aus  dem  Eigensten  entnommen.  Und 
dazu  wollte  er  sein  Heimatland  schildern,  seine  Normandie;  wollte 
sagen,  daß  er  sie  liebte  und  was  sie  ihm  gewesen  ist.  Et  il  con- 
[fesse  ä  ses  amis  qu'ü  obeit  . . .  ä  une  veritable  necessite  de  deli- 
miter  la  plaine  natale  teile  qu'elle  charma  ses  jeunes  amiees 
(Pol  Neveux,  Beule  de  Suif  S.  XLVI).  So  ist  die  Entstehungs- 
igeschichte  von  'Une  Vie'  eine  dm-chaus  komplexe,  aus  verscliiedenen 

16* 


238  Maupassant  und  Flaubert 

Einflüssen  und  Erfahrungen  zusammengesetzt.  Aber  Fl.s  Einfluß 
erscheint  mir  unwiderleghch  und  gerade  im  AUerwichtigsten  nach- 
weisbar. Hierzu  kommt,  was  nach  meiner  Ansicht  von  Fl.s  Ein- 
fluß gilt:  je  weniger  Zeit  nach  Fl.s  Tod  verstrichen  ist,  desto 
stärker  war  noch  sein  Einfluß.  M.  begann  das  Werk  bereits  in 
der  ersten  Hälfte  des  Jahres  1881  (Mahn  S.  320),  wenn  es  auch 
erst  1883  veröffentlicht  wurde.  Der  erste  Roman  floß  ihm  eben 
nicht  so  leicht  aus  der  Feder.  Louis  Barthou  ist  im  Besitz  eines 
unvollendeten  Manuskripts  von  'Une  Vie',  das  auf  dem  Deckel  von 
M.s  Hand  die  Aufschrift  vieux  manusciipt  trägt.  Ein  weiteres 
Fragment  besitzt  Leon  Hennique,  über  das  nichts  Näheres  bekannt 
ist.  Die  Unterschiede  sind  nicht  unbeträchthch;  so  hat  vor  allem 
im  Manuskript  Barthou  Jeanne  einen  Bruder  Henri,  der  sehr  stark 
an  den  gleichnamigen  Sohn  im  Roman  erinnert  und  dessen  Stelle 
einnimmt.  Der  Stil  im  Fragment  ist  im  ganzen  breiter  und  un- 
präziser, ebenso  in  den  nicht  sehr  wichtigen  Korrekturen  des  defi- 
nitiven Manuskripts  für  die  Romanausgabe.  Es  ist,  als  ob  FL,  der 
tote  Meister,  zum  letztenmal  dem  geliebten  Schüler  das  Werk 
durchgesehen  hätte;  aber  nicht  mehr  scharf  und  knapp,  sondern 
farbloser  und  ohne  die  alte  Energie.  Das  Bild  des  alten  Ideals 
ist  eben  im  Schwinden. 

Im  Stil  dringen  die  von  Fl.  gerügten  Fehler,  die  auch  mir 
durchaus  als  solche  erscheinen,  wieder  stark  vor: 

Die  'beliebigen'  Adjektiva:  joie  infinie;  oeü  morne;  ?mif  lumi- 
neuse;  oeü  ravi;  regards  plei7is  de  passion;  affection  i?idescrip- 
tible;  jouissance  exquise;  teiidresse  delwiense;  charme  tendre; 
branches  greles;  douleur  horrible;  malheurs  indefinis;  gorge 
profonde;  soulagement  immense;  idees  singidieres.  Als  Klang- 
wirkung ist  venaient  de  venir  scheußlich.  Triviahtäten  wie:  un 
Souffle  frais  et  doux  passa,  comme  un  soupir  heureux  de  la  terre. 
Une  affinite  l'unissait  ä  cette  poesie  vivante.  Des  regards  pas- 
sionncs  si  longs  que  les  mnes  semblent  se  meler.  On  pleure  par- 
fois  les  illusions  avec  atdant  de  tristesse  que  les  7norts. 

Die  facilite  wird  zur  Geschwätzigkeit;  es  beginnen  die  Satz- 
ungeheuer, die  sich  beim  späteren  M.  mehren.  S.  170  ein  Satz 
von  82  Wörtern,  S.  294  gleich  einer  von  85  und  einer  von  90, 
S.  238  sogar  einer  von  129. 

Von  dem  mehrfach  wiederholten  je  voudrais  im  Gedicht  'Desirs' 
sagte  Fl.  (S.  229):  Ävec  une  pareille  tournwe  on  peut  aller  inde- 
finiment  tant  qu'on  a  de  l'encre!  Dieselbe  tournure  taucht  wieder 
auf:  C'est  lä  que  . . .,  c'est  lä  qu'il  . . .,  c'est  aiissi  lä  qu'elle  ... 
S.  195;  les  jours  ...,  ces  jours  ...,  ces  jours  ...  S.  221;  de 
V  affection  . . .,  de  V  affection  . . .,  de  V  affection  ...  S.  258;  la 
mer  . . .,  la  mer  . . .,  la  mer  . . .  S.  303.  Das  schlimmste  Beispiel 
steht'S.  315,  wo  sechs  Sätze  hintereinander  mit  Elle  beginnen. 


Maupassant  und  Flaubert  239 

So  haben  wir  M.s  Werdegang  unter  Fl.s  Einfluß  verfolgt,  von 
den  Scliülerarbeiten,  von  dem  schulmäßigen  Durchsehen  der  Ge- 
dichte an  zur  ersten  Novelle,  die  ihm  Erfolg  und  den  vollen  Bei- 
fall Fl.s  brachte,  bei  der  er  seine  Besseningen  als  älterer  Fach- 
genosse und  nicht  mehr  als  Lehrer  schlechthin  gab,  und  zu  den 
nach  Fl.s  Tode  erschienenen  Frühwerken,  wobei  wir  feststellen 
konnten,  wie  der  Einfluß  des  alten  Meisters  abebbt.  M.  ist  seinen 
eigenen  Weg  weitergegangen,  der  ihn  jäh  zu  Ruhm,  Geld  und  un- 
erhörter Beliebtheit  führte.  1890  waren  373000  Bände  Maupassant 
verkauft  (Lumbroso  S.  4.56).  Aber  er  ist  von  den  Wegen  der 
reinen  Kunst  abgegangen,  der  Kunst,  die  er  nie  so  geliebt  hat  wie 
die  wahren  Künstler,  wie  Fl.  sie  geliebt  hat.  In  Deutschland  hat, 
soviel  ich  sehe,  kein  Literarhistoriker  an  M.s  'reiner  Kunst'  ge- 
zweifelt; z.  B.  schreibt  Morf,  Die  romanischen  Literaturen  S.  390: 
'ein  Talent,  das  in  Fl.s  rein  artistischer  Tradition  bheb'.  Die  Fran- 
zosen sind  skeptischer  gewesen.  Die  facüite,  vor  der  schon  Fl. 
warnte,  wirft  ihm  Henri  Gheon  vor:  la  facüite  l'a  perdiie;  Ja  fa- 
cüite n'est  pas  le  genie.  Scharf  und  unfreundhch  zugespitzt,  aber 
kaum  übertrieben  sagt  Stuart  Merrill:  07nj  de  31.  est  un  auteur 
prise  des  commis-voyageurs !  Und  das  zeitgenössische  Urteil  Ed- 
mond  de  Goncourts,  das  die  Freunde  M.s  ihm  so  gewaltig  ver- 
übelten, trifft  nach  meiner  Ansicht,  vollkommen  gerecht  Lob  und 
Tadel  abwägend,  ins  Schwarze:  AI.  est  un  tres  remarqtmble  wo- 
velUere,  un  tres  charmant  conteur  de  nouvelles,  7nais  un  styliste, 
un  grand  ecrivain,  non,  non! 

Und  ich  glaube,  Fl.  wäre  zu  demselben  Urteil  gekommen,  wenn 
er  die  Ent^sncklung  seines  'che7'i'  erlebt  hätte.  Allem  gegenüber^ 
gerade  allem,  was  er  liebte,  Mensch  oder  Kunstwerk,  war  er  stets, 
was  er  im  Briefe  über  M.s  Gedicht  'Desirs'  gesagt  hat,  und  was 
jeder  Kunstkritiker  (also  auch  ich)  sein  will:    Severe,  mais  juste.^ 

Jena.  Heinrich  Geizer. 


^  Was  hier  als  Artikel  erscheint,  ist  ein  Kapitel  aus  einem  Buch  über 
Maupassant,  das  noch  in  diesem  Jahre  erscheinen  wird.  Daraus  erklären  sich 
manche  Urteile  über  den  späteren  M.,  die  ich  an  dieser  Stelle  nicht  ausführ- 
lich begründen  kann. 


Das  Sardische  im  Romanischen  etymolo- 
gischen Wörterbuch  von  Meyer-Lübke. 

(Lieferung  9  u.  10.) 

8522.  taedium:  Dazu  log.  tcyu,  cp.  tcu  'das  Wehklagen  um 
den  Toten  bei  der  Leichenfeier',  wie  Subak,  ZRPh  XXXin(1909), 
669  erkannte.  Zu  -dy-  s.  Lautl.  §  174.  Zur  Bedeutung,  an  der 
M.-L.  vielleicht  Anstoß  nahm,  ist  zu  bemerken,  daß  taedium  schon 
iu  spätlateinischer  Zeit,  in  der  Vulgata  und  bei  den  Ivirchenvätern 
'Gram,  Betrübnis'  bedeutete  und  gi'iech.  limi),  ä'Ai]dla  übersetzte, 
s.  Ron  seh,  Itala  u.  Vulgata  S.  325  und  Semasiol.  Beiträge  I,  69. 

8534.    taikka  (got.):  sa.  takka  entlehnt  aus  it.  tacca. 

8542.   taliare:  log.  taiare,  cp.  tcdlai. 

8547.  tamariciuin:  Der  alte  Name  der  Tamariske  ist  im  Sard. 
tamarike,  CSP  192  und  als  Ortsname  ebd.  187,  312,  344,  356; 
daraus  nlog.  tamariye  (REW  8548);  es  ist  wenig  wahrscheinlich, 
daß  das  daneben  vorkommende  log.  tamarittu  auf  lat.  tamaricium 
zui-ückgeht;  vielmehr  düi'fte  es  kat.  tamarit  entsprechen.  Cp.  tra- 
mäxxu  ist  eine  Entstellung,  i 

8562.  tantus:  cp.  ianda  'Anteil,  zugeteiltes  Tagewerk'  =  span. 
tanda  von  gleicher  Bedeutung. 

8569.  *Taraiitum:  log.  ^ar//7a^M?a 'Holzwurm'  ist  nur  gall.-sass. 
und  nordlog.  und  entlehnt  (?r!);  s.  Litbl.  1916,  Sp.  380. 

8606.  taxo:  Daß  die  sard.  Wörter  für  den  Marder  mit  taxo, 
wie  M.-L.  selbst  zweifelnd  annimmt,  etwas  zu  tun  haben,  halte  ich 
für  ganz  unwahi'scheinhch.  Nirgends  begegnet  eine  ^-Form.  Das 
Tier  heißt  bitt.  grassi}yile,  nuor.  grassißile,  fomi.  assißile,  in  der 
Baronia  (Orosei,  Siniscola):  grassUe\  log.  meist  assile,  in  Abbasanta, 
Ghilarza:  kassfle,  im  Campidano  von  Milis:  kassi  (dort  schwindet  -1-), 
gallur.  vassili,  sass.  bassili.  Im  Campidano  ist  das  Wort  nicht 
bekannt.  Die  zentralsard.  Formen  erklären  sich  von  selbst  als  'fett- 
haarig, mit  glänzendem  Haar',  eine  Benennung,  die  auf  den  Marder 
sehr  gut  paßt.  Wenn  wie  gewöhnlich  die  zentralen  Formen  als  die 
ursprünglichen  angesehen  werden  dürfen,  so  sind  die  übrigen  Entstel- 
lungen infolge  der  satzphonetischen  Erscheinungen  mit  sekundärem 
Schwund  des  -ß-.  Solche  Entstellungen  begegnen  immer  am  häufig- 


1  Die  öynkopierimg  kann  nicht  mit  Salvioni,  RIL  XLII,  857  als  'laut- 
gerecht' angesehen  werden  und  wird  auch  nicht,  wie  dieser  will,  durch  log. 
iraynatta  'Matratze'  gestützt;  denn  dieses,  neben  dem  nordlog.  und  sass.-gall. 
tramdxxa  (s.  Spano  II,  unt.  materasso)  vorkommt,  ist  ein  Eindringling  aus 
dem  Festlande,  vgl.  apul.  strmna-,xo  'rancio,  letto  dei  marinai'  (de  Vincen- 
tiis), veron.  stramaxxo  'coltrice'  (Angeli),  vegl.  stramuäs  (Ive,  AGI IX,  183); 
das  log.  -tt-  ist  nichts  als  Angleichung  des  -xx-  an  die  log.  Lautgewohnheit. 


Das  Sardische  im  Rom.  etym.  Wörterbuch  von  Meyer-Lübke  241 

sten  dann,  wenn  die  ursprüngliche  Bedeutung  des  Wortes  nicht 
mehr  erkannt  wird.* 

8610.    tecum:  log.  cp.  Inaüeyiis. 

8618.   tegula:  Lies  ZRPh  Bh.  XII,  46  statt  ZRPh  XII,  40. 

8665.    termen:  log.  trcmene,  cp.  tremini  Grenze. 

8671.  terraneiis:  log.  espc  terranxa  eine  Art  Erdwespe  (vgl. 
ariola  terrania  im  CSF  311). 

8677.  testudo,  testugo:  nuor.  testüyine,  log.  tostume,  fostöine 
(Campus,  Fon.  S.  29),  cp.  tostohü,  iostoiim\  die  o-Formen  durch 
tostu  'hart'  beeinflußt. 

8705.  therion  (griech.):  Das  von  Guarnerio  angenommene 
Etymon  für  log.  tirryöJu,  cp.  zirryolu  ist  höchst  fragHch;  in  den 
Zentraldialekten  sagt  man:  pipirryolu,  pikki7'ryölu;  die  Wörter 
werden  meist  für  die  Fledermaus  gebraucht,  auch  für-  den  Hirsch- 
käfer, und  hängen  mit  anderen  Tiernamen  dunklen  Ursprungs  zu- 
sammen. YermutHch  handelt  es  sich  um  Wörter  der  vorrömischen 
Sprache  (ähnlich  wie  bei  einer  Reihe  von  Pflanzennamen). 

8727.  tibia:  log.  t/viu  kann  nicht  bodenständig  sein,  sondern 
ist  Uml)ildung  aus  dem  span.  medizinischen  Ausdruck  tibia. 

8750:  tiugere:  Guarnerio  meint  RILomb.  XLIV,  1102  an- 
läßlich des  vom  Anonimo  Bonorv.  verzeichneten  log.  tintieddu 
'macchia  nera  che  ha  il  grano  annebbiato'  (no.  786),  intintieddare 
'picchiettare  di  nero'  (no.  380)  'non  puö  pensarsi  che  a  intintu  -\- 
nieddii  "tinto  di  nero"'.  Daß  bei  den  log.  Wörtern  tintu  herein- 
spielt, ist  möglich;  aber  die  vom  An.  Bonorv.  angegebene  Be- 
deutung ist  jedenfalls  nicht  die  ursprüngliche.  Das  Wort  ist  näm- 
lich in  ganz  Sardinien  in  einer  anderen  Bedeutung  verbreitet,  fin- 
den vom  Herdfeuer  aufsteigenden  Ruß,  der  in  den  kaminlosen 
Häusern  die  Wände  bedeckt.  Die  Formen  sind:  bitt.  pipyeddu, 
nuor.  pipißeddu,  log.  (Padria,  Bonorva,  Olmedo)  tintyeddu,  cp. 
sixxyeddii,  sinxyeddu.  Die  bekannte  Trias  p  —  t  —  z  [s)  im 
An-  und  Inlaut  spricht  gegen  tintu  als  ursprünglichen  Bestandteil 
des  Wortes,  und  von  nieddu  kann  nicht  die  Rede  sein,  da  das  an- 
lautende n  doch  nicht  verschwinden  könnte.  Dagegen  ist  der  Zu- 
sammenhang mit  nwor.  pipöne,  log.  fittöne,  cp.  ;;ü^dw2' 'Feuerbrand, 
brennende  Holzscheite  auf  dem  im  Boden  eingelassenen  Herde'  = 
titione  (mit  dem  an  den  Inlaut  assimilierten  Anlaut^  —  t  —  z)  laut- 
lich und  begrifflich  naheliegend;  man  vergleiche  dazu  auch  span.  tixön 
Feuerbrand,  tixnar  rußen,  tiuie  Ruß,  tixna  Schwärze,  tixnön  Rußfleck. 


1  Man  könnte  freilich  auch  annehmen,  die  bitt.-nuor.  Formen  seien  volks- 
etymologische Deutungen  eines  nicht  verständlichen  {k)assile;  aber  bei  dem 
konservativen  Charakter  der  Zentraldialckte  ist  das  wenig  wahrscheinlich; 
auch  zeigen  die  Zwischenstufen,  wie  in  der  Baronia  und  in  Fonni,  deutlich, 
daß  von  den  Zentralformen  auszugehen  ist.  Endlich,  wie  würde  sich  {k)assile 
aus  sich  selbst  erkläi-en? 


242         Das  Sardischo  im  Rom.  etym.  Wörterbuch  von  Meycr-Lübke 

8755.  tirare:  Die  Angabe:  kat.  (>  campid.)  tira  'Leisten'  ist 
doch  wohl  ein  Irrtum;  sowohl  span.  wie  kat.  (und  das  daraus  ent- 
lehnte camp.)  tira  bedeuten  einzig  und  allein  'ein  schmaler  Streifen 
Leinwand'.  (Die  ital.  Übersetzung  'lista'  bei  Spauo,  die  wohl 
Ursache  des  Irrtums  sein  dürfte,  bedeutet  auch  nicht  'Leisten', 
sondern  'Streifen'). 

8759.  titta:  Lies  am  Schluß  von  Absatz  2:  AStSard.  I,  414 
statt  IX,  414. 

8767.  tok:  log.  tokkare,  cp.  tokkai  in  der  Bedeutung  'an  der 
Tür  klopfen'  entspricht  span.  tocar  a  la  j)uerta. 

8781.  *tonsare:  log.  tusörzu  auch  heute  noch  'Zeit  und  Ort 
der  Schafschur';  im  Campidano:  tundiäröxM. 

8791.   torculare:  Lies  ZRPh  XXXIII,  485  statt  455. 

8794.  tornare:  cp.  turra  'Schöpflöffel'  kann  schwerlich  von 
dem  gleichbedeutenden  log.  trudda,  turiidda  getrennt  werden ;  M.-L. 
zweifelt  denn  auch  und  erwähnt  das  Wort  auch  unter  Nr.  8949 
triüla;  iurra  ist  aus  triüla  über  turla  entstanden,  wie  aürra^ 
feürra,  meürra  aus  harula,  ferula,  merula.  Die  Übersetzung 
'Kochlöffel'  (Nr.  8949)  erweckt  falsche  Vorstellungen.  Das  log. 
und  cp.  Wort  bezeichnet  einen  großen  kurzstieligen  Holzlöffel,  der 
zum  Herausfischen  der  Molken,  zum  Herausschöpfen  der  Getreide- 
körner, Bohnen  usw.  aus  einem  Korbe,  auch  zum  Herausschöpfen 
des  Wassers  aus  einem  Kahn  verwendet  wird.  —  Im  Camp,  be- 
deutet turra  auch  die  hohle  Hand;  Spano  übersetzt  'rovescio  della 
mano,  metacarpo';  aber  was  er  unter  metacarpo  versteht,  zeigt 
Teil  Ü:  'pianta  dessa  7nami\  Wäre  das  Wort  ein  Verbalsubstantiv, 
wie  M.-L.  meint,  so  müßte  es  ^torra  lauten;  denn  das  Vb.  lautet 
nirgends  anders  als  torrai;  turrai  ist  etwas  anderes,  nämlich  'rösten' 
=  kat.  turrar  (neben  der  Schreibung  torrar).  Es  ist  also  tur?'a 
'hohle  Hand'  identisch  mit  turra  'Schöpfkelle',  was  hinsichtlich  der 
Bedeutung  keiner  Erörterung  bedarf.  —  Log.  turrosu  kann  dagegen 
wohl  Ableitung  von  to?'rare  sein  mit  dissimiliertem  vortonigem  o. 

8796.  tornus:  log.  törinii  ist  sichthch  Umstellung  aus  it.  tornio\ 
daneben  tornu  =  it.  torno. 

8833.  tradux:  log.  traiyääu  'sermento  con  grappoli'  vermerkt 
Spano  für  Ozieri;  es  ist  dasselbe  Wort,  das  sonst  triyääu,  triyärzu, 
triya,  triya  lautet  =  tri chila,  ^tric'la  (Nr.  8894).  Da  sonst  tradux 
in  Sardinien  nicht  bezeugt  ist  und  Ozieri  kein  konservativer  Ort  ist, 
ist  eine  zufällige  Einmischung  von  tra-  wahrscheinlicher. 

8839.  tragula:  log.  traiu,  cp.  trayu  bezeichnen  zunächst  eine 
Schleife  aus  Baumzweigen,  auf  der  Steine  und  sonstige  Lasten  be- 
fördert werden,  dann  auch  die  Dreschwalze,  die  die  Rinder  nach- 
schleppen; cp.  auch  trdngidu.  Das  algher.  tragu  (so  statt  tragu 
bei  M.-L.)  ist  wie  so  ziemlich  alle  auf  die  Landwirtschaft  bezüg- 
hchen  Wörter  im  Katalanischen  von  Alghero  ein  Sardismus. 


Das  Sardische  im  Rom.  etym.  Wörterbuch  von  Meyer-Lübke        243 

8886.  2.  trebba:  Lies  log.  triulas  statt  triulos.  Dies,  wie  cp. 
treulos  'Juli'  kann  nicht  von  trebla  kommen,  sondern  ist  Ableitung 
vom  Vb.  log.  triulare,  cp.  treulai. 

8894.   trichila:  s.  Nr.  8833. 

8899.  trifoliiim:  Die  gewöhnliche  log.  Form  ist  nuor.  trivözu, 
log.  triöxu,  cp.  trevidlu,  travüllu,  triivüllu.  Bei  den  cp.  Wörtern 
kommt  vielleicht  die  griechische  Form  triphyllon  in  Betracht  wie 
bei  span.  trebol. 

8968.  *tufula:  cp.  tüvulu  bezeichnet  die  Ketteneimer  der 
Wassermühle,  die  im  Logudoro  kadüffu,  kadüffulu,  kadöfidu  heißen; 
alle  diese  Wörter  düi'ften  gleichbedeutendem  kat.  catüfol,  cadufipl), 
alcaduf  entsprechen,  wobei  der  Wegfall  des  anlautenden  ca-  im 
Cp.  durch  die  Bedeutungsähnlichkeit  des  it.  tubo  sich  erklärt.  — 
Zu  tudda  Sproß  vgl.  jetzt  Jud,  Ro  XLni,  194  und  Wagner, 
AStSa'XI  (1916),  184. 

8996.  turbiscus:  Die  sardischen  Wörter  sind  doch  wohl  ein- 
heimisch. 

8999.    turdus:  log.  turdu,  cp.  turdu,  truäu. 

9018.  tutare:  bitt.  tiitare  auslöschen,  log.  tuäare  das  Feuer 
mit  Asche  oder  Erde  zudecken. 

9071.   ungula:  Lies  i7igiriünga  statt  ingirringa. 

9079.  iirceolus:  log.  iirtsölu  ist  ein  aus  dem  Galluresischen 
ins  Nordlog.  gedrungenes  Lehnwort  (daher  das  -ts-),  das  dem  eigent- 
hchen  Sardischen  fehlt. 

9092.  urvum:  Ich  zweifle  an  der  Herkunft  von  log.  arßäda, 
cp.  orßääa  'Pflugschar'  von  urvum,  da  Bedeutung  wie  Suffix  und 
das  überall  wiederkehrende  a-  eine  andere  Basis  verlangen. i 

9104.  uva:  log.  üa  ist  vom  Norden  her  eingedrungen  und  nur 
nordlog.;  sardisch  dafür  acina. 

9120  a.  vaduiii:  cp.  bau,  du  (acp.  bau,  Carte  volg.  I,  3);  log. 
baäu  (x  it.  guado). 

9120b.  Tafer:  log.  cp.  marfmu  'verworfen,  schurkisch'  kann 
nicht  aus  dem  Sizil.  stammen,  da  eine  solche  Entlehnung  vereinzelt 
dastände ;  es  entspricht  gleichbedeutendem  kat.  marfus,  span.  marfux 
(aus  dem  Spanischen  stammt  natürlich  auch  das  sizilianische  Wort, 
ebenso  wie  nap.  marfuso  und  das  veraltete  ital.  inalfusso). 

9147.  vapor:  cp.  pamjoa  gegenüber  log.  sass.  va^npa  gewiß 
wie  dieses  Entlehnung  aus  dem  Ital. 

9173.   vectis:  fonn.  bette,  ette  Stange,  Hebel. 

9184.   Telum:  log.  richtiger  belu. 

9223.  verbum:  gewöhnlich  im  Plural:  log.  sos  berßos,  cp.  is 
breßiis  Zauberformeln  zum  Verhexen  der  Flintenkugeln,  zum  Ab- 
lenken des  BHtzes  usw. 

1  Ich  werde  auf  das  Wort  demnächst  in  meinem  'Ländlichen  Leben  Sar- 
diniens' zurückkommen. 


244        Das  Sardiscbe  im  Rom.  etym.  Wörterbuch  von  Meyer-Lübke 

9228.   veritas:  log.  vcridade  natürlich  aus  it.  veritä. 

9231.    vermis:  Die  gebräuchliche  cp.  Form  ist  bremi. 

9239.  Terres:  Ein  log.  ^vcrra  'Jähzorn',  das  M.-L.  anführt, 
gibt  es  meines  AVissens  nicht;  offenbar  hegt  eine  Verwechslung  vor. 

9248.  yersus:  log.  bessu,  csu  bedeutet  weder  'Richtung'  noch 
'Art  und  Weise',  sondern  'modo,  vezzo',  d.  h.  'schlechter  Brauch, 
Unart',  ebenso  wie  gall.  vessu;  beide  entsprechen  it.  vezxo. 

9253.  yerticillus:  Die  Form  vertigeddu  stammt  nach  Spano 
aus  Orosei,  d.  h.  der  Baronia;  in  Bitti:  vertikeddn,  nuor.  ortigeddu, 
cp.  ortyeddu. 

9291.  Tetulus:  log.  bexxu,  cp.  beccu  aus  it.  vecchio  entlehnt, 
vgl.  Wagner,  Litbl.  1916,  Sp.  377  u.  380.**—  Dagegen  ist  log. 
{b)eyrn,  beyn  'alt'  (von  Bäumen),  'wurmstichig'  (vom  Holz)  ein  direkter 
Fortsetzer  von  Teclus. 

9299.  yibex:  Ein  gallur.  .^rimici  'Narbe'  gibt  es  nicht.  Bei 
Spano  steht  vinici  f.;  aber  auch  das  ist  ein  Irrtum;  vinici  ist  der 
Plur.  des  Sing,  vinfcca.  Es  kann  also  auch  das  Etymon  M-L.s 
nicht  aufrechterhalten  bleiben.  Offenbar  hängt  das  Wort  mit  vino 
zusammen,  'Weinmal,  rotes  Mal', 

9306.  *Ticen(la:  bitt.  bisenda  kann  nur  aus  dem  Norden 
stammen,  ist  also  festländisches  Lehnwort. 

9327.    viginti:  Lies  log.  binti  statt  vinti. 

9361.    Tirga:  log.  birga. 

9364.  Tirgo:  nuor.  sar  birgines  'die  Feen,  die  nach  dem  Volks- 
glauben in  den  Grotten  der  Urzeit  hausen  (=  yanas).   ■ 

9369.    yirilis:  Lies  in  der  Klammer  log.  sirüe  statt  serila. 

9389.  yitex:  nuor.  viUkinzu,  log.  biäiyin&u,  (b)iäriyin%u  be- 
deuten 1.  Weinranke,  2.  wilder  Wein  (clematis  vitalba).  Der  von 
Salvioni,  RILomb.  XLII,  857  angenommene  Zusammenhang  mit 
yitex,  um  das  ;•  in  {b)idriyi)iiu  zu  erklären  (wie  it.  vetrk-e),  ist 
schon  deshalb  hinfällig,  weil  die  Bedeutung  von  yitex  eine  ganz 
andere  ist;  yitex  ist  bekanntlich  eine  Weidenart.  Das  Wort  ist 
in  Sardinien  überhaupt  nicht  vertreten.  Salvioni  sagt  zwar:  C'e 
invece  idrighinxu  'vitalba,  vetrice';  aber  letztere  Angabe  ('vetrice') 
muß  auf  Zerstreutheit  beruhen;  denn  weder  bei  Spano  noch  bei 
Cara  befindet  sich  eine  derartige  Definition. 

Wir  müssen  also  schon  von  yitis  ausgehen  oder  von  yitic-ida, 
vgl.  it.  viticcio.  {b)iäriyiniu  und  das  von  Spano  auch  angegebene 
triyinxu  veranlassen  Salvioni  zu  einem  höchst  gezwungenen  Laut- 
kunststück: La  forma  trighinxu  si  riannoderä  direttamente  all' 
*ärighinxu,  da  cui  procede  idri-;  vale  a  dire,  si  tratterä,  come  in 
trementu  atrameutii,  inchiostro,  di  una  apocope  anteriore  al  ridursi 
di  -tr  in  dr.'  Für  uns  erklärt  sich  die  Form  einfacher  durch 
Einmischung  des  bedeutungsverwandten  iriya,  triyariu  Weinlaube, 
Rankenwerk. 


Das  Sardische  im  Rom.  etj-m.  Wörterbuch  von  Meyer-Liibke        245 

9406.    yitiiliis:  Lies  nuor.  briku,  log.  hiYru,  hiyu  (statt  viyii). 

9410.  Tiyenda:  log.  bidanda  wird  von  Spano  mit  'pastume, 
pasta',  cp.  rianda,  fianda  mit  'pasta  di  minestra'  übersetzt;  ili 
beiden  Fällen  bedeuten  die  Wörter  nicht  'Gebäck'  und  auch  nicht 
'Mehlspeisen',  wie  Meyer-Lüb>ke  übersetzt,  sondern  'Teigwaren, 
Maccheroni'  (was  man  italienisch  bekanntUch  als  pasta,  pasta 
asciutta  bezeichnet),  und  dasselbe  (also  auch  nicht  'Gebäck')  be- 
deutet genues.  vidanda,  vianda  ('pasta  asciutta',  Frisoni),  von  dem 
die  sard.  Wörter  entlehnt  sind.  Die  Maccheroni,  die  ein  Haupt- 
nahrungsmittel der  Insel  sind,  werden  aus  Genua  bezogen,  und 
heute  sind  die  großen  Maccheronifabriken  {Pastifici)  in  Cagliari, 
die  fast  ganz  Sardinien  versehen,  in  der  Hand  genuesischer  Firmen. 

9418.    viTula:  log.  male  de  sas  vhdas  (wohl  erst  aus  it.  vivola). 

9432.  volaticus:  In  Sardinien  ist  nuor.  bolätica,  log.  bolääiya, 
olädiya,  boläniiya  der  Name  der  vor  dem  Auge  tanzenden  Horn- 
hautflecken, des  Leukoms. 

9464.  vulpes:  Lies  log.  gurpe  statt  campid.;  das  Wort  ist  auf 
einige  Gennargentu-Dörfer  beschränkt  (OUolai,  Olzai). 

9465.  "^TÜsus:  cscrn^.  malaäm  dess'  urzii  Herzschlächtigkeit  der 
Pferde  (bolsaggine). 

9470.  vulya:  Auch  heute  noch  log.  urßa,  ulßa,  bidßa  Gebär- 
mutter, an  manchen  Orten  auch  Mutterkuchen  (Placenta). 

9479.  wallten:  log.  abbaidare,  sass.  abbaiddd  'schauen'  können 
unmöglich  auf  das  germanische  Etymon  zurückgehen.  Schon  die 
Beschränkung  auf  den  Norden  der  Insel  legt  kontinentalen  Ursprung 
nahe;  die  Wörter  sind  aus  ait.  guaitare  (alomb.  aguaitar  etc.)  ent- 
lehnt, wie  kors.  guäita,  Litbl.  1916,  Sp.  382.  —  camp,  abbettai 
'warten'  gehört  gewiß  nicht  hierher,  sondern  ist  =  it.  aspettare, 
wie  addibettu  =  it.  a  dispetto.  In  beiden  AVörtern  trat  Assimila- 
tion von  sp  >  pp  und  dann  Sonorisierung  ein,  ein  Fall,  der  bei 
Fremdwörtern  nicht  vereinzelt  steht. 

9483.  waidaujau:  Das  l  von  log.  balaniare  stammt  offenbar 
von  balanxa  Wage  (vgl.  it.  bikmcio);  auf  keinen  Fall  kann  es  mit 
Salvion i,  AStSa  V,  213  als  hiatustilgend  angesehen  werden;  Sal- 
vioni  vergißt,  daß  es  sich  um  ein  Lehnwort  handelt  (vgl.  camp. 
gu-adangai,  gall.  gadanä),  das  also  nicht  verpflichtet  ist,  sein  -d- 
zu  verlieren;  daher  kann  auch  von  einer  'normal  rispondenza' 
*banxare  keine  Rede  sein.^ 


^  Auch  die  übrigen  Beispiele  Salvionis  für  ein  hiatustilgendes  l  be- 
trachte ich  als  hinfällig.  Neben  pilinxones  steht  bitt.  pirinzones,  Campus, 
Fon.  S.  61,  §143;  auch  sonst  log.  jjeäinxones,  cp.  jKäingones  mit  erhaltenem 
-d-,  d.  h.  auch  hier  haben  wir  es  mit  Lehnwörtern  aus  \t.  pe(lifjno7ii  zu  tun, 
wie  meist  bei  medizinischen  Ausdrücken  (ob  die  -r-Fonuen  auf  pernio  direkt 
zurückgehen  [Nr.  6420],  bezweifle  ich  jetzt).  Daß  -r-  für  -d-  stehen  kann, 
wie  im  ganzen  Süden,  gibt  auch  Salvioni  zu.  Im  übrigen  vgl.  Wagner, 
ZRPh  XXXIV  (1910),  580—581  u.  XXXIX  (1919),  730  ff. 


246        Das  Sardische  im  Rom.  etym.  Wörterbuch  von  Meyer-Lübke 

9499.  wango:  Die  sard.  Wörter  sind  hier  zu  streichen  und 
stehen  schon  richtiger  unter  Nr.  3777  glandula.  Log.  gdngulas, 
gall.  gänguli  ist  ebenso  wie  ganga  als  Lehnwort  aus  it.  gängola 
aufzufassen.  Vgl.  Schuchardt,  ZRPh  Bh.  VI,  18  und  Jud, 
Ro  XLIV  (1915),  116 — 117.  gcilhga  und  gdngtda  ist  übrigens 
nicht  'Kehle'  schlechtweg,  sondern  entsprechend  it.  gavigne  die  Ver- 
tiefung an  der  Kehle  zwischen  den  Mandeldrüsen  und  dem  Kinn, 
d.  h.  die  Stelle,  an  der  man  jemand  bei  der  Kehle  packt,  daher 
cp.  aggangai,  log.  aggangulittare  an  der  Kehle  packen,  erdrosseln. 
Auch  daraus  ergibt  sich  der  Zusammenhang  mit  it.  gängola  'Mandel- 
drüse' =  glandula. 

9502.  wardan:  log.  bardare  natürUch  entlehnt  aus  it.  guardare\ 
bärdya  ■=  it.  guardia;  bärdyas,  ärdyas,  gudrdyas  (Spano,  s.  v. 
crae)  auch  'Schlüsselbart'  =  kat.  guardias,  guardas,  span.  guardas 
de  la  llave  'Schlüsselbart'.  ^ 

9627.    ziziplius:  log.  cp.  xinzula  entlehnt  aus  it.  xdzxola. 

S.  764,  Anm.  1:  gall.  auggd:  lies  'bedeutet  scheuen'  statt 
scheinen. 

Berhn.  Max  Leopold  Wagner. 


^  Daß  log.  ba-  keineswegs  auf  germ.  wa-  zurückgeht  (was  ja  bei  dem 
Fehlen  eines  germanischen  Einflusses  von  vornherein  ausgeschlossen  ist), 
sondern  die  Entsprechung  von  it.  span.  kat.  gua-  ist,  zeigen  neben  obigen 
deutlich  Lehnwörter  Avie  log.  harrrUu  (cp.  orredchi)  ==  it.  guarnello ;  log.  har- 
dana  =  ait.  gualdana  (s.  zu  Nr.  6921). 


Kleinere  Mitteilungen. 

über  die  Echtheit  des  Seseuheimer  Liedes  'Bälde  seh  ich 
Rickgen  wiedei*'. 

Ed.  Schröder  wendet  sich  im  Goethe- Jahrbuch  1919,  S.  82  ff.  gegen 
Reuschel  (Euphorion  1919,  S.  57 — 61);  seine  Einwände  sind  durchaus  be- 
rechtigt. V.  5 — 6  bietet  der  Erklärung  keine  Schwierigkeit,  weder  wenn 
man  sie  wörtlich  (vgl.  D.  j.  G.  II,  100  'alle  Mädgen,  die  Gnade  vor  meinen 
Augen  finden  wollen,  müssen  sie  lernen  und  singen'),  noch  weniger,  wenn 
man  sie  anakreontisch  versteht.  Der  Anakreontiker  dichtet  seine  Lieder  für 
Freunde  und  Mädchen,  von  denen  sie  gesungen  werden,  vgl.  Gleim,  Schriften 
1802,  I,  S.  400  und  Minor-Sauer,  Studien  z.  Goethe-Phil.  1880,  S.  12.  V.  8—10 
mag  man  auch  in  anakreontischem  Sinne  deuten,  vgl.  D.  j.  G.  I,  213,  236;  Uz, 
Werke  D.  L.  D.,  Nr.  83—38,  S.  297;  Götz,  Gedichte  D.  L.  D.,  Nr.  42,  S.  16. 

Lied  Nr,  8  kann  also  sehr  wohl  in  der  Straßburger  Zeit  entstanden  sein ; 
die  von  Reuschel  richtig  bemerkten  Anklänge  von  V.  13— 16  an  Gleims 
Gedicht  'Der  reiche  Mann'  (Euphorion  1918,  S.  60)  bieten  noch  keinen  Anlaß 
zur  Verlegung  in  Goethes  Leipziger  Zeit.  Ich  glaube  vielmehr,  diese  Über- 
einstimmung läßt  sich  auch  anders  erklären. 

Betrachten  wir  einmal  Lied  Nr.  8  zusammen  mit  Nr.  5  'Wo  bist  du  itzt, 
mein  unvergeßlich  Mädchen?'  und  zwar  ohne  Beziehung  zu  einem  be- 
stimmten Verfasser. 

Die  Gedichte  scheinen  in  der  Situation  verwandt.  Nr.  5:  Die  Geliebte 
ist  verreist;  der  Dichter  ist  allein  zurückgeblieben;  Sehnsucht  nach  der  Ge- 
liebten und  Bitte  um  baldige  Rückkehr,  Nr.  8:  In  Erwartung  der  Rückkehr; 
Freude  über  baldiges  Wiedersehen, 

Inhaltliche  Übereinstimmung  der  beiden  Lieder: 

Nr.  5,  2    Wo  singst  du  itzt?    —    Nr.  8,  6    Wenn  sie  meine  Lieder  sang. 

Zu  Nr.  5,  3  'wo  triumphiert  das  Städtchen'  bemerkt  Bielschowsky 
(Friederike  und  Lili  1906,  S.  71) :  'diese  Wendung  hat  etwas  von  dem  ge- 
zierten und  gepuderten  Stil  der  Anakreontik  an  sich,  die  wir  nicht  einmal 
in  Goethes  Leipziger  Liedern  voll  ausgeprägt  finden',  vgl.  jedoch  D.  ].  G.  I, 
271  'Und  triumphiert  wohl  gar'. 

Andere  anakreontische  Formen:  Nr.  8,  9  ängsten  —  Nr.  5,  14  bang; 
vgl.  'Die  Laune  des  Verliebten',  D,  j.  G.  I,  275  u.  277;  Gleim,  Schriften 
1802,  II,  213, 

Nr.  5,  7  zärtlich,  12  Nachtigall ;  Nr.  8,  3  munter,  tanzen,  11  Gram,  14  'Freude, 
süß  und  rein', 

Anakreontische  Motive  finden  wir  Nr,  5,  5 — 8  Verknüpfung  von  Gefühl 
und  Landschaft;!  Nr.  8,  15—16  'Nicht  für  aller  Klöster  Wein'. 

In  beiden  Gedichten  treffen  wir  Verwendung  der  Alliteration,  darunter 
die  von  den  Anakreontikern  bevorzugten  w-  und  1- Alliterationen :  Nr.  5,  15 
Winter  werden  —  Nr.  8,  8  liebe  Liebe. 

Die  beiden  Lieder  scheinen  weiter  durch  Gleims  Lyrik  gleicherweise 
beeinflußt  zu  sein,  besonders  durch  das  Gedicht  'Bitte  um  eine  Stunde' 
(1749);  vgl,  auch  E,  v.  Kleist,  'Amynt',  1751  an  Gleim  gesandt,  und  das 
'Lied  eines  Lappländers'  (1757). 

1  Ein  von  der  Anakreontik  übernommenes  schäferliches  Motiv. 


Nr. 

5, 

2  Wo  singst  du  itzt? 

Nr. 

8, 

6  Wenn    sie    meine   Lieder 
sang. 

Nr. 

8, 

5  hats  mir  geklungen; 

Nr. 

8, 

5  Ach  wie,  ...  wenn  sie; 

Nr. 

8, 

3  tanzen  meine  Lieder; 

Nr. 

5, 

13  0  komm  zurücki 
Komm'  bald  zurücki 

Nr. 

8, 

13                   ich  habe 

Nr 

8 

15 — 16  Ja, ich  gäbe  diese  Gabe 

Nicht  für  aller  Kloster 

Wein. 

248  Kleinere  Mitteilungen 

Gleim,  Bitte  um  eine  Stunde  Sesenheimer  Lied. 

V.  1—2  Wo  ist  sie  itzt,    ihr  Echo      Nr.  5,  1  Wo  bist  du  itzt,  mein  un- 
tut  es  kund!  vergeßlich  Mädchen? 

Wo  ist  sie  itzt  ...? 
V.  5  ...  wo  schallet  dein  Gesang. 
V.  6  Wer    höret    dich    jetzt    meine 

Lieder  singen? 
V.  7  ...  be}'    deiner  Saiten  Klang; 
V.  13  0  wie  . . .,  wenn  ich  sie; 
V.  14  tanzeten  die  Stunden; 
V.  21  Komm,  komm  zurücki 

Gleim,  'Der  reiche  Mann'  (1767). 

ich  habe 
V.  2  das  göttliche  Geschenk,  die  Gabe 

V.  5  Und  täglich  eine  Flasche  Wein 

Anklänge  an  Gleims  Lyrik  zeigt  vielleicht  noch :  Nr. 5, 7 '. . .  Dir  nachzuweinen 
mit  deinem  Freund';  vgl.  Gleim,  Romanzen,  Schiiften  I,  223:  Sie  weint  ... 
um  ihren  Freund.    Nr.  5,  13  Hirt  und  Herden,  Gleim  II,  38  Hirt  und  Herde. 

Diese  Übereinstimmungen  lassen  vermuten,  daß  beide  Gedichte  möglicher- 
weise von  einem  Verfasser  stammen. 

Da  aber  Nr.  5  Lenz  unzweifelhaft  zugehört,  müßte  auch  Nr.  8  von  Lenz 
herrühren. 

Betrachten  wir  jetzt  Lied  Nr.  8  in  Beziehung  zu  Lenz. 

Die  häufige  Anwendung  der  Alliteration  scheint  auf  Lenz  zu  deuten, 
vgl.  Lenz,  Gesammelte  Sshriften,  herausg.  von  F.  Blei,  I,  S.  48  'sie  stürzten 
die  Stiegen  stumm  hinunter';  I,  192  tanzend  mit  träumendem  Blick;  I,  212, 
213,  217  'Heilig  ist  es  von  Gott  —  Was  mii-  im  Herzen  glüht' ;  I,  220  heilige, 
himmlische  Flamme;  1,211 

'Ich  wuchs  empor,  wie  Weidenbäume 
Ihr  niedrig  Haupt  in  lichte  Wolken  heben'; 
vgl.  dazu  V.  3 — 4  Munter  —  meine  —  Melodie. 

Ferner  Blei  IV,  167  hoch,  hehr  und  heilig. 

Desgleichen  finden  wir  bei  ihm  häiifig  rhetorische  Wiederholungen; 
vgl.  Blei  I,  S.  105,  111,  131  f.,  135,  143,  170,  179. 

Zu  V.  4  'süß'te  Melodie'  sei  bemerkt:  das  damals  sehr  beliebte  Wort  'süß' 
kommt  bei  Lenz  bedeutend  häufiger  vor  als  beim  jungen  Goethe;  vgl.  auch 
D.  j.  G.  I,  277  'Hörst  du  dort  die  Schalmeien?    Die  schöne  Melodie.' 

Zu  V.  8  lange  lang  vgl.  Lenz,  Briefe  1918,  I,  142  'Lange,  lange  habe  ich 
die  Züge  dieser  Mutterhand  mit  stummer  Inbrunst  an  meine  Lippen  gehalten'. 

Zu  V.  8  liebe  Liebe  vgl.  'Yarrows  Ufer',  Blei  I,  147  'Bleich,  bleich  in 
Wahrheit,  liebe  Liebe  dul'  und  Blei  I,  134  'Grausame  Liebel  ihr  reißt 
mich  hinunter.  Reißt  denn,  Geliebtel'  Als  Beispiele  für  Lenzens  Vorliebe 
für  die  1-Alliteration  diene  Blei  I,  213  'Winde  der  lauen  Luft.  Lerne  von 
ihnen  . . .'  und  Blei  I,  143  'Und  deckte 

Mit  Lilien  den  Rubinenmund, 

Mit  Lilien  sie  um  und  um 

Und  klagte  so  sein  Leiden  stumm.' 


Kleinere  Mitteilungen  249 

Zu  V.  15  'gäbe  diese  Gabe'  vgl.  Blei  I,  9  ängsteude  Todesangst,  I,  17 
täuschender  Traum. 

Zu  V.  7 — 8  vgl.  Blei  I,  108  'Da  alles  singet  In  unsern  Tagen,  schwieg 
ich  lang. 

Zu  V.  9  'tiefe  Schmerzen'  vgl.  Blei  I,  118,  125  u.  186  'Wenn  die  Seele 
ihrer  Leiden  Höh'  und  Tief  nicht  mehr  verstand';  vgl.  auch  Bielschowsky, 
S.  82. 

Zu  V.  9  'ängsten'  vgl.  Briefe  I,  24  'In  Sesenheim  bin  ich  gewesen.  Ist 
es  Trägheit  oder  Gewissensangst,  die  mir  die  Hand  zu  Blei  macht,  wenn 
ich  Ihnen  die  kleinen  Szenen  abschildern  will,  in  denen  ich  und  eine  andere 
Person  die  einzigen  Akteurs  sind'.  An  Salzmann  28.  Juni  1772,  dem  Tage 
der  Rückkehr  Friederikens. 

V.  11 — 12  leuchtet  ein  traditionelles  lyrisches  Motiv  hindurch:  das  Ver- 
gegenständlichen des  Liedes  und  das  hätschelnde,  kokettierende  Tändeln  des 
Dichters  mit  diesem  seinem  Kinde,  desgl.  Blei  I,  108 

'Was  hält  mich  ab,  mein  Liedel  dir  zu  zeigen? 
Ach  du  verstehst  es  nicht  —  doch  zeig'  ich's  hier 

Den  Bäumen  —  — ' 

Zu  V.  14  vgl.  Blei  I,  219  . . .  verspricht  dir  reine,  Tausend  reine  Lebens- 
freuden, und  Blei  I,  214,  218;  desgl.  Uz,  Werke  D.  L.  D.,  S.  239. 

Zu  V.  1 — 2:  'wiedersehn'  und  'umarmen'  scheinen  bei  Lenz  in  assozia- 
tiver Beziehung  zu  stehen,  vgl.  Briefe  11,  147  *. . .  bis  ich  die  Meinigen 
wiedergesehen,  von  denen  ich  dennoch  einige  bis  jetzt  noch  nicht  um- 
armt habe'.  ^ 

Ferner  scheinen  bei  Cenz  durch  Assoziation  verbunden:  Liebe,  Freude, 
Wein;  vgl.  'An  die  Sonne',  Blei  I,  164 

'Seele  der  Welt,  unermüdete  Sonne  I 
Mutter  der  Liebe,  der  Freude,  des  Weinsl' 
Daher  vielleicht  die  Folge  in  unserm  Gedicht:  V.  8  Liebe,  V.  14  Freude, 
V.  16  Wein. 

Man  könnte  einwenden,  zwischen  V.  8  'Liebe'  und  V.  14  'Freude'  liegt 
eine  ganze  Strophe.  Doch  wäre  darauf  zu  erwidern,  der  Rhythmus  der 
Worte  in  V.  9 — 21  eilt  ohne  Pause  vorüber,  dadurch  wird  V.  9 — 11  als 
einheitliche  gedankliche  Impression  empfunden,  und  diese  Impression  wieder 
ist  im  Fluß  der  Bewußtseinsinhalte,  welche  das  Gedicht  darstellt,  als  Ein- 
schub,  ja  als  ungebetener  Eindringling  zu  betrachten. 

Mit  dem  'Doch'  in  V.  13  wird  er  wieder  verdrängt  und  mit  'jetzt  sing' 
ich'  auf  das  'lange  nicht  gesungen'  inV.  7  zurückgegriffen;  dadurch 
wird  in  dem  Ruhepunkte  hinter  'ich'  in  V.  13  das  durch  V.  8  mit  'lange'  in 
Verknüpfung  stehende  Wort  'Liebe'  wieder  ins  Bewußtsein  gehoben  —  'und 
ich  habe'  —  geht  das  Lied  weiter  —  'volle  Freude'. 

V.  15—16  zeigt  Anklänge  an  Gleims  Gedicht  'Der  reiche  Mann'.  Nun 
wissen  wir  aber,  daß  Lenz  1772  in  seinem  Dichten  durch  Gleims  Lyrik  be- 
einflußt wurde.  September  1772  schickt  er  an  Salzmann  die  Romanze  'Pira- 
mus  und  Thisbe',  eine  Nachahmung  der  parodistischen  Romanzen  Gleims. 
Lied  Nr.  5  zeigt,  wie  wir  sahen,  Anklänge  an  Gleim,  ferner  scheint  an  Gleim 
zu  erinnern  die  Stelle:  'als  Wein  und  Liebe  mich  wider  Willen  zum  Ver- 
brecher machten'  (Die  Aussteuer  1772),  Blei  II,  77;  vgl.  Gleim  II,  103 
'Der  Friedensstifter':  'Wein  und  Liebe  Bändigt  Helden,  Wein  und  Liebe 
macht  Verträge'  (Anakreon  38). 


250  Kleinere  Mitteilungen 

Diese  Erwägungen  machen  es  möglich,  daß  Lenz  V.  15 — 16  geschrieben 
haben  kann.  Dadurch  wird  Lenz  noch  nicht  zum  Nachahmer  der  Anakreon- 
tiker.  Er  selbst  würde  einer  solchen  Beurteilung  heftig  widersprechen :  'Aber 
Liebesgötter,  Grazien!  Allenfalls  ein  Wisch,  Name  und  schielende  Anspie- 
lungen, der  Füttern  der  Gelehrten.  Und  mag  es  eine  Hure  sein,  man  sieht 
so  genau  nicht  drauf,  flittert  sie  doch,  daß  es  eine  Lust  ist.'  Blei  IV,  211. 
Seine  Lyrik  ist  nie  'Name,  Flitter  und  schielende  Anspielung',  sondern  immer 
Ausdruck  des  Selbsterlebten  —  wie  auch  unser  Lied  — ,  wenn  er  auch  da- 
für noch  nicht  immer  eigene  Formen  gefunden  hat,  sondern  sich  öfter  noch 
der  anakreontischen  Ausdrucksformen  und  anakreontischer  Motive  bedient 
(z.  B.  das  Motiv  des  'Liebhabers  in  allen  Gestalten',  22.  Lied  Anakreons,  ver- 
wendet er  in  'Heilige  Quelle',  Blei  I,  142,  und  '0  war'  ich  leicht  wie  Zephir, 
wie  eine  Sylphe',  Blei  I,  143). 

Betrachten  wir  jetzt  die  beiden  Lieder  Nr.  5  und  Nr.  8  als  einheitliches 
Ganzes,  so  werden  wir  finden,  daß  wir-  mit  drei  Wendungen  eine  Brücke  zu 
den  gleichzeitig  (1772)  entstandenen  Werken  Lenzens  schlagen  können. 

Nr.  5,  6    'Und  es  vereint 

Der  Himmel  sich,  dir  nachzuweinen  . . .' 
entspricht:    Piramus    und   Thisbe  (1772)  'Der   Himmel    selbst   fing   an   zu 
weinen',  Blei  I,  73. 

Nr.  5,  3  'wo  triumphiert  das  Städtchen'  vgl.  Amor  vincit  omnia  (1771/72) 
'Götterbild!  hier  triumphierest  du  . . .' 

Nr.  8,  3  tanzen  meine  Lieder  vgl.  Amor  vincit  omnia,  'Ein  Liedchen 
mit  dem  End'  Eurer  Zunge  tanzen,  Blei  1,  278. 

Berücksichtigt  man  folgende  Beobachtung,  so  scheint  das  gleichzeitige 
Vorkommen  dieser  anakreontischen  Wendungen  nicht  zufällig  zu  sein. 
Bei  Lenz  treffen  wir  nämlich  in  Arbeiten  und  Briefen,  die  in  dem  gleichen 
Zeitraum  entstanden  sind,  häufig  dieselben  Wendungen  und  Ausdrücke,  so 
daß  man  umgekehrt  aus  dieser  sprachlichen  Übereinstimmung  auf  gleich- 
zeitige Entstehung  schließen  kann. 

Durch  diese  Darlegungen  glaube  ich  so  viel  ei-wiesen  zu  haben,  daß  man 
die  Möglichkeit  der  Autorschaft  Lenzens  nicht  wird  von  der  Hand  weisen 
können.  Im  Sprachgut  wird  man  spezifisch  Lenzisches  zwar  nicht  auffinden 
können,  ebensowenig  wie  man  im  Lied  Nr.  1  spezifisch  Goethesches  (vgl.  Goethe- 
Jahrb.  1919,  S.  97;  'fühlbar'  gebraucht  auch  Lenz,  Blei  I  97,  desgl.  'fühllos' 
Blei  I  99)  wird  feststellen  können;  aber  Lied  Nr.  5  und  Nr,  8  scheinen  doch 
so  viel  Beziehungen  miteinander  zu  haben,  daß  die  Möglichkeit  besteht,  daß 
sie  von  einem  Verfasser  stammen. 

Enthalten  nun  auch  die  Worte  unseres  Liedes  nichts  spezifisch  Lenzisches, 
so  glaube  ich  doch  aus  der  Empfindungsweise,  die  hinter  den  Worten  liegt, 
etwas  Lenz  Eigentümliches  herausdeuten  und  so  von  der  Annahme  der 
Möglichkeit  zu  der  Annahme  der  Wahrscheinlichkeit  der  Verfasserschaft 
Lenzens  fortschreiten  zu  können. 

Die  Verse  5—6  enthalten  anscheinend  ein  anakreontisches  Motiv,  aber  da 
das  ganze  Lied  als  Ausdruck  des  Erlebten  anzusehen  ist,  wird  man  diese 
Verse  allein  nicht  anakreontisch  deuten  können,  sondern  annehmen  müssen, 
daß  sie  auf  wirklich  Erlebtes  und  Empfundenes  zurückgehen.  Und  da 
scheint  mir  Lenzens  Liebesgefühl  hindurchzuleuchten,  jene  Art  des  Liebes- 
gefühls,  die  —  der  affektierten  Erotik  der  Schäferpoesie  zwar  nicht  allzufem 
stehend,   aber  mehr   ans  Pathologische   streifend  —  man   mit  Hörigkeit  der 


Kleinere  Mitteilungen  25l 

Liebe  bezeichnen  mag,  und  für  die  in  Klang  und  Ton  der  Stimme  ein  be- 
sonders wirksamer  erotischer  Reiz  liegt.  In  'Lilis  Park'  finden  wir  diese  Erotik 
dargestellt:  'Ich  höre  die  liebe,  liebe  Stimme  wieder  ...,  Ach,  singt  sie 
wohl,  daß  ich  sie  hören  soll?'  vgl.  meine  Ausführungen  im  'Archiv  für 
neuere  Sprachen'  1920,  S.  155.  Es  sei  noch  hinzugefügt:  Lenz,  Gesammelte 
Schriften,  herausg.  von  Lewy,  IV,  S.  131:  'Wollen  Sie  nicht  mit  uns  tanzen? 
fragte  sie  mit  einer  Silberstimme,  die  alle  Saiten  des  aufmerksamen  Pondolfo 
entzückend  durchklang.  Dieses  Einladende,  dieses  Bewegliche,  dieses  An- 
schmiegende, Furchtsame  und  doch  Liebeskühne  im  Ton  und  der  Kadenzie- 
ning  der  Silben  füllte  seine  ganze  Seele  mit  einer  gewissen  Lieblichkeit,  Be- 
gierlichkeit,  Zudringlichkeit  und  Beweglichkeit  usw.' 
So  bleibt  als  Resultat  der  Untersuchung: 

Es  besteht  die  Möglichkeit  der  Verfasserschaft  Lenzens,  zwei  Punkte 
scheinen  jedoch  für  deren  Wahrscheinlichkeit  zu  sprechen:  die  inhalt- 
liche und  formale  Übereinstimmung  der  Lieder  Nr.  8  und  Nr.  5,  und 
das  Durchklingen  der  Empfindungsweise  Lenzens  in  Nr.  8. 

Königsberg  i.  Pr.  Rudolf  Ball of. 

Neue  kritische  Bemerkungen  zu  Uhlands  Briefwechsel  und 
Tagehuch. 

(Vgl.  Archiv  1919,  Bd.  138,  S.  221  ff.) 

1.  Zu  Bw.  I  S.  33,  Anm.  2.  Am  12.  Mai  1807  schreibt  Kölle  an  Uhland : 
'Fr.  Schlegel  muß  Cotta  Geld  schuldig  sein,  sonst  würde  er  nichts  ins  Morgen- 
blatt gestiftet  haben,  das  bei  vielen  anderen  Vorzügen  unbeschreiblich  un- 
poetisch  ist.  Eben  dieses  verhinderte  mich  auch,  die  Satire:  Der  Kiffhäuser 
Berg  zu  vollenden.' 

2.  Zu  Bw.  I  S.  152,  Anm.  1.  Zu  Chamissos  Mitteilungen ,  nach  denen 
Koreff  schon  im  Herbst  1806  in  Paris  eingetroffen  sein  muß  (Archiv  1919, 
Bd.  138,  S.  222),  stimmt  Koreff s  eigene  Angabe  in  seinem  für  den  Kanzler 
von  Hardenberg  bestimmten  Lebensabriß  [im  Geheimen  Staatsarchiv  in  Berlin, 
Hardenbergscher  Nachlaß,  K.  50],  daß  er  nach  dem  'Unglück  der  französischen 
Unterjochung'  sehr  bald  'Ruhm  und  Vertrauen  in  der  großen  Stadt'  genoß 
und  einer  ihrer  gesuchtesten  Arzte  wurde.  Er  will  bis  zu  30000  Frank 
jährlich  verdient  haben.  Er  verläßt  1811  Paris,  ist  1815  vorübergehend  in 
den  Pariser  Lazaretten  tätig  und  kehrt  erst  Anfang  der  zwanziger  Jahre  zu 
dauerndem  Aufenthalt  nach  Paris  zurück.    Literatur  über  ihn: 

Biogr.  Porträts,  aus  Vamhagens  Nachlaß,  Hamburg  1871,  S.  1  ff. 

Voss.  Ztg.  18.— 25.  Nov.  1906. 

Münchener  Allg.  Ztg.  8.— 10.  Jan.  1907. 

Lenz :  Geschichte  der  Universität  Berlin  I  552  ff. 

3.  Zu  Bw.  I  S.  291,  No.  334.  Der  im  Tgb.  9.  März  1812  erwähnte  Brief 
ist  der  unter  No.  330  abgedruckte.  Es  heißt  dort:  'Ich  lege  meine  letzten 
Auszüge  bei  (nämlich  aus  den  fils  d'Aimon);  hast  Du  die  früheren  (vgl.  Tgb. 
23.  n.  1811  und  Bw.  1.  XII.  1811)  aus  bloßer  Höflichkeit  willkommen  ge- 
heißen, so  trifft  Dich  billige  Strafe.' 

4.  Zu  Bw.  I  S.  302,  Anm.  1.  Bekker  ließ  bereits  1816—18  in  Beriin 
einen  8 bändigen  griechischen  und  lateinischen  Plato  erscheinen.  F.A.Wolf 
veröffentlichte  1811  eine  Erklärung  zum  Phädon,  1812—20  drei  Dialoge  mit 
klassischer  lateinischer  Übersetzung. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.     140.  I'J 


252  Kleinere  Mitteilungen 

5.  Zu  Tgb:  20.  März  1810.  Uhland  notiert:  'Absendung  der  Papiere 
Varnhagens  nach  Berlin.'  Über  diese  Papiere  gibt  das  Original  des  Briefes 
Varnhagens  an  Rahel  vom  27.  6.  1810  Aufschluß.  Es  heißt  dort:  'Sind  die 
Urquijo'schen  Briefe  angekommen?  Uhländ  sagt  mir,  er  habe  sie  von  Tü- 
bingen vor  seiner  Abreise  abgesandt.'  [Diese  Sätze  sind  übrigens  nicht  in 
dem  aus  Varnhagens  Nachlaß  1874  herausgegebenen  Briefwechsel  zwischen 
V.  und  Rahel  abgedruckt.  Der  Originalbrief  in  der  V.-Sammlung  der  Staats- 
bibliothek zu  Berlin,  Mappe  Varnhagen.]  Es  handelt  sich  hier  offenbar  um 
die  Briefe  des  Don  Raphael  d'Urquijo  an  Rahel.  Zwischen  Urquijo,  der  seit 
1802  spanischer  Gesandtschaftssekretär  in  Berlin  war,  und  Rahel  bestand 
IV2  Jahre  lang  eine  leidenschaftliche  Neigung;  infolge  tyrannischer  Eifersucht 
Urquijoä  erfolgte  1804  der  Bruch.  V.  sagt  in  seinen  ungedruckten  Notizen: 
'Rahel  hat  diesen  nie  verwunden.  Diese  Leidenschaft,  ihre  Wendung,  Ur- 
quijo selbst,  bleiben  ihr  ein  stetes  Problem;  ihr  Gemüth  ist  immerdar  davon 
erfüllt.'  Urquijos  Briefe  sind  abgedruckt  in  Ludmilla  Assings  Buch:  Aus 
Raheis  Herzensleben. 

6.  Zu  Tgb.  30.  Jrnii  1810.  Uhland  notiert:  'Wiedersehen  Varnhagens 
auf  der  Galerie.'  [D.  h.  im  südlichen  Verbindungsbau  zwischen  dem  alten 
Louvre  und  den  Tuilerien;  hier  waren  die  Kunstschätze  untergebracht.]  Hat 
sich  Uhland  im  Datum  geirrt?  Nach  Varnhagens  unter  5  mitgeteilter  Frage 
im  Briefe  vom  27.  Juni  könnte  es  scheinen,  daß  Uhland  spätestens  am 
27.  Juni  mit  Varnhagen  gesprochen  habe.  Dieser  scheinbare  Widerspruch  wird 
durch  die  Tatsache  aufgeklärt,  daß  Varnhagen  den  am  27.  Juni  geschriebenen 
Brief  erbricht,  um  in  einer  kurzen  Nachschrift  über  den  grauenvollen  Brand 
beim  Feste  des  Fürsten  Schwarzenberg  zu  berichten.  [V.s  ausführlicher  Be- 
richt in  seinen  Denkwürdigkeiten  Bd.  2.]  Bei  dieser  Gelegenheit  wird  er 
dann  auch  die  obigen  Sätze  nachgetragen  haben.  Hierfür  spricht  auch  die 
Tatsache,  daß  diese  Sätze  am  Rande  quer  geschrieben  sind. 

Warnemünde.  Wilhelm  Mo  es  tue. 

Der  erste  Psalm  in  niederländischer  Dichtung  vom  Jahre  1740. 

Durch  einen  Glückszufall  bin  ich  in  den  Besitz  eines  zwei  Teile  um- 
fassenden, in  schwarzbraunen  Sammet  gebundenen  Bandes  gekommen,  dessen 
erster  Teil  folgenden  Titel  hat.  Oben  liest  man  in  einer  aufgeschlagenen 
Bibel  auf  der  linken  Seite:  Het  Woort  des  Heeren  blyft  in  der  eeuwigheyt. 
Auf  der  rechten:  Ende  dit  is  het  woort  dat  onder  u  verkondigt  is  1  Petr. 
1  vers  23.  Darunter  von  zwei  Säulen  eingefaßt:  Het  Nieuwe  Testament 
ofte  alle  Boecken  des  Nieuwen  Verbondts  onses  Heeren  lesu  Christi  door 
last  van  de  Hoogh.  Mog.  Heeren  Staten  Generael  der  vereenigte  Neder- 
landen  en  volgens  't  Besluyt  vande  Sinode  Nationael  gehouden  tot  Dordrecht 
in  de  jaaren  1613  ende  1619.  üit  de  Oorspronckelycke  in  onse  Neder- 
landtsche  Taal  getrouwelyck  overgeset.  Tot  Dordrecht  By  Jacob  en  Hendrik 
Keur.  Der  zweite  Teil  trägt  den  Titel  De  GL  Psalmen  des  Propheten 
Davids  Met  eenige  andere  Lofsangen:  Uj't  den  Francoyschen  in  Nederlant- 
schen  dichte  overgeset  door  Petrum  Dathenum;  ...  Mitsgaders  De 
Christelicke  Cätechismo,  Formulieren  en  Gebeden  de  Gereformeerde  Kercken. 
Te  Dordrecht,  By  Jacob  en  Hendrik  Keur.  A».  1740.  —  Von  der  'Acte  van 
Authorisatie'  (Rückseite  des  Titels)  (26.  November  1737)  und  dem  auf  den  beiden 
folgenden  Seiten  befindlichen  'Inhoudt  des  Nieuwen  Testaments'  abgesehen,  die 


Kleinere  Mitteilungen  253 

sich  der  Antiqua  bedienen,  ist  alles  übrige  in  Fraktur  gedruckt,  mit  Aus- 
nahme der  Überschriften  der  einzelnen  Bücher,  z.  B.  Het  Heyligh  Euangelium, 
Na  [de  beschrijvinge]  Matthei;  Und  der  hier  und  da  der  Verdeutlichung  halber 
zugefügten  Worte,  z.  B.  Matth.  2, 16:  'Als  Herodes  sagh  dat  hij  van  de  Wijse 
bedrogen  was,  doe  wiert  hij  seer  toornigh,  ende  [eenige]  afgesonden  heb- 
bende,  heeft  omgebracht  alle  de  kinderen  die  binnen  Bethlehem,  ende  in  alle 
des  selfs  lautpalen  [waren]  van  twee  jaren  [oudt]  ende  daer  ander,  na  den 
tijt  dien  hij  van  de  Wijse  neerstelick  ondersocht  hadde'  —  'neerstelick' 
gründlich;  'neerstelick  ondersocht  hadde',  griech.  ^xoißojoe  —  man  vergleiche 
die  deutsche  Bibelübersetzung.  —  Da  ich  in  mein  Lehrb.  d.  niederl.  Spr.  den 
ersten  Psalm  aus  'Het  boek  der  Psalmen,  nevens  de  gezangen,  bij  de  her- 
vormde  kerk  van  Nederland  in  gebruik'  aufgenommen  hatte,  war  ich  natür- 
lich gespannt  darauf,  zu  sehen,  welche  Form  im  Jahre  1740  dafür  beliebt 
worden  war,  und  ich  darf  annehmen,  daß  die  Vergleichung  beider,  die  in 
vielfacher  Beziehung  allerlei  Beobachtungen  machen  läßt,  willkommen  sein 
wird.    Ich  lasse  deshalb  den  'Den  eersten  Psalm'  in  Abschrift  folgen: 

1.  Die  niet  en  gaet  in  der  godtloosen  raet, 
Die  op  den  wegh  der  sondaers  niet  en  staet, 
En  niet  en  sit  by  den  spotters  onreyne; 

Maer  dagh  en  nacht  heeft  in  Godts  wet  alleyne 
AI  sijnen  lust,  ja  spreeckt  daer  van  eenpaer, 
Die  mensch  is  welgelucksaligh  voorwaer. 

2.  Hy  sal  gelijck  zijn  eenen  schoonen  boom, 
Geplant  by  eenen  klaren  waterstroom, 
Die  sijn  vruchten  geeft  in  bequame  tijden. 
Van  welcke  geen  droogs  bladt  valt  bezijden: 
Soo  sal  die  mensche  saligh  zijn  bekent, 

Met  al  sijn  doen,  tot  welcken  hy  hem  wendt. 

3.  Maer  soo  en  is  't  met  den  godtloosen  niet. 
Die  als  kaf  verstroyt  werden  daer  men  't  siet, 

't  Welck  van  den  wint  hier  en  daer  wert  gedreven: 
Soo  sullen  sy  in  Godts  gerichte  beven, 
En  niet  bestaen,  maer  haest  vergaen  beschaemt, 
Met  den  vromen  werden  sy  niet  genaemt. 

4.  Godt  kent  den  wegh,  en  der  vromen  gemoet, 
Hij  draeght  sorge  voor  hen  en  voor  haer  goet; 
Dies  sulien  sy  welgelucksalig  wesen: 

Maer  nademael  dat  onse  Godt  gepresen, 
Op  der  godtloosen  wegen  niet  en  acht, 
Sy  en  haer  doen  werden  tot  niet  gebracht. 

Am  Rande  finden  sich  die  sechs  Verse  der  Prosaübersetzung,  wovon 
ich  den  dritten  Vers  anführe:  Want  hy  sal  zijn  als  een  boom,  geplant  aen 
waterbeecken,  die  sijne  vrucht  geeft  in  sijnen  tijt,  ende  welckes  bladt  niet 
af  en  valt:  ende  al  wat  hy  doet,  sal  wel  gelucken. 

Ich  lenke  die  Aufmerksamkeit  auch  auf  die  alte,  von  der  heutigen  ab- 
weichende Schreibung,  vor  allem  auf  die  damals  noch  zulässige  Freiheit  des 
Versbaus,  wo  Hebung  und  Senkung  die  Stelle  vertauschen  können  und  niir 
die  Silben  gezählt  werden.  Der  Inhalt  wirkt  in  der  ihm  gegebenen  Form 
kräftig  und  eindrucksvoll. 

Dortmund.  C.  Th.  Lion. 

17* 


254  Kleinere  Mitteilungen  ' 

Tom  Pradler  Bauerntheater.i 

Wieder  ist  ein  gutes,  echtes  Stück  Alt-Innsbruck  ganz  leise  und  spurlos 
verschwunden,  etwas  Ureigenes  unserer  Stadt,  das  weit  über  die  Grenzen 
des  Landes  bekannt  und  beliebt  war,  das  Pradler  Bauerntheater.  Die  Sonne 
des  Glückes  und  Erfolges  lachte  stets  über  dem  luftigen  Musentempel,  wenn 
der  Spielleiter  der  alten  Überlieferung,  der  Wiedergabe  des  romantischen 
Ritterschauspiels,  getreu  blieb.  Bombenvoll  erzitterte  der  hölzerne  Stadel 
von  dem  Beifallssturm  seines  dankbaren  Besuches;  aber  wehe,  wenn  der 
Burgvogt  die  zurückgelassene  Gräfin  zu  arg  bedrängte,  dann  nahmen  die 
Zuschauer  in  kernigen  Worten  Partei  für  die  verfolgte  Unschuld  und  schleu- 
derten saftige  Reden  gegen  den  stets  rothaarigen  Bösewicht,  während  so 
manchem  Weiblein  eine  Zähre  tiefempfundenen  Mitleids  über  die  Wange 
rann.  Alles  aber  vereinigte  sich  wieder  im  lautesten  Jubel,  wenn  der  lustige 
Knappe  mit  seinen  Witzen,  Gstanzeln  und  Gsangeln  aus  dem  Stegreif  eiiv- 
setzte  und  seine  Zuschauer  die  Schlechtigkeit  der  Welt  vergessen  ließ.  Ja, 
das  war  das  ganze  Geheimnis  des  Pradler  Theaters:  die  Stücke,  einer  alten 
Überlieferung  folgend,  waren  für  das  urwüchsige,  natürlich  empfindende, 
unverbildete  Volk  geschrieben  und  von  Mutter  Natur  mit  Witz  und  Humor 
begabte,  unverkünstelte  Schauspieler,  die  das  alte  Ritter-  und  Schauerstück 
voll  erfaßten  und  in  der  richtigen  Weise  wiedergaben,  verstanden  es,  das 
Herz  des  Volkes  zu  packen. 

Wenn  ein  lieber,  verdienter  Freund  von  hinnen  geht,  dann  gebührt  ihm 
ein  wohlwollender  Nachruf;  und  wenn  er,  wie  es  sich  ja  für  das  Pradler 
Theater  geziemt,  einem  tragischen  Tode  erliegt,  dessen  letzten  Akt  zu  be- 
sprechen allerdings  noch  nicht  an  der  Zeit  ist,  dann  erst  recht.  So  sei  denn 
im  folgenden  eine  kurze  Geschichte  unseres  nun  zerstörten  Musentempels 
seinen  Freunden  übergeben. 

Am  7.  Oktober  1866,  wenn  ich  recht  berichtet  bin,  schloß  das  Theater 
in  der  Höttingerau  mit  dem  romantischen  Ritterschauspiel  'Maria,  Gräfin  von 
Halwig  oder  die  Georgsburg'  seine  Pforten.  Bald  darauf  wurde  der  Stadel, 
in  dem  die  Bühne  aufgeschlagen  war  —  den  offenen  Zuschauerraum  schützte 
bei  schlechtem  Wetter  eine  Flache  —  niedergerissen.  Es  war  damals  das 
letzte  der  Innsbrucker  Bauerntheater,  die  Volksbühnen  in  Ambras,  Pradl, 
Mühlau,  Büchsenhausen,  beim  Stamser  waren  bereits  früher  von  den  Musen 
verlassen  worden.  So  hatte  das  romantische  Rittersehauspiel  seine  letzte 
Heimstätte  in  Innsbruck  verloren  und  harrte  in  den  Jahren  1867  und  1868 
der  Erlösung.  Schauspieler,  Bühneneinrichtung,  Garderobe  und  vor  allem 
die  allgemeine  Sehnsucht  nach  der  großen  Gaudi  waren  vorhanden,  und  so 
bedurfte  es  nur  eines  rührigen  Mannes,  um  das  alte  Bauemtheater  wieder 
zum  Leben  zu  erwecken.  Das  war  Sebastian  Meister,  der  alte  Tiroler  Volks- 
sänger, der  sich  nach  weiten  Reisen  in  Innsbruck  zur  Ruhe  gesetzt  hatte. 
Im  Jahre  1868  schritt  er  an  den  Bau  des  neuen,  nun  verschwundenen 
Theaters  im  Lodronischen  Hof,  den  er  im  gleichen  Jahre  erwarb,  nachdem 
er  vorher  das  Grubersche  Wirtshaus  am  Innrain  geführt  hatte.  Mit  Fisch- 
händler Riegl  kaufte  er  vom  alten  Theater  in  der  Höttingerau  die  Kulissen 
und  mit  den  von  der  alten  Bühne  übernommenen  Schauspielern,  dem 
Schneidermeister  Ferdinand  Rauter,  Schuster  Josef  Brock,  dem  früheren 
Theaterdirekter,   Tischlermeister   Pfötscher,    dem   heute   noch    lebenden    un- 


Aus  dem  'Alpenland',  4.  Juni  1920. 


Kleinere  Mitteilungen  255 

übertroffenen  Komiker  Alois  Lener  u.  a.  eröffnete  Meister  am  3.  Mai  1869 
das  Pradler  Theater  mit  dem  bis  in  die  letzte  Zeit  noch  zugkräftigen  Stücke 
'Die  Beatushöhle'.  Großes  romantisches  Ritterschauspiel  mit  Gesang  und 
einem  Vorspiele  'Der  Tournierpreis',  große  Pantomime  mit  erklärendem  Ge- 
sänge. Beginn  V22  Uhr,  Ende  V28  Uhr.  Sitz  in  der  Nobelgalerie  oder  num. 
Sitz  im  Parterre  40  Kr.,  1.  Platz  30,  2.  Platz  20,  3.  Platz  10  Kr.  Deko- 
rationen vom  Dekorationsmaler  Juliani,  Kostüme  neu,  nach  Zeichnung  des 
Bartinger  Seppl  (auch  einer,  der  einen  Nachruf  verdiente),  von  Anton  Polli, 
dem  bekannten  Inhaber  einer  Maskenleihanstalt.  Die  Rüstungen  von  J.  Zu- 
christian.  So  der  erste  Theaterzettel.  Das  Theater  war  bei  der  Eröffnungs- 
vorstellung so  überfüllt,  daß  zahlreiche  Besucher  bei  der  Kasse  abgewiesen 
wurden  und  sich  für  den  entgangenen  Genuß  im  schattigen  Wirtsgarten  des 
'Lodronischen  Hofes'  bei  mehreren  Seideln  Wein  und  Schweinsbrateln  — 
glückliche  Zeit  —  entschädigen  mußten.  Das  Stück  wurde  an  den  folgenden 
Sonn-  und  Feiertagen  bei  stets  vollem  Hause  wiederholt  und  erst  am 
13.  Juni  durch  'Balbina  von  Avignon'  oder  'Die  Wege  der  Vorsehung  sind 
wunderbar',  großes  romantisches  Ritterschauspiel  in  5  Akten,  abgelöst.  Auch 
'Balbina'  füllte  einen  Monat  lang  das  Theater.  Am  18.  Juli  kam  dann  das 
große  historische  Ritterschauspiel  'Die  Waisen  von  Neapel'  mit  der  humo- 
ristischen Tiroler  Szene  mit  Gesang  'Die  drei  Leutascher  auf  der  Alm'  an 
die  Reihe,  worin  Sebastian  Meister  als  Dörfschulmeister  das  Publikum  er- 
götzte. Als  letztes  Stück  der  'Saison'  ging  am  22.  August  unter  großem 
Beifall  das  Ritterschauspiel  'Erich  von  Treuenstein'  über  die  Bretter,  mit  dem 
das  Spieljahr  am  26.  September  'zum  Vorteile  der  Theatermitglieder'  schloß. 

Das  Pradler  Theater  hatte  seine  Probe  bestanden.  Getrost  konnte  es 
am  Ostersonntag  1870  wieder  seine  Pforten  eröffnen,  großartiger  Erfolg  und 
voller  Besuch  blieben  ihm  treu.  Für  das  Stück  'Die  Blutrache'  oder  'Der 
Sturz  des  Hauses  Guastali"  hatte  Bartinger  Seppl  die  prächtige  Felsengrotte 
neu  gemalt,  für  das  Stück  'Johanna  Montfaucon'  holte  man  den  vom  Höt- 
tingerau-Theater  noch  beliebten  alten  Schwaller  von  Hall  als  Räuberhaupt- 
raann  Rudrich.  —  Auch  das  nächste  Jahr  1871  ging  für  unser  Theater 
glücklich  vorüber;  begonnen  wurde  am  Ostermontag,  geschlossen  am  Kirch- 
weihsonntag, wobei  ein  Widder  ausgespielt  wurde.  Einen  Riesenerfolg  hatte 
in  diesem  Jahre  das  Stück  'Jutta  von  Rottenburg'  oder  'Die  Ahnengruft  auf 
Eulenhorst';  da  gab  es  einen  türkischen  Garten  mit  'lebendem'  Springbrunnen 
und  Schwan,  eine  naturgetreue  Lanigerbalgerei,  welche  die  Pradler  selbst- 
verständlich echt  unter  dem  Gejohle  der  Zuschauer  aufführten. 

Im  Jahre  1872  übernahm  Josef  Brock,  der  beliebte  Direktor  des  ein- 
stigen Höttingerau-Theaters,  die  Spielleitung.  Sein  Garderobier  war  der 
bekannte  Anton  Polli.  Fast  durchwegs  wurden  Ritterstücke  aus  dem  Spiel- 
plan der  Höttingerau-Bühne  gegeben,  so  auch  mit  großem  Erfolg  'Herzog 
Friedrich  mit  der  leeren  Tasche'  oder  'Emma  von  Wolkenstein,  das  Heu- 
mädchen von  Tirol'.  Auch  im  folgenden  Jahre  hatte  das  vaterländische 
Schauspiel  'Kaiser  Maximilian  auf  der  Martinswand',  worin  Kunz  von  der 
Rosen  seine  übermütigen  Lokalwitze  machte,  großen  Erfolg. 

Eine  denkwürdige  Änderung  gab  es  für  unser  Pradler  Theater  im  Jahre 
1875.  Seit  dem  Jahre  1871  war  Othegraven  Direktor  des  Innsbrucker  Stadt- 
theaters oder  richtiger  des  k.  k.  Hof-  und  Nationalthcaters,  wie  unsere  jetzt 
städtische  Bühne  bis  1886  hieß.  Othegraven  war  der  tüchtigste  und  unter- 
nehmendste Theaterdirektor,  den  die  Innsbrucker  je  hatten.   Bei  seiner  Unter- 


256  Kleinere  Mitteilungen 

nehraungslust  und  im  Vertrauen  auf  seine  Beliebtheit  bei  den  Innsbruckern 
versuchte  er  es,  die  Spielzeit  auch  über  den  Sommer  auszudehnen  und  im 
Jahre  1875  auch  das  Pradler  Theater  in  seinen  Wirkungskreis  cinzubeziehen. 
Er  spielte  im  Theater  bis  Ende  April,  und  ab  2.  Mai  1875  spielte  er  mit 
seiner  Truppe  im  'Lodronischen  Hof.  Er  ließ  das  Theater  frisch  tünchen, 
mit  Fahnen  und  Emblemen  ausschmücken,  eine  Kaiserbüste  wurde  zwischen 
Blumen  angebracht,  die  Parterresitze  amphitheatralisch  erhöht.  An  Sonn- 
und  Feiertagen  gab  er  in  Pradl  zwei  Vorstellungen  und  spielte  auch  an 
einzelnen  Wochentagen.  Er  gab  Stücke  von  Anzengruber,  Nestroy,  Benedix, 
Kotzebue,  Birch-Pfeiffer,  Franz  Kaiser  u.  a.  Othegraven  suchte  durch  eifrige 
Reklame  in  den  Innsbrucker  Zeitungen  sich  einen  guten  Besuch  zu  sichern 
und  unterdrückte  auch  jede  Reklame  der  alten  Pradler  Truppe,  so  daß  wir 
über  sie  keine  Nachricht  aus  diesem  Jahre  überkommen  haben.  Vermutlich 
spielten  die  Pradler  in  diesem  Jahre  unter  Ferdinand  Brix,  dem  als  Liebes- 
boten wohlbekannten  Innsbrucker  Packträger,  im  alten  Schießstand.  Othe- 
graven ließ  es  jedoch  bei  der  ersten  Saison  im  Pradler  Theater  bewenden, 
schloß  dasselbe  nach  fünfmonatlicher  Spieldauer  am  26.  September  und  bezog 
am  1.  Oktober  wieder  sein  Hof-  und  Nationaltheater. 

Im  nächsten  Sommer  1876  war  die  alte  Pradler  Gesellschaft  unter  der 
Spielleitung  ihres  Garderobiers  Anton  Polli  wieder  auf  ihrer  Pradler  Bühne 
und  brachte  dort  das  alte  Ritterschauspiel  wieder  zu  Ehren,  Infolge  des 
kalten  Wetters  konnte  das  Theater  erst  am  7.  Mai  eröffnet  werden.  Das 
vaterländische  Schauspiel  war  in  diesem  Jahre  vertreten  durch  'Der  Wirt 
am  Sand  oder  das  Jahr  1809',  ländliches  Gemälde  von  Vitus  Augetti.  Dabei 
gab  es  eine  Tiroler  Hochzeit  mit  Nationaltanz,  besondere  Wirkung  erzielte 
die  Erschießung  Andreas  Hofers. 

Schlecht  ließ  sich  das  Spieljahr  1877  an.  Wegen  der  Ungunst  des  Wetters 
begann  das  Spiel  erst  am  6.  Mai.  Der  ganze  Mai  war  naßkalt,  dagegen 
herrschte  im  Juni  eine  tropische  Hitze,  außerdem  spielte  noch  immer  das 
Nationaltheater.  Doch  von  Ende  Juni  ab  hatten  die  Pradler  wieder  ihre 
alte  Zugkraft. 

Im  nächsten  Jahre  verschwindet  wieder  die  Pradler  Truppe  von  ihrer 
angestammten  Bühne,  dafür  spielt  daselbst  der  Schauspieler  Hensel  vom 
Stadttheater  mit  einer  Truppe.  Das  Theater,  das  bisher  immer  den  Namen 
'Pradler  Sommertheater'  führte,  hieß  nun  'Tiroler  Volksbühne'.  Hensel 
brachte  Volksstücke  wie  'Der  Hallodri',  'Agnes  Bernauer',  'Das  letzte  Auf- 
gebot' u.  a.  zur  Aufführung.  Das  Unternehmen  scheint  jedoch  nicht  recht 
gezogen  zu  haben,  denn  im  folgenden  Jahre  1879  treffen  wir  auf  der  Pradler 
Bühne  wieder  die  alte  Truppe  unter  der  Leitung  des  Packträgers  Ferdinand 
Brix,  der  als  Intrigant  eine  der  Hauptfiguren  des  Theaters  war.  Er  scheint 
die  Spielleitung  bis  zum  Jahre  1883  behalten  zu  haben,  in  welchem  Jahre 
der  'Lodi-onische  Hof  in  den  Besitz  des  Wirtes  Josef  Anton  Krautschneider 
überging.    Die  Spielleitung  führte  in  diesem  Jahre  der  Goldschmied  Mayr. 

Im  nächsten  Jahre  übernahm  Ferdinand  Rauter,  der  von  der  Höttingerau 
her  noch  beliebte  Schauspieler,  der  wohl  allen  Innsbruckern  noch  in  bester 
Erinnerung  ist,  die  Direktion  und  behielt  sie  in  zielbewußter  Führung  bis 
zum  Jahre  1904.  Rauter  verstand  eine  prächtige  Truppe  trefflicher  Schau- 
spieler auszubilden  und  brachte  das  Theater  im  Verein  mit  seiner  späteren 
Nachfolgerin  in  der  Spielleitung,  Josefine  Weiß,  zur  eigentlichen  Blüte. 
Rauter  starb  am  20.  Februar  1905.    So  mancher  besucht  wehmutsvoll  noch 


Kleinere  Mitteilungen  257 

die  Grabstätte  des  'Alten  von  Pradl'  im  St.  Nikolauser  Friedhof.  Unter 
Rauter  wurden  die  neuen  Dekorationen  von  Franz  Inzigneri,  einem  alten 
originellen  Mitglied  der  Pradler  Truppe,  gemalt,  von  ihm  stammt  auch  die 
Neubemalun'g  des  alten  vom  Bartinger  Seppl  noch  hermhrenden  Theater- 
vorhanges. Er  zeigte  früher  die  Figuren  Erzherzogs  Ferdinands  und  der 
Philippine  Welser,  die  Farbe  war  aber  mit  der  Zeit  abgefallen,  so  daß  man 
zum  großen  Gaudium  des  Publikums  hindurchsah. 

Wir  kommen  schon  in  die  Zeit,  die  allen  Innsbruckem  geläufig  ist,  und 
können  uns  daher  kurz  fassen.  Eine  Neuerung  sei  noch  aus  dem  Jahre  1889 
erwähnt.  Seit  diesem  Jahre  erscheinen  nämlich  die  Namen  aller  Mitspielen- 
den auf  dem  Theaterzettel,  was  vielleicht  für  den  künftigen  Chronisten  des 
Theaters  von  Wert  ist.  Am  2.  August  1891  feierte  der  beliebte,  heute  noch 
sich  bester  Gesundheit  erfreuende  Komiker  Alois  Lener  das  40.  Jahr  seiner 
Bühnentätigkeit,  die  er  noch  am  Theater  in  der  Höttingerau  begonnen  hatte 
So  mancher  wird  sich  noch  des  ulkigen  Knappen  Pietro  in  dem  Stück 
'Robert  Graf  von  Lasserillo'  oder  der  'Kungerturm  von  Spaletto'  erinnern, 
welche  Rolle  sich  Lener  zum  Benefiz  erkoren  hatte.  Am  29.  Mai  1892  er- 
schien der  heute  in  allen  deutschen  Landen  berühmte  Direktor  Ferdinand 
Exl  zum  ersten  Male  auf  dem  Pradler  Theaterzettel.  Er  gab  den  Herold  im 
schaurigen  Ritterschauspiel  'Katharina  Howard',  der  Herzog  Etheiwood  das 
Haupt  abschlägt.  Wie  Exl  selbst  schreibt,  war  der  Anfang  schwer.  Die 
Pradler  hatten  damals  prächtige  Schauspieler,  ja  ganze  Schauapielerfamilien, 
die  den  Kern  der  Trappe  bildeten ;  ich  nenne  nur  die  Namen :  Rauter,  Weiß, 
Wöll,  Gstöttner,  Lener  u.  a. 

Das  nächste  Jahr  1893  brachte  wieder  eine  Änderung,  die  für  unser 
Pradler  Theater  nicht  ohne  Einfluß  blieb.  Diq  Pradler  begannen  unter 
Direktor  Rauter  nach  alter  Gewohnheit  am  Ostermontag  ihr  Spiel  in  Pradl, 
In  diesem  Jahre  wurde  die  Tiroler  Landesausstellung  veranstaltet,  eines  der 
wichtigsten  Ereignisse  in  Innsbrucks  neuester  Geschichte.  Ein  Strom  von 
Fremden  war  zu  erwarten,  der  sich  auch  tatsächlich  einstellte.  Von  allen 
Seiten  wurde  für  Vergnügungen  für  die  Fremden  gesorgt;  so  wurde  auch 
das  Volkstheater  beim  Löwenhaus  gebaut.  Der  neue  Bau,  für  ein  Volks- 
theater wie  geschaffen,  lockte  die  alten  Pradler,  sie  verließen  im  Mai  noch 
die  altgewohnte  Bühne  und  eröffneten  unter  der  Direktion  Rauter-Weiß  am 
Pfingstmontag  das  neue  Löwenhaustheater  mit  dem  zugkräftigen  Ritterstück 
'Georg  Freigraf  von  Aarau'  oder  'Die  Bluthochzeit  auf  Falkenstein'.  Frau 
Josefine  Weiß  sprach  den  Prolog.  Im  Pradler  Theater  war  inzwischen 
Direktor  Erdmann  vom  Stadttheater  mit  seinen  Schauspielern  eingezogen.  — 
Die  Pradler  Bühnenbretter  mußten  damals  Ungewohntes  über  sich  ergehen 
lassen;  Stücke  wie  'Die  Gigerln  von  Wien',  'Mein  Leopold'  und  ähnliche 
sollten  das  Theater  füllen.  Der  Erfolg  scheint  nicht  besonders  gewesen  zu 
sein ;  am  27.  August  bereits  wurde  die  Pradler  Bühne  geschlossen,  Erdmann 
ging  als  Theaterdirektor  nach  Dornbirn.  —  Auch  im  folgenden  Jahre  spielten 
die  Pradler  vom  Ostermontag  bis  Kirchweihsonntag  noch  im  Löwenhaus. 
Hans  und  Ferdinand  Gstöttner  feierten  dort  ihr  25jähriges  Schauspieler- 
Jubiläum.  Im  Pradler  Theater  spielte  der  Schauspieler  Hans  Robert  aus 
München  mit  einer  Truppe,  der  auch  Ludwig  Gürtler  angehörte.  Gegeben 
wurden  Volksstücke  und  Singspiele,  die  Spielzeit  dauerte  vom  15.  April  bis 
9.  September. 

Reuig   kehrte   im  Jahre   1895  die  Direktion  ßauter-Weiß   wieder   nach 


258  Kleinere  Mitteilungen 

Piadl  zurück.  Doch  Kerntruppen,  wie  die  Lener  und  Gstöttner,  hatten  sich 
abgesondert  und  spielten  mit  Franz  Wöll,  Ludwig  Gürtler  u.  a.  unter  der 
Leitung  des  bereits  genannten  Franz  Inzigneri  auf  der  von  den  Pradlem 
selbst  kreierten  Konkurrenzbühne  im  Löwenhaus.  Die  Direktion  Rauter- 
Weiß  verstand  es  jedoch,  die  entstandenen  Lücken  durch  Heranziehung  und 
Ausbildung  neuer  Kräfte  auszufüllen  und  so  das  Pradler  Theater  wieder  in 
die  Höhe  zu  bringen.  Die  Pradler  gewannen  den  alten  Ferd.  Brix  wieder, 
der  nun  nach  löjähriger  Pause,  im  74.  Lebensjahre,  wieder  unter  Riesen- 
beifall die  Bühne  betrat.  Direktor  Rauter  feierte  sein  SOjähriges  Bühnen- 
jubiläum, Ferd.  Exl  hatte  sein  erstes  Benefiz  als  Learl  im  'Jägerblut',  Anna 
Weiß,  die  Tochter  der  Frau  Direktor  Josefine  Weiß,  war  vom  Stadttheater 
in  Konstanz  hereingekommen;  kurz,  es  gab  eine  gute  Saison  in  Pradl,  wäh- 
rend die  Konkurrenz  im  Löwenhaus  schlechte  Geschäfte  machte.  In  den 
folgenden  Jahren  kehrte  noch  mancher  der  abgefallenen  Pradler  Schauspieler 
ins  alte  Heim  wieder  zurück,  ja,  im  Jahre  1897  bestand  gar  keine  Konkurrenz 
mehr,  da  in  ganz  Innsbruck,  außer  in  Pradl,  kein  Sommertheater  mehr  spielte. 
Eine  zweite  Sommerbühne  wäre  für  Pradl  an  und  für  sich  nicht  besonders 
gefährlich  gewesen,  schon  wegen  der  Ritterstücke,  die  am  zugki'äftigsten 
waren  und  nur  von  den  Pradlern  gespielt  werden  konnten;  aber  das  Ver- 
hängnisvolle war,  daJJ  sich  jedes  Konkurrenzunternehmen  aus  den  Pradlern 
selbst  heraus  durch  Spaltung  bildete  und  dadurch  den  Mutterschoß  bedenk- 
lich schwächte. 

Die  gefährlichste  Probe  für  das  Pradler  Theater  war  die  Gründung  der 
Exltruppe,  die  sich  zum  großen  Teile  aus  den  besten  Spielern  der  Pradler 
zusammensetzte.  Am  Ostermontag  1902  traten  die  Exlleute  zum  ersten  Male 
im  'Österreichischen  Hof  mit  dem  'Pfarrer  von  Kirchfeld'  auf,  1904  erscheinen 
sie  schon  im  'Löwenhaus'-Theater  als  festgefügte  Truppe,  im  Sturmschritt 
der  hohen  Kunst  sich  nähernd.  Frau  Josefine  Weiß,  auch  altes  Theaterblut 
—  ihre  Großmutter  Kühnel  geb.  Danner  war  schon  im  Theater  beim 
'Stamser'  aufgetreten  — ,  hatte  seit  dem  Tode  Rauters  allein  die  Leitung  der 
Pradler  Bühne  übernommen,  und  ihr  gelang  es  wieder,  trotz  des  Verlustes 
ihrer  besten  Spieler,  neue  Kräfte  zu  finden  und  so  den  Betrieb  zur  Freude 
des  alten  Pradler  Publikums,  das  sich  aus  allen  Kreisen  der  Stadt  und  Um- 
gebung zusammensetzte,  weiterzuführen.  Das  Pradler  Theater  blieb  bei 
seiner  alten  Tradition,  der  Pflege  des  Ritterstückes  in  der  überkommenen, 
allerdings  der  Zeit  entsprechend  etwas  verfeinerten  Weise,  und  übte  damit 
die  alte  Zugkraft  aus,  trotz  aller  anderen  Sommertheater,  die  im  Laufe  der 
Jahre  entstanden. 

Selbst  der  Weltkrieg  konnte  unserem  Pradler  Theater  unter  seiner  tat- 
kräftigen Direktorin  Frau  Weiß  nichts  anhaben.  In  den  Jahren  1914  bis 
1917  wurde  noch  nach  alter  Sitte  an  allen  Sonn-  und  Feiertagen  in  Pradl 
gespielt,  und  als  das  Theater  am  28.  Oktober  1917  mit  dem  auch  auf  dieser 
Bühne  in  letzter  Zeit  eingeführten  Allerseelenstücke  'Der  Müller  und  sein 
Kind'  das  Spieljahr  schloß,  da  ahnte  es  weder  der  alte  Müller  noch  sonst 
jemand,  daß  unter  den  Geistern,  die  zum  Sterben  in  diesem  Jahre  bestimmt, 
an  ihm  vorüberzogen,  auch  der  des  Pradlers  Theaters  sei.  Es  war  das 
Totenstück  unserer  nun  bald  50jährigen  Bühne  geworden. 

In  der  Karwoche  1920  wurde  das  Schauspielhaus  niedergerissen.  Über 
die  letzten  Ereignisse,  die  zu  diesem  tragischen  Ende  führten,  wird  wohl  in 
späteren  Jahren  einmal  berichtet  werden  können. 


Kleinere  Mitteilungen  259 

Ich  bin  überzeugt,  über  das  Pradler  Theater  wird  in  den  nächsten 
fünfzig  Jahren  mehr  geschrieben  werden  als  während  der  ganzen  Zeit  seines 
Bestandes.  Vor  allem  wird  der  Literarhistoriker  sich  des  romantischen 
Ritterschauspiels  bemächtigen ,  das  seinen  Ursprung  aus  der  Zeit  des  Ab- 
sterbens  des  geistlichen  Volksschauspiels  herleitet.  Zum  Glück  besitzt  die 
letzte  Spielleiterin,  Frau  Josefine  Weiß,  noch  fast  sämtliche  Spieltexte. 
Mögen  dieselben  einmal  an  einem  sicheren  Orte  für  alle  Zeiten  geborgen 
werden;  denn  das  romantische  Ritterschauspiel,  das  immer  mehr  vom  Volks- 
stück verdrängt  wird  und  nur  mehr  auf  einigen  Dorfbühnen,  insbesondere 
in  Buch  bei  Schwaz  gepflegt  wird,  dürfte  bald  der  Geschichte  angehören. 

Auch  der  Kulturhistoriker  wird  das  Pradler  Theater,  in  dem  nicht  zünf- 
tige Schauspieler,  sondern  nur  Dilettanten  voll  Liebe,  Lust  und  Geschick 
zum  Komödiantentum  das  Publikum  ergötzten,  in  den  Bereich  seines 
Forschungsgebietes  aufnehmen.  Hoffen  wir,  daß  der  Kulturhistoriker  nicht 
einst  berichten  muß,  daß  die  Pradler  Bühne,  auf  der  noch  immer  die  be- 
drängte Unschuld  gerettet,  das  Böse  bestraft  und  das  Gute  belohnt  wurde, 
kurz,  die  Moral  Sieger  blieb,  durch  ein  Kino  ersetzt  wurde.  Auch  die  Ge- 
schichte des  zünftigen  Theaters  wird  dankbar  des  Pradler  Theaters  gedenken 
müssen,  war  es  doch  die  Schule  unserer  berühmten  Exlleute  und  manch 
anderer  heute  auf  großen  Bühnen  wirkenden  Schauspieler  von  gutem  Namen. 
Und  welch  reiche  Fundgrube  wird  unser  Theater,  seine  Spieler  und  seine 
Stücke  mit  den  Lokalwitzen  und  Gstanzeln  für  den  Linsbrucker  Lokal- 
historiker erst  bieten!  Möge  es  nur  allen  diesen  Forschern  gelingen,  den 
reichen  Schatz  noch  rechtzeitig  zu  sichern. 

Kaspar  Schwarz. 

Zum  Balladenrhytlimus. 

Der  Unterschied  zwischen  dem  stattlichen,  kräftigen  Rhythmus  einer  alten 
Volksballade  und  dem  Geklingel  einer  späteren  Straßenballade  fällt  beim 
Lesen  einiger  Zeilen  auf.  Eine  weitere  Untersuchung  darüber,  wodurch 
eigentlich  dieser  Unterschied  bedingt  ist,  fehlt.  Man  begnügt  sich  damit, 
auf  die  Unregelmäßigkeit  im  Metrum  der  älteren  Balladen  hinzuweisen  und 
sie  der  größeren  Regelmäßigkeit  der  späteren  gegenüberzustellen.  So  Brandl 
in  Pauls  Grdr.  ILli,  S.  840,  Schipper,  Altengl.  Metrik  (Engl.  Metrik  1.  Teil), 
S.  349,  K.  Nessler,  Geschichte  der  Ballade  Chevy  Chase  (Palaestra  112), 
S.  28  f. 

Ich  versuche  daher  im  folgenden  einige  der  Hauptunterschiede  darzulegen 
und  beschränke  mich  hierbei  für  die  Untersuchung  auf  Sir  Patrick  Spence 
und  die  ältere  Chevj'-Chase-Ballade  einerseits,  auf  die  jüngere  Chevy-Chase- 
Ballade  anderseits.  Mehr  Material  heranzuziehen,  erscheint  überflüssig,  da  es 
sich  ja  um  typische  Unterschiede  handelt,  die  schon  an  wenigen  typischen 
Beispielen  zum  Ausdruck  kommen  müssen.  Von  Kunstdichtem  schließt  sich 
Coleridge  im  Ancient  Mariner  mehr  dem  Gebrauch  der  Volksballaden  an, 
Cowper  in  John  Gilpin  dem  der  Straßenballaden,  so  daß  man  an  diesen 
beiden  Dichtungen  die  künstlerische  Verwertungsmöglichkeit  dieser  Eigen- 
arten erkennen  kann.  Bei  einer  metrischen  Untersuchung  der  Volksballaden 
bietet  allerdings  die  Überlieferung  leicht  Anlaß  zu  Fehlschlüssen.  Selbst  von 
den  18  bei  ChUd  überlieferten  Fassungen  des  Sir  Patriok  Spence  stammt 
keine  unmittelbare  aus  dem  Munde  von  Volkssängern.  Es  ist  also  vielleicht 
mit  Veränderungen,  Weglassungen  oder  Zusätzen  von  Abschreibern  oder  Ge- 


260  Kleinere  Mitteilungen 

dächtnisfehleni  von  Mittelspersonen  zu  rechnen.  Die  ältere  Chevy-Chase  ist 
auch  kaum  Aufzeichnung  aus  dem  Volksmunde,  vgl.  N essler,  a.  a.  0., 
S.  7 — 10.  Ich  habe  daher  Verse,  in  denen  durch  leichte  Korrekturen  der 
Eh\-thmus  regelmäßig  wird,  nicht  raitbetrachtet,  z.  B.  Chevy  Chase  A  7^: 
A  hondrith  (fat),  hartes  (ded)  thar  lay,  oder  13 1 :  Leave  of  the  bt-ytlyrig  of 
the  deare  (he  sayd),  oder  133;  For  neuer  sithe  ye  tcear  (on  yotir  mothers) 
borne  (die  eingeklammerten  Wörter  wären  zur  Korrektur  wegzulassen); 
weiter  habe  ich  offenkundig  verderbte  Verse  ausgeschieden,  so  Ch.  Ch.  153, 
172  u.a.  Selbstverständlich  gestatte  ich  beim  Lesen  alle  irgendwie  üblichen 
Freiheiten  der  volkstümlichen  Poesie  und  die  dialektischer  Art,  so  auch  un- 
silbischen bestimmten  Artikel,  ohne  dies  als  metrische  Unregelmäßigkeit  zu 
bezeichnen.  Über  die  Balladenstrophe  selbst  vgl.  Schipper  a.  a.  0.  (Septenar- 
paar). 

In  der  Volksballade  verzeichne  ich  nun  folgende  Abweichungen  vom 
regelmäßigen  Schema  des  Septenarpaars: 

1.  zweisilbiger  Auftakt,  oft  in  Chew  Chase,  z.  B.  12,  71,  121,  123,  173, 
211  u.  5. 

2.  fehlender  Auftakt:  Sir  P.  Sp.  2i  {Up  and  spak  an  eidern  knight), 
Chevy  Chase  oft,  z.B.  4i,  53,  6^,  Hl,  113.  183,  213  usw. 

3.  zweisilbige  Senkung:  Sir  P.  Sp.  l^:  0  uhar  will  I  get  (a)  giiid  sailor 
(a  unsicher  überliefert);  oft  in  Ch.  Ch.  z.  B.  16,  32,  41,  53,  lOi,  10^,  163, 
184,  213  usw. 

4.  fehlende  Senkung  zweimal  in  Ch.  Ch.: 

Both  with  spear  hryny  and  brand  111; 

/  X  r  /      X      X  ' 

Ayid  that  was  seene  verament  263. 

X  '  X  '  /  X 

5.  dreiheb  ige  statt  vierhebige  erste  Halbzeiien  bei  klingendem  Schluß: 
Ch.  Ch.  13,  15,  181,  523,  531,  533,  551  und  vielleicht  auch  Sir  P.  Sp.  13  u. 
23.     Vgl.  darüber  Nessler,  a.a.O.  S.  29. 

6.  vierhebige  statt  dreihebige  zweite  Haibzeilen,  nur  Ch.Ch.  34*  (Nessler, 
S.  30). 

7.  satzbetonte  Silben  stehen  in  der  metrischen  Senkung,  die  metrische  Hebung 
fällt  auf  eine  vorausgehende  oder  folgende  unbetonte  Silbe,  z.  B.  S.  P.  Sp. 
11,  12: 

The  king  sits  in  Dumfernling  toune 

Drinkin g  the  bluid-red  wine. 

X  '  X  /  X  ' 

Ebenso  22,  31,  4^,  103:  Ch.  Ch.:  li,  34,  5^,  71,  84,  102,  165,  233,  283, 
343,  463,  473,  511,  573,  643. 

Von  dieson  Unregelmäßigkeiten  finden  sich  in  der  Sü-aßenballade  (Chevy 
Chase  B)  bloß: 

1.  Fehlender  Auftakt  einmal  441; 

2.  mehrsilbige  Senkung,  einmal  633; 

3.  satzbetonte  Silben  in  metrischer  Senkung  öfter:  z.B.  3i,  43,  51,  82, 
113,  134,  142,  153,  181,  183,  201,  212,  242  u.  ö. 

4.  Sehr  häufig  aber  fällt  die  metrische  Hebung  auf  eine  satzunbetonte 
Partikel   oder  irgend   ein  Füllwort,   ohne  daß  ein  satzbetoutes  Wort  in  der* 


Kleinere  Mitteilungen  261 

vorhergehenden  oder  folgenden  Senkung  steht,  so  23  (is),  2*  {of),  3i  (in), 
43  (to),  54  (^o),  74  {(lid),  81  (Aar/),  91  (on)  92  (fo),  10 1  {throv/jh)  usw. 

Dies  ist  für  die  Strai5enballade  vor  allem  t^-pisch. 

Im  Anrient  Mariner  verzeichne  ich  die  meisten  Freiheiten  der  Volks- 
ballade, so  zweisilbigen  Auftakt  (3,  32,  71,  80,  87  u.  Ö.),  fehlender  Auftakt 
(22,  29,  119,  121,  168  u.  ö.),  fehlende  Senkung  (197,  im  Ausruf),  satzbetonte 
Wörter  in  metrischer  Senkung  (2,  10,  17,  25,  34,  35  u.  ö.,  besonders  wenn 
die  Aufmerksamkeit  auf  dieses  Tf ort  gelenkt  werden  soll),  dann  aber  auch 
gelegentlich  schwach  betonte  Wörter  in  der  metrischen  Hebung,  ohne  daß 
satztonige  in  der  Senkung  stehen,  also  wie  in  den  Strafjenballaden  (40,  47, 
65,  109,  136,  138  u.  ö.)  Im  John  Gilpin  finden  sich  aber  bloß  die  beiden 
letzteren  Freiheiten  (41,  44,  46,  62,  64,  66,  105  u.  ö.  und  anderseits  1,  2,  3, 
5,  6,  7,  9,  10,  12,  13  usw.,  also  sehr  häufig  wohl  in  absichtlicher  Über- 
treibung). 

Wien.  Karl  Brunner. 

Zu  Thomas  Occleye. 

T.  F.  Tout  {Chapters  in  the  administrative  history  of  mediaeval  England, 
Manch.  1920,  I,  29.  65)  benutzt  Thomas'  autobiographische  Dichtungen  für 
die  Kenntnis  vom  intimen  Leben  eines  Kronbeamten;  Thomas  war  der 
früheste  Privatsiegelschreiber  literarischer  Berühmtheit.  Auch  verwertet  er 
dessen  (wie  vieles  andere  von  ihm  ungedruckte)  Abhandlung,  die  den  frühe- 
sten, historisch  sehr  wertvollen  Leitfaden  zur  Technik  jenes  Privatsiegelamtes 
liefert.  Es  ist  dies  ein  Quartband,  zumeist  Koceleves  Autograph,  jetzt 
British  Museum  Ms.  Additional  24062,  eine  Formelsammlung  von  Privat- 
siegel-Urkundenformularen. 

Berlin.  F.  Liebermann. 

Zu  Chaücers  Stellimg  in  Hofämtem. 

T.  F.  Tout  {Chapters  in  the  administrative  history  of  mediaeval  Eng- 
land: the  Wardrobe,  the  Chamber  a?id  the  Small  seals.  Manch.  1920.  II,  335) 
schildert  in  einer  für  die  englische  Verfassungsgeschichte  epochemachenden 
tiefgründigen  Forschung  und  lichtvollen  Darstellung,  v>-ie  das  Königtum,  dem 
die  Barone  im  13.,  14.  Jahrh.  den  Einfluß  auf  Staatsschatz  und  Kanzlei  ent- 
zogen, sich  eigene  Haushaltsämter  schuf  oder,  wie  die  Königskammer,  neu 
belebte.  Oft  stieg  der  königliche  Kammerdiener  {lalet,  yeoynan)  zu  hohen 
Ehren,  gehörce  nicht  selten  zu  guter  Familie,  ohne  gesellschaftlichen  Unter- 
schied vom  Knappen  (esquire):  er  genoß  vor  sonstigen  Kronbeamten  den 
Vorzug  enger  persönlicher  Berührung  mit  der  Majestät  und  diente  ihr  in 
allen  möglichen  Vertrauensstellungen.  Chaucer  liefert  ein  Beispiel,  wie  auch 
dem  Mittelstand  sich  die  Laufbahn  der  Königskammer  öffnete. 

Berlin.  F.  Liebermann. 

Zu  Liedrefrain  und  Tanz  im  englischen  Mittelalter. 

Joh.  Steenstrup,  De  danske  folkevisers  oddeste  Tid  og  Visernes  Her- 
komst  (Kop.  1919,  auch  in  Histosisk  Tidsskrift,  9.  Roekke  I,  232—297),  leitet 
das  bis  Anfang  13.  Jhdts.  zurückverfolgbare  Volkslied  der  Dänen  nicht  aus 
England  her.   Daß  hier  die  Ballade  zum  Tanz  gesungen  ward,  ist  unbewiesen. 


262  Kleinere  Mitteilungen 

Sie  entbehrt  des  tanzbegleitendcn  Refrains  entweder  ganz  (so  in  ^k  des  in 
Childs  Ballads  gesammelten  Stoffes,  so  buntartig  und  stark  neuzeitlich  er 
ist)  oder  verdankt  ihn  dem  Einflüsse  des  Nordens  (wie  sicher  im  King  Orfeo 
aus  Shetland)  oder  bietet  einen  andersartigen  als  der  Norden.  In  Dänemark 
drückt  der  Refrain  Bewegung  aus,  wie  Tanz,  Ritt,  Rudern,  Sehnsucht,  Liebes- 
trieb, in  England  Stillstand,  z.  B.  den  Namen  einer  Blume  oder  Handelsstadt; 
dort  ist  er  mehr  gedanklich,  hier  rein  lautmusikalisch,  ja  bisweilen  bloß 
Interjektion.  Kehrzeilen  in  Englands  Ballade,  oft  zweiteilig  mit  Reim,  folgen 
anderem  Stilprinzip  als  der  Refrain  des  Nordens.  Den  Tanz  begleitet  in 
England  Instrumentalmusik,  nicht  Refraingesang;  der  Refrain  erwähnt  ihn 
nie.  Nicht  dieser  also  gab  den  Anstoß  zum  Refrain  des  Nordens.  Auch 
fehlen  der  älteren  Volksdichtung  der  Dänen  die  Ich-Yoxm  und  die  Frage  an 
die  Zuhörer,  die  ihr  beide  in  England  und  Deutschland  häufig  eignen.  Jene 
trägt  ein  älteres  Gepräge.  Steenstrup  zitiert  für  sich  Child  und  Ker;  der 
Schotte  Henderson  meint,  bei  Anglodänen  entstehe  die  Ballade  Englands; 
des  Nordens  Stoffe  aber  wandern  nach  Britannien  wohl  erst  nach  1470,  als 
eine  dänische  Königstochter  nach  Schottland  heiratete.  Vielmehr  Frankreichs 
Tanzlied  mit  Refrain  gab  den  Anstoß  zum  Volkslied  Dänemarks,  ohne  Ver- 
mittlung Britanniens  oder  Deutschlands. Daß  die  Form  des  englischen 

Liedes  vom  Klerikerlatein  abhänge,  ist  unwahrscheinlich,   weil  der  Septenar 

im  Kirchengesang  selten  ist. Wenn  Knuts  Verse  über  Elys  Mönchsgesang 

—  hundert  Jahr  nach   ihm   auftauchend   —   in  choris  jmblice  cantantur,  so 

heißt  dies  vielleicht  nur  'im  Chor',   nicht  notwendig  'beim  Tanze'. In 

der  (auch  bei  Wilh.  von  Malmesbury  und  Orderic  berichteten)  Legende  über 
Die  Tänxer  von  Kölbigk  (s.  u.  d.  P.  Edw.  Schröder  in  Zs.  f.  Kirchengesch.  17, 
1897)  bildet  der  Vers  Quid  stamus,  cur  non  irnus?  vielleicht  nur  eine  franko- 
romanische Zufügung,  französischem  Tanzliede  verwandt,  zu  dem  norddeut- 
schen Berichte  von  1021,  der  keine  bloße  Fabel  ist,  sondern  an  eine  nach- 
gewiesene Tanzkrankheit  anknüpft.  Der  Tanzführer  heißt  hier  Boro,  nicht 
'Bube,  Schlingel'  allgemein,  noch  auch  mit  Boeve  de  Hamtiin  in  Zusammen- 
hang; vielmehr  heißt  Bovi  auch  die  Strohpuppe,  mit  der  um  1250  in  Däne- 
mark das  Volk  beim  Kindelbier  tanzte,  laut  der  von  einem  englischen  Franzis- 
kaner in  Cork  zum  Predigtzweck  1279  gesammelten  Exempla,  die  Paul  Meyer 
herausgab.  —  Im  Ouillaume  de  Dole  findet  Verf.  das  durch  Shakespeare  im 
Cymbeline  dem  Boccaccio  entnommene  Motiv  vom  Verleumder  der  keuschen 

Fürstin   mittels    hinterlistiger  Erkundung  ihres   geheimen  Muttermals. 

Doch  nicht  nur  Englands  Literaturgeschichte,  sondern  die  germanisch-roma- 
nische allgemein  geht  die  bedeutende  Abhandlung  des  großen  dänischen 
Forschers  an,  der  die  verschiedensten  Seiten  germanischen  Altertums  be- 
herrscht. 

Berlin.  F.  Liebermann. 

Zwischenspiele  für  Edward  II. 

Tout  (Chapters  in  ihe  administrative  hist.  of  mediaeval  England,  1920, 
n,  357)  fand  unter  den  Ausgaben  der  Königskamraer  des  Königs  'gratifica- 
tion  to  the  Clerks  of  one  Chamber  manor  (Rittergut  der  königlichen  Kämmerei) 
who  played  interludes  at  another  such  manor  to  divert  Edward  and  bis 
chamberlain'. 

Berlin.  F.  Liebermann. 


Kleinere  Mitteilungen  26 

Shiite  mengl.:  'Lastschiff. 

Eine  Rechnung  der  Königskammer  um  1325  verbucht  eine  Einnahme 
De  ctistode  shutarum  et  batellorum  rerjis  in  Tainisia  (bei  Tout  Chapters  in 
tJ/e  administr.  hist.  of  England,  II,  3491):  vielleicht  ein  Lehnwort  aus  dem 
Niederländischen. 

Berlin.  F.  Liebermann. 

Zu  Pons  von  Capduelli. 

Im  laufenden  Jahrgang  der  Zs.  f.  r.  Ph.,  S.  231  erhebt  Meyer-Lübke  Ein- 
spruch gegen  die  bisher  übliche  Auffassung  einer  Strophe  des  Kr«uzliedes 
Gr.  375,  2,  das  zuletzt  von  Schultz-Gora  in  seinem  Provenxal.  Elementarbuch 
herausgegc  ben  worden  ist.  Die  Stelle  kennzeichnet  so  treffend  das  Verhältnis 
von  Rittertum  und  Kreuzzug,  daß  ihr  eine  über  den  Einzelfall  hinausreichende 
Bedeutung  zukommt.  Diese  mag  es  rechtfertigen,  wenn  hier  zu  den  Aus- 
führungen Meyer -Lübkes  noch  einmal  das  Wort  ergriffen  wird.  Die  frag- 
liche Strophe  lautet: 

Ja  mais  no-s  gab  negus  bars  qe  pros  sia, 
s'ar  no  socor  la  crotz  e"l  monumen; 
c'ab  gent  garnir,  ab  pretz,  ab  cortezia 
et  ab  tot  cho  q'es  bei  et  avinen 
podem  aver  honor  e  iauzimen 
en  paradis;  gardaz  dune  que  querria 
plus  coms  ni  reis,  s'ab  honraz  faiz  podia 
fogir  enfern  e-1  putnais  fuoc  arden, 
on  maint  chaitiu  viuran  toztems  dolen. 

Während  bisher  qe  pros  sia  (v.  1)  als  Objektsatz  und  das  qe  zu  Beginn  des 
dritten  Verses  al»  'denn'  galt,  will  M.-L.  unter  entsprechender  Änderung  der 
Interpunktion  qc  pros  sia  als  Relativsatz  und  den  mit  dem  genannten  qe 
eingeleiteten  Satz  als  Objekt  zu  gab  (v.  1)  fassen,  wobei  denn  der  Bedingungs- 
satz (v.  2)  als  Nebensatz  zweiter  Ordnung  seinem  übergeordneten  Satz  {c'ab 
gent  garnir  etc.)  vorangestellt  wäre.  Dementsprechend  deutet  M.-L.:  'Kein 
Ritter,  der  etwas  auf  sich  hält,  soll  damit  prahlen,  daß,  wenn  er  auch  nicht 
am  Kreuzzug  teilnimmt,  wir  ja  mit  der  Erfüllung  unserer  gesellschaftlichen 
Verpflichtungen  schon  das  tun,  was  uns  zukommt,  wir  also  ein  Anrecht  auf 
das  Paradies  haben.' 

Gegen  diese  Auffassung  ließe  sich  schon  sprachlich  allerhand  einwenden. 
Über  die  seltsame  Diskrepanz  der  Verbalpersonen  in  Haupt-  und  Nebensatz 
{no's  gab  negus  bars  . . .  qe  podcm)  sucht  M.-L.  durch  die  Annahme  hinweg- 
zukommen, daß  hier  eine  mit  qe  eingeleitete  direkte  Rede  vorläge  oder  daß 
der  Dichter  sich  im  Eifer  mit  den  Rittern  identifiziere.  Zu  solchen  Erklä- 
rungen wird  man  aber  doch  erst  gi-eifen,  wenn  ohne  sie  die  Interpretation 
erheblichen  Schwierigkeiten  begegnet,  nicht  aber  bei  einem  Gedicht,  dessen 
Diktion  sonst  so  klar  und  schlicht  dahinfließt  wie  die  des  vorliegenden  Kreuz- 
liedes. Ob  femer  der  Konjunktiv  in  dem  Relativsatz  qe  pros  sia  ganz  be- 
rechtigt ist,  mag  dahingestellt  bleiben;  erwartet  man  doch  nach  der  neuen 
Inteipretation  eher  so  etwas  wie  qi  vol  essrr  pros.  Andererseits  überrascht 
der  Indikativ  podcm  nach  no's  gab  negus  bars,  und  endlich  könnte  man  auch 
an  der  Zweckmäßigkeit  des  Wortes  gabar  Anstoß  nehmen  in  dem  Zusammen- 
hang, in  den  M.-L.  es  stellt. 


264  Kleinere  Mitteilungen 

Denn  es  darf  doch  wohl  kaum  als  gap  ausgelegt  werden,  wenn  ein  Ritter 
behauptet,  er  könne  auch  ohne  Kreuzzug,  lediglich  kraft  seiner  Rittertugenden 
das  Paradies  erwerben.  Nicht  eitle  Ruhmredigkeit  läge  hier  vor,  sondern 
eine  den  kirchlichen  Anschauungen  der  Zeit  völlig  zuwiderlaufende  Äußerung, 
wie  wir  sie  im  Ernst  einem  Bitter  nicht  zutrauen  dürfen.  Hier,  in  den 
Versen  3 — 6,  liegt  denn  auch  der  Angelpunkt  der  Meyer-Lübkeschen  Auf- 
fassung und,  wie  wir  meinen,  seines  Irrtums.  Denn  unmöglich  kann  der 
Dichter  einem  Ritter  eine  für  seine  Zeit  so  bedenkliche  Anschauung  impu- 
tieren, und  ebensowenig  wie  der  Dichter  haben,  soweit  ich  sehe,  die  bis- 
herigen Interpreten  dieser  Stelle  einen  solchen  Fehler  begangen.  Hier  liegt 
also  ein  zweites  Mißverständnis  Meyer-Lübkes  vor.  Wohl  von  niemandem 
sind  bisher  die  Verse  so  gedeutet  worden,  wie  er  es  glauben  machen  will. 
Als  die  hergebrachte  Auffassung  der  Stelle  gibt  M.-L.  an,  es  werde  gesagt, 
'das  Paradies  erwirbt  zwar  jeder  Ritter  durch  höfisches  Benehmen,  aber 
natürlich  hat  er  noch  viel  mehr  Anrecht  darauf,  wenn  er  sich  durch  Waffen- 
taten im  heiligen  Kriege  auszeichnet.'  Mit  Recht  zweifelt  M.-L.,  ob  durch 
eine  solche  Argumentation  die  Lässigen  sich  hätten  aufrütteln  lassen.  Aber 
so  argumentiert  der  Dichter  gar  nicht,  und  so  hat  ihn  auch  keiner  seiner 
bisherigen  Interpreten  argumentieren  lassen. 

Vielmehr  gibt  die  bisherige  Fassung  in  klarem  Wortlaut  einem  klaren 
Gedanken  Ausdruck.  Auch  wir  wollen  mit  M.-L.  an  die  vorhergehende 
Strophe  anknüpfen.  Aber  das  Beispiel  Alexanders,  der  die  Welt  eroberte 
und  doch  nur  ein  Leichentuch  davontrug,  stellen  wir  in  einen  etwas  anderen 
Gedankengang.  Der  große  König  galt  als  Inbegriff  ritterlichen  Wesens;  aber 
die  Ausübung  aller  seiner  Rittertugenden  half  ihm  nicht  zur  Seligkeit.  Jetzt 
jedoch,  so  meint  der  Dichter,  hat  jeder  Ritter  die  Möglichkeit,  durch  eben 
diese  Tugenden  das  Paradies  zu  erwerben,  falls  er  sie  an  der  Eroberung  des 
Heiligen  Landes  betätigt. 

So  —  und  nur  so  —  verstanden,  bieten  die  Worte  des  Dichters  dem 
Lässigen  jenen  Anreiz,  den  M.-L.  in  ihnen  vermißte.  Seine  Rittertugenden 
sollen  ihm  nicht  Ausrede  sein,  dem  Kreuzzug  fernzubleiben,  sondern  An- 
sporn, an  ihm  teilzunehmen.  Diese  Verschmelzung  von  Rittertum  und  Kreuzes- 
dienst, diese  Nutzbarmachung  der  Rittertugenden  für  die  heilige  Sache,  ist 
ein  Gedanke,  der  vielen  Kreuzliedern  gemeinsam  ist  und  dem  wohl  kein 
Trobador  beredteren  Ausdruck  verliehen  hat  als  Pons  von  Capduelh.* 

Berlin.  Kurt  Lewent. 

Afrz.  JBourgheSf  Obl.  BourgJiet, 

Im  Fablel  vom  'Prestre  comporte'  (Montaiglon-Raynaud,  Rec.  IV,  1  ff.), 
dessen  Text  Steppuhn,  Das  Fablel  vom  Prestre  comporte  und  seine  Ver- 
sionen, Diss.  Königsberg  1913,  nach  den  Hss.  A  und  B  hergerichtet  hat,  be- 
gegnet V.  48,  64,  70,  94  usw.  eine  Dienerin  mit  Namen  Bourghes  {Borghes, 
Borges),  Obl.  Bourghet  {Borget) ;  wo  sich  Bourghe,  Borge  findet,  wie  V.  230, 
299,  steht  es  offenbar  für  Bourghet,  Borget.  Steppuhn  äußert  sich  nicht  zu 
diesem  Namen,  wie  ja  denn  den  Personennamen  immer  noch  ziemlich  wenig 
Aufmerksamkeit  geschenkt  wird.  Mir  scheint,  daß  es  eine  Koseform  von 
Ouibourc  ist  wie  Qoio?i  von  Margoton  Tasse  von  Eustasse.    Der  Frauenname 


Vgl.  Ältprov.  Kreuzlied  S.  62  f.  und  81. 


Kleinere  Mitteilungen  265 

Quibourc  ist  ja  aus  den  Epen  zur  Geniige  bekannt,  er  kommt  aber  auch  sonst 
vor,  z.  B.  M.-R.,  Bec.  11,  207  (Ouibort),  Martinsleben  8682,  im  26.  Miracle  de 
Nostre  Dame  ed.  6.  Paris  et  Robert  IV,  177  ff.  und  in  einer  Pastourelle 
(Bartsch,  Rom.  u.  Fast.  II,  22  V.  27),  wo   eine  Schäferin  so  {Guibor)  heißt. 

Was  an  unserer  Namensform  weiter  interessiert,  ist  die  männliche  Dimi- 
nutivendung -ci.  Ich  kenne  sie  nur  noch  in  Maret  (Nom.  Mares)  bei  M.-R.  II, 
8,  18  (dieselbe  Person  heißt  ebenda  S.  11,  15,  20,  22  Marion  und  S.  20  ein- 
fach Marie)  und  in  einer  Pastourelle  (Rom.  u.  Past.  II,  26  V.  7,  b.  Var.'). 
Es  ist  also  mit  -et  ebenso  verfahren  worden  wie  mit  den  an  männliche  Per- 
sonennamen herantretenden  Diminutivendungen  -on  und  -ot  (z.  B.  Michel, 
Michon;  Charles,  Charlot),  die  so  häufig  ohne  Rücksicht  auf  das  Geschlecht 
weiblichen  Personennamen  angefügt  wurden,  z.  B.  Marion,  Margot  (beide  zu- 
sammen in  Margoton),  was  nicht  ausschließt,  daß  wir  nicht  auch  -ote  daneben 
haben  in  Marote  (Mariote),  während  ein  *  Marianne  m.  W.  nicht  vorliegt,  doch 
vgl.  prov.  Ouilhalmona,  Peirona.  Entsprechend  Johanet  zu  Johan,  Martinet 
zu  Martin  haben  wir  mithin  Maret  zu  Marie  trotz  danebenstehendem  Mariete, 
und  Bourghet  zu  Ouibourc,  falls  meine  Herleitung  das  Richtige  trifft. 

Jena.  0.  Schultz-Gora. 

Nochmals  ital.  ghetto, 

(Vgl.  Wörter  und  Sachen  1915,  S.  205  2.) 
Die  von  mir  a.  a.  0.  fär  nicht  echt  gehaltene  alte  Belegstelle,  die  Tom- 
maseo-Bellini  s.  v.  ghetto  aus  Cecco  Angiolieri  anführt,  lautet  nach  den  kri- 
tischen Ausgaben  von  Massera  (Bologna  1906,  S.  131  f.)  und  Giuliotti  (Siena 
1914,  S.  116)  tatsächlich  nicht,  wie  bei  Tomm.-Bellini  steht: 
Amor  mi  fa  invogliar  di  si  gran  ladre 
Che  var  che  siano  figliuole  di  ghetto, 
sondern  beide  Herausgeber  setzen  statt  ghetto  Qaetto  des  Textes  (und  daher 
sian  statt  siano)  ein,  der  ein  'celebre  ladro,  forse  leggendario'  gewesen  sein 
soll.  Damit  ist  eine  alte  Stütze  für  ital.  ghetto  beseitigt.  Zur  Form  ghettare 
statt  gettare  in  ital.  traghetto  vgl.  jetzt  REW  s.  v.  trajectare,  dessen  Erklärung 
das  g  aus  tragando  wohl  wegen  des  weitverbreiteten  Simplex  ghettare  (vgl. 
REW  4568  s.  y.jectnre:  venez.  ghctar,  'mit  auffälligem  g-''  und  Salvioni,  Kj'it. 
Jahresber.  VII,  I  136,  vor  allem  aber  conghiettura)  Bedenken  erregt.  Zur 
Bedeutung  vgl.  das  synonyme  prov.  gitare  'couler,  fondre  le  metal',  über  das 
Berthele  in  Rev.  d.  langues  rom.  46,  282  ff.  gehandelt  hat.  Zu  ital.  giudecea 
vgl.  Salvioni,  Bidl.  d.  soc.  dant.  ital.  NS.  VII  258,  dessen  Deutung  {^=judaica, 
altprov.  juxaiga)  immerhin  die  Endung  ebenso  unerklärt  läßt  wie  seine  Aus- 
führungen über  genecco  =  gynaiceion,  spätlat.  geniduTu  das  -ecco  (Einfluß  des 
Gen.  Plur.  ywaiy.iov,  Salvioni,  App.  di  latino  medievale,  S.  17  ist  wohl  wenig 
wahrscheinlich).  Über  prov.  guet,  das  REW  anführt,  schreibt  mir  Herr  Prof. 
Appel,  es  könne  nur  neuprovenzalisch  sein  und  sei  aus  Mistral  entnommen: 

^  Auf  diese  Stelle  hat  G.  Cohn  in  den  Tobler- Abhandlungen  aus  einem 
anderen  Grunde  hingewiesen. 

2  Zu  verbessern  S.  201  Anm.  1  Z.  9  v.  u.:  Naxaret,  Z.  3  v.  u.  Saineanu 
st.  Saineann,  S.  204  Z.  16  v.  0.:  einzufügen  'Würdigung'  nach  'solche',' Anm.  1, 
2.  Kolonne  Z.  6  v.  0.:  1.  maxaro  st.  maxara,  Z.  11  v.  0.  Oudin  st.  Ondin, 
S.  205  Z.  6  V.  0.:  St.  Pamaso,  Ital.:  Parnaso  Ital.;  Z.  18  v.  0.:  bestechende 
st.  bestehende. 


266  Kleinere  Mitteilungen 

'Altprov.  (juet  existiert,  soweit  ich  sehe,  nicht.  Mistral  führt  als  "romanisch" 
gucit  guait,  aber  das  ist  ein  Zusammenwerfen  mit  dem  Subst.  zu  gaitar 
"wachen".'  Das  alte  Wort  in  Frankreich  ist  *judaria  (Juirerie,  jutariö). 
Außerdem  wäre  'prov.  guet'  im  REW  durch  nizza.  guet  (vgl.  Mistral)  zu  ersetzen. 
Bonn.  Leo  Spitzer. 

Zu  *ms  de  char». 

In  Zs.  f.  fr.  Spr.  Lit.  42  (1914)  p.  18  erhob  Meyer-Lübke  Zweifel  bezüg- 
lich des  Ausdrucks  fils  de  char  =  unehelich  und  schreibt  gleich  danach: 
'6.  Paris  schließt  daraus,  daß  Karl  in  carro  natus  bezeichnet  wird,  daß  das 
ein  Deckwort  für  "uneheliche  Kinder"  gewesen  sei.  Ich  frage  also  nochmals: 
Gibt  die  spätlatein.  oder  die  altfranz.  oder  meinetwegen  auch  die  alte  deutsche 
Literatur  irgendeinen  Anhaltspunkt  für  eine  solche  Auffassung?  Wo  nicht, 
80  möge  man  sie  nicht  als  etwas  Sicheres,  sondern  als  das  bezeichnen,  was 
sie  ist,  als  Ausfluß  einer  etymologischen  Spielerei  des  Mittelalters.'  Diesen 
Zweifel  hatte  er  schon  in  seinem  Aufsatz  'Romanisch  Bast-'  in  Wörter  und 
Sacken  I  p.  37  (1909)  geäußert.  Übrigens  hat  schon  Rajna  auf  die  Wahr- 
scheinlichkeit einer  mittelalterlich-gelehrten  Spielerei  hingewiesen  [nämlich  in 
carro  natus  und  Cäro-lus].  Indem  ich  mich  dieser  Auffassung  anschließe, 
möchte  ich  auf  zwei  Kleinigkeiten  aufmerksam  machen. 

1.  S.  Singer  hat  Zs.  f.  d.  Alt.  35  (1891)  p.  182  f.  über  das  in  einem  mhd. 
Gedicht  des  Heinrich  von  Veldeke  vorkommende  Schiff  folgendes  bemerkt: 
'Anderseits  erinnert  dieses  Schiff,  das  zugleich  ein  Wagen  ist,  allerdings  an 
die  deutsche  Vorzeit.  In  den  letzteren  Vorstellungskreis  gehören  auch  das 
Bett,  das  zugleich  ein  Wagen  ist,  das  "lit  merveille"(Parz.  566, 16;  Crestien  9070), 
anderseits  der  Wagen,  der  als  Bett  benutzt  wird,  wie  jener,  auf  dem  Karl 
Martell  oder  Karl  der  Große  oder  die  Nachkommen  der  auf  dem  Feldzuge 
befindlichen  Ritter  (Gui  de  Bourgogne  p.  122)  gezeugt  werden.  . . .  Vielmehr 
wird  man  durch  die  Selbstverständlichkeit,  mit  der  in  diesem  Fall  die  Sache 
vor  sich  geht,  an  die  alte  Wagenburg  erinnert,  die  als  Wagen  und  Woh- 
nung zugleich  dient.'  —  Übrigens  bedeutet  mlat.  carrus  'Troßwagen'  (s.  auch 
Litrbl.  f.  g.  r.  Ph.  1908,  Spalte  231). 

2.  Ist  es  möglich,  daß  der  Ausdruck  in  carro  natus  mitbeeinflußt  bzw. 
miterzeugt  wurde  durch  das  griechische  vöd-osi  Dieses  Wort  bedeutet  näm- 
lich 'unehelich'. 

Schalkhausen  bei  Ansbach.  Walter  Benary. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Albert  Leitzmann,  Wilhelm  von  Humboldt.  Charakteristik  und 
Lebensbild.  Mit  drei  Bildnissen.  Halle  a.  d.  S.,  Niemeyer, 
1919.    102  S.    3,50  M. 

Unter  Deutschlands  Gelehrten  ist  Wilhelm  von  Humboldt  bei  der  Nach- 
welt kein  schlechtes  Los  gefallen.  Eine  würdige  Ausgabe  hat  seine  Werke 
und  Briefe  vereint,  und  fehlt  ihm  das  ragende  Denkmal  einer  Biographie, 
die  der  Gesamtheit  seines  Lebens,  WoUens  und  VoUbringens  gerecht  wird, 
so  hat  die  Aufgabe,  das  Bild  seiner  Persönlichkeit  in  großen  Umrissen  für 
alle  zu  zeichnen,  die  fähig  sind,  einen  Plauch  seines  Wesens  zu  spüren,  mehr 
als  einmal  gerade  die  Berufensten  gelockt.  Zwischen  den  einzelnen  Ver- 
suchen liegt  jedesmal  ein  Menschenalter,  einmal  einige  Jahre  weniger,  das 
zweitemal  etwas  mehr:  voran  schreitet  ein  Altmeister  deutscher  Lit^ratur- 
geschichtschreibung,  Rudolf  H  a  y  m,  mit  einem  Buche,  das  er  'Lebens- 
bild und  Charakteristik'  nannte  (1856),  dann  befreite  1881  Alfred  Dove 
in  der  Zusammenfassung  seiner  Beiträge  für  die  Allgemeine  deutsche  Bio- 
graphie eine  der  schönsten  Gaben  seiner  feinen  Feder  aus  der  Abgeschlossen- 
heit des  großen  Sammelwerkes  und  machte  sie  der  Allgemeinheit  zugänglich 
(Die  Forsters  und  die  Eumioldts)  ;  jetzt  sehließt  sich  Albert  Leitz- 
mann, schon  als  Herausgeber  um  Humboldt  hoch  verdient,  solchen  Vor- 
gangern würdig  an.  Er  darf  sich  rühmen,  einen  guten  Teil  des  eigenen 
Daseins  in  innigster  Gemeinschaft  mit  dem  Genius  seines  Helden  verbracht 
zu  haben,  aus  ihr  erwuchs  ihm  das  persönliche  Bedürfnis,  sein  Bild  vor  sich 
und  anderen  erstehen  zu  lassen;  als  freie  Arbeit  entwarf  er  in  glücklichen 
Ferientagen  seine  Skizze  aus  der  Erinnerung  au  das,  was  ihm  frohes  Mühen 
in  den  Schaffenstagen  gewesen  war  —  geschrieben  ohne  gedruckte  Hilfs- 
mittel, will  sie  in  aller  Sachlichkeit  doch  wirken  als  Bekenntnis  zu  einem 
Lebensinhalt  und  verzichtet  daher  auf  alles  gelehrte  Beiwerk. 

Unsere  Sache  ist  es,  solche  Gabe  zu  empfangen  in  dem  Geiste,  in  dem 
sie  gegeben  wird.  Die  Frage  kann  nur'  sein,  ob  die  Gestalt  Humboldts  uns 
auf  diesen  Blättern  lebendig  wird,  ob  wir  den  Rhythmus  seines  Lebens  und 
Denkens  in  ihnen  spüren.  Und  dazu  haben  wir  nur  ja  zu  sagen.  Nicht 
ohne  Absicht  hat  wohl  Leitzmann  im  Titel  Hayms  Reihenfolge  'Lebensbild 
und  Charakteristik'  vertauscht.  Der  Freund  Schillers  und  Goethes,  der 
geistige  Vater  des  humani.stischen  Gymnasiums  und  der  Universität  Berlin, 
der  Schloßherr  von  Tegel  ist  eine  geschichtliche  Persönlichkeit,  die  als  solche 
das  Recht  in  Anspruch  nehmen  darf,  bei  jedem,  der  einigermaßen  teil- 
genommen hat  am  geistigen  Leben  seines  Volkes,  eine  gewisse  Vorstellung 
ihres  Wesens  von  vornherein  zu  erwecken.  Gerade  darum  wird  derjenige, 
der  zu  einer  Schrift  über  Humboldt  greift,  es  dankbar  begrüßen,  wenn  er 
zunächst  seine  Vorstellung  nachprüfen,  berichtigen  und  vertiefen  kann  an 
einem  Gesamtbild  der  geistigen  Art  des  hohen  Mannes;  nach  solcher  Vor- 
bereitung ist  er  erst  recht  imstande,  den  irdischen  Lebensweg  des  Genius 
zu  verfolgen. 

Die  Eigenschaft,  die  Leitzmanns  Charakterbild  als  die  herrschende  im 
Wesen  seines  Helden  in  den  Vordergrund  stellt,  ist  diejenige,  die  uns 
Söhnen  einer  wirren,  ihrer  Ziele  nicht  bewußten  Zeit,  die  neidenswerteste 
dünkt:  jene  Sicherstelligkeit,  die  Goethe  auch  an  Schiller  rühmte,  die  früh 
erworbene,  stets  bewahrte  Ausgeglichenheit  eines  mit  sich  selbst  einigen 
Sinnes,  die,  auf  einer  glücklichen  Verschmelzung  von  Verstandes-  und  Ge- 
fühlskräften beruhend,  ihm  in  seinem  Innenleben  die  feste  Burg  schuf,  deren 
Frieden  diinn.kein  Schickisal  trüben  konnte.     Der  erst  in  diesem  Jahrhun- 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    140.  j^g 


268  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

dert  erschlossene  Briefwechsel  mit  der  Gattin  gibt  Leitzmann  die  Möglich- 
keit, eindringlich  zu  zeigen,  wie  die  gegebene  Anlage  durch  das  Glück  dieser 
Verbindung  erhalten  und  entwickelt  wurde:  hatten  über  des  Knaben  und 
Jünglings  Lehrjahren  nicht  die  günstigsten  Sterne  gewaltet,  erklärt  sich 
aus  ihnen  jener  Zug  von  Kälte,  den  mancher  später  an  dem  Manne  emp- 
fand, Karoline  brachte  ihm  die  Lebensluft,  in  der  er  zu  dem  wurde,  wozu 
er  bestimmt  war,  und  so  wird  denn  das  Charakterbild  Wilhelms  zu  gleicher 
Zeit  zur  lebendigen  Veranschaulichung  einer  Seelengemeinschaft  zweier 
hohen  Naturen,  wie  sie  von  so  idealer,  geistig  gesegneter  Art  zu  den 
höchsten  Gütern  dieses  Erdenlebens  gehört. 

Wie  die  Charakteristik  kann  auch  das  Lebensbild  nur  eine  Skizze  sein, 
aber  der  Meister  seines  Stoffes  versteht,  auswählend  und  zusammenfassend, 
auf  einer  mäßigen  Anzahl  Seiten  Schicksale  und  Taten,  Geplantes,  Entwor- 
fenes und  Vollbrachtes  lebendig  an  uns  vorüberziehen  zu  lassen.  Wir  lernen 
verstehen,  wie  dieser  reiche  Geist  sein  Genügen  daran  hat,  über  ihn  be- 
wegende Fragen  sich  selbst  klar  zu  werden,  und  dann  sich  neuen  zuwendet, 
ohne  sich  darum  zu  sorgen,  vor  anderen  die  Fülle  des  Erkannten  auszu- 
breiten. Der  Staatsdienst,  dem  er  um  der  glücklichen  Muße  seiner  Thü- 
ringer Tage,  um  der  Lust  seiner  weiten  Bildungsreisen  willen  so  leichten 
Herzens  den  Rücken  gewandt  hat,  hält  dann  doch  den  wie  für  ihn  ge- 
schaffenen römischen  Gesandtschaftsposten  für  ihn  bereit,  und  durch  die 
Zeit  der  Not  und  Erhebung  schreitet  er,  der  Erfolge  froh  und  bittere  Ent- 
täuschung tragend,  den  Tagen  des  Alters  entgegen,  da  ihm  und  uns  die 
letzten  Früchte  seiner  Forschungen  reifen.  So  entwirren  sich  uns  die 
Fäden  eines  reichen  Lebens,  wir  erhalten  Einblick  in  die  Werkstatt  des  un- 
ermüdlich tätigen  Denkers,  Forschers  und  Dichters:  schmerzlich  berührt 
noch  heute  das  Verhängnis,  daß  der  Preußische  Staat  in  den  Jahren  seines 
Ausbaues  einen  seiner  erleuchtetsten  Männer  scheiden  ließ  —  darf  ein 
Wunsch  ausgesprochen  werden,  so  wäre  es  der,  daß  Leitzmann  bei  einer 
Neuauflage  auch  zu  diesem  Punkt  (S.  73  ff.)  keinen  anderen  sprechen  lasse 
als  Humboldt  und  sich  selbst:  das  Zitat  eines  Dritten,  mag  es  noch  so 
treffend  die  tiefsten  Gründe  für  Humboldts  Scheitern  formulieren,  wirkt  als 
ein  Fremdkörper  in  der  einheitlichen  Darstellung. 

Berlin-Lichtenberg.  Albert  Ludwig. 

Gertrud  Bäumer,  Goethes  Freundinnen.  Briefe  zu  ihrer  Charakte- 
ristik, ausgewählt  und  eingeleitet  von  G.  B.  2.  Aufl.  Leipzig 
und  Berlin,  Teubner,  1919.   V  +  464  S.  und  12  Bildnisse. 

Schon  beim  flüchtigen  Durchblättern  des  Buches  fällt  einem  zweierlei 
gegenüber  der  1.  Auflage  angenehm  auf:  einmal  ist  das  Schriftbild  gefälliger 
und  klarer  geworden,  und  zweitens  sind  die  Bildreproduktionen  jetzt  bei 
weitem  einheitlicher  im  Ton  aufeinander  abgestimmt.  Sein  Anwachsen 
(gegen  IV  -(-  318  S.  der  1.  Aufl.)  verdankt  das  Buch  den  neuaufgenommenen 
Kapiteln  'Frau  Aja'  und  'Friederike  Brion',  sowie  der  Neubearbeitung  der 
Abschnitte  'Die  schöne  Seele'  und  'Christiane'.  Mit  der  Aufnahme  der  Frau 
Rat  (deren  Bild  an  Stelle  des  der  Sus.  v.  Klettenberg  getreten  ist),  dieser 
ältesten  und  treuesten  Freundin  Goethes,  ist  wohl  manchem  Leser  ein  lang- 
gehegter Wunsch  erfüllt.  Die  unter  ihren  Briefen  getroffene  Auswahl  reiht 
sich  den  übrigen  würdig  an.  Auch  das  Sesenheimer  Idyll  mögen  wir  nicht 
missen  in  einer  Darstellung  der  Frauen,  die  um  Goethe  waren.  Daß  in  den 
Briefen  der  Susanna  von  Klettenberg  der  erste,  für  die  Verfasserin  doch  recht 
charakteristische  Abschnitt  des  Briefes  an  Wenzel  Neisser  durch  eine  zu- 
sammenfassende Anmerkung  ersetzt  worden  ist,  kann  ich  nicht  als  Vorteil 
empfinden,  ebensowenig  das  Fehlen  ihres  Bildes  (es  sollte  wohl  die  Zwölf- 
zahl gewahrt  bleiben) ;  zu  begrüßen  sind  die  neu  hinzugefügten  erklärenden 


I 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  269 

Anmerkungen,  vor  allem  aber  die  Aufnahme  des  bezeichnenden  Briefes  an 
Moser.  Ganz  verändert  hat  sich  die  Darstellung  der  Christiane  Vulpius,  auf 
Grund  der  neuen  Ausgabe  ihres  Briefwechsels  mit  Goethe  von  Graef.  Außer 
der  völlig  umgearbeiteten  und  vertieften  Einleitung  sind  noch  manche  Briefe, 
namentlich  Christianes,  eingeschoben,  die  ihr  Bild  um  diesen  und  jenen 
charakteristischen  Zug  bereichern.  Offenbar  hat  die  Verfasserin  nach  dem 
Erscheinen  des  obengenannten  Briefwechsels  ihre  der  breiteren  Lesermenge 
gegenüber  abweisende  Haltung  betr.  der  Darstellung  Christianes,  wie  sie  sich 
in  der  Einleitung  der  1.  Auflage  zu  erkennen  gab,  geändert  und  statt  dessen 
sich  nun  bemüht,  in  uns  mitfühlendes  Verständnis  für  diese  Natur  und  die 
Rolle,  die  sie  neben  Goethe  zu  spielen  berufen  war,  zu  wecken.  Man  lese 
nur  den  Brief,  in  dem  sie  ihrer  Freude  über  den  'Gruß  der  lieben  Mutter' 
rührenden  Ausdruck  gibt,  oder  die  naiv-drollige  Darstellung  ihres  Reise- 
abenteuers in  Neuhof,  wo  sie  'mit  2  Pistolen  durch  ein  50  Mann  ins  Haus' 
ging,  ohne  daß  einer  'piepste'. 

Fraglos  wird  sich  das  Buch  in  der  neuen  Fassung  neue  Freunde  erwerben. 
Ein  störender  Druckfehler  ist  stehengeblieben:  S.  83,  in  der  Anmerkung: 
1862  statt  1762;  auf  S.  254  unten  steht  noch  der  Hinweis  auf  S.  213  (der  1.) 
.«tatt  S.  325  (der  2.  Auflage). 

Hannover.  H.  Beyer. 

Paul  Lehmann,  Wert  und  Echtheit  einer  Beda  abgesprochenen 
Schrift  (Sitz.-Ber.  Bayer.  Ak.  d.  Wiss.,  Philos.  Kl.  1919,  I). 
München  1919.  21  S. 

Giles  hat  in  seiner  Gesamtausgabe  Bedas  wie  manche  kleinen  Dichtungen 
so  auch  den  Liber  Quaestionum  über  Bibelstellen  und  dogmatische  Fragen 
nicht  abgedruckt,  und  Migne  ihn  unter  Spuria  eingereiht.  Zuerst  Oudin 
sprach  die  Schrift  Beda  ab.  Wie  Lehmann  .scharfsinnig  und  mit  staunens- 
werter Belesenheit  in  karolingischer  Theologie  erweist,  mindestens  teilweise 
mit  Unrecht!  Nämlich  Smaragd,  Claudius  von  Turin,  Hraban,  Haimo  haben 
sie  benutzt  und  teilweise  als  Beda  zitiert.  Beda  selbst  freilich  führt  das 
Schriftchen  im  Katalog  seiner  Werke  nicht  auf.  —  Zu  profundum  maris 
in  der  Leidensgeschichte  des  Apostels  Paulus  (2.  Kor.  11,  25)  lautet  Bedas 
Erklärung:  so  hieß  eine  tiefe  Grube  für  Sträflinge  zu  Kyzikos,  laut  [münd- 
licher?] Exegese  Erzbischof  Theodors.  Wie  in  der  Eistoria  ecclesiastica  oft, 
erscheint  also  dieser  Metropolit  Englands  aus  Tarsos  auch  hier  als  Ver- 
mittler römisch-kirchlicher  Bildung.  —  Paläographie  und  Kunstgeschichte 
tnögen  den  spärlichen  Zeugnissen  ums  Jahr  700  einreihen  die  Bemerkungen, 
daß  in  Bibelbüchern  nomen  Dei  in  leuchtendem  Gold  und  Überschriften  minio 
(rot)  eingetragen  vorkommen,  und  daß  in  der  Wandmalerei  der  'Äthiope' 
[Neger,  Teufel]  schwarz,  dagegen  candidi  corporis  sive  capilli  Saxo  er- 
scheine. [Der  Angelsachse,  einschließlich  Nicht-Sachsen,  heißt  Sachse  auch 
bei  anderen  Anglen,  so  Alcuin  (meine  Ges.  d.  Agsa.  II,  283  n.  1)  und 
Stephan.  Ripon,  V.  Wilfr.  19;  ferner  nennt  ihn  so  Papst  Vitalian  bei  Beda 
III,  29.  —  Die  Hellfarbigkeit  von  Haut  und  Haar  seines  Stammes  hebt 
Beda  auch  sonst  hervor.]  —  Die  Geißelung  des  Apostels  nach  jenem  Briefe 
erklärt  Beda  aus  pictura  libri,  quem  doctissimus  vir  Cudvin  Orientalium 
Anglorum  antistes,  veniens  a  Roma,  secv7n  in  Britanniam  detulit,  in  quo 
videlicet  liiro  omnes  [s.  Pauli]  pa^siones  sive  lahores  per  loca  opportuna 
tränt  depicta.  Bedas  Anteil  an  illustrierten  Codices  und  manche  englische 
Handschrift,  die  auf  Vorbilder  Roms  zurückgeht,  ist  bekannt.  Während 
diese  Passiones  s.  Pauli  verschollen  sind,  besitzt  Antwerpen  die  Kopie  zehn- 
ten Jahrhunderts  von  einer  anderen  Bilderhandschrift  Cudwines,  einem 
Sedulius.  —  Cuthwin  erscheint  in  der  [bereits  ins  neunte  Jahrhundert  hin- 
aufreichenden] Liste  der  Bischöfe  Ostangliens  [ed.  Sweet  Oldest  Engl,  texls 

18* 


270  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

168] ;  er  war  nach  dem  Verfasser,  um  ein  Menschenalter  früher  als  man  bis- 
her annahm,  nach  716  und  vor  731  Bischof.  [Es  lebten  damals  zwei  andere 
Geistliche  desselben  Namens :  ein  Bischof  von  Leicester  und  der  Adressat  des 
Briefes  über  Bedas  Tod.] 

Berlin.  F.  Liebermann. 

H.  Thiemke,  Die  me.  Thomas  Beket-Legende  des  Gloucesterlegen- 
dars.  Kritisch  herausgegeben  mit  Einleitung.  (Palaestra  131.) 
Berlin,  Mayer  &  Müller,  1919. 

Schon  ten  Brink^  lobt  die  Thomas  Beket-Legende,  die  'durch  historischen 
Ton  und  durch  den  Umfang  der  Darstellung  aus  dem  Kreise  der  übrigen 
Legenden  heraustritt,  den  sie  übrigens  in  würdiger  Weise  beschließt'.  Seinem 
Urteil  schließt  sieh  Schofield^  an:  'Its  (des  Gloucesterlegendars)  prevailing 
mediocrity  is  occasionally  relieved,  however,  by  a  spirited  piece  like  the  life 
of  Thomas  ä  Becket,  which  is  füll  of  feeling  and  impressions.'  So  ist  denn 
eine  Einzelausgabe  nach  allen  IIss.  durchaus  gerechtfertigt- 

Die  Einleitung  bespricht  in  herkömmlicher  Weise  zuerst  Überlieferung, 
dann  ausführlicher  die  Frage  nach  der  Quelle,  fügt  einzelnes  über  die  Eigen- 
art des  Verfassers  bei,  geht  auf  die  Frage  des  Verhältnisses  das  Chronisten 
'Robert  von  Gloucester  zum  Legendär  ein  und  behandelt  endlich  kurz  Metrik 
und  Sprache  des  Denkmals. 

Die  Gruppierung  der  Hss.,  wie  sie  für  die  Textkritik  nötig  ist,  innerhalb 
der  zwei  durch  die  verschiedene  Fassung  der  Geburtsgeschichte  des  Heiligen 
gegebenen  Hauptgruppen  gelingt  Th.  durch  Nachweis  recht  deutlicher 
Fehler,  nur  zwei  Hss.  kann  er  nicht  genau  einordnen.  Freilich  stimmt  sein 
Stammbaum  mit  dem  von  Balz*  für  die  Brendanlegende  desselben  Legendars 
aufgestellten  nicht  ganz  überein.  Th.  bemüht  sich,  dies  durch  eine  Reihe 
mehr  allgemeiner  Gründe  zu  erklären  (S.  VII — IX),  wie  fehlenden  Gliedern, 
der  Möglichkeit  der  unabhängigen  Entstehung  desselben  Fehlers  bei  zwei 
Schreibern,  des  Diktierens  in  den  'Hss.-Fabriken'  in  den  Klöstern  und  des 
Mangels  an  positiven  Fehlern.  Er  hätte  auch  das  Korrigieren  von  Fehlern 
durch  intelligentere  Schreiber  und  die  Benutzung  von  zwei  Vorlagen  er- 
wähnen können.  Besonders  so  deutliche  Fehler,  wie  einige  derjenigen  sind, 
auf  welchen  sein  Stammbaum  beruht,  sind  auch  von  mittelalterlichen  Schrei- 
bern leicht  zu  entdecken.  Im  übrigen  sind  die  Verschiedenheiten  zwischen 
Th.  und  B.  sehr  gering,  ja,  bestehen  eigentlich  nur  darin,  daß  Hss.  M 
(=  Ashm.  43,  Bodl.  aus  d.  Anf.  d.  14.  Jahrh.)  und  R  {=  Trinity  Coli.  Cam- 
bridge! R  3,  25;  Alter:  Wende  des  14.  und  15.  Jahrh.),  also  zwei  zeitlich 
ziemlich  auseiuanderliegende,  die  kaum  direkt  auf  dasselbe  Original  zu- 
rückgehen, bei  Balz  nahe  verwandt  erscheinen,  bei  Th.  entfernter,  wenn 
auch  in  derselben  Hauptgruppe.  Daß  Th.s  zwei  Hauptgruppen  bei  B.  nicht 
erscheinen,  hat  nichts  zur  Sache,  da  ja  auch  in  ihrem  Stammbaum  die  Hss. 
mit  der  Geburtsgeschichte  nach  Fassung  c  eine  ■ —  zwar  mit  einigen  Hss. 
der  Gruppe  b  näher  als  mit  anderen  derselben  Gruppe  &  verwandte  —  Son- 
dergruppe bilden,  was  damit  zu  erklären  wäre,  daß-  ihr  gemeinsames  Ori- 
ginal die  Geburtsgeschichte  a  anderswoher  bezogen  hat,  als  sämtliche  andere 
Hss.  des  Legendars. 

Die  ausführliche  Quellenuntersuchung  erweist  äußerst  einleuchtend  auf 
Grund    übersichtlicher    Zusammenstellung    von    gleichen    und    verschiedenen 


1  Geschichte  der  englischen  Literatur  I,  342. 

2  Engl.  Lit.  from  the  Norman  Conquest  to  Chaucer   (Lond.  1906)   S.  394. 
*  Martha  Balz,   Die  me.   Brendanlegende  des   Gloucesterlegendars.     Ber- 
liner Diss.  1909. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  271 

Motiven  in  der  engl.  I^egande  und  den  in  Betracht  kommenden  Quellen,  daß 
der  sogenannte  Quadrilogus,  eine  lat.  Kompilation  aus  vier  vitae  des  Hei- 
ligen, die  Vorlage  der  me.  L-egende  war. 

Bezüglich  der  Verfasserfrage  meint  Th.  vorsichtig  (S.  LX),  daß  sich  die 
Frage,  ob  die  Legende  auch  vom  Chronisten  Robert  verfaßt  sei,  mit  Sicher- 
heit weder  bejahen  noch  verneinen  lasse.  Er  hat  damit  wohl  sicher  recht, 
wenn  er  auch  den  Hauptgrund,  warum  sich  bei  allen  derartigen  Unter- 
suchungen an  me.  Denkmälern  beinahe  stets  ebensoviel  Gründe  für  wie 
gegen  gemeinsame  Verfasserschaft  finden  lassen,  nicht  erwähnt:  die  Vor- 
untersuchungen, wieweit  mittelmäßige  me.  Dichter  überhaupt  originell  und 
nicht  rein  handwerksmäßig  schreiben,  fehlen  und  entbehren,  da  wir  nur  von 
so  wenigen  Dichterpersönlichkeiten  sämtliche  Werke,  soweit  sie  überliefert 
sind,  kennen,  wohl  auch  jeder  sicheren  Grundlage.  Wir  wissen  daher  nie, 
was  persönliche  Eigentümlichkeit,  was  handwerksmäßige  ist  und  was  wie- 
derum Eigentümlichkeit  eines  Standes,  eines  Klosters  usw.  war.  Das 
gleiche  gilt  für  die  erst  recht  ergebnislosen  metrischen  Untersuchungen,  in 
denen  Th.  übrigens  hauptsächlich  an  Balz  und  ihren  überscharfsinnigen 
Schlüssen  Kritik  übt. 

Sprachlich  bietet  die  Legende  nichts  Interessantes. 

Der  Text  folgt  der  üblichen  Art  me.  'kritischer'  Texte:  eine,  womöglich 
die  älteste  Hs.  bietet  die  Grundlage,  und  sie  wird  nach  den  aus  dem  Stamm- 
baum abzuleitenden  Grundsätzen  verbessert. 

Wien.  Karl  Brunner. 


Maria  Born,  Die  englischen  Ereignisse  der  Jahre  1685 — 1690  im 
Lichte  der  gleichzeitigen  Flugschriftenliteratur  Deutschlands. 
Dissertation.     Bonn,  Georgi,  1919.     194  S. 

Die  Flugschrift  der  Neuzeit  bringt-  dem  Historiker  nur  selten  eine  be- 
stimmte neue  Tatsache;  wohl  aber  erhellt  sie  die  damalige  öffentliche  Mei- 
nung oder  die  Richtung,  in  der  Politik,  Gesellschaft  und  Intelligenz  der 
leitenden  Mächte  sie  zu  beeinflussen  strebten.  Was  Fräulein  Born  hier 
fleißig  sammelt,  genau  verzeichnet,  nach  guter  Schulung  kritisiert  und  a.uf 
merkwürdigen  Inhalt  hin  umsichtig  auszieht,  zeigt,  welchen  Wert  England, 
Niederlande  und  Frankreich  auf  die  Meinung  der  Deutschen  legten,  wie  aber 
auch  Deutschland  begriff,  welchen  entscheidenden  Einhalt  Oraniens  Triumph 
dem  Jesuitismus  und  auf  Europas  Festland  der  Übermacht  Frankreichs  ge- 
bot. Den  Streit  zwischen  Absolutie  und  Volkssouveränität  erörtert  der 
Deutsche  aus  naturrechtlichen  Kategorien,  ohne  besondere  Kenntnis  von 
britischer  Verfassungsgeschichte,  meist  als  loyaler  LTntertan  mit  Tadel  gegen 
Unbotmäßigkeit  und  Neuerungssucht  des  Engländers;  ein  Parteigänger 
Oraniens  erklärt  dagegen  Jakob  II.  Todes  schuldig.  Die  inneren  Verhält- 
nisse der  Insel  treten  so  sehr  zurück,  daß  die  Bill  of  rights  unerwähnt 
bleibt;  nur  eine  Schrift  gibt  verständig  die  gegenwärtige  Steuerlast  in  Eng- 
land nicht  der  L^mwälzung  von  1688,  sondern  dem  sie  verursachenden  vor- 
herigen 'Regimente  schuld.  Ein  kluger  Staatsmann  rät  [vielleicht  aus  Kennt- 
nis der  Tudor-Politik],  wer  die  Engländer  unterdrücken  wolle,  mfisse  ihnen 
den  Schatten  der  Freiheit  lassen. 

Etwa  neunzig  Blätter  und  Hefte  verwertet  die  Verfasserin,  wohl  die 
Hälfte  oder  ein  Drittel,  wie  sie  schätzt,  vom  einst  Vorhandenen:  es  sind  das 
Staatsurkunden,  politische  Aufrufe,  amtliche  Denkschriften,  parteiliche 
Tagesberichte,  wirkliche  oder  vorgebliche  Briefe,  zeitgenössische  Betrach- 
tungen, ein  für  Geschichte  des  Staatsrechts  interessanter  Prozeß  zwischen 
König  und  Volk,  mit  Selbstverteidigung  der  personifizierten  raison  d'etat, 
Predigten,  Spottlieder  mit  Wortwitz,  erfundene  Dialoge  bis  fast  zu  drama- 


272  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

tischer  Höhe,  ein  Ora.kel  Apolls  auf  dem  Parnaß,  ein  Höllenfest  und  Toten- 
g-espräche:  Karl  II.  und  Monmouth  warnen  Jakob  aus  dem  Grabe.  Um  die 
Objektivität  des  Zuschauers  zu  erheucheln,  verkleidet  sich  ein  politischer 
Satiriker  gegen  die  Franzosen  als  Lappe.  —  Das  meiste  ist  aus  den 
Sprachen  jener  drei  Westmächte  oder  dem  Latein  nur  abgedruckt  oder  ins 
Deutsche  übersetzt  oder  doc-h  stofflich  dorther  geschöpft.  Als  Druckort  wird 
genannt  London,  Amsterdam,  Hamburg,  Köln  oder  ein  erfundener  Stadt- 
namen; zumeist  fehlt  er;  öfters  wird  als  Verleger  Marteau  [Hammer] 
fingiert.  Holland,  wo  die  Protestanten  Ludwig  XIV.  angreifen  durften, 
rühmte  sich  der  freien  Presse,  die  sich  gelegentlich  sogar  gegen  den  Oranier 
vorwagte,  während  in  nachbarlichen  Monarchien  die  öffentliche  Stimme  ver- 
sklavt sei.  —  Die  weitaus  größere  Zahl  der  Stücke  sind  an-  oder 
Pseudonym.  Der  Parteistandpunkt  erhellt  bei  der  Derbheit  des  Ausdrucks 
freilich  leicht.  Fräulein  Born  entdeckt  als  Verfasser  einiger  Stücke  Leti, 
Karls  IL  Historiographen,  den  Ratspensionar  Fagel  und  Burnet,  des  Ora- 
niers  Freunde.  Letzterer  Bischof  benutzt  für  seine  Geschichte  einige  dieser 
Schriften.  Mehrere  Stücke  vermag  die  Vf.  einer  Feder  zuzuschreiben  oder  von 
einander  abhängig  zu  erklären.  Als  Quellen  erweist  sie  das  papstfeindlich 
interpolierte  Book  of  common  prayer,  ferner  Tho.  Smith  De  repuMica  Angl. 
(1583)  ;  die  dahinter  gedruckten  Relationen  sind  von  Pufendorf  benutzt,  der, 
besonders  für  die  Nationalcharakteristik  der  Engländer,  vielen  dieser  Flug- 
schriften vorlag.  Man  wähnt,  sie  würden,  durch  üppiges  Leben  verweich- 
licht, den  Holländern  in  den  Kolonien  nicht  widerstehen  können!  Eben-so 
wertlos  sind  die  Gerüchte,  die  den  Haß  gegen  die  Jesuiten  beweisen  und 
schüren  wollen:  Karl  IL  sei  von  ihnen  und  Jakob  umgebracht,  und  des 
letzteren  Sohn  nur  untergeschoben,  ja  habe  zum  pater  den  Pater  Petre. 
Als  Monmouths  Mutter  wird  irrig  eine  Kölnerin  Ursiner  ausgegeben.  — 
Anderswo  erscheint  manche  Idee,  die  nicht  Wirklichkeit  wurde,  z.  B.  daß 
der  Oranier  die  Macht  ohne  den  Maria  allein  vorbehaltenen  Königstitel 
empfangen  solle.  —  Die  verständige  Verfasserin  überschätzt  demgemäß  auch 
keineswegs  die  Bedeutung  dieser  ihrer  Funde.  Dennoch  bleibt  viel  daran 
bemerkenswert  für  den  Historiker  der  internationalen  Politik  und  Kultur. 
Hier  einige  Proben. 

Frankreich  steht  überall  im  Vordergrunde.  Man  tadelt,  daß  Karl  IL 
ihm  Dünkirchen  verkaufte.  Es  suche  die  Krone  der  Stuarts  mit  dem  Parla- 
mente und  Holland  zu  verfeinden  und  zu  schwächen,  um  mit  ihrer  Hilfe 
letzteres  niederzuwerfen  und  dominium,  maris  zu  erlangen.  Jakobs  Fran- 
zosenfreundschaft entfremde  ihm  das  Volk  Englands  und  vernichte  den  letz- 
ten Schutz  gegen  Frankreichs  Tyrannei  über  Europa.  England  möge  viel- 
mehr, wünscht  Chr.  Weise  schon  1698,  das  Zünglein  an  der  Wage  zwischen 
den  streitenden  Großmächten  bilden.  Die  mehrfach  vorkommende  Gleich- 
gewichtsidee entstammt  wohl  Pufendorf.  —  Zum  Schutze  des  Handels  gegen 
Seeräuber  möchte  einer  die  Küste  Nordafrikas  von  Frankreich  und  England 
gemeinsam  besetzt  sehen.  Ein  anderer  durchschaut,  des  Dreißigjährigen 
Krieges  eingedenk,  das  Kunststück  machtgieriger  Fürsten,  die  Völker 
thyrso  relifjionis  zu  fanatisieren.  In  einem  'Streite  der  Nationen'  erscheint 
schon  1690  der  Deutsche  als  der  objektive  Europäer.  Sogar  der  Holländer 
wünscht  jedem  Lande  Konfessionseinheit;  nur  der  Deutsche  spricht  für 
religiöse  Duldung;  obwohl  antifranzösischer  Protestant,  tadelt  dieser  Ge- 
rechtigkeitsfanatiker die  Thronfolge  Oraniens  als  Rechtsbruch  und  betet  für  | 
den  inneren  Frieden  —  —  Großbritanniens.  [Wir  kennen  seines  Geistes 
Enkel  1918.]  —  M.  Born  hat  mit  dieser  Erstlingsarbeit  sich  um  die  Ge- 
schichte der  politischen  Ideen  wohlverdient  gemacht;  in  künftigen  Werken, 
die  die  Wissenschaft  von  ihr  erhofft,  erbitten  wir  zugunsten  eiliger  Benutzer 
eine  durchsichtigere  Anordnung. 

Berlin.  F.  Liebermann. 


I 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  273 

Anna  Jacobson,  Charles  Kingsleys  Beziehungen  zu  Deutschland. 
(Anglistische  Forschungen,  hg.  von  Hoops,  Heft  52.)  Heidel- 
berg 1917. 

Diese  dankenswerte  und  fleißige  Studie  ist  wohl  durch  den  Krieg  an- 
geregt worden,  als  ein  Nachweis  willkommen  sein  mußte,  daß  selbst  ein 
schon  in  seinem  Gehaben  bewußt  die  besten  Überlieferungen  Alt-Engländer- 
tums  zur  Schau  tragender  Dichter,  ein  Geistlicher,  der  die  englische  Staats- 
kirche so  ungemein  hoch  einschätzte,  wie  Charles  Kingsley,  deutsches  Den- 
ken, deutsche  Dichtung,  ja  selbst  Deutschlands  Weltstellung  so  ganz  anders 
einschätzte  als  die  Engländer  der  Gegenwart.  Er  stand  hierin  freilich 
nicht  allein,  sein  Freundeskreis  teilte  dieselben  Ansichten,  und  ihnen  allen 
hat  Coleridge  und  Carlyle  als  Brücke  gedient. 

In  —  wohl  erschöpfender  —  Kleinarbeit  weist  die  Verf.  Kingsleys  per- 
sönliches Verhältnis  zu  Deutschen  und  Deutschland  nach,  unter  den  ersteren 
sind  vor  allem  der  preußische  Gesandte  Bunsen  und  der  Oxforder  Professor 
für  Sprachwissenschaft  Max  Müller  bedeutungsvoll;  dann  spricht  sie  von 
Kingsleys  Beziehungen  zur  deutschen  Sprache,  die  er  recht  gut  beherrschte, 
dann  von  denen  zur  deutschen  Literatur,  Philosophie,  Theologie,  endlich  den 
weniger  wichtigen  zu  deutscher  Sprach-  und  Geschichtswissenschaft,  Natur- 
wissenschaft, Malerei  und  Musik.  Das  Schlußkapitel  handelt  von  Kingsleys 
Stellungnahme  zur  deutschen  Nation  seiner  Zeit,  besonders  während  des 
Krieges  von  1870/71,  während  dessen  er  in  einer  Reihe  von  Briefen  voll- 
ständig auf  deutscher  Seite  steht  und  die  deutschen  Ansprüche  auf  Elsaß 
ohne  jede  Einschränkung  billigt,  bevor  man  vielleicht  in  Deutschland  an 
;eine  Annexion  zu  denken  wagte.  Zahlreich  sind  die  von  der  Verf.  angeführ- 
'ten  Stellen  aus  Kingsleys  Werken,  welche  Beeinflussung  durch  deutsche  Lite- 
ratur zeigen  oder  auf  diese  direkt  anspielen.  Sie  muß  aber  doch  zusammen- 
fassend bemerken  (S.  100)  :  'Als  Vermittler  deutschen  Geistes  spielt  Kingsley 
nur  eine  untergeordnete  Rolle,  im  wesentlichen  ist  er  ein  Träger  und  Verbreiter 
von  deutschen  Gedanken,  die  bereits  mit  englischen  Augen  gesehen  sind.' 
Wenn  sie  fortfährt:  'für  seine  persönliche  und  dichterische  Entwicklung 
aber  sind  die  Beziehungen  zu  Deutschland  von  weittragender  Bedeutung", 
so  geht  dies  aus  ihrer  Studie  nicht  mit  überzeugender  Deutlichkeit  hervor. 
Sicher  ist,  daß  Kingsley  seine  sozialpolitischen  und  religiös-ethischen  Ge- 
dianken,  derentwillen  ihm  ja  vor  allem  der  Nachruhm  sicher  ist,  nicht 
direkt  aus  Deutschland  geholt  hat.  Für  sie  ist  einerseits  Carlyle,  anderseits 
S.  T.  Coleridge,  der  ihm  durch  F.  D.  Maurice  nähergebracht  wurde,  maß- 
gebend. Von  diesen  beiden  geht  der  Gedanke  des  werktätigen  Christentums 
und  die  Hochschätzung  der  anglikanischen  Kirche  aus  ('Das  Christentum  ist 
nicht  eine  Theorie  oder  eine  gelehrte  Spekulation,  sondern  Leben';  vgl. 
B  r  an  d  1,  Coleridge  S.  380,  401  f.  und  404  f.),  von  ersterem  so  ziemlich  alle 
sozialpolitischen  Ideen  der  Christlichsozialen,  so  die  Notwendigkeit  innerer 
Umwandlung  und  nicht  politischer  Maßnahmen  zur  Linderung  der  sozialen 
Mißstände,  wie  denn  überhaupt  die  Abkehr  von  der  utilitarischen  Weltan- 
schauung. Wieweit  er  hierbei  von  Deutschland,  besonders  von  Goethe  an- 
geregt wurde,  vgl.  G.  v.  Schulze-Gävernitz,  Carlyle  2  S.  192  f. 
Coleridge  und  Carlyle  waren  für  das  damalige  England  die  Vermittler 
deutscher  Gedanken,  sie  führten  die  Reaktion  gegen  das  achtzehnte  Jahr- 
hundert und  holten  ihr  Rüstzeug  aus  Deutschland  ( J.  St.  M  i  1 1,  Antobio- 
(jraphy  Ch.  V).  Freilich,  Kingsley  hat,  durch  sie  angeregt,  auch  ihre 
Quellen  im  Original  gelesen,  was  der  Verf.  zu  beweisen  sicher  gelungen  ist, 
so  daß  sie  sich  S.  3  mit  'Recht  gegen  W.  Fischers  Behauptung  (Literatur- 
blatt f.  germ.  u.  rom.  Phil.  Nov./Dez.  1916,  S.  362)  wendet,  'daß  Kingsley  die 
deutschen  Idealisten  und  überhaiipt  die  deutsche  Literatvir  nur  indirekt, 
d.  h.  über  Carlyle  kennengelernt  hat';  eine  zusammenhängende  Darstellung 
des  unmittelbaren  Einflusses  der  Deutschen  auf  Kingsleys  Werden  und  auf 


274  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

seine  dichterische  Eigenart  ist  sie  uns  aber  schuldig  geblieben.     Ihre  Zu- 
sammenstellungen bilden  aber  hierfür  eine  äußerst  schätzenswerte  Vorarbeit. 
Wien.  Karl  Brunner. 

Theodore  Roosevelt,  History  as  literature,  and  otlier  essays.  New 
York,  Scribner,  1913.    310  S.    1,50  $. 

Nach  zwei  Seiten  hin  ist  es  interessant,  diese  kurz  vor  dem  Kriege  ver- 
faßten Reden  und  Aufsätze  des  kürzlich  verstorbenen  Expräsidenten  jetzt 
nachzulesen:  in  politischer  Hinsicht  und  im  Vergleich  zur  Geschichts- 
methode des  Carlyle. 

Politisch  im  höchst«n  Grade  ist  die  Rede,  die  Roosevelt  1910  in  Oxford 
hielt:  Biological  analogies  in  history.  Er  betont  da  zunächst  die  Gemein- 
samkeit der  Angelsachsen  dies-  und  jenseits  des  Atlantik  in  Blut  und  Bil- 
dung. Er  erinnert  an  den  Niedergang  der  Holländer  und  der  Italiener,  die 
da  glaubten,  they  could  hire  athers  to  do  their  fighting  .  .  .  they  refused  in 
'times  of  peace  to  mako  ready  fleets  (S.  69,)  .  .  .,  sie  hatten  aufgehört,  to 
bring  forth  fightcrs  (S.  71)  —  wie  anders  die  Japaner!  Er  vergleicht  das 
englische  Weltreich  mit  dem  altrömischen  und  sagt  dann  den  Americans  and 
'you  people  of  the  British  Isles  eine  Lehre,  die  den  anti-imperialists  as  little 
fcusagen  werde  as  it  would  suit  a  certain  type  of  forcihlc-feehle  imperialists 
(S.  81),  nämlich:  Bowevcr  the  hattle  may  go,  the  soldier  worthy  of  the 
name  unll  unth  utniost  vigour  do  his  alloftcd  task  (S.  83)  .  .  .  for  so  shall  our 
seed  inherit  the  earth  (S.  84,).  Kriegsvorbereitung,  allgemeine  Wehrpflicht, 
großer  Flottenba.u  werden  da  bereits  eingeschärft  und  ein  ganz  weitgehender 
Imperialismus  gepredigt,  und  zwar  mit  alttestamentlichen  Gottesworten. 
Aber  am  Schluß  vergißt  Roosevelt  nicht,  diesem  Programm  noch  ein  modern- 
ethisches Mäntelchen  umzuhängen.  Als  justification  für  die  bevorstehende 
Eroberung  soll  immer  deren  lenefit  für  die  beherrschte  Rasse  dienen,  wie 
bei  Indien,  Ägypten  und  den  Philippinen  (S.  90),  und  justice  solle  gelten 
für  jedermann  to  earn  front,  life  the  reward  which  shotiJd  always  accompany 
thrift,  soiriety,  self-control,  respect  for  the  rights  of  others,  and  hard  and 
^intelligent  toork  to  a  given  cnd  (S.  91).  Also  der  Eroberte  muß  sich  noch 
bedanken,  daß  er  die  vom  Eroberer  vorgesteckte  Arbeit  tun  und  dann  ein 
Küchenleben  führen  darf.  Der  Schluß  ist  Aufforderung  an  die  Engländer 
zu  eifrigem  Mittun  bei  solch  'frommer'  Kraftleistung.  Der  Cromwellische 
Geist  der  Gewalttätigkeit  unter  puritanischer  Verbrämung  weht  in  diesen 
Sätzen,  und  hätten  wir  sie  früher  fleißiger  studiert  und  expliziert,  so  hätten 
viele  unserer  Landsleute  die  Versprechungen  Wilsons  richtiger  eingeschätzt. 

Im  Gegensatz  zu  dieser  Oxforder  Rede  stellt  uns  Deutschen  die  Berliner 
Rede  vom  Mai  1910  nur  eine  allgemein  menschliche  Zusammenarbeit  mit 
Amerika  auf  geistigem  Gebiet  in  Aussicht;  sie  bringt  ein  Kompliment  für 
den  hellen  Verstand  des  Großen  Friedrich  vor,  das  offenbar  für  das  Ohr  des 
zuhörenden  Kaisers  berechnet  war,  erwähnt  die  Fruchtbarkeit  der  deutschen 
Mütter,  die  bekanntlich  unseren  Feinden  besondere  Angst  einflößte,  und 
kehrt  immer  wieder  den  nationalen  Gegensatz  zwischen  Deutschland  und 
den  Vereinigten  Staaten  heraus.  —  Bedeutend  wärmer  hatte  Roosevelt 
einige  Wochen  vorher  in  Paris  die  republikanische  Gemeinsamkeit  gefeiert, 
Gesundheit  des  Körpers  und  Vermehrung  der  Geburten  gerühmt  und  es  für 
die  Freiheit,  ja  die  Pflicht  jedes  Volkes  erklärt,  to  judge  for  itself  in  mat- 
ters of  vital  importance  (S.  171),  wobei  die  elsässische  Frage  zwar  nicht 
genannt,  aber  deutlich  gemeint  ist.  Gäbe  es  einen  Preis  für  Kriegsstifter, 
Roosevelt  hätte  ihn  redlich  verdiente 

Von  den  kleineren  Aufsätzen  wendet  sich  der  über  The  thraldom.  of 
:  namcs  gegen  die  einseitige  Verherrlichung  von  freedom  und  order  und  emp- 
fiehlt gegenüber  den  Trusts  einen  gewissen  cöUectivism.     Eine  Kritik  von 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  275 

H.  St.  Chamberlains  'Grundlagen  des  neunzehnten  Jalirliunderts'  bekämpft 
dessen  germanische  Eassenidee.  Andere  Artikel  sind  rein  literarisch  und 
zeigen  die  Schwäche  des  Verfassers  in  nichtpolitischen  Dingen.  Nur  der 
Eingangsessay,  betitelt  Eistory  as  literature,  weckt  noch  unsere  Aufmerk- 
samkeit wegen  seiner   Stellungnahme  zu  Carlyle. 

Der  schottische  Geschichtspädagoge  wird  darin,  was  Ziel  und  Stil  der 
Vergangenheitsdarstellung  betrifft,  von  Roosevelt  unbedingt  anerkannt.  Der 
Historiker  soll  das  Gewesene  zu  neuem  Leben  erwecken  und  zu  moralischer 
Wirkung  bringen;  er  soll  lesbar  schreiben  und  als  Persönlichkeit  anziehen; 
die  Wahrheit  darf  er  nicht  verlassen,  aber  das  Gegenwartsbedürfnis  hat 
ihm  Auslese  und  Farbe  zu  bedingen.  Man  kann  sagen,  daß  beide  Männer 
die  Ausbeutung  der  Geschichte  zu  aktuellen  Zwecken  unter  ethischer  Form 
betreiben,  und  dabei  kommt  die  Wahrhaftigkeit  bei  beiden  zu  kurz.  Aber 
in  einem  Punkte  ist  Eoosevelt  mit  Carlyle  unzufrieden :  in  der  Geschichte 
Friedrichs  II.  habe  letzterer  'pretended  to  discern  morality  where-  no  vestige 
of  it  existed  (S.  20).  Die  Moral,  die  Carlyle  da  fand,  sei  nur  die  des  Alten 
Testaments  gewesen,  nicht  die  des  Neuen.  Unwillkürlich  fragt  man,  ob 
etwa  Roosevelts  eigene  Ansprüche  auf  ags.  Weltherrschaft  unter  Hinweis 
auf  althebräische  Landverheißungen  zur  Bergpredigt  passen?  Was  Roose- 
velt hier  gegen  seinen  Lehrer  und  Meister  sagt,  gilt  wenigstens  ebenso  von 
ihm  selber.  Viel  mehr  noch  als  der  hochkonservative  Weise  von  Chelsea 
hat  er  seine  imperialistischen  Tendenzen  durch  geschichtliche  Argumente 
zu  beflügeln  getrachtet.  Er  nennt  dies  Überwindung  der  dry-as-dusts.  Ich 
will  lieber  ein  wissenschaftlicher  Pedant  heißen,  als  durch  einseitigen 
Wissensschein  die  Leute  zu  einer  widerrechtlichen  Ausnutzung  politischer 
Gelegenheiten  verleiten,  die  doch  auf  die  Dauer  niemals  Bestand  haben  kann. 

Berlin.  A.  B  r  a  n  d  1. 

Neue  Tauchnitzbände.    Vol.  4527:  C.  N.  and  A.  M.  Williamson, 
The  Wedding  Day.  —  Vol.  4528:  Arnold  Bennett,  The  Truth 
about  an  Author.  —  Vol.  4530:  H.  B.  Marriott  Watson,  The 
Excelsior.     Leipzig,  Bernhard  Tauchnitz,  1919.    Je  4  M. 
Die  Tauchnitzsammlung  hat  während  des  Krieges  in  einer  Anzahl   von 
Bänden    ältere   Werke,    z.    T.    wissenschaftlichen    Charakters,   gebracht   und 
dadurch   in   sehr  dankenswerter   Weise  manche  Lücke  in   ihren   Reihen   er- 
gänzt;   daß   sie   nunmehr   darangeht,   ihr   altes  Amt,   die  Kenntnis   neuerer 
Erscheinungen,  vor  allem  der  erzählenden  Literatur,  dem  Festlande  zu  ver- 
mitteln,  werden   alle  begrüßen,   die  wissen,   was   sie  in   früheren,   besseren 
Zeiten    in   dieser    Beziehung   geleistet   hat.     Im   alten    vertrauten    Gewajide 
liegen  ein  paar   Romane  und  zwei   in  einem  Bande  vereinigte  Essayreihen 
vor,  die  Romane  zwar  auf  etwas  kriegsmäßigem  Papier,  alles  aber  in  klarem, 
schönem    Druck   und   zu    einem   verhältnismäßig   immer    noch    bescheidenen 
Preise. 

Welche  Gesichtspunkte  die  Verlagsbuchhandlung  freilich  bestimmt  haben, 
gerade  diese  beiden  Romane  nach  so  langer  Pause  zuerst  zu  bringen,  ist 
nicht  erkennbar,  Rücksicht  auf  besonderen  dichterischen  Wert  ist  es  wohl 
nicht  gewesen:  was  geboten  wird,  ist  Durchschnittsware,  wohl  noch  aus  der 
Zeit  vor  dem  Kriege  stammend,  denn  kein  leises  Wörtlein  deutet  auf  die 
Erschütterungen  hin,  welche  die  Vorgänge  der  letzten  Jahre  über  die  ge- 
samte europäische  Menschheit  gebracht  haben.  Aber  die  Aufnahme  in  die 
Tauchnitzsammlung  bürgt  für  einen  gewissen  Erfolg  dieser  Romane  in 
England,  für  den  Literarhistoriker  wird  es  nicht  ohne  Reiz  sein,  mit 
einigen  Worten  der  Frage  nachzugehen,  mit  welchen  Mitteln  dieser  Erfolg 
erreicht  wurde,  was  also  auf  ein  englisches  Durchschnittspublikum  zur  Zeit 
ihres  Erscheinens  wirkte. 


276  Beurteilungen  und  knrz<p  Anzeigen 

Da  ist  zunächst  zu  sagen,  daß  es  sich  bei  be-iden  Romanen  um  Kriminal- 
geschichten handelt,  beide  setzen  mit  einem  gelJveimnisvoUen  Vorgang  ein, 
dessen  Aufklärung  das  Ziel  der  Handlung  ist,  beid  e  verzichten  dabei  auf  die 
beliebte  Mithilfe  durch  den  modernen  Ersatz  für  die»  Göttermaschinerie,  den 
Detektiv.  ... 

Die  Führung  der  Handlung  ist  charakteristisch  verr /schieden:   die  Wil- 
li a  m  s  o  n  s  begnügen  sich  mit  ihrem  Anfangsgeheimnis,     sie  beuten  es  aus 
und  führen  es  in  behaglicher  Breite  nach  allen  Seiten  vor,     Watson  aber 
sucht  den  Erfolg  darin,  daß  er  den  Leser  durch  einen  wahreLii  Irrgarten  von 
immer  neuen   rätselhaften   Ereignissen  jagt  —  hier  herrscht  'is-Eilzugstempo, 
dort  die  behagliche  Gangart  der  seligen  Postkutsche.    Das  sagt     schon,  daß 
Watson  eine  moderne  Form  des  Unterhaltungsromans  vertritt:   i, 'modern  ist 
der   Stoff,  ein  großangelegter  Versicherungsschwindel,  bei   dem  es  '   sich  um 
Millionenwerte  handelt,  modern  das  erregende  Moment  der  Handlung  ^  T^i, 
Erzähler  willigt  darin  ein,  die  Persönlichkeit  eines  ihm  zufällig  ähi"^"^"®°' 
sonst  wildfremden  Menschen  anzunehmen  —  modern  die  Art,  wie  dei^  Leser 
von  einer  aufregenden  Lage  zur  andern  gepeitscht  wird.    Im  GegensatJ'J'  dazu 
sind  bei   den   Williamsons   die   ältesten   Motive  aus   den   Tagen   der   s€pr]ig^'^ 
Mrs.  Radcliffe  noch  lebendig:   da  ist  das  romantisch  gelegene  Schloß  au^"-  Q'^"" 
weltfernen  Hebrideninsel   Skye,   von  den   schauerlichen   Höhlen,  über   dt^  "^^^ 
es    erbaut    ist,    führen    geheime    Gänge    zu    seinen    Gemächern,    da   gibt^^'.^^ 
unheimliche    Familiensagen,    unheilverkündende    Geräusche   und    was    soi^'^^^* 
noch    zum    Schauerapparat   gehört,    und    ganz    wie    in   alten    Zeiten    finc  ^'■®'' 
zu  guter  Letzt  alles  seine  natürliche  und  zureichende  Aufklärung.  " 

Da  weder  Watson  noch  die  beiden  Williamsons  über  den  mittleren  Durc^j^' 
schnitt  des  Schriftstellers  hervorragen,  so  beherrschen  sie  nicht  den  Stot.^^'' 
sondern  werden  von  ihm  beherrscht.  Geben  wir  Watson  seinen  ganz  ur®^' 
genügend  begründeten  Personentausch  als  Voraussetzung  zu,  so  müßte  ef^"" 
wenigstens  suchen,  die  Handlung  einigermaßen  überzeugend  zu  gestaltenj"* 
aber  in  der  Freude  an  den  einzelnen  spannenden  Vorgängen  macht  er  es  sich  ^^ 
gar  zu  leicht,  sie  zur  Kette  zusammenzuschmieden,  und  um  zum  Ende  ge-'®°" 
langen  zu  können,  muß  er  sogar  eine  neue  Person  vom  Himmel  herabfallen"^- 
lassen,  über  deren  Anteil  an  der  ganzen  Sache  der  Leser  vollständig  im'^^ 
unklaren  bleibt.  Die  Williamsons  sind  ehrbare  Familienschriftsteller,  die^" 
mit  den  Motiven  des  Sensationsromans  nur  ein  bißchen  Löwe  spielen  kön-  ^ 
nen;  den  Vorwurf  leichtfertiger  Begründung  wird  man  ihnen  nicht  machen,  '^ 
aber  die  traute  Überlieferung  einer  braven  Leuten  zusagenden  Roman-  ^ 
handlung  wirft  sie  aus  der  begonnenen  Bahn:  was  als  spannendes  Drama 
anhob,  versandet  zur  Marlittiade.  Es  war  ja  alles  nicht  so  schlimm  gemeint: 
der  bedenkliche  Bräutigam  der  jungen  Lordstochter  erweist  sich  zuletzt  doch 
als  wackerer  Mitmensch  und  möglicher  Schwiegersohn,  und  die  beiden  .' 
Hauptpersonen,  der  dämonische  Rächer  eines  dunklen  Frevels  und  seine  '1*' 
Gegnerin,  die  Taube  mit  der  Schlangenklugheit,  werden  schließlich,  wie  es'^^ 
sich  gehört,  zum  glücklichen  Paar.  ^^ 

Alles  in  allem:  die  beiden  Proben  englischen  Durchschnitts,  von  denen  [^ 
die  eine  im  Eisenbahnabteil,  die  andere  am  Kaminfeuer  soweit  ganz  unter- 
haltsam zu  lesen  ist,  scheinen  mir  zu  zeigen,  daß  recht  grob  angewandte 
moderne,  bedenklich  abgestandene  alte  Mittel  zu  beträchtlichem  Erfolg  in 
England  führen  können;  diesem  Durchschnitt  ist  der  unsere  mindestens 
gewachsen.  Mögen  folgende  Bände  der  Sammlung  uns  Proben  aus  etwas  , 
höheren  Lagen  des  Romanparnasses  bescheren !  ". 

Bennet  ts  Buch  führt  fort  aus  dem  Romanlande  in  die  Welt  derer,  die  (r 
Romane  schreiben.   Die  erste  Hälfte  will  the  truth  ahout  an  author  erzählen:  F'"' 
es  handelt  sich  um  den  wörtlichen  Wiederabdruck  einer  schon  in  den  neun-\ 
ziger  Jahren  zuerst  in  der  Academy,  dann  als  Buch  ohne  Verfassernamen /"' 
erschienenen  Aufsatzreihe.    Aus  dem  Charakter  der  ersten  Veröffentlichung  /  ?_ 
ergibt  sich,  daß  es  sich  nicht  um  eine  eig'entliche  Selbstbiographie  handelt:! 


\i 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  277 

ein  Schriftsteller  plaudert  Zunftgelieimnisse  aus,  er  tut  es  mit  sprühendem 
Witz  und  nie  versagender  guter  Laune;  solange  er  es  als  Anonymus  tat, 
erhob  er  also  nicht  den  Anspruch,  den  Anteil  der  Leser  für  die  geistige 
Entwicklung  der  eigenen  Persönlichkeit  zu  gewinnen,  sondern  wollte  mehr 
oder  weniger  seine  Erfahrungen  als  ziemlich  allgemeingültig  hinstellen.  Da 
diese  nun  dem  etwas  romantischen  Bilde,  das  sich  das  große  Publikum  vom 
Dichter  macht,  gutenteils  geradezu  widersprechen,  so  war  der  Erfolg  sehr 
geteilt:  die  wenigen  Wissenden  verspeisten  als  köstlichen  Leckerbissen,  was 
dem  'Volk'  eben  Kaviar  war. 

Seit  der  Schleier  der  Anonymität  gefallen  ist,  hat  sich  der  Charakter  des 
Buches  geändert,  obwohl  keine  Zeile  anders  lautet.  Dadurch,  daß  der  Leser 
nun  all  diese  Dinge  auf  den  wohlbekannten  Schriftst-eller  Bennett  bezieht, 
schiebt  er  das  Buch  in  den  Bereich  der  Selbstbiographie,  und  für  eine  solche 
fehlen  viele  Dinge,  die  deren  Reiz  ausmachen:  ihr  Gegenstand  ist  nun  ein- 
mal nicht  bloß  der  Schriftsteller,  der  Maler,  der  Musiker,  sondern  der  ganze 
Mensch;  ihr  Weg  führt  vom  Persönlich-Individuellen  zum  Typischen,  bei 
Bennett  steht  es  umgekehrt.  Und  gerade  deshalb  regt  sich  der  Zweifel,  ob 
diese  'truth  about  an  author'  denn  wirklich  die  Wahrheit  ist. 

Nicht  als  ob  Veranlassung  wäre,  gegenüber  der  ausdrücklichen  Versiche- 
rung des  Verfassers  bei  irgendwelchen  Einzelheiten  einen  Vorbehalt  zu 
machen;  die  Sache  liegt  aber  so,  daß  der  Journalist  die  Vorhand  vor  dem 
Eomanschriftsteller  hat,  und  es  ist  wohl  möglich,  daß  er,  um  nur  nicht  zu 
idealisieren,  sich  zu  ausschließlich  auf  den  Standpunkt  des  Pentameters  in 
jenem  Schillerschen  Distichon  stellt,  der  von  der  milchenden  Kuh  redet. 
Denn  das  ist  das  A  und  O  von  Bennetts  Aufsätzen:  das  Schriftstellerhand- 
werk ist  ein  Handwerk  wie  ein  anderes.  Ist  eine  gewisse  natürliche  Anlage 
gegeben,  so  hat  man  nur  dafür  zu  sorgen,  daß  man  das  Werkzeug,  die 
Sprache,  zu  handhaben  lernt,  und  alles  andere  findet  sich.  Nichts  von 
irgendeiner  inneren  Notwendigkeit,  einem  Drange  zu  sagen,  was  man  leidet: 
dieser  Jünger  Apolls  betont  immer  von  neuem,  wie  er  ganz  außerhalb  jeder 
literarischen  Luft  seine  Kinder-  und  Jünglingsjahre  verlebt  habe,  wie  er 
durch  ganz  zufällige  äußere  Ereignisse  zuerst  Journalist,  dann  Erzähler 
geworden  sei;  wenn  er  von  seiner  literarischen  Tätigkeit  spricht,  schwelgt 
er  förmlich  in  den  Ausdrücken  des  Handwerks  —  kann  man  sich  etwa 
Heyse  oder  Storm  denken,  wie  sie  ihre  Erzählungen  schier  grundsätzlich 
nach  der  Wortzahl,  ihre  eigene  Meisterschaft  nach  der  Anzahl  der  in  der 
Stunde  gelieferten  Worte  berechnen? 

Daraus  ergibt  sich  für  diese  Bennettschen  Erinnerungen,  daß  sie  von  den 
Geheimnissen  des  dichterischen  Schaffens  nichts  verraten;  der  Tagesschrift- 
steller, der  hier  redet,  läßt  uns  selbst  da,  wo  er  künstlerische  Fragen  streift 
(S.  58  f.  das  künstlerische  Temperament,  77  f.  die  Inspiration),  vor  ver- 
schlossenen Türen  stehen.  Es  kann  doch  nicht  damit  abgetan  sein,  daß  man 
diese  Dinge  als  vorhanden  anerkennt,  ihr  Auftreten  als  etwas  Selbstver- 
ständliches hinnimmt:  die  Frage  ist  gerade,  wie  sie  bei  einer  bestimmten 
Einzelpersönlichkeit  aus  überkommener  Anlage  und  erworbenen  Fähigkeiten 
erwachsen,  wie  sie  sich  entwickeln  und  betätigen.  Aber  das  wäre  für  den 
'smarten'  Tagesschriftsteller  ja  wohl  sentimentalizing,  und  so  hat  denn  der 
Dichter  Bennett  zu  schweigen,  wenn  wir  nicht  etwa  dem  A^erfasser  glauben 
sollen,  daß  ein  solcher  gar  nicht  vorhanden  ist. 

Natürlich  soll  es  fernliegen,  um  dessentwillen,  was  wir  nicht  finden,, das 
Gebotene  zu  schmähen.  Der  Reiz  dieser  Plaudereien  ist  in  ihrer  kecken 
Offenheit  unwiderstehlich,  ganz  abgesehen  von  den  anziehenden  Einblicken 
in  das  englische  Leben,  die  sie  gewähren:  was  für  anschauliche  Bilder  gibt 
es  da  aus  der  Redaktion  einer  Damenzeitschrift,  aus  dem  Allerheiligsten 
eines  großen  Verlegers,  aus  den  Beziehungen  zwischen  Schriftsteller  und 
Literaturtrusts,  aus  der  Arbeit  der  Bücher-  und  Theaterrezensenten!  Die 
I   Autoren    mögen    sich    freilich    bekreuzigen,    wenn    sie    hören,    daß    diieser 


278  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

britische  Rhadamantus  ausrechnet,  daß  er  zur  Zeit  der  Abfassung  seiner 
Skizzen  täglich,  die  Sonntage  eingeschlossen,  mindestens  ein  Buch  rezen- 
siert^e  und  daß  dabei  die  halbe  Million  Worte,  die  er  jährlich  lieferte,  noch 
enthielt-en  'one  or  two  books,  one  or  two  plays,  and  numerous  trifles  not 
connected  with  literary  criticism'.  Die  Frage,  ob  er  denn  alle  Bücher  lese, 
die  er  zu  besprechen  vorgebe,  verneint  er  auch  sehr  kühl:  wie  er  trotzdem 
meint,  allen  billigen  Anforderungen  gerecht  zu  werden,  ist  mit  aller  Sicher- 
heit des  guten  Gewissens  auf   Seite  104  ff.   auseinandergesetzt. 

In  merkwürdigem  Gegensatz  zur  ersten  Hälfte  des  Bandes  steht  die 
zweit«  Literary  Taste:  how  to  form  it.  Dort  eine  letzten  Endes  rein  prak- 
tische Auffassung  der  Literatur  als  eines  Berufszweiges,  hier  eine  sehr  ideale 
als  eines  hohen  Kulturbesitzes;  dort  spricht  von  Tagesware  einer,  der  sie 
selber  liefert  und  wenigstens  vorgibt,  nichts  anderes  liefern  zu  wollen,  hier 
ein  Laienprediger,  der  den  Weg  weisen  will  zu  Gütern,  die  mit  dem  täg- 
lichen Markt  nichts  zu  tun  haben.  Wir  Deutschen  haben  ein  Buch,  dessen 
Zweck  wenigstens  verwandt  ist:  Schönbachs  Über  Lesen  und  Bildung, 
aber  die  Ziele  des  deutschen  Gelehrten  sind  weiter  gesteckt,  er  geht  davon 
aus,  wie  man  überhaupt  lesen  soll,  vergißt  also  auch  die  Bedürfnisse  des 
Tages  an  Zeitungen  und  Zeitschriften  nicht,  er  setzt  ernsthaftes  Bildungs- 
bedürfnis voraus  und  zieht  infolgedessen  in  seine  Betrachtung  auch  die 
großen  Meister  des  Auslandes:  er  schreibt  sein  Buch  als  wissenschaftlicher 
Systematiker.  Der  englische  Schriftsteller  aber  setzt  ein  eigentliches  Bil- 
dungsbedürfnis nicht  voraus,  sondern  will  es  erst  wecken;  er  spricht  zu 
solchen,  denen  Geschmack  an  und  Verständnis  für  Literatur  zunächst  auf 
derselben  Stufe  stehen  wie  Kenntnis  der  neuesten  Tänze  oder  irgendeiner 
andern  gesellschaftlichen  Vollkommenheit.  Seine  Systematik  ist  also  eine 
ganz  andere  als  die  Schönbachs:  der  Deutsche  denkt  an  Bildung,  der  Eng- 
länder an  Geschmack. 

Wie  charakteristisch  ist  da  Bennetts  große  Ehrfrucht  vor  dem  Begriff 
des  estäblished  classic!  Auf  eine  nähere  Begriffsbestimmung  läßt  er  sich 
nicht  ^ein,  abgesehen  von  der  sehr  allgemeinen  Feststellung,  daß  das  Kenn- 
zeichen wahrer  Literatur  die  innere  Anteilnahme  (emotion)  ist,  die  hinter 
ihr  steht.  Der  Leser  hat  sich  nun  irgendeinen  Klassiker  zu  wählen  und 
mit  ihm  zu  ringen,  bis  er  jene  emotion  empfindet  und  versteht;  er  hat  sich 
gegenwärtig  zu  halten,  daLß  er  als  Leser  einer  solchen  Persönlichkeit  in 
bester  Gesellschaft  ist,  und  hat  also  den  Grund  für  etwelche  Enttäuschung, 
die  ihn  ül:>erkommen  will,  in  sich  selbst  zu  suchen  und  zu  überwinden.  Das 
ist  natürlich  sehr  schön  gesagt,  aber  ob  diese  einfache  Vorschrift  zum  Ziele 
führt,  dürfte  in  sehr  vielen  Fällen  doch  zweifelhaft  sein :  die  Großen  des 
Geistes  haben  auch  ihrer  Zeit  ihren  Zoll  zu  zahlen  gehabt,  und  nicht  jede 
Seite,  die  sie  geschrieben  haben,  kann  unmittelbar  zu  den  Nachlebenden 
sprechen.  Für  Bennett  ist  literary  taste  anscheinend  etwas,  was  über  jede 
Zeit  erhaben  ist ;  in  Wirklichkeit  ist  der  Begriff  aber  sehr  starken  Schwan- 
kungen unterworfen,  und  wer  eine  so  umfassende  Liste  von  'Klassikern' 
aus  mehr  als  vier  Jahrhunderten  aufstellt,  wie  Bennett  es  tut,  müßte  doch 
wohl  dieser  Frage  nähertreten. 

1  Auf  Einzelheiten  näher  einzugehen,  scheint  sich  mir  im  Rahmen  dieser 
Besprechung  zu  erübrigen,  so  reich  diese  Aufsätze  an  gescheiten  und  an- 
regenden Bemerkungen  auch  sind.  Nur  noch  einiges  über  Bennetts  Listen, 
die  für  den  Literarhistoriker  besonders  wertvoll  sind,  weil  sie  zeigen, 
welchen  Umfang  ein  Mann  wie  Bennett  dem  Begriff  classical  literature  gibt, 
was  er  im  besonderen  für  gegenwartskräftig  genug  hält,  um  ungelehrte 
Leser  des  zwanzigsten  Jahrhunderts  zu  fesseln.  Auf  jeden  Fall  geben  seine 
Aufzählungen  (bei  denen  übrigens  lebende  Schriftsteller  grundsätzlich  nicht 
genannt  werden)  einen  starken  Eindruck  von  der  ununterbrochenen  Ent- 
wicklung des  englischen  Schrifttums;  mag  er  schon  etwas  weitherzig  sein 
und  seinen  Lesern  reichlich  viel  zutraueto  (im  einzelnen  kritische  Einwände 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  279 

zu  erheben,  kann  natürlich  kaum  des  Volksfremden  Sache  sein),  so  muß  der 
Deutsche  doch  mit  einem  Gefühl  des  Neides  sagen,  daß  für  sein  Volk  ent- 
sprechende Listen  bis  in  das  späte  achtzehnte  Jahrhundert  hinein  bedeutend 
magerer  ausfallen  würden.  Jedenfalls  nennt  Bennett  manche  Namen,  die 
bei  uns  den  meisten  Anglisten  von  Fach  eben  nur  Namen  sein  werden,  so 
unter  den  Poets  von  Period  I  Sir  John  Suckling  und  Andrew 
M  a  r  V  e  1 1 ,  unter  denen  von  Period  III,  die  bis  zur  Schwelle  der  Gegenwart 
reicht,  George  Darley,  T.  L.  Beddoes,  J.  C.  Mangan  und  man- 
chen andern.  Vielleicht  noch  lehrreicher  sind  die  Namen,  die  er  wegläßt,  so 
in  Period  I  u.  a.  Sir  Philip  Sidney,  Sir  Walter  Raleigh, 
T  h.  Heywood,  in  II  den  Verfasser  der  J  un  i  u  s  briefe,  in  III  Hell  am, 
Grote,  Buckle,  John  Wilson  und  —  Oscar  Wilde,  unter  den 
Dichtern  FeliciaHemans  und  Sir  Edwin  Arnold,  auch  M  a  c  a  u  - 
1  a  y  ('his  ill  -  informed  and  unjust  denunciations  live  because  his 
genuine  emotion  made  them  into  poetry,  while  his  Lays  of  Ancient  Rome 
are  dead  because  they  are  not  the  expression  of  a  genuine  emotion').  Oder 
man  mustere  die  Einzelwerke,  die  er  auswählt:  wenn  er  z.  B.  von  Roman- 
schriftstellern des  neunzehnten  Jahrhunderts  die  Werke  von  Dickens  und 
der  Charlotte  Bronte,  die  Principal  7iovels  von  P  e  a  c  o  c  k  empfiehlt, 
("SO  beschränkt  er  sich  bei  Thackeray  auf  Vanity  Fair  und  Esmond  (neben 
Barry  Lyndon  und  den  Roundaiout  Papers,  bei  Scott  auf  fünf  Romane 
■(darunter  Rcdgauntlet,  aber  nicht  The  Bride  of  Lammermoor  oder  Eenil- 
worth),  bei  Kingsley  auf  Westward  ho!  Eine  wehmütige  Erinnerung, 
wohl  auch  für  England,  ist  der  Kostenanschlag  seiner  Gesamtklassiker- 
bibliothek: sie  umfaßt  Werke  von  226  Verfassern  in  337  Bänden  und  wäre 
einst  gebunden  für  f  26  14  s  7  d  zu  haben  gewesen  —  also  650  M.  hätten 
reichlich  genügt.  Junge  deutsche  Anglisten  werden  also  vorläufig  darauf 
verzichten  müssen,  nach  seinen  Ratschlägen  ihre  Bücherei  zusammenzu- 
stellen —  vielleicht  braucht  es  aber  kein  frommer  Wunsch  zu  sein,  daß 
unsere  Bibliotheken  ihre  Bestände  darauf  ansehen,  ob  sie  das  alles  bieten, 
was  dem  Engländer  als  Mark  und  Kern  seiner  klassischen  Literatur 
erscheint. 

Berlin-Lichtenberg.  Albert  Ludwig. 

Emil  Winkler,  Marie  de  France.  Sitzungsberichte  der  Wiener 
Akademie  der  Wissenschaften,  phil.-hist.  Klasse,  B  188,  Ab- 
handlung 3.     Wien  1918.     130  S. 

W.  bringt  uns  eine  Arbeit  über  Marie  de  France,  was  an  und  für  sich 
sehr  löblich  wäre,  da  wir  von  dieser  geheimnisvollen  Dichterin  des  Mittel- 
alter» so  gut  wie  nichts  wissen.  Ihre  Werke  liegen  in  guten  Ausgaben  vor, 
aber  über  ihr  Leben  und  eigentlich  auch  über  ihre  Zeit  wissen  wir  nichts 
Sicheres.  W.  sucht  zunächst  die  Punkte,  die  dafür  angeführt  werden,  daß 
M.  in  England  lebte,  zu  widerlegen.  Es  geht  dabei  nicht  ohne  Gezwungen- 
heit ab.    S.  19  übersetzt  er  das 

m'entremis  de  eest  livre  faire 

E  de  l'Engleis  en  Bomanx  traire  (Fabeln,  Epil.  V  11  f.) 

durch:  'ich  habe  unternommen,  dieses  Buch  zu  schreiben,  und  es,  das  im 
Englischen  vorhanden  ist,  damit  auch  dem  Französischen  zu  vermitteln'!! 
Er  findet  also  für  traire  eine  ganz  absonderliche  'Nuance'.  Schwierigkeit  be- 
reitet ihm  auch  das  'Purgatoire  de  Saint-Patrice',  ein  irischer  Stoff,  der  bald 
auch  in  England  sehr  große  Verbreitung  fand.  Es  liegt  nun  nahe,  daß  über 
einen  in  England  beliebten  Stoff  auch  zunächst  in  England  geschrieben  wird. 
W.  sagt  aber  S.  49 :  'Konnte  . . .  der  lateinische  Traktat  nicht  bald  nach  seiner 
Entstehung  auch  dann  zu  Maries  Kenntnis  gelangen,  wenn  sie  in  Frankreich 


280  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

dichtete?'  Natürlich  konnte  er  das,  immerhin  ist  das  Gegenteil  wahrschein- 
licher. W.  findet  sogar  im  'Purgatoire'  einen  Hinweis,  daß  Marie  in  Frank- 
reich gelebt  habe.    Die  Schlußverse  lauten: 

Jo,  Marie,  ai  mis  en  memoire 
Le  livre  de  V  Espurgatoire 
En  Romanx  qu'il  seit  entendables 
A  laie  gent  e  cuvenables. 

,Beim  Ausdruck  laie  gent  wird  jedermann  eher  an  die  Laienwelt  Frankreichs 
als  an  die  dünne  Schicht  Franzosen  oder,  wenn  man  lieber  will,  Normannen 
denken,  die  den  Hof  eines  Heinrich  II.  oder  seiner  Nachfolger  ausmachten.' 
Mit  dieser  Begründung  könnte  man  die  Existenzberechtigung  sämtlicher  in 
England  nicht  für  Geistliche  bestimmten  französisch  gedichteten  Werke  an- 
zweifeln. Also,  W.  greift  teils  geschickt,  teils  absolut  voreingenommen  die 
Beweisstücke  für  den  Aufenthalt  Maries  in  England  an.  Trotz  der  parteiischen 
Beweisführung  kann  man  ihm  recht  geben,  daß  diese  Frage  bei  einem  non 
liquet  endet;  manches  spricht  für  England,  ein  durchschlagender  Beweis  ist 
bisher  noch  nicht  erbracht. 

Dagegen  gibt  W.  zu,  daß  M.  vielleicht  mit  dem  englischen  Hof  irgend- 
welche Beziehungen  hatte.  Daß  sie  adlig  war,  beweist  wohl  sicher  der  Titel 
Dame,  den  ihr  Denis  Pyramus  gibt.  W.  führt  weiter  aus,  sie  dichtet  die 
Lais  nicht  en  l'onur,  sondern  pur  amur  eines  Grafen  Wilhelm,  sie  schreibt 
sie  pur  sa  preiere.  Also  ist  sie  an  Rang  gleichstehend.  Hume  ne  fem.me  de 
grant  pris  in  Guigemar  bezieht  sich  kaum  nur  auf  das  Literarische,  sondern 
geht  auf  ihre  adlige  Abkunft.  Hier  zeigt  sich  wieder  der  Fehler  bei  W., 
daß  er  aus  den  Worten  zuviel  herauspressen  will.  Immerhin  ist  das  —  schon 
früher  bekannte  —  Resultat  richtig,  daß  M.  wohl  adliger  Abkunft  ist  und 
für  ihre  Zeit  eine  gute  Bildung  besaß.  Es  folgt  dann  eine  Schilderung  ihrer 
Stellung  und  Bedeutung  für  die  Literaturgeschichte.  S.  74  ff.  gibt  W.  eine 
zusammenfassende  Schilderung  ihres  Lebens  nach  seiner  Untersuchung.  Er 
erklärt  sie  für  verheiratet,  macht  dazu  S.  74  die  Anmerkung:  'Ich  weiß  nicht, 
wie  Suchier  dazu  kommt,  von  ihrer  Unverraähltheit  zu  sprechen.  Nichts  recht- 
fertigt eine  solche  Vermutung.'  Nichts  rechtfertigt  die  Vennutung  W.s!  Da 
nie  Mann  oder  Kinder  erwähnt  werden,  folgert  Suchier  die  'Un vermähltheit'. 
Die  Vermutung  liegt  durchaus  auf  selten  W.s,  der  die  Beweislast  tragen 
müßte,  was  er  nicht  tut.  Dieses  konstruierte  Lebensbild  M.s  führt  uns  zum 
springenden  Punkte  der  Abhandlung:  Marie  de  France  ist  niemand  anders 
als  Marie  de  Champagne,  die  Tochter  Ludwigs  VII.  von  Frankreich,  die 
Gönnerin  Chretiens  und  mancher  anderer  Dichter.  Nun  findet  W.  auch  den 
Vers  des  Fabelprologs  klar:  Marie  ai  num,  si  sui  de  France.  'Si  sui  de 
France  muß  eben  ein  Teil  ihres  Namens  sein,  wie  "de  Troyes"  ein  Teil  jenes 
Chrestiens'  S.  77.  Also  heißt  sie  Marie  de  France,  was  auch  alle  anderen  an- 
nehmen. W.  fährt  fort:  'Aber  auch  wenn  man  —  wie  angeblich  Marie  — 
im  Ausland  lebt,  nennt  man  sich  doch  nicht  nach  seinem  Heimatlande,  son- 
dern eher  nach  seinem  Heimatsort.'  Hier  schneidet  W.  ein  Problem  der 
Namenforschung  an,  das  komplizierter  ist,  als  er  ahnt.  Man  nennt  sich  nach 
dem  Heimatsort;  da  sind  zwei  Möglichkeiten  gegeben:  1.  Heimatsort  mit  de, 
Typus:  Chrestien  de  Troyes.  2.  adjektivisch:  Guillaume  Lillois,  Jehau  Char- 
train cp.  Schultz -Gora,  Zeitschrift  37,  236.  Aber  W.  irrt,  wenn  er  meint, 
daß  man  sich  nicht  nach  seinem  Heimatlande  nennt:  Guillaume  de  Normandie, 
der  Dichter  des  'Besant  de  Dieu',  der  sich  adjektivisch  auch  Guillaume  le  Nor- 
mant  nennt;  die  Troubadour  Guiraut  d'Espa.nha  und  Peire  d'Auvergue;  der 
Dichter  des  Silenceromans  (cp.  meine  'Nature'  S.  66  ff.),  Heldric  de  Cornuaille; 
die  vielen  lateinischen  Schriftsteller:  Johann  von  Cornwales,  Johannes  von 
Wales,  GuillermuB  von  Apulien,  Peter  von  Dänemark  usf.  Natürlich  ist  hier 
auch  die  adjektivische  Form  vorhanden :  Amaut  Catala,  Peire  Espanhol,  Guil- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  v  281 

laume  Breton,  Guillaume  Flamant,  Henricus  Italiens,  Johannes  Hispanus, 
Josephus  Scotus,  Petrus  Lorabardus,  Petrus  Picardus  usf.  Also  man  nannte 
sich  ebenso  gut  nach  seinem  Heimatlande  wie  nach  seinerti  Heimatsorte,  nach 
dem  Lande  wohl  seltener.  Schwieriger  ist  zu  ersehen,  warum  der  eine  sich 
nach  dem  Ort,  der  andere  nach  dem  Lande  nennt.  Sehen  wir  uns  einige 
Fälle  an:  Guillaume  de  Normandie  hat  seinen  'Besant  de  Dieu'  außerhalb 
Frankreichs  geschrieben,  cp.  Gr.  Gr.  693.  Vielleicht  stammte  er  aus  einem 
Orte  der  Normandie,  den  man  im  Ausland  (England)  nicht  kannte.  Guiraut 
d'Espanha:  'Diese  Form  [der  dansa]  ist  besonders  von  G.  d'E.  gepflegt 
worden,  der  sie  wahrscheinlich  aus  Spanien  einführte',  Suchier,  Literatur- 
geschichte S.  72,  Also  ein  Spanier,  der  in  der  Provence  dichtete.  Seinen 
spanischen  Heimatsort  kannte  man  in  Frankreich  nicht,  also :  d'Espanha.  Genau 
dasselbe  ist  es,  wenn  in  Italien  der  Maler  Lucas  van  Leyden  in  den  Museen 
als  Luca  d'Ollanda  auftritt.  Wer  weiß  in  Italien,  was  Leyden  ist!  Und  min- 
destens so  summarisch  sind  die  geographischen  Kenntnisse  im  Mittelalter  ge- 
wesen. Peire  d'Auvergne  war  ein  Bürgerssohn  aus  dem  Sprengel  Clermont; 
sein  Heimatstädtchen  kannte  außerhalb  seiner  Provinz  kein  Mensch,  daher 
nennt  er  sich  nach  dem  Lande.  Ähnlich  mag  es  mit  Heldric  de  Cornuaille 
gestanden  haben.  Also,  unsere  Beispiele  zeigen,  daß  Menschen  sich  nach 
ihrem  Heimatland  und  nicht  nach  dem  Heimatsort  genannt  haben,  wenn  der 
Ort  entweder  so  unbedeutend  ist,  daß  dessen  Kenntnis  schon  außerhalb  der 
nächsten  Nachbarschaft  aufhört,  oder  wenn  sie  fem  von  ihrer  Heimat  lebten, 
wo  man  auch  größere  Städte  ihres  Heimatlandes  nicht  kennt.  Leyden  ist 
eine  ganz  respektable  Stadt,  trotzdem:  Luca  d'Ollanda.  So  möchte  ich  auch 
wie  Suchier  1.  c.  S.  173  Marie  de  France  erklären:  Sie  stammte  aus  irgend- 
einem Orte  von  Francien,  im  Auslande  nannte  sie  sich  nach  dem  Lande,  da 
man  den  Ort  nicht  kannte.     Das  spricht  mir  natürlich  für  England. 

Diese  Namensfrage  interessiert  W.  aber  nicht  weiter,  er  leugnet  einfach 
die  Existenz  der  Namengebung  nach  dem  Lande,  er  hat  nämlich  eine  andere 
Erklärung.  Si  sui  de  France  heißt:  Ich  bin  aus  dem  Hause  Frankreich.  Da 
W.  Namen  nach  dem  Lande  nicht  kennt,  hat  er  sich  auch  nicht  gefragt,  ob 
Guiraut  aus  dem  spanischen  Königshause  (welchem?)  stammt,  ob  Guillaume 
Herzog  der  Normandie  war  usf.  Aber  abgesehen  davon,  hat  es  mit  W.s 
Übersetzung  schwere  Bedenken.  In  den  Chroniken  und  Urkunden  nennen 
sich  die  Mitglieder  des  königlichen  Hauses  nie  de  Francia.  Es  heißt  immer 
ßlia  oder  filius  oder  frater  usf.  regts  nostri.  W.  selbst  versucht  auch  gar 
nicht,  Belege  für  de  France  aus  dieser  Zeit  herbeizubringen;  in  späterer  Zeit 
steht  es  bekanntlich  anders  damit.  Ohne  darüber  zu  reden,  zitiert  er  selbst 
Stellen  des  Typus  filia  regis  nostri.  S.  82  filiani  regis  Franciae  komme 
Mariam.  S.  86  filiam  Ludovici  regis  Franciae.  S.  87  filiam  Ludovici  regis. 
S.  89  M(aria)  Trecensis  comitissa  ejus  dilectissima  filia.  Dazu  aus  dem 
'Heracle',  Marie,  fille  Loci  S.  90.  Aus  'Eructavit':  jantis  suer  le  roi  de  France 
S.  112.  Wenn  aber  keinerlei  Belege  beizubringen  sind,  daß  de  France  in 
damaliger  Zeit  aus  dem  Hause  Frankreich  bedeuten  kann,  dann  ist  die  Hypo- 
these W.s  schon  gefallen.  Es  bleiben  außerdem  noch  genug  Unwahrschein- 
lichkeiten.  W.  führt  alle  Dichter  auf,  die  zu  Marie,  Gräfin  von  Troyes,  in 
Beziehung  gestanden  haben.  Keiner  sollte  es  für  nötig  gefunden  haben  zu 
erwähnen,  daß  sie  selbst  Dichterin  war?  Wenn  W.  S.  124  sagt:  'Für  die 
übrigen  (Karrenroman,  Lyrik)  ist  sie  die  literarisch  interessierte  Dame,  deren 
eigene  Dichtungen  den  entsprechenden  Kreisen  ohnedies  bekannt  sind/  so 
ist  das  zu  billig.  Gerade  diese  Kreise  hatten  das  lebhafteste  Interesse,  die 
Seite  des  anch'io  sono  poeta  der  Gräfin  hervorzuheben. 

W.  schreibt  S.  124:  'Nirgends  hat  sich  unserer  Identifizierung  Marie 
de  Frances  mit  Marie  aus  dem  Hause  Frankreich,  Gräfin  von  Champagne, 
ein  Hindernis  entgegengestellt.'  Aber  doch  nur  infolge  der  Konstmktionen 
W.s.    Tatsächlich  bleibt  als  Ähnlichkeit  nur:  beide  heißen  Marie,  beide  waren 


282  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

in  der  Jugend  weltlich  und  im  Alter  fromm.  Das  ist  die  Geschichte  von 
den  alten  Betschwestern,  womit  übrigens  Marie  de  France  nichts  Böses  nach- 
gesagt werden  soll,  da  wir  ja  nichts  über  ihr  Leben  wissen.  Auf  Marie 
de  Chainpagne  trifft  es  eher  zu,  cp.  die  Stelle  S.  111,  die  W.  diskret  über- 
geht. W.  verfcällt  in  den  alten  Fehler  des  Identifizierens  um  jeden  Preis. 
Je  weniger  wir  über  einen  Dichter  wissen,  um  so  verlockender  ist  es,  ihn 
mit  dem  oder  jenem  zu  identifizieren.  Das  Mittelalter  weiß  nichts  davon; 
gut,  daß  ein  Romanist  kommt,  der  es  endlich  feststellt!  Es  ist  das  eine 
ähnliche  Tendenz,  wie  sie  in  der  Kunstgeschichte  vor  einiger  Zeit  wütete, 
als  jedes  Kunstwerk  'getauft'  werden  mußte,  also  irgendeinem  bekannten 
Künstler  zugesprochen  wurde.  Dieser  Identifizierungs versuch  der  beiden 
Marien  ist  einer  der  haltlosesten,  aber  auch  bedauerlichsten ;  denn  W.  hat  viel, 
wenn  auch  verrannten  Scharfsinn  darangesetzt.  Ganz  umsonst  ist  seine  Mühe 
nicht  gewesen,  es  bleibt  eine  scharfe,  nur  leider  voreingenommene  Kritik  der 
für  England  sprechenden  Beweisstücke  bei  Marie  de  France  und  ein  ausführ- 
liches Lebensbild  der  hochbedeutenden  Gräfin  Marie  von  Troyes,  wo  nur 
ihre  politische  Tätigkeit  fast  ganz  unberücksichtigt  bleibt.  Manches  darüber 
hätte  W.  leicht  bei  A.  Cartellieri,  Philipp  II.,  August  1899  ff.  gefunden;  aber 
die  Romanisten  vernachlässigen  nun  einmal  allzu  gern  die  Arbeiten  der  Histo- 
riker, wovor  ich  schon  Zeitschrift  38,  S.  381  warnte.  —  Marie  de  France  aber 
bleibt  gleich  anziehend  und  gleich  geheimnisvoll  vor  wie  nach  Winklers  Buche. 
Jena.  Heinrich  Geizer. 

Leo  Spitzer,  Aufsätze  zur  romanischen  Syntax  und  Stilistik.  Halle, 
M.  Niemeyer,  1918.     392  8.4°. 

Was  diesen  19  Aufsätzen,  die  fast  alle  (bis  auf  vier)  bereits  in  Fachzeit- 
schriften erschienen  sind,  hier  aber  nicht  nur  gesammelt,  sondern  auch  er- 
weitert und  durch  zwei  sorgfältige  Register  leichter  benutzbar  gemacht  vor- 
liegen, ihr  Gepräge  gibt,  ist  die  stupende  Belesenheit  des  Verfassers  nicht 
nur  in  den  romanischen  Sprachen,  sondern  auch  im  Deutschen  (nebst  seinen 
Mundarten)  und  im  Slawischen,  eine  Belesenheit,  die  die  Lektüre  freilich 
einigermaßen  erschwert,  insofern  sie  Spitzer  nicht  nur  zu  umfänglichen  Fuß- 
noten, sondern  auch  zu  Fußnoten  zu  diesen  Fußnoten  veranlaßt:  so  erstreckt 
sich  z.  B.  eine  auf  S.  107  beginnende  Fußnote  erster  Ordnung  über  vier 
Seiten  hin  und  ist  von  vier  Fußnoten  zweiter  Ordnung  begleitet,  deren  erste 
wiederum  auf  die  nächste  Seite  hinübergeht. 

Geben  wir  zunächst,  durch  eine  kurze  Inhaltsangabe,  eine  Vorstellung 
von  dem  Reichtum  des  Gebotenen.  1.  'Zur  Syntax  des  italienischen  Possessiv- 
pronomens': Fälle  wie  (I)  Certo,  doveva  essere  una  disperaxione  inumana, 
la  sua  (D'Annunzio)  oder  (II)  lo  qui?  E  non  e  ora  un  sogno  il  mio'^ 
(Silvio  Pellico).  Die  Erklärung  sieht  Sp.  in  mechanischer  Übertragung  des 
Typus  I  auf  den  T}tdus  II,  bei  welchem  statt  des  il  viio  eigentlich  ein  neues 
Substantiv  stehen  sollte  (etwa  'mein  Zustand').  Eine  befriedigendere  Erklä- 
rung gibt  Voßler,  'Logos'  VIII  10:  e  non  e  ora  ^m  sogno  il  mio?  zerfällt 
psychologisch  in  1.  'Ist  das  Jetzige  bzw.  Meinige  nicht  ein  Traum?'  und 
2.  'Ist  der  Traum  auch  wirklich  von  mir?'  Man  könnte  interpretieren:  'Ist 
es  nicht  bloß  ein  Traum,  der  meinige  Traum?':  die  Vorstellung,  er  müsse 
nur  träumen,  ist  bei  S.  Pellico  so  stark,  daß  sie  ihm  zu  einer  Tatsache  wird, 
und  Spitzers  Deutung  ('mein  Zustand')  trifft  logizistisch  an  der  psychologischen 
Wirklichkeit  vorbei. 

2.  Sa  conversation  . . .  ne  sentait  point  son  eure  dr  village  (und  ptg.  seu 
burro)  wird  von  Sp.  anders  erklärt  als  von  Tobler  (V.  B.  II  86):  =  'seine 
Konversation  verriet  nicht  den  Landpfarrer'  oder  noch  genauer  '. ..  ihr  Land- 
pfarrerhaftes'. Auffällig  sei  nicht  das  Possessiv,  sondern  das  Konkretum  an 
Stelle  des  Abstraktums,  was  aber  verständlich  wird  durch  Fälle  wie  er  hat 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  283 

seinen  Doktor  gemacht  =  er  hat  sein  t)oktorat  gemacht  +  ^^  ist  Doktor  ge- 
tcorden.    Mir  persönlich  scheint  diese  Erklärung  befriedigender. 

3.  dief  d'auvre  nicht  =  'Hauptstück  von  einem  Werk'  (wie  fripon  de 
valet),  sondern  einfach:  =  'ein  Stück  Bearbeitetes',  was  durch  Belege  ge- 
stützt wird. 

4.  In  pager  comptant  liegt  nicht,  wie  REW  2181  angegeben,  contente 
'sofort'  vor,  sondern  computando  bzw.  computante  [wie  ich  auch  in  meinem 
'invariablen  Partizipium'  (Rom.  Forsch.  1914,  S.  414/5)  angenommen  habe], 
also  Partizipium  'mit  Ausartung  des  Sinnes'.  Im  Ajischluß  daran  bespricht 
Sp.  andere,  schon  von  Tobler  erwähnte  'ausgeartete'  Partizipien  und  führt 
sie  sehr  glücklich  auf  das  besondere  Milieu  zurück,  in  dem  sie  entstanden 
sind  (so  stammt  z.  B.  toilette  voyante  aus  dem  neuesten  Schneiderargot,  caß 
chantant  aus  der  Geschäftssprache,  die  gern  personifiziert).  Zu  velleites  chan- 
tantes  'Singgelüste'  vergleicht  sich  das  in  meinen  'Präd.  Part.'  aus  Maupassant 
zitierte  hunteur  donnante  =  'Gebelaune'.  Übrigens  ist  die  Neigung  zum  Per- 
sonifizieren eine  Eigentümlichkeit  aller  Fachsprachen,  z.  B.  auch  der  philo- 
logischen: das  Manuskript  A  liest  ...  the  manuscript  reads  ('Präd.  Part.' 
S.  91). 

5.  Vous  avex  beau  parier  wird  verglichen  mit  ital.  avete  un  bei  parlare, 
u.  a.  hinsichtlich  des  unbestimmten  Artikels. 

6.  Ein  langer  Aufsatz  (22  Seiten)  über  ital.  cosi:  es  vem^eigert  die  An- 
gabe des  Grundes  der  Frage,  es  erscheint  als  Verlegenheitswort,  etc. 

7.  Frz.  it.  lä,  ausgehend  von  Tobler,  V.  B.  III2  135  ff.:  lä  =  'wahrhaftig' 
[sais-tu  ton  livret  et  les  quatre  regles,  niais  lä,  solide?)ient?);  lä  bedeutet  nach 
Sp.  nicht  'kurz  und  gut',  'endgültig'  ('Punktuml'),  also  den  Abschluß  eines 
längeren  Räsonnements,  sondern  'siehe!',  also  die  Vorbereitung  auf  das, 
was  kommt;  man  könnte  es  oft  als  'Vergegenwärtigungspartikel'  bezeichnen, 
z.  B.  D'Annunzio,  Gioconda  114:  il/a  pensa :  trovarti  lä  dopo  tanto,  nel  luogo 
stesso  dove  avenne  l'orribile  cosa,  lä,  sola,  di  fronte  a  quella  donna  che  ti  ha 
fatto  tanto  male;  so  auch  bei  Maupassant  (von  dem  D'Annunzio  abhängig 
ist)  und  bei  den  französischen  Symbolisten.  —  Es  werden  dann  weiter  be- 
handelt: ital.  li  =  'sofort'  und  la  =  'basta!';  lä  als  Verlegenheitswort  ['nicht 
unselten'  (lies:  'nicht  selten')  bei  Camöes],  portg.  cd  und  isso  als  Verlegen- 
heitswort, und  ähnliches  eil  {=  illud)  des  Mallorquinischen. 

8.  Aui  50  Seiten  werden  Besonderheiten  im  Gebrauch  von  spanisch  que 
vorgeführt:  unberechtigtes  que  bei  fn  fin  in  einem  von  Weigert  zitierten 
Cervantes-Beispiel  wird  durch  Fälle  aus  dem  modernen  Spanisch  gestützt; 
que  in  dem  gleichfalls  von  Weigert  zitierten,  aber  anders  gedeuteten  Satz: 
^  Usase  en  este  pueblo  que  se  case  un  diablo  oon  otro  ?  —  Que  no,  dijo  et 
medico  ...  wird  angeknüpft  an  Tobler,  V.  B.  II  16:  que  (d.h.  die  Kon- 
junktion que)  hätte  hier  den  Sinn:  'unter  dem  besonderen  Verhältnis,  daß  ...', 
'bei  dem  wichtigen  Nebenumstande,  daß  . . .';  que  in  este  si  que  se  puede  decir 
cabello  de  oro  wird  gedeutet  als  das  von  Tobler  V.  B.  I  57  behandelte  i^que- 
Sätze,  anknüpfend  an  adverbiale  Ausdrücke  der  Versichening,  Beschwöning, 
Vermutung,  Bejahung,  Verneinung,  an  Interjektionen');  dorthin  wird  auch 
span.-port.  como  que  gezogen,  während  das  que  nach  Zeitadverbien  (frz.  si 
longtemps  que  je  n'arais  eu  roccasio?i)  nicht  als  Konjunktion,  sondern  als 
Relativ  gefaßt,  also  von  heureusement  que  abgetrennt  wird;  so  liege  denn 
auch  in  kat.  prou  que  eher  relatives  als  konjunktionelles  qtie  vor.  Schließ- 
lich wird  die  von  Schuchardt  behauptete  baskische  Beeinflussung  von 
beamesisch  {you)  que  resti  abgelehnt,  das  allgemein  psychologisch  verständ- 
lich sei:  que,  ursprünglich  affektisch,  sei  dann  'intellektualisiert'  oder  'gram- 
matikalisiert'  worden. 

9.  Ital.  puxienza!  in  Fällen  wie  Deledda,  Nel  deserto  S.  152,  wo  Frau 
Lia  geäußert  hat,  sie  möchte  ans  Meer:  avrei  hisogno  anch'io  un  po'  d'aria 
di  mare.  —  Paxienxa:  dove  va,  signora  Lia''!'  "steht  in  der  Mitte  zwischen 

Archiv  f.  n.  Sprachen.     140.  \^ 


284  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

'na,  wir  werden  ja  sehen!'  und  'na,  reden  wir  nicht  davon I'";  ähnlich  im 
Franz.  (Rabelais)  und  Portug.  Ferner  steht  es  im  Sinne  von  '. ,.  das  ginge 
noch  an,  aber  ,..':  se  fosse  bella,  pazienxa,  ma  pare  una  bertuccia;  Si  on 
lui  laissait  quelque  chose,  patienee;  mais  on  lui  die  tont.  Es  ist  also  ein 
Trostraf,  der  ursprünglich  zur  Ausübung  einer  christlichen  Tugend  ermahnte, 
zu  einer  bloßen  Konjunktion  'verkalkt'  worden.  Bei  dieser  Gelegenheit 
werden  dann  andere  Ausdrücke  gleicher  Bedeutung  aufgeführt,  z.  B.  pcissi 
{passe  encore),  vada  per  (va  pour),  sta  bene  usw. 

10.  'Faeere  mit  dem  Infinitiv  zur  Umschreibung  des  Verbum  finitum', 
z.  B.  faites  moi  escouter  =  'escoiäex-moi'  ist  bereits  von  H.  F.  Muller,  Origine 
et  histoire  de  la  preposition  'ä'  dans  ...  'faire  faire  quelque  chose  ä  quel- 
qu'un'  (Poitiers  1912)  erklärt  worden:  =  'macht  (bewirkt),  daß  ich  gehört 
werde'  als  Anrede  an  hohe  Personen,  denen  man  es  nicht  zumuten  wollte, 
persönlich  zuzuhören,  sondern  die  man  bat,  gewissermaßen  ihrem  Ohr  (als 
ihrem  Diener)  den  Befehl  dazu  zu  erteilen  —  also  eine  Höflichkeitsformel, 
wie  vous  für  tu,  ausgebildet  zur  Karolingerzeit.  Spitzer  hat  dem  nichts 
Wesentliches  hinzuzufügen. 

11.  Die  schöne  Studie  'Über  syntaktische  Einordnung  des  Individuellen 
unter  die  Allgemeinheit'  (von  den  bisher  erwähnten  Aufsätzen  der  erste, 
der  nicht  schon  vorher  erschienen  war),  behandelt  typisierendes  07c,  wie  es 
z.  B.  in  der  Schilderung  eines  proletarischen  Umzuges  gebraucht  wird;  V'lä 
la  chose;  on  a  essaye  d'amasser  l'argent  du  loyer:  pour  g,a,  on  a  trime,  veille, 
jours  et  nuits  un  trimestre  entier  . . .;  ptg.  wird  angesichts  der  unbesonnenen 
Tat  eines  Jünglings  entschuldigend  gesagt:  Säo  rapaxes!  und  frz.  schließt 
der  Sprechende  sich  selbst  mit  ein,  wenn  er  etwa  zu  Kindern  sagt:  lYe  rions 
pas  tant,  s'il  vous  platt!  et  depechons-nous!  (Daudet,  eins  der  Beispiele  von 
Soltman,  SjTitax  der  Modi  S.  38).  Im  letzteren  Fall  liegt  nun  freilich  nicht 
eine  'Einordnung  des  Individuellen  unter  das  Allgemeine'  vor,  sondern  eine 
(begönnernde)  Einordnung  des  Sprechenden  unter  den  (oder  die)  Angeredeten, 
besser  gesagt  eine  Identifizierung,  ähnlich  wie  ich  die  sogenannte  uneigent- 
lich indirekte  Rede  {'Sie  hatte,  strafe  sie  Oott,  niemals  eine  schönere  Braut 
gesehen^)  als  eine  Identifizierung  des  Autors  mit  seinen  Geschöpfen  zu  er- 
klären mich  bemüht  habe  (Germ.-Rom.  Mon.  VI  470  ff.).  Und  wie  diese 
Identifizierung  auch  eine  ironische  sein  kann  (z.  B.  bei  Flaubert  in  Bouvard 
et  Pecuchet),  so  auch  die  hier  vorliegende:  bei  V.  Hugo,  Ruy  Blas  V  (ed. 
Nelson  156  f.)  sagt  Don  Salluste  zur  Königin:  ecoutex,  ne  faisons  pas  de 
bruit  ...  Ne  nous  emportons  pas.  Vous  etes  dans  ma  main.  —  PluralLs 
majestfttis  und  Autorenplural  bezeichnet  Sp.  als  ererbte  Spielarten  des  Plura>i 
inclusivus  oder  sociativus. 

12.  Wie  Sp.  schon  in  einer  Fußnote  zweiter  Ordnung  (S.  169  unten)  zu 
dem  vorhergehenden  Aufsatz  eine  'gemeineuropäische  oder  vielleicht  allgemein  - 
psychologische  Syntax'  im  Gegensatz  zu  der  bisherigen,  mehr  lokalhistorisc.'h 
verfahrenden  befürwortet,  wie  er  die  (von  ihm  doch  geteilte!)  kulturhistoriscihe 
Ableitung  von  Faites  7noi  escouter  im  vorvorigen  Aufsatz  dazu  benutzt,  uiii 
der  Voßierschen  Zumckführung  sprachlicher  Erscheinungen  auf  die  beson'- 
dere  Geistesart  von  Völkern  und  Epochen  in  einer  Fußnote  (S.  142)  einen 
Fußtritt  zu  versetzen,  so  wendet  er  sich  nun  in  diesem  (gleichfalls  früher  nicht\ 
erschienenen)  Aufsatz  sogar  gegen  Meyer -Lübke,  und  zwar  bezeichnender-  \ 
weise   gegen   eine    der  bei   diesem  Gelehrten   nicht  zahlreichen  kulturhisto-     } 
rischen  Erklärungen.     Das  Futurum  cantarc  habeo  hat  sich  in  den  'wichtig-      S 
fiten  Literärsprachen'  (Frankreich,  Spanien,   Portugal  und  Mittelitalien)   ver-       i 
breitet,  fehlt  dagegen  in  minder  kultivierten  Ländern  wie  dem  Rätoromanischen, 
Oberitalien,   Sardinien,  Rumänien  etc.     So  meint  denn  Meyer-Lübke,  es  sei 
von  Stätten  größerer  Bildung  ausgegangen  (Toskana,  Frankreich);  Voraus- 
setzung für  seine  formale  Erstarrung  sei  'gepflegte  Sprache,  literarische  Aus- 
breitung'. Sp.  ist  das  'Operieren  mit  derartigen  sprachlichen  Kulturwirkungen' 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  285 

zu  subjektiv;  nach  ihm  ist  das  cantarmo -Futaram  'nicht  interromanisches 
Wandergut,  sondern  eine  an  verschiedenen  Punkten  der  Westromania  aus 
einem  gemeinsamen  vlt.  Ansatz  entwickelte  autochthone  Bildung'.  Auch  hier 
will  Sp.  allgemein -psychologische  Gründe  an  Stelle  der  kulturhistorischen 
setzen :  das  rein  zeitliche  amabo  sei  unvolkstümlich  gewesen  und  durch  das 
'affektische  Surrogat'  amare  habeo  verdrängt  worden  (wie  das  rein  temporal  ge- 
wordene/'aimerai  im  Nfrz.  einernte  vais  aimer  weiche), , und  so  sei  der  Über- 
gang von  diesem  zu  jenem  aus  dem  'ewigen'  Zwiespalt  zwischen  ,  Logik 
und  Affekt  zu  erklären.  Zur  Stütze  dieser  Ansicht  verweist  er  auf  die 
'Ähnlichkeit  der  jeweils  auftretenden  Futursurrogate  in  den  idg.  (und  auch 
nicht-idg.)  Sprachen';  daß  nur  vier  Kategorien  auftreten  (Präsens,  Ingressiv, 
Desiderativ  und  Jussiv  statt  Futur)  sei  'in  der  relativen  Einheitlichkeit  der 
menschlichen  Logik  begründet'.  (Hier  gibt  es  nun  plötzlich  eine  'relative 
Einheitlichkeit  der  menschlichen  Logik'  —  während  nach  Spitzers  Ausfüh- 
rungen in  den  Neueren  Sprachen  XXVI  328  'eine  von  einem  jakutischen  oder 
mongolischen  Aristoteles  geschriebene  Logik  ganz  anders  aussehen  würde', 
sintemalen  es  'soviel  Logiken  als  Sprachen  gibt'  und  'das  Denken  sich  nach 
dem  Sprechen  modelt'  —  ein  Gedanke,  auf  den  nie  gekommen  zu  sein  Toblers 
unverzeihliche  Sünde  ausmacht.  Ein  besonders  scharfer  Logiker  ist  Sp.  nun 
eben  nicht!).  —  Gegen  die  Auffassung  von  cantare  habeo  als  eines  Jussiv 3 
habe  ich  seither  ('Futurum' S.  51  ff.)  Bedenken  geäußert:  für  mich  ist  cantare 
(ire)  habeo  herzuleiten  aus  itcr  habeo  'ich  habe  den  Weg  vor';  ist  dem  so,  so 
hätten  wir  bereits  eine  fünfte  Kategorie.  Und  ich  glaube,  je  mehr  Sprachen 
jemand  beherrscht,  desto  mehr 'Kategorien',  desto  weniger  Ähnlichkeit  wird 
er  finden. 

13.  Der  Aufsatz  mit  dem  etwas  mehr  versprechenden  Titel  'Über  den 
Imperativ  im  Romanischen'  behandelt  nur  zwei  besondere  Gebrauchsweisen 
dieses  Modus:  1.  den  'gerundialen  Imperativ'  und  2.  den  'historischen  Im- 
perativ'. 'Gerundialer'  Imperativ  scheint  mir  um  kein  Haar  verständlicher 
oder  berechtigter  als  'Imperativus  pro  Gerundio',  wie  sich  auszudrücken  Sp. 
den  'Logikern'  vorwirft  (N.  Spr.  XXVI  339) :  im  Gegenteil :  bei  'Imperativ 
pro  Gerundio'  hätte  ich  mir  etwas  denken  können  —  'gerundialer  Imperativ' 
war  mir  zunächst  unverständlich.  Gemeint  sind  Fälle  wie  gira  e  rigira, 
siamo  sempre  allo  sfesso  pufito:  der  Imperativ  enthält  einen  'ironischen,  weil 
undurchführbaren  oder  gar  nicht  als  durchführbar  gedachten  Befehl'.  Hierzu 
wird,  wie  immer,  vieles  angeführt,  nicht  aber  (vgl.  jedoch  S.  205  unten)  etwas 
so  Naheliegendes  wie  der  'konzessive'  Imperativ:  Setx  deinen  Fuß  auf  ellen- 
hohe Socken  —  du  bleibst  doch  immer  icer  du  bist  (auch  romanisch,  vgl.  meine 
'Modi'  S.  47).  —  'Historischer  Imperativ'  ist  gebildet  in  Anlehnung  an  den 
nicht  gerade  geistreichen  Schulausdruck  'Historischer  Infinitiv',  also  Verwen- 
dung des  Imperativs  zu  lebhafter  Erzählung  (z.  B.  bei  Maupassant:   et  puis 

je  griw-pe  sur  mon  imperiale,  j'ouvre  mon  ombrelle  et  fouette  cocher!).  —  Bei 
diesem  'historischen'  und  'gerundialen'  Imperativ  hat  Sp.  freilich  leichtes  Spiel, 
durch  Herbeiziehung  zahlreicher  Parallelen  (auch  aus  nicht-romanischen  Sprachen) 
den  'urtümlichen  und  allmenschlichen  Charakter'  dieser  Redeweisen  im  Sinne 
seiner  allgemein -psychologischen  Syntax  zu  erweisen:  eine  solche  Verwen- 
dung des  Imperativs  liegt  ebenso  nahe  wie  etwa  die  des  Präsens  zur  an- 
schaulichen Erzählung  von  Vergangenem  und  bedarf  im  Grunde  so  wenig 
der  umfänglichen  Belege,  wie  es  besonders  erforscht  zu  werden  braucht,  daß 
auch  die  Indianer  die  Gewohnheit  des  Essens  und  des  Hüttenbauens  auf- 
weisen. 

14.  'Persona  pro  re'  (und  res  pro  persona)  ist  schon  von  Kalepky  (Z. 
frz.  Spr.  19131,  S.  257  ff.)  ausführlich  behandelt  worden.  Sp.  bemerkt  ihm 
gegenüber,  derartige  abgekürzte  Ausdrücke  stammten  aus  den  verschiedenen 
Ständesprachen  (z.  B.  7ious  paraissons  des  Journalisten;  nous  =  unsere  Zei- 
tung), wie  auch   toilette  voyante  und   des  gants  paille;  diese  'Kompi'ession' 

19* 


286  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

und  'Kontraktion'  sei  nicht  Eigengut  des  Neufranz.,  sondern  komme  auch 
im  Deutschen,  Englischen,  Italienischen,  Rumänischen  und  vielleicht  schon 
altfranz.  vor;  statt  des  'die  Sprache  schulmeisternden  pro- Ausdrucks'  möchte 
er  lieber  sagen:  personelle  Anschauung.  —  Auch  das  Gegenteil  kommt 
vor:  in  Stefan  Großmanns  Roman  'Die  Partei'  (Berlin  1919,  S.  347)  sagt  ein 
Klavierlehrer:  '...  vielleicht  zahlt  die  Stunde  morgen  nicht'  (statt  'der 
Schüler',  der  ihm  offenbar  herzlich  gleichgültig  ist).  Wieder  anders  gelagert: 
in  einem  Berliner  'Couplet'  von  J.  Freund  heißt  es:  'Ich  hab'  geerbt  mit 
riesigem  Talent:  Drei  alte  Tanten  hab'  ich  aufgefressen'  (d.  h.  den  von  ihnen 
hinterlassenen  Besitz:  die  Tanten  interessieren  den  Sprechenden  offenbar  nur 
so  weit,  als  sie  Geld  besitzen  und  hinterlassen).  Zolas  Nana  identifiziert  sich 
beim  Rennen  mit  dem  Pferd,  das  ihren  Namen  trägt:  p.  383:  A  eornhien  suis- 
je?  —  Diable!  je  ne  raux  pas  eher  etc.  (vgl.  p.  405,  416).  Und  so  hätte  man 
eine  stilistische  Sonderang  der  von  Kalepky  (und  mir)  mitgeteilten  nebst 
den  von  Spitzer  selbst  gesammelten,  untereinander  nicht  gleichartigen  Fälle 
sowie  schließlich  eine  kulturhistorische  Einordnung  gewünscht.  Im  übrigen 
aber  kann  man  diesen  Aufsatz,  in  dem  man  durch  den  Satz  überrascht  wird : 
'sie  (die  Persona  pro  re-Konstruktion)  ist  —  wie  jede  Stilerscheiming  —  über- 
all, wo  sie  sich  findet,  aus  den  speziellen  geistigen  Strömungen  der  Zeit  zu 
erklären',  nur  zustimmen. 

15.  Span.,  kat.  y  'und'  hat  oft  eine  kräftigere  Bedeutung:  'und  auch', 
'und  zwar'  (=  lt.  afque);  so  auch  alt-  und  neufrz.  et  und  ähnlich  'wohl  in 
jeder  volkstümlichen  Literatur'.  Zu  ital.  bell'e  fatto  stellt  sich  kat.  bo  y  amanit 
'fertig  zubereitet';  neben  tot  -f  Gerandium  tritt  auch  tot  y  -\-  Gerundium 
('beeinflußt  von  oder  parallel  zu  bo  y'},  das  aber  auch  nach  ah  tot  y  +  Inf. 
statt  der  gleichen  Konstruktion  ohne  y  erklärt  werden  kann;  ab  tot  y  aix6 
'trotzdem'  läßt  sich  danach  oder  nach  Fällen  wie  ßns  y  a  tant,  fins  tant  y 
que  etc.  deuten,  und  so  werden  noch  mehrere  merkwürdige  Gebrauchsweisen 
dieses  y  beleuchtet.  Schließlich  wird  die  Tatsache,  daß  sich  zu  jedem  Ab- 
schnitt in  einem  Aufsatz  von  O.Weise:  "Die  Konjunktion  'und'  im  Ge- 
brauche der  Mundarten"  romanische  Parallelen  finden  lassen,  als  ein  schönes 
Beispiel  des  aus  gleichen  Vorbedingimgen  entstehenden  Sprachlich-Gleichen, 
der  syntaktischen  'Konvergenz'  (Marbe)  in  Anspruch  genomnien. 

16.  Die  gleiche  Tendenz  verfolgt  der  nächste  Aufsatz:  'Über  ''Rahmen- 
Btellung"  im  Romanischen':  romanische  Parallelen  zu  deutschen  Fällen  wie 
dat  is  tumm  Tuch  is  dat  ja  (Tuch  =  Zeug). 

17.  Auch  noctem  et  diem  (statt  diem  et  noctem)  findet  sich  überall;  es 
wird  auf  fünffache  Weise  erklärt.  Ein  weiteres  Beispiel  wäre:  Renart  le 
contrefait  (Bartsch-Wiese  86,  211)  onques  ne  le  soir  ne  le  main  ne  vi%  cellui 
...  —  Beispiele  für  Hysteron  proteron  siehe  Chevalier  au  barisei,  ed.  Schultz- 
Gora,  V.  308  und  310'. 

18.  Gewichtiger  ist  der  nächste  Aufsatz:  'Die  syntaktischen  Errungen- 
schaften der  französischen  Symbolisten'.  Hier  ist  kaum  etwas  anderes  zu 
beanstanden  als  die  Überschrift  (was  schon  Voßler  getan  hat):  es  handelt 
sich  weder  um  'Syntaktika'  noch  um  'Errungenschaften';  vielmehr  wird  (auf 
59  Seiten)  gezeigt,  wie  die  Symbolisten  altes,  erstarrtes  Sprachgut  wieder 
neu,  lebendig,  anschaulich  zu  machen  wissen,  wie  sie  den  Ausdruck  weniger 
deutlich,  unbestimmter,  verschwommener  gestalten,  wie  sie  ihn  verinnerlichen, 
wie  sie  ihn  wohllautend  machen,  wie  sie  ihn  überraschend  gestalten,  wie  sie 
ihn  verkürzen  und  so  der  Sprache  neue  Möglichkeiten  eröffnen.  Es  fehlt 
mir  der  Raum,  um  auf  die  vielen  feinen  Beobachtungen  dieses  schönen  Auf- 
satzes im  einzelnen  einzugehen;  ich  muß  mich  damit  begnügen,  ihn  ein- 
gehendem Studium  aufs  angelegentlichste  zu  empfehlen. 

19.  Weniger  einverstanden  erklären  kann  ich  mich  schließlich  mit  dem 
letzten  Aufsatz:  'Ein  Ersatzwort  für  Syntax',  als  welches  'Beziehungslehre' 
oder  genauer  'Begriffsbeziehungslehre'   vorgeschlagen    wird:    Begriffe   auf 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  287 

einander  zu  beziehen  ist  das  Gesclitäft  des  Logikers,  nicht  des  Sprechenden 
oder  des  Sprachforscliers,  und  'Beziehungslehre'  erscheint  mir  zu  eng.  Ich 
verstehe  unter  'Syntax'  viel  von  dem  mit,  was  man  gemeinhin  der  'Stilistik' 
zurechnet:  diese  beiden  Disziplinen  möchte  ich  in  der  Weise  scheiden,  daß 
ich  nur  das  als  'Stilistik'  gelten  lasse,  was  ausdrücklich  den  besonderen 
Sprachgebrauch  eines  besonderen  Einzelnen  behandelt,  als  'Syntax'  dagegen 
alle  Untersuchungen,  die  auf  die  Frage  eingestellt  sind,  inwieweit  die  ein- 
zelnen Wendungen,  die  ja  zweifellos  von  einem  (oder  von  wenigen)  Einzelnen 
aufgebracht  worden  sind,  bereits  allgemein,  t}T)isch,  'Regel'  geworden  sind, 
inwieweit  sie  sich  ihres  ursprünglich  stilistischen  Wertes  entäußert  haben, 
inwieweit  sie,  mit  anderen  Worten,  bereits  erstarrt  oder  'grammatikalisiert' 
sind.  Sp.  hat  es  ja  selber  ausgesprochen  (N.  Spr.  XXVI  334),  'daß  das 
ursprünglich  Stilistische  zum  Syntaktischen  wird':  daraus  folgt  nun  aber  m.  E. 
mit  Notwendigkeit,  daß  sich  eine  Syntax  ohne  'stilistische'  Erörterungen  gar 
nicht  schreiben  läßt,  und  daß  eine  bloße  'Beziehungslehre'  eine  gar  klägliche 
Syntax  darstellen  müßte.  Um  ein  praktisches  Beispiel  zu  geben:  bei  tm 
billet  payant  müßte  eine  bloße  'Beziehungslehre'  sich  mit  der  Feststellung 
begnügen,  daß  hier  das  Partizip  zum  Substantiv  ungewöhnlich  bezogen  ist 
(eine  Wissenschaft,  für  die  ich  mich  bedanken  würde!);  eine  Avirkliche  'Syntax' 
dagegen  würde  ausführen,  der  Ausdruck  entstamme  (wie  dies  Spitzer  S.  25 
gezeigt  hat)  der  Geschäftssprache,  die  zur  Personifikation  geneigt  ist  ('eine 
Karte,  welche  zahlt',  also  eigentlich  durchaus  korrekte  Beziehung!),  und  damit 
würde  sie  bereits  'Stilistik'  treiben.  So  habe  ich  auch  in  meiner  'Bedeutung 
der  Modi'  die  seelischen  Voraussetzungen  auszuspüren  versucht,  auf  die  sich 
z.  B.  der  Gebrauch  des  Konjunktivs  nach  quuique  gründet  (der  selbstverständ- 
lich für  keinen  Schriftsteller  als  Stilistikum  in  Anspruch  genommen  werden 
könnte!),  ohne  daß  ich  glaube,  mich  damit  aus  der  eigentlichen  Domäne  der 
Syntax  entfernt  zu  haben:  diese  besonderen  seelischen  Voraussetzungen  sind 
eben  vergessen,  der  Ausdruck  ist  'grammatikalisiert'  und  damit  der  Syntax 
anheimgefallen.  — 

Ich  darf  nicht  annehmen,  mit  diesen  summarischen  Ausführungen  den 
Reichtum  des  Bandes  auch  nur  entfernt  angedeutet  zu  haben.  —  Was  nun 
die  Leitgedanken  oder  Grundüberzeugungen  betrifft,  die  diesen  verschiedenen 
Aufsätzen  ihre  Einheitlichkeit  geben,  so  finde  ich  deren  zwei.  Einmal  die 
Überzeugung  von  der  syntaktischen  Konvergenz:  da  überall  die  gleichen 
psychologischen  Vorbedingungen  herrschten,  müsse  auch  überall  sprachlich 
Gleiches  entstehen.  Oder  um  es  kurz  (und  ein  wenig  zugespitzt)  zu  formu- 
lieren: Zu  welchem  Ende  studiert  Spitzer  romanische  Sprachen?  —  Um  in 
ihnen  das  gleiche  zu  finden,  was  sich  in  sämtlichen  ancleren  Sprachen  auch 
findet.  —  Der  andere  Leitgedanke  aber  ist  der,  daß  alles,  was  jetzt  Syntax 
ist,  einst  Stilistik  gewesen  sei,  daß  die  Syntaktika  erstarrte,  grammatikalisierte 
Stilistika  darstellen,  die  sich  jeweils  aus  besonderen  psychologischen  Vor- 
aussetzungen, aus  dem  'Milieu'  (Geschäftssprache!)  oder  dem  'Moment'  einer 
besonderen  Kulturepoche  erklären  lassen  und  von  da  aus  erklärt  werden 
müssen.  —  Diese  beiden  Gedanken  scheinen  mir  nun  einigermaßen  mitein- 
ander im  Widerspruch  zu  stehen;  und  dieser  Widerspruch  ist,  wenn  ich  nicht 
irre,  in  einer  Zwiespältigkeit  im  Wesen  des  Verfassers  begründet:  Spitzer  ist 
einerseits  ein  feinfühliger,  sich  einfühlender  Beobachter  des  konkreten  sprach- 
lichen Lebens,  anderseits  aber  noch  in  abstrakten  intellektualistischen  und 
gleichmacherischen  Theorien  aus  dem  achtzehnten  Jahrhundert  befangen: 
einerseits  sieht  er  wohl  die  Verschiedenartigkeit  (z.  B.  zwischen  Romanischem 
und  Germanischem),  anderseits  aber  will  er  sie  nicht  sehen  (sondern  versteift 
sich  mit  Marbe  auf  die  'Gleichförmigkeit  der  Welt').  Nun  bedeutet  aber,  daß 
überall  die  gleichen  psychologischen  Vorbedingungen  eintreten  und  dem- 
gemäß sprachlich  Gleiches  entstehen  kann,  noch  nicht:  daß  es  auch  überall 
entstehen  muß.    Nichts  liegt  z.  B.  näher,  als  das  Futurum  Imperativisch  zu 


288  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

vorwenden  {Du  tvirst  kommen.'),  und  für  eine  oberflächliche  Betrachtung  ist 
dies  auch  'überall'  geschehen.  Sieht  man  aber  näher  zu,  so  zeigt  sich,  daß 
es  nicht  überall  in  sämtlichen  Modifikationen  und  in  gleicher  Häufigkeit  ge- 
schehen ist:  im  Französischen  z.  B.  ist  dieses  Heischefuturum  weit  häufiger 
als  im  Deutschen;  das  Griechische  verwendet  'Du  wirst  es  tun'  nur  in  der 
Bedeutung  'Ich  werde  meinen  Willen  durchsetzen',  nicht  aber  z.  B.  als  Aus- 
druck einer  Bitte;  im  Deutschen  wäre  es  nicht  gut  möglich,  jemand  im 
Futurum  einen  Rat  zu  erteilen  (was  im  Französischen  vorkommt)  usw.  Wenn 
man  diese  Verschiedenheiten  nicht  einfach  als  'Zufälle'  ansehen  will,  so  wüßte 
ich  nicht,  wie  man  sie  anders  als  aus  besonderen  kulturhistorischen  Voraus- 
setzungen heraus  erklären  könnte.  Und  ich  halte  es  nicht  für  ausgeschlossen, 
daß  Sp.,  der  seinem  eigenen  Zeugnis  zufolge  (N.  Spr.  XXVI  334)  sich  vom 
'Nur-Historiker'  ('nach  Toblerart'  fügt  er  hinzu)  'zum  sozusagen  stilistischen 
Syntaktiker'  entwickelt  hat,  allmählich  noch  mehr  kulturhistorisch  denken  lerne. 
München.  Eugen  Lerch. 

Der  Trobador  Cadenet,  hg.  von  Carl  Appel.  Halle,  Niemeyer,  1920. 
123  S. 

Nach  dem  'Bernart  von  Ventadorn'  und  der  'Provenzalischen  Lautlehre' 
ist  der  hochverdiente  Gelehrte,  dem  die  provenzalischen  Studien  schon  so 
viele  Förderung  verdanken,  wieder  an  der  Arbeit  gewesen  und  hat  uns  eine 
Ausgabe  von  Cadenet  beschert,  die  eine  um  so  wertvollere  Bereicherung  der 
Einzelausgaben  von  Trobadors  darstellt,  als  der  genannte  Dichter  keine  ge- 
wöhnliche Phj^siognomie  aufweist,  vielmehr  eine  ganze  Reihe  gedanklicher 
und  stilistischer  Besonderheiten  darbietet,  die  scharf  aufgefaßt  sind  und  uns 
mit  aller  wünschenswerten  Deutlichkeit  vorgeführt  werden.  Für  die  Text- 
gestaltung mußten  allerdings  verschiedene  Pariser  Handschriften  naturgemäß 
ausscheiden,  und  daher  hat  der  Herausgeber  denn  auch  auf  eine  Varianten- 
angabe verzichtet,  aber  das  besagt  im  ganzen  nicht  viel;  auch  hat  die  Er- 
fahrung gelehrt,  daß  bei  schwierigen  Stellen  die  Schreiber  oft  schon  selbst 
nicht  verstanden  haben,  und  daß  die  Kenntnis  sämtlicher  Lesarten  nur  selten 
wirkliche  Klarheit  bringt.  Die  Stoffanordnung  ist  eine  andere,  als  wir  es 
sonst  gewohnt  sind,  indem  die  Gedichte  in  den  Rahmen  der  Biographie  ge- 
rückt erscheinen;  das  Bild  wird  so  gewiß  lebendiger,  nur  hätte  in  den  An- 
merkungen behufs  bequemerer  Auffindung  auf  die  Seitenzahlen  verwiesen 
werden  sollen.  Die  Gedichte  sind  von  einer  Prosaübersetzung  begleitet. 
Über  die  Zweckmäßigkeit  einer  solchen  kann  man  verschieden  denken.  Ich 
halte  sie  nur  bei  solchen  Gedichten  für  angebracht,  deren  Inhalt  für  den 
Historiker  wichtig  ist,  und  die  ihm  auf  diese  Weise  bequem  zugänglich  ge- 
macht werden ;  sonst  aber  hat  der  Herausgeber  ja  die  Anmerkungen  zur  Ver- 
fügung, um  dem  Fachmann  keinen  Zweifel  darüber  zu  lassen,  wie  er  im  einzelnen 
verstanden  wissen  will,  und  eine  Übersetzung  ist  dann  überflüssig,  ja  nicht 
selten  störend,  weil  sie  immer  Zugeständnisse  an  die  Lesbarkeit  macht  und 
dadurch  wieder  Unsicherheit  über  das  genaue  Verständnis  aufkommen  läßt. 

Cadenet,  aus  der  eigentlichen  Provence  stammend  und  mit  seiner  Blüte- 
zeit dem  Ende  des  12.  und  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  angehörig,  hat  uns 
23  Gedichte  hinterlassen,  die  sich  aus  17  Liebesliedern,  einer  Doppelcobla, 
drei  Sirventesen,  einer  Pastorela  und  einer  Alba  zusammensetzen ;  außerdem 
ist  er  an  einem  Partimen  beteiligt.  Besonders  interessant  ist  die  Alba,  die 
eine  Verbindung  der  Chanson  de  mal-mariee  mit  dem  Tagelied  aufweist,  und 
anziehend- das  vom  Herausgeber  S.  70  ff.  dazu  Vorgetragene.  Gr.  106,  9  wird 
ihm  mit  Recht  abgesprochen  und  mit  Stroiiski  dem  E.  de  Barjols  zugeteilt. 
Auch  Gr.  106, 1,  das  die  Hss.  Cf,  die  beiden  einzigen,  die  es  überliefern  und  imter 
dem  Namen  Cadenet  bringen  (Strohski  weist  es  aus  einem  besonderen  Grunde 
dem  G.  Faidit  zu),  dürfte  ihm  kaum  angehören,  und  A.  setzt  es  denn  auch  bei- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  289 

Seite;  freilieh  macht  erS.  92  zu  V.  31  das  Bedenken  geltend,  daß  hier  venal  wie 
noch  einmal  bei  Cadenet  in  dem  seltenen  Sinne  von  'bereit'  erscheint,  doch  weist 
er  ja  selbst  S.  106  die  gleiche  Bedeutung  des  Wortes  bei  B.  del  Pojet  nach. 
Daß  bei  der  Biographie,  der  Herstellung  und  der  Interpretation  der  Texte 
alles  wohl  erwogen  ist,  bedarf  keiner  besonderen  Erwähnung;  die  folgenden 
Bemerkungen  tragen  daher  mehrfach  auch  nur  den  Charakter  von  Fragen 
und  Vorschlägen,  Zu  dem  Anfang  der  Vida  'Cadenetx  si  fo  de  Proensa, 
d'un  castel  qiie  a  nom  Cadenet'  sagt  A.,  es  sei  ihm  dafür,  daß  einfach  ein 
Städtename  als  Personenname  gebraucht  worden  wäre,  ein  anderes  proven- 
zalisches  Beispiel  nicht  bekannt,  und  er  setzt  infolgedessen  leise  Zweifel  in 
die  Glaubwürdigkeit  der  Lebensnachricht.  In  der  Tat  ist  dieser  Fall  be- 
achtenswert. Immerhin  sei  daran  erinnert,  daß  Herr  Ademar  in  einem  Partimen 
Raimon  de  Miraval  einfach  mit  Miiaval  anredet  (Hs.  0  ed.  de  Lollis  no.  131, 
Hs  ai  ed.  Bertoni  no.  332),  vgl.  Andraud,  R.  de  Miraval  S.  14  u.  29.  Aller- 
dings haben  wir  hier  auch  den  Personennamen  danebenstehend,  es  kommen 
aber  noch,  wenn  ich  nicht  irre,  der  Trobador  Pujol,  Pojol  sowie  der  Joglar 
Cardaillac  in  Betracht;  der  erstere  Name  scheint  mir  nichts  anderes  zu  sein, 
als  eine  Ortsbezeichnung,  s.  heutiges  le  Poiijol  im  Arr.  Beziers,  und  der  zweite 
(Gr.  242,  27 :  Cardalhac,  per  un  sirventes  und  Gr.  119,  7 :  Pos  sai  es  rengutx, 
Cardaillac)  dürfte  von  dem  Orte  Cardaillac,  Arr.  Figeac  herrühren.  Zu  dem 
Kastell  Dosfraires  bei  Nizza  (S.  6)  hatte  ich  schon  in  Zs.  VII,  204  eine  Notiz 
beigebracht,  und  über  die  'Königin'  Eleonore  von  Aragon  (S.  18)  im  Ltrbl.  XXIV, 
116  etwas  eingehender  gesprochen.  —  S.  2  V.  10  ff.  E  s'ieu  fos  per  vos 
Jansenx,  De  qui-s  volgues,  fos  Paris!  0  agues  Domas  conquis!  Pols  qui's 
volgues,  fos  manenx!  Das  domnas  der  Hs.  kann  freilich  nicht  richtig  sein, 
und  die  Änderung  in  Domas  —  Damascus  ist  bestechend;  aber  sie  über- 
zeugt, wie  mir  scheint,  doch  nicht  ganz,  besonders  weil  die  4.  Zeile  sich 
schlecht  anschließt.  Ich  möchte  vorschlagen,  {s]'o  agues,  domna(s),  conquis 
zu  schreiben:  wenn  ich  das,  Dame,  errungen  hätte,  sc.  qu'iea  fos  per  vos 
jausefix  (V.  10),  dann  . . .'.  'Vers  17 — 8.  Warum  heißt  es  in  der  Übersetzung 
'einen  Kuß,  den  ich  von  Euch,  o  Herrin,  gewänne',  statt  einfach  'einen  Kuß, 
den  ich  Euch,  Herrin,  geben  könnte'?  V.  35 — 6.  Plus  tengra  vos  per  amia, 
E-n  sera  chansos  e  lais.  'Und  es  wird  deswegen  ein  Lied  und  ein  Lcich 
sein'  scheint  mir  nicht  im  Stile  der  Trobadors  zu  liegen;  ich  zweifle  kaum, 
daß  fera,  die  Nebenform  von  feira,  zu  schreiben  ist,  falls  sie  nicht  wirklich 
in  der  Hs.  steht.  —  S.  14  V.  4.  Et  eu  de  lo  pel  rescomt  de  Burlatx..  Ein 
neutraler  Akkusativ  lo,  den  BP  zu  bieten  scheinen,  verdiente  angemerkt  zu 
werden,  wenn  er  auch  S.  28  V.  34  wieder  so  begegnet  (steht  er  auch  im 
De?),  d.  h.  ohne  Verbindung  mit  einem  Dativ  des  Pronomens  der  3.  Person. 
S.  14,  V.  8.  Per  respicich  qiie  revcgna.  In  Anm.  wird  auf  3,  37  verwiesen, 
aber  dort  (S.  46,  V.  62)  steht  per  respieg  de.  S.  15  heißt  es  von  G.  Faidit 
im  Hinblick  auf  Gr.  167,  50,  daß  er  seinen  Entschluß,  am  Kreuzzug  teilzu- 
nehmen, i.  J.  1203  ausführte,  s.  aber  jetzt  Lewent  in  Zs.  40,  230.  —  S.  23 
V.  44  erscheint  gardat\  si  i  ai  ben  mon  voler  in  der  Übersetzung  als  'seht 
da,  ob  ich  so  recht  von  Herzen  will'.  Besser  ist  doch  wohl:  'seht  zu,  ob 
ich  nicht  mein  Wollen  fest  auf  Euch  gerichtet  halte";  für  si  'ob  nicht'  nach 
gardatz  und  reiatx  s.  meine  Prov.  Studien  I,  S.  21  zu  148  und  S.  68  zu  35,  9. 
—  S.  25,  V.  3  schreibe  dupf  statt  diipt.  V.  17  dürfte  agiies  eher  'möchte 
ich  erhalten'  als  'sollte  ich  e.'  heißen.  —  S.  27,  V.  12  Komma  nach  qtte. 
V.  21  ist  mit  dem  handschriftlich  Überlieferten  in  der  Tat  nichts  zu  machen. 
A.  schreibt  omn'  i  a,  aber  begegnet  die  Form  omne  sonst  bei  Trobadors? 
V.  37.  Streiche  den  in  der  Anm.  gegebenen  Verweis  auf  13,  8,  da  hier  per 
respieg  qiie  steht;  über  per  respieg  de  'in  der  Hoffniing  auf'  s.  auch  Provenz. 
Studien  I,  S.  76  zu  65,  1.  V.  52  brauchte  die  ziemlich  häufige  Nebenform 
es  zu  etx  im  Texte  nicht  durch  ttx,  ersetzt  zu  werden.  V.  54  ff.  ist  eine  üble 
Stelle.  Die  Aiiffasaung  des  Herausgebers  ist  geistvoll,  aber  ob  sie  das  Richtige 


290  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

darstellt,  erscheint  mir  doch  zweifelhaft.  Die  Erörterung  darüber  würde  hier 
zu  weit  führen,  und  ich  will  nur  bemerken,  daß  s'en  venir  in  V.  57  =  'fort- 
gehen' doch  bedenklich  ist,  sowie  daß  dieser  Vers  siph  an  das  Voraufgehende 
m.  E.  nicht  anschließt.  —  S.  30,  V.  20.  Et  enaissi  })ot  la  clamor  delir.  Anm.: 
'delir  kann  trans.  und  intrans.  sein'.  In  der  Übersetzung  bat  sich  A.  für 
letzteres  entschieden,  da  er  sagt:  'so  kann  die  Klage  wohl  zunichte  werden', 
aber  dann  müßte  es  ciamors  heißen.  —  S.  32,  V.  1  ff.  Warum  ist  die  Ortho- 
graphie von  ai  bei  diesem  Gedicht  nicht  durchgängig  beibehalten  worden? 
V.  3 — 4.  Entro  qe'l  retix,  socor  de  fresc  auratge  E  la  condui  a  port  de  sal- 
vamen.  Das  in  der  Anm.  Gesagte  'das  bei  socor  zu  erwartende  Pronomen 
steht  erst  bei  dem  mit  e  dazugefügten  condui'  wird  wohl  das  Richtige  treffen, 
nur  scheint  mir  bemerkenswert,  daß  in  den  sonst  bekannten  Beispielen,  so- 
weit ich  sehe,  das  Pronomen  immer  beim  ersten  Verb  steht.  V.  6  tilge 
Komma  nach  respeig.  V.  20.  Die  im  Konjunktiv  liegende  Sinnesschattierung 
ist  in  der  Übersetzung  nicht  zum  Ausdruck  gekommen.  V.  32.  E  qe  s'amors 
ab  la  mia  s'asenda.  In  Hs.  steht  s'amor,  wovon  in  der  Anm.  nichts  gesagt 
ist;  asendre  kann  daher  auch  transitiv  und  se  ethischer  Dativ  sein.  —  S.  34, 
V.  24.  Die  Übersetzung  steht  im  Widerspruch  mit  der  Anmerkung.  Das 
Folgende  ist  in  der  Übersetzung  als  Frage  genommen,  nicht  aber  im  Text. 
Hier  vermißt  man  wirklich  sehr  die  Lesarten  von  DU.  —  S.  3.5,  V.  43—4  ist  im 
Text  durch  Punkte  bezeichnet.  Zu  dem,  was  ABU  bieten,  Qe  de  lieis  dort  sui 
parlitx  Es  [El])  qur  merccs  noi  dessenda,  heißt  es  in  der  Anm.:  'darf  man 
lesen  (A.  meint  'interpungieren') :  Que  de  lieis  don  sui,  partitx  Es  qtie,  denn 
von  ihr,  der  ich  ^angehöre,  ist  Entscheid,  ist  es  ausgemacht,  daß'  ?  So  lautet 
denn  auch  die  Übersetzung,  aber  ohne  Fragezeichen.  Ich  möchte  fragen, 
ob  nicht  vielmehr  zu  verstehen  sei:  'denn  mit  Bezug  auf  sie,  von  der  ich 
geschieden  bin,  d.  h.  die  mich  von  sich  scheidet,  liegt  die  Sache  so,  daß'. 
Wegen  esser  que  s.  S.  39,  V.  18.  Auch  wäre  der  Konjunktiv  nach  es  que 
vielleicht  weniger  auffällig  als  nach  einem  etwaigen  partitx  es  'es  ist  aus- 
gemacht'. V.  61 — 2.  De  ma  filha  la  eonüessa  puosc  dir  C/en  Älvergne  fai 
son  fin  pretx  graxir.  Daß  Cadenet  von  einer  Gräfin  ma  filha  sagt,  ist  natür- 
lich auf  den  ersten  Blick  überraschend,  und  A.  bemüht  sich  in  der  Anm. 
des  längeren  um  eine  Deutung.  Es  gibt  aber  noch  eine  andere  Trobador- 
stelle,  die  einiges  Licht  auf  die  unsrige  wirft.  P.  Vidal  sagt  von  dem  Grafen 
Heinrich  von  Malta:  E  mos  ears  filhs,  lo  coms  Enrics  A  destruitx  totx 
SOS  enemics  (ed.  Bartsch  29,  8—9).  Zu  der  bekannten  Selbstüberhebung  von 
P.  Vidal,  die  gerade  auch  in  diesem  Gedicht  (Str.  2)  sich  kundtut,  paßt  es 
nicht  schlecht,  daß  er  von  dem  Grafen  den  väterlich-intimen  Ausdruck  des 
Papstes  gebraucht,  tind  Cadenet  hat  ihn  vielleicht  nur  übernommen;  aber  es 
ist  auch  möglich,  daß  er  in  der  familiären  Umgangssprache  zwischen  Alteren 
und  Jüngeren,  oder  zwischen  Freunden  üblich  war,^  wie  dies  im  Deutschen 
geläufig  ist,  und  dann  würde  sich  die  Kühnheit  der  Dichter  nur  darairf  be- 
schränken, daß  sie  ihn  gegenüber  im  Range  so  viel  höher  stehenden  Per- 
sonen zur  Anwendung  bringen.  —  S.  37,  V.  48.  Die  3.  Sg.  Ind.  Präs.  acorre 
hätte  -wohl  eine  Bemerkung  verdient.  In  seiner  'Provenz.  Lautlehre'  §  54 
sagt  A.,  daß  rr  mundartlich  ein  e  hinter  sich  erzengt.  —  S.  39,  V.  17  wird 
faich  d'anior  mit  'liebevolle  Tat'  übersetzt;  es  scheint  mir  vielmehr  'mit  der 
Liebe  zusammenhängendes  Tun'  zu  bezeichnen.  V.  20  schreibe  serv'l,  s.  oben 
zu  S.  35,  V.  43 — 4.  V.  22.  E-ls  poigna  en  desfaire.  Ich  sehe  nicht,  daß  eine 
Hs.  eis  schreibt;  in  der  Anm.  findet  sich  keine  Äußerung  dazu.  V.  41 — 3. 
Que  tot  so  c'om  ten  meillor  Es  a  conquerre  pejor,  E  so  que  pauc  val,  viatx. 
In  der  Anm.  ist  von  pjejor  nicht  die  Rede,  sondern  nur  von  viatx,  von  dem 
es  heißt,  daß  es  adjektivisch  gebraucht  scheint.    Zu  letzterer  Annahme  kann 


^  Bei  Tappolet,  Roman.  Verwandtschaftsnamen,  und  bei  Pauli,  'Enfant' 
'gargon',  'fille'  dans  les  langues  romanes  wird  dieser  Punkt  nicht  berührt. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  291 

man  sich  schwer  entschließen,  und  ich  meine,  daß  ein  'wird  gewonnen'  aus 
dem  Vorhergehenden  zu  entnehmen  ist.  —  S.  42,  V.  1 — 3.  Ax.  ops  d'ima 
chanso  faire,  Sesplus,  ai  bona  vaxo?  Pero  si  die  ieu  que  uq.  Pero  'den- 
noch' ist  in  der  Übersetzung  fortgeblieben;  da  es  aber  doch  dasteht,  so  ist 
ein  Zwischengedanke,  etwa  'ich  weiß  nicht  recht'  anzunehmen,  V.  27  streiche 
Komma  nach  volria.  Warum  ist  V.  29  d'una  guixa  mit  'in  solcher  Art'  über- 
setzt? V.  35 — 7.  Ieu  no7i  cugeraja  vezer  L'ora  quepogucs  tan  roler  Com:  deleis 
feira  un  sol  bais!  wird  teils  recht  frei,  teils  kaum  zutreffend  wiedergegeben 
mit  'nicht  dacht'  ich  jemals  auch  nur  zu  begehren,  sie  gäbe  mir  einen  ein- 
zigen Kuß'.  Das  Subjekt  von  pogues  ist  m.  E.  die  Dame,  also:  nicht  würde 
ich  glauben,  es  je  zu  erleben,  daß  sie  so  viel  wollen  könnte,  d.  h.  mit  so 
viel  einverstanden  sein  könnte  wie  ein  Kuß  ist,  den  ich  ihr  geben  könnte'. 
—  S.  53,  V.  37.  Für  ja,  das  in  der  Anm.  zutreffend  mit  'ja  doch'  erklärt 
wird,  war  ein  Hinweis  auf  den  gleichen  Gebrauch  im  Altfranzösischen  am 
Platze;  hier  tritt  es  schon  Alexius  91c  (jat  portai  en  mon  venire)  so  auf. 
V.  45 — 6.  Tals  cum  ierus  oraria  Es,  cid  platz,  rostr'cnans  wird  übersetzt 
mit  'so  wie  ich's  für  Euch  bitten  würde,  ist  mir  (dem  es  gefällt)  was  Ihr 
gewinnt'.  Ich  bekenne,  dies  nicht  recht  zu  verstehen  und  fasse  die  Stelle 
anders  auf:  'so  wie  ich  Euch  (Akk.)  nur  wünschen  könnte,  seid  Ihr,  der 
Eure  Förderung  gefällt',  d.  h.  der  es  gefällt,  sich  zu  fördern  (s.  V.  42),  Wegen 
es  =  ctx  s.  oben  zu  S.  27,  V.  52.  Orar  mit  Akkusativ  der  gewünschten 
Person  ist  gewiß  nicht  gewöhnlich,  aber  erscheint  doch  an  einer  Stelle  bei 
F.  de  Romans,  die  Levy,  S.-W.  V,  507  no.  4  anführt,  wenn  auch  mit  etwas 
anderem  Sinn,  nämlich  'erflehen',  'erbitten':  ex  eu  vos  or  entre  mos  brax. 
Ist  meine  Deutung  richtig,  dann  wäre  hinter  enans  ein  Kolon  zu  setzen  und 
hinter  ge)7t -aconhdans  (V.  48)  ein  Semikolon.  —  S.  54,  V.  9.  Dieser  Vers 
ist  in  der  Übersetzung  ganz  fortgeblieben,  was  deshalb  etwas  störend  ist, 
weil  der  Bedingungssatz  syntaktisch  zum  Folgenden  gehört  und  eine  An- 
merkung darüber  fehlt.  V.  30  wird  ses  faillida  besser  in  Kommata  gesetzt: 
'ohne  daß  er  einen  Fehl  begangen  hat'.  V.  50 — 3.  Et  ieu  sui  leials  amaire, 
Mais  ioios  et  amoros  Com  qu'estiers  no'm,  vei  guerida  Ses  vos.  In  V.  53 
gehen  die  Hss.  auseinander  und  die  Anm.  fragt:  'non  ai'  oder  ^no'm  vei' 
oder  ^no-s  ve"?  In  der  Übersetzung  hat  sich  A,  für  das  letzte  entschieden, 
und  daher  sollte  auch  im  Text  nos  re  stehen.  Die  Stelle  ist  aber  auch  so 
noch  bedenkenerregend;  zitm  wenigsten  erwartet  man  eine  Bemerkung  dar- 
über, daß  que  in  qu'estiers  =  is  qui  sein  soll.  Auch  ein  mais  'aber'  paßt 
sehr  schlecht  in  den  Zusammenhang,  und  fast  möchte  man  fragen,  ob  nicht 
7nais  hier  einmal  steigernd  beim  Adjektiv  verwendet  sein  kann;  dann  wäre 
r'om  zu  schreiben,  dahinter  ein  Komma  zu  setzen  und  das  folgende  que  als 
'denn'  zu  nehmen.  —  S.  57,  V.  34,  War  es  nötig,  für  ac  der  Hss,  IS  atc  zu 
schreiben?  M.  W.  ist  ac  für  die  1.  Sg.  auch  sonst  gesichert.^  V,  39,  El 
ben  c'om  li  dixia  wird  übersetzt  mit  'was  man  Gutes  zu  ihr  sprach';  besser 
wäre:  'das  Freundliche,  das  man  ihr  sagte'.  Li  ist  gewiß  das  Ursprüng- 
liche (s.  Anm.);  ebenso  dire  ben  ad  alcu  bei  A.  de  Sestaron  (Bertoni,  Kime 
prov.  ined.  XI,  2),  vgl.  Prov.  Stud.  I,  S.  78  zu  70,  6  über  dire  mal  ad  a. 
V.  49  ff.  Der  Gedankengang  in  dieser  Strophe  ist  und  bleibt  auch  ohne  das 
sonderbare  de  faitx  carestia  recht  dunkel.  V.  59.  Streiche  Komma  nach 
dolcnta,  s.  die  Übersetzung,  die  für  das  Folgende  zu  frei  ist.  V.  66.  Zu  cui 
für  qui  war  eine  Anmerkung  erwünscht;  über  qtii  für  cui  habe  ich  Prov. 
Stud.  I,  S.  62  zu  14,  2  gesprochen.  —  S.  68,  V,  21  ff.  sagt  in  dem  Partimen 
Guionet  zu  seinem  Streitgenossen:    Cadcnet,  s'ieu  vos  dixia  Que  conocjut  vos 

^  Ich  habe  augenblicklich  allerdings  nur  zwei  Belege  aus  'Jaufre'  (Bartsch, 
Chr.  250,  18,  24)  und  das  ac  bei  der  Hand,  das  DIK  in  einem  Liede  des 
B.  V.  Ventadom  bieten,  s,  Ausg.  von  Appel  9,  11,  Mit  Unrecht  setzt  Grand- 
gent, Outline  §  184  ac  vor  aic  in  das  Paradigma. 


292  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

avetx,  Eu  sai  ben  qu'eu  failliria  Atressi  cum  vos  faületx.  In  der  Anm.  heißt 
es:  conoisscr  steht  objektlos  und  zugleich  in  intensiver  Bedeutung  'richtig 
erkennen',  und  die  Übersetzung  lautet:  'C,  wenn  ich  Euch  sagte,  daß  Ihr 
das  Rechte  kanntet,  weiß  ich  wohl,  ich  würde  in  gleicher  Weise  es  ver- 
fehlen, wie  Ihr  verfehlt.'  Daß  eonoisser  jene  Bedeutung  haben  kann,  ist  mir 
äußerst  zweifelhaft,  aber  auch  mit  einer  solchen  vermag  ich  dem  Ganzen 
keinen  befriedigenden  Sinn  abzugewinnen.  Alles  ist  in  Ordnung,  wenn  man 
eonoisser  die  faktitive  Bedeutung  gibt,  die  es  ja  auch  sonst  hat,  mithin  über- 
setzt: 'das,  was  Ihr  zu  erkennen  gegeben,  d.  h.  zum  Vorschein  gebracht  habt'. 
—  S.  75 — 6,  V.  34 — 5.  Qu  ab  las  meJhors  Ten  dan  vilnnia.  Übers.:  'denn 
bei  den  besseren  Frauen  schafft  Niedrigkeit  sich  Leid';  klarer  und  sinngemäßer 
ist  doch:  'bringt  häßliches  Benehmen  (das  man  ihnen  gegenüber  beobachtet) 
Schaden'.  —  S.  88,  V.  15  o,l  prim  erbaige.  Die  Annahme,  daß  erbatge  etwa 
das  Hinaustreiben  des  Viehes  auf  die  Weide  bezeichne,  scheint  mir  keines- 
wegs nötig  zu  sein;  es  genügt  die  Bedeutung  'Wiesengrün'.  V.  17 — 21.  Wie 
A.  das  Ganze  versteht,  wenn  er  alle  diese  Vei'se  in  Klammern  einschließt, 
ist  mir  wenig  ersichtlich.  Wäre  es  nicht  richtiger,  mit  V.  21  allein  so  zu 
verfahren  und  qiiar  in  V.  17  qu'ar  zu  schreiben,  wobei  denn  que  'so  daß' 
hieße?  —  S.  98  ist  versehentlich  nicht  bemerkt,  daß  das  Gedicht  S'ie-us  essai 
schon  von  Jeanroy  herausgegeben  war;  auch  fehlt  nicht  T,  sondern  d. 

Bei  der  Tenzone  Guionet-Cadenet  fragt  der  Herausgeber  S.  70,  wer  dieser 
Guionet  war.  Der  Identifizierung  desselben  mit  dem  Teilnehmer  an  drei 
anderen  Partimens  (Gr.  238,  2 — 3  und  191,  1)  darf  man  wohl  zustimmen. 
In  dem  letzten  Partimen  {En  Maenard  Ros)  erscheint  nun  für  Ouionet  (V.  9) 
auch  Giii  (V.  22  und  82),  und  dieses  führt  A.  zu  der  weiteren  Frage,  ob  in 
Guionet  nicht  der  bekannte  Gui  de  Cavaillon  zu  erblicken  sei.  Er  bejaht 
sie  auf  Grund  des  Umstandes,  daß  in  Hs.  G  Gr.  238,  2  und  191,  1  unmittel- 
bar auf  eine  Tenzone  folgen,  die  Esperdut  und  Ponz  (de  Monlaur)  zu  Ver- 
fassern hat  und  die  dort  dementsprechend  überschrieben  ist,  sowie  daß  er 
die  Identität  von  Esperdut  mit  Gui  de  Cavaillon  für  ausgemacht  ansieht.  Ich 
muß  bekennen,  daß  mir  letzteres  trotz  Rev.  d.  lang.  rom.  54,  72  nicht  so 
sicher  erscheint,  ohne  daß  ich  hier  den  Raum  habe,  darauf  näher  einzugehen, 
und  daß  mir  daher  auch  die  Gleichung  Guionet  =  Gui  de  Cavaillon  zu  kühn 
vorkommt.  Dagegen  wird  man  es  mit  A.  auf  Grund  der  Hss.  DEIK  wohl 
als  feststehend  halten  dürfen,  daß  Cabrit  =  Gui  de  Cavaillon  ist  (S.  111), 
wenn  auch  Chabaneau,  Biographies  S.  135  meint:  la  chose  n'est  point  süre. 
Doch  bleibt  A.  hier  noch  nicht  stehen.  Auch  für  die  Beteiligung  (beziehent- 
lich alleinige  Autorschaft)  an  Gr.  238,  4  (Guigenet),  sowie  an  Gr.  196, 1  und  2 
weiß  er  Gründe  ins  Feld  zu  führen.  Wer  sich  entschließt,  alle  jene  Identi- 
fikationen anzuerkennen,  muß  jedenfalls  so  viel  zugeben,  daß  dann  kein 
anderer  Trobador  uns  unter  so  proteusartigen  Gestalten  seines  Namens  ent- 
gegentritt als  Gui  de  Cavaillon. 

Es  seien  noch  ein  paar  Druckversehen  angemerkt:  S.  59,  Z.  1  1.  'da'  für 
'daß',  S.  88,  V.  14  1.  an  für  ans,  S.  89,  V.  35  1.  si  'n  für  srn,  S.  101,  Z.  13 
streiche  qtte,  S.  108  Mitte  stimmt  der  Verweis  auf  V.  16  nicht;  auf  Qirart 
S.  97,  Z.  14  und  S.  118,  Z.  3  (I.  Ouilhem)  macht  mich  der  Herausgeber  selber 
aufmerksam. 

Jena.  0.  Schultz-Gora. 

Alexandre  Eckhardt  (professeur  au  College  Eötvös),  Remy  Belleau. 
Sa  vie.  Sa  'Bergerie'.  Etude  historique  et  critique.  Budapest, 
Jos.  Nemeth,  ed.  1917.    239  S.   8o.    Kr.  10. 

Nach  Du  Bellay,  Ba'if  und  Ronsard  ist  jetzt  auch  Belleau  eine  eingehende 
Arbeit  gewidmet  worden.    Im  I.  Teil,  der  die  Geschichte  seines  Lebens  und 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  293 

damit  verflochten  die  seiner  Studien  und  Dichtungen  darstellt,  ist  es  Eck- 
hardt gelungen,  biographisch  Neues  beizubringen,  weniger  durch  Funde  als 
durch  bessere  Ausnutzung  bereits  bekannten  Materials.  So  erzählt  B.  selbst, 
daß  ihn  von  1550  an  Christophle  de  Choiseul,  ein  echter  Renaissanceprälat, 
prunkliebender  Genießer  und  Mäzen,  unterstützt  hat.  Aber  die  Angabe  war 
übersehen  worden,  da  sie  sich  nur  in  der  ersten  Ausgabe  des  von  B.  kom- 
mentierten Second  livrc  des  Amours  von  Ronsard  (1560)  findet;  denn  Ron- 
sard ersetzte  nachher,  wie  er  häufig  verfuhr,  den  Namen  Choiseul  durch 
einen  anderen,  so  daß  der  Anlaß  zur  Bemerkung  entfiel.  An  der  Hand  der 
Ode  ä  M'jr.  le  duc  de  Guise  wirft  E.  mehr  Licht  auf  B.s  Teilnahme  am  Feld- 
zug gegen  Neapel  und  macht  es  wahrscheinlich,  daß  B.  in  die  Kavallerie  des 
Marquis  d'Elbeuf  eingereiht  war,  der  ihm  später  die  Erziehung  seines  Sohnes 
am  Guisenhof  in  Joinville  anvertraute.  Auch  ein  paar  unedierte  Übersetzungs- 
versuche B.s  aus  Parmenides,  Ovid  und  Martial  hat  E.  zusammen  mit  solchen 
von  Ronsard,  Nicolas  Denisot  etc.  ausgegraben,  nach  denen  man  bislang, 
durch  falsche  Angaben  von  Binet  und  Colletet  irregeleitet,  fruchtlos  die 
Rhetorik  von  Ramus  durchstöberte,  statt  seine  französische  Dialektik,  in  der 
sie  stehen. 

Das  Schwergewicht  der  Studie  liegt  in  der  kritischen  Durchleuchtung 
von  B.s  Werk,  die  den  II.  und  III.  Teil  ausfüllt.  Die  Quellenuntersuchung 
bringt  manche  Ergänzungen  zu  dem,  was  wir  seit  Vianey,  Besser  u.  a.  wissen. 
B.  ist  wie  alle  Renaissancedichter  nie  auf  Selbständigkeit  in  modernem  Sinn 
versessen,  in  seinem  Schaffen  durchaus  von  fremden  Vorbildern  abhängig, 
außer  von  einheimischen  von  italienischen,  lateinischen  (alten  und  neuen)  und 
von  griechischen,  die  ihm  als  gelehrtem,  gerade  wegen  seiner  gründlichen 
Kenntnis  der  griechischen  Antike  hochgeschätztem  Humanisten  innig  vertraut 
waren.  Von  den  Franzosen  hat  auf  ihn  am  stärksten  Ronsard  abgefärbt, 
dessen  Einfluß  von  den  frühesten  Versuchen  B.s  bis  zu  den  Pierres  precieuses 
zu  spüren  ist.  So  ist  B.s  xVuakreon-Übersetzung  nicht  denkbar  ohne  die  vor- 
hergehenden Anakreon-Nachahmungen  Ronsards,  an  die  B.  sich  gelegentlich 
sogar 'in  den  Reimen  anlehnt  und  von  denen  er  manchmal  ganze  Verse  wört- 
lich herübernimmt.  Wie  E.  hervorhebt,  wird  die  Anlehnung  durchaus  nicht 
immer  bewußt  sein.  Die  Gedichte  des  bewunderten  Meisters  haften  B.  derart 
im  Ohr  und  im  Gedächtnis,  daß  er  nicht  mehr  von  ihnen  loskommen  kann. 
Die  Arbeit  am  Kommentar  zu  den  Sonetten  durchtränkt  ihn  natürlich  noch 
tiefer  mit  Ronsards  Geist  und  Wesen.  Sehr  einleuchtend  zeigt  E.,  wie  ihm 
unmittelbar  aus  dem  Kommentar  selbst  Gedichte  erwachsen,  aus  der  Um- 
schreibung mit  anderen  Ausdrilcken,  die  er  von  Ronsardschen  Gedichten  ge- 
geben hat.  Worin  sich  inmitten  der  vielen  Beeinflussungen,  die  er  erleidet, 
B.s  Eigenart  behauptet,  das  will  E.  mit  der  Formel  'peintre  de  nature'  ver- 
anschaulichen, die  er  über  den  III.  Teil  als  Titel  setzt.  Mir  scheint  das 
Schlagwort,  obwohl  es  von  Ronsard  stammt,  nicht  das  glücklichste.  Gewiß 
versteht  sich  B.  darauf,  die  Natur,  Landschaften,  die  Umgebung  von  Join- 
ville, das  Treiben  der  Winzer  zu  schildern,  lebendig,  wenn  auch  mit  den  un- 
vermeidlichen literarischen  Reminiszenzen.  Aber  E.  macht  selber  darauf 
aufmerksam,  daß  B.  seine  Beobachtungsgabe,  sein  deskriptives  Talent  lieber 
benutzt,  um  Architektur,  Skulptur,  Webereien,  Geschmeide  und  dergleichen 
wiederzugeben.  E.  heißt  ihn  mit  Recht  den  Parnassier  der  Plejade :  denn  B. 
gehört  mehr  als  seine  Freunde  künstlerisch  in  die  Gegend  der  dekorativen 
Parnaßdichtung.  Und  zwar  ist  von  den  beiden  Dichtem,  die  E.  zum  Ver- 
gleich nennt,  nicht  Heredia  der  ihm  verwandteste,  sondern  Gautier,  mit  dem 
er  verschiedene  Züge  gemeinsam  hat.  Wie  bei  diesem  ist  auch  bei  ihm  der 
Sinn  für  Monumentalität,  für  die  ruhige  Einfachheit  gerader  Linien  nur 
schwach  entwickelt,  um  so  größer  aber  die  Neigung  zum  Gebogenen,  Ge- 
wundenen, zu  Kurven,  Spiralen  und  Schnörkeln.  Und  (was  noch  wichtiger 
ist)  auch  B.  hat  ungewöhnlich  enge  Fühlung  mit  der  bildenden  Kunst,  den 


294  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

Kultus  des  von  Menschenhand  geformten  Gebildes,  das  ihn  (jedenfalls  ohne 
daß  er  sich  bewußt  und  absichtlich  wie  Gautier  auf  solche  Wirkungen  dres- 
sierte) mehr  reizt  als  die  Natur. 

E.s  Studie  bedeutet  eine  willkommene  Bereicherung  der  Plejadenforschung, 
gründlich  im  Literarhistorischen,  im  Analysieren  feinsinnig,  voll  von  Ver- 
ständnis und  Liebe.  Schade,  daß  der  Versbau  B.s  ganz  mit  Schweigen  über- 
gangen wird.  Ein  paar  Seiten  darüber  wären  zur  Abrundung  wünschenswert 
gewesen.  Zum  Schluß  nur  noch  eine  kleine  Bemerkung  zu  S.  212!  Daß  in 
dem  Cliant  pastoral  ein  Widerspruch  herrsche,  scheint  mir  gar  nicht  sicher. 
Die  Verse,  die  B.  Toinet  in  den  Mund  legt,  um  die  Schilderung  des  Bechers 
einzuleiten,  müssen  doch  nicht  so  aufgefaßt  werden,  als  wäre  der  Gewinner 
und  Spender  des  Bechers,  'eil  qui  me  l'a  baillee,'  und  der  Drechsler,  der  ihn 
verfertigt  hat,  der  'gentil  Bougar',  ein  und  dieselbe  Person.  Freilich  bleibt 
auch  dann  die  Frage  offen,  warum  B.  von  1572  an  den  Namen  Bougar  am 
Ende  ausmerzte. 

Freiburg  i.  Br.  H.  Heiss. 

K.  Vossler,   La  Fontaine   und   sein   Fabel  werk.     Heidelberg,   Carl 
Winter,  1919.     190  S.     M.  6,50,  geb.  M.  9,10. 

Die  aus  Vorlesungen  an  der  Münchener  Volkshochschule  hervorgegangene 
Schrift  ist  durch  einige  Züge  auch  für  den  Fachmann  nicht  uninteressant. 
Die  vier  ersten  Abschnitte  (Leben  und  Dichtung  in  Frankreich  unter  Lud- 
wig XIV.  —  La  Fontaines  Bildungsgang  —  La  Fontaine  als  Satiriker  und 
Humorist  —  Fabel-  und  Tierdichtung  vor  und  nach  La  Fontaine)  nehmen 
ziemlich  viel  Raum  ein,  und  das  über  die  Fabeln  selbst  Vorgetragene  ist 
einigermaßen  knapp  bemessen,  besonders  da  die  Betrachtung  über  die  Fabel 
vom  Raben  und  vom  Fuchs  schon  anderweitig  gedruckt  vorlag,  doch  wird 
man  etwas  durch  die  Anhänge  2  und  3  entschädigt,  in  denen  die  Fabel  von  der 
Kutsche  und  der  Mücke  sowie  die  Wolfsfabeln  besonders  behandelt  werden. 

In  nicht  wenigen  Punkten  muß  man  Ausstellungen  machen  oder  den 
Ausführungen  des  Verfassers  widersprechen;  nur  einige  seien  berührt.  Der 
Wortreichtum,  über  den  bekanntlich  V.  verfügt,  wirkt  nicht  immer  erfreu- 
lich auf  den  Leser;  man  sucht  zuweilen  vergeblich  nach  der  zugrunde  liegen- 
den Anschauung,  erhält  keine  klare  Vorstellung  und  vermißt  erläuternde 
Beispiele,  so  S.  48 — 50,  85,  118—9.  Auch  an  Schlagworten  fehlt  es  nicht 
und  nicht  an  Wendungen,  die  mehr  verblüffen,  als  daß  sie  wirklich  unter- 
richten, so  wenn  La  Fontaine  S.53  als  , verträumter  Edelanarchist'  bezeichnet 
wird,  oder  es  S.  61 — 2  heißt:  'die  Einheit  von  Scherz  und  Ernst,  von  Rüh- 
rung und  Ironie  aber  heißt  man  Humor'.  Es  geht  schlechterdings  nicht  an, 
L.  als  einen  trägen  Hans  den  Träumer  hinzustellen,  'eingesponnen  in  eine 
Art  träumerischen  Genusses  der  sinnlichen  Welt'  (S.  23).  Er  besaß  die  Gabe 
des  Genies,  die  Außenwelt  objektiv,  tief  und  deutlich  in  sich  aufzunehmen; 
außerdem  hatte  er  mehr  Phantasie  als  irgendein  Dichter  des  17.  Jahrhunderts. 
Daß  er  es  aber  wie  jeder  echte  Künstler  nicht  an  der  Anstrengung  bewußten 
Kunstschaffens  hat  fehlen  lassen,  um  die  vollendete  Form  zu  finden,  ist  offen- 
bar und  wäre  es  auch,  wenn  wir  nicht  die  Niederschrift  der  ersten  Fassung 
einer  Fabel  hätten,  die  ein  von  der  endgültigen  Gestalt  ganz  abweichendes 
Aussehen  zeigt.  Die  sehr  subjektive,  in  apodiktischer  Gestalt  auftretende 
Art  V.'s  macht  sich  mehrfach  unangenehm  bemerkbar.  Taines  Buch  'La 
Fontaine  et  ses  fables'  obeiflächlich  zu  nennen  (S.  145),  ist  zum  mindesten 
hart;  das  bei  Taine  überschriebene  Kapitel  'Les  betes'  ist  z.B.  alles  andere 
als  oberflächlich.  S.  139  heißt  es:  'Was  den  Menschen  zum  Dichter  macht, 
ist  nicht  der  Besitz  einer  religiösen  Gewißheit,  sondern  die  Sehnsucht  da- 
nach'. Goethe  sagt  bekanntlich  im  Götz :  'So  fühl'  ich  denn  . . .  was  den 
Dichter  macht,  ein  volles,  ganz  von  einer  Empfindung  volles  Herz.'     Wenn 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  295 

S.  111  gesagt  wird:  'Dieser  Kritiker  hatte  keine  Ohren,  sonst  mußte  er  hören, 
wie  der  Dichter  durch  Metrum,  Rhythmus  und  Eeim  seine  Moral  erläutert 
und  uns  ungeduldig  gemacht  hat  gegen  dieses  ruhelose,  wetterwendische, 
komische  Völkchen'  (sc.  der  Frösche),  so  muß  man  ein  großes  Fragezeichen 
dazusetzen,  und  ein  nicht  kleineres  zu  dem  Satz  von  de  Souza,  den  V.  sich 
zu  eigen  macht  (S.  110,  Anm.  1) :  La  Fontaine  cJierclic  l'existenee  naturelle 
de  l'idee  dans  le  rythme  menie.  Was  auf  S.  86  oben  steht,  nähert  sich  stark 
dem  Gesuchten  und  Geistreichelnden,  und  diesen  Zug  findet  man  besonders 
in  der  stilistisch-ästhetisierenden  Analyse  der  ersten  Fabel.  Da  soll  uns  'der 
Standpunkt  des  Raben  noch  höher  erscheinen'  durch  sur  un  arhre  perche. 
statt  perche  sur  zm  arhre;  etre  perche  soll  ein  ,stolzes  und  protziges  Thronen' 
bezeichnen,  was  gar  nicht  der  Fall  ist,  und  dann  heißt  es:  'Diese  wenigen 
Züge  lassen  schon  die  aufgeblasene  Gemütsart  des  Raben  erraten.'  Weiterhin 
wird  Folgendes  hineingedeutet:  'Durch  die  Hochtüne  bec  laisse  entsteht  ein 
Hiatus  im  Rhythmus,  der  den  Käse  zu  verschlingen  scheint',  und  noch  weiter: 
'Indem  der  Rabe  im  Satzbau  als  der  Urheber  beider  Vorgänge  erscheint, 
entsteht  ein  komischer  Widerspruch  zwischen  der  gedachten  Absicht  des 
Singens  und  der  tatsächlichen  Folge  des  Käse  Verlustes.'  Wenn  denn  über- 
haupt von  einem  komischen  Widerspruch  die  Rede  sein  kann,  so  würde  er 
ebenso  entstehen,  wenn  das  Subjekt  wechselte.  Auffallenderweise  ist  von 
denköstlichen  il  ne  se  sent  pas  (dejoie)  und  mais  un  peu  tard  gar  nicht  die 
Rede;  letztere  Wendung  gestattet  es  übrigens  nicht,  von  einem  'gutmütig 
humorvollen  Verweilen  bei  der  Moral'  (S.  75)  zu  sprechen. 

Noch  ein  paar  Einzelheiten.  Tu  ne  tarderas  guere  in  'La  mort  et  le 
bücheron'  wird  gewiß  richtig  mit  'das  kann  dir  kaum  Verzögerung  bringen' 
erklärt  (S.  124),  aber  nicht  richtig  ist  es,  daß  'die  Erklärer  sich  über  den 
Ausdruck  auszuschweigen  pflegen,'  denn  schon  Gerusez  hat  ihn  zutreffend 
gedeutet  und  nach  ihm  Reguier  I,  108,  der  noch  auf  Littre  tarder  no  6  hätte 
verweisen  können.  In  Erstaunen  setzt  die  Behauptung  (S.  125),  daß  devise 
'ebenso  wie  der  Wahlspnich,  zu  dem  man  sich  bekennt,  die  Losung  und  das 
Los,  dem  man  unterliegt,'  bedeutet;  abgesehen  davon,  daß  Losung  doch 
synonym  mit  Wahlspruch  ist,  hat  derise  niemals  das  Los  bedeutet,  dem  man 
unterliegt.  Die  S.  137  angeführten  Verse  passen  nicht  zu  dem  vorher  gesagten 
'dem  Tauber  ergeht  es  bei  Kleist  mit  jedem  Tage  besser'.  Es  brauchte  nicht, 
wie  S.  157  bemerkt  wird,  mit  dem  Konjunktiv  eile  sepiaint  quelle  suit  seule 
ä  agir  zu  heißen,  sondern  ebenso  gut  qu'elle  agisse  seule;  natürlich  beklagt 
sie  sich  nicht  über  das  Handeln,  sondern  über  das  'Alleinsein'  dabei,  aber, 
ob  Indikativ  oder  Konjunktiv,  seule  hat  eben  den  Akzent.  Was  soll  es  be- 
deuten, Avenn  zu  dont  j'aurai  passe  nion  envie  S.  170  hinzugesetzt  wird: 
'd.h.  fait  ixisser  man  envie"i  Besser  wäre  ein  Verweis  auf  lAtiYQ  passer 
n»  59  gewesen. 

Jena.  0.  Schultz -Gora. 

Dr.  Fritz  Neubert,  Die  literarische  Kritik  Guy  de  Maupassants.  — 
Derselbe,  Die  kritischen  Essays  Guy  de  Maupassants  (mit  Aus- 
schluß der  literarischen  Kritik).  Supplementheft  VIII  und  IX 
der  Zeitschi'ift  für  französische  Sprache  und  Literatur.  Chem- 
nitz und  Leipzig,  Wilhelm  Gronau,  1914  und  1919. 

In  dem  ersten  Heft  gibt  N.  eine  Übersicht  über  die  literarischen  Themen, 
die  Maupassant  behandelt  hat,  im  zweiten  über  die  kritischen  Essays  Mau- 
passants überhaupt,  die  er  in  folgende  Rul>riken  einordnet:  Allgemeines, 
Von  der  Schlechtigkeit  des  Menschengeschlechts,  Maupassants  Mitleid,  Von 
der  Nichtigkeit  und  den  Leiden  des  Lebens,  Maupassants  Lebenskunst,  Die 
Kunstkritiken.     Es   handelt   sich   also   fast   ausschließlich  um  den  Journa- 


296  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 

listen  Maupassant.  Dieser  war  bis  1908  völlig  unbekannt.  Da  erschienen 
die  Artikel  von  Paul  Mahn  im  'Literarisclien  Echo',  S.  77  ff.  und  149  ff.,  die 
sich  fast  unverändert  in  seinem  Buch  'Guy  de  Maupassant',  Berlin  1908, 
wiederfinden.  Mahn  hat  auf  der  Nafcionalbibliothek  das  Material  für  Mau- 
passants  Journalistentätigkeit  gesammelt  und  uns  eine  hinreichende  Über- 
sicht und  Charakterisierung  gegeben.  Immerhin  wollte  Mahn  nur  orientieren, 
es  wäre  also  Platz  für  eine  größere  Arbeit  über  den  Journalisten  Maupassant 
geblieben.  So  hat  N.  seine  Aufgabe  nicht  aufgefaßt,  auch  er  gibt  nur  eine 
Auswahl  und  will  uns  auf  Grund  der  journalistischen  Arbeit  ein  Bild  von 
Maupassants  Weltanschauung  geben.  Im  einzelnen  bringt  er  nicht  viel  mehr 
als  Mahn :  auch  er  kennt  den  (oder  die)  Artikel  über  die  französische  Poesie 
des  16.  Jahrhunderts  nicht,  der  1877  in  der  'Nation'  erschien.  Flaubert 
schreibt  Corr.  IV,  253  f. :  Je  trouve.  tres  bicn  rotre  article  sur  la  poesie  fran- 
Caise.  Cependant  j'aurais  voulu  un  peu  plus  d'eloge  de  Ronsard.  Je  vous 
dirai  en  quoi  je  trouvs  que  vous  ne  lui  rendex  pas  wie  justice  süffisante. 
Mais  cneore  une  fois  je  suis  tres  content  de  vous.  Über  die  Beziehungen  zur 
'Nation'  und  weitere  kritische  Pläne  Maupassants  hätte  N.  noch  manches 
Interessante  in  der  Correspondance  Maupassants,  Boule  de  Suif,  Ed.  Conard, 
S.  XCVII  ff.  finden  können.  Überhaupt  hätte  N.,  da  er  doch  einmal  das 
schwer  zugängliche  Zeitungsmaterial  durchgearbeitet  hat,  uns  einen  großen 
Dienst  erweisen  können,  wenn  er  uns  Tatsächliches  gegeben  hätte  statt 
dieser  Rekonstruktion  von  Maupassants  Weltanschauung:  In  welchen  Zeit- 
schriften und  Zeitungen  hat  Maupassant  geschrieben?  Wieviel  und  was  unter 
den  Decknamen  Guy  de  Valmont,  Joseph  Prunier,  Maufrigneuse,  Chaudrons 
du  diable,  oder  noch  unter  anderen?  Zu  welchen  Zeitungen  oder  Zeitschriften 
stand  er  in  einem  festen  Verhältnis  als  Chroniqueur  oder  Rezensent?  Reist 
er  1881  nach  Algier  etwa  im  Auftrage  einer  Zeitung,  und  welcher?  Es 
fehlt  noch  so  viel  Positives  in  unserer  Kenntnis  von  Maupassant  dem  Journa- 
listen; aber  auf  diese  Arbeit  hat  N.  verzichtet,  um  uns  die  Weltanschauung 
des  Journalisten  Maupassant  zu  geben.  Dabei  hat  er  einen  Fehler  gemacht: 
er  hat  Maupassant  zu  ernsthaft  genommen,  er  ist  auf  ihn  hereingefallen. 
Pol  Neveux,  der  Freund  Maupassants,  der  ihn  sicher  nicht  unterschätzt  hat, 
schreibt,  Boule  de  Suif,  S.  LXV  f. :  'il  est  denue  de  tout  esprit  critique  . . . 
M  plus  tard,  meme  faiblesse  ä  exposer  comme  ä  prouver,  dans  son  essai  sur 
l'erolution  du  vornan  dans  l' introduction  de  Pierre  et  Jean,  dans  ses  salons 
enfin  qu'il  ne  faut  pas  relire.' 

Es  ist  rührend  anzusehen,  wie  ernsthaft  N.  diese  Ergüsse  eines  Durch- 
schnittsjournalisten nimmt.  N.  bespricht  den  Einfluß  von  Flaubert  und 
Schopenhauer;  über  Flaubert  handle  ich  in  diesem  Heft  (s.  o).  Bei  seinem 
Vergleich  mit  Schopenhauer  wirkt  es  tragikomisch,  in  den  Anmerkungen  ge- 
treulich die  Stellen  aus  den  Werken  Schopenhauers  angeführt  zu  sehen,  die 
Maupassant  benutzt  haben  soll.  Dabei  hat  Maupassant  nur  eine  ganz  ober- 
flächliche Kenntnis  von  Schopenhauer  gehabt  und  sicher  seine  Werke  nie 
gelesen,  Er  kennt  ihn,  wie  heute  ein  Journalist  Nietzsche  kennt,  der  vom 
'Übermenschen'  gehört  hat  und  'Du  gehst  zu  Frauen?  Vergiß  die  Peitsche 
nicht'  zitiert.  So  halte  ich  N.s  Arbeit  für  einen  Versuch  am  ungeeigneten 
Objekt.  Er  nimmt  ernst,  was  bloß  Ergüsse  eines  Durchschnittsjournalisten 
sind,  der  gerne  und  viel  schreibt  und  Geld  verdienen  will.  Nützlich  gewesen 
wäre  eine  statistische  Arbeit  und  Festlegung  des  Raumes,  den  die  Journa- 
listik in  Maupassants  Lebensgeschichte  einnimmt,  so  wie  Mahn  begonnen 
hatte.  Aber  N.  suchte  und  fand  Ewigkeitswerte,  wo  es  sich  bloß  um  Ex- 
pektorationen handelt  —  qu'il  ne  faut  pas  relire. 

Jena.  Heinrich  Geizer, 


Verzeichnis 
der  eingelaufenen  Druckschriften. 


Allgemeines. 

Zeitschrift  für  österreichische  Volkskunde.  XXIV,  5/6.  Febr.  19  [A.  Hre- 
degh,  Religiöse   Primitiverscheinungen  im   oberen   Schwarzatal,   Bezirk  Wr. 

—  Neustadt,  Niederösterreich.  —  W.  Tschinkel,  Sagen  aus  der  Sprachinsel 
Gottschee.  —  H.  Ankert,  Menschenblut  als  Medizin.  —  Ein  Spottlied  auf 
Friedrich  II.  von  Preußen.  —  H.  Ankert,  Die  'goldene  Stunde'  im  Leipaer 
Bezirke.  —  E.  Neweklowsky,' Opankenerzeugung  in  der  Herzegowina.  — 
Ethnographische  Chronik  aus  Österreich.  —  Literatur  der  österreichischen 
Volkskunde.  —  Mitteilungen  aus  dem  Verein  und  dem  Museum  für  Völker- 
kunde]. 

Wiener  Zeitschrift  für  Volkskunde,  XXV  1/3,  AprU  1919  [V.  Geramb  und 
V.  Zack,  Das  Steyrer  Kripperl.  —  E.  "Weinkopf,  Volkstümliche  Pflanzen- 
benennung im  n.-ö.  Waldviertel.  —  L.  Führer,  Die  Bevölkerung  Montenegros. 

—  W.  Tschinkel,  Schimpf-  und  Spottnamen  im  Gottscheer  Volksmunde.  — 
E.  Neweklowsky,  Die  Montenegriner  als  Jäger  und  Fischer.  —  G.  Gugen- 
bauer.  Wandern  und  Skizzieren.  Volkskundliche  Literatur.  —  Mitteilungen 
aus  dem  Verein  und  dem  Museum  für  Volkskunde]. 

Zeitschrift  für  Geschichte  der  Erziehung  und  des  Unterrichts.  VII,  1,  1917 
[R.  Lehmann,  Adolf  Matthias.  —  A.  Bender,  Basedows  Verhältnis  zur  engl. 
Philosophie.  —  A.  Schwarz,  Das  Schulwesen  im  österr.  Verwaltungsgebiet 
Polens.  —  0.  Giemen,  Zur  Geschichte  der  preuß.  Prinzenerziehung.  —  A.  Kol- 
litsch,  Schulpredigten  aus  der  Zeit  Josephs  IL].  —  2.  [K.  Knoke,  Leben  und 
Schriften  des  hessischen  Humanisten  P.  Nigidius  (1501 — 83).  —  L.  Neubaur, 
Aus  Briefen  des  Pädagogen  Peter  Kawerau.]  —  3.  [R.  Stölzle,  Ein  Arzt  als 
Vorläufer  pietistischer  Pädagogik.  —   K.  Freye,  J.  M.  Lenzens  Knabenjahre. 

—  0.  Giemen,  Pestalozzi,  Wolke,  Tillich  und  Riga.  —  0.  Braun,  Schellings 
Ideen  zur  Kulturpädagogik].  —  4.  H.  Schönebaum,  Das  Sachsen- AI tenburger 
Elementarschulwesen  von  1672 — 1787.  —  H.  Schmidt,  Ein  Erziehungsvertrag 
aus  dem  Jahre  1763]. 

Fitzhugh,  Thomas,  The  Indoeuropean  superstress  and  the  evolution  of 
verse  (üniveraity  of  Virginia,  Bulletin  of  the  school  of  Latin.  No.  9).  Ander- 
son Brothers,  üniversity  of  Virginia,  CharlottesviUe,  Va.  U.  S.  A.  Price  2V2$. 
112  S. 

Berghoeffer,  Christian  Wilhelm,  Der  Sammelkatalog  wissenschaftlicher 
Bibliotheken  des  deutschen  Sprachgebiets  bei  der  Freiherrlich  Carl  von  Roth- 
schildschen  öffentlichen  Bibliothek.  Frankfurt  a.  M.,  Baer  &  Co.,  1919.  61  S. 

Hilka,  Alfons,  Die  Wanderung  der  Erzählung  von  der  Inclusa  aus  dem 
Volksbuch  der  Sieben  weisen  Meister.     Breslau,  Favorke,  1917.     44  S. 

Hilka,  Alfons,  Eine  bisher  unbekannte  lateinische  Übersetzung  der  grie- 
chischen Version  des  Kaiilabuches  (Sonderabdruck  aus  dem  95.  Jahresber.  der 
Schlesischen  Ges.  f.  vaterl.  Kultur).  Breslau,  Aderholz,  1917.  10  S.  [Lat., 
Hs.  XV.  Jh.,  in  Budapest]. 

Zum  Gedächtnis  Ernst  Windischs  (geb.  4.  9.  1844,  gest.  30.  10.  1918). 
I.  Nachruf  M.  Försters.  IL  Nachruf  E.  Hultzschs.  Mit  dem  Bildnis  E.  Win- 
dischs.    Leipzig,  Brockhaus,  1919.    8  S. 

Neuhaus  ,  Johannes,  Einführung  ins  Irische  (An  Gaedhealg  [=  engelsego]). 
(Sprachen  kleiner  Völker,  hg.  von  Th.  Jaensch  u.  Joh.  NeuhauB.)  Halle  a.  d.  S., 
M.  Niemeyer,  1918.     64  S. 


298  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

Reinhardt,  Karl,  Erläuterungen  zu  der  Ordnung  der  Prüfung  und  zu 
der  Ordnung  der  praktischen  Ausbildung  für  das  Lehramt  an  höheren  Schulen 
in  Preußen.     2.  erweit.  Aufl.     Berlin,  Weidmann,  1919.     145  S.    4  M. 

Neuere  Sprachen, 

Literaturblatt  für  germanische  und  romanische  Philologie.  XXXIX,  11,  12, 
Nov.,  Dez.  1918  [Behaghel:  Holmberg,  Zur  Geschichte  der  periphrastischen 
Verbindung  des  Verbum  substantivum  mit  dem  Participium  praesentis  im 
Kontinentalgerraanischen.  —  Götze:  Lichenheim,  Studien  zum  Heiligenleben 
Hermanns  von  Fritzlar.  —  Behaghel:  Fortunatus,  nach  dem  Augsburger  Druck 
herausgeg.  von  H.  Günther.  —  Behaghel:  Günther,  Zur  Herkunft  des  Volks- 
buches von  Fortunatus.  —  Reuschel:  Rosenmüller,  Das  Volkslied:  Es  waren 
zwei  Königskinder.  —  Streuber:  Lichtenstein,  Gottscheds  Ausgabe  vonBayles 
Dictionnaire.  —  Schroeder:  Sauer,  Grillparzers  Gespräche  und  die  Charakte- 
ristiken seiner  Persönlichkeit  durch  die  Zeitgenossen.  —  Sulger-Gebing: 
Saedler,  Hebbels  Moloch.  Ein  Kultur-  und  Religionsdrama.  —  Ackermann: 
Hübener,  Die  stilistische  Spannung  in  Miltons  'Paradise  Lost'.  —  Fischer: 
Bjurman,  Edgar  Allan  Poe.  —  Spitzer:  Richter,  Studien  über  das  neueste 
Französisch.  —  Meyer-Lübke:  Nyrop,  Histoire  etymologique  de  deux  mots 
frangais:  haricot,  parvis.  —  v.  Wartburg:  Gauchat  et  Jeanjaquet,  Grammaire 
et  lexicographie  des  patois  de  la  Suisse  romande.  Bibliographie.  —  Golther: 
Klose,  Der  Roman  von  Claris  und  Laris.  —  Glaser:  Becker,  Clement  Marots 
Liebeslyrik.  —  Streuber:  Chinard,  Notes  sur  le  voyage  de  Chateaubriand  en 
Amerique.  —  Pizze:  Farinelli,  La  vita  e  un  sogno.  —  Spitzer:  Ettmayer, 
Zur  Kenntnis  des  Altladinischen.  —  Bibliographie.  —  Personalnachrichten.  — 
Notiz].  —  XL  1/2,  Jan.,  Febr.  1919  [Voßler:  Burdach,  Deutsche  Renaissance. 
2.  Aufl.  —  Schuchardt:  Spitzer,  Fremdwörterhatz  und  Fremdvölkerhaß.  Eine 
Streitschrift  gegen  die  Sprachreinigung.  —  Ehrismann:  v.  Steinmeyer,  Die 
kleineren  althochdeutschen  Sprachdenkmäler.  —  Wocke:  Bremer,  Deutsche 
Lautkunde.  —  Wocke:  Bremer,  Deutsche  Lautlehre.  —  Golther:  v.  Unwerth, 
Christian  Weises  Dramen  Regnerus  und  Ulvilda.  —  Siebeck:  Wolff,  Der 
Toleranzgedanke  in  der  deutschen  Literatur  zur  Zeit  Mendelssohns.  —  Sie- 
beck: Van  Stockum,  Spinoza-Jacobi-Lessing.  —  Sulger-Gebing,  Philipp  Haf- 
ners Werke.  Hrsg.  von  Ernst  Baum.  —  Streuber:  Mich  eil,  Heyse  and  bis 
predecessors  in  the  theory  of  the  Novelle.  —  Binz:  Trautniann,  Die  alteng- 
lischen Rätsel.  —  Ackermann:  Wolff,  Der  Fall  Hamlet.  —  Behaghel:  Stoelke, 
Die  Inkongruenz  zwischen  Subjekt  und  Prädikat  im  Englischen  und  den  ver- 
wandten Sprachen.  —  Spitzer:  Hatzfeld,  Über  die  Objektivierung  subjektiver 
Begriffe  im  Mittelfranzösischen.  —  Hilka:  Heldt,  Franz.  Virelais  aus  dem 
15.  Jahrhundert.  —  Streuber:  Dietschy,  Die  'Dame  d'intrigue'  in  der  fran- 
zösischen Originalkomödie  des  16.  und  17.  Jahrhunderts.  —  Glöde:  Cordier, 
J.  J.  Rousseau  und  der  Calvinismus.  —  Krüger:  Quelle,  Verzeichnis  wissen- 
schaftlicher Einrichtungen,  Zeitschriften  und  Bibliographien  der  ib er o -amerika- 
nischen Kulturwelt.  —  Pfandl:  Santiage  Ganzalez  Mateo,  Vida,  publ.  por 
Galo  Sanchez.  —  Hilka:  Jacobus  des  Voragine,  Legenda  aurea,  deutsch  von 
R.  Benz.  —  Pfandl :  Hartig,  Die  Gründung  der  Münchener  Hofbibliothek  durch 
Albrecht  V.  und  Job.  Jac.  Fugger.  —  Bibliographie.  —  Personalnachrichten. 
—  Alfred  von  Weber-Ebenhof,  Erwiderung.  —  A.  Eichler,  Schlußwort.  — 
Notiz].  —  3/4,  März,  April  [Spitzer:  Nienkamp,  Kultur  und  Sprache.  —  Götze: 
Matthias,  Der  deutsche  Gedanke  bei  Jakob  Grimm.  —  Cramer:  Patzig,  Die 
Städte  Großgermaniens  bei  Ptolemäus  und  die  heut  entsprechenden  Orte.  — 
Golther:  Patzig,  Dietrich  und  sein  Sagenkreis.  —  Ehrismaun:  Wilhelm,  Denk- 
mäler deutscher  Prosa  des  11.  und  12.  Jahrhunderts.  —  Götze:  Meyer,  Die 
Überlieferung  der  deutschen  Brandanlegende.  —  Helm:  Ludwig,  Unter- 
suchungen zur  Chronologie  Albrechts  von  Halberstadt.  —  Abt:  Rank,  Aus 
dem  Böhmerwalde  und  volkskundliche  Beiträge  aus  Ranks  übrigen  Werken. 


Verzeichnis  der  eingelautenen  Druckschriften  299 

—  Abt:  Günther,  Die  schlesische  Volksliedforschung.  —  Paterna:  Rabe,  Sund 
ji  all'  dor?  Althamburgische  Kasperszenen.  —  Behaghel:  Rubens,  Parataxe 
und  Hypotaxe  in  dem  ältesten  Teil  der  Sachsenchronik.  —  Koch :  Langhans, 
Untersuchungen  zu  Chaucer.  —  Ackermann:  Kerrl,  Die  metrischen  Unter- 
schiede von  Shakespeares  King  John  und  Julius  Caesar.  —  Herzog:  Foerster, 
Kristian  von  Troyes.  Wörterbuch  zu  seinen  sämtlichen  Werken.  —  Eck- 
hardt: Melich,  Die  altfranzösischen  Lehnwörter  der  ungarischen  Sprache.  — 
Eckhardt:  Homan,  Der  Name  des  ungarischen  Volkes  und  der  Titel  des 
ungarischen  Königs  im  Latein  des  Mittelalters.  —  Spitzer:  Herzog,  Die  Be- 
zeichnungen der  täglichen  Mahlzeiten  in  den  romanischen  Sprachen.  —  Streu- 
ber:  Zingel,  Untersuchung  über  die  Originalität  der  pädagogischen  Gedanken 
Rabelais'.  —  Streuber:  Werth,  Frangois  de  Moliere,  sein  Leben  und  seine 
Werke.  —  Glöde:  Winkelmann,  Zur  Entwicklung  der  Staats-  und  Gesell- 
schaftsanschauung Voltaires.  Glöde:  Marx,  Claude  Tillier  als  Romanschrift- 
steller. —  Appel:  Voßler,  Der  Minnesang  des  Bernhard  von  Ventadorn.  — 
Hennicke:  Durand,  Lis  Alenado  dou  Garagai  recuei  de  pouesio  prouvengalo. 

—  Pfandl:  Spiro,  Meisternovellen  spanischer  Autoren.  —  Bibliographie.  — 
Personalnachrichten.  —  Auskunfts-  und  Beratungsstelle  für  Latein.  —  Amerika. 

—  Warnatsch,  Erwiderung.  —  Götze,  Antwort.  —  Notiz].  —  5/6,  Mai,  Juni 
[Binz :  Leitzmann,  Walther  und  Hiltgunt  bei  den  Angelsachsen.  —  Behaghel : 
Baesecke,  Einführung  in  das  Ahd.  —  Helm:  Naumann,  Ahd.  Grammatik.  — 
Behaghel:  Sütterlin,  Die  deutsche  Sprache  der  Gegenwart.  —  Helm:  Ganzen- 
müller, Das  Naturgefühl  im  Mittelalter.  —  Helm :  Lindemann,  Geschichte  der 
deutschen  Literatur,  9.  u.  10.  Aufl.,  von  M.  Ettlinger.  —  Abt:  Meier,  Volks- 
liedstudien. —  Behaghel:  Wustmann,  Allerhand  Sprachdummheiten,  7.  Aufl. 

—  Golther:  T.  Stimmer,   Comedia  von  zweien  jungen  Eheleuten,  hrsg.  von 
W.  Witkowski.  —  V.  Wurzbach:  Horsthemke,  Melchior  von  Diepenbrock  als 
Übersetzer  spanischer  Dichtungen.  —  Hämel:  Lejeune,  Die  deutsch-spanischen 
Freundschaftsbestrebungen  von  Joh.  Fastenrath.  —  Körner:   Nathansky,  Die 
österreichische  Seele.  —  Golther :  Ch.  Jensons  den  norske  Dictionarium  eller 
Glosebog  i  ny  utgave  ved  Torleiv  Hannaas.  —  Binz:   Gillespy,  Layamons 
Brut.  —  Fischer:  Brie,  Sidneys  Arcadia.  —  Jordan:   Zeller,  Die  Rechte  des 
Admirals  von  Frankreich  nach  der  Hs.  Paris.  B.  N.  A.  Fr.  10251.  —  Spitzer 
Bachmann,  Das  englische  Sprachgut  in  den  Romanen  Jules  Vernes.  —  Glöde 
Brix,  Die  Entwicklungsphasen   der  Maximen  La  Rochefoucaulds.   —  Wiese 
Studi  SU   la  lirica  siciliana  del  dueccnto  I,  II,  III.   —  Wiese:  Tallgren,  Les 
poesies  de  Rinaldo  d'Aquino.  —  M.  L.  Wagner:   Schurr,  Charakteristik  der 
Mundart  von  Portomaggiore.  —  M.  L.  Wagner:  Schurr,  Romagnolische  Mund- 
arten. —  V.  Wartburg:  Salvioni,  Dell'elemento  germanico  nella  lingua  italiana. 

—  V.Wartburg:  Bertoni,  Per  l'elemento  germanico  nella  lingua  italiana.  — 
Spitzer:  Bulleti  de  dialectologia  catalana.  1915—1916.  —  Pfandl:  Sanchez, 
Refranes  de  Veo-Veo.  —  Pfandl :  Corley,  Word  play  in  the  Don  Quixote.  — 
Schucnardt:  Schuchardt,  Die  romanischen  Lehnwörter  im  Berberischen.  — 
Bibliographie.  —  Literarische  Mitteilungen,  Personalnachrichten.  —  Dänische 
Gesellschaft  der  Wissenschaften,  Preisaufgabe.  —  Ibero-amerikanischer  Stu- 
dienpreis. —  Universität  Basel.  Wackernagelstiftung.  —  A.  v.  Weber-Eben- 
hof, Berichtigung.  —  Notiz].  —  7/8,  Juli,  Aug.  [Spitzer:  Mauthner,  Beiträge 
zu  einer  Kritik  der  Sprache.  —  Schumacher:  Birt,  Die  Germanen.  —  Körner: 
Scherer,  Geschichte  der  deutschen  Literatur  mit  einem  Anhang  von  0.  Walzel. 

—  Behaghel:  Welander,  Studien  zum  Bedeutungswandel  im  Deutschen.  — 
Helm:  Waag,  Bedeutungsentwickluug  unseres  Wortschatzes.  3.  Aufl.  — 
Paterna:  Jack,  Madame  de  Stael  and  the  spread  of  German  literature.  — 
Golther:  Eirspennil,  Am.  47  fol.,  udg.  ved  Finnur  Jonsson.  —  Binz:  Morte 
Arthure,  hg.  von  E.  Björkman.  —  Ackermann:  Albrecht,  Neue  Untersuchungen 
zu  Shakespeares  Maß  für  Maß._  —  Fischer:  Fehr,  Studien  zu  0.  Wildes  Ge- 
dichten.   —    Lerch:   Spitzer,   Über  syntaktische  Methoden  auf  romanischem 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    140.  20 


300  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

Gebiet.  —  Voßler:  Spitzer,  Aufsätze  zur  rom.  Syntax  und  Stilistik.  —  Voßler: 
Lerch,  Die  Bedeutung  der  Modi  im  Französischen.  —  Spitzer:  Streng,  Himmel 
und  Wetter  in  Volksglaube  und  Sprache  in  Frankreich.  —  Spitzer:  Schwabe, 
Der  Konjunktiv  im  ital.  Adverbialsatz.  —  Wagner:  Menendez  Pidal,  Anto- 
logia  de  prosistas  Castellanos.  —  Bibliographie.  Mitteilungen.  —  Spitzer, 
Antikritik.  —  Schuchardt,  Erwiderung].  —  9/10,  Sept.,  Okt.  [Spitzer:  Schwyzer, 
Genealogische  und  kulturelle  Sprachverwandtschaft.  —  Behaghel:  Paul,  Deut- 
sche Grammatik.  —  Götze:  Blümel,  Einführung  in  das  Mhd.  —  Behaghel: 
Götze,  Familiennamen  im  badischen  Oberland.  —  Helm:  Wemicke,  Die  Prosa- 
dialoge des  Hans  Sachs.  —  Berger:  Eoethe,  Martin  Luthers  Bedeutung  für 
die  deutsche  Literatur.  —  Berger:  Merker,  Reformation  und  Literatur.  — 
Helm:  Meisinger,  Volkslieder  aus  dem  badischen  Oberlande.  —  Abt:  Mei- 
singer,  Oberländer  Volksliederbuch.  —  Golther:  Rittershaus,  Altnord.  Frauen. 

—  Golther:  Finnur  Jonsson,  Rimnasafn,  Sämling  af  de  aeldste  islandske.  rimer. 

—  Golther:  Beckman  u.  Kalund,  Alfraedt  islenzk,  islandsk  encyklopaedisk 
litteratur  H.  —  CoUin:  Logeman,  A  commentary  on  the  Norwegian  text  of 
H.  Ibsen's  Peer  Gynt.  —  Fischer:  Wenzel,  Cyril  Toumeurs  Stellung  in  der 
Geschichte  des  engl.  Dramas.  —  Minckwitz:  Fischer,  Die  persönlichen  Be- 
ziehungen Eich.  Monckton  Milnes'  zu  Deutschland.  —  Schläger:  Gennrich, 
Musikwissenschaft  und  romanische  Philologie.  —  Hilka:  Dexel,  Untersuchungen 
über  die  franz.  illuminierten  Hss.  der  Jenaer  Universitätsbibliothek.  —  Hilka: 
Brandis,  Beiträge  aus  der  Universitätsbibliothek  zu  Jena.  —  Lerch:  Nyrop, 
Kongruens  i  Fransk.  —  Spitzer:  Grieß,  Die  Tonschilderung  in  Lotis  Romanen. 

—  Lewent:  Appel,  Provenzalische  Lautlehre.  —  Wagner:  Guarnerio,  Le 
'Launeddas'  Sarde.  —  Pfandl:  Miguel  de  Cervantes  Saavedra,  Obras  com- 
pletas.  —  Wagner:  Coester,  The  literary  history  of  Spanish  America.  — 
Bibliographie.  —  Mitteilungen.  —  Personalnachrichten].  —  11/12,  Nov.,  Dez. 
[Wocke:  Götze,  Wege  des  Geistes  in  der  Sprache.  —  Behaghel:  Ehrismann, 
Geschichte  der  deutschen  Literatur  bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters.  — 
Streuber:  Heusler,  Deutscher  und  antiker  Vers.  —  Helm:  Keymann,  Kudrun 
en  Biterolf.  —  Götze:  Mohr,  Die  Dramen  des  V.  Bolz.  —  Götze:  Martin 
Luther,  Sämtliche  deutsche  geistliche  Lieder,  hg.  von  F.  Klippgen.  —  Schott: 
Schneider,  Studien  zu  H.  von  Kleist.  —  Schott:  v.  Klein,  Schenkendorfs 
Liederspiel  'Die  Bernsteinküste'.  —  Moog:  Hof  er,  F.  Hebbel  und  der  deutsche 
Gedanke.  —  Moog:   Herke,   Hebbels  Theorie  und  Kritik  poetischer  Muster. 

—  Ackermann:  Meißner,  Jung-Shakespeare.  —  Fischer:  Björkman,  Lord  Byron. 

—  Hilka:  Mitteilungen  aus  der  kgl.  Bibliothek.  IV.  Kurzes  Verzeichnis  der 
romanischen  Handschriften.  —  Meyer-Lübke:  Gillieron,  Genealogie  des  mots 
qui  designeut  l'abeille,  d'apres  l'atlas  linguistique  de  la  France.  —  Sperber: 
Ljunggren,  Barrikad.  —  Voßler:  Homen,  Studier  i  fransk  classicism.  — 
A.  Kolsen:  Stimming,  Bertran  von  Born.  Kleine  Ausgabe.  —  Voßler:  Dante 
Alighieri,  La  divina  comedia,  hg.  von  L.  Olschki.  —  v.  Wartburg:  Butlleti 
de  dialectologia  catalana.  Juliol-desembre  1918.  —  Pfandl:  Haebler,  Biblio- 
grafia  iberica  del  siglo  XV.  —  Schuchardt:  Urtel,  Zur  baskischen  Onomato- 
poesis.  —  Bibliographie.  —  Literarische  Mitteilungen,  Personalnachrichten.  — 
Preisaufgabe.  —  v.  Grienberger,  Verwahrung.  —  A.  Schulze,  Erklärung.  — 
K.  Voßler,  Erwiderung.  —  0.  J.  Tallgren,  Eeplique.  —  B.  Wiese,  Erwiderung]. 

The  American  Journal  of  philologj^  XL,  3,  No.  159,  Juli,  Aug.,  Sept.  1919 
[C.  Knapp,  Eeferences  to  literature  in  Plautua  and  Terence.  —  E.  B.  Lease, 
The  use  and  ränge  of  the  future  participle.  —  A.  C.  Johnson,  Problems  in 
Delphian  chronology.  —  C.  Waites,  Satura  rediviva.  —  Reviews  and  book 
notices]. 

Modern  language  notes.  XXXIV,  7,  Nov.  1919  [J.  D.  Bruce,  Mordrain, 
Corbenic,  and  the  vulgate  Grail  romances.  —  L.  H.  Harris,  Lucan's  'Pharsalia' 
and  Jonsons  'Catiline'.  —  J.  F.  Bradley,  Robert  Baron's  tragedy  of  'Mirza'. 

—  L.  A.  Hibbard,  Jacques  de  Vitry  and  'Boeve  de  Haumtone'.  —  W.  Kurrel- 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  301 

meyer,  German  lexicography,  II.  —  A.  S.  Cook,  The  authorship  of  the  0.  E. 
'Andreas'].  —  8,  Dec.  1919  [J.  M.  Beattv,  Ir.,  The  battle  of  the  playera  and 
poets.  —  P.  F.  Baum,  The  fable  of  belling  the  cat.  —  H.  T.  Baker,  The  two 
Falstaffs,  —  J.  M.  Burnani,  An  early  Spanish  book-list.  —  A.  R.  Nykl,  The 
talisman  in  Balzac's  'La  peau  de  chagrin].  —  XXXV,  1,  Jan.  1920  [A.  0.  Love- 
joy,  Schiller  and  the  genesia  of  romanticism.  —  A.  Schinz,  Un  'Rousseauiste' 
en  Amerique.  —  J.  E.  Wells,  Fielding's  'Champion'  —  more  notes.  — 
H.  W.  O'Connor,  Addison  in  Young's  'Conjectures'.  —  S.  M.  Beach,  The  'Julius 
Caesar  obelisk'  in  the  'English  Faust  book'  and  elsewhere.  —  C.  B.  Ely,  The 
psychology  of  Betty  Sharp]. 

Schweizerisches  Archiv  für  Volkskunde.  XXII,  3,  1919  [A.  Wehrli,  Die 
Schwitzstübli  des  Zürcher  Oberlandes.  —  Th.  Delachaux,  Le  tavillon  et  son 
emploi  dccoratif  dans  l'architecture  du  Pays  d'Enhaut.  —  S.  Meier,  Volks- 
kundliches aus  dem  Frei-  und  Kelleramt.  —  0.  Ringholz,  Die  Einsiedler- 
Wallfahrtsandenken  einst  und  jetzt.  —  Miszellen.  —  Bücheranzeigen].  —  4 
[H.  Mercier,  Sobriquets  nationaux  et  internationaux.  —  E.  Tappolet,  La  aur- 
vivance  de  'Diana'  dans  les  patois  romauds.  —  P.  0.  Ringholz,  Die  Einsiedler- 
Wallfahrtsandenken  einst  und  jetzt  (Schluß)]. 

Die  neueren  Sprachen,  hg.  von  W.  Küchler  und  Th.  Zeiger.  XXVII, 
5/6  August— September  1919  [W.  Küchler,  Ernest  Renan  zwischen  Frank- 
reich und  Deutschland.  —  Br.  Herlet,  Die  neueren  Sprachen  in  der  neuen 
Schule.  —  Th.  Zeiger,  Einheitsschule  und  neuere  Sprachen.  —  Vermischtes. 

—  Anzeiger].  XXVII,  7/8  November— Dezember  1919  [B.  Fehr,  Drei  Pro- 
bleme ästhetischer  Literaturbetrachtung.  —  E.  Tappolet,  Die  Verwendung  der 
Lautschrift  im  fremdsprachlichen  Unterricht.  —  W.  Fischer,  Kurze  Bemer- 
kungen zur  'vereinfachten  Lautschrift'.  —  A.  Schmidt,  Beiträge  zur  französi- 
schen Syntax  (XIII.).  —  Eng.  Lerch,  Der  Konjunktiv  des  psychologischen 
Subjekts  im  Französischen.  —  0.  Weidenmüller,  Deutsch  und  Fremdsprachen 
auf  der  Oberrealschule.  —  Vermischtes.  —  Anzeiger].  XXVII,  9/10  Februar 
—März  1920  [W.  Hübner,  John  Locke  als  Sprachphilosoph.  —  V.  Klemperer, 
Vom  Cid  zum  Polyeucte.  —  Vermisch tcB.  —  Anzeiger]. 

Modem  philology  XVII,  8,  Dec.  1919  [E.  H.  Wilkins,  The  genealogy  of 
the  editions  of  the  Genealogia  deorum.  —  E.  M.  Albright,  Notes  on  the 
Status  of  literary  property,  1500—1545.  —  E.  C.  Baldwin,  Milton  and  the 
psalms.  —  J.  D.  Rea,  Jaques  in  praise  of  folly.  —  J.  W.  Draper,  Spenser's 
linguistics  in  The  present  state  of  Ireland]. 

Sprak  och  stil.  IX,  1/2,  1919  [G.  Cederschiöld,  Den  nya  bibelsvenskan.  — 
F.  de  Brun,  Betydelsen  av  det  medeltida  ordet  forfader.  —  J.  Palmer,  Till 
nägra  regier  i  Sahlstedts  grammatika.  —  J.  E.  Hylen,  Ett  par  konkunktions- 
uttryck.  —  0.  Sylwan,  Metriska  spörsmäl.  —  0.  Gjeedman,  Aktiva  och  pas- 
siva  versifikatörer  emellan.  —  N.  Lindquist,  Förvanskade  ord  i  Per  Brahes 
Oeconomia].  —  4/5, 1919  [M.  Feuk,  Bildspräket  i  Sensitiva  amorosa.  —  F.  Johan- 
nesson.  De  med  postposition  sammansatta  pronominella  adverberna  i  modern 
svensk  litteraturprosa.  En  Statistik  undersökning.  —  Th.  Hjelmquist,  Stefa- 
nussynen  i  svensk  diktning.  —  G.  Bergstedt,  Ett  och  annat  om  Tegners  vers- 
bildning.  —  R.  G.  Berg,  Nya  adjektiv  pä  —  sam.  —  0.  Linden,  Lokal  inessiv 
med  i  och  pä]. 

Germanisch-romanische  Monatsschrift.  VII,  8/9,  Sept.  1919  [J.  Forchhammer, 
Kopenhagen,  Systematik  der  Sprachlaute  als  Grundlage  eines  Weltalphabets. 
I.  —  0.  Walzel,  Dresden,  Die  Formkunst  von  Hardenbergs  'Heinrich  von 
Ofterdingen'.  —  Frick,  Ulm,  Manon  Lescaut  als  Typus.  —  Selbstanzeigen]. 
10/12,  Okt.-Dez.  [0.  Walzel,  Dresden,  Die  Formkunst  von  Hardenbergs  'Hein- 
rich von  Ofterdingen'  II.  —  0.  H.  Brandt,  Dresden,  Ländliches  Leben  in  der 
Dichtung  des  Hains.  —  H.  F.  Müller,  Blankenburg,  Shaftesbury  und  Plotinos. 

—  J.  Forchhammer,  Kopenhagen,  Systematik  der  Sprachlaute  als  Grundlage 
eines  Weltalphabets  IL]. 

20* 


302  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

Neophilologus  IV,  2,  1919  [S.  Eringa,  Les  premieres  manifestations  de  la 
renaissance  dans  la  poesie  lyrique  neerlandaise  (1544 — 1555).  —  P.  Valkhoff, 
Sur  quelque  ouvrages  d'Elie  Luzac,  II.  —  H.  W.  J.  Kroes,  Nhd.  Krawall.  — 
0.  Walzel,  Die  künstlerische  Form  der  deutschen  Romantik.  —  H.  Annema, 
Touter  —  tille  —  toelle.  —  R.  Volbeda,  Half  preceded  or  foUowed  by  the 
(in)definite  article  or  other  modifiers.  —  W.  van  der  Gaaf,  The  pronunciation 
of  word.  —  A.  G,  van  Hamel,  Tondalus  —  visioen  en  Patricius  —  vagevuur. 

—  J.  van  Wageningen,  Stopwoorden].  —  3  [C.  de  Boer,  De  plaats  van  het 
attributieve  adjektief  in  het  moderne  Frans.  —  P.  Leendertz  Jr.,  De  atrophen 
van  Rutebeuf.  —  I.  W.  Marmelstein,  L'edition  strasbourgeoise  de  l'institution 
chrestienne.  —  S.  Eringa,  Les  premieres  manifestations  de  la  renaissance  dans 
la  poesie  lyrique  neerlandaise  (1544—1555).  —  S.  A.  Krijn,  Een  gemeen- 
Bchappelike  bron  van  Fagrskinna  en  Agrip.  —  Th.  C.  van  Stockum,  Wilhelm 
Busch  und  der  Humor.  —  W.  van  der  Gaaf,  Addenda  to  the  pronunciation 
of  word.  —  W.  A.  van  Dongen,  Sr.,  Bevy  and  Galaxy.  —  A.  E.  H.  Swaen, 
Het  18  e  Oudengelsche  raadsel.  —  C.  van  Heerikhuizen,  The  plot  of  A  mid- 
summemight's  dream,  —  A.  G.  van  Kranendonk,  Some  notes  on  the  metre 
of  Shelley's  Sensitive  plant.  —  A.  E.  H.  Swaen,  Unedited  letters,  III.  — 
J.  Schrijnen,  Gr.  a/xa^a  en  Fr.  brouette  en  zijn  maagschap.  —  M.  Boas,  De 
infinitivus  futuri  in  het  Grieksch  en  in  het  Nederlandsch].  —  4  [W.  Mulder, 
Les  taffurs.  —  G.  G.  Kloeke:  H.  Sparnaay,  Laudine  bei  Chrestien  und  bei 
Hartmann.  —  M.  J.  Rudwin,  Des  Teufels  Schöpferrolle  bei  Goethe  und  Hebbel. 

—  W.  A.  van  Dongen  Sr.,  He  put  on  his  hat  and  He  put  his  hat  on.  — 
C.  van  Heerikhuizen,  How  does  the  under-plot  in  Love's  labour's  lost  rein- 
force  the  central  motive  of  the  main  action.  —  D.  C.  Hesseling,  Observations 
sur  quelques  emplois  notables  de  l'accusatif  en  grec  moderne.  —  J.  J.  A.  A. 
Frantzen,  Über  den  Einfloß  der  mittellateinischen  Literatur  auf  die  franzö- 
sische und  deutsche  Poesie  des  Mittelalters], 

Creizenach,  W.,  Geschichte  des  neueren  Dramas,  II.  Bd.:  Renaissance 
und  Reformation.  1.  Teil.  2.  verm.  u.  verb.  Aufl.  Halle,  Niemeyer,  1918. 
XV,  581  S.  20  M.  +  200/0.  [Der  Band  behandelt  die  latein.  Renaissance- 
dramatik und  die  Anfänge  ihrer  gelehrten  Nachbildung  in  der  Volkssprache. 
Von  englischen  Erzeugnissen  kommen  besonders  in  Betracht:  Grimalds  Archi- 
propheta,  die  Nachbildung  des  Panimachius,  die  Übersetzungen  des  Seneca, 
Gorboduc,  Tancred  und  Jocasta.  Die  Darstellung  ist  gegenüber  der  ersten 
Auflage  nicht  sonderlich  vertieft.  In  der  Fragestellung  überwiegt  das  Stoff- 
liche und  die  Form;  die  Verknüpfung  der  Dichtungen  mit  dem  nationalen 
Leben  trat  in  einem  so  international  angelegten  Werke  naturgemäß  zurück]. 

Germanisch. 

Sievers,  Eduard,  Metrische  Studien,  IV:  Die  altschwedischen  Upplands- 
lagh  nebst  Proben  formverwandter  germanischer  Sagdichtung.  2.  Teil :  Texte. 
(Abhandlungen  der  Phil.-Hist.  Klasse  der  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.)  Leipzig, 
Teubner,  1919.  S.  266— 620,  4".  M.  14.  [Den  Upplandslagh  sind  Proben 
ähnlicher  Formation  beigefügt:  auf  dem  skand.  Gebiete  aus  der  Gutasaga, 
Eyrbyggjasaga,  Gunnlaugssaga,  Gylfaginning,  Skaldskaparmal ;  auf  ags.  Gebiet 
aus  den  Gesetzen  Ines,  Alfreds  und  ^thelreds;  aus  Antworten  auf  Klage 
um  Land,  Rectitudines ;  ferner  zwei  Urkunden,  Ged.  auf  Edgar,  König 
Edward  und  J^theling  Edward,  die  Charakteristik  Wilhelms  des  Eroberers, 
auch  einiges  aus  xElfrics  Bibelschriften  und  den  Sprüchen  Catos;  auf  altfries. 
Gebiete:  Landrecht.  Als  Beispiel  dieser  Metrik  mögen  hier  die  ersten  Strophen 
aus  der  Schilderung  des  Eroberers  in  den  Annalen  1086  folgen: 
1  (=  Plummer,  S.  217,  24) 
^fter  üre  drihtnes      ,  halendes  Cristea 

gebyr-tfde  an  {)risend 
wintra  and  seofon  and  hundeahtatig  wintra 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  303 

on  dam  an  on  twentigan  geare 

2  (=  S.  217,  26) 

Daes  de  Wilhelm  weold  Englalond  swa  him  god  öde, 

gewear{)  swide  hefebc  gear 
ond  swi^de  wölberendlic  on  dissum  lönde 

swyIc  eöde  com  <dä>  on  monnum 

3  (-=  S.  217,  29) 

Dset  ful'neah  äfre  se  öder  mön 

wär|)  ön  däm  wyrrestan  yfle 
(dset  is  on  dam  drife),  ond  mönige  maenn 
swulton  on  dam  yfele.] 

Skandinavisch. 

Ibsen,  Henrik,  Die  Kronprätendenten,  historisches  Schauspiel  in  fünf  Auf- 
zügen, deutsch  von  M.  von  Borch,  hg.  von  Fritz  Günther.  (Velhagen  und 
Klasinga  Sammlung,  168.)  Bielefeld,  Velhagen,  1918.  XXX,  156  S.  Geb. 
M.  1,20.  [Die  Einleitung  behandelt  1.  Ibsens  Leben  und  Werke,  2.  das  vor- 
liegende Drama;  auch  wird  einige  Ibsenliteratur  verzeichnet.  Die  Anmer- 
kungen behandeln  fast  ausschließlich  historische  Dinge.] 

Niederländisch. 

Lion,  C.  Th.,  Kurzgefaßtes  Lehrbuch  der  niederländischen  Sprache  für 
den  Selbstunterricht.    Leipzig,  Reisland,  1919.     VIII,  140  S.    M.  5. 

Deutsch. 

Wissenschaftliche  Beihefte  zur  deutschen  Alpenforschung,  hg.  vom  Bunde 
der  Sprachinselfreunde,  3.  Heft.  Leipzig,  Fischer,  1919.  11,  54  S.  Einzel- 
preis 80  Pf.  Reihenpreis  50  bei  gleichzeitiger  Bestellung  von  6  Heften 
[A.  Baß,  Leipzig,  Deutsche  Sprachinseln  in  Südtirol  und  Oberitalien.  — 
Schriftennachweis.  —  Nachträge.  —  A.  Baß,  Die  bisherigen  Ergebnisse  der 
deutschen,  französischen,  italienischen  und  englischen  Forschungen  in  den 
7  Gemeinden  von  Vicenza  in  geolog.  und  palaeontol.  Hinsicht.  Schriften- 
nachweis. Nachweis  der  Zeitschriftfolgen,  die  über  die  Sprachinseln  und 
Mundartenforschung  Aufsätze  brachten.  Liste  I.  Bezieher  und  sonstige  Emp- 
fänger unserer  Schriften.    Liste  IL     Vaterländisches  Vereinswesen.] 

Hirt,  Hennann,  Geschichte  der  deutschen  Sprache.  (Handbuch  des  deut- 
schen Unterrichts  an  höheren  Schulen,  begr.  von  A.  Matthias.)  München, 
C.  H.  Beck,  1919.     301  S.     M.  16. 

Weise,  0.,  Unsere  Muttersprache,  ihr  Werden  und  ihr  Wesen.  9.  verb. 
Aufl.     Leipzig,  Teubner,  1919.     VIII,  292  S.     M.  4. 

Händel,  Oskar,  Führer  durch  die  Muttersprache.  Dresden,  Ehlermann, 
1918.     173  S.     M.  2,80. 

Wahnschaffe,  Friedrich,  Die  syntaktische  Bedeutung  des  mhd.  Emjambe- 
ments  (Palaestra  132).    Berlin,  Mayer  u.  Müller,  1919.    VIII,  215  S.     M.  9. 

Läftman,  Emil,  Verbets  modus  i  indirekt  anföring  i  modern  tvska. 
Stockholm,  Bonniers,  1919.  VI,  322  ö.  12  Kronen.  [Material:  Bartsch,  Vom 
sterbenden  Rokoko;  Busse,  Lena  Küppers;  Ebner -Eschenbach,  Freihenin 
von  Gemperlein;  Ernst,  Das  Glück  ist  immer  da;  Feldegg,  Letzte  Stunden; 
Hauptmann,  Atlantis;  Hegeler,  Die  goldene  Kette;  Heyse,  Im  Paradies  und 
Novellen;  Kretzer,  Berliner  Skizzen;  Mann,  Der  Tod  in  Venedig;  Ompteda, 
Margret  und  Ossana;  Perfall,  Der  schöne  Wahn;  Rosegger,  Lasset  uns  von 
Liebe  reden;  Schnitzler,  Anatole,  Kakadu,  Worte;  Stökl,  Frau  Juliane;  Stratz, 
Schwert  an  meiner  Linken;  Sudermaun,  Frau  Sorge;  Thoma,  Postsekretär; 
Tovote,  Nicht  doch!  und  Frl.  Grisebach;  Wildenbruch,  Das  edle  Blut.  Aus 
diesen  Vertretern  der  modern  -  deutschen  Erzählungsliteratur  stellt  Verf.  zu- 


304  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

sammen:  die  Verwendung  des  Konjunktivs  im  indirekten  Nebensatz,  die  des 
Indikativs  und  die  anderer  Verbalformcn.     Ergebnisse  S.  279  bis  321.] 

Koch,  Max,  Geschichte  der  deutschen  Literatur,  I.  Band,  von  der  ältesten 
Zeit  bis  1748  (Sammlung  Göschen).  8.  neubearb.  u.  erw.  Aufl.  Berlin, 
Göschen,  1918.     170  S.     Geb.  M.  1,25. 

Danielowski,  Emma,  Das  Hiltibrantlied.  Beitrag  zur  Überlieferungs- 
geschichte auf  paläographischer  Grundlage.  Berlin,  Maj'er  u.  Müller,  1919. 
103  S,  mit  zwei  Tafeln. 

Scheffel,  Viktor  von,  Ekkehard.  Eine  Geschichte  aus  dem  10.  Jahrhun- 
dert. Hg.  von  F.  Eigl  (Freytags  Sammlung).  Wien,  Tempsky,  und  Leipzig, 
Freytag,  1918.     XIX,  43.5  S.     Geb.  M.  3,50. 

Das  Nibelungenlied,  Übersetzung  von  Simrock  mit  gegenübergestelltem 
Urtext,  hg.  von  W,  Frege,  mit  Einl.  u.  Anm.  und  2  Beilagen  in  Kunstdruck. 
Berlin,  Bong  (1918).  L  Teil:  LVII,  763  S.;  IL  Teil:  342  S.  geb.  [Der  mhd. 
Text  ist  in  der  Fassung  B  abgedruckt;  wo  Simrocks  Übersetzung  dazu  nicht 
stimmte,  ist  sie  nachgebessert.  Die  Einleitung  unterrichtet  sachkundig  über 
das  Bekanntwerden  der  Dichtung  in  der  Zeit  der  Romantik,  gibt  den  Inhalt 
der  alten  Nib.-Sage,  hauptsächlich  nach  der  Wölsungen  Saga,  vergleicht  damit 
die  deutsche  Sage  und  wendet  sich  dann  zu  der  Erzählung  in  der  Thidhrek- 
saga  als  einem  Zwischenglied.  __In  der  Frage  nach  dem  Verfasser  ist  große 
Zurückhaltung  beobachtet;  ein  Österreicher  dürfte  es  gewesen  sein,  und  ein 
Mann  des  niederen  Adels;  alles  übrige  bleibt  zweifelhaft.  Der  Anhang  bietet 
zunächst  einen  Abriß  der  mhd.  Formenlehre  und  der  Nibelungenstrophe,  dann 
viele  sprachliche  Bemerkungen,  und  bei  jedem  Abenteuer  einen  knappen  Aus- 
blick auf  geschichtliche  oder  sagenhafte  Grundlage.  Die  Ausstattung  ist  sehr 
gefällig.] 

Singer,  S.,  Wolframs  Willehalm.  Bern,  Francke,  1918.  IV,  128  S. 
Brosch.  M.  10. 

Dar  kloane  Catechismo  von  z^Beloseland,  vorträghet  in  z'gaprecht  von 
siben  kameün  un  a  viar  halghe  gasang.  In  seminärien  von  Pädebe,  1842. 
(Manuldruck:  F.  Ullmann,  Zwickau  Sa.)  39  S.  Verth  Kreuzer  7.  [Ende  Juni 
1915  veranlaßte  die  ital.  Heeresleitung  die  Räumung  der  deutschen  Sprach- 
insel Sette  Communi  auf  dem  Hochplateau  von  Asiago.  Darauf  ließ  die  Leip- 
ziger Verlags-  und  Kommissions-Bucbhandlung,  Leipzig-Reudnitz,  Ranftsche 
Gasse  10,  den  Faksimiledruck  des  sog.  Kloanen  Catechismo,  als  das  letzte 
Literaturdenkmal  der  Sprachinsel,  für  5  M.  —  statt  wie  bisher  um  20  M.  — 
verkaufen.     Der  Text  liest  sich  wie  lebendiges  Althochdeutsch.] 

Henrich,  A.,  Die  lyrischen  Dichtungen  Jakob  Baldes.  Straßburg,  Trübner, 
1915.  (Quellen  und  Forschungen  zur  Sprach-  und  Kulturgeschichte  der  ger- 
manischen Völker,  hg.  von  A.  Brandl,  A.  Heusler,  F.  Schultz.  122.  Heft.)  233  S. 
[Biographie  und  Stoffgeschichte,  Feststellung  des  äußeren  Lebensganges  eines 
Dichters  und  seiner  Anlehnungen  und  Entlehnungen  sind  die  leichteren  Auf- 
gaben für  den  Literarhistoriker  des  16./17.  Jahrhunderts.  Daß  zumal  die 
neulateinische  Lyrik  schematisch  und  unfrei  war,  weiß  jeder.  Wie  das  dichte- 
rische Individuum  inmitten  der  erdrückenden  Fülle  von  Konvention  und 
Tradition  größte  Mühe  hatte,  sich  selbst  durchzusetzen,  etwas  von  sich  durch- 
schimmern zu  lasseh,  so  ist  es  auch  für  uns  heute  sehr  schwer,  ihm  auf  die 
Spur  zu  kommen.  Deshalb  kennen  wir  auch  so  wenige  neulateinische  Lyriker ; 
aber  wenn  das  mit  Recht  beklagt  wird,  so  liegt  es  doch  auch  in  der  Natur 
der  Sache.  Selten  lockt  irgendwo  eine  künstlerische  Individualität.  Für  das 
16.  Jahrhundert  hat  Schröder  doch  immerhin  den  bedeutenderen  nahezukom- 
men gewußt,  und  was  sich  für  sie  und  Bälde  lohnt,  das  würde  sich  für  die 
Mehrzahl  dieser  poetisch  exerzierenden  Schulmeister  und  Geistlichen  nicht 
lohnen.  Was  uns  mehr  not  tut  als  eine  Reihe  von  Einzelmonographien,  ist 
deshalb  eine  Geschichte  der  Schulen,  Strömungen,  Muster  und  Formen,  wie 
wir  sie  von  Ellinger  erhoffen.    Freilich,  um  so  dringender  ist  die  Verpflich- 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  305 

tung,  einem  großen  Talent  endlich  das  Seine  zu  geben,  und  wenn  Bälde 
seit  Herder  auch  des  Entdeckers  nicht  mehr  bedarf,  so  ist  man  über  die 
rein  gefühlsmäßige  Feststellung,  daß  hier  poetische  Werte  vorliegen,  ihm 
gegenüber  doch  noch  nicht  ernstlich  hinausgekommen.  Ich  verstehe  persön- 
lich besonders  gut,  wie  H.  durch  Erich  Schmidts  Kolleg  dazu  geführt 
worden  ist,  dem  starken  Eindruck,  der  aus  den  knappen,  aber  markant 
charakterisierenden  Worten  unseres  Lehrers  hervorging,  nachzugehen  und 
einmal  zu  untersuchen,  wie  es  denn  mit  dem  Lyriker  Bälde  bestellt  ist.  Eine 
umfassende  Kennzeichnung  sollte  es  werden;  nicht  dem  romantischen  Ideal 
der  'Dechiffrierung  der  Persönlichkeit'  aus  den.  Werken  wird  dabei  nach- 
gejagt, denn  deren  ungehemmter  Entfaltung  und  Äußerung  im  Gedicht  standen 
ja,  wie  H.  selbst  einsichtig  auseinandersetzt,  eine  Menge  von  Schwierigkeiten 
im  Wege;  und  die  Neigung  hinwiederum,  von  sich  selbst  im  engsten  Sinne 
zu  reden,  d.  h.  von  allerlei  äußerlichen  Eindrücken  und  von  körperlichem 
Befinden,  ist  weder  etwas  individuell  Baldesches  —  denn  es  ist  vielen  Ee- 
naisaancelyrikern  gemein  — ,  noch  vermag  es  das  Bild  des  Mannes  stark  zu 
beeinflussen.  So  ist  hier  das  Dichterwerk  für  die  Betrachtung  das  erste  und 
nicht  nur  Mittel  zum  Zweck,  und  das  sei  H.  gedankt.  Denn  dessen  hin- 
gebende Betrachtung  und  eingängliche  Charakteristik  ist  wie  eine  der  wich- 
tigsten, so  der  meistversäumten  Aufgaben  des  Literarhistorikers.  Die  geist- 
reiche philosophische  Formel,  auf  die  man  den  Mann  und  sein  Werk  viel- 
leicht bringen  könnte,  fehlt  hier  völlig.  Dafür  erhalten  wir  wirklich  ein 
klares  und  übersichtliches  Bild  dessen,  was  er  geleistet  hat,  lernen  ohne 
trockene  Inhaltsangabe  und  ermüdende  Quellenjagd  seine  Stoffe,  ohne  sche- 
matisches  metrisches  Breittreten  seine  Formen,  ohne  psychologische  Künstelei 
seinen  Gesichtskreis  und  sein  typisches  Reagieren  auf  Eindrücke,  ohne  vages 
Ästhetisieren  den  speziellen  Kuustwert  der  zahllosen  Muster  verpflichteten, 
aber  doch  eigenen  Kunst  kennen.  Insofern  die  Gedichte  Baldes  für  H.  aus- 
schließlich Quelle  und  Gegenstand  sind,  kann  er  wohl  sagen,  daß  seine  Arbeit 
kein  neues  Material  bringt.  Aber  sie  bringt  neue  Einsichten,  auch  in  das 
Einzel  Verständnis  des  sprachlich -stilistisch  nicht  immer  leicht  zugänglichen 
Dichters,  und  läßt  ohne  Koketterie  ein  reiches  Wissen  auf  dem  absichtlich 
nur  mit  Vorsicht  betretenen  Gebiete  der  neulateinischen  Stoff-  und  Formen- 
geschichte durchschimmern.  E.  Schmidt,  für  den  es  die  schlimmste  Ver- 
urteilung des  Literarhistorikers  bedeutete,  wenn  er  von  ihm  sagen  mußte: 
'Er  kann  nicht  charakterisieren',  hätte  seine  Freude  an  dem  Buche  gehabt, 
das  seinen  Namen  mit  Recht  an  die  Spitze  stellen  darf.    Hermann  Schneider.] 

Borcherdt,  H.,  Augustus  Buchner  und  seine  Bedeutung  für  die  deutsche 
Literatur  des  17.  Jhs.     München,  Beck,  1919.     VII,  175  S.     M.  12. 

Scherrer,  Max,  Kampf  und  Krieg  im  deutschen  Drama  von  Gottsched 
bis  Kleist.  Zur  Form-  und  Sachgeschichte  der  dramatischen  Dichtung.  Zürich, 
Rascher  &  Cie.,  1919.  IV,  428  S.  M.  8.  [Mit  seiner  Fragestellung  und  der 
Art  der  Beantwortung  löst  dieses  umfangreiche  Buch  nicht  nur  das  Problem, 
welches  es  sich  vorgenommen  hat,  sondern  entwirrt  in  der  minuziösen  Be- 
handlung der  einzelnen  poetischen  Strömungen  und  Gestalten  auch  Knäuel, 
die  nicht  unmittelbar  auf  seinem  Wege  lagen.  Das  Ergebnis  könnte  man 
etwa  in  die  Worte  fassen:  Der  Zeit  Gottscheds  und  der  Schweizer  fehlt  das 
kriegerische  Erlebnis,  und  so  sucht  sie  Form  und  Gestaltung  bei  fremden 
Vorbildern,  ohne  dem  eigenen  Fühlen  Opfer  zu  bringen.  Im  Siebenjälu-igen 
Krieg  gewinnt  das  Erleben  zuerst  Gestalt  und  erstarkt  mächtig  in  der  radi- 
kalen is^eugeburt  der  Geister,  die  wir  'Sturm  und  Drang'  nennen.  Bis  zu 
den  Revolutions-  und  Napoleonskriegen  bleibt  es  nun  wach,  um  dann  von 
neuem  ursprüngliche  Anstöße  zu  erfahren.  Shakespeare  geht  neben  solcher 
rauhen  Wirklichkeit  mächtig  einher,  wirft  das  Gewicht  seiner  Kunst  als  dich- 
terisches Erleben  in  die  Wagschale  des  jungen  Geschlechts  und  prägt  dessen 
kriegerisches  Erleben  in  bestimmte  Formen,  so  daß  sie  den  Krieg  nur  noch 


306  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

mit  seinen  Augen  schauen.  Noch  in  der  Faustschlacht  beharrt  Goethe  im 
allgemeinen  auf  diesem  Ton,  trotz  machtvoll  gesteigerten  Ausdrucksmitteln. 
Ihm  gegenüber  stellt  sich  Schillers  Pathos  und  fordert  und  vergegenständ- 
licht die  höchste  IdeaUtät  von  Sprache  und  Bild.  Zu  ihnen  gesellt  sich  Kleist, 
die  Brücke  zwischen  beiden  schlagend:  er  ist  realistisch  wie  Goethe,  aber 
auch  schwungvoll  gehoben  wie  Schiller. ^  Neben  der  äußeren  Darstellung  des 
Kampfes  indes  ist  die  innerliche  Auffassung  des  Krieges  nicht  zu  vergessen. 
Der  Sturm  und  Draug  bejaht  ihn  freudig  und  sucht  sein  Werkzeug,  die 
Armee,  zu  reformieren.  Schiller  schwankt;  er  verherrlicht  ('Wallenstein')  oder 
verwirft  ('Wilhelm  Teil')  oder  wägt  gegeneinander  ab  ('Braut  von  Messina'). 
Die  Kriegsauf fassung  der  Humanität,  die  schließlich  bei  ihm  siegt,  herrscht 
unbedingt  bei  Goethe.  In  scharfen  Gegensatz  dazu  setzt  sich  Kleist.  Er 
führt  eine  andere  Zeit  herauf,  die  kriegeiische  Epoche  Napoleons  pulsiert  in 
seinen  Stücken  als  immanenter  Gehalt,  die  Anschauungen  der  Humanität 
werden  in  Stücke  zerschlagen.     Wolfgang  Stammler.] 

Goethes  Freundinnen,  Briefe  zu  ihrer  Charakteristik.  Ausgew.  u.  eingel. 
von  Gertrud  Bäumer.  2.  Aufl.  Leipzig,  Teubner,  1919.  V,  464  S.  und 
12  Bildnisse.     M.  6. 

Goethe,  Faust,  erster  Teil.  Vollständig  hg.  u.  erl.  von  H.  Steuding 
(Freytags  Sammlung).  3.  Aufl.,  mit  einem  Titelbild.  Wien,  Tempsky,  und 
Leipzig,  Frey  tag,  1918.     263  S.     Geb.  M.  1,40. 

V.  Grolman,  Adolf,  Fr.  Hölderlins  Hyperion.  Stilkritische  Studien  zu 
dem  Problem  der  Entwicklung  dichterischer  Ausdrucksformen.  Karlsruhe  i.  B., 
Müller,  1919.     94  S.     M.  5,50. 

Grillparzer,F.,  König  Ottokars  Glück  und  Ende,  Trauerspiel  in  fünf  Auf- 
zügen, hg.  von  Woldemar  Haynel.  (Velhagen  und  Klasings  Schulausg.,  170.) 
Bielefeld,  Velhagen,  1918.  XII,  137  S.  M.  1,20.  [Die  Einleitung  bespricht 
den  Dichter  und  die  Dichtung  in  sympathischer  Weise  und  wundert  sich 
über  die  österreichische  Zensur,  die  ein  Werk  von  so  ausgesprochen  natio- 
naler Gesinnung  von  der  Aufführung  am  Burgtheater  zunächst  ausschloß, 
sowie  über  die  österreichische  Zuhörerschaft,  die,  als  das  Werk  endlich  auf- 
geführt wurde,  den  Dichter  nicht  verstand.  Im  Deutschen  Reiche  pflegte 
man  so  spezifisch  österreichischen  Dingen  überhaupt  nicht  viel  Interesse  ent- 
gegenzubringen.] 

Uhland,  Ernst,  Herzog  von  Schwaben,  für  den  Schulgebrauch  hg.  von 
Richard  Eickhoff  (Frevtags  Sammlung).  4.  umgearb.  Aufl.  Wien,  Tempsky, 
und  Leipzig,  Freytag,"  1918.     110  S.     M.  1. 

Leitzmann,  A.,  Wilhelm  von  Humboldt,  Charakteristik  und  Lebensbild. 
Halle  a.  d.  S.,  Niemeyer,  1919.     102  S.,  3  BUdn.    M.  3,50. 

Ranke,  Leopold  von,  Auswahl  aus  seinen  Werken,  hg.  von  Otto  Bauer. 
(Velhagen  und  Klasings  Schulausg,  173.)  Bielefeld,  Velhagen,  1919.  XX, 
174  S.  Geb.  M.  1,80.  [In  der  Einleitung  ist  betont,  wie  sehr  Ranke  von 
Walter  Scott  ausging  und  wie  er  au  dessen  Quentin  Durward  eine  Kritik  übte, 


1  Gerade  über  Kleist  sagt  Scherrer  viel  Fruchtbares  (S.  325  ff.)  und  bringt 
neue  Gesichtspunkte  zur  Geltuug.  Ich  hebe  nur  die  zusammenfassenden  Sätze 
heraus:  'Historisch  erreicht  die  formale  Auseinandersetzung  in  Schiller  ihren 
Höhepunkt.  Kleist  greift  sie  leidenschaftlich  noch  einmal  auf.  Im  Zusammen- 
hang der  ganzen  Kunstentwicklung  gesehen,  zeigen  sich  seine  Werke  als 
geniale,  aber  für  jeden  einzelnen  Fall  insbesondere  gefundene,  ganz  eigen- 
richtige und  einmalige  Formsyuthesen.  Die  vorwiegend  klassische  Penthe- 
silea  neben  der  vorwiegend  Skakespearischen  Hermannsschlacht  zeugt  dafür 
am  lautesten.  Kaum  ein  anderes  Schaffen  schwankt  so  stark,  kaum  ein 
anderes  fordert  von  jedem  neuen  Werk  so  viel  zugegebene  Prämissen.  Darüber 
darf  kein  Zweifel  sein:  was  dem  Guiskard  an  Formalabsichten  zugeschrieben 
wird,  war  mit  seinem  Scheitern  gescheitert  und  ist  nie  erreicht  worden.' 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  307 

die  einen  Anglisten  zu  einer  Studie  über  diesen  bedeutsamen  Roman  be- 
geistern könnte.  An  Rankes  Methode  wird  hervorgehoben,  daß  das  Znständ- 
liche  bei  ihm  noch  sehr  im  Hintergnind  blieb,  daß  er  aber  bei  Beurteilung 
der  Persönlichkeiten  eine  weitgehende  konfessionelle  Versöhnlichkeit  zeigte. 
Abgednickt  werden  ein  Artikel  'Die  großen  Mächte'  1833,  eine  Skizze  von 
drei  Seiten  über  die  innere  Selbständigkeit  der  deutschen  Nation,  ein  ähnlich 
kurzer  Artikel  über  Bismarck  aus  dem  Nachlaß,  ein  Essay  über  Friedrich 
Wilhelm  IV.,  eine  Skizze  über  die  deutsche  Handelspolitik  nach  1815,  über 
Hardenberg,  Stein  und  Scharnhorst,  Friedrich  den  Großen,  Wilhelm  I.,  Luther 
und  Iguatius  Loyola.  Über  letzteren  Beitrag  urteilt  der  Herausgeber:  'Mit 
einer  bewundernswerten  Feinfühligkeit  und  Seelenkenntnis  hat  er,  der  über- 
zeugte Protestant,  dem  Innenleben  Loyolas  nachgespürt  und  sein  Urteil  durch 
keine  vorgefaßte  Parteimeinung  getrübt.  Rankes  Auffassungsweise  ist  klas- 
sisch und  dürfte  für  alle  Protestanten,  die  mit  ihren  katholischen  Volks- 
genossen in  Frieden  leben  wollen,  vorbildlich  sein.'] 

Scheffel,  Viktor  von,  Der  Trompeter  von  Säkkingen,  ein  Sang  vom 
Oberrhein,  hg.  und  erläutert  von  Ernst  Müller  (Frevtags  Sammlung),  Wien, 
Tempsky,  und  Leipzig,  Freytag,  1918.     XVI,  234  S.     Geb.  M.  2,40. 

Walzel,  0.,  F.  Hebbel  und  seine  Dramen  (Aus  Natur  und  Geisteswelt 
Nr.  408).     Leipzig-Berlin,  Teubner,  1919.     139  S.    M.  2,15. 

Die  Quellen  zu  Gottfried  Kellers  Legenden.  Nebst  einem  kritischen  Text 
der  'Sieben  Legenden'  und  einem  Anhang  hg.  von  Albert  Leitzmann.  (Quellen- 
schriften zur  neueren  deutschen  Lit,  Nr.  8.)  Halle  a.  d.  S.,  Niemeyer,  1919.  LVI, 
154  S.  M.  4,40.  [Leitzmann  bietet  in  gewohnter  Sorgfalt  einen  Neudruck 
derjenigen  Legenden  Kosegartens,  die  als  Quelle  für  Keller  in  Betracht  kom- 
men. Dazu  kommt  als  Einleitung  eine  eingehende,  wenn  auch  etwas  trockene 
Besprechung  von  Kosegartens  Werk,  die  über  Francks  umfängliche  Bio- 
graphie (1887)  in  wesentlichen  Punkten  hinausführt.  Schließlich  ist  ein  Neu- 
druck der  Kellerschen  Legenden  angefügt,  der  merkwürdigerweise  nach  der 
ersten,  nicht  nach  der  letzten  vom  Dichter  durchgesehenen  Ausgabe  (der 
dritten  von  1884),  veranstaltet  ist,  unter  Verzeichnung  der  für  Kellers  Stil- 
gefühl wichtigen  Varianten.  Der  zweite  Teil  der  Einleitung  bringt  dement- 
sprechend eine  Art  Kommentar  zu  den  'Sieben  Legenden',  der  sich  an  manchen 
Stellen  zu  einem  Kellerschen  Stilrepertorium  auswächst  und  dankenswerte 
Sammlungen  zu  sprachlichen  Besonderheiten  zusammenträgt.  Wie  leicht  sich 
der  Philologe  aber  irren  kann,  wenn  er  aus  dem  gedruckten  Material  Rück- 
schlüsse auf  frühere  Fassungen  ziehen  will,  haben  Ermatingers  Berichtigungen 
zu  S.  LH  in  der  deutschen  Literaturzeitung  1919,  Sp.  699  gezeigt;  wieder 
ein  Fall,  der  zu  methodischer  Vorsicht  ermahnt.  Wiedergabe  zeitgenössischer 
Rezensionen  beendet  das  für  Seminarübungen  sehr  geeignete  Büchlein.  Noch 
eine  Frage:  Woher  hatte  Keller  die  Namen,  welche,  er  nicht  bei  Kosegarten 
fand  oder  in  seinen  Legenden  änderte,  z.B.  Gebizo,  Bertrade,  Zendelwald, 
lole  usw.?     Wolfgang  Stammler.] 

B  ey  el ,  F.,  Zum  Stil  des  Grünen  Heinrich.  Tübingen,  Mohr,  1914.  VIII,  201  S. 
M.  4.  [Auf  diese  sympathische  Studie  trifft  Kellers  unmutsvolles  Wort  über  die 
phantasielos  dürren  Literarhistoriker,  ihre  Auslegungs-  und  Vergleichungs- 
wut nicht  zu,  die  sie  am  Anfang  zitiert.  Es  wird  hier,  um  bei  des  Meisters 
humoristischem  Bilde  zu  bleiben,  nicht  ein  toter  Mops  ausgegraben  und 
anatomiert;  auch  nicht  eine  unfertige  Vorstufe  schulnieisteilich  mit  einer 
reiferen  Ül3erarbeitung  verglichen.  Der  Verfasser  erkennt  zwar  mit  Recht 
ein  erhebliches  Weiterschreiten  Kellers  an,  eine  objektiv  höhere  Künstler- 
Bc'iaft,  die  aus  dem  zAveiten  Grünen  Heinrich  spricht,  aber  es  können  hier 
doch  zwei  gleichberechtigte  Kunstwerke  gegeneinander  abgeschätzt  werden. 
Zu  dem  naheliegenden  Vergleich  mit  dem  'Wilhelm  Meister'  wäre  freilich  zu 
sagen,  daß  Keller  gegenüber  die  Aufgabe  einfacher  liegt  insofern,  als  bei 
ihm  nicht  wie  bei  Goethe  dem  stilistischen  Reiferwerden  ein  starkes  sach- 


308  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

Hohes  und  kompositorisches  Nachlassen  entspricht,  also  die  Entwicklung  sich 
formal  und  stofflich  gleichmäßig  nach  aufwärts  verfolgen  läßt.  Trotz  des 
Abstandes  von  dreißig  Jahren  hat  Keller  Goethes  Entfremdung  von  dem 
eignen  Werke  nicht  gekannt,  wenigstens  hat  er  es  nicht  als  Flickbau  unter 
Dach  gebracht,  sondern  in  die  zweite  Fassung  ebenso  wie  in  die  erste  seine 
ganze  Persönlichkeit  hineingelegt.  Und  das  eben  vertieft  die  Aufgabe  der 
stilistischen  Untersuchung:  nicht  nur  ein  reiferer  Stilist,  ein  reiferer  Mensch 
tritt  mit  derselben  Hingebung  wie  einst  an  das  Werk  heran.  Die  anders 
gewordene  Persönlichkeit  in  ihrem  Spiegelbilde  aufzuzeigen,  das  ist  die  Auf- 
gabe, die  B.  mit  löblichem  Verständnis  und  phrasenloser  Diskretion  löst. 
Wir  werden  nicht  mit  psychologischen  Erörterungen,  mit  einem  Schwall 
philosophischer  Termini  überschüttet,  auch  die  Prätention,  tief  in  der  Seele 
des  Dichters  lesen  zu  können,  was  heutzutage  viele  so  gut  verstehen,  erhebt 
er  nicht.  Wie  er  auch  das  andere  Extrem  des  pedantischen  Schematisierens 
meidet,  das  Zerfetzen  der  Sätze  und  Glieder  des  Kunstwerks  nach  gram- 
matischen und  syntaktischen  Kategorien,  das  manche  für  das  Wesen  einer 
Stiluntersuchung  halten.  Dennoch  bietet  er  eine  sorgfältige  Sammlung.  Mit 
Recht  betont  er,  daß  Bewußtes  und  Unbewußtes  in  der  Umarbeitung  wie  in 
der  stilistischen  Leistung  jedes  Künstlers  zu  unterscheiden  seien.  Es  bedeutet 
kein  Auseinanderzerren  dieses  unlöslichen  Doppelprozesses,  wenn  S.  scheidet 
zwischen  der  reichlichen  und  sorgfältigen  Feilarbeit,  die  mit  berechnendem 
Kunstverstand  zur  subtilen  Umnuancierung  verwandt  worden  ist,  und  einer 
anderen  Art  der  Umbildung,  durch  die  eine  allgemein  so  zu  nennende  Ob- 
jektivierung des  Stoffes  sich  eingestellt  hat,  aber  unwillkürlich  auf  Grund 
der  gewandelten  und  gealterten  Persönlichkeit.  Daß  gerade  der  Menschen- 
bildner erst  hat  werden  müssen,  das  zeigt  B.  in  sorgfältiger  Untersuchung, 
die  das  allmählich  immer  plastischere  Hervortreten  des  Individuums  und  seiner 
Erscheinung  bei  Keller  beweist.  Wo  trocken  statistische  Anhäufung  von 
Quellenbelegen  am  Platze  scheint,  da  verweist  B.  diese  nach  Tunlichkeit  in 
die  Anmerkung  und  hat  somit  seinem  Büchlein  eine  angenehme  Lesbarkeit 
verliehen,  die  vergleichenden  Stiluntersuchungen  nicht  immer  zu  eignen  pflegt. 
Hermann  Schneider.] 

Storm,  Theodor,  Novellen,  hg.  von  Dr.  W.  Tesdorpf.  (Velhagen  &  Kla- 
sings  Schulausg.,  174.)  Bielefeld,  Velhagen,  1919.  X,  191  S.,"mit  einem 
Bildnis.  M.  1,50.  [Die  Einleitung  beschränkt  sich  auf  eine  kurze  Angabe 
von  Storms  Lebensschicksalen  und  auf  den  Abdruck  zweier  Gedichte  auf 
ihn.  Es  folgt  der  Abdruck  der  Novellen  Marthe  und  ihre  Uhr  1847,  Im  Saal 
1848,  Abseits  1863,  Unter  dem  Tannenbaum  1864,  In  St.  Jürgen  1867,  Viola 
tricolor  1873.] 

Englisch. 

Englische  Studien.  LIII,  1,  1919  [E.  v.  Siebold,  Synästhesien  in  der  eng- 
lischen Dichtung  des  19.  Jahrhunderts.  Ein  ästhetisch-psychologischer  Ver- 
such. —  N.  Bögholz,  Zu  den  Konjunktionen.  —  Det  kongelige  Danske  Videns- 
kabernes  Selskabs  Prisopgaver  for  1919.  —  Ankündigung  von  Arbeiten.  — 
Kleine  Mitteilungen].  —  2  [J.  Koch,  Chaucer-Proben.  —  M.  Rösler,  Veraltete 
Wörter  in  der  Grammatica  Anglicana  von  1594.  —  E,  v.  Siebold,  Synästhesien 
in  der  englischen  Dichtung  des  19.  Jahrhunderts.  Ein  ästhetisch -psycho- 
logischer Versuch]. 

Anglia  XLII,  4,  Nov.  1918  [M.  Förster,  Kleinere  me.  Texte.  —  B.  Münz, 
Shakespeare  als  Philosoph.  —  B.  Münz,  Zwei  Shakespeare-Studien.  —  R.  Mothes, 
Das  Flugwesen  und  der  ne.  Wortschatz.  —  H.  Lange,  Chaucers  'Mynauctour 
called  Lollius'  und  die  Datierung  des  Hous  of  Fame.  —  H.  Lange,  Über  die 
Farben  König  Richards  IL  von  England  in  ihrer  Beziehung  zur  Chaucer- 
dichtung.  Eine  heraldische  Studie,  zugleich  ein  weiterer  Beitrag  zurLegenden- 
prologfrage.  —  0.  B.  Schlutter,  Weitere  Beiträge  zur  altengl.  Wortforschung. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  309 

—  M.  Förster,  Zu  den  Erfurter  Pflanzennamen],  —  XLIII,  1,  April  1919 
[H.  Gramer,  Das  persönliche  Geschlecht  unpersönlicher  Substantiva,  einschließ- 
lich der  Tiernamen,  bei  W.  Wordsworth.  —  F.  Holthausen,  Der  me.  Streit 
zwischen  Drossel  und  Nachtigall.  —  F.  Holthausen,  London  Lickpenny.  — 
V.  Langhans,  Zu  Chaucers  Legendenprolog.  —  0.  Petersen,  Beiträge  zu  Beau- 
mont-Fletcher.  —  E.Westergaard,  Verbal  forms  in  Middle-Scotch.  —  O.B.Schlut- 
ter.  Weitere  Beiträge  zur  ae.  Wortforschung].  —  2,  Juli  [H.  Gramer,  Das  per- 
sönliche Geschlecht  unpersönlicher  Substantiva  (einschließlich  der  Tiemamen) 
bei  William  Wordsworth.  H.  —  A.  E,  H.  Swaen,  The  aiis  and  tunes  of 
John  Gay's  Beggar's  opera.  —  M.  Förster,  Zu  den  'Kleineren  me.  Texten', 
Anglia  42,  145  ff.  —  0.  B.  Schlutter,  Weitere  Beiträge  zur  altengl.  Wort- 
forschung]. —  3/4,  Nov.  [J.  Koch,  Das  Handschriitenverhältnis  in  Ghaucers 
'Legend  of  good  women'.  —  M.  Trautmann,  Weiteres  zu  den  ae.  Rätseln 
und  Metrisches.  —  H.  Gramer,  Das  persönliche  Geschlecht  unpersönlicher 
Substantiva  (einschl.  der  Tiernamen)  bei  W.  Wordsworth.  —  E.  A.  Kock, 
Interpretations  and  emendations  of  Early  English  texts.  V.  —  F.  Holthausen, 
Zu  me.  Eomanzen.  —  F.  Holthausen,  George  Ashby's  Trost  in  Gefangen- 
schaft]. 

Beiblatt  zur  Anglia.  XXIX,  9,  Sept.  1918  [Förster:  Schrader,  Reallexikon 
der  indogermanischen  Altertumskunde.  Erste  Lieferung:  Aal -Duodezimal- 
system. —  Eichler:  Richter,  Geschichte  der  englischen  Romantik.  11.  Bd. 
Die  Blüte  der  Romantik.  L  Teil.  —  Fehr:  James  Macpherson's  Fragments 
of  ancient  poetr)--,  1760,  in  diplomatischem  Neudruck  mit  den  Lesarten  und 
Umarbeitungen  hg.  von  Otto  L.  Jiriczek.  —  Holthausen,  Die  Geschichte  von 
Martin  Waldeck  in  W.  Scotts  'The  antiquary'.  —  Holthausen,  Zu  alt-  und 
mittelenglischen  Denkmälern.  1.  Zur  ae.  Exodus.  2.  Zum  ae.  Neunkräuter- 
segen. 3.  Zu  Dame  Sirif).  —  Ellinger:  The  day  of  the  Saxon;  critical  problems 
of  the  British  empire  by  Homer  Lea.  Mit  Anmerkungen  zum  Schulgebrauch 
hg.  von  Dr.  A.  Paul.  —  Meilin:  Brandeis  und  Reitterer,  Lehrgang  der  eng- 
lischen Sprache  für  österreichische  Realgymnasien.  1.  Teil:  A  First  English 
primer.  VL  Teil:  A  nineteenth  Century  reader].  —  10,  Okt.  [Fehr:  von  der 
Heide,  Das  Naturgefühl  in  der  englischen  Dichtung  im  Zeitalter  Miltons.  — 
Fehr:  Pound,  Folk-song  of  Nebraska  and  the  Gentral  West.  A  Syllabus.  — 
Fehr:  Smith,  Bailads  surviving  in  the  United  States.  —  Eichler:  Sieper,  Die 
altenglische  Elegie.  —  Björkman,  Wortgeschichtliche  Kleinigkeiten.  —  Neue 
Bücher].  —  11,  Nov.  [Aronstein:  Goetze,  Der  Londoner  Lehrling  im  lite- 
rarischen Kulturbild  der  Elisabcthanischen  Zeit.  —  Kellner:  Mai -Rodegg, 
Hamletentdeckungen  eines  Schauspielers.  —  Kellner:  Weiner,  Die  Verwen- 
dung des  Parallelismus  als  Kunstmittel  im  engl.  Drama  vor  Shakespeare.  — 
Fischer:  Bußmann,  Tennysons  Dialektdichtungen,  nebst  einer  Übersicht  über 
den  Gebrauch  des  Dialekts  in  der  engl.  Literatur  vor  Tennyson.  —  Born: 
Atkinson,  Dictionary  of  English  and  German  militarj'  terms  and  of  other 
words  useful  to  officers.    Part  I:  German-English ;  part  II:  English-German. 

—  Björkman,  Wortgeschichtliche  Kleinigkeiten].  —  12,  Dez.  [Western:  Deutsch- 
bein, Sprachpsychologische  Studien.  —  Born:  Gaspars's  Technical  dictionary 
English-German  and  German-English.  Gompiled  by  G.  N.  Gaspar.  —  Born: 
Eisner  und  Kriegeskotte,  Technisches  Wörterbuch  für  Werkzeugmaschinen 
aind  Maschinenwerkzeuge  in  Deutsch,  Französisch,  Englisch,  Italienisch  und 
Spanisch.  —  Lange:  Langhans,  Untersuchungen  zu  Ghaucer.  —  Holthausen, 
Zum  älteren  englischen  Drama.   1.  Welth  and  Helth.   2.  Johan  the  Evangelyst. 

—  Mann,  Die  Geschichte  von  Martin  Waldeck  in  W.  Scotts  'The  antiquary']. 

—  XXX,  1,  Jan.  1919  [Holthausen:  Kock,  Jubilee  jaunts  and  jottings.  — 
Langhans,  Untersuchungen  zu  Ghaucer.  —  Caro:  Jacobson,  Gharles  Kingsleya 
Beziehungen  zu  Deutschland.  —  Garo:  Fischer,  Die  persönlichen  Beziehungen 
Richard  Monckton  Milnes',  ersten  Barons  Houghton,  zu  Deutschland.  —  Björk- 
man, Bedwig  in  den  westsächsischen  Genealogien.  —  Neue  Bücher.  —  Mit- 


310  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

teilungen].  —  2,  Feb.  [Ekwall:  Marcus,  Die  Schreibung  ou  in  frühmittel-eng- 
lischen  Handschriften.  —  Ekwall :  Halfter,  Die  Satzverknüpfung  in  der  älteren 
Genesis.  —  Born:  Zimmermann,  An  easy  handbook  of  German  for  soldiers. 

—  Born:  Zimmermann,  Military  vocabulary,  German -English  and  English- 
German.  —  Caro:  R.  W.  Emerson,  The  conduct  of  life.  —  Holthausen,  Zu  den 
altenglischen  Rätseln.  —  Neue  Bücher].  —  3,  März  [Western:  Jones,  An  out- 
line of  English  phonetics.  —  Fischer:  Born,  Nachträge  zu  The  Oxford  English 
dictionary;  III.  Teil.  —  Fischer:  Deters,  Die  englischen  Angriffswaffen  zur 
Zeit  der  Einführung  der  Feuerwaffen,  1300—1350.  —  Fischer:  Wiener,  Nao- 
georgus  im  England  der  Reformationszeit.  Hom:  Handbuch  der  Auslands- 
presse. 1918.  Bearbeitet  von  der  Auslandsstelle  des  Kriegspresseamts.  — 
Hom:  Dehn,  England  und  die  Presse.  —  ISIutschmann :  Krüger,  Des  Eng- 
länders gebräuchlichster  Wortschatz.  —  Fehr,  Wordsworths  pantheistische 
Intuition  in  verstandesmäßiger  Beleuchtung.  —  Holthausen,  Ae.  Hwala  im 
Widsith.  —  Holthausen,  Drei  Zitate  bei  Ouida.  —  Mitteilungen].  —  4,  April 
[Aronstein:  Landsberg,  Ophelia.  Die  Entstehung  der  Gestalt  und  ihre  Deu- 
tung. —  Aronstein :  Radebrecht,  Shakespeares  Abhängigkeit  von  John  Mar- 
ston. —  Fehr:  Jonas,  Shakespeare  and  the  stage.  —  Kellner:  Jahrbuch  der 
Deutschen  Shakespeare -Gesellschaft.  Hg.  von  A.  Brandl  und  M.  Förster. 
Bd.  LIII  u.  Bd.  LIV.  —  Rözsa,  Unveröffentlichte  deutsche  Bearbeitungen 
englischer  Stücke  auf  den  alten  deutschen  Bühnen  in  Ungarn.    I.  Shakespeare. 

—  Liebermann,  Ein  englischer  Dichter  fühlt  Deutschlands  Unglück],  5,  Mai 
[Björkman:  Beowulf.  Mit  ausführlichem  Glossar  hg.  von  M.  Heyne.  11. 
u.  12.  Aufl.,  bearbeitet  von  Levin  L.  Schücking.  —  Aronstein:  Schöttner, 
Über  die  mutmaßliche  stenographische  Entstehung  der  ersten  Quarto  von 
Shakespeares  'Romeo  und  Julia'.  —  Mühe:   Hudson,  Milton  and  his  poetry. 

—  Fehr:  Cowl,  The  theorv-  of  poetry  in  England.  —  Fehr:  Gretton,  The 
English  middle  class.  —  Mutschmann:  Krüger,  Unenglisches  Englisch.  — 
Ib.  Rözsa,  Unveröffentlichte  deutsche  Bearbeitungen  englischer  Stücke  aiif 
den  alten  deutschen  Bühnen  in  Ungarn  (Schluß).  —  Holthausen,  Zum  Shake- 
speare-Text. I.  AU's  well  that  ends  well.  IL  Neue  Bücher].  —  6,  Juni 
[la.  Keller:  Koppel,  Das  Primitive  in  Shakespeares  Dramatik  und  die  irre- 
führenden Angaben  und  Einteilungen  in  den  modernen  Ausgaben  seiner 
Werke.  —  Mühe:  Schofield,  Chivalry  in  English  literature.  Chaucer,  Malory, 
Spenser  und  Shakespeare.  —  Fischer:  Frey,  Der  Einfluß  der  englischen,  fran- 
zösischen, italienischen  Literatur  auf  die  Dichtungen  Matthew  Priors.  —  Fehr: 
Steeves,  Learned  societies  and  English  literary  scholarship  in  Great  Britain 
and  the  United  States.  —  Björkman,  Zu  einigen  Namen  im  Beowulf.  — 
Mann,  Zu  Beowulf,  hg.  von  Schücking,  bespr.  von  Björkman.  (Druckfehler- 
verbesserung zu  Beiblatt  XXX,  121  f.)  —  Fehr:  Zu  Shakespeares  Titus  An- 
dronicus.  —  IL  Neue  Bücher].  —  7,  Juli  [Fehr:  Boyd,  The  contemporary 
drama  of  Ireland.  —  Fischer:  Gordon,  The  naming  of  characters  in  the  works 
of  Charles  Dickens.  —  Ekwall,  Die  Anglistik  in  Schweden  in  den  letzten 
zwei  Jahren.  —  Holthausen,  Zur  englischen  Aussprache  des  18.  Jahrh.].  — 
8,  August  [van  der  Meer:  van  Haeringen,  De  Germaanse  Inflexieverschiin- 
selen  ('Umlaut'  en  'Breking')  phoneties  beschouwd.  —  Ekwall:  Gevenich, 
Die  englische  Palatalisierung  von  k  >  c  im  Lichte  der  englischen  Ortsnamen. 
Ekwall:  Harz,  Die  Umschreibung  mit  do  in  Shakespeares  Prosa.  —  Mühe: 
Lorenzen,  Peveril  of  the  Peak.  Ein  Beitrag  zur  literarischen  Würdigung  Sir 
Walter  Scotts.  —  Fehr:  Bax,  Rerainiscenses  and  reflexions  of  a  mid  and  lata 
Victorian.  —  Fehr:  The  letters  of  Algernon  Charles  Swinbume.  With  some 
personal  recoUections  by  Th.  Hake  and  A.  Compton-Rickett.  —  Ib.  Holt- 
hausen, Zu  'Eule  und  Nachtigall'.  —  IL  Mitteilungen:  Det  kongelige  Danske 
Videnskabernes  Selskabs  Prisopgaver  for  1919].  —  9,  Sept.  [Fehr:  Quiller- 
Couch,  Studies  in  literature.  —  Fehr:  Besant,  A.,  An  autobiography.  —  Fehr: 
Coulton,  Social  life  in  Britain  from  the  conquest  to  the  reformation.  —  Fehr: 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  311 

Benham,  English  literature  from  Widsith  to  the  death  of  Chaucer.  —  Mutsch- 
inann:  Thyret,  Einführung  in  die  franz.  und  engl.  Lautlehre.  —  Aronstein: 
Methode  Alvincy,  Gespräch-  und  Lesebücher  etc.].  —  10,  Okt.  [Fehr,  In 
Memoriam  Wilhelm  Creizenach.  —  Fehr:  Keeling  letters  and  recollections, 
ed.  by  E.  T.  with  an  introduction  by  H.  G.  Wells.  —  Förster:  Antibaconis- 
raus. "  Shakcspeare-Bacon  ?  Zur  Aufklärung  seines  Anteils  an  der  Erneuerung 
Österreichs  von  Dr.  Albert  Eichler.  —  Mühe:  Sandison,  The  'Chanson  d'aven- 
ture'  in  M.  E.  —  Mutschmann:  Fehr,  Studien  zu  0.  Wildes  Gedichten.  — 
Mutschmann,  Zu  0.  Wildes  Gedichten].  —  11,  Nov.  [Ekwall,  Erik  Björkman. 

—  Björkman,  Wortgeschichtliche  Kleinigkeiten.  31.  Ae.  (jied,  gidd,  gydd 
'Gedicht,  Spruch'.  —  Me.  Pletten  'schlagen,  eilen,  trampeln'.  —  Mutschmann, 
Milton  und  das  Licht].  —  12,  Dez.  [Fehr:  la.  Hecht,  R.  Bums.  Leben  und 
Wirken  des  schottischen  Volksdichters.  —  Mutschmann,  Milton  und  das  Licht 
(Schluß).  —  IL  Meilin:  Velhagen  und  Klasings  Sammlung  französischer  und 
englischer  Schulausgaben,  Band  148  B:  Eliot,  The  mill  on  the  floss.  Mit  Ein-, 
leitung  und  Anmerkungen  zum  Schulgebrauch  hg.  von  0.  Hallbauer.  — 
Band  149  B:  Locke,  On  civil  govemment.  Für  den  Schulgebrauch  aus- 
gewählt und  mit  Anmerkungen  versehen  von  G.  Humpf.] 

English  studies.  I,  1,  Feb.  1919  [E.  Kruisinga,  The  inns  of  court.  — 
W.  van  Maanen,  Shelley-translations.  —  I.  W.  Preger,  The  death  of  Dorian 
Gray.  —  J.  Gompers,  Reply.  —  C.  J.  van  der  Weij,  Identical  idioms  in  Dutch 
and  English.  —  A.  G.  van  Kranendonk,  Notes  on  Modem  English  books].  — 
2,  April  [F.  Hopman,  Remarks  on  the  study  of  literature.  —  E.  Kruisinga, 
Free  adjuucts.  —  R.  W.  Zandvoort,  Modern  studies.  —  W.  A.  van  Dongen  Sr., 
Some  remarka  on  the  use  of  One  as  a  prop-word.  —  A.  G.  van  Kranendonk, 
Notes  on  Modern  English  books.  —  Fr.  A.  Pompen,  Boer's  Oergermaansch 
handboek.  —  C,  J.  van  der  Wey].  —  3,  Juni  [W.  van  Doorn,  A  crowded 
Company.  —  F.  J.  Hopman,  Remarks  on  the  study  of  literature  IL  — 
A.  C.  S'tehouwer,  0.  Henn,'  F.  P.  H.  Prick  van  Wely,  Seeming  parallels.  — 
W.  A.  van  Dongen  Sr.,  Adverbs  formed  from  monosyllabic  words  in  -y.  — 
W.  A.  van  Dongen  Sr.,  'Labour  in  the  quem'.  —  P.  J.  H.  0.  Schut,  Aids  to 
translation.  —  A.  G.  van  Kranendonk,  Notes  on  Modem  English  books.  — 
4,  Aug.  [F.  J.  Hopman,  Some  aspects  of  Lord  Byron's  character  and  poetrj^ 

—  W.  van  Maanen,  A  literarj^  portrait  of  Swift.  —  A.  G.  van  Kranendonk, 
Notes  on  Modem  English  books].  —  5,   Okt.   [H.  Poutsma,  Participles.   — 

F.  J.  Hopman,   Some   aspects   of  Lord  Byron's  character  and  poetry  II].  — 

G,  Dez.  [H.  Poutsma,  Participles  U.  — 'A.  G.  van  Kranendonk,  Notes  on 
Modern  English  books. 

Jespersen,  Otto,  Growth  and  structure  of  the  English  language.  Awarded 
the  Volney  prize  of  the  Institut  de  France  1906.  Thii-d  ed.  revised.  Leipzig, 
Teubner,  1919.  IV,  255  S.  [Es  ist  erfreulich,  das  bekannte  Buch  abermals 
neugedruckt  und  in  handliche  Form  gebracht  zu  sehen.  Bei  Kapitel  3,  Old 
English,  würde  man  gem  einige  neuere  Literatur,  z.  B.  Schücking,  berück- 
sichtigt sehen.  Auf  me.  Gebiete  war  die  Forschung  weniger  tätig;  da  gilt 
noch  uneingeschränkt,  was  J.  auf  S.  222  über  das  Abbrechen  der  ags.  Sprach- 
tradition sagt.  Auch  daß  Chaucer  noch  keine  zweifache  Wortgarnitur  hat, 
ist  in  Geltung.  'The  same  is  true  of  Shakespeare':  Gilt  dies  vollständig  an- 
gesichts der  Vulgärreden,  wäe  sie  z.  B.  Goneril  mit  ihrem  Hausverwalter  und 
der  Narr  mit  König  Lear  führt?  Sicher  hat  J.  recht,  wenn  er  im  19.  Jahrh. 
feststellt,  daß  gewöhnliche  und  dichterische  Rede  oft  stark  auseinandergehen, 
indem  der  Dichter  den  ungewöhnlichen  Ausdruck  bevorzugt.  So  bewährt 
sich  auf  Schritt  und  Tritt  die  alte  anregende  Kraft  des  Büchleins.) 

Gevenich,  Olga,  Die  englische  Palatalisierung  von  k  >  c  im  Lichte  der 
englischen  Ortsnamen  (Studien  z.  Engl.  Phil.  hg.  von  Morsbach).  Halle  a.  d.  S., 
Niemeyer,  1918.     XVI,  168  S.     M.  6. 

Phönix,  W.,  Die  Substantiviemng  des  Adjektivs,  Partizips  und  Zahl- 


312  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

Worts  im  Ags.  Diss.  Berlin,  Mayer  u.  Müller,  1918.  M.  2.  82  S.  [Das 
Problem.  Die  untersuchten  Denkmäler.  Grenzen  der  ags.  Substantivierung. 
Substantivgebrauch  in  Beowulf,  Elene,  Juliana,  Judith,  Byrhtnoth  und  An- 
nalen.  Die  «(/-Stämme.  Ergebnisse.  Weiterentwicklung  der  Substantivierung]. 
Trautmann,  M.,  Die  ae.  Rätsel  des  Exeterbuchs  hg.,  erl.  u.  mit  Wörterverz. 
versehen  (Morsbachs  u.  Holthausens  Ae.  u.  me.  Texte,  8).  Heidelberg,  Winter, 
1915.  XX,  203  S.  und  6  S.  der  Hs.  auf  Tafeln.  M.  5,60.  [Durch  zwei  Menschen- 
alter hat  gelehrter  Fleiß  und  Scharfsinn  diese  noch  nicht  hundert  Rätsel  durch- 
forscht; die  Liste  der  von  Trautmann  benutzten  Bücher  und  Artikel  füllt 
mehr  als  zehn  Seiten;  auch  die  verwandten  lateinischen  und  altgermanischen 
Rätselsammlungen  sind  zum  Vergleich  mit  herangezogen  worden;  wenn  trotz- 
dem noch  manche  Rätsel  ungelöst  sind,  darf  man  sie  überhaupt  als  unlösbar 
bezeichnen.  Andere  schienen  bereits  bewältigt  und  werden  jetzt  von  Traut- 
maun  abermals  in  vorsichtiger,  fast  grübelnder  Nachprüfung  als  fraglich  be- 
zeichnet oder  geradezu  anders  gedeutet.  Da  gab  es  eine  'trächtige  Sau';  sie 
sollte  fünf  Junge  im  Leibe  tragen  und  dadurch  auf  sechs  Köpfe  und  zwölf 
Augen  kommen:  so  faßte  Dietrich  1859  das  37.  Rätsel.  Im  Interesse  der 
Volksernährung  ist  es  fast  schade,  daß  Trautmann  1894  das  Gedichtchen  in 
der  Mitte  auseinanderschnitt  und  die  erste  Hälfte  auf  }io7no  —  midier  —  equus 
bezog  —  so  nämlich  forderten  es  die  eingeschobenen  Runenzeichen ;  die 
zweite  Hälfte  sei  'Schiff.  Holthausen  und  Löwen thal  schienen  damit  ein- 
verstanden; aber  der  Amerikaner  Tupper  erklärte  1910,  'Schiff  sei  die  Lösung 
für  das  Ganze ;  es  habe  vier  Füße,  d.  h.  Ruder,  unter  dem  Bauch  und,  wenn 
es  einen  Mann,  eine  Frau  und  ein  Roß  trage,  zugleich  acht  Füße  auf  dem 
Rücken;  auch  die  sechs  Köpfe  wurden  phantasievoll  mit  herausgefunden. 
Ein  zweiter  Amerikaner,  Wynk,  besah  sich  die  Sache  und  wünschte  das 
Rätsel  als  Ganzes  'auf  den  Meeresgrund'.  Trautmann  lehrt  jetzt  'des  ge- 
naueren', daß  ein  Mann  mit  einem  Vogel  in  der  Hand,  sowie  eine  Frau  mit 
einem  Hund  auf  dem  Arm  und  einem  Kind  im  Leib,  zusammen  auf  einem 
Rosse  sitzend  vorschweben;  aber  es  sei  auch  möglich,  daß  der  Mann  den 
Hund  trägt  und  die  Frau  den  Vogel.  Selbst  diese  Deutung  wird  erst  da- 
durch ermöglicht,  daß  man  das  V.  7  überlieferte  flod  für  ein  Verderbnis  aus 
fold  c-rklärt.  Bei  diesem  Rätsel  war  die  Lösung  überdies  beigeschrieben; 
auch  halfen  Parallelen  mit  lateinischen  Rätseln  des  Symphosius  (5.  Jh.)  und 
Aldhelm  (7.  Jh.),  sowie  mit  altgermanischen  Rätseln  die  Spur  ausfindig  machen I 
'Hagelkörner'  sollte  Rätsel  58  besagen,  wie  Trautmann  1894  herausfand; 
vorher  sollten  'Schwalben'  oder  'Mücken'  gemeint  sein;  aber  noch  1894 
wurden  es  'Regentropfen',  1905  'Gewitterwolken',  und  jetzt  sind  es  plötzlich 
'Mauerschwalben'  geworden.  Was  werden  wohl  künftige  Forschergenerationen 
noch  herauslesen?  Aus  solchen  Erfahrungen  wird  man  schließen  dürfen,  daß 
es  den  Autoren  und  den  Lesern  dieser  Literaturgattung  weniger  auf  eigent- 
liches Erraten  der  Rätsel  ankam,  als  auf  eine  Mode  des  Beschreibens,  die  mit 
der  beliebten  Figur  der  kemiiyi;)  im  Epos  eine  bemerkenswerte  Ähnlichkeit 
hat.  Der  durch  Jahre  fortgesetzte  Eifer  des  Erratens  bei  unseren  Forschern 
soll  deshalb  nicht  unterschätzt  werden.  Wieviel  wird  nur  ags.  Sprachgebrauch 
evident,  wenn  man  Trautmanns  Anmerkungen  durchgeht  I  Erstaunlich  ist  es 
auch,  zu  beobachten,  wie  früh  die  Angelsachsen  auf  solche  Stilmode  ver- 
fielen. Weder  in  Frankreich  noch  bei  uns  wären  die  Kreise,  die  die  Volks- 
sprache redeten,  im  Zeitalter  Karls  des  Großen  dafür  schon  zu  haben  ge- 
wesen. Dies  aber  ist  sicherlich  das  Alter  der  ags.  Versrätsel,  denn  die  eng 
damit  zusammenhängende  lateinische  Rätselproduktion  der  Angelsachsen,  die 
man  gut  datieren  kann,  reicht  über  das  8.  Jh.  nicht  herab,  ja  mit  Ausnahme 
von  Alkuin  nicht  über  das  erste  Drittel  des  8.  Jh.s  herab;  von  da  an  war 
es  mit  allen  Kunsträtseln  in  England  für  Jahrhunderte  aus.  Man  überlege: 
kaum  ist  um  700  die  Missionszeit  vorbei,  so  erwächst  bereits  solche  Über- 
stilisierung durch  Gelehrte  in  der  Volkssprache.     Es  ist  eine  Parallele  dazu, 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  313 

daß  gleichzeitig  der  größte  Gelehrte  des  Abendlandes  an  der  schottischen 
Grenze  auftaucht  und  ein  Stück  Bibel  in  die  Volkssprache  überträgt:  Beda. 
Eine  ungemein  rasche  Geistesentwicklung  wird  uns  dadurch  für  die  Zeit  um 
700  bezeugt,  wenn  nicht  etwa  mehr  geistige  Schulung,  als  man  gewöhnlich 
annimmt,  den  Angelsachsen  schon  vor  der  Bekehrung  eigen  war.  Nach  der 
Verwüstung  der  Angelnreiche  868  ff.  ist  solche  Schriftstellerei  nicht  mehr 
denkbar;  ihre  natürlichen  Pflegestätten,  die  Klöster,  lagen  in  Trümmern.  In 
Alfreds  Vorrede  zur  Cura  pastoralis  sind  diese  Verhältnisse  auch  deutlich 
bezeugt.  Was  dort  über  die  weitverbreitete  Lateinkenntnis  der  etwas  älteren 
Angeln  gesagt  ist,  stimmt  zu  den  vielen  Parallelen  zwischen  ags.  und  lat. 
Rätseln,  wie  sie  Trautmann  in  dankenswerter  Weise  aufdeckt.  Über  Einzel- 
heiten der  Rätselliteratur  mag  eich  da  und  dort  noch  streiten  lassen,  aber 
das  Gesamtergebnis  ist  sicherlich  durch  Trautmanns  kommentierte  Ausgabe 
festgelegt,  die  als  reife  Frucht  eines  halben  Gelehrtenlebens  zu  schätzen  ist. 
A.  Brandl.] 

Wolf,  Alfred,  Die  Bezeichnungen  für  Schicksal  in  der  ags.  Dichtersprache. 
Diss.  Breslau,  Fleischmann,  1919.  XII,  127  S.  [Untersucht  werden  die  Be- 
deutungen der  Wörter  ivyrd,  gesceap,  gesceaft,  (jewyrht,  gecynd,  gebyrd,  gifeäe, 
orlaeg.] 

Hackenberg,  Enia,  Die  Stammtafeln  der  ags.  Königreiche.  Dissertation. 
Berlin,  Mayer  &  Müller,  1918.  IX,  117  S.  M.  3.  [Die  erhaltenen  Texte  der 
westsächsischen  Stammtafeln  werden  vollständig  mitgeteilt,  auf  ihre  Verwandt- 
schaft hin  untersucht  und  so  bezeichnet,  daß  sich  ursprünglicher  Wortlaut 
von  bloßer  Kopie  abhebt.  Man  wird  fortan  nicht  mehr  einen  Stammtafeltext 
des  15.  Jh.  als  gleichwertig  mit  einer  Urfassung  behandeln  dürfen.  Auf  diese 
Wertabstufung  durch  philologische  Kritik  ist  hauptsächlich  hingearbeitet.  Die 
anderen  Stammtafeln  sind  nur  bis  Florenz  von  Worcester  herab  mitgeteilt. 
Die  Anfänge  der  Genealogik  erscheinen  bei  den  Angeln;  die  Südleute  scheinen 
von  ihnen  abhängig.] 

Mason,  Lawrence,  Genesis  A,  translated  from  the  Old  English.  (Albert 
S.  Cook's  Yale  Studies,  XLVIII.)  New  York  1915.  VII,  61  S.  [Die  Kenntnis 
der  ae.  Literatur  bei  der  Allgemeinheit,  der  das  Angelsächsische  seiner  Schwierig- 
keit wegen  unbekannt  ist,  will  der  Übersetzer  vermitteln.  Er  wählt  die  ältere 
Genesis  als  Denkmal,  dem  poetische  Schönheiten  nicht  fehlen,  und  als  Beispiel 
der  einstens  so  beliebten  Bibelparaphrasen.  Thorpes  Übersetzung  in  seiner 
Ausgabe  von  1828  ist  im  allgemeinen  nicht  mehr  zugänglich,  darum  schien 
eine  neue  ins  heutige  Englisch  nicht  unangebracht.  'Übersetzen,  heißt  moder- 
nisieren', sagt  M.  in  seiner  Einleitung.  Er  wählt  daher  moderne  Prosa,  frei 
von  antikisierenden  und  biblischen  Wendungen,  die  durch  den  Stoff  nahe- 
lägen. Nur  den  eigenartigen  Stil  der  angelsächsischen  Poesie  mit  seinen  zahl- 
reichen Appositionen  wahrt  er  und  damit  den  eigenartigsten  Reiz  der  Kunst- 
form.  Seine  Übersetzung  liest  sich  leicht  und  ist  so  gewiß  zweckentsprechend. 
Der  zugrunde  gelegte  Text  ist  der  Greins.  Emendationen  übernimmt  er  die 
allgemein  anerkannten;  nur  gelegentlich  wagt  er  eigene  und  geht  hierbei 
vielleicht  des  klareren  Sinnes  halber,  der  ihm  als  Übersetzer  ja  besonders 
am  Herzen  liegen  mußte,  etwas  zu  weit,  als  konservative  Textgestaltung  für 
gewöhnlich  gestattet.  So  möchte  er  V.  1492  pridda{n)  durch  dryäe  ersetzen, 
das  Holthausen  z.  B.  als  dritte  (Heimat)  neben  Himmel  und  Hölle  ohne 
Textänderung  erklärt.  Ebenso  lösen  sich  die  Schwierigkeiten  in  V.  1852 
bis  1858  und  V.  2400  mit  Holthausen,  der  hierin  Sievers  bzw.  Grein 
folgt,  durch  Einführung  eines  Eigennamens  ohne  wesentliche  Textveränderung. 
Karl  Brunner.] 

Rubens,  G.,  Parataxe  und  Hypotaxe  in  dem  ältesten  Teil  der  Sachsen- 
chronik (Parker-Hs.  bis  zum  Jahre  891).  (Morsbachs  Studien  zur  englischen 
Philologie,  LVI.)  Halle,  Niemeyer,  1915.  X,  53  S.  [Die  Arbeit  will  unter- 
suchen, in  welcher  Weise  das  gedankliche  Abhängigkeitsverhältnis  der  Sätze 


314  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

in  einem  primitiven  Sprachtypus  zum  Ausdruck  kommt.  Auf  den  ersten 
Blick  scheint  hierzu  der  älteste  Teil  der  Sachsenchronik  sehr  geeignet  zu  sein. 
Es  ist  das  älteste  zusammenhängige  Denkmal  in  Originalprosa,  das  uns  in 
einer  germanischen  Sprache  überliefert  ist,  somit  einerseits  frei  von  Nach- 
ahmungen des  Satzbaues  künstlichen  Prosastils,  die  sich  in  Übersetzungen  stets 
einstellen  werden,  anderseits  von  dem  bereits  hochentwickelten  poetischen  Stil, 
wie  er  uns  auch  in  den  ältesten  überlieferten  poetischen  Denkmälern  entgegen- 
tritt. Der  Wert  der  Sachsenchronik  für  Fragen  der  Satzverknüpfung  darf  aber 
doch  nicht  überschätzt  werden.  Für  eine  Untersuchung  der  Wortstellung  und 
vieler  anderer  syntaktischer  Fragen  ist  sie  gewiß  von  einzigartiger  Wichtigkeit; 
der  dürftige  Chronikstil,  der  nur  selten  über  das  bloße  kurze  Berichten  von 
Tatsachen  hinausgeht,  begünstigt  aber  naturgemäß  bloßes  Nebeneinanderstellen 
von  Sätzen  ohne  jede  Verbindung  oder  bloß  mit  einer  durch  die  beifügende 
Konjunktion  and,  wie  der  Verf.  selbst  gelegentlich  bemerkt  (S.  12,  52). 
Das  Bild,  das  sich  aus  der  Untersuchimg  bietet,  ist  daher  weit  verschieden 
von  dem  aus  ähnlichen  an  poetischen  Denkmälern  (L.  L.  Schücking,  Die 
Grundzüge  der  Satz  Verknüpfung  im  Beowulf ;  W.  Kopas,  Die  Grundzüge  der 
Satzverkuüpfung  in  Cynewulfs  Schriften).  Die  Sachsenchronik  mag  mit  ihrer 
Vorliebe  für  asyndetische  Parataxe  der  gesprochenen  Sprache  näher  stehen 
als  die  poetischen  Denkmäler,  in  denen  Hypotaxe  verhältnismäßig  häufig  ist. 
Die  für  sie  besonders  typische  Aneinanderreihung  von  Sätzen  auch  ganz 
verschiedenartigen  Inhalts  mit  and  und  Konjunktionen  zeitlicher  Ordnung 
(pä,  her  usw.)  ist  jedoch  sicher  auf  Rechnung  des  Chronikstils  zu  stellen. 
Der  Beitrag,  den  sie  zur  Geschichte  des  Prosastils  bietet,  der  sich  von  der 
bloßen  Aneinanderreihung  von  Sätzen,  wie  sie  die  gesprochene  Sprache 
unterstützt,  durch  die  vierlerlei  Ausdrucksmittel,  die  sie  der  geschriebenen 
Sprache  voraus  hat,  vorzieht,  zur  künstlichen  Neben-  und  Unterordnung  von 
Sätzen  durchringt,  ist  sicher  sehr  schätzenswert.     Karl  Brunner.] 

Förster,  Max,  Die  Beowulf- Handschrift  (Berichte  über  die  Verhand- 
lungen der  Sachs.  Ak.  d.  Wissensch.  zu  Leipzig,  philol.-hist.  Klasse  71,  1919, 
IV).    Leipzig,  Teubner,  1919.    89  S.  und  2  Täfeln. 

The  recluse,  a  fourteenth  centurv  version  of  the  Ancren  riwle,  critically 
edited  by  Joel  Pählsson.  Diss.  Lund,  Ohlsson,  1918.  XIV,  335  S.  [Hs. 
Pepys  2498  von  Magdalene  College  Cambridge,  um  1400  geschrieben,  ist 
hier  zum  erstenmal  abgedruckt  und  eingehend  mit  Anmerkungen  versehen. 
Es  ist  eine  freie,  nicht  sehr  sorgsame  Kopie  der  Ancren  riwle  mit  einer 
Reihe  Auslassungen  und  Zutaten;  der  Text  ist  oft  so  verändert  oder  ver- 
derbt, daß  man  das  Original  schwer  wiedererkennt.  Die  Sprache  ist  nicht 
einheitlich  und  schwankt  zwischen  südl.  und  mtl.  Eigentümlichkeiten.  Der 
Abdruck  ist  verdienstlich;  wer  druckt  uns  bald  die  älteren  Hss.,  die  noch 
ausstehen?] 

Thiemke,  Hermann,  Die  me.  Thomas  -  Beket-Legende  des  Gloucester- 
legendars  (Palästra  101).  Berlin,  Mayer  &  Müller,  1919,  LXIX,  185  S. 
M.  15. 

Chaucer-Handbuch  für  Studierende,  ausgewählte  Texte  mit  Einleitungen, 
einem  Abriß  von  Chaucers  Versbau  und  Sprache  nebst  einem  Wörterver- 
zeichnis, hg.  von  M.  Kaluza.  Leipzig,  Tauchnitz,  1919.  248  S.  [Die  eng- 
lischen Chaucerausgaben  sind  zurzeit  nicht  zu  erschwingen,  und  John  Kochs 
deutsche  Ausgabe  umfaßt  nur  die  Canterbury  tales;  so  dnickte  Kaluza 
Proben  seiner  verschiedensten  Dichtungen  mit  Einleitungen,  damit  unser 
Chaucerstudium  weitergehen  kann.  Er  beginnt  mit  eiuer  Bibliographie,  V«  S., 
beschreibt  das  Leben  des  Dichters  auf  2V2  S.,  gibt  die  Zeugnisse  über  seine 
Werke  und  stellt  von  diesen  folgende  Zeittafel  auf:  ABC  und  andere  kleinere 
Gedichte  vor  1369;  Book  of  duch.  1369;  Romau  of  the  rose  nach  1370; 
Caecilie,  Griseldis,  Constance  und  Mönch  nach  1373;  Mars  1379;  Boece,  Former 
age  und   Fortune   nach  1380;    House   of  Farne  Dez.  1381;    Pari,   of  fowles 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  315 

Febr.  1382;  Troylus  1382—4;  Palamon  1385;  Legend  of  good  women  1385 
—86;  Canterbury  tales  1387—1400;  Astrolabe  1391;  2.  Fassung,  gen.  A,  des 
Prologs  Lgw  nach  1394.  TJber  Chaucers  Belesenheit,  Handschriften  und  Aus- 
gaben handeln  IV2  S.  Bei  der  Auslese  der  Texte  wird  besonders  berück- 
sichtigt HF,  Pari,  of  fowles,  von  Troylus  Buch  I,  III  u.  V,  von  G.  W.  der 
Prol.  A,  von  den  Cant.  taies  der  Prolog,  Ritter,  Wife  of  Bath  und  Par- 
doner, Mönch  und  Nonnenpriester.  Den  Anhang  bilden  6  Seiten  über  Chau- 
cers Versbau  und  14  über  seine  Sprache.  Beim  Wörterverzeichnis  fällt  jeg- 
licher Mangel  an  Etymologie  auf.  Offenbar  sollte  nur  für  die  einfachsten 
Bedürfnisse  der  me.  Lektüre  gesorgt  werden.] 

Beschorner,  Franz,  Verbale  Reime  bei  Chaucer.  Diss.  Göttingen  1920. 
32  S.  [1.  Tendenz  zu  verbalem,  2.  zu  infinitivischem  Reime  bei  Chaucer. 
3.  Konstruktion  'gan'  mit  reimendem  Infinitiv.  4.  Entwicklung  dieser  Sprach- 
formen als  Kriterium  für  Entstehungszeit,  wobei  sich  für  die  mittlere  Periode 
die  etwas  bedenkliche  Reihenfolge  ergibt:  Hous  of  Fame,  Troilus,  Parlement 
of  foules.     Das  Ganze  wird  in  Morsbachs  Sammlung  erscheinen.] 

Schöffler,  Herbert,  Beiträge  zur  me.  Medizinliteratur.  (Sächsische  For- 
schungsinstitute in  Leipzig.  Anglistische  Abteilung  I.)  Halle  a.  d.  S.,  M.  Nie- 
meyer, 1919.  XV,  308  S.  [Literaturverzeichnis  S.  VII— XV.  Lexikograph. 
Studien  zur  me.  Medizin.  Practica  physicalia  Magistri  Johannis  de  Bur- 
gundia  mit  Ausgabe  des  Textes  nach  Hs.  aus  der  ersten  Hälfte  des  15.  Jh. 
und  mit  Nachweis  von  Quellen  oder  wenigstens  Parallelstellen  der  einzelnen 
Rezepte.    Wortregister]. 

Arns,  Karl,  Der  religiöse  britische  Imperialismus  Bochum,  Oschmann, 
1919.  80  S.  [Die  Gewohnheit  der  Engländer,  den  Feind  auch  mit  Religions- 
waffen zu  bekämpfen,  -wird  vom  XVI.  Jh.  an  herunter  verfolgt  bis  zur 
Gegenwart,  mit  einer  Menge  von  Belegen,  die  allerdings  häufig  nur  aus 
zweiter  Hand  geschöpft  sind,  besonders  aus  Bries  wohlbekannter  Schrift  über 
den  Imperialismus.  Diese  Gepflogenheit  soll  auf  den  Charakter  der  angli- 
kanischen Kirche  als  einer  Staatseinrichtung  zurückgehen.  In  der  Tat  wäre 
den  Nachweisen  des  Verfassers  noch  einiges  aus  dem  frühen  Reformator 
Becon  beizufügen,  der  schon  1512  geboren  wurde  und  bereits  von  den  be- 
sonderen Privilegien  handelt,  die  England  von  Gott  erhalten  habe  und  für 
die  es  dem  Himmel  besonderen  Dank  schulde.  Aber  andererseits  ist  solche 
Kampfesweise  nicht  auf  die  Leute  der  Staatskirche  beschränkt;  die  Puritaner 
mit  Cromwell  an  der  Spitze  haben  sie  noch  eifriger  gebraucht,  und  während 
des  letzten  Krieges  hat  sich  auch  der  katholische  father  Vaughan  in  London 
nicht  gescheut,  wiederholt  aufzufordern:  'Keep  on  killing  Gennans'.  Sollte 
daher  nicht  der  politische  Zelotismus  dem  Engländer  tiefer  sitzen  als  die 
Suprematie  des  Königs  in  der  anglikanischen  Kirche?  Dazu  würde  stimmen, 
daß  Hobbes  bekanntlich  gelehrt  hat,  auf  Befehl  des  Staatsoberhauptes  müsse 
der  Bürger  auch  bereit  sein,  Christum  zu  verleugnen.  Auf  der  Insel  sind 
von  vornherein  die  Grenzen  so  stark  markiert  gewesen,  daß  sie  mehr  als 
anderswo  den  Bewohnern  frühzeitig  ins  Denken  übergingen.  Die  Darstellung 
des  Verfassers  ist  also  in  historischer  Hinsicht  nicht  lückenfrei;  aber  auch 
so  wirkt  die  Aufzählung  alttestam entlicher  Geschosse  zu  politischen  Tages- 
zwecken durch  viele  Seiten  hin  aufregend  genug;  die  Schrift  ist  ein  Beitrag 
zur  Geschichte  des  Religionsmißbrauches.] 

Zachrisson,  R.  E.,  Engelska  stilarter.  Stockholm,  Carlson,  1919.  175  S. 
Kr.  4,.50.  [Altertümliche  Sprache  wird  von  familiärer  und  vulgärer  in  pho- 
netischer und  grammatischer  Art  geschieden,  worauf  noch  Textproben  folgen. 
Die  Bibel  und  Hamlet  stehen  an  der  Spitze  der  altertümlichen  Texte;  aber 
auch  ganz  moderne  Verse  pathetischer  Art  gehören  dazu,  wie  'A  forsaken 
garden'  von  Swinbume  und  'Napoleons's  downfall'  von  Hardy.  Daß  inner- 
halb dieser  Klasse  verschiedene  Strömungen  zu  scheiden  wären,  wird  aller- 
dings  schon   durch   die   Beigabe   des  'Ancient   mariner'    von   Coleridge   an- 

ArchiY  f.  n.  Sprachen.     140.  21 


316  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

gedeutet.  Auch  bei  der  Sprache  der  einfachen  Leute  dürfte  wenigstens  zwi- 
schen Dialekt  und  Jargon  gesondert  werden.  Zu  sehr  enthält  sich  Verfasser 
der  historischen  Betrachtungsweise.  Er  hat  eigentlich  die  Probleme  nur  an- 
gedeutet.] 

Münz,  B.,  Shakespeare  als  Philosoph  (auch  Angl.  XLIÜ,  2,  3).  Halle, 
Niemeyer,  1918.  105  S.  M.  4.  [Von  einem  Pliilosophen  hätte  ich  mir  syste- 
matischere Arbeit  erwartet.  Kein  Aufbau  von  Shakespeares  Denkweise  wird 
versucht;  Verf.  erörtert  nur  einzelne  Probleme,  wie  seine  Stellung  zu  Mate- 
rialismus, Pantheismus,  Pessimismus  und  Optimismus,  seine  Vorstellung  von 
Zeit  und  Willensfreiheit,  um  zu  zeigen,  daß  der  Dichter  philosophisch  zu 
konzipieren  vermochte.  Ohne  weiteres  ist  dabei  vorausgesetzt,  daß  er  von 
Montaigne  und  Giordano  Bruno  angeregt  war,  während  der  Hauptphilosoph, 
der  für  ihn  und  seine  Umgebung  immer  in  erster  Linie  in  Betracht  kam, 
nämlich  Cicero,  im  Schatten  bleibt.  Da  hat  John  Robertson  in  seinem  Buch 
'Montaigne  and  Shakespeare'  1909  bereits  viel  umsichtiger  eine  Reihe  von 
Parallelen  zusammengetragen,  wodurch  Shakespeare  mit  älteren  Lateinern 
zusammenhängt.] 

Eichler,  A.,  Anti-Baconiaens,  Shakespeare-Bacon?  Zur  Aufklärung  seines 
Anteils  au  der  Erneuerung  Österreichs.  Wien,  Neubauer,  1919.  120  S.  [Ge- 
wissenhaft folgt  E.  den  phantasiereichen  Einfällen  der  Baconianer  durch  ihre 
Textaus-  und  -unterlegungen,  ihre  Buchstabenkünste  und  Bilderdeutungen, 
als  wollten  diese  Leutchen  wirklich  die  Wahrheit  und  nicht  bloß  Mystik, 
Träumerei,  Sensation.  Vergleicht  man  in  positiver  Weise  das  Denken  der 
beiden  Zeit-  und  Stadtgenossen,  so  ergibt  sich  eine  Divergenz,  wie  selten 
in  der  Geschichte  zwischen  zwei  geistig  hervorragenden  Nachbarn.  Aufklärend 
könnte  die  Ausmalung  des  Londoner  und  Stratforder  Bekanntenkreises 
wirken,  der  sich  zu  Shakespeares  Autorentätigkeit  öffentlich  bekannte,  mit 
Wort  und  Bild.  Auch  die  Parallelen  zwischen  den  von  Shakespeare  unter 
vollem  Namen  herausgegebenen  und  gedruckten  Epen  und  den  gleichzeitigen 
Dramen  könnten  beweisen,  was  noch  niemand  mit  einem  triftigen  Grunde  zu 
bestreiten  vermochte,  daß  nämlich  beide  von  demselben  Autor  herrühren. 
Wer  durchaus  zweifeln  will,  wohl  ihm!] 

Harz,  Hildegard,  Die  Umschreibung  mit  do  in  Shakespeares  Prosa  (Angl, 
Arb.  von  Schücking  und  Deutschbein,  2),  Cöthen,  Schulze,  1918.  VI,  142  S. 
M.  4,80.  [Unterschieden  werden  mannigfache  Zwecke  der  Umschreibung: 
Ausdruck  der  reinen  und  vollkommenen  Einfühlung,  teils  in  positiven,  teils 
in  negativen  Sätzen;  Ausdruck  der  Einfühlung  in  negativen  Sätzen,  Aus- 
druck der  Einfühlung  'für'  den  Angeredeten  in  positiven  Sätzen;  Ausdruck 
der  Höflichkeit  als  Einfühlung;  Ausdruck  der  intellektuellen  Einfühlung; 
objektiven  Denkens;  beim  Imperativ;  in  Nebensätzen;  das  do  der  Sprach- 
unkundigen; Rhythmik;  die  Umschreibung  kann  nicht  erklärt  oder  entschul- 
digt werden;  in  der  Frage.  Ergebnis:  'Ein  Beweis  mehr  für  die  Feinheit 
von  Shakespeares  Psychologie  und  die  feste  Fügung  des  Dialogs.  Daß 
mehrere  Typen  in  den  Romanzen  fehlen,  erklärt  sich  aus  ihrer  besonderen 
Technik.  —  Außerdem  fällt  auf,  daß  die  Umschreibung  mit  do  zum  Aus- 
druck objektiven  Denkens  häufig  in  komischen  Situationen  verwendet  und 
gern  von  Personen  gebraucht  wird,  die  Sinn  für  Humor  haben:  Armado, 
Falstaff,  Teuchstone  und  die  Clowns'.] 

Shakespeare,  Julius  Caesar,  auf  Gnind  der  Schlegelschen  Übersetzung 
m.  Einl.  u.  Anm.  hg.  von  Christian  Gaehde.  (Die  Meisterwerke  der  deutschen 
Bühne,  hg.  von  Witkowski,  77.)  Leipzig,  Becker.  XV,  82  S.  30  Pf.  —  Ein 
Sommernachtstraum  (das  78.).  XIV,  87  S.  30  Pf.  [Die  Einleitung  zum 
Sommernachtstraum  ist  gut  und  legt  sowohl  die  Entstehung  des  Werkes  klar, 
als  auch  die  Handlung,  die  Charaktere,  den  Stil,  die  Textüberlieferung,  die 
Bühnengeschichte  und  das  Nötigste  über  Schlegels  Übersetzung.  Aber  vor- 
züglich ist  die  zu  Julius  Caesar,  weil  sie  das  Auftauchen  des  Stoffes  über- 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  Sit 

haupt  im  damaligen  englischen  Drama  verfolgt,  den  wechselnden  Auffassungen 
von  Caesar  und  Brutus  bei  Shakespeare  nachgeht,  die  zeitgeschichtlichen  Ein- 
flüsse untersucht  und  die  Veränderung  des  Dramatikers  an  seiner  Quelle  ein- 
sichtig behandelt.  Anmerkungen  erläutern  noch  einzelne  Stellen.  Der  Text 
ist  ^ut  konservativ  behandelt.  Einiges  ist  in  eklektischer  Art  nachgebessert; 
die  Veränderungen  sind  am  Schluß  zusammengestellt.] 

Radebrecht,  Friedrich,  Shakespeares  Abhängigkeit  von  John  Marston 
(Angl.  Arb.  v.  Schücking  u.  Deutschbein,  3).  Cöthen,  Schulze,  1918,  XVI, 
122  S.  M.  4,40.  [Verf.  glaubt,  Shakespeare  in  Hamlet,  Lear  und  Othello 
abhängig  von  Marston  erweisen  zu  können,  speziell  von  dessen  Drama  'An- 
tonio's  revenge'.  Ist  es  sicher,  daß  dies  Stück,  das  1602  erschien,  älter  war 
als  Hamlet?] 

Landsberg,  Gertrud,  Ophelia:  die  Entstehung  ihrer  Gestalt  und  ihre 
Deutung  (Neue  angl.  Arbeiten,  hg.  von  Schücking  und  Deutschbein,  1). 
Cöthen,  Schulze,  1918.  92  S.  M.  3,30.  [Aus  dem  Vergleich  mit  verwandten 
Skakespearischen  Heldinnen  folgert  Verf.:  'Eine  solche  Vereinigung  von 
Schwäche,  Weltlichkeit,  Schönheit,  Treulosigkeit,  Krankheit  und  feenhafter 
Holdseligkeit  hat  Shakespeare  nie  vorher  und  nie  nachher  geschaffen  .  .  . 
Shakespeare  verwandte  keine  besondere  Sorgfalt  auf  diese  Figur,  d.  h.  über- 
haupt auf  die  Liebesepisode  im  Hamlet,  weil  das  dem  Wesen  der  Rache- 
tragödie nicht  entsprochen  hätte,  und  wahrscheinlich  auch,  weil  er  keine 
Lust  am  Weibe  hatte  wie  Hamlet.  Dazu  stimmt  ihre  dramatische  Unzuläng- 
lichkeit. —  Möglich  ist,  daß  die  Ophelia-Gestalt  bei  Shakespeare  als  Folie 
für  die  Königin  Gertrud  gedacht  sei:  die  reine,  unberührte  junge  Unschuld 
im  Gegensatz  zur  düsteren  Sünde;  aber  dieser  Eindruck  wird  uns  durch 
Ophelias  Schwächlichkeit  sofort  wieder  gestört;  im  Grunde  hat  sie  ja  dem 
Prinzen  Hamlet  so  wenig  die  Treue  gehalten,  wie  Gertrud  dem  alten  König. 

—  Ophelias  Wahnsinn   ist  und  bleibt  ein,   wenn  auch  fesselndes,  Accedens. 

—  Ihr  eigentlicher  Wert  liegt  nicht  auf  dramatischem,  nicht  auf  psychologi- 
schem, sondern  auf  rein  poetischem  Gebiet.'    Man  kann  auch  anders  denken.] 

Förster,  Max,  Das  Elisabethanische  Sprichwort  nach  Thomas  Drakes 
Treasurie  of  ancient  adagies  (1616).  Sonderabdruck  aus  Anglia  XLII.  Halle, 
M.  Niemeyer,  1918.    64  S.    M.  3,20. 

Koberg,  Werner,  Quellenstudien  zu  John  Crownes  'Darius'.  Diss.  Kiel. 
Hamburg,  H.  Kampen,  1918.     142  S. 

Mutschmann,  Heinrich,  Der  aadere  Milton.  Bonn,  Schroeder,  1920. 
Vn,  112  S. 

Hecht,  Hans,  Robert  Burns,  Leben  und  Wirken  des  schottischen  Volks- 
dichters.    Heidelberg,  Winter,  1919.    304  S.    M.  11. 

Fehr,  Bernhard,  Studien  zu  Oskar  Wildes  Gedichten.  (Palästra  100.) 
Berlin,  Mayer  &  Müller,  1918.     XH,  216  S.     M.  12. 

Zuber,  Elisabeth,  Kind  und  Kindheit  bei  George  Eliot.  Diss.  Basel 
1919.  91  S.  [Zuerst  wird  das  Kind  bei  älteren  englischen  Dichtem  beob- 
achtet. Anfangs  erscheinen  noch  nicht  Kinder,  sondern  nur  junge  Menschen ; 
sie  denken  wie  Erwachsene  und  reden  sogar  in  Monologen.  Eine  zweite 
Klasse  taucht  bei  Chaucer  und  in  den  Mysterien  auf.  Der  Knabe  in  Chau- 
cers  'Prioress'  tale'  spricht  kindlich.  Man  darf  dabei  auch  an  Isaak  in  einem 
ungefähr  gleichzeitigen  Bibelstück  erinnern.  Shakespeare  scheint  von  der 
Verfasserin  mit  in  diese  Reihe  gestellt  zu  werden;  namentlich  sein  Arthur 
im  'König  Johann'  durfte  erwähnt  werden.  Statt  seiner  werden  genannt 
der  Schwank  'Dobson's  drie  bobs'  und  die  Bänkelsängerballade  von  den 
Kindern  im  Walde.  Aber  alle  diese  Gestalten  und  auch  die  einschlägigen 
bei  Defoe  und  Fielding  sind  nur  'passive  Kinder';  ihr  Realismus  ist  am 
ehesten  fühlbar,  wenn  sie  als  enfant  terrible  sich  gebärden;  namentlich  sind 
sie  Träger  von  Pathos.  Eine  dritte  Stufe  der  Entwicklung  hat  sicherlich 
mit  Wordsworth   eingesetzt,   der  hier  nicht  ganz  zu  seinem  Rechte  kommt. 

21* 


318  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

Die  Romantik  trachtete  über  das  passive  Kind  hinaus,  hat  aber  das  Kind 
eher  überschätzt  und  für  weiser  erachtet  als  die  verbildeten  Erwachsenen. 
Selbst  Dickens  sei  über  diese  Grenze  noch  nicht  hinause:ekommen;  er  hat 
Kinder  zu  Hauptpersonen  gemacht  und  mit  individuellen  Zügen  ausgestattet, 
diese  jedoch  ins  Maßlose  gesteigert.  Die  Eliot  erbt  solche  Tradition.  Mit 
Wordsworth  verehrt  sie  das  Kind;  Worte  von  ihm  hat  sie  als  Motto  ihrem 
'Silas  Marner'  vorangesetzt.  Mit  Dickens  erzählt  sie  von  Kindern  gern 
Schelmenstreiche,  Aber  sie  kam  über  diese  Vorgänger  hinaus.  Zunächst 
sind  Knaben  und  Mädchen  bei  ihr  deutlich  gesondert  und  mit  Absicht  ein- 
ander gegenübergestellt,  wie  namentlich  in  'The  mill  on  the  floss'.  Femer 
haben  ihre  Kinder  ein  engeres  Verhältnis  zu  den  Tieren,  gebrauchen  mehr 
Gesten,  denken  unbehilflicher,  sind  in  Rede  und  Verlangen  mehr  von  Sinn- 
lichkeit beherrscht,  haben  auch  eine  eigene  Aussprache  und  Sj^ntax  und 
zeichnen  sich  namentlich  durch  'Gefühlsgedächtnis'  aus.  Diese  Vorzüge  dankt 
die  Eliot  weniger  den  Erzählerinnen,  die  ihr  unmittelbar  vorangingen,  als 
dem  eigenen  Gefühlsgedächtnis.  Sie  hat  sich  selbst  so  genau  beobachtet, 
als  hätte  sie  die  modernsten  Kinderpsychologen  studiert.  Solches  Wissen 
hat  zur  Folge,  daß  sie  weniger  auf  Erziehung  gibt  als  auf  Selbstentwicklung, 
daß  sie  den  Kindern  nicht  die  herkömmlichen  Liebesmotive  zuschreibt,  son- 
dern Geschwister-  und  Elternliebe,  daß  sie  überhaupt  ihrem  Kultureinfluß 
gerecht  wird.  Nur  der  Mangel  bleibt  an  ihr  haften,  daß  sie  zu  früh  den 
Sinn  für  landschaftliche  Dinge  den  Kindern  aufgehen  läßt.  Gibt  es  nicht 
noch  viel  kindlichere  Figuren  in  modern  englischen  Erzählungen?  Die  Ver- 
fasserin hat  feinsinnig  gearbeitet  und  von  Dibelius  viel  Methode  gelernt; 
man  liest  ihre  Darlegungen,  wenn  sie  auch  nicht  erschöpfend  sind,  mit  An- 
regung und  Genuß.] 

Tauchnitz  edition.  Collection  of  British  and  American  authors.  Leipzig, 
B.  Tauchnitz.     Je  M.  6.50. 

Vol.  4526.    Bacon,  Francis,  The  essays  on  counsels  civil  and  moral,  from 
the  final  edition,  with  notes  and  a  glossary  by  Leon  Kellner. 
„     4527.     Williamson,  C.  N.,  The  wedding  day. 
„     4528.    Bennet,  A.,  The  truth  about  an  author. 
„     4529.     Bennet,  A.,  The  citv  of  pleasure. 
„     4530.     Watson,  H.  B.  M.,  the  excelsior. 

„     4531.     Shaw,  Bernard,  Three  plays  for  puritans.   Caesar  and  Cleopatra. 
The  devil's  disciple.     Captain  Brassbound's  conversion. 

Krüger,  G.,  Schwierigkeiten  des  Englischen.  III.  Teil:  Vermischte  Bei- 
träge zur  Syntax.  Dresden,  Leipzig,  C.  A.  Koch,  1919.  190  S.  M.  11.  [Inhalt: 
Excuse  me  laiujhing,  Gerundium,  Zwischenschiebung,  oiily  too,  I  meant  to 
have  gone,  demonstratives  Subjekt  fehlt,  I  was  shoivn  the  collection,  Umstands- 
wort, A  scoimdrel  of  a  fellow,  Wegfall  von  a  nach  never,  Sonderheiten  der  Be- 
tonung, Spielbetrieb  in  der  Sprache,  Eigenheit  des  nordamerikanischen  Englisch.] 

Krüger,  G.,  Unenglisches  Englisch,  eine  Sammlung  der  üblichsten  Fehler, 
welche  Deutsche  beim  Gebrauch  des  Englischen  machen.  2.  stark  verm.  Aufl. 
IX,  246  S.     Geh.  M.  7,20. 

Krüger,  G.,  Wiederholung  der  englischen  Sprachlehre.  Beispiele  ohne 
Regeln.  Für  Schulen  und  zur  Vorbereitung  auf  Pinifungen.  Dresden  und 
Leipzig,  C.  A.  Koch,  1919.     21  S.     M.  1. 

Krüger,  G.,  Des  Engländers  gebräuchlichster  Wortschatz.  Kleine  Ausg. 
des  'Systematic  English -  German  vocabulary'.  Für  den  Schul-  und  Selbst- 
imterri'cht.  Mit  Angabe  der  Aussprache.  3.  verb.  Aufl.  Dresden,  Koch, 
1918.     VIII,  72  S.     Geb.  M.  1,20. 

Boerner,  0.,  und  0.  Thiergen,  Grammatik  der  englischen  Sprache, 
Ausg.  A,  im  Anschluß  an  das  Lehrbuch  der  engl.  Sprache  f.  d.  Schulgebr. 
bearb.  von  0.  Thiergen,  neubearb.  von  B.  Schulze.  5.  Aufl.  Leipzig,  Teubner, 
1918.    Xn,  210  S.    Geb.  M.  4,20. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  319 

Brandeis,  A.,  und  Th.  Reitterer,  Lehrbuch  der  engl.  Sprache  für  Real- 
schulen. Wien,  Deuticke,  1918.  Teil  II:  English  reader.  156  S.,  27  Bilder 
und  2  Karten.  Geb.  Kr.  3,60.  —  Teil  III:  Literarv  reader.  236  S.  und  notes 
29  S.,  5  Bilder,  27  Portraite.  Geb.  Kr.  5,60.  ['English  reader'  enthält  geo- 
graphische und  geschichtliche  Artikel  über  England,  dazu  einige  Geschichten 
und  Skizzen,  die  mehr  für  kindlichen  Geschmack  berechnet  sind,  auch  Cowper's 
'Gilpin',  Burns'  'John  Barleycorn'  und  Brownings'  'Piper  of  Hamelin'.  Da- 
gegen bringt  'Literarv  reader'  Artikel  von  und  über  Shakespeare  und  die 
neueren  Hauptautoren  bis  herab  zu  Shaw  mit  dessen  'Political  character  of 
thc  English',  in  den  Mund  Napoleons  gelegt,  der  englische  Teil  schließt.  Von 
Amerikanern  sind  nur  Franklin,  Irving,  Emerson,  Longfellow  und  Mark  Twain 
vertreten.  Die  Entwicklung  der  Schullesebücher  zeigt  vielleicht  am  deutlich- 
sten, wie  sehr  der  englische  Unterricht  bereits  modernisiert  ist.] 

Chambers,  Two  oenturies  of  English  history.  Für  den  Schulgebr.  bearb. 
von  Arnold  Schiller.  (Velhagen  &  Klasings  Schulausg.,  157  B.)  Bielefeld, 
Velhagen,  1917.  VIII,  119  S.  Anhang  mit  Anmerkungen  46  S.  M.  1,30. 
[Die  Firma  W.  und  C.  Chambers  brachte  beim  Tode  der  Königin  Victoria 
eine  Geschichte  Englands  von  1714  bis  zur  Gegenwart  heraus,  also  eine  Ge- 
schichte der  Dynastie  Hannover,  bei  der  hauptsächlich  gezeigt  werden  sollte, 
wie  mächtig  England  unter  dieser  Dynastie  gewachsen  war.  Dies  Geschäfts- 
werk empfahl  sich  dem  deutschen  Herausgeber  dui-ch  seine  Form:  'Klare, 
anschauliche  Darstellung'.  Ohne  Irgendwie  den  Zweck  des  Werkes  beurteilen 
zu  lehren,  ohne  die  Auffassung  irgendwie  zu  ergänzen  oder  gar  zu  korri- 
gieren, sind  44  §  daraus  abgedruckt  und  einige  Bildchen  beigefügt.  Zu  An- 
fang steht  'The  insurrection  of  1715';  sie  wird  als  eine  bare  Torheit  hin- 
gestellt. Den  Schluß  macht  'The  great  Boorwar';  er  erscheint  nicht  als  viel 
mehr.  Der  Schlußsatz  verkündet,  daß  britische  Ordnung  überall  in  der  Welt, 
wo  sie  hinkommt,  Frieden,  Ordnung  und  Fortschritt  bedeutet;  wenn  der 
Herausgeber  ihrer  Ausdehnung  auf  unser  Land  das  Wort  reden  wollte,  hat 
er  zweckmäßig  gehandelt.] 

The  English  novel  of  the  19th  Century:  I.  Specimens  of  the  social  novel: 
Kingsley,  Yeast;  Sheehan,  My  new  curate;  Corelli,  The  hired  baby;  Besant, 
All  sorts  and  conditions  of  men.  Für  den  Schulgebr.  erkl.  von  H.  Büning. 
(Schöninghs  franz.  u.  engl.  Schulbibl.  II,  16.)  Paderborn,  Schöningh.  108  S. 
mit  18  S.  Anmerkungen  und  59  S.  Wörterbuch.     M.  2,10. 

Grimm 's  Fairy  tales,  select.  and  ed.  by  P.  Kempf  (Diesterwegs  Neuspr. 
Reformausg.,  54).  Frankfurt  a.  M.,  Diesterweg,  1919.  63  S.,  dazu  32  S.  Notes 
und  26  S.  Wörterbuch.     M.  2,60. 

Stories  for  the  young,  für  den  Schulgebrauch  hg.  von  M.  Bücker-Schirr- 
mann (Pariseiles  Franz.  u.  engl.  Schulbibl.,  C45).  95  S.,  dazu  33  S.  An- 
merkungen. M.  1,30  [14  Erzählungen  aus  englischen  Kinderbüchern,  geordnet 
nach  aufsteigenden  Schwierigkeiten]. 

Shakespeare,  Hamlet,  mit  Anmerkungen  für  den  Schulgebr.  hg.  von 
R.  Ackermann  (Velhagen  &  Klasings  Sammlung,  161 B).  XIX,  145  S.,  dazu 
Anmerkungen  und  Namenverzeichnis  32  S.  M.  1,60  [Enthält  ein  kurzes 
Leben  Shakespeares,  bibliographische  Angaben  und  eine  Zeichnung  von  der 
Bühne  des  Globustheaters,  wie  sie  bei  gefülltem  Hause  ausgesehen  haben 
dürfte.] 

Carlyle,  Thomas,  A  faithful  friend  of  Germany  (Pariseiles  Franz.  u.  engl. 
Schulbibl.,  202).  Leipzig,  Renger,  1919.  X,  79  S.  Geb.  M.  1,30.  [Abgedruckt 
sind  einige  Briefe  von  Carlyle  an  seine  Braut  und  an  Goethe;  einige  Stellen 
von  Carlyle  über  Goethe,  Schiller  und  deutsche  Literatur  überhaupt;  vier 
Skizzen  aus  dem  Leben  Friedrichs  des  Großen;  der  bekannte  Brief  an  die 
'Times'  von  1870  und  schließlich  ein  Brief  von  Bismarck  von  1875  mit  Dank 
für  einen  Geburtstagswunsch.     Anmerkungen.     Namenverzeichnis]. 

Emerson,  R.  W.,  Representative  men,  für  den  Schulgebrauch  hg.  von 


320  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

R.  Günther  (Pariselles  Franz.  u.  engl.  Schulbibl.,  A  205).  VII,  62  S.,  dazu 
26  S.  Anmerkungen.     M.  1,20. 

Mill,  John  Stuart,  On  liberty,  mit  Anmerkungen  zum  Schulgebr.  hg.  von 
Wieckert  (Velhagen  &  Klasings  Schulausg.,  158B).  Bielefeld,  Velhagen, 
1918.  XXIX,  119  S.  mit  Anhang  von  Anmerkungen  35  S.  M.  1,30.  [Diese 
literarische  Hauptfrucht  des  englischen  Liberalismus,  erschienen  eine  Genera- 
tion nach  der  Reformbill,  wird  man  schwerlich  recht  begreifen,  ohne  einen 
Ausblick  nicht  bloß  auf  Mills  eigenes  Leben,  das  sehr  still  verlief,  sondern 
auf  die  Geschichte  der  politischen  Partei,  der  er  angehörte.  Der  grobe  Frei- 
heitsbegriff von  1832  war  1859,  nach  der  Tätigkeit  von  Carlyle,  der  Christ- 
lichsozialen und  auch  des  ästhetisch  sozialen  Ruskin  nicht  mehr  festzuhalten ; 
er  bedurfte  der  Verfeinerung  und  Ausgestaltung:  diese  hat  Mill  hier  ver- 
sucht und  hiermit  dem  liberalen  Programm  die  Lebensfrist  beträchtlich  ver- 
längert. Wird  der  Schüler  ohne  solche  Orientierung  das  Ziel  des  Autors 
erfassen  ?  Es  ist  wohl  eine  der  schwersten  Aufgaben  auf  der  höheren  Schule, 
eine  Klasse  so  weit  in  englische  Gedankengeschichte  einzuführen,  daß  sie 
von  Mill  mehr  behält  als  den  Eindruck  des  'Rationalisten',  wie  er  in  der 
Einleitung  schlankweg  genannt  wird.] 

Henty,  G.  A.,  By  conduct  and  courage,  erkl.  von  Huppertz  (Pariseiles 
Franz.  u.  engl.  Schulbibl.,  A  204).  VI,  106  S.,  dazu  21  S.  Anmerkungen.   M.1,50. 

Stories  of  the  great  war  by  various  authors  (Pariseiles  Schulbibl.,  200). 
VI,  91  S,  M.  1,40.  [Aus  englischen  Quellen  werden  abgedruckt  Skizzen 
über  die  ersten  Kriegstage,  die  Einnahme  von  Lüttich,  den  englischen  Rück- 
zug, Paris  im  September  1914,  die  Torpedierung  der  drei  englischen  Kreuzer, 
the  race  for  the  coast  und  die  zweite  Schlacht  von  Ypem,  alles  mit  einer 
gewissen  Objektivität  geschildert  und  gemischt  mit  Bewunderung  für  die 
Tapferkeit  der  englischen  —  nur  der  englischen  —  Soldaten.  Die  Sympathie 
der  Verfasser  ist  natürlich  bei  unseren  Feinden.  Würden  solche  Berichte  in 
England  für  eine  Schule  zusammen  gedruckt  werden?] 

Romanisch. 

Zeitschrift  für  romanische  Philologie,  hg.  von  A.  Hilka,  XL,  1.  1919 
[H.  Breuer,  Wendelin  Förster  zum  Gedächtnis.  —  E.  Richter,  Grundlinien 
der  Wortstellungslehre.  —  W.  Meyer-Lübke,  Beiträge  zur  romanischen  Laut- 
und  Formenlehre.  4.  Geschichte  des  betonten  mt.  —  W.  Küchler,  Über  den 
sentimentalen  Gehalt  der  Haupthandlung  in  Crestiens  'Erec'  und  'Ivain'.  — 
Vermischtes:  H.  Schuchardt,  Romano-baskisches 'Schaf,  'Lamm'.  —  L.Spitzer, 
Frz.  maemouset,  marmot  —  frz.  eehelle  'Landungsplatz'  —  mm.  porumb 
'Mais'.  —  M.  L.  Wagner,  Oberital.  fers(a)  'Röteln'  —  lomb.  bonxa  'Fäßchen'. 

—  H.  Schuchardt,  Oberengad.  sutember  'September'.  —  L.  Spitzer,  Zur  Motiv- 
geschichte. —  Besprechungen].  —  XL,  2.  1919  [E.  Gamillscheg,  Französische 
Etymologien  I.  —  L.  Jordan,  Zum  altfranzösischen  Joufrois.  —  Vermischtes: 
W.  Meyer-Lübke,  Prov.  im  aus  en  —  Die  iberischen  Patronymika  auf  -ex  — 
Katal.,  span.,  portg.  garra  'Klaue'  —  Altfranz,  provenz.  istiel.  —  K.  Lewent, 
Prov.  pois  (que)  'obgleich'?.  —  L.  Spitzer,  Katalanische  Etymologien.  — 
K.  Lewent,  Hat  Gaucelm  Faidit  französisch  gedichtet?.  —  W.  Meyer-Lübke, 
Zu  Pons  de  Capduelh  —  Zu  Peire  Vidal.  —  E.  Höpffner,  Die  Folie  Tristan 
und  die  Odyssee  —  Die  Anspielung  auf  Crestien  de  Troyes  im  'Hunbaut'. 

—  Besprechungen].  —  XL,  3.  1920  [Fr.  Beck,  Textkritische  und  grammatisch- 
exegetische  Bemerkungen  zu  Dantes  Vita  Nora.  —  M.  L.  Wagner,  Ameri- 
kanisch-Spanisch und  Vulgärlatein.  —  J.  Bruch,  Zu  Meyer-Lübkes  etymo- 
logischem Wörterbuch  (Lieferung__7.  8).  —  Vermischtes:  H.  Schuchardt,  Lat. 
coturnix,  rum.  potirniehe.  —  E.  Öhmann,  Nochmals  frz.  noel.  —  Th.  Braune, 
German.  *gan  und  it.  gana,  inganare,  fr.  enganer,  sp.  ganon,  afrz  gente,  fr. 
ganache  u.  a.  —  Franz.  jappcr,  afr.  jangier  u.  urgerm.  kamp.  —  G.  Rohlfs, 
Zur  Lokalisierung  von   it.  andare.  —   Sp.  judia,  kalabr.  surdka  'Bohne'  — 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  321 

Südit.  jumenta  'Stute'  —  Die  Entwicklung  von  lat.  cjr  im  Romanischen  — 
Frz.  vite.  —  G.  G.  Nicholson,  Un  passage  controverse  des  Serments  de  Strass- 
bourg.  —  G.  Bertoni,  Due  cobbole  provenzali  inedite.  —  Oliver  M.  Johnston, 
Inferno  XXIV,  119—20.  —  J.  de  Perott,  Über  die  das  Bild  des  Geliebten 
widerspiegelnde  Quelle  in  den  Winternächten  von  Antonio  de  Eslava.  — 
Besprechungen.  —  E.  Gamillscheg,  Zu  frz.  hequine.  —  0.  Schultz-Gora,  Zu 
Zs.  XL,  134,  138,  170.  —  H.  Geizer,  Zu  Zs.  XL,  166]. 

Romanische  Forschungen,  hg.  von  K.  Vollmöller,  XXXVIII,  2;  aus- 
gegeben im  Oktober  1919  [C.  Decurtins,  Rätoromanische  Chrestomathie, 
XII.  Band.  —  Ph.  Fuchs,  Das  altfranzösische  Verbum  errer  mit  seinen 
Stammesverwandten  und  das  Aussterben  dieses  Wortes]. 

Archivum  Romanicum,  hg.  von  G.  Bertoni.  Vol.  III  No.  2,  Aprile — 
Giugno  1919  [M.  Casella,  II  Somni  d'en  Bemat  Metge.  —  G.  Vitaletti,  Bene- 
dizioni  e  maledizioni  in  amore.  —  U.  Daliari,  Ricerche  sul  luogo  ove  nacque 
a  Reggio  Lodovico  Ariosto.  —  Varietä  e  Aneddoti:  G.  Bertoni,  Note  varie 
al  romanzo  di  Durmart  lo  Galois.  —  Due  etimologie.  —  'Erbolato'.  —  Cro- 
naca  bibliografica  e  critica].  —  No.  3,  Luglio— Settembre  1919  [L.  Frati, 
Poesie  alchimistiche,  attribuite  a  Jean  de  Meun.  —  C.  Fahre,  Documents 
d'histoire  trouves  au  XVI^  siecle  dans  les  livres  de  Pierre  Cardinal  et  de  sa 
famille  (1218—1286).  —  A.  Jeanroy  et  A.  Längfors,  Chansons  inedites  du 
manuscrit  frangais  846  de  la  Bibliotheque  nationale  (fin).  -^  Varietä  e  Aneddoti: 
G.  Bertoni,  Elementi  lessicali  volgari  negli  Statuts  de  l'Eglise  de  Maguelonne 
(1331).  —  E.  Platz,  Anc.  franc.  russinole  fem.  —  Une  glose  de  l'Appendix 
Probi.  —  L.  Spitzer,  Afrz.  ox  als  Imperativ.  —  G.  Bertoni,  Note  etimologiche 
varie.  —  P.  Aebischer,  Etymologies  romandes.  —  G.  Bertoni,  'Fioldo' ;  ^ma- 
neggio' ,  'malnssero'.  —  M.  Krepinsky,  Quelques  etymologies  espagnoles.  — 
T.  Sorbelli,  Una  epistola  di  Marco  Girolamo  Vida.  —  Bibliografiaj. 

Pauli,  J.,  'Enfant',  'gargon',  'fille'  dans  les  langues  romanes.  Essai  de 
lexicologie  comparee.  Lund,  Lindstedt,  1919.  422  S.  [Ein  gutes  Buch,  von 
gründlichen  Kenntnissen  und  trefflicher  Methode  zeugend.  Von  Vorarbeiten 
waren  nur  Tappolets  Romanische  Verwandtschaftsnamen  und  die  Schrift  von 
Alice  Sperber,  'Zur  Bildung  romanischer  Kindernamen'  vorhanden.  Der 
reiche  Stoff  ist  praktisch  und  übersichtlich  angeordnet:  1.  Teil,  Tradition 
latine,  die  sich  in  tr.  propre  und  impropre  gliedert,  2.  Teil,  die  Creation 
romane  umfassend  und  zerfallend  in  I.  Changements  de  sens  mit  verschie- 
denen Unterabteilungen,  II.  Creation  primitive,  III.  Mots  d'emprunt,  IV.  Mots 
d'origine  inconnue.  Die  Dialekte  sind  in  weitestem  Maße  herangezogen 
worden.  Hier  und  da  wäre  eine  etwas  stärkere  Berücksichtigung  der  alten 
Sprachperioden  erwünscht  gewesen,  z.  B.  trifft  man  schon  auf  afrz.  enfayit 
=  'erwachsenes  Mädchen'  (S.  28),  s.  Bartsch,  Rom.  und  Past.  III,  5  V.  11. 
Pucelle  begegnet  oft  genug  im  13.  Jahrh.  im  Sinne  von  'fille  non  mariee', 
nicht  bloß  in  dem  von  Littre  angeführten  Beispiel  (S.  87);  warum  ist  nicht 
das  pulxella  aus  dem  Contrasto  des  Ciullo  d'Alcamo  erwähnt  (S.  89)?  Ein 
Suffix  -ton  (S.  98)  kann  man  nicht  gelten  lassen,  höchstens  -eton,  das  aber 
aus  et  (efe)  +  on  erwachsen  ist,  so  daß  ein  *ßsseton  die  Vorstufe  für  fistoti 
sein  wird.  Garce  erscheint  nicht  erst  im  13.  Jahrh.  (S.  147),  sondern  schon 
bei  Chrestien,  s.  Wörterbuch  von  Förster-Breuer,  wo  Löwenritter  V.  1713 
fehlt.  Wo  finden  sich  Belege  für  einen  geringschätzigen  Sinn  von  aprov. 
bacalar  (S.  171)?  Der  'sens  pejoratif  braucht  sich  nicht  aus  der  Bedeutung 
'jeune  gentilhomme'  (S.  172)  entwickelt  zu  haben,  vielmehr  genügt  als  Aus- 
gangspunkt schon  das  einfache  'junger  Mann',  'Bursch',  vgl.  unser  'Bursche' 
in  der  Umgangssprache.  Zu  wall,  trhie  'fille'  'fillette'  <  Catherme  (S.  173) 
konnte  unser  'Tnne'  in  'dumme  Trine'  verglichen  werden,  desgleichen  zu 
aprov.  dolen  'pitoyable',  'miserable'  (S.  181)  unser  'traurig'.  Die  S.  189 
Anm.  2  und  S.  190  Anm.  1  besprochenen  Herleitungen  von  maraud  sind 
sämtlich  unbefriedigend.    Marchot,   der  weder  hier  noch  im  ERW.  5264  er- 


322  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

wähnt  wird,  ist  m.  E.  allein  auf  dem  richtigen  Wege  gewesen,  wenn  er  an 
einen  Personennamen  denkt  (Zs.  XVIII,  432),  nur  hätte  er  nicht  Marulf,  son- 
dern Marald  nennen  sollen  (Förstemann,  Personennamens  Sp.  1103);  im  übri- 
gen muß  marmid  schon  viel  älter  sein,  als  Sainean  behauptet,  der  vom 
16.  Jahrh.  spricht  (Godefroy  Co.  belegt  es  zuerst  aus  Villon),  denn  man 
findet  schon  in  einem  Fablel  (Montaiglon-Kaynaud,  Rec.  II,  138)  die  Ab- 
leitung maraudise,  welches  Wort  ganz  unbeachtet  geblieben  zu  sein  scheint. 
Für  Cosa  von  einer  Frau  gesagt  (S.  210)  sei  an  Cm-a-Cosa,  die  Tochter  des 
Albert  Malaspina  (12.— 13.  Jh.)  erinnert,  s.  Suchier,  Dkm.  S.  323  V.  21.  Bei 
neuprov.  tetoun  (S.  246)  ist  zu  bemerken,  daß  teto  in  gleicher  Bedeutung 
schon  in  der  alten  Sprache  vorkommt,  wenn  Levy,  Pet.  Dict.  sie  auch  nicht 
aufführt,  s.  Suchier,  Dkm.  S.  322  V.  1,  der  im  Glossar  kein  Fragezeichen  zu 
setzen  nötig  hatte.  S.  268  wird  mit  Recht  nicht  das  Fem.  touse  als  das  Ur- 
sprüngliche angesehen,  sondern  das  Maskulinum,  und  wenn  es  heißt,  daß  das 
Maskulinum  im  Altfranzösischen  fehlt,  so  besteht  daselbst  doch  tousel  und 
touset  (s.  Godefroy),  die  das  Vorhandensein  eines  *tous  voraussetzen.  Zu  der 
Annahme  von  Meyer-Lübke  RGW.  8785,  daß  touse  ein  Lehnwort  aus  dem 
Provenzalischen  sei,  liegt  kein  zwingender  Grund  vor,  vgl.  die  Form  teuse 
in  Hs.  E  der  Auberee,  s,  Ausgabe  von  Ebeling  S.  137.  Die  Erkläi-ung  der 
Bedeutung  von  tendron  'junges  Mädchen',  wie  sie  das  Dict.  gen.  gibt,  ist 
gegenüber  Nyrop  die  bei  weitem  einleuchtendere  (S.  285).  Für  marotte  <  Ma- 
rotte (S.  316)  war  statt  auf  Dict.  gen.  und  Nyrop  auf  Littre  und  besonders 
auf  G.  Cohn  in  den  Tobler- Abhandlungen  S.  286  f.  zu  verweisen;  letzterer 
gibt  die  literarischen  Fundstellen  für  Marote,  denen  sich  noch  weitere  aus 
der  Pariser  Steuerrolle  von  1292  anschliessen  lassen.  Bemerkenswert  ist 
übrigens,  wie  selten  die  Form  Ma^-iote  zu  begegnen  scheint.] 

Französisch. 

Zeitschrift  für  französische  Sprache  und  Literatur,  hg.  von  D.  Behrens, 
XLV,  7  u.  8  [Abhandlungen:  K.  Glaser,  Aufklärung  und  Revolution  in  Frank- 
reich. —  K.  Küchler,  Die  Ansichten  des  jungen  Renan  über  französische 
Literatur  und  Literaturkritik.  —  P.  Högberg,  Zwei  altfranzösische  Sprich- 
wörtersammlungen in  der  Universitätsbibliothek  zu  Upsala.  —  W.  Meyer- 
Lübke,  Etymologisches:  1.  afrz.  chaine,  meisme  und  vei'wandte  Formen; 
2.  afrz.  rcunposner.  —  C.  Friesland,  Technische  Hochschulen  und  neuere 
Sprachen.  —  Referate  und  Rezensionen:  F.  Busigny,  C.  J.  Merk,  Anschau- 
ungen über  die  Lehre  und  das  Leben  der  Kirche  im  altfranzösischen  Helden- 
epos. —  H.  Maver,  E.  Gamillscheg  und  L.  Spitzer,  Die  Bezeichnungen  der 
Klette  im  Galloromanischen.  —  Miszelle:  ü.  Behrens,  alboche]. 

Gesellschaft  für  Romanische  Literatur.  Dresden.  Sechzehnter  Jahrgang, 
1917.  Der  ganzen  Reihe  Band  41.  Der  festländische  Bueve  de  Hantone, 
Fassung  II,  nach  allen  Handschriften  mit  Einleitung,  Anmerkungen  und 
Glossar  zum  ersten  Male  herausgegeben  von  A.  Stimming.  Band  II:  Ein- 
leitung, Anmerkungen,  Glossar  und  Namenverzeichnis,  Dresden  1918.  514  S. 
[Mit  diesem  stattlichen  Bande  bringt  der  nicht  ermattende  Herausgeber  seine 
Publikation  der  zweiten  Fassung  des  festländischen  Bueve  zum  Abschluß, 
so  daß  jetzt  nur  noch  der  zweite  Band  zur  dritten  Fassung  aussteht.  Die 
reichlichen  Anmerkungen,  über  die  ein  praktisch  angelegter  Index  orientiert, 
bringen  nicht  wenig  Belehrendes.  Zu  demie  und  denree  (V.  1971),  sowie  auch 
enforchies  bei  esterlins  (V.  12907)  vermißt  man  einen  Hinweis  auf  Beiz, 
Münzbezeichnungen  S.  23,  30,  78.  Warum  wird  durchgängig  eue  statt  ere 
'Wasser'  geschrieben?  Mander  ist  in  den  zu  V.  2282  angeführten  Stellen  als 
ein  Verb  des  Wollens  empfunden,  da  ja  der  Inhalt  des  r/we-Satzes  nicht  etwas 
Tatsächliches,  sondern  etwas  erst  zur  Ausführung  kommen  Sollendes  ist, 
also  erwartet  man  eine  etwas  andere  Fassung  der  Anmerkung.  Die  am 
Schlüsse  der  Anmerkung  zu  V.  2354  namhaft  gemachten  Stellen  können  nicht 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  323 

als  parallel  gelten  zu  dem  grmis  mals  est  du  celer.  In  dem  Satze  iwi  s'en 
faloit,  ne  l'avoit  ravise  (V.  3622)  wird  ne  l'avoit  ravise  nicht  mit  Recht  als 
abhängiger   Satz   bezeichnet,   es   ist  vielmehr   ein  Hauptsatz,   s.  Tobler,  VB. 

IV,  38.  Zu  V.  5258  heißt  es,  daß  rcre  sanx,  eve  ein  sprichwörtlicher  Aus- 
druck sei,  aber  Parallelstellen  wären  doch  wohl  am  Platze  gewesen;  ich  habe 
mir  nur  Montaiglon-Raynaud,  Rec.  IV,  170  angemerkt.  Für  das  Hysteron 
Proteron  (zu  V.  7375)  konnte  Zipperling,  Fablel  du  vilain  mire  28/9  an- 
geführt werden,  der  auch  weitere,  freilich  nicht  vollständige  Literatur  ver- 
zeichnet; am  Schluß  der  Anm.  muß  es  doch  wohl  heißen:  'Buevelllb  (noch 
nicht  erschienen)'.  Zu  desfre  et  senestre  (V.  8047)  war  auf  Tobler,  VB.  112, 
161  sowie  auf  Ebeling  zur  Auberee  335  zu  verweisen.  Die  Unterdrückung 
von  i  in  g' irai  un,d  g'iroie  (V.  12914)  ist  nicht  nur  'nicht  ganz  selten',  son- 
dern ziemlich   häufig,   s.  meine  Anmerkung  zum   'Ritter   mit   dem   Fäßlein' 

V,  382.  Die  Meinung  von  Suchier,  daß  Marti»  in  der  Redensart  chanter 
d'mdre  Martin  aus  matire  entstellt  sei  (V.  14959)  hat  wenig  Wahrscheinlich- 
keit für  sich,  schon  weil  parier  d'autre  Bernart  in  gleichem  Sinne  daneben- 
steht, 8.  Rom.  de  Renart  ed.  Martin  I,  52  V.  1853  und  M.-R.,  Rec.  III,  259. 
Es  ist  nicht  ersichtlich,  wie  man  sich  den  Sinn  vorzustellen  habe,  wenn  in 
V.  16606  trousse  als  Attribut  zu  d'or  et  d'argent  gefaßt  werden  soll  (s.  S.  48). 
—  Das  Wortmaterial  der  Anhänge  ist  nicht  in  das  Glossar  einbezogen 
worden,  deshalb  sei  hier  besonders  auf  das  interessante  espiex  easerex 
(S.  350  V.  82)  aufmerksam  gemacht.  —  Im  Index  wird  grant  colp  in  ferir 
gr.  c.  als  Acc.  graecus  hingestellt ;  das  ist  nicht  zutreffend,  auch  wird  in  der 
Anm.  der  Akkus,  nicht  so  bezeichnet.  Es  fehlt  'Dativus  ethicus',  s.  Anm. 
zu  V.  15735.] 

Bartsch,  K.,  Chrestomathie  de  l'ancien  francais  (VIII^  —  XV«  siecles) 
accompagnee  d'une  grammaire  et  d'un  glossaire.  Douzieme  edition  entiere- 
ment  revue  et  corrigee  par  Leo  Wiese.  Leipzig,  F.C.W.  Vogel,  1920.  XII, 
548  S.  M.  24,  geb.  M.  28.  [Die  sehr  verdienstliche  Neubearbeitung,  über 
deren  frühere  Ausgaben  ich  schon  in  der  Deutschon  Literaturzeitung  von 
1909  Sp.  1448—9  und  1911  Sp.  933—4  berichtet  habe,  liegt  hier  in  12.  Auf- 
lage, leider  zu  recht  hohem  Preise  vor.  Daß  keine  Anordnung  nach  litera- 
rischen Gattungen  vorgenommen  ist,  bleibt  ein  gewisser  Übelstand,  auf  den 
ich  schon  früher  hingewiesen  habe,  der  sich  aber  nun  wohl  nicht  mehr  ändern 
läßt.  Es  sind  einige  neuerschienene  kritische  Texte  verwertet  worden,  sonst 
weist  diese  Auflage  nur  wenige  Veränderungen  gegenüber  der  10.  und  11. 
auf.  Immerhin  würde  sich  doch  eine  nochmalige  Durchsicht  einzelner  Texte 
empfehlen.  Ich  greife  zur  Probe  n»  19  (Aliscans)  heraus.  V.  17  erfährt  der 
Studierende  weder  unter  quel  noch  unter  la  (die  Stelle  fehlt  im  'Tableau') 
etwas  zum  Verständnis  von  qiiel  la  feres?  Die  Schreibung  parestes  und  die 
Ansetzung  von  parestre  im  Glossar  sind  zu  mißbilligen,  schreibt  doch  W. 
selbt  24,  264  richtig  getrennt  tant  par  esteit  und  führt  die  Stelle  unter  par 
auf,  wohin  auch  die  anderen  unter  parestre  stehenden  gehören.  In  V.  47 
und  50  ist  trotz  der  Diskrepanz,  l'aloses  und  gi/es  mit  den  Hss.  und  der 
Hallenser  Ausgabe  beizubehalten.  In  V.  57  (co?«'  home  forsenex)  wie  auch 
sonst  folgt  W.  für  com'  der  Försterschen  Schreibregel,  s.  zur  Karre  16  und 
Iwain,  Kl.  Ausg.^  zu  24.  Es  würde  hier  zu  weit  führen,  zu  zeigen,  daß  diese 
Regel  auf  schwachen  Füßen  steht,  und  ich  muß  mich  darauf  beschränken,  zu 
fragen,  warum  denn  nicht  bei  or,  wo  Förster  doch  auch  or'  verlangt,  das 
gleiche  Verfahren  beobachtet  ist.  V.  99  streiche  man  das  Komma  zwischen 
las  und  dolant,  denn  es  handelt  sich  um  asyndetische  Paarung  (s.  Tobler, 
VB  112,  \Ql)^  die  sehr  enge  ist  und  keine  Trennung  verträgt;  17,  62  wird 
richtig  las  caitis  geschrieben.  V.  215  ist  nicht  verständlich;  die  Stelle  fehlt 
im  Glossar  unter  si(se).  Hat  man  etwa  n'aie  für  s'aie  zu  schreiben?  V.  323 
sehen  wir  Martin  richtig  groß  geschrieben,  während  es  im  Glossar  klein  er- 
scheint und  sonderlicherweise  mit  'Idee',  'sujet'  erklärt  wird.    Die  Form  vi, 


324  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

die  V.  543  als  3.  sg.  Perf.  auftritt,  fehlt  im  Tableau.  Beim  V.  3  wäre  zu 
erwägen,  ob  man  mit  L  allein  für  das  arestes  der  anderen  Hss.  wirklich 
arouies  zu  schreiben  habe,  wie  es  W,  tut.  Tobler  glossiert  im  Wörter- 
buch unter  arester  diese  Stelle  mit  'besetzen'.  Allerdings  heißt  es  auch 
V.  46  c?s  paietis  est  li  cans  arotes;  das  haben  die  meisten  Hss.  (Ab  wieder 
arestes),  und  Tobler  sagt  für  diese  Stelle  'mit  Gruppen  füllen',  setzt  aber  ein 
Fragezeichen  hinzu.  Er  führt  noch  eine  Stelle  aus  Aliscans  an:  des  abatus 
est  li  chans  aroutes;  es  ist  V.  5303  der  Hallenser  Ausgabe,  und  dort  schreiben 
die  Herausgeber  mit  den  meisten  Hss.  arestes.  Schwierigkeiten  bereitet  auch 
V.  191.  Daß  este  hier  'Standort'  heißen  könnte,  wie  im  Glossar  frageweise 
gedeutet  wird,  scheint  mir  kaum  möglich,  da  man  mindestens  ein  Possessiv 
erwarten  würde.  Das  Natürlichste  ist  doch,  es  zu  plaine  lance  zu  ziehen, 
und  vielleicht  heißt  es  'aufgerichtet'  wie  im  'Aquin',  wo  es  Godefroy  mit 
'syn.  de  hauteur'  glossiert,  also  'eine  aufgerichtete  Lanze',  d.  h.  'eine  Lanze 
in  ihrer  ganzen  Länge' ;  auch  die  Var.  dester  (=  d'ester)  dürfte  dafür  sprechen, 
vgl.  soi  lerer  en  ester  im  Crestien-Wörterbuch.  —  Ziemlich  störend  ist  es, 
daß  sowohl  im  Glossar  wie  im  Eigennamenverzeichnis  W.  lange  nicht  überall 
da,  wo  nicht  alle  Belegstellen  geboten  sind,  ein  'etc.'  gesetzt  hat.  Im  Vorbei- 
gehen sei  noch  bemerkt,  daß  V.  191  eine  Silbe  zu  wenig  hat;  bei  du  Meril 
S.  214  heißt  es:  tu  es  mes  homs  de  moti  fie  a  tenir.  —  Bedauerlich  ist  es, 
daß  das  Buch  das  französische  Gewand  hat  behalten  dürfen,  und  noch  be- 
dauerlicher, daß  ein  deutscher  Mann  einen  solchen  Satz  wie  den  letzten  der 
Vorrede  gegenwärtig  zu  schreiben  vermag.] 

Beihefte  zur  Zeitschrift  für  romanische  Philologie  no  53:  Eine  altfranzö- 
sische Fassung  der  Johanneslegende,  hg.  von  A.  Hub  er.  —  Eine  gereimte 
altfranzösisch-veronesische  Fassung  der  Legende  der  hl,  ^.atharina  von  Alexan- 
drien,  hg.  von  H.  Breuer.     Halle,  Niemeyer,  1919.     287  S.     M.  24. 

Walberg,  E.,  Data  et  source  de  la  vie  Saint  Thomas  de  Cantorbery  par 
Benet,  moine  de  Saint-Alban.  S.-A.  aus  Romania,  janvier — octobre  1916. 
22  S. 

Walberg,  E.,  Sur  l'authenticite  de  deux  passages  de  la  Vie  de  Saint 
Thomas  le  Martyr  par  Guemes  de  Pont-Sainte-Maxence.  S.-A.  aus  den  Neu- 
philologischen Mitteilungen,  hg.  vom  Neuphilologischen  Verein  in  Helsing- 
fors  1919,  no  5,  S.  64—76. 

Franz,  A.,  Ziir  galloromanischen  Syntax.  Jena  und  Leipzig,  Gronau, 
1920.  128  S.  Supplementheft  X  der  Zeitschrift  für  französische  Sprache  und 
Literatur. 

Repetitorien  zum  Studium  altfranzösischer  Literaturdenkmäler,  hg.  von 
K.  V.  Ettmayer,  no  1:  K.  v.  Ettmayer,  Der  Rosenroman  (erster  Teil).  Sti- 
listische, grammatische  und  literarhistorische  Erläuterungen  zum  Studium  und 
zur  Privatlektüre  des  Textes.  Heidelberg,  C.  Winter,  1919.  42  S.  M.  1,20. 
[Das  Büchlein  ist  nicht  zu  empfehlen,  schon  weil  die  offenbare  Eile,  mit  der 
es  dem  Markte  zugeführt  werden  sollte,  eine  ganze  Reihe  schwerer,  sonder- 
barer und  für  einen  Studierenden  besonders  gefährlicher  Interpretationsfehler 
hervorgerufen  hat.  Bacins  soll  nicht  'Becken'  heißen,  sondern  eine  lothrin- 
gische Entsprechung  für  afrz.  baucent  darstellen,  par  eoiive?it  soll  'offenkundig' 
heißen,  ores  'beinahe',  en  cele  'was  diese  betrifft',  en  toutes  cors  'vor  allen 
anderen'.  S.  18  ist  von  Formen  wie  comans  für  cotnatit  die  Rede,  und 
diesen  wird  auch  ves  für  vois  =  'ich  gehe'  beigezählt,  wiewohl  es  doch  eben 
vorher  unter  die  'alten  sigmatischen  Formen'  gestellt  wurde.  Ebenda  wird 
larder  als  dialektisch  für  ardoir  resp.  ardre  bezeichnet,  und  dann  heißt  es: 
'es  scheint  normannischer  Herkunft  zu  sein  und  steht  sichtlich  unter  volks- 
etymologischem Einfliiß  von  lard  "Speck",  etwa  in  der  Bedeutung  "rösten";' 
es  ist  einfach  eine  Ableitung  von  lard,  bedeutet  'durchbohren'  und  ist  keines- 
wegs dialektisch,  s.  zuletzt  Archiv  137,  233.  Zum  V.  1554  lors  perent  colors 
plus  de  Cent  wird  S.  35  gesagt:  'Die  im  Texte  gebotene  Orthographie  colors 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  325 

läßt  sich  zwar  syntaktisch  rechtfertigen,  doch  ist  die  Auffassung  von  eolor 
als  Subjekt  wohl  besser'  (!),  als  ob  nicht  eolor  Femininum  und  colors  die 
regelrechte  Form  des  Nom.  Plur.  wäre.  Auch  S.  17  traut  man  seinen  Augen 
nicht  recht,  wenn  man  liest:  'In  V.  3398  im  baisier  de  la  rose  ist  der  Dichter 
wohl  aus  dem  Bilde  gefallen  und  vergißt,  daß  der  amant  zwar  die  Rose, 
diese  aber  nicht  ihn  küssen  kann'.  Die  Stelle  V.  1112—3  (s.  S.  17)  ist  ganz 
mißverstanden  worden.  In  trop  li  fesoii  Amors  mal  traire  (Y.  3316)  soll 
li  Dat.  ethicus  sein  (S.  17),  usw.  Die  dem  zu  V.  1.509  Gesagten  gegebene 
Fassung  (S.  34)  ist  unverständlich.  Vom  Texte  erhalten  wir  die  Verse 
1433 — 1610  samt  einer  phonetischen  Transkription;  letztere  war  viel  weniger 
am  Platze  als  eine  sorgfältige  Interpretation  (V.  1451,  1544,  1548  z.  B.  sind 
unerläutert  geblieben).  Ganz  eigentümliche  Anforderungen  an  das  Vor- 
stellungsvermögen des  Lesers  werden  mit  folgendem  Satze  gestellt:  'Ent- 
sprechend diesem  Gesamtcharakter  der  Darstellung  ist  auch  der  logische  Auf- 
bau der  einzelnen  Sätze  vor  allem  von  einer  wandernden  Aufmerksamkeit 
getragen,  die  in  ruhigem  Gange,  Glied  an  Glied,  die  einzelnen  Bilder,  aus 
denen  der  Roman  im  wesentlichen  besteht,  analysiert.'  Das  zur  Metrik 
(S.  41)  Vorgetragene  übergeht  man  am  besten  mit  Stillschweigen  Es  ver- 
steht sich,  daß  der  Ausdruck  'Objektoi'd'  nicht  fehlt,  aber  eine  Erklärung  für 
den  Studierenden  wird  nicht  als  nötig  erachtet.  Unter  den  zahlreichen  Druck- 
fehlem wirkt  'Enklyse'  (S.  42)  etwas  peinlich.] 

Französische  und  englische  Schulbibliothek,  hg.  von  Eug.  Pariselle  und 
H.  Gade: 

Reihe  A.:  Bd.  203.  C.  Guv,  Extraits  de  memoires  historiques,  hg.  von 
0.  Wiese.     Mit  13  Plänen.     Leipzig,  Renger,  1920.    VII,  104  S.    M.  1,60. 

Reihe  A.:  Bd.  206.  H.  de  Balzac,  Eugenie  Grandet,  hg.  von  Eug.  Pari- 
selle.    Leipzig,  Renger,  1920.    IX,    133  S.     M.  1,30. 

Reihe  A. :  Bd.  207.  Conteurs  modernes  IV.  Ausgewählte  Erzählungen 
von  Normand,  France,  Coppee,  Maupassant,  Daudet,  Claretie, 
hg.  von  K.  Wimmer.     Leipzig,  Renger,,  1920.    98  S.     M.  1,30. 

Reihe  B.:  Bd.  33.  Eug.  Lab i che  et  Ed.  Martin,  Le  voyage  de  Monsieur 
Perrichon,  comedie  en  quatre  actes,  hg.  von  E.  Leitsmann.  Leipzig,  Renger, 
1920.    XII,  80  S.    M.  1,10. 

Reihe  B. :  Bd.  34.  M.  Maeterlinck,  L'oiseau  bleu,  feerie  en  douze  ta- 
bleaux,  hg.  v.  Hönn.     Leipzig,  Renger,  1920.     VIII,  114  S.    M.  1,30. 

Engel,  E.,  Frankreichs  Geistesführer.  Achtzehn  Charakterbilder.  Fünfte 
neubearbeitete  Auflage  von  des  Verfassers  'Psvchologie  der  französischen 
Literatur'.     Halle,  Diekmann,  1920.    242  S.    M.'7,50. 

Marx,  L.,  Wie  ist  die  Aussprache  des  Französischen  zu  lehren?  Mainz, 
Prickarts,  1919.     28  S. 

de  Beaux,  Th.,  Französische  Handelskorrespondenz.  Zweite  vermehrte 
Auflage.  Sammlung  Göschen  n»  183.  Berlin  und  Leipzig.  Verein  wiss. 
Verleger,  1919.     135  S.     M.  1,60. 

Provenzalisch. 

Der  Trobador  Cadenet,  hg.  von  C.  Appel.  Halle,  Niemej^er,  1920.  123  S. 
M.  14  [s.  S.  288]. 

Italienisch. 

Walser,  E.,  Studien  zur  Weltanschauung  der  Renaissance.  Basel,  Schwabe, 
1920.  37  S.  [Die  Historiker  sind  seit  einiger  Zeit  damit  beschäftigt,  die  An- 
schauungen über  Renaissance,  wie  sie  Jakob  Burckhardt  geprägt  hatte,  zu 
revidieren.  Die  'Kultur  der  Renaissance'  Avar  ein  genialer  Wurf  mit  der 
genialen  Einseitigkeit  und  Systematisierung  des  Künstlers.  Die  Jünger 
Burckhardts  haben  das  System  ohne  die  Kunst  des  Meisters  triviali- 
siert.    Dagegen    wandte   sich  die  Reaktion  der  Historiker,    und   in    diesen 


326  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften 

Rahmen  gehören  die  Studien  W.8.  Er  weist  nach,  wie  unendlich  kompli- 
zierter alles  liegt,  als  man  früher  annahm ;  er  zeigt,  wie  wenig  begründet  die 
gröblich  verallgemeinerte  Annahme  der  verminderten  Rechtgläubigkeit  ist, 
wie  die  kritische  Fähigkeit  der  Humanisten  durchaus  überschätzt  wird,  und 
wie  ihre  antikuriale  Tendenz  zu  etwas  Neuem,  Bahnbrechendem  gefärbt  wird. 
'Es  kommt  mir  vor  allem  darauf  au,  zu  betonen,  daß  von  einer  allgemeinen 
Humanistenreligion,  zusammengesetzt  aus  Skepsis  und  schöngeistigem 
Asthetentum,  einer  allgemeinen  Renaissance-Indifferenz  und  Renaissance- 
Skepsis  keine  Rede  sein  kann.'  Es  ist  ein  Verdienst,  daß  hier  ein  Literar- 
historiker den  Literarhistorikern  predigt,  daß  Einheitlichkeit  des  Gesehenen 
leicht  Oberflächlichkeit  des  Sehenden  sein  kann.  Historisch,  kunstgaschicht- 
lich  und  philologisch  fundiert,  wirken  W.s  Ausführungen  überzeugend,  dazu 
ein  kluger  und  gepflegter  Stil.  Wenn  er  S.  6  ff.  die  Durchschnittsanschau- 
ung über  Renaissance  ironisirend  darstellt,  so  ist  das  sein  gutes  Recht,  aber 
die  Wendung  S.  8  von  verheirateten  Frauen,  die  'ihr  eheliches  Kreuz  an  den 
Nagel  hängen',  ist  ein  verunglücktes  Bild,  auch  wenn  wir  der  Ironie  noch 
80  freien  Lauf  lassen.     H.  Geizer.] 

Levy,  A.,  Le  Palatali  piemontesi.     Torino,  Fratelli  Bocca,  1918,  279  S. 

Spanisch. 

Spanien,  Zeitschrift  für  Auslandkunde,  Organ  des  Verbandes  Deutsch- 
land-Spanien, hg.  vom  Ibero-amerikanischen  Institut  Hamburg.  Schriftleitung 
B.  Schädel.  Jahrg.  I,  Heft  3,  1919  [Fr.  Grandmontagne,  Spanier  und 
Deutsche  in  Südamerika  (deutsch  von  E.  Großmann).  —  A.  Reiff,  Die  An- 
fänge der  Oper  mit  Textproben.  —  W.  Mulertt,  Der  Amadisroman  und  seine 
zweite  Heimat.  —  Gräfenberg,  Juan  Valera,  Romanschriftsteller  und  Diplo- 
mat. —  H.  J.  Obrem,  Johannes  Fastenrath  und  seine  spanischen  Freunde.  — 
Mitteilungen  aus  dem  Wirtschaftsleben.  —  Mitteilungen  aus  dem  kulturellen 
Leben.  —  Neuerscheinungen.  —  Mitteilungen  des  Verbandes].  Jahrg.  II, 
Heft  1/2.  1920.  Schriftleiter  F.  Krüger  [Geleitwort.  —  A.  Castro,  Der  Fort- 
schritt der  Wissenschaft  im  heutigen  Spanien.  —  M.  Artigas,  Ein  unbekanntes 
spanisches  Gedicht  aus  dem  Mittelalter  (Madrid).  —  A.  Salazar  und  Reiff, 
Das  Musikjahr  1918/1919  in  Madrid.  —  Gertrud  Richert,  Spanische  Gemälde 
in  deutschen  Galerien.  —  Mitteilungen  aus  dem  Wirtschaftsleben.  —  Mit- 
teilungen aus  dem  kulturellen  Leben.  —  Neuerscheinungen.  —  Deutsche 
Zeitschriftenschau.  —  Eingetroffene  Schriften.  —  Mitteilungen  des  Verbandes]. 

Ruppert,  R.,  Die  spanischen  Lehn-  und  Fremdwörter  in  der  französi- 
schen Sprache.  München,  Lindauer,  1920.  320  S.  M.  16,50.  [Der  Verfasser 
hat  das  Unglück  gehabt,  daß  während  des  Dnickes  seines  Buches  die  Arbeit 
von  W.  Fritz  Schmidt,  'Die  spanischen  Elemente  im  französischen  Wortschatz', 
Beiheft  54  zur  Zeitschrift  für  romanische  Philologie,  erschien.  Bei  einem 
vergleiche  schneidet  R.  nicht  allzu  günstig  ab.  Die  Einteilung  und  Formu- 
lierung bei  Schmitz  ist  sorgsamer  und  zweckmäßiger.  Wenn  R.  300  Aus- 
drücke mehr  aufführt,  so  liegt  das  z.  T.  auch  an  der  Art  der  Zählung. 
Z.  B.  bringt  R.  das  Wort  friser,  dessen  Entstehung  selbst  durchaus  fraglich 
ist,  dazu  9  Wörter:  frisage,  frise,  frisette,  friseur,  friseiise,  frisoir,  frison, 
frisotter,  frisure  als  weitere  Lehnwörter,  wo  es  sich  doch  bloß  um  von  friser 
abgeleitete  französische  Bildungen  handelt.  Die  Etymologie  nimmt  bei  R. 
einen  größeren  Raum  ein  als  bei  Schmidt,  nicht  immer  glücklich  und  nicht 
immer  mit  voller  Kenntnis  der  Literatur:  Bei  canot  S.  113  fehlt  der  Verweis 
auf  Wiener,  Zeitschrift  33,  523  ff.,  der  einen  bloßen  Lesefehler  annimmt;  bei 
dague  S.  55  keine  Berücksichtigung  von  Schuchardts  daca,  dakisches  Messer; 
bei  mais  S.  146  wäre  auf  Spitzers  Arbeiten  zu  verweisen  gewesen.  So  ist 
das  fleißige  Buch  eigentlich  schon  bei  seinem  Erscheinen  überholt  gewesen; 
aber  zur  Ergänzung  des  Schmidtschen  Buches  wird  man  es  gelegentlich  nicht 
ohne  Nutzen  heranziehen  können.   H.  Geizer.] 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften  327 

Ruppert,  R.,  Spanisches  Lesebuch  für  Anfänger  und  Fortgeschrittene. 
München,  Lindauer,  1920.  142  S.  M.  4,40.  [Der  Stoff  ist  gut  ausgewählt 
und  im  ganzen  geschickt  angeordnet.  Der  Abschnitt  lesos  y  costumbres  wäre 
besser  ans  Ende  gesetzt  worden,  da  er  inhaltlich  der  schwerste  ist.  Auch 
sind  für  diesen  die  Anmerkungen  sicherlich  zu  knapp  bemessen;  z.  B.  bleiben 
Wörter  wie  jamelgos  (88,  21),  juerga  (95,  28)  unglossiert.  Überhaupt  sind 
die  Anmerkungen  wenig  gleichmäßig  gehalten,  indem  Leichtes,  AA^ie  z.  B. 
ecear  ocupado  (9,  29)  berücksichtigt,  Entlegeneres  aber  nicht  erklärt  worden 
ist.  Die  Wiedergabe  von  poner  coche  mit  'sich  einen  Wagen  anlegen'  statt 
'einen  Wagen  anspannen'  ist  kein  Deutsch.] 

Rumänisch. 

Gamillscheg,  E.,  Oltenische  Mundarten.  Akad.  d.  Wissenschaften  in 
Wien.  Philos.-hist.  Kl.  der  Sitzungsberichte.  190.  Bd.,  3.  Abhandlung.  Wien, 
Holder,  1919.   116  S. 

Varia. 

Wissenschaftliche  Forschungsberichte,  hg.  von  K.  Hönn.  No.  IV:  E.  Ho- 
wald,  Griechische  Philologie.     Gotha,  Andreas  Perthes,  1920.     72  S. 

Folklore  Argentino.  IL  R.  Lehmann-Nitsche,  El  Retajo.  Buenos 
Aires,  1914.  Boletin  de  la  Academia  Nacional  de  Ciencias  de  Cordoba. 
tomo  XX,  paginas  151 — 234. 

Kroll,  W.,  Geschichte  der  klassischen  Philologie.  Zweite  verbesserte 
Auflage.  Sammlung  Goeschen  No.  367.  Berlin  und  Leipzig,  Verein,  wiss. 
Verleger,  1919.  148  S.  M.  1,60.  [Sehr  lebendig  und  klar  geschriebene  Dar- 
stellung mit  wohlüberlegter  Auswahl  und  übersichtlicher  Anordnung  des 
Stoffes,  sowie  steter  Beiücksichtigung  der  großen  geistigen  Bewegungen. 
Das  Buch   hat   natürlich  auch  für  den  Romanisten  nicht  geringes  Interesse.] 


Zu  Huracan,  Arch.  139,  p.  217  ff. 

Infolge  postalischen  Versehens  hatte  ich  nicht  selbst  Gelegenheit,  den 
Druckbogen  zu  meinem  Aufsatze  durchzusehen.  Ich  habe  die  Absicht  ge- 
habt, in  der  Korrektur  noch  bezüglich  der  ältesten  deutschen  Belege  des 
Wortes  Orkan  auf  Kluge,  Seemcmnssprache  S.  598  hinzuweisen.  Der  dort 
gegebene  älteste  Nachweis  ist  von  1645  (Mandelslow  Reise  S.  24:  Hercan). 
Im  übrigen  bleibt  Huracan  im  Amadis  von  1590  noch  immer  über  50  Jahre 
älter. 

Ich  habe  weiterhin  vor,  p.  219  Anmerkung,  den  zusammenfassenden  Auf- 
satz: 'Der  Amadisroman  und  seine  xtveite  Heimat',  Spanien  I,  p.  194 — 201, 
der  inzwischen  erschienen  ist,  zu  nennen. 

p.  220  lies  Moldaüien  statt  Moldaiiien.  W.  Mulertt. 

Berichtigung  zu  Arch.  139,  S.  270. 

Bei  der  Anzeige  von  Zund-Burguets  Exercices  pratiques  . . .  bemerkte  ich, 
daß  die  Bezeichnung  'zweite  Auflage'  nicht  gerechtfertigt  wäre.  Es  liegt 
aber  in  der  Tat  eine  zweite  Auflage  von  einem  i.  J.  1906  erschienenen  Buche 
vor.  Der  Irrtum  entstand  dadurch,  daß  der  Verlag  die  undatierte  Vorrede 
des  Verfassers  zur  ersten  Auflage  hat  stehen  lassen,  in  welcher  von  den 
i.  J.  1901  erschienenen  'Praktischen  Übungen  zur  Aussprache  des  Französi- 
schen' die  Rede  ist,  Herr  Wengler  aber,  der  Bearbeiter  der  2.  Auflage,  es 
nicht  für  nötig  befunden  hat,  eine  den  Benutzer  orientierende  Vorrede  seiner- 
seits anzuschließen.  Sch.-G. 


LESEBÜCHER 


aus  dem  Verlage 
Georg  Westermann,  Braunschweig  und  Hamburg 

•• 

'17'/^'I3C'^|^|^"''0  English  Authors.  With  biographical  notices. 
-i-  Vr  XA.O  X  XjXX  On  the  basis  of  a  selection  by  Ludwig  Herrig,  ed. 
by  M.  Förster,  Prof.  in  the  iiniversity  of  Leipzig.  Abr.  editionof  Herrig- 
Förster,  British  classical  authors.    5.  Auflage,    In  Leinwand  geb.  M.  13, — 

Tj^/^'DC!nnij^T3  English  Poems.  With  biographical  notices. 
X  V/X\0  X  XjXV  On  the  basis  of  a  selection  by  Ludwig  Herrig, 
edited  by  Max  Förster,  Prof.  in  the  university  of  Leipzig.  Kartoniert  M.4,50 

'C'/^X^Orill^T^  English  Prose.  With  biographical  notices. 
X  Vr  X\l3  X  XjX\  On  the  basis  of  a  selection  by  Ludwig  Herrig, 
ed.  by  M.  Förster,  Prof.  in  the  university  of  Leipzig.    Gebunden  M.  6, — 

TJl?r>r>II^  T?/\"DGT^"tr'l>  British  classical 
Ol^ltxlllj-rUltÖlrjil  authors.  Withbiogra- 
phical  notices.  On  the  basis  of  a  selection  by  L.  Herrig,  ed.  bei  M.  Förster, 
Prof.  in  the  university  of  Leipzig.  96.  Aufl.  In  einen  Band  geb.  M.  20,— 
in  zwei  Bände  geb.  M.  24, — .   Jeder  Band  einzeln,  vornehm  geb.  M.  13, — 

The  Robinson   Reader.     Lehr- 
gang   der    englischen    Sprache    im 
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R6mani6e  par  Henri  Bornecque,  Docteur  ös  Lettres,  Professeur  ä  l'Uni- 
versit6  de  Lille.  Avec  notes  explicatives.  In  einen  Band  geb.  M.  15,—, 
in  zwei  Bände  geb.  M.  18,—.  Einzelpreis  für  Bd.  I  M.  8,—,  für  Bd.  II  M.  11,— 

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JlriKKllj-Jr  AKlÖJtliljljri       Edition  abr^g^. 
Morceaux    choisis    des    grands    6crivains    frangais   du   XVII  e   au   XIX  ^ 
siecle.   Par  Eugene  Pariselle,  Docteur  en  philosophie,  Professeur  ä  l'aca- 
dömie  royale  de  guerre  et  ä  l'acadömie  techn.  milit.   4.  Aufl.    Geb.  M.  10,— 

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dans  les  meilleurs  6crivains  frangais,  notes,  vocabulaire,  table  alphab^tique, 

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wärtige Teuerungszuschlag   hinzuzurechnen 


Prüfungsexemplare  stehen  auf  Wunsch  zu  ermäßigten  Preisen  zurVerfügung 


ARCHIV 

FÜR  DAS  STUDIUM  DER  NEUEREN 
SPRACHEN  UND  LITERATUREN 


BEGRÜNDET  VON  LUDWIG  HERRIG 

HERAUSGEGEBEN  VON 

ALOIS   BRANDL  UND   OSKAR   SCHULTZ -GORA 


DEUTSCHES  SONDERHEFT 


BRAUNSCHWEIG   UND  BERLIN 

DRUCK  UNDVERLAG  VON   G E O R G  WE  S T E R M A N N 
1920 


Inhalt 

Deutsches  Sonderheft 

Schluß  der  Eedaktion:  Ende  Februar  1920 


Abhandlungen 


Seite 
M.  J.  Deuschle,   Bas   Aufleben   der  Literatur   des  17.  Jahrhunderts   im 

Zeitalter  der  Romantik 1 

Wolf  gang  Stammler,  Claudius  und  Gerstenberg 21 

Johann  Hankiss,  Diderot  und  Herder 59 

Albert  Leitzmann,  Goethes  älteste  Gedichtsammlung 75 

Albert  Ludwig,  Schlemihle 95 

H.  L.Stoltenberg,   KebentonstUrken.  Eigene   Lehre   und  ihre  Stellung 

zu   S.  Behn,  'Der  deutsche  ßhythmus' 136 


Kleinere  Mittellungen 

Zur  Frage  der  Sesenlieimer  Lieder.     Von  R.  Ballof 155 

Über  die  'Sizilianische  Vesper'  von  J.  M.  R.  Lenz.     Von  R.  Ballof    .     .     156 


Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahr- 
hunderts im  Zeitalter  der  Romantik. 

Für  die  Entwicklung  des  deutschen  Volksbewußtseins  sind  die 
Bestrebungen  der  Romantiker  von  eingreifender  Bedeutung 
sowie  von  nachhaltigem  Einfluß  gewesen.  Wenn  sie  den  ideellen 
Bedürfnissen  eines  Volkes  genügen  soll,  muß  die  Kunst  seinem 
inneren  Leben  Ausdruck  verleihen.  Dafür  muß  sie  das,  was  auf 
eigenem  Boden  gewachsen  ist,  sorgfältig  pflegen  und  vor  Unkraut 
bewahren,  damit  es  sich  immer  reicher  entfalten  kann. 

Die  Dichter  der  Romantik,  besonders  die  jüngeren,  empfanden 
das,  und  weil  sie  selbst  nicht  imstande  waren,  schöpferisch  die 
Forderungen  ihrer  Zeit  zu  erfüllen,  machten  sie  es  sich  zur  Auf- 
gabe, die  verborgenen  Schätze  vergangener  Jahrhunderte  wieder 
ans  Tageslicht  zu  fördern.  Daß  das  Mittelalter  sie  dabei  beson- 
ders anzog,  lag  in  ihrer  ganzen  Veranlagung,  die  sie  alles  am 
liebsten  in  einem  weihrauchduftenden  Nebel,  der  die  scharfen 
Umrisse  der  Gegenständlichkeit  verwischt,  sehen  ließ.  Die  Sagen 
von  König  Artus  und  König  Rother,  die  Geheimnisse  des  Grals, 
die  Mystik  eines  Tauler,  vor  allem  aber  das  Nibelungenlied  ver- 
danken ihr  Wiederaufleben  in  weiteren  Kreisen  dieser  Vorliebe 
der  Romantiker. 

Goethe  hatte  sie  zuerst  auf  das  Einheimische  wieder  aufmerk- 
sam gemacht,^  und  seine  Verehrung  für  Hans  Sachs,  die  sich  am 
schönsten  in  seinem  bekannten  Gedicht  offenbart,  veranlaßte  sie, 
sich  eingehender  mit  diesem  Dichter  und  seiner  Zeit  zu  beschäf- 
tigen. So  tauchen  neben  den  Schwänken  des  Hans  Sachs  die 
Erzählungen  der  alten  Volksbücher,  die  Anekdoten  eines  Wickram, 
Fischarts  lebendige  Sprache,  Frischlins  Poesie  und  Ayrers 
Dramen  aus  dem  Meer  der  Vergessenheit  auf.  Und  merkwürdig: 
auch  eine  Zeit,  die  ihrem  Wesen  nach  den  Romantikern  durch  die 
derbe  Realität  der  Lebensauffassung,  die  überall  aus  ihr  hervor- 
schaut, fremd  sein  mußte,  erweckt  im  Gegenteil  ihr  lebhaftes 
Interesse,  und  so  sehen  wir  manchen  Dichter  des  17.  Jahrhunderts 
in  ursprünglicher  oder  veränderter  Gestalt  den  literarischen  Schau- 
platz des  romantischen  Zeitalters  betreten. 

Unter  diesen  erfreut  sich  Andreas  Gryphius  einer  großen  Be- 
liebtheit. Besonders  sein  Trauerspiel  'Cardenio  und  Gelinde' 
lenkte  durch  seinen  gespenstischen  und  von  altem  Aberglauben 
durchtränkten  Inhalt  die  Aufmerksamkeit  der  Romantiker  auf 
sich.      Als    Achim    von   Arnim    1804   in   Ziebingen^    mit   Tieck 


i 


1  Vgl.  Tiecks  Vorrede  zu  seinem  'Deutschen  Theater'  Bd.  I,  S.  13. 

2  Ziebingen  bei  Frankfurt  a.  d.  0.  gehörte  der  gräflich  Finkensteinischen 
Familie.    Arnim  und  Brentano  hatten  dort  eine  Begegnung  mit  Tieck,  bevor 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    Sonderheft.  ^ 


2         Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrh.  im  Zeitalter  der  Romantik 

zusammentraf,  betont  er  bereits,  daß  er  Gryphius  bearbeiten 
wolle,  und  ein  Jahr  später  schreibt  er  an  Brentano:  'Ich  bin  nicht 
müßig  gewesen;  Flemming,  Opitz,  Tscherning,  Lohenstein,  Logau, 
Frischlin  und  die  beiden  Gryphius  liegen  mir  zu  Füßen.  Car- 
denio  und  Gelinde  habe  ich  Lust  neu  herauszugeben,  es  ist  durch- 
aus einzig  und  vortrefflich  auf  der  deutschen  Bühne.'^  Für  diese 
Ausgabe  plant  er  dann  einige  Änderungen  im  Aufbau  des  Stückes. 
Die  geistige  Verwandtschaft  der  beiden  Dichter  zeigte  sich 
recht  deutlich  in  der  Antwort  Brentanos,  wo  er  seinem  Freunde 
mitteilt,  daß  auch  er  Gryphius  besonders  schätze.  Nicht  allein 
hatte  er  bereits  vor  zwei  Jahren  Meyer^  veranlaßt,  den  'Piast'  zu 
bearbeiten,  sondern  von  ihm  selbst  scheinen  einige  Szenen  aus 
'Cardenio  und  Gelinde',  die  seine  Frau  veröffentlichte,  herzu- 
rühren.^ Sophie  kündigt  in  ihrem  Vorwort  an,  daß  Arnim  das 
Ganze  bearbeiten  werde,  und  hofft  ihn  durch  diese  öffentliche  Mit- 
teilung zu  zwingen,  den  im  vorigen  Brief  geäußerten  Vorsatz  aus- 
zuführen. Sie  sollte  es  nicht  mehr  erleben.  Noch  drei  Jahre 
nach  ihrem  Tode  mußte  Arnim  gestehen,  daß  auch  vom  Gryphius 
noch  nichts  gedruckt  sei.^  Zwar  hatte  er  1808  in  den  'Heidel- 
berger Jahrbüchern'^  die  Herausgabe  einer  alten  deutschen  Bühne, 
die  mit  einer  Auswahl  aus  Andreas  Gryphius  eröffnet  werden 
sollte,  angekündigt,  allein  bei  dieser  Ankündigung  war  es  ge- 
blieben. Daß  seine  Beschäftigung  mit  Gryphius  dennoch  nicht 
ganz  resultatlos  verlaufen  war,  sollte  sich  zeigen.  Sein  Drama 
'Halle  und  Jerusalem'  (1811)  hat  'Gardenie  und  Gelinde'  als 
Grundlage.  Dabei  hat  der  Dichter  es  durch  Änderungen  im  Auf- 
bau des  Stückes,  in  der  Ausführung  der  Gharaktere  sowie  durch 
das  Einflechten  eigener  Jugenderlebnisse  verstanden,  dem  Werk 
eine  größere  dramatische  Wirksamkeit  zu  sichern,  als  die  ur- 
sprüngliche Fassung  von  Gryphius  mit  ihren  lang  ausgesponnenen 
erzählenden  Teilen  sie  besitzt.^ 

er  seine  Reise  nach  Italien  antrat.  Steig:  'Achim  von  Arnim  und  die  ihm 
nahe  standen'  Bd.  I,  S.  123. 

1  Brief  vom  27.  Februar  1805.     Steig  S.  134. 

^  Johann  Friedrich  Meyer,  Senator  zu  Frankfurt  a.  M.,  beschäftigte  sich 
viel  mit  Künsten  und  Wissenschaften,  übernahm  sogar  1803  die  Leitung  des 
Frankfurter  Theaters,  um  ihm  eine  sittliche  Wirksamkeit  zu  sichern.  Un- 
gefähr gleichzeitig  gab  er  dramatische  Spiele  heraus,  unter  denen  sich  nach 
Brentanos  Mitteilung  auch  der  'Piast'  befindet.  Brentano  hatte  ihm  zur 
Bearbeitung  sein  eigenes  Exemplar  geliehen.  Im  selben  Jahre  veröffent- 
lichte er:  'Popiel,  König  von  Polen.    Nach  Andreas  Gryphius.' 

3  Bekanntlich  gab  Sophie  Brentano  1805  die  'Bunte  Reihe'  heraus,  zu 
der  Brentano  und  auch  Arnim  Beiträge  geliefert  hatten. 

*  In  einem  Brief  vom  22.  Oktober  1809  an  Brentano;  vgl.  Steig  S.  261. 

ö  VI.  Intelligenzblatt  der  'Heidelberger  Jahrbücher'  1808. 

^  Einen  ausführlichen  Vergleich  zwischen  den  beiden  Stücken  bringt  Wal- 
ther Bottermann  in  seiner  Dissertation:  'Die  Beziehungen  des  Dramatikers 
Achim  von  Arnim  zur  altdeutschen  Literatur'  (Göttingen  1895)   S.  20 — 42. 


Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrh.  im  Zeitalter  der  Romantik         3 

Auch  Immermann  hat  sich  an  die  Behandlung  dieses  Stoffes 
gewagt.  Von  einer  Verbesserung,  wie  bei  Arnim,  kann  man  hier 
aber  nicht  reden.  Seine  Bearbeitung  forderte  bekanntlich  den 
herben  Spott  Platens  in  seinem  'Romantischen  Ödipus'  heraus. 

Eingehender  als  Arnim  und  Immermann  hat  sich  Tieck  mit 
dem  Studium  der  dramatischen  Literatur  des  16.  und  17.  Jahr- 
hunderts befaßt.  Den  Niederschlag  seiner  Forschungen  bildet  das 
Vorwort  zum  'Deutschen  Theater',  in  dem  er  uns  den  Zustand  der 
damaligen  Bühnenverhältnisse  klar  vor  Augen  führt.  Die  Samm- 
lung enthält  außer  einigen  Fastnachtspielen  von  Hans  Rosenplüt, 
Hans  Sachs  und  Jakob  Ayrer  die  bekanntesten  Pickelherings- 
komödien aus  dem  Anfang  des  17.  Jahrhunderts. 

Hier  erscheint  auch  'Cardenio  und  Gelinde',  das  Tieck  für  das 
beste  Stück  Gryphius'  hielt.  Die  beiden  Lustspiele  'Horribili- 
cribrif  ax'  und  'Peter  Squentz'  hat  er  mit  literarischem  Scharfblick 
ebenfalls  veröffentlicht,  obgleich  er  ihnen,  trotz  ihres  sprudelnden 
Witzes,  persönlich  keinen  Geschmack  abgemnnen  konnte.  Von 
Opitz  wurde  'Daphne'  aufgenommen,  'nicht  sowohl,  weil  sie  an 
sich  merkwürdig  ist,  sondern  damit  der  Leser  sehe,  wie  der  Vater 
unserer  neueren  deutschen  Poesie  diesen  leichten  allegorischen 
Gegenstand,  ein  Gelegenheitsgedicht,  nicht  ohne  Geschicklichkeit 
undAnmuth  behandelt'.-^  Den  Beschluß  der  Ausgabe  bildet  'Ibra- 
him Bassa'.  Dies  ist  Lohensteins  Erstlingswerk  und  hat  als  solches 
noch  nicht  die  gesuchte,  schwülstige  Sprache  seiner  späteren 
Dramen.  Deshalb  und  weil  es  das  kürzeste  der  Lohensteinschen 
Dramen  ist,  hat  Tieck  es  in  seine  Sammlung  aufgenommen. 

Ein  anderer  Dramatiker  des  17.  Jahrhunderts,  Christian  Weise, 
ist  für  Tieck  ebenfalls  nicht  ohne  Bedeutung  geblieben.  In  dem 
zweiten  Band  der  'Bambocciaden'  von  Bernhardi  veröffentlichte  er 
ein  Schauspiel  'Die  Verkehrte  Welt'. ^  Es  ist  ein  satirisches  Possen- 


^  Vgl.  Tiecks  Vorwort  zum  2.  Band  S.  10.  Es  wurde  zur  Hochzeit  des 
Landgrafen  Georg  von  Hessen  mit  Sophie  Eleonore  von  Sachsen  als  Oper 
aufgeführt.  Heinrich  Schütz  hatte  die  Komposition  dazu  gemacht.  1627 
erschien  es  bei  David  Müller  in  Breslau. 

*  August  Ferdinand  Bernhardi  war  der  Lehrer  und  Freund  des  jungen 
Tieck  und  wurde  später  durch  seine  Heirat  mit  dessen  Schwester  Sophie 
sein  Schwager.  Die  'Bambocciaden'  sind  Novellen  und  satirische  Dramen, 
die  er  in  einer  Sammlung  unter  diesem  Titel  herausgab.  Sie  haben  mehr 
literarhistorischen  als  dichterischen  Wert.  Tieck  hat  auch  Beiträge  dazu 
geliefert.  So  schrieb  er  ihm  zuerst  die  launige  Vorrede  zum  ersten  Band 
und  überließ  ihm  dann  die  'Verkehrte  Welt'  (1799,  im  zweiten  Band).  Er 
hatte  sie  zuerst  für  die  Sammlung  'Straußfedern'  von  Nicolai  bestimmt 
gehabt,  trat  sie  dann  aber,  als  Nicolai  sie  ihm  zurückschickte,  auf  Bern- 
hardis  Wunsch  für  die  'Bambocciaden'  ab.  Der  Eahmen  für  das  Werk  war 
nicht  glücklich  gewählt,  weder  in  der  ersten  noch  in  der  zweiten  Sammlung, 
denn  der  poetische  Wert  der  'Straußfedern'  ist  ebenso  gering  wie  der  der 
'Bambocciaden'. 


4         Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrh.  im  Zeitalter  der  Romantik 

spiel,  und  der  Titel  'ein  historisches  Schauspiel'  soll  schon  das 
Satirische  zum  Ausdruck  bringen.  Später  wurde  es  in  den  Than- 
tasus'  aufgenommen,  wo  wir  in  der  Rahmenerzählung  folgenden 
Quellennachweis  finden:  'Im  Zittauischen  Schultheater,  fuhr 
Manfred  fort,  fand  ich  eine  Komödie  mit  dem  Titel:  "die  ver- 
kehrte Welt";  beym  Lesen  erzeugte  sich  in  mir  gegenwärtige,  in 
welcher  ich  aber  nur  einen  Einfall  von  dem  alten  Rector  Weise 
geborgt  habe.' 

Es  ist  hier  die  Rede  von  einem  Lustspiel  Weises:  'Die  Ver- 
kehrte Welt',  das  als  drittes  Stück  in  der  'Neuen  Jugendlust' 
1684^  erschien.  Die  obigen  Worte  Tiecks  stimmen  aber  nicht 
ganz,  denn  aus  einem  näheren  Vergleich  der  beiden  gleichnamigen 
Schauspiele  ergibt  sich  eine  größere  Abhängigkeit  Tiecks  von 
Weise,  als  er  selbst  eingesteht.  Der  Hauptinhalt  ist  allerdings  ganz 
verschieden.  Weise  führt  uns  einen  Landrichter,  Alamode,  vor, 
der  in  verschiedenen  Fällen  ein  Urteil  aussprechen  soll.  Er  ver- 
urteilt dabei  jedesmal  gerade  diejenige  Partei,  deren  Unschuld 
und  Recht  auf  der  Hand  liegt.  Das  führt  zu  verwickelten  und 
gleichzeitig  erheiternden  Situationen.  Der  'verkehrte'  Richter 
treibt  sein  Wesen  so  lange,  bis  er  von  Apoll  schließlich  seines 
Amtes  entsetzt  wird. 

Tiecks  Possenspiel  ist  eine  literarische  Zeitsatire,  in  derselben 
Art  wie  seine  Märchenkomödie  vom  Gestiefelten  Kater,  nur  noch 
etwas  verwirrter.  Sehr  geschickt  weiß  er  einige  lustige  Episoden 
aus  Weises  Schauspiel  einzuflechten.  So  verwertet  er  die  Szene, 
wie  der  Hirt  sich  von  den  Schafen  scheren  lassen  muß.  Auch 
einige  Personen,  wie  Apoll  und  Skaramuz,  den  Spaßmacher,  ent- 
lehnt er  aus  Weises  Werk.^ 

Im  17.  Jahrhundert  gab  es  einige  sehr  beliebte  Bilderbogen 
von  der  'Verkehrten  Welt'.  Einer  derselben  hat  den  Anlaß  zu 
Weises  Lustspiel  gegeben.^  In  seinem  Vorwort,  das  er  'Innhalt' 
nennt,  obgleich  es  durchaus  keine  Inhaltsangabe  ist,  sagt  er:  'Es 
ist  etwas  über  dreißig  Jahr  /  als  etliche  artige  Bilder  zu  Kauffe 
giengen  /  darin  die  umgekehrte  Welt  durch  artige  und  mehren- 
theils  lächerliche  Erfindungen  vorgestellet  war  ...  So  ist  diese 
Invention  zu  einem  Lust-Spiele  erwehlet  /  auch  der  Gelegenheit 
nach  /  an  vielen  Orten  vermehret  und  verbessert  worden.' 

^  'Neue  Jugendlust,  das  ist  Drey  Schauspiele  (Vom  verfolgten  David.  — 
Von  der  Sicilianischen  Argenis.  —  Von  der  Verkehrten  Welt).  Frankfurt 
und  Leipzig  1684.'  Das  Titelblatt  der  'Verkehrten  Welt'  trägt  die  Angabe: 
'4.  Mart.  1683  zu  Leipzig  bey  Christian  Weidmannen.' 

2  Zur  Zeit  der  Abfassung  dieses  Aufsatzes  war  Frank  Riederers  Disser- 
tation: 'Ludwig  Tiecks  Beziehungen  zur  deutschen  Literatur  d.  17.  Jahrh.' 
(Greifswald   1915)    noch  nicht  erschienen. 

^  Vgl.  J.  Bolte  in  der  'Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde'  15.  Jahr- 
gang, S.  160. 


Das  Aufleben  der  Literatur  des  1 7.  Jahrb.  im  Zeitalter  der  Romantik         5 

Die  schöne  Reproduktion  dieses  Bilderbogens,  die  Professor 
J.  H.  Schölte  in  der  'Zeitschrift  für  Bücherfreunde'  (Jahrg.  4, 
Heft  1)  neuerdings  veröffentlicht  hat,  ermöglicht  uns  einen  ein- 
gehenderen Vergleich  mit  Weises  Lustspiel.  Wir  sehen,  daß  der 
Dichter  sich  genau  an  seine  Vorlage  hält;  wo  er  von  derselben 
abweicht,  geschieht  es  immer  so,  daß  er  den  Sinn  der  A-^orstellung 
nicht  aus  dem  Auge  verliert.^ 

Diese  dramatische  Bearbeitung  des  Bilderbogens  ist  ganz  ver- 
schieden von  der  'Verkehrten  Welt'  Grimmeishausens,  einer 
satirisch  belehrenden  Schrift  in  Prosaform,  die  ihr  Entstehen 
ebenfalls  einem  Bilderbogen  verdankt."  Grimmeishausen  gibt  der 
Entstehungsgeschichte  eine  sehr  hübsche  novellistische  Einklei- 
dung. In  seinem  'Ewigwährenden  Calender'  (1670)  erzählt  er 
nämlich,  wie  Simplicissimus  in  einer  Spinnstube  von  dem  Bild 
der  'Verkehrten  Welt',  das  er  auf  der  'alleranmuhtigsten  Dirne- 
Ivunckel'  als  'Wockenbrief  entdeckt,  so  gefesselt  wird,  daß  er 
darüber  die  schöne  Spinnerin  ganz  vergißt.  Dieses  Bild  hat  ihn 
dann  zu  obiger  Schrift  veranlaßt.  Das  Titelkupfer  der  'Ver- 
kehrten Welt'  und  die  Reime  dazu  lehnen  sich  augenscheinlich 
an  die  Beschreibung  des  Bilderbogens  im  'Calender'  an,  der  Inhalt 
der  Schrift  deckt  sich  im  übrigen  aber  nicht  mit  den  A^orstellungen 
desselben.^ 

1  Die  folgenden  Szenen  aus  Weises  Lustspiel  stimmen  mit  den  Bildern 
des  Bilderbogens,  von  links  nach   rechts  gezählt,  überein: 

Weises  'Verkehrte  Welt.         Bilderbogen  'Verkehrte  Welt'. 
1,5  3 

11,16  4 

II,  1  und  IV,  17.  18.  19  6 

11,12.13  7 

II,  15  10 

11,7.8  19 

1,1  24 

Folgende  Szenen  weisen  eine  große  Ähnlichkeit  auf: 
III,  2  8 

11,4  9 

11,7.8  17 

Bild   1   bezieht  sich  auf  den  Titel  von  Weises  Lustspiel. 

2  Vgl.  Schölte:  'Probleme  der  Grimmeishausenforschung'  I  (Groningen 
1912),  S.  189  f. 

3  Im  'Calender'  heißt  es  in  der  3.  Materie  S.  106,  daß  Simplicissimus,  als 
er  in  seinem  'sibenzehenden  jährigen  Alter  noch  ein  Mußquetirer  oder 
Tragoner  war',  ein  Kommando  bekommen  habe,  zu  dem  ihn  der  Korporal 
'auß  dem  Beth  uffwecken  muste',  ehe  er  'den  vierdten  Theil  außgeschlaffen 
hatte',  weil  er  sich  den  Abend  zuvor  in  der  Spinnstube  so  lange  über  der 
Betrachtung  des  Kunkelbriefs  von  der  'Verkehrten  Welt'  aufgehalten  hatte. 

Nehmen  wir  nun  Grimmeishausens  Geburtsjahr  als  das  Jahr  1625  an, 
dann  ist  das  Auffinden  des  Bilderbogens  von  der  'Verkehrten  Welt'  ungefähr 
für  das  Jahr  1642  anzusetzen. 

Weise  sagt  in  der  Vorrede  zu  seinem  Lustspiel  (1683):  'Es  ist  etwas 
über  dreißig  Jahr  /  als  etliche  artige  Bilder   zu  Kauflfe  giengen,  darin  die 


6         Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrh.  im  Zeitalter  der  Romantik 

Eine  genaue  Untersuchung  ergibt,  daß  Weise  sein  Lustspiel 
unabhängig  von  Grimmeishausen  geschrieben  hat.  Daß  er  Grim- 
melshausens  Schrift  kannte,  ist  indessen  nicht  ausgeschlossen, 
denn  auch  den  Simplicissimus  hatte  er  gelesen.  Gefallen  scheint 
er  aber  nicht  daran  gefunden  zu  haben,  denn  in  der  Vorrede  zu 
seinen  'Drei  Erznarren'  bittet  er  den  Leser,  nicht  zu  denken,  es 
'sei  ein  neuer  Simplicissimus  oder  sonst  ein  lederner  Saalbader 
meder  aufgestanden'.  Grimmeishausen  faßte  dieses  Urteil  humo- 
ristisch auf  und  erwiderte  es  mit  gutmütigem  Spott,  indem  er  im 
'Teutschen  Michel'  die  nahe  Verwandtschaft  zwischen  den  'Drei 
Erznarren',  seiner  'Baaß  Catharin'  und  dem  'Simplicissimus'  her- 
vorhob.^ 

Auf  Weise  geht  auch  Arnim  zurück,  wenn  er  der  Erzählung 
SchelmufFskys  in  seinem  Wintergarten  den  Titel  'Die  drei  Erz- 
narren' gibt.  Viel  mehr  als  die  Überschrift  ist  dabei  jedoch 
nicht  von  dem  Original  übernommen.  Auf  die  Erzählung  selbst 
werde  ich  im  Verlauf  dieser  Besprechung  noch  zurückkommen. 

Als  eine  Art  Gegenstück  zu  den  'Drei  Erznarren'  schrieb 
Weise  einige  Jahre  später  den  Roman  'Die  drey  klügsten  Leute  in 
der  gantzen  Welt'  (1675).  Aus  diesem  ist  das  sinnige  Gedicht 
'Die  Rose  blüht'  ins  'Wunderhorn'  übergegangen.  Reichardt 
hatte,  nach  dem  Urteil  Brentanos  'recht  artig'^  den  Text  kom- 
poniert. Brentano  wurde  von  dem  Lied  zu  einer  eigenen  Schöp- 
fung angeregt,  in  der  aber  nur  die  Motive  der  blühenden  Rose 
und  frommen  Biene  aus  Weise  entlehnt  sind.  Im  'Tagebuch  der 
Ahnfrau'  veröffentlicht  er  dann  eine  Variation  auf  Weises 
Gedicht.* 

'Des  Knaben  Wunderhorn'  ist  reich  an  Liedern  aus  dem 
17.  Jahrhundert,  und  man  bekommt  einen  tieferen  Einblick  in  die 
Arbeitsweise  der  beiden  Sammler,  wenn  man  sieht,  wie  sie  ihre 
Funde  auch  anderweitig  zu  verwerten  wußten.     Die  Eigenart 


umgekehrte  Welt   . . .   vorgestellet  war.'     Weise   hat  den   Bilderbogen   also 
ungefähr  um  das  Jahr  1650  in  seiner  Kindheit  gesehen. 

Nun  ist  es  wohl  nicht  unmöglich,  daß  beiden  Dichtern  ein  Exemplar 
derselben  Bilderbogenausgabe  vorgelegen  hat.  Allerdings  ist  dann  anzu- 
nehmen, daß  eine  solche  Emission  ungefähr  zehn  Jahre  die  Aufmerksamkeit 
des  Publikums  zu  beanspruchen  vermochte.  Hätte  man  aber  mit  Professor 
Witkowsky  ('Kleines  Meyersches  Konv.-Lex.'  [7.  Aufl.,  1909]  III,  S.  282) 
das  Jahr  1610  als  Geburtsjahr  Grimmeishausens  anzunehmen,  für  welche 
Behauptung  allerdings  vorläufig  die  Argumente  noch  fehlen,  so  würde 
dieser  Termin  auf  ein  ganzes  Viertel  Jahrhundert  ausgedehnt  werden  müssen. 

1  Vgl.  Braunes  Ausgabe  der  'Drei  ärgsten  Erznarren'  (Halle  1878),  Vor- 
wort S.  4. 

2  Steig  S.  131. 

3  Vgl.  hierfür  Bode:  'Die  Bearbeitung  der  Vorlagen  in  des  Knaben 
Wunderhorn'  S.  149. 


Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrh.  im  Zeitalter  der  Romantik        7 

eines  jeden  kommt  in  ihrer  Vorliebe  für  bestimmte  Dichter  deut- 
lich zum  Ausdruck. 

Von  Spee,  dem  Sänger  der  'Trutz-Nachtigall',  finden  wir  sechs 
Lieder.  Vier  davon  wurden  mit  kleinen  Modernisierungen  und 
Weglassungen,  sonst  aber  wörtlich  abgedruckt,  während  zwei  nur 
Bearbeitungen  Speescher  Lieder  genannt  werden  können:  'Ich 
will  dem  Kindlein  schenken'  und  'Wacht  auf,  ihr  schönen  Vöge- 
lein'. Dieses  letztere,  das  Schlußlied  in  der  'Trutz-Nachtigall', 
wurde  der  Text  zu  dem  Bild  im  Kinderliedertitel,  das  wir  Ludwig 
Grimms  kundiger  Hand  verdanken.^ 

Bereits  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  waren  einige  Auf- 
sätze über  Spee  erschienen,  die  aber  mehr  die  hervorragende 
Persönlichkeit  als  den  Dichter  zu  schätzen  wnißten.  Der  humane 
Geistliche,  dessen  Leben  ein  einziger  Kampf  gegen  die  Greuel  der 
Hexenprozesse  war,  denen  er  selbst  als  Beichtvater  so  oft  bei- 
wohnen mußte,  hat  mit  manchem  Werk  diesem  Unwesen  zu 
steuern  gesucht.  Eines  davon  ist  das  'Güldene  Tugendbuch',  das 
Brentano  1829  erneuerte.  In  dieses  Werk  hat  der  Verfasser 
einige  Lieder  eingestreut,  die  denselben  Geist  wie  die  Lieder  der 
'Trutz-Nachtigair  atmen.  Es  sind  durchweg  religiöse  Gedichte, 
gewöhnlich  in  einer  bunten,  blumenreichen  Sprache,  mitunter 
schlicht  und  ergreifend. 

Ignaz  Heinrich  von  Wessenberg,  ein  Altersgenosse  Tiecks,  ist 
der  erste  gewesen,  der  die  Aufmerksamkeit  vom  Menschen  auf 
den  Dichter  gelenkt  hat.  Als  Geistlicher  und  hoher  Kirchen- 
beamter hatte  er  selbst  gegen  manche  Mißstände  in  seiner  Kirche 
gekämpft  und  unter  ihnen  gelitten.  Darum  mußte  eine  Natur 
wie  Spee,  die  der  seinigen  so  ähnlich  war,  mächtig  auf  ihn  wirken. 
Weil  er  überdies  sehr  viel  poetischen  Sinn  besaß,  konnte  er  die 
Speeschen  Lieder  in  ihrer  ganzen  Schönheit  würdigen.  Er  be- 
arbeitete denn  auch  mehrere  davon  und  gab  sie  1802  heraus.^ 

Friedrich  Schlegel  fühlte  sich  kurz  vor  seinem  Übertritt  zur 
katholischen  Kirche  sehr  zu  Spee  hingezogen.  In  seinem  'Poeti- 
schen Taschenbuch'  (1806)  brachte  er  eine  Auswahl  geistlicher 
Volkslieder,  die  bis  auf  sieben  alle  von  Spee  sind.  Manche  sind 
allerdings  fast  kaum  wiederzuerkennen,  so  sehr  hat  Schlegel  sie 
umgearbeitet.  In  seiner  Vorrede  entschuldigt  er  sich  mit  Recht 
deswegen.^ 

Ähnlich  wie  Schlegel  erging  es  Brentano.     Je  mehr  er  sich 

1  Vgl.  Bode  S.  538. 

2  'Friedrich  Spees  auserlesene  Gedichte'  (Zürich  1802),  62  S.  8".  Das 
Bändchen  enthält  neun  Gedichte.  In  die  gesammelten  Werke  nahm  Wessen- 
berg zwölf  Lieder  von  Spee  auf. 

*  Diese  Vorrede  ist  abgedruckt  im  'Bibliographischen  Repertorium'  Bd.  V 
('Die  Almanache  der  Romantik';  hg.  v.  Dr.  R.  Pissin;  Berlin  1910),  S.  81  f. 


8         Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrh.  im  Zeitalter  der  Romantik 

von  der  Welt  ab  und  seinem  Glauben  zuwandte,  desto  mehr  ging 
ihm  die  Schönheit  der  Speeschen  Poesie  auf.  Zur  Zeit  des  'Wun- 
derhorns'  schrieb  er  bereits  von  ihm:  'Dieser  Mann  ist  ein  Dichter, 
mehr  als  mancher  Minnesänger,  ich  will  ihn  herausgeben,  er 
soll  uns  vieles  zu  den  Volksliedern  bieten.'^  Jahrelang  hat  er 
diesen  Plan  mit  sich  herumgetragen,  ehe  er  verwirklicht  wurde. 
Erst  1817,  ein  Jahr  vor  seinem  Eintritt  ins  Kloster,  veröffent- 
lichte er  die  'Trutz-Nachtigall',  vermehrt  mit  den  Liedern  aus 
dem  'Güldenen  Tugendbuch'. 

Wie  sehr  auch  August  Wilhelm  Schlegel  die  Lieder  Spees 
schätzte,  geht  aus  einem  Brief  an  Tieck  hervor.^  Sogar  Arnim 
spricht  von  der  'edlen  Trutznachtigall'  im  7.  der  'Briefe  eines 
Einsiedlers  und  einer  Mohrin,  die  Nonne  wurde'. ^ 

Voß,  der  erbitterte  Feind  der  Romantiker,  äußert  seine  Ab- 
neigung gegen  ihre  Vorliebe  für  Spee  in  einer  Kritik  der  Werke 
J.  G.  Jacobis.  Er  streicht  dieselben  gegen  die  'neuesten  Asso- 
nanzenhascher, die  sprachverderblichen  Eilippe  Zesen,  die  Jacob 
Böhm'schen  Allegorienjäger,  die  reimlustigen  Spee-  und  AVeh- 
sänger'  heraus.^  Heute  sind  die  AVerke  Jacobis  fast  vergessen,  die 
Lieder  dieser  'Spee-  und  Wehsänger'  aber  erfreuen  sich  einer 
noch  immer  steigenden  Schätzung  in  der  Literatur. 

'Die  hochgelobte  Nachtigall  Ergötzt  und  füllt  mit  ihrem 
Schall  Berg,  Hügel,  Tal  und  Felder',  singt  Paul  Gerhard  in 
seinem  innigen  Sommerlied,  das  auch  im  'Wunderhorn'  Aufnahme 
gefunden  hat.  Diese  Empfindung  der  Freude  am  Gesang  der 
Nachtigall,  verbunden  mit  dem  Gedanken,  daß  der  bescheidene 
Vogel  mit  der  herrlichen  Stimme  am  besten  dazu  geeignet  sei, 
Gottes  Lob  in  der  Natur  zu  verkündigen,  hat  kein  Dichter  so 
scbön  in  Worte  zu  kldden  vermocht  wie  Grimmeishausen.  Durch 
die  vollendete  Sprache  und  das  wundervolle  Metrum  stellt  sich 
das  Lied  aus  dem  Simplicissimus  'Komm  Trost  der  Nacht,  o  Nach- 
tigall' den  besten  lyrischen  Gedichten  der  deutschen  Literatur 
zur  Seite. 

Tieck  übernahm  es  in  seinen  'Zerbino'.  Das  Metrum  gefiel 
ihm  derartig,  daß  er  ein  anderes  Lied  im  selben  Metrum  in  den 


1  Vgl.  den  oben  bereits  zitierten  Brief  an  Arnim  vom  2.  April  1805,  ab- 
gedruckt bei  Steig  S.  138. 

2  Er  schreibt  am  8.  Februar  1804:  'Die  Trutz-Nachtigall  von  Spee  haben 
wir  ebenfalls  unterdessen  entdeckt,  und  Deine  Schwester  besitzt  sie  jetzt 
sogar  eigen.  Ich  weiß  nun,  wo  sich  so  manche  Lieder  herschreiben,  die 
ich  in  meinen  katholischen  Gesangbüchern  lange  geliebt  und  bewundert 
habe.  Es  sind  mir  auch  die  Lebensumstände  des  Verfassers  bekannt.'  Vgl. 
Holtei,  'Briefe  an  Ludwig  Tieck'  Bd.  III,  S.  289    (25.  Brief  A.W.Schlegels). 

3  'Zeitschrift  für  Einsiedler'  vom  16.  Juli  1808,  neugedruckt  in  Pfaffs 
Ausgabe  der   'Trösteinsamkeit'   S.  296. 

*   Pfaff,   Einleitung  zur  'Trösteinsamkeit'   S.  72. 


Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrh.  im  Zeitalter  der  Romantik         9 

'Sternbald'  hineindichtete.  Auch  in  Eichendorffs  'Ahnung  und 
Gegenwart'  sowie  in  Brentanos  Märchen  vom  Schulmeister  Klopf- 
stock finden  wir  es  wieder.  Überhaupt  lehnt  sich  Brentano  in 
dieser  Erzählung  stark  an  Grimmeishausen  an.  Die  Figur  des 
Klausners,  bei  dem  Trilltrall  lebt,  ist  in  allen  Teilen  die  des  Ein- 
siedlers, der  den  verirrten  Simplicius  bei  sich  aufnimmt.  Auch 
sein  Tod  erfolgt  unter  denselben  Umständen:  beide  legen  sich  in 
ihr  offenes  Grab,  um  darin  den  Tod  zu  erwarten. 

Zu  dem  Schönsten,  was  das  'Wunderhorn'  auf  dem  Gebiet  der 
religiösen  Lyrik  aus  dem  17.  Jahrhundert  enthält,  gehört  einer  der 
drei  darin  aufgenommenen  Cöllner  Kirchengesänge  (1625): 'Von 
Jesse  kommt  ein  Wurzel  zart'.  Dem  Gedicht  liegt  das  alte 
Marienlied  'Es  ist  ein  Ros  entsprungen'^  zugrunde,  das  gerade 
im  17.  Jahrhundert  viele  Bearbeiter  gefunden  hat.  Der  be- 
kannteste ist  Michael  Prätorius.  In  seiner  Fassung,  in  Verbin- 
dung mit  seinem  Tonsatz  (1609),  finden  wir  das  Lied  in  den 
heutigen  Liedersammlungen. 

Durch  die  falsche  Auffassung  eines  Bibeltextes  (Jesaia  11,1) 
mußte  sich  die  'Rose'  in  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
öfters  die  Änderung  in  ein  'Reis'  gefallen  lassen.  Aber  bereits  in 
der  Bearbeitung  Procops  findet  sich  eine  Änderung,  und  zwar  die 
Fassung  'Meyblum'.  Eine  Maiblume  muß  der  Dichter  wohl 
poetischer  als  eine  Rose  gefunden  haben,  und  vielleicht  hat  er 
sich  darum  von  der  alten  Vorstellung  getrennt.  Dieses  schöne 
Lied  Procops  steht  nicht  im  'Wunderhorn',  aber  viele  andere  seiner 
Gedichte  fanden  dort  Aufnahme.  Begreiflicherweise,  denn  über 
allen  liegt  ein  Hauch  echter  Poesie.  '''\' 

Es  ist  auffallend,  daß  in  der  Zeit  des  Dreißigjährigen  Krieges 
verhältnismäßig  wenig  Kriegslieder  entstanden  sind.  Zur  Er- 
klärung dieser  eigentümlichen  Erscheinung  muß  man  da  mancher- 
lei in  Betracht  ziehen.  Der  Druck  der  politischen  Verhältnisse 
lastete  schwer  auf  Deutschland,  und  die  Erschöpfung  der  Kriegs- 
not raubte  allem  geistigen  Leben  die  Frische.  Die  jeden  Auf- 
sch\vung  hemmenden  Zeiten  verursachten,  daß  die  rauhe  Realistik 
im  Leben  wie  in  der  Dichtkunst  vorherrschend  bleiben  mußte. 
Darum  fehlt  der  Literatur  jener  Tage  die  Idealität.  Nur  die 
geistliche  Dichtung,  vorwiegend  die  protestantische,  blühte.  Zu- 
dem machte  die  Zusammensetzung  des  Heeres,  das  nur  aus  ge- 
mieteten Landsknechten  bestand,  eine  Kriegslyrik,  wie  siez.  B.  aus 
der  Zeit  der  Befreiungskriege  auf  uns  gekommen  ist,  unmöglich. 

Allerdings  lag  auch  zur  Zeit  der  Romantiker  ein  politischer 
Druck  auf  dem  Lande.     Es  war  aber  ein  äußerer,  der  ein  reges 

1  Der  älteste  Druck  findet  sich  in  einem  Kölner  Gesangbuch  (1599). 
Vgl.  den  Aufsatz  von  Friedrich  Spitta  in  der  'Monatsschrift  für  Gottesdienst 
und  kirchliche  Kunst'  (5.  Jahrg.,  1900)  S.  10  flf. 


10      Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrh.  im  Zeitalter  der  Romantik 

geistiges  Leben  nicht  ausschloß.  Außerdem  ist  die  Romantik 
der  Höhepunkt  eines  Zeitalters,  in  dem  man  gewohnt  war,  dem 
Ideellen  auf  jedem  Gebiet  stets  den  ersten  Platz  einzuräumen. 
Wenn  die  Romantiker  sich  sonst  auch  in  ihren  Werken  gewöhn- 
lich nicht  mit  den  politischen  Verhältnissen  beschäftigt  haben, 
so  zeigt  uns  die  Sammlung  'Kriegslieder' -von  Arnim  (1806),  daß 
sie  dem  Treiben  ihrer  Zeit  dennoch  nicht  fremd  gegenüberstanden. 
Der  Umstand,  daß  er  in  diese  Sammlung  einige  der  wenigen 
Kriegslieder  des  17.  Jahrhunderts  aufnahm,  beweist  wohl,  daß  er 
eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  den  Verhältnissen  seiner  Zeit 
herausfühlte. 

Eines  dieser  Lieder  ist  das  alte,  kernige  'Ein  feste  Burg  ist 
unser  Gott'  in  der  Umarbeitung  des  Moscherosch.  Dieser  hatte 
Luthers  Gedicht  in  seinem  Gesicht  'Soldatenleben'  so  umgear- 
beitet, daß  es  von  einem  geistlichen  Lied  zu  einem  Soldatenlied 
geworden  war.  In  dieser  Fassung  verwendet  Arnim  es  in  seiner 
Erzählung  'Der  Krieg'  im  Wintergarten,  sowie  als  Schlußlied  in 
der  'Vertreibung  der  Spanier  aus  Wesel'. -"^  In  den  'Kriegsliedern' 
läßt  er  Luther  wieder  mehr  zu  Wort  kommen,  was  die  Schönheit 
des  Ganzen  entschieden  erhöht.  Die  Fassung  im  'Wunderhorn' 
ist  von  allen  Umarbeitungen  dem  ursprünglichen  Text  am  ähn- 
lichsten; das  Gedicht  hat  hier  eben  auch  nicht  den  Zweck  zu  er- 
füllen, der  schon  durch  den  Namen  der  obenerwähnten  Sammlung 
ausgedrückt  wird. 

Für  die  Art  der  verschiedenen  Umarbeitungen  möchte  ich  eine 
Strophe  aus  dem  Lied  als  besonders  bezeichnend  für  die  verschie- 
denen Fassungen  zitieren. 

Luther:  Moscherosch: 

Vnd  wenn  die  weit  vol  Teuffei  wehr  /  Vnd  sah  der  Feind  noch  eins  so  sawr, 

vnnd  wolt  vns  gar  vorschlingen  /  Als  wollt  er  vns  verschlingen, 

So  fürchten  wir  vnns  nicht  zu  sehr  /  Vnd  käme  schon  biß  auff  die  Mawr, 

es  sol  vns  doch  gelingen  /  Soll  ihm  doch  nicht  gelingen, 

Der  Fürst  dieser  weit  /  Gott  der  mit  vns  ist, 

wie  sawr  er  sich  stellt  /  Entdeckt  seine  List, 

thut  er  vnns  doch  nicht  /  Und  in  eim  Augenblick 

das  macht  er  ist  gericht  /  Stoßt  ihn  hinab  zurück, 

ein  wörtlin  kan  yhn  feilen.  Daß  er  mit  Schand  muß  weichen. 

Arnim,   'Kriegslieder':  Arnim,  'Wunderhorn': 

Und  wenn  die  Welt  voll  Teufel  war  Und  wenn  die  Welt  voll  Teufel  war 

Und  wollten  uns  verschlingen  Und  wollten  uns  verschlingen 

Das  fürchten  Preußen  nimmermehr,  go  fürchten  wir  uns  nimmermehr, 

Es  soll  uns  doch  gelingen;  Es  soll  uns  doch  gelingen; 

Der  Feind  von  dieser  Welt,  Der  Feind  von  dieser  Welt, 


1  Vgl.  Bode  S.  650.  Aber  nur  die  vier  letzten  Zeilen  stimmen  mit  Mosche- 
rosch überein.  Die  vorhergehenden  sind  zum  Teil  wörtlich  nach  Luther 
übernommen,  zum  Teil  nach  Luther  bearbeitet. 


Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrh.  im  Zeitalter  der  Romantik       11 

Wie  wild  er  sich  stellt,  Wie  wild  er  sich  stellt, 

Thut  er  uns  doch  nichts,  Tut  er  uns  doch  nichts, 

Er  scheuet  ja  das  Licht,  Er  scheuet  ja  das  Licht, 

Ein  Schuß,  der  kann  ihn  fällen.  Ein  Wort,  das  kann  ihn  fällen. 

Ein  zweites  Gedicht  aus  demselben  Gesicht  Philanders  'Die 
löbliche  Gesellschaft  zwischen  Ehein  und  der  Mosel'  wurde  eben- 
falls dem  'Wunderhorn'  einverleibt  und  von  Arnim  mit  in  seine 
Erzählung  herübergenommen.  Das  Gedicht  ist  recht  charakte- 
ristisch für  das  17.  Jahrhundert.  Es  enthält  nämlich  einige 
Ausdrücke  der  berühmten  Gaunersprache  jener  Zeit,  von  der  uns 
ganze  Lexika  erhaltengeblieben  sind.  So  bringt  Moscherosch 
eine  ausführliche  Liste  in  seinem  Gesicht  'Soldatenleben',  auf  die 
Wagenseil  zurückgeht  in  seinem  'Buch  von  der  Meister  Singer 
Holdseligen  Kunst  Anfang  /  Fortübung  /  Nutzbarkeiten  /  und 
Lehr-Sätzen'  (1697),  wo  er  in  der  Vorrede  von  der  'vermuth- 
lichen  HerkunfFt  der  Ziegeiner'  spricht  und  das  Lexikon  Phi- 
landers durch  hebräische  Zeichen  zu  erläutern  sucht. 

Die  Sammler  des  'Wunderhorns',  besonders  Arnim,  fanden 
außerordentlichen  Spaß  an  diesem  Rotwelsch.  In  dem  erwähnten 
Gedicht  setzte  er  selbst  für  einige  deutsche  Wörter  den  entspre- 
chenden Ausdruck  der  Gaunersprache  ein.^  Auch  in  dem  Oster- 
lied  aus  Wagenseils  'Belehrung  der  Jüdisch-Teutschen  Red-  und 
Schreibart',  das  im  'Wunderhorn'  unter  den  Kinderliedern  einen 
Platz  erhalten  hat,  finden  sich  einige  hebräische  Wörter.  Die 
ersten  beiden  Strophen  verwendet  Arnim  als  Lied  jüdischer 
Kinder  in  seinem  Drama  'Halle  und  Jerusalem'.^ 

Durch  Moscherosch  wurde  Arnim  auch  Weckherlins  'Aufruf 
in  schwerer  Zeit'  bekannt,  der  nach  Brentano  'so  allgemeine  Be- 
dürfnisse der  Zeit  berührt',^  daß  ihn  Arnim,  wenn  auch  stark  ge- 
kürzt, den  anderen  Kriegsliedern  dieser  Sammlung  voranstellte. 
Im  'Wunderhorn'  finden  wir  von  Weckherlin  außer  dem  soeben 
genannten  Gedicht  noch  den  Nachruf  auf  Gustav  Adolf,  ebenfalls 
in  stark  verkürzter  Form."* 

In  ähnlicher  Weise  umgearbeitet  wie  'Ein  feste  Burg',  er- 
neuert Arnim  schließlich  noch  Zincgrefs  ernstgestimmten  Lands- 
knechtgesang in  den  Kriegsliedern. 

1  Ein  kleiner  Fehler  ist  bei  Arnims  Herübernahme  des  Gedichtes  mit 
untergelaufen.  Für  Pfennig  hat  Moscherosch  in  der  vorletzten  Strophe  'Doul 
meß'  (r=  eig.  Pfennig-Geld).  Im  'Wunderhorn'  und  in  Arnims  Erzählung 
finden  wir  dafür  unrichtigerweise  'Drulmeß'. 

2  Vgl.  hierfür  Bode   S.  162. 

'  Vgl.  den  Brief  an  Arnim  vom  1.  Januar  1806.  Abgedruckt  bei  Steig 
S.  157. 

*  Auch  Hang,  der  frühere  Mitschüler  Schillers,  kannte  Weckherlin.  In 
A.  Schreibers  'Heidelberger  Taschenbuch'  (1812)  veröffentlicht  er  ein 
Gedicht  'Der  getäuschte  Amor',  das  nach  Weckherlin  (1618)  entstanden  ist. 
(Vgl.  'Bibl.  Rep.'  V,  S.  149.) 


12       Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrh.  im  Zeitalter  der  Romantik 

In  dem  schönen  alten  Heidelberg,  von  dem  so  manche  An- 
regung für  die  altdeutschen  Studien  der  Romantiker  ausgegangen 
ist,  schrieb  Brentano  1806  sein  'Lied  von  eines  Studenten  Ankunft 
in  Heidelberg'.  Hierin  feiert  er  den  bedeutendsten  Kunstlyriker 
des  17.  Jahrhunderts,  Martin  Opitz.  Dieser  hatte  an  der  Heidel- 
berger Universität  studiert  und  seine  Liebe  für  die  herrliche  Stadt 
in  mehreren  Gedichten  der  Mitwelt  verkündigt.^  Das  machte  ihn 
natürlich  dem  Romantikerkreis  sehr  sympathisch.  Fünf  seiner 
Lieder  erschienen  mit  kleinen  Änderungen  im  'Wunderhorn'. 
Außerdem  veröffentlichte  Straube,  der  Herausgeber  der  'Wün- 
schelrute', das  Fieberliedlein  'Nechst  als  zugleiche  lagen'  nach 
der  von  Zinkgref  besorgten  Ausgabe  Opitzscher  Gedichte  (Straß- 
burg 1624). 2 

Tieck  würdigt  ihn  sehr,  ja  er  glaubt,  daß  'mit  Opitz,  Weck- 
herlin  und  Flemming  eine  wahre  neue  Epoche  der  deutschen 
Dichtkunst'  anfange.^  Ähnlich  äußert  sich  A.  W.  Schlegel  in 
seinen  Berliner  Vorlesungen.  Im  'Deutschen  Museum'  (1812)  fin- 
den wir  eine  Lebensbeschreibung  des  Dichters,  und  in  den  'Musen' 
(1814)    wird   sein  Verhältnis  zur  deutschen  Sprache  behandelt. 

Durch  das  'Wunderhorn'  in  die  Dichtung  und  durch  Jakob 
Grimm  in  die  Wissenschaft  eingeführt,  lebt  Matthias  Abele  in  der 
Romantik  wieder  auf5*  Das  'Wunderhorn'  bringt  drei  Gedichte 
von  ihm,  von  denen  das  'Hochzeitlied  auf  Leopold'  für  Arnim 
'das  höchste  Lyrische  der  ganzen  Sammlung'  ist,  und  'Vivat  Un- 
ordnung' sowie  die  beiden  Teile  der  'Gerichtshändel'  werden  von 
Grimm  wiederholt  in  den  'Rechtsaltertümern'  als  Quelle  ver- 
wertet.^ 

Wenn  die  Romantiker  die  vergessene  Literatur  und  dadurch 
das  Leben  des  17.  Jahrhunderts  vor  dem  geistigen  Auge  ihrer 
Zeitgenossen  wieder  erstehen  lassen  wollten,  was  war  da  natür- 
licher, als  daß  sie  sich  mit  großem  Interesse  einem  Dichter  wie 
Grimmeishausen  zuwandten,  der  das  Leben  und  Treiben  seiner 
Zeit  durch  meisterhafte  Schilderungen  zu  bleibenden  Gemälden 
gestaltet  hat,  und  daß  sie  sich  Mühe  gaben,  diese  Kunstwerke  aus 
dem  Staub,  der  sich  im  Laufe  der  Jahre  über  ihnen  angesammelt 
hatte,  wieder  hervorzusuchen.  Wenn  ihre  Bestrebungen  auch 
nicht  immer  mit  Erfolg  gekrönt  wurden,  so  ist  von  ihnen  doch 
manche  wertvolle  Anregung  in  dieser  Hinsicht  ausgegangen. 

^  In  seiner  Ausgabe  von  Brentanos  Gedicht  nennt  Karl  Bartsch  das 
Sonett  'Vom  Wolffsbrunnen  bey  Heydelberg'  und  die  Oden  'Galathea'  und 
'Ist  irgend  zu  erfragen  Ein  Schäflfer  unib  den  Rein'. 

2  'Wünschelrute'  Nr.  6  (19.  Jan.  1818).  'Bibl.  Rep.'  I  {'Zeitschriften  der 
Romantik',  hg.  von  Walzel  und  Houben;   Berlin  1904),  S.  329. 

3  Vorwort  zum  'Deutschen  Theater'  Bd.  II,  S.  9. 

4  Vgl.  Halm:  'Matthias  Abele'  S.  90. 


Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrh.  im  Zeitalter  der  Romantik       13 

Von  den  älteren  Romantikern  war  es  besonders  Tieck,  der  sich 
zu  Grimmeishausen  hingezogen  fühlte.  Neben  Goethes  Einfluß 
verdankt  er  Wackenroder  die  erste  Anregung  zu  seiner  Beschäfti- 
gung mit  der  altdeutschen  Literatur.  Zuerst  getraute  er  sich  nicht 
sü  recht  heran,  er  warnte  sogar  seinen  Freund  davor:  'er  möge 
sich  seinen  Geschmack  nicht  mit  der  altdeutschen  Poesie  ver- 
derben'. Als  sie  sich  aber  zusammen  an  der  Schönheit  der  alten 
Kunstschätze  Nürnbergs  berauscht  hatten,  da  mochte  in  Tieck 
wohl  das  Gefühl  wachgerufen  worden  sein,  daß  auch  in  der 
Literatur  wundervolle  Sprachdenkmäler  zu  finden  sein  würden. 
Wackenroder  hat  es  verstanden,  diesen  Funken  zu  hellem  Feuer  zu 
entfachen.  In  der  darauffolgenden  Zeit  macht  sich  Tiecks  Vor- 
liebe für  die  Volksbücher,  für  Hans  Sachs  und  den  'Simplicissi- 
mus'  bemerkbar.  Für  sein  Interesse  an  diesem  Roman  legen  das 
Erscheinen  der  Jupiterepisode  und  die  würdigenden  Worte  in 
seinem  'Tagebuch'  (1798)  beredtes  Zeugnis  ab.  Damals  trug  er 
sich  mit  der  Absicht,  den  'Simplicissimus'  neu  herauszugeben,  und 
die  Aufnahme  des  Einsiedlergesangs  in  den  'Zerbino'  ist  als  Vor- 
läufer dieser  Herausgabe  anzusehen.-^  Leider  ist  sie  nie  zustande 
gekommen. 

Trotzdem  war  wohl  Tieck  die  Veranlassung  zu  einer  anderen 
Bearbeitung  dieses  Romans.  In  Dresden  lernte  er  1828  den  viel 
jüngeren  Eduard  von  Bülow  kennen,  mit  dem  ihn  bald  gemein- 
same literarische  Interessen  verbanden.  Manche  Ausgabe  älterer 
und  zeitgenössischer  Dichter  wurde  von  ihnen  zusammen  veran- 
staltet. Gewöhnlich  besorgte  von  Bülow  die  Arbeit,  und  der 
ältere  Freund  schrieb  das  Vorwort  dazu.  So  erschienen  1831 
F.  L.  Schröders  dramatische  Werke,  und  so  auch  das  bekannte 
Novellenbuch  von  Bülows  (1834).  Hierin  hat  er  unter  manchen 
Erzählungen  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  Grimmeishausens 
'Bärenhäuter'  und  'Stoltzen  Melcher'  veröffentlicht.  Diese  beiden 
Erzählungen  sind  wortgetreu,  nur  mit  Weglassung  einiger  Derb- 
heiten und  sprachlich  modernisiert  wiedergegeben.  Von  Bülow 
dedizierte  das  Buch  dem  König  von  Preußen,  Friedrich  Wil- 
helm IV.,  der  sich  sehr  für  ihn  interessierte.^ 

In  derselben  Weise  gaben  sie  1846  den  dritten  Teil  von  No- 
valis' Schriften  heraus.  1802  hatte  Tieck  bereits  mit  Friedrich 
Schlegel  die  ersten  beiden  Teile  besorgt.  Umgekehrt  war  das 
Verfahren  der  Herausgabe  wohl  nur  einmal.  Das  Fragment 
'Sommernacht',  das  Tieck  noch  als  Schüler  unter  Shakespeare- 
schem  Einfluß  geschrieben  hatte,  wurde  mit  einem  Vorwort  von 
von  Bülow  im  'Rheinischen  Taschenbuch'  (1851)  abgedruckt.^ 

1  Von  Bülow,  Vorwort  zu  seinem  'Simplicissimus'  S.  12. 

2  Vgl.  den  Brief  A.  von  Humboldts  an  Tieck.     Holtei  II,  S.  30.  31. 

»  Eine  Sonderausgabe  besorgte  J.  D.  Walter  1853.     (Goedeke  VI,  S.  34). 


14       Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrh.  im  Zeitalter  der  Romantik 

In  dem  A^orwort  zur  Novellenausgabe  äußert  sich  Tieck  merk- 
würdig ungünstig  über  den  'Simplicissimus'.  Dies  fällt  um  so 
mehr  auf,  als  er  ihn  bis  dahin  immer  außerordentlich  geschätzt 
hatte.  Es  ist  möglich,  daß  der  ältere,  gereifte  Mann  dem  Buch 
anders  gegenüberstand  als  der  junge,  abenteuerliebende  Dichter. 
Und  doch  glaube  ich,  daß  er  wohl  mit  den  Anstoß  zu  der  Bearbei- 
tung gegeben  hat,  die  von  Bülow  unternahm.  Die  bisher  er- 
schienenen Neubearbeitungen  des  'Simplicissimus'  hatten  von  Bü- 
low so  unbefriedigt  gelassen,  daß  er  sich  selbst  daranmachte,  die 
ersten  fünf  Bücher  neu  herauszugeben.^  Wohl  mag  auch  die 
Bearbeitung  der  beiden  Novellen  Grimmeishausens  ihn  zu  neuen 
Taten  angeregt  haben.  Vergleichen  wir  seine  Ausgabe  (1836)  mit 
den  vorhergehenden,  so  müssen  wir  sein  Verdienst  entschieden  an- 
erkennen, wenn  er  auch  später  von  Forschern  wie  Keller  weit 
übertroffen  wurde.^ 

Eine  dieser  genannten  Bearbeitungen  ist  die  Ausgabe  von 
Haken,  dem  Verfasser  der  'Grauen  Mappe',  die  er  1810  in  der 
'Bibliothek  der  Abentheurer'  veröffentlicht.  Er  bringt  die  ver- 
kürzte und  geänderte  Erzählung  aus  dem  17.  Jahrhundert  mit  der 
Technik  und  Sprache  seiner  eigenen  Zeit,  so  daß  der  Geist  Grim- 
melshausens,  der  uns  trotz  aller  Änderungen  aus  der  Arbeit 
von  Bülows  entgegenweht,  hier  verlorengegangen  ist.  Durch  seine 
Vorrede  gibt  Haken  deutlich  zu  erkennen,  daß  er  nicht  fähig  war, 
das  Werk  im  Rahmen  der  Zeit,  in  der  es  entstanden  war,  zu  be- 
trachten. Das  ist  ihm  jedoch  nicht  übelzunehmen,  stand  doch 
noch  vierzig  Jahre  später  ein  Mann  wie  Virchow  dem  Buch  sogar 
äußerst  feindselig  gegenüber.  Haken  schätzte  den  'Simplicissi- 
mus' dagegen  sehr  und  meinte,  er  verdiene  es,  in  einem  erschöpfen- 
deren Auszug,  als  C.  J.  Wagenseil  ihn  gegeben  habe,  wieder  ans 
Licht  gebracht  zu  werden.^ 

Dieser  Auszug  Wagenseils  war  1785  in  Leipzig  erschienen, 
nachdem  er  bereits  1778  einen  Auszug  in  dem  vierten  Band  der 
Reichard tschen  Romanbibliothek  veröffentlicht  hatte.  Der  Be- 
arbeiter geht  von  dem  1.  Band  der  3.  Gesamtausgabe  von  Grim- 
melshausens  Schriften  (1713)  aus.  Vermutlich  ist  dies  ein  Band, 
der  auf  merkwürdige  Weise  in  die  Stadtbibliothek  in  Leipzig  ge- 
kommen war. 

Auf  dem  Titelblatt  dieses  Bandes  findet  sich  die  folgende 
Widmung: 


1  Vorwort  S.  14. 

^  Die  Besprechung  seiner  Ausgabe  finden  wir  in  dem  bekannten  Aufsatz 
von  Hermann  Kurz  im  'Spiegel'  (1837)  Nr.  5  u.  6,  wo  uns  der  wahre  Name 
Grimmeishausens  entdeckt  wird. 

3  Vorwort  zu  seiner  Ausgabe  S.  3  f.  Auch  die  Renovation  1790  genügte 
ihm  nicht. 


Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrh.  im  Zeitalter  der  Komantik      15 

Der  sämtlichen  Deutschen  Gesellschafft 
gehorsamst 
Friderica  Carolina  Neuberin 
Leipzig  geb.  Weisenbornin 

Am  I.Jan.  Deutsche  Comoediantin. 

1734. 

Das  Buch  ist  also  Eigentum  der  Caroline  Neuber  gewesen, 
und  wie  sie  dazu  kam,  es  der  'Deutschen  Gesellschaft'  zu  schen- 
ken, erklärt  sich  aus  ihrer  Freundschaft  für  Gottsched.  Dieser 
war  1726  Senior  der  'Poetischen  Gesellschaft'  geworden,  die  er 
kurz  darauf  zur  'Deutschen  Gesellschaft'  umbildete.  Als  solcher 
verwaltete  er  die  auf  seinem  Zimmer  befindliche  Bibliothek  der 
Gesellschaft.^  Es  ist  sehr  gut  denkbar,  daß  Caroline,  die  seit  1727 
mit  ihm  befreundet  war,  das  Buch  ihm,  beziehungsweise  der 
'Deutschen  Gesellschaft'  überließ,  zu  einer  Zeit,  wo  die  zutage 
getretenen  Kunstgegensätze  der  beiden  sie  noch  nicht  zu  erbit- 
terten Feinden  gemacht  hatten.  Später  kam  das  Exemplar  dann 
mit  anderen  Literaturwerken  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  der 
'Deutschen  Gesellschaft'  in  die  Stadtbibliothek  Leipzig.  Hier 
fand  Wagenseil  es  vermutlich  vor.  Wenn  er  nun  in  der  Vorrede 
zu  seiner  Ausgabe  erzählt,  daß  auch  Lessing  die  Absicht  gehegt 
habe,  den  'Simplicissimus'  neu  herauszugeben,  so  liegt  die  Ver- 
mutung nahe,  daß  dieser  den  Roman  auch  aus  demselben  Band 
kennengelernt  hat. 

Den  jüngeren  Eomantikern  war  der  Roman  sehr  ans  Herz  ge- 
wachsen. Sie  lasen  ihn  nicht  nur  zu  Studienzwecken,  sondern 
auch  zur  Unterhaltung.  Das  abwechslungsreiche  Leben  des  Hel- 
den berührte  manche  verwandte  Saite  ihres  eigenen  Gemüts.  Be- 
sonders Brentano  und  Eichendorff  fühlten  sich  sehr  zu  dem  Buch 
hingezogen.  Brentano  kannte  die  Abenteuer  des  jungen  Simpli- 
cissimus schon  von  Jugend  auf,  und  Eichendorff  nahm  das  Buch 
sogar  als  Erholungslektüre  mit  auf  Reisen.^  Ihr  Interesse  für 
Grimmeishausen  blieb  aber  nicht  auf  sein  Hauptwerk  beschränkt. 
Anfang  des  Jahres  1808  schreibt  Brentano  an  Arnim  auf  der 
Rückseite  eines  Bildes,  das  für  seine  Bearbeitung  des  'Bären- 
häuters' bestimmt  war:  'Ich  werde  dir  aus  dem  Simplicissimus 
Stellen  und  besonders  die  Geschichte  des  ersten  Bärnhäuters  nebst 
seiner  Abbildung  senden.'^     Er  hat  den  'Bärenhäuter',  als  Zeit- 


1  Vgl.  Waniek:  'Gottsched  u.  d.  deutsche  Literatur  seiner  Zeit'  S.  83,  84. 

2  Vgl.  Rausse:  'EichendorfFs  Beziehungen  zu  der  volkstümlichen  deut- 
schen Romanliteratur  des  17.  Jahrhunderts'  ('Eichendorff-Kalender'  1913) ; 
und  Rausse:  'Grimmeishausen  und  die  Romantik'  ('Germania'  1900,  Wissen- 
schaftl.  Beilage  25). 

3  Steig  S.  246. 


16       Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrh.  im  Zeitalter  der  Romantik 

Satire  umgearbeitet,  in  der  'Einsiedlerzeitung'  erscheinen  lassen 
und  versprach  sich  so  viel  davon,  daß  er  am  8.  April  an  seinen 
Freund  schreibt:  'Ich  glaube,  der  Bärnhäuter  wird  jedermann 
Spaß  machen  ...  Er  würde,  einzeln  gedruckt,  beinahe  ein  Volks- 
büchlein werden  können.'  Ludwig  Grimm  sticht  dasselbe  Kupfer 
dazu,  das  auch  Grimmeishausen  benutzt  hat:  ein  Bild  aus  Jost 
Ammans  'Charta  Lusoria'.^ 

Über  die  Bärenhäutersage  und  ihren  Einfluß  auch  auf  die  Ro- 
mantiker hat  Gaismaier^  ausführlich  berichtet.  Die  treueste 
Wiedergabe  der  Grimmelshausenschen  Erzählung  ist  die  bereits 
erwähnte  von  Eduard  von  Bülow,  der,  wie  wir  sahen,  auch  den 
'Stoltzen  Melcher'  erneuert  hat. 

Von  den  kleineren  Schriften  Grimmeishausens  hat  die  Erzäh- 
lung vom  Galgenmännlein  bei  den  Romantikern  besonderen  Er- 
folg gehabt.  Allerdings  ist  es  nicht  Grimmeishausen  allein,  durch 
den  die  Sage  vom  'Allräungen'  bewahrt  geblieben  ist,  aber  jeden- 
falls geht  Brentano  auf  diesen  Dichter  in  der  'Gründung  Prags' 
zurück,  wo  er  in  seinen  Anmerkungen  zum  Drama  ein  ganzes 
Stück  aus  dem  'Galgenmännlein'  zitiert.^  Auch  Arnim  wird  die 
Erzählung  Grimmeishausens  für  seinen  Cornelius  Nepos  in  der 
'Isabella  von  Ägypten'  benutzt  haben,^  wie  er  ja  auch  den  'Bären- 
häuter' für  diese  Novelle  verwertete.  Ungefähr  gleichzeitig  mit 
Arnim  und  Brentano  erscheint  Eouques  Erzählung,  die  ver- 
schiedene Nachahmungen  herbeiführte,  sogar  eine  dramatische 
Bearbeitung,  'Vizlipuzli',  von  Rosenau.^ 

Arnim  hat  in  der  schon  mehrfach  genannten  Erzählung  'Der 
Krieg'  einen  zweiten  größeren  Roman  Grimmeishausens  als  Quelle 
verwendet.  Er  verschmilzt  hier  nämlich  sehr  geschickt  Mosche- 
roschs  Gesicht  'Soldatenleben'  mit  einigen  Kapiteln  aus  dem  An- 
fang des  'Springinsfeld',  wo  der  Held  uns  von  seiner  Begegnung 
mit  der  Zigeunerin  Courasche  erzählt  und  ihren  ganzen  Aufzug 
beschreibt. 

Auf  dieselbe  Stelle  in  Grimmeishausens  Roman  geht  Eichen- 
dorff  in  'Dichter  und  ihre  Gesellen'  zurück.*' 


^  Der  Abdruck  dieses  Bildes  befindet  sich  in  der  'Trösteinsamkeit'  und 
bei  Schölte:   'Zeitschrift  für  Bücherfreunde'  (4.  Jahrg.)  Heft  I,  S.  9. 

2  Gaismaier:  'Die  Bärenhäutersage'.  Programm  des  Gymnasiums  Ried 
1903/04. 

*  Rausse:  'Germania'  S.  193. 

*  Bode  S.  61  ist  anderer  Meinung;  er  glaubt,  ein  Bericht  über  den 
Alraun  und  die  Abbildung  eines  solchen  Männchens  in  'Saturnalia:  Das  ist, 
Eine  Compagnie  Weihnachts-Fratzen  Oder  Centner-Lügen'  habe  Arnim 
inspiriert. 

5  Vgl.  A.  Ludwig  in  'Euphorien'  Bd.  17,  S.  615—624. 

«  Rausse  sagt  im  'EichendorfF-Kalender'  (1913),  daß  Eichendorflf  dabei 
Arnims    Erzählung   und    nicht    Grimmeishausens   Roman    selbst   vorgelegen 


Das  Auf  leben  der  Literatur  des  17.  Jahrb.  im  Zeitalter  der  Romantik       17 

Vielleicht  bewußt,  vielleicht  unbewußt  lehnt  sich  Jean  Paul 
im  Leben  Fibels  an  Grimmeishausen  an.  Er  kleidet  die  Ent- 
stehungsgeschichte dieses  Werkes  ganz  ähnlich  ein,  wie  Grimmels- 
hausen  das  Auffinden  seines  'Ewigwährenden  Calenders'.  Beide 
Dichter  stellen  angeblich  ihr  Werk  aus  losen  Erzählungen  zu- 
sammen, die  als  Einwickelpapier,  Nähmuster  u.  ä.  verwendet 
worden  waren.  Jean  Paul  läßt  die  Jugend  im  Dorf  Heiligengut 
danach  suchen,  Grimmeishausen  entdeckt  sie  bei  einer  Butter- 
händlerin.-^ 

Grimmeishausen  bezieht  sich  in  seinen  Werken  des  öfteren 
auf  andere  seiner  Schriften.  So  spricht  er  im  'Springinsfeld'  über 
die  'Courasche'  und  den  'Simplicissimus',  im  'Simplicissimus'  liest 
der  westfälische  Pfarrer  seinen  'Joseph',  im  'Galgenmännlein' 
■uard  der  'Teutsche  Michel'  erwähnt  usw. 

Dasselbe  tut  Jean  Paul.  Im  'Hesperus'  ist  Viktor  ein  eifriger 
Leser  der  'Unsichtbaren  Loge'.  Doch  hat  Jean  Paul  hier  wohl 
nicht  Grimmeishausen  nachahmen  wollen,  sondern  er  übernimmt 
diesen  Zug  von  Sterne,  der  sich  in  der  'Empfindsamen  Reise'  auf 
den  'Tristram'  bezieht.^ 

Auch  für  Jakob  Grimm  ist  Grimmeishausen  kein  Fremder. 
Er  zitiert  ihn  wiederholt  in  seinem  Wörterbuch.  Und  mit  Recht, 
denn  es  gibt  wohl  keinen  Dichter,  der  für  die  volkstümliche 
Sprache  des  17.  Jahrhunderts  typischer  wäre.  Jedenfalls  hat 
Grimm  eingehende  Studien  über  ihn  gemacht,  denn  sein  Urteil 
über  einige  wichtige  Fragen  mit  Bezug  auf  diesen  Dichter  ist 
ebenso  scharf  wie  richtig.  Für  Adalbert  Keller  war  es  immer 
maßgebend.^ 

Die  bekannte  Erzählung  aus  Arnims  'Wintergarten'  mit  dem 


habe.  Er  folgert  dies  aus  dem  Gebrauch  des  Namens  'Libuschka',  der  sich 
bei  Grimmeishausen  nicht,  bei  Arnim  wohl  finde.  Sollte  da  nicht  ein  Irrtum 
vorliegen?  Bei  Arnim  heißt  die  junge  Zigeunerin  'Libussa'  (vgl.  auch  Hausse 
in  der  'Germania'  [1910],  Wissenschaftl.  Beil.  2.5),  die  Figur  der  Courasche 
hat  keinen  Namen.  Bei  Grimmeishausen  finden  wir  den  Namen  'Lebuschka' 
oder  'Libuschka'  wiederholt,  sowohl  in  der  'Courasche'  wie  im  'Springinsfeld'. 
Dort  heißt  die  Courasche  selbst  so,  die  junge  Zigeunerin  wird  nicht  mit 
Namen  genannt.  Daß  Eichendorff  also  den  Namen  'Libuschka'  und  nicht 
'Libussa'  verwendet,  scheint  mir  eher  ein  Beweis  dafür,  daß  er  den  Original- 
roman wohl  gekannt  hat,  um  so  mehr,  da  bei  ihm  die  Figur  der  Courasche 
den  Namen  führt. 

1  Werner:  'Jean  Paul  und  Grimmeishausen'.  'Studien  zur  vgl.  Literatur- 
geschichte' Bd.  5,  Heft  4,  S.  392  flF. 

^  J.  Czerny:  'Sterne,  Hippel  u.  Jean  Paul'.  'Forsch,  z.  neueren  Literatur- 
geschichte' Bd.  27,  S.  70.  Übrigens  kommt  dies  auch  bei  Tieck  vor.  In  seinem 
'Gestiefelten  Kater'  nennt  das  Publikum  im  Vor.spiel  in  der  Ausgabe  im 
Phantasus  auch  die  anderen  Märchenkomödien  des  Dichters. 

3  Vgl.  den  Aufsatz  Kellers  über  Grimmeishausen  im  'Serapeum'  (17.  Jahr- 
gang, 1856). 

Arcliiv  f.  n.  Sprachen.     Sonderlieft.  9 


18       Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrb.  im  Zeitalter  der  Romantik 

Titel  'Die  drei  Erznarren'  ist  eine  verkürzte,  sonst  aber  genaue 
Wiedergabe  des  'Schelmuffsky'  von  Christian  Reuter.  Dieses 
Werk  war  ein  Lieblingsbuch  der  Romantiker.^  Brentanos  Bruder 
Christian  hatte  es  entdeckt,  und  Brentano  las  es  bei  seinem  Besuch 
in  Berlin  dem  Freund  vor,  der  sich  daran  ergötzte  und  bald  den 
Plan  einer  Neuausgabe  faßte.  Am  18.  Februar  1808  bittet  er 
Brentano  um  eine  kritische  Anzeige  von  'Schelmuffskys  Reise  um 
die  Welt'  mit  interessanten  Bruchstücken.  Hübsch  ist  der  Nach- 
satz: 'Du  kannst  zulügen,  daß  die  Balken  brechen.'  Auf  etwas 
mehr  Lüge  kam  es  ihm  offenbar  bei  dem  Lügenroman  nicht  an. 
Ein  Jahr  später  kann  er  dem  treuen  Mitarbeiter  dann  die  fertige 
Erzählung  im  'Wintergarten'  übersenden.^ 

In  seinem  'Bärenhäuter'  hat  sich  Brentano  einen  köstlichen 
Scherz  mit  den  Hauptfiguren  aus  Reuters  Roman  gemacht.  Er 
vermehrt  nämlich  die  in  Bärenhäuters  Zimmer  gemalten  Berühmt- 
heiten um  das  Bild  Schelmuifskys  und  des  Bruder  Grafen,^  wo 
sie  nun  in  holder  Eintracht  mit  dem  würdevollen  Gottsched,  der 
ebenfalls  hinzugekommen  ist,  die  Wände  zieren. 

Daß  diese  Schwärmerei  für  den  Schelmuffsky  zwischen  Arnim 
und  Brentano  einen  ganzen  Briefwechsel  im  Schelmuffskyton  ent- 
stehen ließ,  ist  bekannt.  Auch  daß  neben  dem  'Herrn  Bruder 
Grafen'  häufig  die  Bezeichnung  'Herzbruder'  aus  dem  'Simpli- 
cissimus'  auftauchte,  sehr  oft  als  Unterschrift.  Sogar  Gryphius 
mußte  zu  dieser  Spielerei  herhalten.  So  schreibt  Brentano  an 
Arnim  mit  Bezug  auf  einen  gemeinsamen  Bekannten:  'dieser 
liebenswürdige,  kriegerische  Horribilis',*  doch  offenbar  eine  An- 
spielung auf  den  'Horribilicribrifax'. 

Auch  der  sprachgewandte  Balthasar  Schupp  erwacht  in  der  Zeit 
der  Romantik  wieder  zu  neuem  Leben.  Im  'Heidelberger  Taschen- 
buch' von  Schreiber  werden  1809  vier  seiner  Märchen  veröffent- 
licht. Der  Herausgeber  macht  eine  bemerkenswerte  Fußnote,  die 
ein  inniges  Verständnis  für  die  Dichter  des  17.  Jahrhunderts  ver- 
rät: 'Der  protestantische  Abraham  a  Sancta  Clara,  nur  noch 
witziger,  geistvoller  und  gehaltener  als  jener,  aber  vielleicht  eben 
darum  weniger  bekannt.'^  Das  eindrucksvolle  Lied  Nicolais 
'Wachet  auf,  ruft  uns  die  Stimme'  war  den  Herausgebern  des 
'Wunderhorns'  auch  durch  Schupp  bekannt  geworden.     Er  hatte 

1  Rausse  berichtet  in  der  'Germania'  (1910)  ausführlich  darüber.  Vgl. 
auch  die  Vorrede  zu  der  Ausgabe  des  'Schelmuffsky'  von  Schullerus,  Neu- 
drucke Nr.  57.58. 

2  Vgl.  seinen  Brief  bei  Steig  auf  S.  281. 

3  Vgl.  O.  Bleich:  'Entstehung  und  Quellen  der  Märchen  Brentanos 
(1897)  S.  50. 

*  Brief  vom  5.  Juli  1813.     Steig  S.  316. 
»  'Bibl.  Rep.'  V,  S.  122. 


i 


) 


Das  Aufleben  der  Literatur  des  17.  Jahrh.  im  Zeitalter  der  Romantik       19 

die  beiden  ersten  Strophen  in  seine  Schriften  (Frankfurt  1648) 
aufgenommen,  die  Arnim  und  Brentano  vorlagen. 

Die  Werke  unbekannter  Dichter  aus  dem  17.  Jahrhundert 
wurden  von  den  Romantikern  zwar  weniger  beachtet,  aber  doch 
nicht  ganz  übersehen.  So  nehmen  Arnim  und  Brentano  manches 
Fliegende  Blatt  in  ihre  Volksliedersammlung  auf,  und  Brentano 
veröffentlicht  in  den  Beiträgen  zum  'Gesellschafter'^  fünf  Pa- 
rabeln aus  dem  17.  Jahrhundert,  von  denen  der  Verfasser  nicht 
genannt  wird. 

Unter  dem  Titel  'Veriphantors  betrogener  Frontalbo'  erschien 
im  17.  Jahrhundert  ein  Roman,  dessen  Dichter  uns  über  seinen 
wahren  Namen  im  unklaren  läßt.^  In  der  'Einsiedlerzeitung' 
wurde  ein  sog.  'Organisches  Fragment'  daraus  abgedruckt.  Die 
Herausgeber  der  Zeitschrift  hatten  diesen  Ausdruck  von  Heinrich 
von  Kleist  übernommen  und  verstanden  darunter  ein  Stück,  das 
für  sich  ein  Ganzes  ausmacht,  zugleich  aber  'auf  eine  weitere 
Verbindung  hindeutet,  wie  alles  in  der  Welt'.^  Wir  finden  in  der 
Einsiedlerzeitung  mehrere  solcher  'Organischen  Fragmente'. 

An  der  Herausgabe  des  Fragments  'Frontalbo  und  die  beiden 
Orbellen'  ist  außer  den  Unterzeichneten  —  Jakob  Grimm  und 
Arnim  —  auch  Brentano  beteiligt;  er  gab  sogar  die  Anregung 
dazu,  wie  aus  seinem  Brief  an  Arnim  vom  8.  April  1808  hervor- 
geht: 'Die  Platte  (eines  Kupferabdrucks)  selbst  geht  morgen  ab 
. . .  zugleich  mit  einer  wunderschönen  Scene  aus  Orbella  und 
Frontalbo,  einem  meiner  kleinen  Romane  des  17.  Jahrhunderts, 
die  ich  für  dich  von  Grimms  abschreiben  ließ.  Die  Verse,  die  die 
Orbella  singt,  sind  sehr  schlecht.  Ich  wünsche,  daß  Du  ebenso 
viel  andre  schöne  dieser  Art  und  Zeit  statt  ihrer  hinsetzt;  sie 
liegen  sehr  in  Deinem  Talent,  so  wie  etwa  die  in  der  Folge  von 
Liebesklagen'  ('Wunderhorn').^  Arnim  erfüllte  den  Wunsch  des 
Freundes,  und  mit  seinen  Versen  erschien  die  Erzählung  am 
7.  Mai. 

Wir  können  den  Romantikern  für  ihre  Bestrebungen,  das 
Alte  und  Unbekannte  in  der  einheimischen  Kunst  ihren  Zeit- 
genossen wieder  zugänglich  zu  machen,  nicht  dankbar  genug 
sein.  Mit  kundigem  Blick  und  sicherer  Hand  haben  sie  dabei 
aus  dem  Wust  fremdländisch  gefärbter  Produkte,  deren  die  Lite- 


^  Herausgegeben  von  F.  W.  Gubitz.  1817  erschienen  vier  Parabeln,  1818 
noch  eine. 

2  'Veriphantors  betrogener  Frontalbo'  befindet  sich  in  der  Kgl.  Bibliothek 
Berlin  unter  Yu  5631.  Vermutlich  ist  Veriphantor  Pseudonym  für  Jo.  Gor- 
gias;  vgl.  Goedeke  III,  S.  241. 

'  Vgl.  die  Bemerkung  Arnims  in  der  'Einsiedlerzeitung"  vom  26.  April. 
Pfaffs  Neudruck  der  'Trösteinsamkeit'  S.  71. 

*  Vgl.  den  Abdruck  des  Briefes  bei  Steig  S.  251. 


20        Das  Auflfbcii  der  LiicM-aiiir  dos  17.  Jalirli.  im  Zoitaller  dor  Romantik 

ratur  des  17.  Jahrhunderts  so  viele  zählt,  die  echt  deutschen 
Kunstwerke  herausgegriffen.  Schlicht  und  anspruchslos,  humor- 
und  gemütvoll,  mit  einer  gesunden,  ehrlichen  Derbheit  und  doch 
auf  einen  religiösen  Grundton  gestimmt,  entsprechen  diese  Dich- 
tungen wie  wenige  den  inneren  Tiefen  des  deutschen  Wesens. 
Darum  waren  sie  auch  wie  wenige  dazu  geeignet,  von  den  Ro- 
mantikern, deren  Wollen  und  Schaffen  im  letzten  Grunde  überall 
darauf  hinausging,  das  Gefühl  fürs  Deutschtum  im  Volk  zu  er- 
wecken und  lebendig  zu  erhalten,  im  Dienste  ihres  hohen  Ideals 
bearbeitet  zu  werden. 

Amsterdam.  M.  J.  Deu sohle. 


I 


Claudius  und  Gerstenberg. 

Als  Matthias  Claudius^  in  den  Jahren  1759 — 61  in  Jena 
dem  Studium  der  Theologe  oblag,  trat  er  der  'Teutscheu 
Gesellschaft'  bei,  die  nach  dem  Vorbilde  der  von  Gottsched  ge- 
stifteten und  eine  Zeitlang  geleiteten  'Teutschen  Gesellschaft'  in 
Leipzig  die  Dicht-  und  Redekunst  pflegte;  man  kam,  meist  Sonn- 
abends, zusammen,  verlas  moralische  Abhandlungen  oder  trug 
seine  Poesien  vor  und  unterwarf  sie  dem  Urteil  der  Gesellschaft. 

Auch  Claudius'  Landsmann  Heinrich  Wilhelm  von 
Gerstenberg^  gehörte  ihr  während  seiner  Jenaer  Studien- 
zeit an;  1759  erschienen  seine  'Tändeleyen',  anmutige  ana- 
kreontische  Gedichte  und  Liedlein,  die  zum  Teil  schon  in  der 
Gesellschaft  unter  allgemeinem  Beifall  vorgelesen  waren^;  sie 
übertrafen  allerdings  an  Frische  der  Empfindung,  Anschaulich- 
keit der  Schilderung,  Lebhaftigkeit  der  Sprache  und  Wohllaut 
der  Verse  weit  alle  Reimereien,  die  in  den  fünf  Jahre  vorher  her- 
ausgegebenen 'Schriften  der  Gesellschaft'  sich  ans  Licht  gewagt 
hatten.  Voll  scheuer  Ehrfurcht  blickte  der  einfache  Holsteiner 
Pfarrerssohn  zu  dem  gefeierten  und  weltgewandten  Dichter  auf 
und  bewunderte  neidlos  die  Poesien  des  Älteren.  Doch  ein  engeres 
Verhältnis  wollte  sich  zwischen  beiden  persönlich  noch  nicht  recht 
anknüpfen;  erst  als  Gerstenberg  die  Universität  verlassen  hatte, 
entspann  sich  durch  Vermittlung  eines  gemeinsamen  Studien- 
freundes, das  Magisters  Jakob  Friedrich  Schmidt^,  ein 
Briefwechsel,  der  schließlich  zu  enger  und  langdauernder  Freund- 
schaft zwischen  den  beiden  an  Charakter  recht  verschiedenen 
Personen  führte. 

Für  Schmidt,  der  sich  in  sehr  ungewisser  Lage  befand  und  in 
großer  pekuniärer  Verlegenheit  war,  hatte  Gerstenberg  1760  eine 
Sammlung  veranstaltet  und  ihm  eine  Hauslehrerstelle  ('Hof- 
meister' sagte  man  damals)  bei  dem  Konferenzrat  v.  Thienen  auf 
Wittmoldt  bei  Plön  verschafft,  die  jener  von  Neujahr  1761 — 62 
bekleidete.     Von  dort  aus  schrieb  Schmidt  am   19.   April   1761 

1  Geboren  am  15.  August  1740  zu  Reinfeld  in  Holstein,  gestorben  am 

21.  Januar    1815    in    Hamburg.      Biographien    von    Wilhelm    Herbst 
(3.  Auflage,  Gotha  1876)  und  Wolfgang  Stammler   (Halle  a.  S.  1915). 

2  Geboren  am  3.  Januar  1737  zu  Tondern  in  Schleswig,  gestorben  am 

1.  November  1823   in  Altona.     Eine  Biographie  haben  wir  von  Dr.  A.  M. 
Wagner  zu  erwarten. 

*  'Kritische  und  zuverlässige  Nachrichten  von  den  neuesten  Schriften 
für  die  Liebhaber  der  Philosophie  und  schönen  Wissenschaften'  II.  Bd., 
St.  1   (Jena  u.  Leipzig  1762),  S.  189. 

*  Geboren    am    2.    April    1730    zu   Bla.sienzell   bei    Gotha,    gestorben    am 

2.  März  1796.     Vgl.  'Allgemeine  deutsche  Biographie'  XXXVI,  S.  777—781. 


22  Claudius  und  Gerstenberg 

unter  anderem  an  Gerstenberg:  'Ebenso  aber  wünschte  ich  auch, 
daß  Sie  eine  kleine  Correspondenz  mit  dem  jüngsten  Claudius 
haben  möchten.  Ich  erinnere  mich,  daß  er  immer,  so  lange  Sie 
von  Jena  weg  sind,  recht  schmachtend  nach  einem  Briefe  von 
Ihnen  ausgesehen  hat.  Er  wollte  mir  bei  meiner  Abreise  einen 
Brief  an  Sie  mitgeben,  befürchtete  aber,  Sie  möchten  ihm  nicht 
antworten.  Kann  ich  ihm  dann  etwa,  wenn  ich  etwa  an  ihn 
schreibe,  das  Gegentheil  versichern?'^  Gerstenberg  antwortete 
Schmidt  aufmunternd,  und  nun  begann  eine  Korrespondenz,  die 
leider  nur  lückenhaft  uns  erhalten  ist.  Vor  allem  besitzen  wir 
nur  Claudius'  Briefe,  da  Gerstenbergs  Antworten  mit  in  dem 
Autodafe  untergegangen  sind,  das  Claudius  in  den  neunziger 
Jahren  über  seine  gesamte  Korrespondenz  ergehen  ließ.  Aber 
auch  die  Schreiben  von  Claudius  sind  nicht  vollständig  erhalten. 
Direktor  Dr.  Carl  Christian  Redlich  in  Hamburg  scheint  sie  einst 
alle  besessen  zu  haben  und  hat  eine  Anzahl  in  einem  Festpro- 
gramm mitgeteilt;  aber  nach  seinem  Tode  sind  sie  in  alle  Winde 
zerstreut  worden.  Was  von  den  verschiedensten  Seiten  zusammen- 
zubekommen mir  geglückt  ist,  lege  ich  im  folgenden  in  getreuem 
Abdruck  (unbedeutende  Schreibfehler  sind  stillschweigend  ver- 
bessert) vor.  Um  eine  Übersicht  über  den  ganzen  Bestand  zu 
erhalten,  habe  ich  auch  die  von  Eedlich  bereits  publizierten 
Briefe,  deren  ungenaue  Wiedergabe  ich  in  vielen  Fällen  nach 
dem  Original  verbessern  konnte,  beigefügt. 

Für  die  gütigst  überlassenen  Handschriften  habe  ich  zu 
danken  den  Herren  Rudolf  Brockhaus  Erben  zu  Leipzig  (Nr.  8), 
Stadtschulrat  a.  D.  Dr.  Fritz  Jonas  (Nr.  20),  Gotthold  Lessing 
(Nr.  2,  3,  5,  6,  9,  10,  15,  18,  21—51)  und  Professor  Dr.  Richard 
M.  Meyer  t  (Nr.  7)  in  Berlin. 

Im  folgenden  gebrauchte  Abkürzungen:  H  =  Handschrift, 
E  =  Erstdruck,  T  =  Teildruck. 

1.« 

VortrefiTlicher  Gerstenberg! 
Der  H.  Magister  Schmidt  hat  mir  geschrieben,  daß  Sie  noch  bisweilen  an 
mich  dächten.  Ich  habe  mich  recht  sehr  darüber  gefreut.  Ich  kann  nur 
hoffen,  daß  es  Ihnen  lieb  sein  wird,  wenn  ich  Ihnen  sage,  daß  ich  vielen, 
recht  vielen  Antheil  an  dem  Anfang  Ihres  Glücks  nehme.  Werden  Sie  immer 
glücklicher,  liebster  Gerstenberg,  so  glücklich  als  ich  es  Ihnen  wünsche  und 
Ihr  Herz  es  verdient.  0,  ich  danke  Ihnen  tausendmal,  daß  Sie  den  H. 
Magister  Schmidt  so  glücklich  haben  machen  wollen,  als  er  gewiß  werden 
wird.  Wenn  ich  Sie  sonst  nicht  lieben  müßte,  so  würde  ich  Sie  bloß  dieser 
edlen  That  wegen  unendlich  lieben  und  hochachten. 


1  Vgl.    Eedlich,    llngedruckte    Jugendbriefe    des    Wandsbecker    Bothen. 
Programm'  (Hamburg  1881),  S.  3.     (Im  folgenden  zitiert:  Redlich.) 

2  H:   ?     E:  Redlich  S.  3  f. 


( 


Claudius  und  Gerstenberg  23 

Wollen  Sie  uns  nicht  bald  wieder  mit  einigen  süßen  Tändeleien  be- 
schenken? Nein,  liebster  Freund,  ob  es  gleich  große  Wollust  ist,  solche 
Tändeleien  zu  lesen,  so  haben  doch  die  tragischen  Empfindungen  einen 
mächtigen  Vorzug;  schenken  Sie  uns  also  lieber  ein  Trauerspiel  oder  sonst 
tragische  Stücke,  dabei  man  so  recht  weinen  muß.  Wie  unaussprechlich 
süß  ist  die  Thräne,  die  man  beim  Grabe  oder  überhaupt  beim  Unglück 
seines  Freundes  weint,  und  wer  wird  die  Thränen  besser  herauslocken 
können  als  Sie?  0,  bester  Gerstenberg,  wenn  Sie  so  recht  betrübte  und 
traurige  Gemälde  und  Empfindungen  liegen  haben,  gönnen  Sie  mir  das 
Vergnügen  solche  zu  lesen,  ich  will  Sie  auch  ewig  lieben. 

Leben  Sie  wohl,  liebster,  bester  Freund,  ich  bin  mit  der  größesten  Hoch- 
achtung und  Zärtlichkeit  ganz 

Jena,  den  18.  October  1761.  der  Ihrige 

M.  Claudius. 
2.1 
Mein  bester  Freund! 

Sind  Sie  noch  krank,  sehen  Sie  noch  so  blaß  aus,  als  Sie  aussahen,  da  Sie 
von  Segelerg  giengen?'*  0,  das  solte  mir  recht  leid  thun.  Seyn  Sie  von 
nun  an  nicht  mehr  krank,  ich  wollt'  es  nicht  gerne  haben,  weil  ich  Sie 
nicht  habe  sprechen  können;  so  muß  ich  an  Sie  schreiben,  aber  was?  daß 
ich  Sie  unaussprechlich  lieb  habe,  und  daß  ich  Sie  gerne  mal  sehen  und 
sprechen  wolte.  Schmidt  ist,  wie  Sie  wißen,  mein  naher  Nachbar,  er,  Gund- 
lach,  und  ich  halten  gute  Nachbarschaft',  uns  fehlt  nichts  als  Sie  — 

Ich  habe  auch  Tandeleyen  gemacht*,  Tandeleyen,  denn  ich  wüste  nicht, 
wie  ich  sie  anders  nennen  solte.  Hier  sind  sie,  seyn  Sie  so  gut,  und  sagen 
mir,  was  Ihnen  gefällt,  und  was  Ihnen  nicht  gefällt,  ein  wenig  weitläuftig, 
wenn  Sie  Zeit  und  Lust  haben.  Ich  wünsche  Ihnen  alles,  was  glücklich 
macht,  und  bin  ich  mit  der  grösten  Hochachtung 

Reinfeldt  d  18  8br  Ihr 

1762,  Claudius. 

3.» 

Mein  liebster  Freund! 

ich  verfolge  Sie  mit  meinen  Briefen  bis  in  Copenhagen,  Sie  sollen  zwar 
Dank  für  Ihre  Antwort  haben,  aber  nicht  den  feurigen  Dank,  den  ich  für 
Sie  fertig  hatte,  ich  wolte  von  Ihnen  nicht  gelobt,  ich  wolte  getadelt  seyn 
• —  doch  Sie  wolten  nach  Copenhagen,  und  zu  guter  Letzt  in  Schleswig  lieber 
loben  als  tadeln;  Nun  gut,  damals  hatten  Sie  Lust  zu  loben,  wenn  Sie  auch 
einmal  die  Lust  zu  tadeln  ergreift;  so  denken  Sie  auch  an  mich.  — 

1  H:  2  Seiten  4o.    E:  Kedlich  S.  4. 

*  Gerstenberg  verließ  Segeberg  als  Adjutant  v.  Gählers  in  dem  kurzen, 
durch  Peters  III.  Ermordung  abgebrochenen  Feldzuge  gegen  die  Russen. 
(Anm.  Redlichs.) 

3  Schmidt  war  Ostern  1762  bis  Michaelis  1763  Hauslehrer  bei  Hanssen  in 
Wessenberg,  östlich  von  Reinfeld  an  der  lübischen  Grenze.  Der  Plöner  Jo- 
hann Gabriel  Gundlach,  auch  ein  Jenenser  Studiengenosse,  ward  1764  Pre- 
diger zu  Petersdorf  auf  Fehmarn.     (Anm.  Redlichs.) 

*  'Tandeleyen  und  Erzählungen'  (Jena  1763),  ungeschickte  Nachahmung 
von  Gersten bergs  Gedichten,    von    der   zeitgenössischen  Kritik   herb   getadelt. 

5  H.:   3  Seiten  4«.     E:  Redlich  S.  5. 


24  Claudius  und  Gerstenberg 

Der  Magister  Schmidt  hat  die  Küße,  die  ich  ihm  Ihretwegen  geben  solte, 
richtig  empfangen,  und  ich  habe  wieder  ein  Halbdutzend  an  Sie  zu  besorgen : 
Sie  erhalten  sie  aber  nicht  mit  Überbringer  dieses,  Sie  sollen  sie  zu  gute 
haben,  wenn  ich  Sie  einmal  sehe  und  spreche;  aber  —  wenn  sehe  ich  Sie 
einmal?  —  wenn  die  Russen  wiederkomen?  0  nein,  so  soll  mir  lieber  genug 
seyn,  daß  ich  Sie  gesehen  habe,  —  also  wenn  ich  einmal  in  die  Gegend 
komme,  wo  Sie  sind  —  na  —  ich  hoffe  alle  Tage  daß  irgend  ein  Mensch 
aus  der  Gegend  meine  Dienste  nöthig  haben  möchte,  in  der  That,  mein 
liebster  Freund,  ich  hoflfe  auf  eine  Gelegenheit,  denn  nach  Glückstadt  gehen, 
und  anfangen  zu  plaidiren  —  das  kann  mir  der  Hunger  nur  süß  machen, 
wenn  Sie  mal  was  für  mich  wißen;  machen  Sie  sich  um  mich  verdient, 
ich  will  Sie  auch  gerne  lieber  haben  wollen.  Der  Magister  Schmidt,  Gund- 
lach  und  ich  wünschen  Ihnen  recht  viel  Glück  zum  neuen  Jahre.  Die  eloge 
des  H.  Huberts  von  Schmidt^  haben  wir  schon  gesehen,  und  uns  darob 
gefreut.     Leben  Sie  wohl  ich  bin 

Reinfeldt  d.  28  decembr  Ihr 

1762  Claudius. 

N.  S.  Der  Herr  Hofprediger^  wird  es  doch  nicht  übel  nehmen,  dass  ich 
'zu  erfragen  bey  et  cef  geschrieben  habe^,  ich  wüste  Sie  sonst  nicht  aufzu- 
finden. 

4.4 
Liebster  Freund! 

Ich  danke  Ihnen  recht  sehr  für  Ihre  freundschaftlichen  Gesinnungen, 
und  ich  will  Ihnen  noch  öfters  danken.  —  Ihrem  Rathe  in  Ansehung  des 
Herrn  Generalauditeurs  von  Caroc  bin  ich  gefolgt,  ich  habe  an  ihn  ge- 
schrieben; weil  ich  aber  nicht  weiß,  wo  er  sich  aufhält,  so  schicke  ich  Ihnen 
den  Brief  an  ihn;  Sie  werden  so  gut  sein  und  die  Adresse  darauf  machen. 
An  den  Herrn  Orthling^  werde  ich  den  nächsten  Posttag  schreiben.  Der  Herr 
Magister  Schmidt  hat  mir  so  viel  Gutes  von  ihm  gesagt,  daß  ich  mir  viel 
Glück  zu  der  Bekanntschaft  mit  ihm  wünschen  würde,  wenn  er  auch  nicht 
Generalauditeur  wäre.  Gundlach  und  Schmidt  empfehlen  sich  Ihnen.   Ich  bin 

Reinfeldt,  d.  7.  März  1763.  Ihr 

Claudius. 
5.« 
Mein  liebster  Freund  I 

Ich  habe  Ihren  Brief  über  den  H  Magister  Schmidt  richtig  erhalten. 
Schmidt  hat  durch  Ihren  Brief  mich  wieder  freundlich  gemacht,  denn  weil 


1  Michael  Huber,  damals  Mitarbeiter  an  d'Arnauds  'Journal  6tranger'  zu 
Paris,  später  Lektor  der  französischen  Sprache  in  Leipzig,  hatte  Schmidts 
'Poetische  Gemähide  und  Empfindungen  aus  der  heiligen  Schrift'  ins  Fran- 
zösische übersetzt.  Die  Übersetzung  ist  1766  in  Hubers  'Choix  de  po6sies 
allemandes'  wiederabgedruckt.      (Anm.  Redlichs.) 

2  Johann  Andreas  Gramer.     ^  Nämlich  auf  die  Adresse. 
4  H:   ?     E:  Redlich  S.  5  f. 

6  Generalauditeur  Oertling  war  G«rstenbergs  Freund  und  Mitarbeiter 
an  der  Zeitschrift  'Der  Hypochondrist',  dessen  letztes  Stück  von  ihm  her- 
rührt (vgl.  Gerstenbergs  Brief  an  Weiße:  'Archiv  für  Literaturgeschichte' 
IX,  S.  477  ff.). 

6  H:  3  Seiten  4«.     E:  Redlich  S.  6  f. 


Claudius  und  Gerstenberg  25 

er  imer  mit  seinen  Gedanken  so  weit  über  Feld  gegangen  ist,  und  ein  so 
mürrisches  Gesicht  hat;  so  hatte  ich  mich  zu  rächen  solche  finstre  und  ver- 
drießliche Mienen  angenomen,  als  die  Ceres  nimmermehr  mag  gemacht  haben, 
als  sie  erfuhr,  daß  ihre  Proserpina  durch  die  Küße  des  Pluto  entheiliget 
wurde,  mürrisch  ist  Schmidt  im  allerhöchsten  grad,  und  wen  es  wahr 
ist,  was  Gesner^  sagt,  daß  Liebende  gerne  einsame  Schatten  suchen,  so  liebt 
der  Jüngling  gewiß,  mann  kann  eine  halbe  Stunde  vor  ihm  peroriren,  und 
er  hört  nichts  davon,  wenn  mann  ihn  endlich  anstösst,  erwacht  er,  und  sagt 
zwey  Worte  und  denn  schläft  er  wieder  ein,  wenn  der  vertrauliche  Umgang 
mit  dem  Apoll  ihn  so  fühlloß  gegen  andre  Dinge  machte,  so  möchte  er  end- 
lich immer  fühlloß  seyn,  aber  das  ist  nicht,  ich  muthmaße  gar  daß  er  sich 
mit  ihm  entzweit  habe,  und  ein  ganz  anders  Protect  habe  groß  zu  werden. 
Kardinal  will  Schmidt  werden,  lieber  Gerstenberg,  wodurch?  Durch  die 
Jungfrau  Maria,  die  kostet  ihm  gegenwärtig  viele  Nächte,  aus  der  ganzen 
Landschaft  höhlt  er  Bücher  von  ihr  zusammen,  dicke  und  dünne,  große  und 
kleine  Bücher  von  Maria.  Er  sagt  zwar  selber,  weil  er  immer  so  ein 
Jungfernknecht  gewesen,  wolle  er  von  ihr  schreiben,  aber  glauben  Sie  es 
nicht,  er  will  Kardinal  werden.  Nun  wir  erwarten  sein  Schicksal,  und  seine 
Geschichte  der  Maria,  wozu  nur  wenge  data  in  der  Schrift  sind.'' 

Da  Schmidt  den  Apoll  so  erzürnet  hat;  so  hat  er  die  hiesige  Gegenden 
ganz  und  gar  verlaßen,  er  sprach  bey  mir  vor,  als  er  vorbey  ging,  aber  ich 
hatte  iust  die  Tabelle  von  den  verschiedenen  Gattungen  der  Tortur  vor 
mich,  O  wie  floh  der  Gott  als  er  sie  gewahr  ward!  von  Carroc  habe  ich  noch 
keine  Antwort*,  könten  Sie  indeß  eine  Secretair  Stelle  erfahren;  so 
nehme  ich  sie  lieber,  hier  war  nämlich  iemand,  der  meinen  Eltern  das 
auditeurseyn  halb  zuwieder  gemacht,  oder  so  eine  Stelle  die  in  die  Policey 
und  nützlichen  Wissenschaften  einschlägt,  denn  die  hab'  ich  hauptsächlich 
studirt,  inzwischen  das  erste  das  beste,  ich  wollte  gar  zu  gerne  vom  Hause. 
Eine  Neuigkeit  muß  ich  Ihnen*  doch  noch  mittheilen,  wo  Sie  sie  noch 
nicht  wißen.  ich  bin  in  den  Zuverläßigen  Nachrichten,  die  zu 
Jena  herauskommen  von  B  vermuthlich  Blasch*  häßlich  heruntergemacht 
wegen  der  Tändeleyen,  und  Sie  bis  in  den  Himel  erhoben,  alle  Tändeleyen 
sind  nicht  von  der  rechten  Art,  einige  erträglich  als  der  steigende  Busen, 
die  Erzählungen  sind  schlecht,  der  Arme  Mann  und  der  Jüngling  be- 
dürfen sehr  der  Feile  sonst  gehts  noch  wohl  an.  es  ärgert  mich  die  Kritick 
nicht,  aber  daß  Herr  Blasch  so  stolz  spricht,  das  ist  doch  viel,  indeßen 
will  ich  Schmach  erdulden  und  stille  seyn.  Wollen  Sie  wohl  so  gut  seyn 
und  sehen,  ob  Sie  den  H  Pontoppidan  nicht  ausfragen  können,  er  ist  ein 
Vetter  von  dem  Bischof,  ich  weiß  aber  nicht  wo  er  ist,  bey  seinem  Vetter 


1  Der  Idyllendichter  Salomon  Geßner. 

2  Schmidts  Schrift  erschien  unter  dem  Titel  'Leben  und  Sitten  der  heil. 
Jungfrau  Maria'   (Gotha  1765). 

*  Von  Justizrat  v.  Caroc,  dem  Oertling  schon  im  Januar  auf  Gersten- 
bergs Veranlassung  Claudius  zu  einer  Auditeurstelle  empfohlen  hatte,  war 
an  diesen  so  günstig  geschrieben  worden,  daß  Oertling  nicht  zweifelte, 
'Herr  Claudius  werde  bei  nächster  Erledigung  einer  Auditeurstelle  seines 
Wunsches  gewährt  werden'.     (Anm.  Redlichs.) 

*  Johann  Christian  Blasch  (1718 — 92)  war  Rektor  der  Stadtschule  und 
Professor  der  Theologie  zu  Jena.  Die  Rezension  steht  im  2.  Bd.,  Stück  1, 
S.  189—196. 


26  Claudius  und  Gerstenberg 

oder  in  einem  andern  Hause  in  Copenhagen'!  werden  Sie  aber  nicht  böse, 
daß  ich  Ihnen  die  comission  auftrage,  wenn  Sie  ihn  nicht  ausfragen 
können;  so  zerreißen  Sie  nur  den  Brief;  sonst  sähe  ichs  gerne,  daß  er  bald 
zu  Stelle  käme.  Leben  Sie  wohl,  ich  küße  Sie  Tausendmal  und  bin  ewig 
Beinfeldt.  d  11  aprill  der  Ihrige 

1763  M  Claudius. 

6.1 
Mein  liebster  Freund! 

Ich  bitte  Sie  tausendmal  um  Verzeihung  wegen  den  Verdrießlichkeiten, 
die  ich  Ihnen  durch  den  verwünschten  Brief  an  Pontoppidan  verursacht 
habe,  ich  bin  unschuldig,  ich  batt  den  H  candidaten  Pontoppidan  darin  um 
die  2  Luisd'or,  die  er  mir  noch  schuldig  ist,  und  zwar  ganz  freundschaftlich, 
leßen  Sie  den  Brief  selber,  so  werden  Sie  sehen,  daß  der  Verfaßer  des 
Menoza^,  wie  wir  hier  zu  Lande  steif  und  fest  glauben,  ohne  Ursache 
aufgebracht  worden,  es  verdrießt  mich  um  des  iungen  Pontoppidan  willen, 
der  ein  rechter  ehrlicher  Däne  ist,  daß  der  Brief  seinem  Vetter  dem  Pro- 
canzler  in  die  Hände  gefallen,  da  er  sich  gegen  Ihren  Bedienten  so  bezeigte; 
was  wird  er  gegen  seinen  Vetter  nicht  für  manoeuvres  machen?  Doch  ich 
kann  nicht  dafür  und  Sie  auch  nicht  —  wie  gesagt  also,  leßen  Sie  den 
Brief,  und  verbrennen  ihn,  und  vergeben  Sie  es  mir,  daß  ich  Ihnen  den- 
selben zugeschickt  habe  — 

Was  die  auditeursielle  betrieft,  mein  Liebster,  so  überlaße  ich  es  Ihnen 
gänzlich,  was  Sie  für  gut  befinden,  das  will  ich  auch,  an  das  Csimercollegium 
habe  ich  gar  nicht  gedacht,  als  ich  Ihnen  schrieb  daß  ich  auch  die  cameralia 
studirt  hätte,  so  hoch  versteig  ich  mich  nicht  in  meinen  proiecten,  sondern 
ich  dachte  wenn  etwa  ein  Herr,  der  ein  Liebhaber  von  dergleichen  Sachen 
wäre,  einen  Secretairen  nöthig  hätte,  oder  —  ich  wüste  selbst  nicht  was 
ich  dachte,  kurz  Sie  solten  es  nur  wißen,  daß  ich  auch  das  cameral  studirt 
habe.  Schreiben  Sie  mir  bald  wieder,  ich  freue  mich  immer  so,  wenn  ich 
einen  Brief  von  Ihnen  kriege,  wenn  mir  ein  andrer  eben  daßelbe  schreibt, 
so  ists  mir  nur  halb  so  angenehm,  wie  geht  das  zu?  —  ich  liebe  Sie  herz- 
lich und  bin 

Reinfeld  d  12  i»/ai  Ihr 

1763  Claudius. 

[Adresse:]  ä  Monsieur  Monsieur  de  Gerstenierg  Lieutenant  de  Cavallerie 
ä  Copenhagen  abzugeben  bey  dem  Herrn  M orville  am 
Strande.    F  ranco. 

7.» 
Mein  liebster  Freund, 

Sie  müßen  es  mir  ia  nicht  übel  nehmen,  daß  ich  nun  so  lange,  lange 
nicht  an  Sie  geschrieben  habe  (denn  in  der  That  es  komt  mir  für,  als  wenn 
Jahrhunderte  zwischen  meinen  letzten  Brief  und  dießem  lägen)  mein  dickes 


i 


1  H :  2  Seiten  4  «.   Auf  der  vierten  Seite  die  Adresse.   E :  Redlich  S.  7. 

2  Der  dänische  Prokanzler  Erik  Pontoppidan  ließ  anonym  im  Jahre  1742 
den  Roman  'Menoza'  erscheinen,  der  bald  unter  dem  Titel  'Menoza,  ein 
asiatischer  Prinz,  welcher  die  Welt  umher  durchzogen,  Christen  zu  suchen, 
aber  der  Gesuchten  wenig  gefunden'  ins  Deutsche  übersetzt  wurde  (1754  in 
dritter  Auflage). 

3  H:  3  Seiten  4«.     E:  Redlich  S.  7—9. 


Claudius  und  Gerstenberg  27 

hypochondrisches  Blut  ist  schuld  daran,  nun  bin  ich  nicht  viel  mehr  von  dem 
Punkt  entfernt,  wo  ich  Schmidts  angefangene  Wochenschrift^  mit  vieler 
Naivitet  fortsetzen  könte.  Nachdem  ich  Ihnen  dieß  gesagt;  so  kann  es 
Sie  nicht  befremden  wenn  ich  Ihnen  ein  kleines  Wiegenlied  abschreibe  deis 
ich  meiner  Schwester^  'bei  ihrer  kleinen  Tochter  zu  singen',  gemacht  habe. 
Das  Lied  heißt  so: 

Großmutter    Müller,    Großvater    und    Großmutter    Claudius,    Vater    und 
Mutter  Müller,  Tanten  Müllern  um  die  Wiege. 

alle 
Nun   liebes   Mädchen   schlummre  ein, 
0  schlaf  in  süßer  Ruh! 
wir  wollen  alle  stille  seyn, 
wir  sehn  dir  alle  zu. 

Großmutter  Müller  allein 
Du  liebe  kleine  Enkelin, 
ich  wein'  mit  Freuden  hier 
mein  Herz  auf  deine  Wiege  hin  =:;==: 
ich  fühls,  ich  leb'  in  ihr. 

Tutti 
Nun  liebes  Mädchen  et  cet. 

Großvater  und  Großmutter   Claudius 
Kind  :=,  einen  Blick  —  denn  schlafe  du, 
denn  wiegen  wir  dich  ein, 
und  küßen  dir  die  Augen  zu, 
du  wirst  wohl  schläfrig  seyn. 

Tutti 
Nun  liebes  Mädchen  et  cet. 

Vater    und   Mutter 
Sie  ist  doch  Fleisch  von  unserm  Fleisch  = 
0,  wecket  sie  nicht  auf, 
du  Wiege  mache  kein  Geräusch, 
und  wecke  sie  nicht  auf! 

Tutti 
Nun  liebes  Mädchen  et  cet  — 

Die   Tanten 
0  seht,  wie  ruhig  schläft  sie  nun! 
wie  wallt  die  kleine  Brust! 
in  unserm  Arme  solt  du  ruhn. 
ira  Arm,  du  =  unsre  Lust. 


1  Der  schon  oben  erwähnte  'Hypochondrist',  erschien  vom  2.  Januar  bis 
19.  Juni  1762  zu  Schleswig  in  25  Nummern. 

2  Claudius'  Schwester  Dorothea  Christina  (geboren  1744)  war  seit  dem 
5.  November  1762  mit  dem  Pastor  Christian  August  Gustav  Müller  zu 
Gleschendorf,  Amt  Ahrensböck,  verheiratet  und  starb  bereits  am  26.  Mai 
1766. 


28  Claudius  und  Gerstenberg 

Tutti 
Nun  liebes  Mädchen  schlummre  ein 
0  schlaf  in  süßer  Ruh  et  cet  — 

Das  sind  in  einem  ganzen  Jahr  fast  alle  reime,  die  ich  gemacht  habe, 
und  vieleicht  habe  ichs  klug  gemacht,  daß  ichs  dabey  habe  bewenden  laßen, 
hätte  ich  noch  sonst  was  machen  sollen,  so  hätte  es  vom  Grab  und  von  Todten- 
gräbern,  von  Bahren  und  Beinhäußern,  von  Einöden  darin  hie  und  da  Alpen 
von  Menschenschädeln  trauren,  sein  müßen,  denn  das  ist  itzo  mein  Feld  — 

Nun,  ich  will  mich  mal  losreißen,  einmal  mit  Gewalt  menschlicher  ge- 
sinnet sein,  ich  küße  Sie,  Mein  lieber  Gerstenberg  lOmal  lOOmal  =:  =  wie 
ist  es  so  lieblich  zu  küßen !  Schmidt  ist  meinem  Kuße  nun  schon  ent- 
zogen, und  wo  er  nicht  wieder  auf  einer  Abentheuer  durchs  Ländlein  Hol- 
stein komt,  werde  ich  ihn  schwerlich  jemals  wieder  küßen^.  — 

Stirbt  in  Copcnhagen  nicht  ein  Secretair,  oder  braucht  nicht  ein  Junger 
Herr  einen  Hofmeister  mit  ihm  auf  die  universitet  zu  gehen?  wißen  Sie 
was  mir  neulich  eingefallen  ist,  ich  möchte  wohl  nach  das  Land  Norwegen, 
wenn  ich  da  nur  was  zu  thun  hätte,  bey  den  Bergwerken,  oder  sonst.  Der 
Himmel  weiß,  wo  ich  noch  hinkomme,  indeßen  habe  ichs  zu  Hauße  gut,  bis 
etwas  vorfält.  Her  Gundlach  lest  sich  Ihnen  empfhelen,  Sie  werden  doch 
wohl  seine  Antwort  auf  Ihren  Brief  richtig  erhalten  haben.  Leben  Sie  wohl, 
und  vergelten  Sie  nicht  gleiches  mit  gleichem,  Nein,  ich  hoflfe  bald  auf  einen 
Brief  von  Ihnen,  ich  bin 

Reinfeldt  d  2  Oct.  1763.  Ihr  Claudius. 

Es  sind  ia  auch  Krieglieder  von  einem  dänischen  Grenadier,  dem  lungern 
Bruder   des  preußischen,  herausgekomen^. 

8.3 

Meine  Bekandtschaft  mit  Bach*  hat  Grade  und  bisher  noch  dieselben  die 
Ovid  in  seinem  Büchlein,  der  Liebe  andichtet.  Da  Ihnen  alles  was  Bachen 
angehet,  wichtig  ist,  warum  sollte  ich  denn  nicht  lang  und  gut  erzählen,  daß 
ich  ihn  vorigen  Sonntag  Nachmittag  eine  Musick  in  der  neuen  Michaelis 
Kirche  habe  aufführen  sehen  und  hören.  Die  erste  Helfte  der  Musick  war 
von  ihm  selbst,  sie  war  aber  zu  schwach  besetzt  in  der  großen  Kirche 
Dienste  zu  thun,  und  daher  konnte  mann  nur  aus  dem  Maulzucken  einiger 
Menschen,  die  vorne  an  stunden,  und  aus  abgebrochenen  verlohren  Lauten 
erfahren  daß  gesungen  ward.  Das  merkwürdigste  dieses  Tages  also  ist 
daß  ich  Bachen  in  der  Kirche  sah  und  ihn  bis  an  sein  Hauß  verfolgte,  das 
H.  Dumpfä  mir  nur  in  abstracto  zu  sagen  wüste. 


1  Schmidt  war  wenige  Tage  vorher  nach  Thüringen  zurückgegangen,  wo 
er  1765  Prediger  in  seinem  Geburtsflecken  Zelle,  1773  Prediger  in  Gotha 
wurde.     (Anm.  Redlichs.) 

2  'Kriegslieder  eines  königl.  dänischen  Grenadiers  bey  Eröffnung  des 
Feldzuges'  (1762),  von  Gerstenberg  selbst  gedichtet. 

3  H :  3  Seiten  4  ".     Auf  der  vierten  Seite  die  Adresse.     E :  Redlich  S.  9  f. 

*  Karl  Philipp  Emanuel  Bach,  Sohn  Johann  Sebastians,  war  am  3.  No- 
vember 1767  als  Telemanns  Nachfolger  zum  Kantor  und  Musikdirektor  am 
Johauneum  in  Hamburg  erwählt  worden. 

5  Johann  Wilhelm  Dumpf,  der  erste  Redakteur  der  'Hamburgischen  Neuen 
Zeitung'  und  der  'Adreß-Comtoir-Nachrichten',  als  dessen  Mitarbeiter  Clau- 
dius nach  Hamburg  gezogen  war. 


Claudius  und  Gerstenberg  29 

Heute,  Diensttags  Morgens  gieng  ich  nun  in  das  Hauß,  darin  er  Sontags 
ging  und  traf  ihn  im  neglige,  darin  er  sprach  aber  nicht  spielte: 

-\-  verzeihen  Sie,  daß   Sie  mich  so  im  neglige  treffen. 

X  mann  findet  virtuosen  ordinoir  darin. 

+  bey  leibe  nicht,  das  sind  nicht  virtuosen,  das  sind  liederliche  Leute. 

X 

X  ich  komme  aus  Copenhagen  und  habe  einen  Gruß  für  Sie  von  H  Past. 
Resemtz,  wenn  Sie  sich  seiner  noch  erinnern. 

+  0  ja  —  wie  steht  es  um  die  Musick  in  Copenhagen"! 

X  sehr  mäßig,  Schoherf-  und  Ihr  Bruder^  sind  die  Lieblings  Autors, 
Sie  gefallen  nicht  sonderlich. 

4-  darin  muß  ich  mich  finden.  Schobert  ist  hier  auch  beckannt,  er  ist 
ein  Mann  der  Kopfs  hat,  aber  hinter  seiner  und  meines  Bruders  itzigen 
Composition  ist  nichts. 

X  sie  fällt  gleichwohl  gut  ins  Ohr. 

-\-  sie  fällt  hinein  und  füllt  es,  last  aber  das  Herz  leer,  das  ist  mein 
Urtheil  von  der  neuen  Musick,  der  neuen  comischen  Musick,  die  auch  in 
Italien,  wie  mir  Galuppi^  gesagt  hat,  Mode  ist,  so  daß  mann  gar  kein 
adagio,  lauter  räuspernde  Allegro,  allenfalls  ein  andantino  zu  hören  kricht. 

Der  König  von  Preußen  hasst  diese  Musick  aufs  äußerste,  sonst  findet  sie 
fast  allenthalben  Beyfall,  und  ich  habe  mich  in  meinen  Sonatinen  nur  ein 
wenig  zu  den  Geschmack  herunter  gelaßen. 

X  sie  verhält  sich  vieleicht  zur  eigentl.  Musick,  wie  sich  das  Witzige 
zum  pathetischen 

-f-  der  Vergleich  ist  nicht  übel,  die  Musick  hat  höhere  Absichten,  sie 
soll  nicht  das  Ohr  füllen,  sondern  das  Herz  in  Bewegung  setzen. 

Hier  sah  ich  ihm  steif  ins  Gesicht. 

X  Sie  haben  einige  piecen  gesetzt,  darin  Xaqny.irjQe  ausgedrückt  sind*, 
haben  Sie  die  Arbeit  nicht  fortgesetzt? 

-\-  nein,  die  Stücke  hab'  ich  gelegentlich  gemacht,  und  vergeßen 
X  es  ist  doch  gleichwohl  ein  neuer  Weg  — 

-\-  aber  nur  ein  kleiner,  mann  kanns  näher  haben,  wenn  mann  Worte 
dazu  nimmt. 

u  so  ferner,  denn  ich  kan  nicht  alles  auf  diesen  Bogen  bringen,  ich 
muß  Sie  noch  bitten,  daß  Sie  mir  bald  was  zu  übersetzen  verschaffen, 
denn  ich  hab  itzo  nichts  zu  thun,  und  muß  täglich  brodt  haben. 

ich  habe  mir  eine  Stube  auf  4  Wochen  gemietet,  das  traurigste  dabey  ist, 
daß  ich  täglich  mit  Lebensgefahr  zu  einem  Nachtstuhl  im  Keller  hinabsinken 
muß.  Die  adreße  des  Haußes,  wo  der  Nachtstuhl  im  Keller  steht  ist:  an 
der  Mühlenbrücke  bey  H  Schmidt  gerade  gegen  den 
Adler  über. 


1  Berühmter  Klavierspieler  in  Diensten  des  Prinzen  Conti  zu  Paris  (ge- 
storben 1768). 

2  Johann  Christian  Bach,  der  sogenannte  "Mailändische'  oder  'Englische' 
Bach. 

3  Baldessaro  Galuppi,  italienischer  Komponist  (1703 — 1785). 

«  'Piecen,  darin  Charaktere  ausgedrückt  sind',  interessierten  Gerstenberg 
vornehmlich.  Er  hat  dem  Bückeburger  Bach  einmal  vorgeschlagen,  die 
Geschichte  der  Kleopatra  ohne  Worte  musikalisch  darzustellen.  (Anmerkung 
Redlichs.) 


30  Claudius  und  Gerstenberg 

Die  Schönheiten  Hamburgs  sehe  ich,  koste  sie  aber  nicht,  sondern  gehe 
vorüber  als  ein  Mönch  und  brumme  memento  loculi. 

Danken  Sie  der  Fr.  RittMeister  für  ihre  Musick,  und  Erbsen  sans  com- 
paraison.   wen  Sie  den  Brief  gelesen  haben  können  Sie  ihn  wohl  casiren  [!]. 

Ihr 

Hamburg,  Diensttags  [5.  Juli].  1768.  aufrechter  Claudius. 

[Adresse:]  ä  Monsieur  Monsieur  de  Oerstenberg,  Capitaine  de  Cavallerie 
ä  Copenhagen    franco 

9.* 

So  lange  ich  auch  mit  der  2ten  relation  Anstand  genommen,  so  enthält 
sie  doch  nichts  neueres  weder  von  Bach  noch  Lessing,  den  erstem  habe  ich 
nicht  wieder  treffen  können,  er  ist  niemahls,  denk'  ich,  zu  Hause,  den 
letzten  hab'  ich  noch  gar  nicht  gesehn,  ich  weiß  selbst  nicht  warum,  aber 
das  Gespräch  war  mein  Treu  kein  Gedichte,  sondern  eine  Geschichte,  ich 
sollte  bald  schreiben,  was  ich  durch  was  zu  Übersetzen  von  Proft" 
pp  verstehe,  ich  verstehe  dadurch,  ob  Sie  nicht  die  Gutheit  haben  wollten, 
wenn  Proft  etwas  zu  übersetzen  hat,  mir  solches  zu  verschaffen,  oder,  wenn 
er  nichts  weiß,  ihm  etwas  vorzuschlagen  und  mir  schleunigst  (denn  sonst 
kom  ich  ganz  positiv  Schuldenhalber  nach  Netcgate^)  davon  Nachricht  zu 
geben,  oder  noch  beßer  den  Übersetzerlohn  praenumerando  mitzusenden, 
ich  habe  noch  ein  Anliegen,  es  sollen  im  Dänischen  gewiße  Feldapothecker 
Stellen  seyn.  ein  Apotheker,  der  gute  Zeügniße  unter  andern  von  Hensler 
in  Segeierg,  wenns  verlangt  wird,  beybringen  kann,  ein  Bruder  von  dem 
Hermann,  den  Sie  noch  in  Jena  geckannt  haben  und  der  gegenwärtig  in 
Hamburg  ist,  hat  mich  um  diese  Stelle  befragt,  ich  weiß  nichts  davon, 
wißen  Sie  nicht  wie  es  damit  zusammenhängt,  und  ob  wohl  an  eine  solche 
Stelle  zu  kommen  sey?  ich  habs  mit  meinen  vergeblichen  Laufen  nach 
Bachs  Hause  verdient,  daß  Sie  mir  etwas  Antwort  ertheilen. 

Ich  emphele  mich  der  Fr.  Rittmeist.  und  Ihrem  Andenken,  bis  ichs  so 
bald  ich  Bach  pp  gesprochen  habe,  von  neuem  thun  werde. 

Hamburg  18.  Jul.  1768.  Ihr  Claudius. 

Postscriptum. 

ich  bin  hier  vergnügt  genug,  und  ersuche  ganz  ergebenst  den  kleinen 
weißen  Zettel  H  Schoenborn*  und  den  blauen  dem  H  Lieutenant  Rüdinger^ 
zuzustellen. 

schließlich  soll  auch  noch  nomine  d  H  Dumpf  ersuchen,  nächstens  des 
H  Duschs  Heldengedicht®  zu  recensiren,  weil  so  wohl  Verfaßer,  als  Lesern  es 
gerne  sehen. 


1  H:  2  Seiten  4o.     E:  Redlich  S.  11. 

'  Proft  war  Buchhändler  in  Kopenhagen,  Verleger  von  Gerstenbergs 
'Gedieht  eines  Skalden'. 

3  Schuldgefängnis  in  London,  hier  scherzweise  auf  Hamburg  übertragen. 

*  Dichter,  zum  Klopstockischen  Kreise  in  Kopenhagen  gehörend  (1737 
bis  1817).  Vgl.  über  ihn  Wein  hold  in  der  'Zeitschrift  für  Schleswlg- 
Holstein-Lauenburgische  Geschichte'  I,  S.  129  flF. 

*  Andreas  Christoph  Rüdinger,  Neffe  Leischings,  geboren  1746  in  Leipzig, 
gestorben  als  Kgl.  dänischer  Legationsrat  1797  in  Lauenburg. 

*  Mit  'Duschs  Heldengedicht'  ist  'Aedon  und  Themire,  ein  episches  Ge- 
dicht in  12  Büchern'  gemeint,  das  1767  in  Joh.  Jak.  Duschs  Sämtl.  Poet. 


Claudius  und  Gerstenberg  31 

10.1 

Allerhand  schöne  Raritäten^  von  Leßing  und  Bachen  —  da  werden  Sie 
sehen,  daß  ich  bey  den  erstem  gewesen  bin,  daß  er  Ihren  Brief  mit  Tiede- 
mann  geckricht,  und  nächstens  eine  Antwort  nebst  seinen  aniigwarischen 
Briefen  an  Sie  schicken  wird,  daß  ich  ihm  gesagt  habe,  Sie  läsen  seine 
Briefe  und  hörten  seine  Urtheile  gern  [NB  en  passant  und  ohne  Ccremonie 
und  Complimentirsiil)  daß  ihm  der  Bart  dabey  glacht  hat,  als  ich  das  sagte, 
daß  er  in  den  folgenden  antiq.  Briefen,  davon  Sie  in  der  neuen  Zeitung  die 
ersten  werden  gelesen  haben,  H  Klotzen  das  garaus  machen,  und  ihm  be- 
weisen will,  daß  er  sein  Buch  von  Wort  zu  Wort  und  größentheils  ohne 
Verstand  ausgeschrieben,  und  abscheuliche  impertinence  habe.  —  Wieder 
auf  eine  andre  Manier  —  da  werden  Sie  sehen  H  Bachen,  der  Ihre  Fantasie 
ein  sehr  schönes  Stück  nennt,  aber  wegen  KirchenMusicken,  damit  er  sich 
itzt  beschäftigt,  noch  nicht  Zeit  hat,  sie  zu  componiren,  der  seine  Instru- 
mente noch  nicht  ausgepackt  hat,  und  daher  meinen  Vorschlag  ihm  eine 
seiner  Sonaten  vorzuspielen  nicht  annehmen  könnte,  sondern  mich  zu  einen 
ordentlichen  Besuch  auf  künftige  Woche  eingeladen  hat,  regardez  ben, 
regardez  ben,  wie  ich  ihm  also  an  Auspackung  nicht  hinderlich  seyn  wollte, 
und  ohne  weitere  discourse  bis  auf  Wiedersehn,  abzog,  abermahl  auf  eine 
andre  Manier,  da  werden  Sie  sehen  mich  aus  dem  Schneiderhause  an  der 
Mühlenbrücke  aus-  und  in  ein  Hauß  in  der  Neustadt  einziehen,  daher  denn, 
weil  dieß  hauß  so  schwer  zu  beschreiben  ist,  Ihre  adresse  künftig  seyn 
wird,  abzugeb.  auf  dem  Kais,  adreß  C  ont  oir.  Schließlich  er- 
suche ich  mich  der  Fr  Rittmeist.  zu  empfhelen,  und,  weil  Sie  doch  sehr  viel 
lesen,  mir  wenn  Sie  Sachen  fürs  adrejSblatt  besonders  gemeinnützige  Nach- 
richten finden,  wißen  zu  laßen,  wo  sie  stehen.  Der  Etats'Raht^  ist  hier  heüt 
um  1  Uhr  angeckommen,  ich  hab  ihn  aber  noch  nicht  gesprochen,  leben 
Sie  wohl.  C. 

Ich  bitte  gehorsahmst  um  Excuse. 

[Adresse:]  d  Monsieur  Monsieur  de  Gerstenierg  Capitaine  de  cavallerie 
ä  C  openha  g  en 

11.« 

[Hamburg,  August  1768.] 
Mein  lieber  Herr  Rittmeister! 

Für  Sie  ist  unterwegens:^ 
Journal  encyclop.  von  Anfang  1768  —  April  c.  o.  inclusive. 
The  Monthly  Review  for  Febr.,  March  1768  nebst  Appendix  zu  dem  7.  vol. 

Werken  (3.  Teil)  erschienen  war.  Gerstenbergs  Anzeige  erschien  in  der  'Ham- 
burgischen Neuen  Zeitung'  St.  179 — 182,  10.  bis  15.  November  1768;  siehe 
'Deutsche  Literatur-Denkmale  des  18.  und  19.  Jahrhunderts'  Nr.  128, 
S.  127—137. 

1  H:  1  Seite  4".    Auf  der  Rückseite  die  Adresse.     E:  Redlich  S.  11  f. 

2  Claudius  kopiert  voll  Humor  die  Manier  der  Guckkastenmänner  auf 
den  Jahrmärkten. 

3  Der  Etatsrat  ist  wahrscheinlich  Johann  Christian  Leisching,  der  Bru- 
der des  Legationsrats  Polykarp  August  Leisching,  der  das  Hamburger 
Adreßkontor  gestiftet  hatte  und  Eigentümer  der  'Neuen  Zeitung'  war.  Er 
wird  in  den  'Gemeinnützigen  Hamburgischen  Anzeigen'  Stück  88  unter  den 
am   28.   Juli   angekommenen   Fremden   aufgeführt.      (Anmerkung  Redlichs.) 

«  H:    ?     E:  Redlich  S.  12  f. 

^  Die  betreffenden  Rezensionen  Gerstenbergs  über  die  gesandten  Bücher 


32  Claudius  und  Gerstenberg 

The  critical  Review  for  March  1768. 

The  Gentleman' s  Mag.  für  dito  1768. 

Poetische  Werke  von  Dusch  3.  Theil,    —    will    gern    bald    recensirt 

sein. 
Das  gelehrte  Deutschland  3.   und  letzter  Theil  —  gelegentlich. 
Der  Monitor  1.  Theil  —  dito. 

Neuberger  von  den  Einkünften  der  Klöster dito. 

Beiträge  zur  Clozigen  Bibliothek,  werden  per  poste  lente  mitgeschickt. 
Beaumonts  Geschichte  von  Schlegel  fortgesetzet  2.  Band  —  gelegentlich. 

Gray 5.  Theils  erster  Band dito. 

Ihrer  Kais.  M.  Instruction  für  etc.  etc.  — 

Biblioth^ques  des  sciences  et  des  ieaux  Arts  poiir  les  Mois  Avril,  May,  Juin, 

Juillet,  Aoüt,  Sept.  1767. 
Curtius  1.  und  2.  Theil. 

Keine  Anmerkungen  über  die  Mangelhaftigkeit  dieser  Transmissorum ; 
nehmen  Sie  mit  der  Vertröstung,  daß  es  in  Zukunft  ordentlicher  kommen 
soll,  fürlieb,  denn  wo  die  Stücke  sind,  die  hier  nicht  befindlich  und  es  doch 
sein  sollten,  kann  ohne  eine  Preisaufgabe  gar  nicht  ausgemacht  werden.  — 

Die  Bücher,  die  von  nun  ab  und  an  —  das  Adr.-Comptoir  werden 
eingeschickt  werden,  sollen  ohne  Verzug  entweder  in  natura  oder  titelweise 
an  Sie  gelangen,  mit  Bitte  die  Herren  Autores  baldigst  durch  eine  Recension 
zu  erquicken  oder  zu  strafen.  Ihr 

etc.  etc. 
12.1 
[Hamburg,  Anfang  Oktober  1768.] 

Sie  sind  gewiß  ungehalten  und  glauben,  daß  Sie  auch  wirklich  Ursache 
haben  es  zu  sein  —  indeß  versichere  ich,  daß  heute  der  erste  Posttag  nach 
dem  Morgen  ist,  darin  ich  Bachen  habe  spielen  hören,  und  daran  ist  haupt- 
sächlich Lessing  schuld.  Ich  allein  konnte  Bachen  nicht  zum  Spielen  brin- 
gen, daher  ich  Lessingen  bat,  mich  einmal  mitzunehmen,  und  dies  Mitnehmen 
ist  vorigen  Mittwochen  morgens  um  1/2I2  allererst  erfolgt.  —  Das  kleine 
berühmte  Silbermannsche  Ciavier  hat  einen  hellen,  durchdringenden,  süßen 
Ton,  keine  außerordentliche  Stärke  im  Baß,  keinen  außerordentlich  sanften, 
schmeichelnden  Diskant  und  geht  nur  bis   I.     Auf  diesem  Klavier  spielte 

stehen  in  der  'Neuen  Zeitung'  1768:  St.  176 — 178  über  die  Instruktion  der 
Kaiserin  Katharina  für  die  zur  Verfertigung  des  Entwurfs  zu  einem  neuen 
Gesetzbuch  verordnete  Kommission,  St.  179 — 182  über  Dusch,  St.  175  über 
Frau  le  Prince  de  Beaumonts  Auszug  aus  der  alten  Geschichte,  St.  186  über 
Wagners  Übersetzung  des  Q.  Curtius  Rufus  und  St.  187  über  Hambergers 
Gelehrtes  Deutschland  und  den  Monitor.  Mit  Ausnahme  der  Rezension 
über  Dusch  fehlen  alle  übrigen  in  Fischers  Ausgabe  von  Gerstenbergs  Re- 
zensionen in  der  'Neuen  Zeitung"  (Deutsche  Literatur-Denkmale  Nr.  128), 
Berlin  1904.  —  Die  'bloß  zum  Zeitvertreib'  mitgesandten  Bücher  sind:  C.  H. 
Wilkes  '^Moralische  Beiträge  zu  der  Klotzigen  Bibliothek  der  schönen  Wissen- 
schaften', St.  1  und  2,  Hamburg  [vielmehr  Leipzig],  gedruckt  auf  Kosten 
des  Verfassers,  eine  der  zahlreichen  Streitschriften,  die  der  'Antikritikus' 
veranlaßt  hatte;   vgl.  Allgemeine  deutsche  Bibliothek  2,  S.   103  flf. 

1  H:  ?  E:  Redlich  S.  13—15.  (Bei  Fischer  a.  a.  O.  S.  LXII  die  Stelle 
über  'Ugolino'  und  die  'Antiquarischen  Briefe'  fälschlich  als  aus  einem 
'ungedruckten'  Briefe  [wo  ist  die  H?]  zitiert.  Ebenso  von  Fischer  im 
Euphorion  X,  S.  74  die  Stelle  von:  'Ihre  Recensions,  sagt'  bis  'ausstreiche* 
als  'ungedruckt'  zitiert  und  in  das  Jahr   1769  versetzt.) 


I 


Claudius  und  Gerstenberg  33 

Bach  zwei  Adagio  und  ein  Allegro,  die  er  ausdrücklich  für  dies  Klavier 
gesetzt  hat,  das  erste  Mal  wie  sie  auf  dem  Blatte  vor  ihm  stunden,  und  das 
zweite  Mal  verändert.  Die  Stücke  waren  gar  nicht  schwer,  indessen 
spielte  er  das  Allegro  so  geschwind  und  so  rein  dabei,  daß  man 
leicht  sähe,  wie  er  mit  schwereren  Stücken  umgehen  werde.  Sein  Adagio- 
spielen  kann  ich  nicht  besser  beschreiben,  als  wenn  ich  Sie  an  einen 
Redner  zu  denken  ganz  gehorsamst  ersuche,  der  seine  Reden  nicht  aus- 
wendig gelernt  hat,  sondern  von  dem  Inhalt  seiner  Rede  ganz  voll  ist,  gar 
nicht  eilt  etwas  herauszubringen,  sondern  ganz  ruhig  eine  Welle  nach  der 
andern  aus  der  Fülle  seiner  Seele  herausströmen  läßt,  ohne  an  der  Art 
der  Herausströmung  zu  künsteln,  wohl  aber  zu  denken,  so  wie  ich  an 
diesem  Gleichniß  nicht  gekünstelt,  aber  auch  nicht  gedacht  habe.  Ich  bat 
ihn  um  die  letzte  Fantasie  in  den  Probestücken  etc.^,  und  ich  kann  Ihnen 
versichern,  daß  wir  sie  nicht  sehr  unrecht  gespielt  haben,  wie  er  sich  denn 
auch,  als  ich  etwas  spielte,  vernehmen  ließ,  wie  man  hören  könne,  ich  spiele 
mit  Leib  und  Seele,  quod  obiter  moneo.  Er  spielte  noch  eine  von  seinen 
leichten  Sonaten  —  die  Allegro  fahren  wie  schnelle  Donnerwetter  unter 
seinen  Fingern  heraus,  wir  müssen  sie  nach  diesem  etwas  geschwinder 
spielen.  —  Ich  habe  ihm  von  Klopstocks  Bardenliedern  etwas  gesprochen, 
er  scheint  es  aber  entweder  nicht  zu  begreifen  oder  ist  kalt  gegen  alles, 
was  nicht  gut  bezahlt  wird,  welches  er  denn  in  Ansehung  der  Cramerischen 
Psalmen  selbst  sagte,  auch  etwas  von  einem  Briefe  eines  Anonymi  über 
diese  Materie  und  von  einer  Antwort  darauf,  wie  Sie  wissen,  hinzuthat. 
Er  sagte  von  Pergolesi-,  daß  viel  Ausdruck  und  guter  Wille  in  seinen 
wider  die  Composition  anstoßenden  Sachen  sei,  daß  aber  ebensoviel  ohne 
diese  Fehler  darin  sein  könnte.  Er  will  diesen  Winter  ein  Concert  halten, 
wenn  er  100  Subscribenten  ä  Mann  10  rth.  kriegen  kann,  wird  sie  aber 
vermuthlich  nicht  kriegen.  Solfeggi  sind  eigentlich  kurze  musikalische 
Sätze,  die  die  Sangmeister  in  Italien  ihre  Schüler  singen  lassen,  um  ihre 
Kehle  geläufig  zu  machen;  daher  sind  Bachs  Solfeggi  kurze  musikalische 
Stücke,  junge  Spieler  fertig  zu  machen.  Die  Orgel  spielt  Bach  gar  nicht 
und  muß  hier  in  Hamburg  verschiedene  Urtheile  über  sich  ergehen  lassen, 
welches  ihm  denn  sehr  ungewohnt  vorkommt.  So  viel  von  dem  einen  Vir- 
tuosen, nun  etwas  von  dem  andern^.  Ich  habe  ihm  die  Stelle  aus 
Ihrem  Briefe  vorerzählt,  darin  Sie  äußern,  daß  er  laut  seiner  antiquarischen 
Briefe  ein  rechter  unerbittlicher  Geier  und  Crocodill  sei,  der  seinen  Feind 
etc.  Er  lachte  gewaltig:  ja  —  so  hätte  Gerstenberg  es  gleich  machen 
sollen,  als  er*  die  Schleswigschen  Briefe  so  unartig  mißhandelte.  Sie 
fühlen  das  Compliment,  das  hier  gemacht  ward,  ohne  daß  man  eins  machen 
wollte.  Ich  könnte  Ihnen  noch  viele  dergleichen  Anekdötchen  erzählen, 
auch  unter  anderm,  wie  man  sich  über  die  Kunst  aus  5  Versen  des  Dante 
ein  Trauerspiel  zu  machen  wundert  etc.     Der  Ugolino  ist  ganz  fertigt.     Die 


1  'C.  Ph.  E.  Bachs  Versuch  über  die  wahre  Art  Klavier  zu  spielen,  mit 
Exemplen  und  18  Probestücken   in   6   Sonaten.'     Erster  Teil.     Berlin   1759. 

2  Giovanni    Baptista    Pergolese,    italienischer    Komponist    (1704 — 1737), 
besonders  berühmt  durch  seine  Komposition  des  'Stabat  Mater'. 

3  Lessing. 

4  Klotz;  vgl.  seine  'Deutsche  Bibliothek'  I,  4,  S.  96  ff. 

6  Im  Druck,  wie  die  'Antiquarischen  Briefe',  den  also  Claudius   über- 
wachte. 

Archiy  f.  n.  Sprachen.     Sonderheft.  3 


34  Claudius  und  Gerstenberg 

antiquarischen  Briefe  auch  und  schon  abgegeben,  um  Ihnen  überschickt  zu 
worden,  weil  man  sie  gerne  recensirt  haben  will^;  sie  werden  nächstens 
nebst  andern  Sachen  von  hier  an  Sie  abgehen.  Catharina  der  Zweiten 
Reglement  fürs  Gesetzbuch  möchte  auch  ehestens  recensirt  werden,  und 
noch  einige  andere  Stücke,  darauf  ich  mich  nicht  gleich  besinnen  kann. 
Ihre  Recensions,  sagt  eine  Parthey  Leser,  sind  schön,  eine  andere  sagt: 
'ia,  es  ist  wahr',  weil  die  erstere  es  gesagt  hatte,  und  die  dritte,  die  nicht 
so  klug  als  die  ersten  und  so  dumm  als  die  letzten  sind,  sagen,  wir  ver- 
stehen sie  nicht  und  lesen  lieber  die  Recensions  anderer  Leute,  ich  weiß 
nicht  ob  es  möglich  ist  alle  3  Klaßen  Leser  auf  einmahl  zu  befriedigen, 
indeß  sähe  der  H.  LegationsRath  es  wohl,  daß  es  möglich  wäre,  mir  ists 
gleichviel,  weil  ich  nicht  zur  zweiten  Claße  gehöre  noch  die  zwei  Rth.  am 
Ende  des  Jahres  einstreiche.  — 

Neulich  bin  ich  in  Ottensen  gewesen  und  habe  das  Grab  der  Klopstock 
besehen.  Der  Gedanke  ans  begraben  einer  geliebten  Frau  ist  mir  seit 
langer  Zeit  süßer  gewesen,  als  der  an  die  erste  Nacht.  Bei  einem  so  ko- 
mischen Gefühl  hatte  das  Grab  gute  Sache,  og  jede  maerkede  snart  en  lille 
smule  af  den  Folelse,  den  Enkemand  havde  denne  Gan^,  ein  Sommerlüft- 
chen vom  Sturme  des  Barden. 

Schönborn  ist  wohl  todt,  er  sollte  mir  nothwendig  antworten  und  hat 
es  nicht  gethan.  —  Wollen  Sie  ihm  wohl  gelegentlich  sagen,  nicht  daß  er 
schreiben  soll,  denn  das  hab'  ich  nun  schon  vergessen,  sondern  daß  er  mir 
meine  Noten  schicke,  wenn  ich   ihn  nicht  verklagen  soll. 

Glück  zum  jungen  Dichter^,  und  der  Fr.  Rittmeister  meine  Empfehlung. 
Ut  supra. 

Daß  dieser  Brief  nicht  franco  ist,  hat  seinen  guten  Grund*,  ist  aber  ohne 
Folgen  für  die  künftigen. 

13.* 
Mein  lieber  H.  Rittmeister! 

Ich  hätte  Ihnen  vielleicht  schon  ehender  geantwortet,  wenn  ich  nicht 
8 — 10  Tage  in  Reinfeldt  gewesen  wäre. 

Palschau^,  sagt  Bach,  spielt  meine  Sachen  schlecht,  sein  Fingerwerk  ist 
unverbesserlich,  er  spielt  viel  schwerere  Sachen  als  meine  sind,  aber  —  ich 
habe  ihn,  wenn  er  bei  mir  war,  immer  gebeten  von  meines  Vaters  Sachen 
zu  spielen,  wo  es  bloß  aufs  Treffen  ankömmt.  Dem  Herrn  v.  Gerstenberg 
vermelden  Sie  meinen  Respekt,  ich  habe  bisher  noch  nicht  Zeit  und  Muße 
genug  gehabt,  seine  Poesie  zu  eomponiren,  es  soll  aber  nächstens  gewiß 
geschehn. 

Ich  glaube,  ich  habe  das  letzte  schon  einmal  geschrieben,  aber  Bach  hat  es 
auch  zweimal  gesagt. 

^Lessing  läßt  viel  grüßen,  ich  komme  eben  von  ihm.     Ihr  Brief  hat  nun 


1  Die  Anzeige  des  ersten  Teils  der  'Antiquarischen  Briefe'  im  6.  Stück 
der  'Hamburgischen  Neuen  Zeitung',  unterzeichnet  A,  rührt  nicht  von  Ger- 
stenberg her,  dagegen  die  des  zweiten  Teils,  'Neue  Zeitung'  1769,  St.  183 
bis  186:   Fischer  a.  a.  0.  S.  289  ff. 

2  Gerstenbergs  neugeborener  Sohn  Thomas. 

*  Claudius'  Geldmangel. 

*  H:  23/4  Seiten  4".  [Angeboten  1911  in  Henricis  Autographen-Katalog 
X,  S.  40,  Nr.  440.]     E:  Redlich  S.  15  f. 

5  Palschau  war  ein  berühmter  Klaviervirtuose   in   St.   Petersburg. 


Claudius  und  Gerstenberg  35 

schon  drei  Wochen  auf  seinem  Pulpet  gelegen  und  beantwortet  werden 
sollen,  und  er  soll  nun  beantwortet  werden,  ehe  Sie  sich's  versehen,  sagt  er. 
Ich  will's  aber  nicht  gesagt  haben,  denn  zerstreuter  ist  in  dieser  Gegend 
kein  Mensch  als  er.  Sie  haben  Wittenbergs  Recension,  die  schwerer 
zu  ertragen  ist  als  eine  von  Duns,  gewiß  schon  gelesen^.  Näch- 
stens will  Lessing  eine  davon  in  die  neue  Zeitung  einrücken  lassen.  Er  will 
auch  nach  Copenhagen  kommen,  im  Februar  etc.  etc.  Wir  sind  unschuldig, 
wenn  Sie  die  antiquarischen  Briefe  noch  nicht  haben,  hier  sind  sie  seit  drei 
Wochen  auf  die  Post  gegeben.  Die  alten  griechischen  Autoren  weiß  Lessing 
Ihnen  nicht  zu  verschaffen,  er  will  aber  seine  Bibliothek  verkaufen  und 
Ihnen  den  Catalogum  zuschicken,  wo  Sie  sich  dann  auslesen  können.  Die 
fehlenden  Nummern  der  Zeitung  etc.  kommen  mit  den  nächsten  Büchern, 
den  Sonnabend  denke  ich. 

Ihre  Anmerkungen  in  den  Zeitungen ?2  wie  viele  hier  in  Hamburg  sollten 
sie  wohl  verstehen?  Doch  will  ich  nicht  widerrathen  sie  fortzusetzen,  denn 
was  auch  vom  Herablassen  für  den  größten  Theil  der  Leser  geschwatzt  werden 
mag,  wenn  der  kleinste  Theil  sowohl  in  als  außer  Hamburg,  dem  der  größte 
Theil  sowohl  in  als  außer  Hamburg  ein  besseres  Urtheil  als  sich  selbst  zu- 
traut, die  Recensions  etc.  rühmt,  so  bemüht  sich  gewiß  ein  großer  Theil  von 
dem  größten  Theil  den  Geschmack  daran  zu  bringen,  nur  zu!  —  Justuni  et 
tenacem  propositi  virum  etc. 

Der  Rector  Ehlers^  ist  hier  neulich  durchgegangen,  er  läßt  sie  grüßen; 
er  sprach  mir  von  Projecten,  die  Klopstock  vorhätte*,  was  ist  das?  Ich  habe 
ihn  nach  Harburg  begleitet,  und  in  Harburg  durch  Lachen  eine  unruhige 
Nacht  gemacht.  In  Oldenburg  fehlt  auch  ein  Conrector;  wenn  Sie  die  Stelle 
zu  vergeben  hätten,  wollte  ich  Ihnen  ein  gut  Wort  darum  geben,  denn  mich 
dünkt  nun,  daß  ich  von  Mutterleibe  an  zum  Conrector  bestimmt  sei. 

Schönborn  hat  mir  geschrieben,  beim  Styx,  er  hat  mir  geschrieben,  ich 
will  ihm  vielleicht  auch  wohl  einmal  wieder  schreiben. 

Mademoiselle  Giezelli,  damit  ich  Ihnen  Ihre  vielen  musikalischen  Neuig- 
keiten einigermaßen  gut  thue,  singt  schlecht,  von  Herzen  schlecht,  obgleich 
sie  hier  allgemeinen  Beifall  findet;  ich  schreibe  dies  nicht  Bachen  nach, 
den  ich  es  auch  einmal  habe  sagen  hören,  sondern  ich  dachte  es  gleich, 
nachdem  sie  meinen  Ohramboß  und  Ohrhammer  das  erste  Mal  mit  ihrer 
fetten   Stimme  in  Bewegung  gesetzt  hatte,  aber   Schetki   ist  ein   Virtuose^. 

Der  Frau  Rittmeisterin  und  beiden  künftigen  Musicis  meine  Empfehlung. 
Ich  wünsche  mich  eben  nicht  nach  Copenhagen,  aber  Sie  hierher,  wenn  ich 

^  Wittenbergs  Rezension  des  TJgolino'  erschien  in  Nr.  176  (2.  Nov.)  des 
'Hamburgischen  Correspondenten'  von  1768.  Die  versprochene  Lessingsche 
Anzeige  ist  nie  geschrieben;  die  'Neue  Zeitung'  hat  daher  überhaupt  keine 
Anzeige  des  'Ugolino'  gebracht.     (Anm.  Redlichs.) 

^  Gerstenbergs  Anmerkungen  stehen  in  der  'Neuen  Zeitung'  1768,  St.  145. 
150.  156.  167;  1769,  St.  13.  14.  25.  26.  27.  Vgl.  Fischer  a.  a.  0.  S.  100  ff., 
104  ff.,  124  ff.,  149  ff.,  156  ff. 

3  Martin  Ehlers,  bis  Michaelis  1768  Rektor  in  Segeberg,  war  in  gleicher 
Stellung  nach  Oldenburg  berufen  worden. 

*  Mit  Klopstocks  Projekten  ist  natürlich  der  in  der  Widmung  von 
Herrmanns  Schlacht  angedeutete  Plan  einer  vom  Kaiser  Josef  zu  gründenden 
Akademie  deutscher  Dichter  und  Gelehrten  gemeint.     (Anm.  Redlichs.) 

5  Signora  Gizzielli  (Gizielli,  Giezielli)  wirkte  als  Theater-  und  Konzert- 
sängerin, F.  G.  C.  Schetky  als  Violoncellovirtuose  in  Hamburg. 

3* 


36  Claudius  und  Gerstenberg 

in  Hamburg  bleiben  sollte.     Hier  hab'  ich  keinen  Menschen,  zu  dem  ich  gehe, 

zu  Lessingen  komme  ich  alle  4  Wochen  einmal,  und  was  dergleichen  mehr  ist. 

Hamburg,  den  4.  November   1768.  Claudius. 

14.1 

[Hamburg,  Januar  1769.] 
Mein  lieber  Herr  Rittmeister! 

Sie  wollen  nie  wieder  empfindlich  thun,  wenn  ich  nicht  länger  mit  Ant- 
wort zögere?  nun  so  will  ich  denn  schreiben,  aber  antworten,  wie  Sie 
es  haben  wollen,  das  heißt  Ihnen  eine  Copie  der  Cantate  Clarissa^  nebst 
Bachs  Meditationes  darüber  zuschreiben,  das  kann  ich  nicht.  Geben  Sie 
mir  10  Comniissions,  nur  keine  an  Bach.  Man  läuft  und  läuft  und  trifft 
ihn  nie  zu  Hause,  wenigstens  heißt  es  so.  Letzthin  traf  ich  ihn  bei  H.  Lessing 
und  brachte  mein  Gewerbe  an,  da  sollte  ich  nun  noch  14  Tage  warten,  so 
wäre  seine  Passionsmusik  fertig  etc.  etc.  Nun  so  componirt  denn  Eure 
Passionsmusik,  Herr  Kapellmeister;  alles  Vieh  auf  dem  Felde  und  alle 
S^ögel  unter  dem  Himmel  und  ich  wollen  Euch  nicht  stören,  bis  die  14  Tage 
um  sind. 

Für  die  Nachrichten,  die  Sie  mir  von  Schönborn'  gegeben  haben,  danke 
ich  Ihnen,  vermuthlich  hat  diese  neue  Information  ihn  zu  stolz  gemacht, 
einem  niedrigen  Zeitungsschreiber  zu  antworten,  sonst  hätte  er  auf  ein 
ihm  mit  der  fahrenden  Post  zugeschicktes  Briefchen  wohl  antworten  können, 
weil  ich  gerne  wissen  möchte,  ob  es  angekommen  sei. 

Unsere  Zeitung  hat  diesen  Neujahr  über  30  St.  gewonnen,  unser  Adreß- 
blatt  von  item*. 

Wissen  Sie  nicht,  wer  die  Lieder  von  dem  Barden  Ringulf 
gemacht  hat?^  Lessing  sagte  letzt,  aus  vielem  wolle  er  Sie  für  den  Ver- 
fasser halten,  aus  vielem  aber  auch  nicht.  Grüßen  Sie  H.  Klopstock  von 
meinentwegen,  H.  Lieutenant  Rüdinger  hat  mir  gesagt,  daß  er  nun  recht 
gesund  sei,  er  mag's  im  Sommer  oder  Herbst  gewesen  sein,  ist  er's  aber 
in  diesem  traurigen  Wasserwinter,  so  mag  er  nur  selbst  seine  Demission 
als  Großmeister  nehmen;  die  hiesige  Zunft,  die  seit  Heiligendreikönig  die 
Todtenfarbe  gesetzt  hat,  leidet  keinen  gesunden  Großmeister  über  sich.  Wir 
sind  hier  aux  abois,  wüthig  und  rasend  geht  jeder  vor  sich,  flieht  den  An- 
blick der  Wasserstellen  und  zerschlägt  tief  im  Lande  mit  den  Ruinen  seiner 
Schrittschuhe  die  Baumknospen  und  hervorkommenden  Frühlingsblumen. 
Lebt  die  Heseckern  noch  —  das  feinste  unter  den  Mädchen,  von  Amors 
Finger  aus  dem  schönsten  Rosenknöspchen  Edens  gebildet  —  und  noch  un- 
entweihet  vom   brünstigen   Ehemann?      0,   mein   lieber   Rittmeister,  Major, 

1  H:   ?     E:  Redlich  S.  17. 

2  'Clarissa  Harlowe  im  Sarge',  eine  Kantate  von  Gerstenberg,  ist  un- 
gedruckt geblieben. 

3  Schönborn  war  1768  in  das  Haus  des  älteren  Bernstorff  als  Hofmeister 
eines  Vetters  desselben  eingetreten. 

*  Daß  Gerstenbergs  Rezensionen  das  Publikum  auf  den  gelehrten  Artikel 
der  'Neuen  Zeitung'  aufmerksam  gemacht  und  den  Debit  vermehrt  hätten, 
schreibt  auch  P.  A.  Leisching  am  14.  März  1769  und  bietet  für  die  Zukunft 
als  Honorar  10  Tal  er  monatlich  für  7  bis  8  Rezensionen  per  Monat.  (Anm. 
Redlichs.) 

5  Karl  Friedrich  Kretschmann  (1738—1809). 


Claudius  und  Gerstenberg  37 

Oberst,  General,  —  ich  wollte  dann  —  dann  den  traurigen  Wasserwinter 
vergessen.  Sorgt  doch,  ihr  Leute,  daß  kein  Mehlthau  der  zarten  Blume 
schade  und  ihre  Blätter  in  Unschuld  abfallen  in  many  a  silent  melancholy 
slioioer. 

15.1 
Mein  lieber  H  Rittmeister, 

Sie  können  mir  itzo  einen  Gefallen  thun  —  so  hängts  zusammen. 

Ein  jüngerer  Bruder  d  H  Hermans  unsers  academischen  Bekannten  itzo 
advocafens  in  Kiel,  der  in  Ploen  auf  der  Schule  allerhand  Jugend  Sünden 
beging  übrigens  aber  sehr  munter  und  fähig  war,  wurde  von  seinen  Vor- 
mündern unter  die  Dänen  gegeben.  Seine  Capitulations-Jahre  waren  um, 
und  man  versagte  ihm  seinen  Abschied  —  er  schrieb  von  Lübeck,  wo  er  auf 
Werbung  lag,  an  seinen  Chef,  man  sollte  ihm  seinen  Abschied  schicken 
oder  er  würde  descrtiren  —  und  als  der  Abschied  nicht  erfolgte  that  er  wa,s 
er  versprochen  hatte,  gieng  zu  den  Preußen  wo  er  beym  General  Major 
V.  Lossau  zwar  cngagirt  aber  weil  er  ihn  sehr  gut  brauchen  konnte  nicht 
als  Soldat  sondern  als  Schreiber  gebraucht  worden.  Dieser  junge  Soldat 
und  Schreiber  will  itzo  gerne  in  sein  Vaterland  zurück  fürchtet  sich  aber 
seiner  Desertionswegen.  Sein  Bruder  der  advocat  hat  deswegen  beym 
General  Kriegs  Komißariat  30  rth  für  seinen  Abschied  geboten,  aber  von 
diesem  CoUegio,  das  vermuhtlich  durch  den  Bericht  des  Regiments-C/iefs, 
der  in  den  Gedanken  steht,  der  Junge  Hermann  sey  im  Dänischen,  sich  hat 
\erleiten  laßen,  die  Resolution  erhalten.  Her  man  solle  beym  Regiment  sich 
Histircn,  so  wolle  man  um  seinen  Abschied  höheren  Orts  ansuchen.  Der 
Advocat  hat  das  zweite  Supplicatum  gemacht,  und  das  schicke  ich  Ihnen 
hiebey  angeschloßen  mit  Bitte  es  durchzulesen  und  zum  Vortheil  deßelben  bei 
Ihro  Excellence  v.  Gähler,  wenn  Sie  es  übergeben,  sich  zu  verwenden. 
Leben  Sie  wohl 

Hamburg  d  10t  März  1769.  Clauditis. 

16.2 
Mein  lieber  Herr  Rittmeister! 

Ich  danke  Ihnen  für  die  Nachricht  wegen  Herrmann  —  und  will  Ihnen 
dafür  einen  Punkt  in  Ihrem  letzten  Brief  an  den  Legationsrath  ohne  Com- 
flimenten  beantworten,  weil  der  Legationsrath  ihn  nicht  gerne  selbst  be- 
antworten mag,  nämlich  den  wegen  der  Zeitungen,  gelehrten  und  politi- 
schen. — 

Zuerst  also:  die  neue  kaiserlich  privilegirte  Hamburgische  Zeitung  wird 
Ihnen  nach  wie  vor  unentgeltlich  geliefert  werden.  Die  Hallischen  ge- 
lehrten etc.  Zeitungen  könnten  Ihnen  freilich  wohl  nützlich  sein,  und  wir 
gönnten  sie  Ihnen  auch  herzlich  gerne,  allein  die  Exemplare,  die  wir  davon 
haben,  sind  hier  schon  engagirt,  und  darin  kann  wenigstens  für  dieses 
Quartal  kein  Aenderung  gemacht  werden,  und  das  Comptoir  vermag  es 
nicht,  Ihnen  ein  Exemplar  frei  zu  halten;  von  der  dänischen  Post  bringen 
wir    fast    nichts    heraus,    man    bezahlt   uns    immer    mit   Gegenrechnungen; 


1  H:  2  Seiten  4«.     E:  Redlich  S.  18. 

2  H:  ?  E:  Redlich  S.  18.  —  Herbst  (3.  Aufl.,  S.  78,  Anm.)  führt  einen 
Brief  an  Gerstenberg  vom  19.  März  1769  an,  in  welchem  Claudius  von 
Klopstock  dem  'Barditenmann'  spricht. 


38  Claudius  und  Gerstenberg 

überall  ist  die  erste  Anlage  beim  Comptoir  so  groß  und  breit  gemacht,  daß 
ein  patriotischer  Revisor,  dergleichen  Ew.  Hochwohlgeb.  gehorsamer  Diener 
ist,  allenthalben  einziehen  muß,  wenn  die  Sache  bestehen  soll.  Wenn  es 
Ihnen  also  nicht  möglich  ist,  diese  mancherlei  Zeitungen  in  Copenhagen  in 
Gesellschaft  mitzuhalten,  so  müssen  wir  des  Vortheils  entbehren,  den  Sie 
daraus  in  Ihren  Eecensionen  ziehen  würden.  Gegeben  an  unserm  Pult, 
kurz  nach  12  Uhr  Mittags  d.  19.  April. 

L.  S.  Revisor  der  Hamburgischen  Adreßcomptoirsrechnungen. 

Wenn  Sie  meiner  launigten  —  exhortatorischen  —  ora- 
torischen  —  lächerlichen  Briefe  müde  sind,  so  sagen  Sie  ein 
Wort  —  ich  kann  Sie  auch  nicht  schreiben. 

17.1 

Mein  lieber  H.  Rittmeister,  ich  wage  trotz  Ihres  langen  Stillschweigens 
noch  einen  Brief,  und  zwar  in  Angelegenheiten  des  H.  Herrmanns.  Sein 
Bruder  hat  sich  nämlich  auf  Ihre  Enunciation  beim  Regiment  eingefunden, 
und  es  geht  nun  ein  Supplicatum  an  das  Commissariats-CoUegium  ab,  dariu 
gebeten  wird,  ihm  versprochenermaßen  den  Abschied  für  die  30  rth  gnädigst 
auszuwirken.  Das  also  11.  Herrmanus  wegen,  und  von  meinetwegen  noch 
das  hinzu,  daß  wir  in  Hamburg  Sie  lieb  haben. 

d.  letzten  Juni  1769.  Claudius. 

18.2 

[Hamburg,  Februar  1770.] 

Also  eins  nach  dem  andern,  wies  in  Ihrem  Brief  vorkömmt. 

Prof.  Schlegel  wiße  also,  daß  ich  seinen  Auftrag  besorgt  habe  und  daß 
er  die  Rechnung  pp  mit  der  ersten  Post  erhalten  wird,  daß  ich  übrigens 
nicht  geantwortet,  weil  ich  glaubte,  ihm  sey  an  meiner  Antwort  nichts 
gelegen,  wenn  seine  Comißion  nur  ausgerichtet  wäre,  wegen  der  gewißen 
Foderung  mag  er  selbst  an  H  Leisch.  schreiben.  Bachs  Musickal.  Vielerley* 
enthält  gutes  und  mittelmäßiges  durch  einander.  Sie  sollen  es  gelegentlich 
haben,  es  kommen  Stücke  für  allerley  Instrumente  darin  vor,  von  lauter 
berühmten  Meistern,  die  Bach  mir  auch  nach  der  Reihe  hergenannt  hat, 
aber  ich  habe  sie  wieder  vergeßen. 

Bach  will  die  Clarißa  componiren  und  vor  sich  drucken  laßen,  hier  ist 
der  Text  zum  nochmaligen  Durchsehen.  Sie  thun  aber  nicht  übel,  wenn 
Sie  bey  jeder  Versabtheilung  den  Affect  und  musikalischen  Ausdruck,  den  Sie 
verlangen,  notiren. 

Zum  Hypochondristen*  habe  ich  nichts,  und  bin  dabenebst  sehr  faul 
(piger).  ich  habe  H  Bode  gesagt,  was  ich  ihm  sagen  sollte,  er  erwartet  aber 
mit  verlangen,  und  vermuthet  in  allem  Ernst  Manuscript  zu  den  Briefen^ 


1  H:   ?     E:  Redlieh  S.  19. 

2  H:  2  Seiten  4«.     E:   Redlich  S.  19  f. 

3  Erschien  mit  dem  5.  Januar  1770  in  wöchentlichen  Lieferungen. 

*  Gerstenberg  arbeitete  damals  den  'Hypochondristen'  völlig  um;  in  der 
neuen  Gestalt  erschien  er:  Bremen  und  Schleswig  1771  in  drei  Teilen. 

5  Gerstenbergs  'Briefe  über  Merkwürdigkeiten  der  Literatur'  (Neudruck 
von  A.  V.  Weilen  in  den  'Deutschen  Literaturdenkmälern  des  18.  und 
19.  Jahrhunderts  Nr.  29.  30) ;  der  Fortsetzung  erstes  Stück  erschien :  Ham- 
burg und  Bremen   1770.     Vgl.  v.  Weilen,  Einleitung  S.  CXXV  flf.,  S.  293  ff. 


Claudius  und  Gerstenberg  39 

und  das  hat  er  schon  lange  gethan,  schicken  Sie  also  bald  etwas,  damit  Sie 
ihn  nicht  betrügen. 

Bachs  kleine  Ciavierstücke  item  12  Format^  kommen  gelegen tl.  auch 
mit  — 

H  Sturtz's  Gewißen  soll  geschont  werden. 

Das  Alexanderfest^  ist  noch  nicht  angekommen.  Die  beiden  ersten  Theile 
von  Yorick^  und  was  sonst  neues  herauskommen  wird  will  Bode  gelegent- 
lich (N  B  gelegentlich,  das  ist,  wenn  einmal  etwas  Bücherwerk  oder  so 
geschickt  wird)   [schicken.] 

Gundlach  will  ichs  schreiben.     Lessing  ist  noch  hier,  nur  noch  3  Wochen. 

Bach  versprach  mir  allerley  nelpettoStückgen  für  die  Fr.  Kittmeisterin 
und  für  Sie,  aber,  er  hat  sie  mir  noch  nicht  gegeben,  sollte  ers  wider  Ver- 
muhten thun  (denn  ob  ihm  d  H  v.  Gerstenherg  wohl  nicht  gleichgültig  ist, 
so  ist  sein  Naturell  ein  Stein,  der  nur  durch  außerordentl.  Gewalt  oder 
Zufall  in  Bewegung  gerahten  kann),  so  werde  ich  sie  den  Augenblick  ein- 
packen und  hinüber  gehen  heißen,  die  Fr.  Rittmeisterin  an  einen  ihrer 
gehorsamsten  —  Sagen  Sie  doch  was  ich  für  ein  Wort  brauchen  soll,  Diener 
sagt  zu  wenig  und  Anbeter  zu  viel,  und  Freund  gar  nichts  —  also  an  den 
J.drejSco?ifoirnachrichtenschreiber  in  Hamburg  zu  erinnern,  wie  auch  deu 
H  Rittmeister,  der  hiebey  den  Artikel  von  Broion'^  zu  empfangen  hat. 

ich  habe  Bach  Elopstocks  Lied  W  i  r  und  S  i  e  gegeben,  er  wills  in  die 
Unterhaltungen  componiren'^. 

Magister  Schmidt  lässt  sich  ein  Kind  nach  dem  andern  gebähren.  nach 
einem  Brief  von  einem  ganzen  Bogen,  den  er  mir  vor  eingen  Monahten 
geschickt  hat,  zu  rechnen,  ist  er  noch  zufrieden  mit  sich  und  seiner  Frau, 
ich  soll  Sie  auch  grüßen,  übrigens  regnet  es  hier  alle  Tage  und  wir 
haben  vom  Burgermeister  bis  auf  mich  Husten  und  Rheumatismus 

Claudius. 

Ich  francire  diesen  Brief  nicht,  nicht  weil  ich  ihn  nicht  franciren  will, 
sondern  weil  ich  ihn  nicht  franciren  kann,  ich  will  einen  quartanten  Liebes- 
lieder ediren  wen  ich  in  zwey  Tagen  1  ß  gehabt  habe,  und  wen  ich  dem 
ohngeachtet  nicht  vergnügt  bin  — 

grüßen  Sie  Klopstock. 


1  'Zwölf  zwei-  und  dreistimmige  Stücke  für  die  Flöte  oder  das  Violin  und 
das  Ciavier'.     Hamburg  1770. 

2  Händeis  Komposition,  die  Gerstenberg  wohl  durch  Claudius  bestellt 
hatte. 

*  Die  2.  Auflage  von  Bodes  Übersetzung  der  'Sentimental  journey'  von 
Lawrence  Sterne,  deren  beide  erste  Bände  im  Sommer  1769  herausgekommen 
waren. 

*  'Browns  Betrachtungen  über  die  Poesie  und  Musik  nach  ihrem  Ur- 
sprünge, ihrer  Vereinigung,  Gewalt,  Wachstum  und  Trennung,  und  Ver- 
derbnis. Aus  dem  Englischen  übersetzt,  mit  Anmerkungen  und  zween  An- 
hängen begleitet,  von  J.  J.  Eschenburg'  besprach  Gerstenberg  in  Stück  117 
und  123  der  'Neuen  Zeitung'  vom  Jahre  1769.     Vgl.  Fischer  S.  238  ff. 

5  Klopstocks  Ode  'Wir  und  Sie'  erschien  im  'Göttinger  Musen-Almanach 
auf  das  Jahr  1770'  S.  17  aus  den  Wiener  'Schriften  zum  Vergnügen  und 
Unterricht'  abgedruckt.  Eine  Komposition  der  Ode  von  Bach  steht  aber 
nicht  in  den  'Unterhaltungen'. 


40  Claudius  und  Gerstenberg 

19.1 

[Hamburg,   Anfang   März    1770.] 

Hab  ich's  in  meinem  letzten  Wisch  gesagt  oder  noch  nicht,  daß  Bach  es 
gerne  sieht,  wenn  Sie  ihm  gelegentlich  Kleinigkeiten  für  sein  Musikalisches 
Vielerley  schicken  wollen?  Die  kleine  Cantate  aus  dem  Schackspear  wird 
auch  componirt  werden,  wann  aber,  das  weiß  ich  nicht,  und  das  weiß  Bach 
selbst  nicht. 

Was  Sie  von  dem  eignen  Schnitt  der  Versode  etc.  sagen^,  scheint  Bach 
wahr  zu  finden;  ob  er's  auch  wahr  fände,  wenn's  ein  anderer  gesagt  hätte, 
das  weiß  ich  nicht,  und  das  weiß  Bach  selber  nicht. 

Die  zwei  Worte  von  dem  Musikalischen  Vielerley  in  der  neuen  Zeitung 
habe  i  c  h  gesagt.  Bach  ist  nicht  sonderlich  damit  zufrieden  gewesen,  um 
ihn  zu  trösten,  habe  ich  ihm  vorgelesen,  was  Sie  dawider  haben.  Das 
Musikalische  Vielerley  folget  in  Extenso  hiebei. 

H.  Herder  ist  hier  seit  8  Tagen,  und  reist  heute  von  hier  nach  Kiel.  Er 
kommt  aus  Frankreich  und  Holland,  und  wird,  wie  man  sagt,  wieder  auf 
Reisen  gehn.  Sie  können  denken,  wie  ich  gehorcht  habe,  wenn  er  von 
Hamann  erzählte,  auch  habe  ich  gehorcht,  wenn  er  sonst  etwas  sprach.  Er 
ist  sehr  lebhaft;  ich  bringe  überhaupt  seit  Monaten  meine  Zeit  mit 
Horchen  zu,  zum  Sprechen  habe  ich  nicht  viele  Lust,  der  leidige  Amor  hat 
sein  Werk  in  mir,  zum  Sprechen  habe  ich  nicht  viele  Lust,  und  eben  aus 
diesem  Grunde  kann  ich  Ihnen  auf  Ihre  freundliche  Anfrage  auf  der  letzten 
Seite  Ihres  Briefs  nichts  antworten.  Man  sieht  alle  Dinge  anders  als  vor- 
her, wie  Sie  wissen  —  und  er  hat  sein  Werk  in  mir,  und  darum  habe  ich 
nicht  viele  Lust  zum  Sprechen  und  darum  leben  Sie  wohl. 

Schicken  Sie  mir  doch  mit  der  ersten  Post  Klopstock  seinen 
deutschen  Text  zu  Stdbat  mater^.    Ich  bitte  Sie  darum. 

20.* 

[Hamburg,   Frühjahr   1770.] 

ich  denke  1  oder  2  Bogen  Wiegenlieder  drucken  zu  lassen  lucri  caussa  — 
mag  ich  nun  wohl  ein  Wiegenlied  von  Ihnen,  das  ich  habe  und  das  sich 
anfängt  'Schlaf,  aber  schlafe  nicht  zu  lange'  pp  mit  hineinsetzen,  es  kommt 
in  eine  nicht  ganz  schlechte  Gesellschaft,  ein  Wort  den  ersten  Festtag. 
Schicken  Sie  doch  bald  Hendels  Musick  sie  soll  hier  aufgeführt  werden. 
Bald  mehr.  Claudius. 

[Adresse:]  ä  Monsieur  Monsieur  de  Gerstenberg  Capitaine  ä  Copen- 
h  ag ue    p.   C. 


{ 


1  H:  ?  E:  Redlich  S.  20  f.  T:  Haym,  Herder  I,  S.  361  [der  letzte  Ab- 
satz des  Briefes], 

2  über  'den  eignen  Schnitt  der  Versode'  hatte  sich  Gerstenberg  geäußert 
in  dem  Aufsatz:  'Schlechte  Einrichtung  des  Italienischen  Singgedichts. 
Warum  ahmen  Deutsche  sie  nach?',  erschienen  in  der  Fortsetzung  der 'Schles- 
wigschen  Literaturbriefe'  (1770)  S.  116  ff.  (v.  Weilens  Neudruck  S.  332  ff.); 
dann  in  seinen  'Vermischten  Schriften'  III,  S.  352  ff. 

3  Die  Übersetzung  des  Kirchengesanges  'Stabat  mater'  nahm  Klopstock 
selbst  nicht  in  seine  Werke  auf;  sie  wurde  zuerst  gedruckt  in  Schmids 
'Anthologie  der  Deutschen'  II  (1771),  S.  293,  dann  in  der  Schubartschen  und 
in  der  Darmstädter  Sammlung. 

*  H :   1  Seite  quer  8  ".     Rückseite  mit  Adresse. 


Claudius  und  Gerstenberg  41 

21.1 

[Hamburg,  September  1770.] 

Hier  sind  zvvey  Sonaten  von  Bach;  es  habe  sie  niemand,  sagte  er,  als  er 
sie  mir  gab.  Das  AUegretto  zur  ersten  habe  ich  nicht  ausgeschrieben,  weil 
Sie  es  schon  haben. 

Auch  sind  hier  zwey  Arien  zur  Approbation  oder  zur  Schmähung  pp. 

H.  Schiörmg^,  der  Ihnen  diese  Kleinigkeiten  mitbringt,  ist  vor  12 
Wochen  von  Copenhagen  nach  Hamburg  gekommen,  Bachen  zu  hören,  und 
sich  von  ihm  weisen  zu  laßen;  Bach  hat  ihm  auch  nach  vielem  Flehen 
wöchentlich  zwey  Stunden  gegeben.  Wenn  Sie  also  ein  Ohrenzeuge  von 
Bachs  Spielart,  besonders  im  adagio,  werden  wollen,  so  laßen  Sie  sich  von 
ihm  vorspielen,  aber  urtheilen  Sie  nicht  gleich  vom  ersten  mal,  er  ist  sehr 
blöde,  bohlt  aber  beym  zweiten,  dritten  mal  nach  was  er  beim  ersten  ver- 
sieht. Sie  werden  überdem  finden,  daß  er  einer  von  den  guten  Dänen  ist, 
und  geneigt  seyn,  ihm  zu  helfen  und  fördern  in  allen  Leibesnöhten ;  ich 
wünschte  daß  der  Himmel  ihn  zu  Sünchsen's  adjunctus  bestimmt  hätte,  bis 
meine  Capelle  eingerichtet  wird. 

Von  Altona  weiß  ich  nichts,  als  was  mir  aus  Copenhagen  geschrieben 
worden,  ich  habe  das  Project  gepflanzt,  Apollo  wird  ja  begießen,  ich  danke 
Ihnen  für  Ihre  Briefe,  mein  lieber  Rittmeister,  leben  Sie  wohl,  und  nun  — 

—    hier    wird    mein    Antlitz    heller 
und  himmlisch  lächelnd  wend'  ich  um 
an  die  Frau  Rittmeisterin. 

Sie  haben  mich  durch  Ihren  Brief  in  Verlegenheit  gesetzt,  denn  Menschen 
ist  es  nicht  gegeben,  Bachen  zum  componiren  zu  bewegen;  er  ist  faul,  und 
verdient  eben  so  wenig  als  ich  einen  Brief  von  Ihnen,  ich  habe  ihm  schon 
vor  einem  halben  Jahr  Cramers  Nachahmungen  der  Psalmen  pp  gegeben, 
er  wollte  Melodien  dazu  machen,  gestern  schickt  er  sie  mir  wieder  und  hat 
keine  dazu  gemacht*,  ich  hoffe  indeß,  daß  ich  nächstens  einige  gute  Sing- 
sachen werde  schicken  können,  und  bis  dahin  empfhele  ich  die  Jagd  von 
Hillern*,  und  besonders  ein  alla  Pollaca  im  ersten  Act.  Herr  Schiöring  hat 
sie,  so  wie  Hiller  sie  fürs  Ciavier  herausgegeben  hat, 'und  wenn  Sie  die 
Partitur  haben  wollten,  so  würde  es  mir  vieleicht  nicht  unmöglich  seyn, 
sie  habhaft  zu  werden.  Der  AdreßcomtoirnachrichtenSchreiber  in  Hamburg 
ergreift  mit  Freuden  eine  jede  Gelegenheit,  bey  welcher  er  zeigen  kann,  wie 
sehr  er  Sie  achte,  und  der  Gott  des  Klanges  und  des  Gesanges  breite  seinen 
Fittig  über   Sie  und  über   den   Rittmeister. 

Claudius. 
22.5 
Mein  lieber  Rittmstr. 

ist  nicht  ein  gewisser  Schiöring,  ein  Saitenspieier  bey  Ihnen  gewesen? 
hat  er  Ihnen  nicht  von  meinetwegen  Brief  und  Noten  gebracht?     er  hat 

1  H:  2  Seiten  4».    E:  Redlich  S.  21  f. 

2  Niels  Schiörning,  Herausgeber  eines  dänischen  allgemeinen  Gesang- 
buches, war  Kammermusikus  in  Kopenhagen. 

*  Bachs  Komposition  der  Cramerschen  Psalmen  erschien  erst:  Hamburg 
1774. 

*  Komische  Oper  in  drei  Akten  mit  Text  von  C.  F.  Weiße  (Leipzig  1770), 
Musik  von  Adam  Hiller. 

5  H :  1  Seite  4  ".    Auf  der  vierten  Seite  die  Adresse.    E :  Redlich  S.  22. 


42  Claudius  und  Gerstenberg 

mir  nicht  einmal  geschrieben  und  ich  habe  ihm  nichts  zu  leid  gethan,  ich 
bin  böse  auf  ihn. 

Klopstock  hab  ich  gesprochen,  er  wird  den  Winter  in  Hamburg  zu- 
bringen, der  holdseelige  Großmeister,  der.  ich  wohne  itzo  hinter  Petri 
Kirche  in  der  Probstey  bey  H  F ahlius  und  freue  mich  aufs 
Eis  wie  Jonas  auf  den  Kürbisschatten. 

Einige  Zeither  habe  ich  nichts  gethan  als  Arien  von  Guglielmi,  Piccinl, 
Potenza,  Swanenherg  pp  gehört  und  gespielt,  weicher  und  wollüstiger  kann 
wohl  keine  Musick  seyn,  die  Arien  sind  fürtreflich  in  ihrer  Art  aber  man 
verwöhnt  sich,  und  die  andern  Componisten  die  nicht  so  heißen  wollen 
nicht  darauf  schmecken. 

Auf  Neujahr  legt  Bode  eine  Zeitung  in  WanslecJc  an^  und  ich  werde  sie 
schreiben  helfen,  ich  wollte  gerne  daß  der  gelehrte  Artickel  zwar  nicht 
grade  beßer  wäre  als  in  vielen  andern  Zeitungen,  aber  etwas  eignes  muß 
er  haben,  und  nicht  so  wie  die  andern  seyn,  geben  Sie  mir  Ihre  Gedanken 
über  die  Einrichtung  doch  auch  mit  zum  besten,  ich  sammle  itzo  Stimmen 
deswegen. 

Hamburg  d  28  Octbr  1770.  Claudius. 

[Adresse:]  ä  Monsieur  Monsieur  de  Gerstenberg  Capitaine  de  Cavallerie 
ä   C openhague  Franco. 

23.2 

—  a  horse!  a  other  horse!  bind  up  my  Wounds  —  have  mercy  Jesu  — 

Denn  mein  itziges  Pferd  kann  uns  nicht  beide  tragen,  und  sie  muß 
mit  mir  — 

ich  habe  mir  die  unnöhtige  Mühe  gemacht,  ein  unbedeutendes  Bauer- 
mädchen lieb  zu  gewinnen,  und  ich  habe  es  mit  ehrlichem  Blut  und  Hirn 
beschloßen,  sie  zur  Männin  zu  machen,  wenn  mir  irgendwo  auf  dem 
Lande  eine  kleine  Amtverwalter  pp  Stelle  werden  könnte,  im  Dänischen 
oder  Deutschen,  gleich  gut.  ich  weiß  nicht,  mein  lieber  Rittmeister,  ob 
Sie  itzo  etwas  dazu  beytragen  können,  oder  mein  ehemaliger  Graf^  hoch- 
gebohren.  ich  hätte  Oncle  Lorck*  gebeten  mit  dem  Grafen  zu  sprechen, 
aber  er  thut  Ihnen  eher  etwas  als  Lorck,  den  er  ist  gar  ein  großer  Freund 
und  Beschützer  der  Gelehrten  Leut.  Ehlers  seine  Stelle  in  Oldenburg  ist 
offen",  ich  weiß  fast  keine  einzige  Regel  mehr  aus  der  Grammatick,  und  bin 
in  dem  Betracht  gar  nicht  geschickt  zum  Rector,  habe  auch  eben  nicht  große 
Lust  in  Oldenburg  zu  seyn,  aber  wen  Sie's  meinen,  wollte  ichs  doch  werden, 
oder  was  Sie  sonst  meinen.  Sie  antworten  mir  bald,  eine  vorläufige  Mei- 
nung, ob  ich  gleich  so  unverschämt  lange  nicht  geantwortet  habe,  es  haben 
ja  schon  die  alten  Dichter  gesagt,  daß  die  animac  coelestes  nicht  Rache 
üben.     Gott  grüße  Sie  und  die  Frau  Rittmeisterin. 

Ihr  Claudius. 

bey  Bode  am  Holzdam  in  Hamburg,    d  3  Sept  1771. 


I 


1  'Der  Wandsbecker  Bothe',  1771 — 1775  erschienen. 

2  H:  1  Seite  40.     E:  Redlich  S.  23. 

'  Graf  Holstein,  bei  dem  Claudius  Ostern  1764 — 65  in  Kopenhagen  Sekre- 
tär gewesen  war. 

*  Der  Bruder  von  Claudius'  Mutter,  Josias  Lorck  (1723—85),  Pastor  zu 
Kopenhagen  und  berühmter  Bibelsammler. 

5  Ehlers  übernahm  1771  die  Leitung  des  Altonaer  Gymnasiums. 


Claudius  und  Gerstenberg  43 

24.1 

[Wandsbek,  Herbst  1771.] 

Aber,  das  sage  ich  vorher,  beschneiden  kann  ich  den  Brief  nicht,  und 
kein  Couvert  darum  machen,  meine  Scheere  ist  seit  3  Tagen  fort,  und  ich 
kann  sie  nicht  wiederfinden. 

'Warum  haben  Sie  in  aller  Welt  das  Secretariat  beym  Lotto  nicht  an- 
genommen ? ' 

Darum,  weil  es  mir  nicht  angeboten  worden.  In  Copenhagen  Hamburg 
und  Altoua  habens  die  Leute  gewusst,  daß  ich  eine  sehr  gute  Stelle  beym 
Lotto  in  Copenhagen  haben  sollte,  nur  ich  I^eut  in  Wandsheck  weiß  kein 
Wort  davon.  Am  Ende  nähme  ich  eine  Stelle  in  Copenhagen  an,  aber  lieber 
eine  auf  dem  Lande,  und  denken  und  sinnen  Sie  herum,  mein  lieber  Oerstcn- 
herg,  haben  muß  ich  bald  etwas  oder  ich  thue  mir  ein  Leid,  wie  der  Nacht- 
wächter bey  Hendel  und  Rolle.  An  meinen  Oncle  Lorck  habe  ich  lange  schon 
geschrieben,  ich  denke  er  muß  H  Stemann  nicht  gerne  zu  Leibe  wollen,  sonst 
hätt  ers  ja  wohl  gethan,  ich  kann  den  Brey  nicht  gar  ins  Maul  schieben, 
er  mag  auch  wohl  nichts  thun  können,  den  er  ist  ein  guter  07icle  und  hasyt 
mich  nicht,  aber  ich  muß  bald  etwas  haben,  oder  ich  thue  mir  ein  Leid,  und 
das  wäre  doch  Schade  um  mich.  Gott  gebe  Ihnen  und  der  Frau  Rittmeisterin 
viel  Freude.  Ihr 

Claudius. 

[Adresse:]  d  Monsieur  Monsieur  de  Gerstenberg  Capitaine  ä  Copen- 
h  ag ue    Franco. 

25.2 

[Wandsbek,  Winter   1772.] 
Mein  lieber  Rittmeister, 

denn  Sie  mögen  werden  oder  geworden  seyn  was  Sie  wollen,  so  werden 
Sie  doch  für  mich  nicht  mehr  und  nicht  weniger,  als  Sie  als  Rittmeister 
gewesen  sind,  ich  wolte  Ihnen  schon  mit  Herrn  Schiöring  schreiben,  aber 
mein  Bauermädchen  gebahr  grade,  2  Monaht  zu  früh,  einen  kleinen  lieben 
Bauerjungen^  der  nur  so  lange  lebte,  daß  er  einmal  recht  herzlich  zum  Mond 
aufweinen  konnte,  und  das  hinderte  mich  daran. 

Das  erste  was  ich  Ihnen  zu  sagen  habe  ist,  daß,  ob  ich  gleich  in  Jahres- 
frist nicht  geschrieben  habe,  es  doch  so  anzusehen  sey,  als  ob  ich  immer 
ordentlich  alle  14  Tage  geschrieben  hätte.  Es  ist  auch  mißlich  an  einen 
gelehrten  zu  schreiben,  ich  habe  da  eben  2  Theile  von  Briefen,  die  an  Klotz 
geschrieben  sind*,  und  ich  werde  kalt  und  warm  dabey.  So  viel  Schande  ist 
dabey  für  die  Briefsteller,  die  zum  Theil  beckannte  berühmte  Gelehrte  sind, 
und  hier  fast  alle  als  elende  Schmeichler  auftreten.  Ein  gewißer  Preußi- 
scher Lieutenant  von  Hagen  hat  sie  herausgegeben,  der  gar  kein  Gefühl 
von  der  Heiligkeit  des  Freaind- Vertrauens  haben  oder  in  großer  Hungers- 
Noht  seyn  muß. 

Das  zweite  also  ist,  daß  Sie  diesen  und  alle  meine  Briefe  verbrennen, 
wer  weiß  welchen  Lieutenant  Ihr  Briefpult  in  die  Hände  fallen  könnte. 


1  H:   1  Seite  4".     Auf  der  vierten  Seite  die  Adresse. 

2  H:  1  Seite  4». 

3  Der  Erstgeborene  starb  am  30.  September  1772. 

*  'Briefe  deutscher  Gelehrten  an  den  Herrn  Geheimen  Rath  Klotzen. 
Halle  1772 — 73',  von  Claudius  in  dem  obgedachten  Sinn  angezeigt  im 
'Wandsbecker  Bothen'  (1772)  Nr.  180  und  181  (10.  und  11.  November). 


44  Claudius  und  Gerstenberg 

Das  dritte  ist  mein  ungefärbter  Wunsch,  daß  es  Ihnen  und  der  Frau 
Rittmeisterin  wohl  gehe,  und  den  iungen  Dichtern,  die,  wie  ich  höre,  einer 
nach  den  andern  um  sie  aufschießen. 

ich  schickte  Ihnen  gerne  die  Charfreitags  Musick  mit,  aber  ich  habe  sie 
noch  nicht.  Damit  Sie  aber  sehen,  was  Sie  zu  gewarten  haben,  lege  ich  Ihnen 
ein   Stück  aus   unserm   Wandsbecker   Bohten   bey. 

ich  lebe  sehr  vergnügt  und  glücklich,  und  wenn  ich  jährl  ein  hundert 
Thaler  mehr  hätte,  würde  ich  mich  nach  nichts  umsehen.  So  ist  freilich 
ungusta  res  domi,  aber  das  schärft  das  Ingenium.  Noch  eins  mein  lieber 
Rittmeister.  Bode  klagt  manchmal,  daß  Sie  ihm  nichts  zu  den  Litteratur- 
Briefen  schicken.  Er  sagt,  er  habe  deswegen,  durch  den  Handel  mit  dem 
Buchhändler  in  Sleswig  und  sonst,  ansehnl.  Ausgaben  gehabt,  und  die  wärea 
rein  verlohren,  wenn  Sie  nicht  fortsetzten.  Bode  kann  nicht  viel  verliehren, 
und  ich  bitte  Sie,  denken  Sie  darauf,  wie  er  auf  eine  oder  die  andre  Art 
geholfen  wird.  Emphelen  Sie  mich  der  Frau  Rittmeisterin  bestens,  auch 
Preislern*-  et  cet.  Ihr  Claudius. 

26.2 

Wandsheck  d  8  Aprill  [1774].  morgends  1/26  Uhr. 

ich  thue  Ihnen  melden,  daß  mein  Bauermädchen  vor  circa  8  Wochen  ein 
klein  Kind  weiblichen  Geschlechts  gebohren  hat^,  das  nun  vor  mir  in  der 
Wiege  liegt,  und  Brust  haben  will,  's  muß  aber  warten,  denn  mein  Bauer- 
mädchen schläft  noch,  und  mag  sie  nicht  wecken. 

weiter  thu  ich  melden,  daß  ich  recht  wohl  auf  bin,  und  gerne  vernehmen 
möchte,  Sie  und  die  Frau  Rittmeisterin  wärens  auch. 

drittens,  und  welches  die  Hauptsache  und  der  eigentliche  Inhalt  des 
Briefs  ist,  thu  ich  melden,  daß  der  alte  Pastor  Würger  in  Ottensen  ge- 
storben ist,  und  daß  der  iunge  H  Pastor  Würger  die  Stelle  gerne  wieder 
haben  sollte,  der  Resident  in  Altana,  der  Consistorialraht  Ahlemann  et  cet. 
et  cet.  wollen  sie  ihm  auch  gerne  in  Händen  spielen,  ich  habe  aber  gedacht, 
daß  eins  zu  viel  beßer  sey  als  eins  zu  wenig,  und  schreibe  Ihnen,  ob  Sie 
vieleicht  dabey  helfen  und  fördern  könnten,  und  lege  eine  gehorsahmste 
Vorstellung  deswegen  bey,  die  Sie  etwa  meinem  Oncle  Lorck,  wenn  der 
sollte  helfen  und  fördern  können  und  jedem  andern  der  das  kann,  vorlesen 
sollen. 

Würger  hat  würcklich  viel  Recht  zu  der  Stelle  seines  Vaters,  denn  er 
war,  wie  Sie  wißen,  Rector  in  Tönningen,  und  bat  um  die  Stelle,  die  er 
itzo  hat,  und  die  er  schon  vorher  hätte  haben  können  und  nicht  wollte, 
wenn  ihm  dabey  die  Expectanz  auf  den  Ottensen-Dienst  gegeben  würde. 
Man  gab  ihm  die  Stelle  und  ließ  sich  auf  die  Expectanz  nicht  ein,  und  er 


1 


1  Zeichner  und  Kupferstecher   in  Kopenhagen. 

2  H:  1  Seite  4«.  —  Ein  Brief  vom  2.  Februar  1773  (2V2  Seiten  4«)  im 
Verzeichnis  von  Meyer  Cohns  Autographen-Sammluug  (Berlin  1905)  I,  S.  95, 
Nr.  1003;  ein  Brief  vom  11.  März  1774  im  Katalog  von  Liepmannssohns 
XXII.  Autographen-Versteigerung   (1898),  Nr.   370. 

'  Die  älteste  Tochter  Karoline,  geboren  am  7.  Februar  1774,  später  ver- 
heiratet mit  dem  Hamburger  Buchhändler  Friedrich  Perthes.  Vgl.  Gl.  Th. 
Perthes,  'Friedrich  Perthes'  Leben  nach  dessen  schriftlichen  und  münd- 
lichen Mitteilungen'.     Drei  Teile.     6.  Auflage.     Gotha  1872. 


Claudius  und  Gerstenborg  45 

war  so  blöde  und  bescheiden  und  nahm  sie  an,  da  er  sich  dadurch  nicht 
verbeßerte,  und   recht  sauer  hat. 

leben  Sie  wohl  mein  lieber  Gerstenierg,  wir  grüßen  Sie  und  die  Fr.  Ritt- 
meisterin herzlich,  und  wünschen  sie  oft  her.  Claudius. 

[Am  linken  Rande:] 

Schicken   Sie  mir  doch  gelegentlich  Beyträge  zum  Bothen,  und  seyn 

Sie  doch  nicht  härter  als  ein  Stein.     Ihnen  muß  doch  oft  was  einfallen. 

27.1 

[Wandsbek,  November  1774.] 

Mein  lieber  Herr  Rittmeister, 

Sie  haben  vieleicht,  wenn  Sie  Zeitungen  lesen,  gemerkt,  daß  ich  eine 
Sammlung  von  meinen  Schuurpfeiffereyeu^  zu  Ostern  herausgeben  will,  ich 
habe  in  der  Ankündigung'  wenigstens  1  schönes  Kupfer  versprochen;  da 
bitte  ich  Sie  nun,  ob  Sie  nicht  mit  dem  alten  Freund  Preisler  sprechen 
wollten,  ich  muß  haben:  ein  Kupfer  in  klein  Octav  darauf  der  Todt  mit 
einer  Sense  steht*,  und  weiter  ein  Paar  Kleinigkeiten,  wenn  eine  Seite 
halb  leedig  bleibt,  kann  Preissler  mir  die  zu  Ostern  machen,  und  will  er 
sie  machen,  und  was  will  er  dafür  haben?  Denn,  versteht  sich, 
ich    will    sie   bezahlen. 

Wegen  der  Pachtung  eines  Kammerguts  ist  es  ja  so  gar  stille,  Sie 
vergeßen  es  doch  nicht  wieder?  Mein  Bruder,  dem  ich  davon  gesagt  habe, 
fragt  mich  und  fragt  mich,  und  ich  weiß  nicht  was  ich  ihm  antworten  soll. 

Bach  grüsst  Sie  vielmahl.  Er  schickt  itzo  12  sehr  schwere  Sonaten  zum 
Druck  nach  England.  Er  hat  auch  6  Kammer  Symphonien  gemacht,  die 
für  eine  seiner  besten  Arbeiten  gelten  können. 

Wenn  Sie  mir  bald  antworten  will  ich  Ihnen  auch  einen  recht  langen 
Brief  voll  allerhand  Neuigkeiten  und  Anecdoten  schreiben,  ich  frankire 
diesen  Brief  nicht,  weil  mein  Bote  ihn  so  sicherer  bestellt,  frankiren  Sie 
auch  nicht. 

Wir  emphelen  uns  der  Frau  Rittmeisterin  auf  das  allerbeste. 

Claudius  etc. 

28.» 

Wandsieck,  d  8ten  Julius.  1775. 

Willkommen  also  in  Lübeck.*  ich  dachte  Sie  kämen  gar  nicht,  weil  Sie 
seit  Monaht  Märtz  kommen  wollten,  und  kein  Mensch  wußte  warum  Sie 
nicht  kamen.  Nun  Sie  denn  aber  endlich  doch  da  sind,  willkommen  noch 
einmahl,  und  es  ist  uns  lieb  daß  Frau  Thetis  nun  keine  Gewalt  mehr  über 
Sie  hat 


1  H:   1  Seite  4o. 

2  'Asmus  omnia  sua  secum  portans  oder  Sämtliche  Werke  des  Wandsbecker 
Boten'.  Von  1775 — 1812  erschienen  acht  Teile  in  sieben  Bänden  (Teil  I/II 
im  ersten  Band). 

*  In  verschiedenen  Hamburger  Zeitungen  sowie  im  'Wandsbecker  Bothen' 
Nr.  179  abgedruckt,  datiert  vom  8.  November  1774;  auch  dem  ersten  Bande 
des  'Asmus'  vorgesetzt. 

*  Vgl.  das  Titelbild  des  ersten  Bandes  von  'Asmus'. 
5  H:   3  Seiten  8«. 

8  Gerstenberg  war  dänischer  Resident  und  Konsul  in  Lübeck  geworden. 


46  Claudius  und  Gerstenberg 

In  14  Tagen  denken  ich  und  mein  Bauermädchen  persöhnlich  dem  Herrn 
Residenten  und  der  Frau  Residentin  die  Aufwartung  zu  machen  und  ein 

24  Stunden  gut  von  ihnen  zu  haben  et  cet.  — 

H  Stade  sagt  mir  von  25  Ex.  des  H  8.  T.  Asmus  die  H  Zinn  in 
Copenhagen  haben  wolle;  er  sagt  zugleich:  Sie  meinten,  ich  wüsste  schon 
deswegen  Bescheid,  ich  weiß  aber  keinen  Bescheid  und  habe  von  Ihnen  in 
3  Monahten  keinen  Brief  gesehen.     Die  Frage  ist  also:   will  H  Zinn  noch 

25  Ex.  haben,  oder  ist  dies  Gerede  etwa  von  den  Exemplaren  zu  ver- 
stehen, die  ich  schon  vor  circa  8  Wochen  an  den  jungen  Preisler  geschickt 
habe? 

ich  habe  auch  gehört,  Herr  Agent  Meinig  in  Copenhagen  habe  Suhscri- 
henten  colligirt  und  wundre  sich,  daß  ich  ihm  keine  Exemplare  schicke,  da 
er  mir  doch  deswegen  einen  Brief  geschrieben  hätte,  ich  habe  keinen  Brief 
von  H  Agent  Meinig  erhalten  u.  s.  w.  wißen  [Sie]  da  etwas  davon?  ich 
könnte  ihm  sonst  noch  mit  Ex.  dienen. 

Sie  wißen  doch,  daß  ein  gewißer  Herr  Fleurke  aus  Danzig  mir  mein 
Buch  nachgedruckt  hat?i-     der  Esel  hätte  es  lieber  nicht  thun  sollen. 

Wenn  Sie  mir  etwas  Nachricht  auf  ohexplicirtes  geben  können;  so  bitte 
ich,  daß  Sie  es  den  ersten  Tag  thun. 

Wir  empfhelen  uns  dem  Herrn  und  der  Frau  im  Hause  auf  das  aller- 
beste. Claudius. 

ich  bin  zwar  noch  in  WandshecJc,  aber  meine  adreße  ist  doch 
.zu    H.     Herrmanns     Apo-  ä 

thecke    auf    dem    Speers-  E  amhur  g 

orth. 

29.2 

Wandsleck  d  21  Aug.  1775. 

Der  Amtsverwalter  oder  Hebungsbediente  in  Reinfeldt,  der  Kammerraht 
Friederichs,  ist  gestern  gestorben,  und  meine  Mutter  will  mich  gerne  dort 
bey  sich  als  Amtsverwalter  haben,  ich  habe  also  darauf  angelegt:  können 
Sie,  durch  Gramer,  Tränte  oder  sonst  jemand,  etwas  fördern,  so  laßen 
Sie's  nicht  pp. 

ich  und  mein  Bauermädchen,  das  von  meinem  Freund  v.  Gerstenberg  und 
seiner  Frau  und  ihrer  Freundschaft,  ungeachtet  der  vorläufigen  Rodo- 
montade  ihres  Mannes,  ganz  überrascht  worden  ist,  denken  sehr  viel,  und 
sind  sehr  unzufrieden,  daß  kein  Wagen  von  Lübeck  in  Wandsleck  ankommt. 
WoUens  uns  desto  öfter  in  Reinfeldt  ausbitten.  Wir  grüßen  die  Frau 
Residentin  und  den  Herrn  Residenten  nicht  wenig,  Herr  Voß''  grüsst  auch 
und  er  möchte  Ihren  Nahmen  im  Musenallmanach  haben,  wärs  auch  nur  mit 
2  Zeilen  aber  binnen  14  Tagen.  Claudius. 

1  Der  Titel  dieses  sonst  schwer  vom  Original  unterscheidbaren  Nach- 
drucks hat  als  Verlagsbezeichnung :  Hamburg  und  Wandsbeck 
17  7  5,  während  es  bei  der  echten  Ausgabe  heißt :  Hamburg,  gedruckt 
bey  Bode  177  5. 

2  H:   1   Seite  8  <>. 

»  Johann  Heinrich  Voß  war  nach  Wandsbek  übergesiedelt  und  gab  seit 
Ende  des  Jahres  1775  seinen  Musen-Almanach  als  Konkurrenzunternehmen  zu 
dem  Göttinger  Musen-Almanach  dort  heraus.  Vgl.  H.  Grantzow,  'Geschichte 
des  Göttinger  und  des  Vossischen  Musen-Almanachs'.  ('Berliner  Beiträge 
zur  Germanischen  und  Romanischen  Philologie'  XXXV.  Germanische  Ab- 
teilung Nr.  22.)     Berlin  1909. 


Claudius  und  Gerstenberg  47 

30.1 

Wandsheck,  d  13  Nhr.  1775. 
thue  dem  Herr  Kesident  und  der  Frau  Residentin   zu  wißen,  daß  mein 
Bauermädchen  mir  diesen  Morgen  um  10  Uhr  ein  Fräulein  gebohren  hat", 
und  daß  sie  sich  samt  dem  Fräulein,  gott  sey  tausendmahl  Dank,  recht  wohl 
befindet.     Juchhey  I 

Folget  hiebey  die  Liste,  der  Musiquen  welche  diesen  Winter,  in   H   Mr 
Ebelings  Concert  in  Hamburg  aufgeführt  werden: 
Romulo  ed  Ersilia,  von  Hasse. 
Der  Meßias  von  Händel. 
Te  deum  von  dito. 
Armida  von  Salieri. 
Orphee  et  Euridice  von  Gluck. 
Die  Israeliten  von  P.  E.  Bach. 
Miserere  von  Hasse. 
Requiem  von  Gemelli  pp. 
Wenn  Sie  eins  von  diesen  Stücken  zu  hören  geneigt  seyn  sollten,  so  sagen 
Sie  welches  oder  wie  viele,  so  will  ich  Ihnen  8  Tage  vorher  schreiben  den 
Tag  der  Aufführung,     das  Requiem  von  Gomelli  wird  im  ersten  Concert  am 
künftigen  Sonntag  gemacht.     Es  ist  ganz  vortreflich. 

Voß  ist  nur  bis  Kiel  geckommen  und  hat  Briefe  vom  Ädreßcomtoir  er- 
halten, daß  er  nicht  schnell  genug  des  Musenalmanachs  halben  nach  Ham- 
burg zurückkommen  könne.  Er  ist  also  den  kürzesten  Weg  gangen.  So 
bald  der  erste  Schnee  den  abscheulichen  Steindamm  etwas  ebner  wird  ge- 
macht haben  wird  H  Voß  seine  Aufwartung  in  Lübeck  machen.  Die  Briefe 
an  ihn  bitte  ich  an  mich  p  posto  zurück  zu  schicken.  H  Voß  und  wir  alle 
emphelen  uns  Ihnen  und  der  Frau  Rittmeisterin  aufs  Beste. 

Claudius. 

31.3 

Wandsheck,  d  29  Nvhr.  1775. 
Wenn  Sie  diesen  Brief  erhalten  und  gelesen  haben  wird  es  nicht  lange 
dauern,  so  wird  ein  Mann  kommen  und  Ihnen  einen  Brief  und  ein  klein 
Päckel  bringen,  darin  ein  Glaß  Englischer  Mustard  ist.  ich  wollte  das 
Päckel  eben  auf  die  Post  tragen,  da  kam  der  Mann,  der  den  Englischen 
Mustard  macht  und  ein  Engländer  und  mein  guter  Freund  ist,  selbst  und 
will  mit  einer  quantität  Mustard  und  Schuschvvarz  auf  gut  Glück  nach 
Lübeck  reisen.  Für  sich  sollen  Sie  ihm  keinen  Mustard  abkaufen,  denn 
bey  mir  stehen  noch  3  Gläßer  die  ich  für  Sie  geckauft  habe  und  die  Eaton 
Ihnen  mitbringen  soll;  aber  wenn  Sie  Beckannte  und  Freunde  haben  die 
Mustard  mögen,  So  weisen  Sie  Master  Edward  an  sie.  Sein  Senf  ist  gut, 
und  er  ist  es  wehrt  daß  er  viel  absetze,  ich  kann  Ihnen  von  Master 
Edward  erzählen  wenn  ich  nach  Lübeck  oder  Sie  nach  Wandsheck  kommen. 
Gott  befohlen.     In  großer  Eile  wie  man  zu  sagen  pflegt.  —  Cl. 


1  H:  2  Seiten  8». 

"  Die  zweite  Tochter  Christiane,  gestorben  bereits  am  2.  Juli  1796.  Auf 
den  Tod  dieser  seiner  Lieblingstochter  dichtete  Claudius  das  zarte,  tief- 
empfundene Lied:  'Es  stand  ein  Sternlein  am  Himmel',  das  Achim  v.  Arnim 
und  Clemens  Brentano  in  'Des  Knaben  Wunderhorn'  aufnahmen. 

3  H:   1   Seit«  80. 


48  Claudius  und  Gerstenberg 

32.1 

Reinfeldt  d  9  Fehr.  76. 
Hochwohlgebohrner 

Gnädiger  Herr 
ich  habe  eine  Kutsche  geckauft  —  und  in   der   Kutsche  fahre  ich   itzo 
durchs  Land,  und  ich  bin  zur  Stunde  in  Reinfeldt,  Meister  Voss,  der  Bänkel- 
sänger, ist  auch  mit  in  der  Kutsche  geckommen. 

Es  könnte  seyn,  daß  wir  samt  u.  sonders  am  Montag  nach  Lübeck 
kämen,  blauen  Montag  zu  machen,  als  nämlich  ich,  mein  Bauermädchen,  der 
Bänkelsänger  und  unser  Kind. 

Sollten  Briefe  an  uns  bey  Ihnen  ankörnen  so  legen  Sie  wohl  das  Porto 
bis  weiter  aus.     Wünschen  guten   Empfang. 

Claudius. 
[Am  linken  Rande:]    Her  Pastor  Nodt^  grüßt,      er   kömmt  auch,   wenn 
Sies  nicht  allen  abschreiben. 

33.3 

[Wandsbek,  Anfang  1778.] 
Era  Erai  Ero  Eri  Etai  (ich  supponire  daß  Sie  schon  etwas  Otuhitisch 
verstehen,  und  also  nur  immerzu.)  Aiiu  Ateatea  Ainee  Enua-Taiti  Emoe, 
Etio  Eo  (ist  wahrhaftig  rein  otahitisch  vide  Historischer  Bericht  pp  von 
den  p  Reisen  um  die  Welt  4ter  Band.;  nur  in  Ansehung  des  letzten  Wort 
Eo  muß  ich  hinzufügen,  daß  es  hier  nicht  in  seiner  eigentlichen  Bedeutung: 
'schwitzen'  sondern  der  metaphorischen  *e  ß  e  n'  stehe,  weil  die  Leute 
in  Otahite  allezeit  beym  Eßen  schwitzen  sollen.  Eo  steht  hier  also  für 
gnaa.* 


1  H:   1   Seite  8». 

2  Pastor  in  Reinfeld. 

*  H:   1   Seite  8".     Auf  der  Rückseite  die  Adresse. 

*  Cook  und  Joliann  Reinhold  Forster  (dessen  Reisebericht  oben  gemeint 
ist)  hatten  von  der  erst  1606  entdeckten  interessanten  Insel  Otaheiti  (Ta- 
hiti) genauere  Kunde  heimgebracht,  und  man  war  allgemein  von  Begeiste- 
rung für  dieses  Paradies  erfüllt;  der  Traum,  in  den  Naturzustand  zurück- 
kehren zu  können,  schien  nun  erfüllt.  Besonders  in  dem  Freundeskreise 
um  Claudius  und  Gerstenberg  schien  man  lange  ernstlich  darauf  zu  denken, 
dorthin  auszuwandern  und  eine  Kolonie  zu  gründen,  'die  falsche  Europäische 
Welt  zu  verlassen  und  den  glücklichen  Gefilden  eines  zweyten  Paradieses 
entgegen  zu  eilen'.  So  schrieb  der  Lübecker  Liederdichter  Overbeck  am 
11.  November  1777  an  Sprickmann  in  Münster,  um  auch  ihn  für  die  Idee 
zu  werben.  Zu  Teilnehmern  an  der  phantastischen  Exkursion  waren 
ausersehen  Voß,  Claudius,  Hahn,  Miller,  Fritz  v.  Stolberg,  Schönborn, 
Gerstenberg,  Mumsen,  Esmarch,  Brückner,  Klopstock,  Sprickmann,  Krebs, 
Buchholtz,  Schücking  und  Groeninger  (die  letzten  fünf  in  Münster). 
Forster  sollte  bei  der  englischen  Regierung  vermitteln  und  als  Leiter 
der  Expedition  dienen.  In  einem  zweiten  Briefe  vom  30.  Januar  1778 
berichtete  Overbeck  weiter,  daß  Claudius  und  Voß  entschlossen  seien,  mit- 
zumachen; 'mit  ersteren  stehe  ich  sogar  in  einer  Art  von  Otahitischeni 
Briefwechsel  .  . .  Nächstens  erwarten  wir  Claudius,  da  soll  noch  mehr 
verhandelt  werden;  denn  er  kömmt  expreß  darum  her.'  (Nach  den  Ori- 
ginalen im  Besitz  von  Amtsgerichtsrat  B.  Sprinckmann-Kerkering  zu  Waren- 
dorf, für  deren  Mitteilung  ich  auch  hier  zu  danken  habe.)  Doch  scheint 
sich  das  Projekt,  wie  natürlich,  im  Sande  verlaufen  zu  haben,  denn  in  den 


Claudius  und  Gerstenberg  49 

ich  bin  schon  lange  willens  gewesen  eine  Fahrt  nach  Reinfeldt  und 
Lüheck  zu  machen;  der  zweite  Theil  des  Sethos^  hat  mich  aber  bisher 
zurückgehalten.  Der  wird  nun  aber  in  14  Tagen  fertig,  und  denn  bin  ich 
für  nichts  Bürge,  mein  Lieber. 

Unsern  Herzlichen  Gruß  an  die  Frau  Rittmeisterin,  und  der  liebe  Gott 
erhalte  Ihnen  Ihre  Kinder  alle  frisch  und  frölich.  M.  C. 

[Am  oberen  Rande:]   Sooree  Sao-lodo  Monecopai  Overieck.^ 
[Adresse:]  Herrn  v.  Gerstenherg  noch  in  Lübeck. 

34.3 

Wandsbeck  d  18  July  1778. 

Ihre  Noten,  mein  lieber  Herr  Resident,  sind  schon  lange  'parat  gewesen, 
es  hat  aber  an  einer  Gelegenheit  nach  Lübeck  gefehlt.  Heute  gehen  hier 
3  Schweizer  nach  Lübeck  durch,  und  die  Noten  kommen  mit  als  näml. 
6  Concerte  von  Schröter,  gestochen,  und  3  Sonaten  und  6  Sonatinen  von 
Eichner,  geschrieben.  Was  die  Concerte  kosten  steht  dünkt  mich  dar- 
auf geschrieben,  und  von  dem  andern  kostet  der  Bogen  4  ß.  ich  wünsche 
daß  Ihnen  alles  gefallen  möge. 

Frau  Rebecca  grüsst  Sie  und  Frau  Residentin  gar  freundlich  und  bedankt 
sich  noch  vielmahl  für  die  gute  Aufnahme  in  Lübeck. 

Wir  sind  gottlob  alle  gesund,  und  erwarten,  ob  und  wann  Sie  Ernst  zu 


folgenden  Briefen,  weder  Overbecks  noch  Claudius',  ist  mehr  davon  die 
Rede.  (Vgl.'  W.  Herbst,  'J.  H.  Voß'  1,  S.  199  ff.,  306  ff.)  Auch  sonst  nahmen 
deutsche  Schriftsteller  und  Dichter  lebhaften  Anteil  an  der  Insel.  Wieland 
schwärmte  dem  guten  Vater  Gleim  bereits  am  4.  Mai  1772  vor  von  'den 
guten  Einwohnern  der  Insel  Taiti,  von  denen  uns  der  Ritter  Bongainville 
ein  so  anziehendes  Gemälde  macht'  (Ausgewählte  Briefe  III,  S.  120),  und 
noch  1794,  als  er  mit  Matthisson  über  seine  Jugendliebschaften  sich  unter- 
hielt, i^annte  er  ein  Mädchen  'eine  Otaheitin,  in  Biberach'  (Stuttg.  lit.  Ver. 
261,  S.  329).  Zachariä  dichtete  eine  kleine  Erzählung  in  Jamben:  'Tayti 
oder  die  glückliche  Insel'  (Braunschweig  1777) ;  der  frechspottende  'Alma- 
nach  der  Bellettristen  und  Bellettristinnen  auf  das  Jahr  1782'  von  Schulz 
und  Erbstein  trug  'otaheitische'  Verleger-  und  Erscheinungsortsnamen; 
1782  erschien  eine  anonyme  Satire  '0-Wahaus  des  0-Tahiten  Reise  durch 
Athen.  Aus  dem  0-Tahitischen  übersetzt';  1792  begrüßte  Gleim  Ota- 
heiti  als  die  Heimat  der  Göttin  Freiheit;  in  der  Zeitschrift  'Irene'  1801, 
S.  433  steht  eine  'Otaheitische  Scene'  von  G.  A.  v.  Halem,  und  noch  am 
5.  April  1808  schrieb  der  nüchterne  Heinrich  Voß  aus  Heidelberg  an  Char- 
lotte V.  Schiller:  'Die  otaheitische  Unschuld,  die  in  den  Jahren  80  so  ge- 
priesen ward,  liebe  ich  so  wenig,  wie  die  in  den  Geßner'schen  Hirten- 
idyllen, denn  wer  möchte  die  Unschuld  durch  solche  Beschränktheit  er- 
kaufen.' (Urlichs,  Charlotte  von  Schiller  und  ihre  Freunde  III,  S.  240.) 
Über  die  Fortwirkung  dieser  Schwärmerei  bis  ins  19.  Jahrhundert  zu 
Alexander  v.  Humboldt,  Jean  Paul  ('Titan'),  Mörike  ('Land  Orplid'),  Tieck 
und  Gutzkow  ('Wally')  vgl.  die  Zusammenstellung  von  Harry  Maync  in  der 
Internationalen  Monatsschrift  1912,  Nr.  8,  Sp.  992/94.  Einen  Roman  'Tahiti' 
voll  sentimentaler  Schilderungen  verfaßte  1857  Gerstäcker,  und  noch  J.  V. 
Widmann  plante  eine  Idylle,  die  Georg  Forster  unter  den  Otaheiti -Mädchen 
in  glückseliger  Ruhe  darstellen  sollte  (J.  Fränkel:  Biogr.  Jahrb.  XVII,  S.  261). 

1  Der   zweite  Teil  der  'Geschichte  des   ägyptischen  Königs   Sethos'    (aus 
dem  Französischen  des  Abb6  Terrasson  übersetzt)    erschien:    Breslau   1778. 

2  Zusatz  von  Overbeck.       s  H :  2  Seiten  8  •>. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.     Sonderheft.  4 


50  Claudius  und  Gerstenberg 

Ihror  Reise  nach  Hamburg  thun  werden.    Klopstock  ist  itzo  nach.  Kiel,  Eck- 
hoff, Leutmarcln    und  komt  in  etwa  3  Wochen  wieder.    Denn  kommt  doch, 
ich  grüße  H  Overbeck  und  Ihre   [Ihren?]   andern  FioZwspieler. 

Matthias  Claudius. 

85.2 

Wandsbeck  d  19  Octbr.  1778. 

Großen  Dank  noch  für   Ihre  gute  Manier  Gäste  bey  sich  zu  handhaben. 

Zu  Wessenherg  sind  Sie  bekanntlich  nicht  gewesen,  wir  auch  nicht,  aber 
n  ur  weil  wir  hörten  daß  Sie  nicht  geckommen  wären. 

Die  verabredete  Untersuchung  ist  mit  allem  Fleiß  vorgenommen  worden 
und  es  hat  sich  daraus  ergeben,  daß  der  Thurm  quaestionis  auf  der  Kirche 
von  Sansnehen  stehe,  welches  ich  gehorsahmst  einzuberichten  nicht  ermangle, 
und  zu  verfechten  auf  mich  nehme. 

Vorigen  Sontag  habe  ich  das  Heilig  pp  von  Bach  in  der  St.  Cathrinen 
Kirche  gehört.  Es  ist  ganz  vortreflich.  Künftigen  Sonntag  wird  es 
in  der  St.  Michaelis  Kirche  aufgeführt  und  die  Chöre  der  Engel  und  der 
Völker  werden  an  verschiedene  Oerter  placirt  werden,  ich  schreibe  Ihnen 
dieses,  wenn  Sie  etwa  herkommen  wollten,     gereuen  wird  es  Sie  nicht. 

ich  und  Frau  Rebecca  grüßen  Sie  und  die  Frau  Residentin,  und  die 
Kinder  samt  und  sonders.     Wir  sind  gottlob  gesund. 

Matthias  Claudius. 

36.3 

Wandsbeck  d  9t  Novbr  1780. 

Hier  die  recepten  wieder  zurück;  das  Pulver  hohl  der  Henker,  es  hat 
uns  Brechen  gemacht,  daß  uns  Hören  und  Sehn  vergangen  ist,  aber  darum 
nicht  weniger  Dank  für  gehabte  Mühe  und  den  guten  Willen. 

Der  Älmanach  ist  nicht  mehr  bey  Vircheaux*  zu  haben;  er  kann  aber  ver- 
schrieben werden  wenn  Sias  verlangen,  auch  über  die  Sept  Epoches  de  la 
nature  bittet  er  um  Erläuterung  w  o  Sie  es  angezeigt  gefunden  haben.  Er 
kennt  bloß  ein  Supplement  zu  der  allgemeinen  Naturgeschichte,  Sur  les 
Epoches  de  la  Naturen,  das  aber  vermuhtlich  nicht  das  ist,  was  Sie  meinen. 

Heute  geht  die  Partitur  des  Alexander  festes  an  Sie  ab.  ich  konnte  sie 
nirgend  auftreiben  als  bey  H  M^estphal,  der  sie  Ihnen  zur  Durchsicht  nebst 
noch  einigen  andern  Musicalien  für  H  Doctor  Buchholz  überschickt  auf  die  Be- 
dingung, daß  Sie,  wenn  sie  gefodert  werden  sollte,  sie  flugs  wieder  anhero 
übermachen,  weil  er  nur  die  Eine  Copie  vom  Alexanderfest  näml.  hat.  Frau 
Rebecca  grüsst  freundlich,  so  freundlich  sie  mit  der  geschwollenen  Backe 
kann,  sie  hat  diese  Tage  wieder  im  Zahn,  Kinbacken  und  Ohr  viel  viel 
ausgehalten. 

Die  vorgeschlagene  Reise  nach  Lübeck  oehagt  uns  nicht  übel,  und  wir 
sinnen  darauf,  wie  die  Sache  vor  sich  gehen  soll. 

Nun  viel  Grüße  und  leben  Sie  wohl.  M.  C. 


1  Eckhof,  Gut  des  Grafen  Holck,  und  Loitmark,  Gut  der  Familie  Stol- 
berg; vgl.  über  einen  Besuch  Klopstocks  dort  im  Jahre  1777  Muncker, 
'F.  G.  Klopstock'  S.  475. 

2  H:   2  Seiten  8«.        3  H:  2  Seiten  8".      *  Buchhändler  in  Hamburg. 

ß  Von  dem  französischen  Naturforscher  Buffon,  von  Goethe  geschätzt 
('Goethe- Jahrbuch'  VI,  S.  30  f.). 


Claudius  und  Gerstenberg  51 

was  sagen  Sie  zu  den  neuen  Häslerschen  Sonatent     ich  finde  sie  treflich. 
Voß  ist  zum  Rector  in  Hannover  erwählt,  und  ist  hingegangen  die  Um- 
stände zu  beäugen. 1 

37.« 

Wandsleck  d  21sten  Xhr.  1780. 

Vielen  Dank  für  die  gute  Bewirthung.  Wenn  wir  Sie  in  Verlegenheit 
gesetzt  haben;  so  sind  wir  unschuldig,  denn  Sie  hatten  uns  selbst  vor  mehr 
als  4  Wochen  nachdrücklich  eingeladen,  und  Sie  sind  allein  schuldig,  denn 
Sie  hätten  uns  entweder  in  Wirthshauß  gehen  heißen,  oder  in  der  ersten 
besten  Stube  auf  die  Erde  betten  und  dabey  überzeugt  seyn  sollen  daß  es 
uns  dabey  recht  gemühtlich  seyn  würde.  Dies  nicht  so  wohl  fürs  ver- 
gangene als  fürs  Zukünftige. 

Was  das  Geld  anlangt,  so  können  Sie  glauben,  daß  ich  nicht  ohne  Ur- 
sache Ihnen  davon  gesprochen  habe.  Wenn  Sie  es  anderswo  indeß  kriegen 
können  so  nehmen  Sie's,  weil  ich  lieber  auf  alles  in  der  Welt  zu  wenig  als 
zu  viel  rechne,  übrigens  kann  ich  Ihnen  sagen,  daß  ich,  viel  wahr- 
scheinlich, in  3 — 6  Wochen  die  300  rth.  schicken  werde,  und  damit 
leben  Sie  wohl.     Frau  Rebecca  grüsst  herzlich. 

Matthias  Claudius. 

38.3 

Wandsleck  d  16  Jan.  1781. 

Hierbey  die  300  rth.  Weil  ich  noch  nicht  genau  weiß  wie  die  Olligation 
lauten  soll;  so  geben  Sie  ad  interim  nur  einen  Schein,  daß  Sie  vom  H  Baron 
n.  E.  V.  Kottwitz  300  rth.  zu  4  pO.  von  Ostern  an  zu  rechnen  erhalten 
hätten,* 

Dieser  Brief  ist  zwar  den  16  vt  supra  angefangen  aber  den  allererst 
vollendet  worden. 

Schreiben  Sie  doch,  wen  Sie  den  Empfang  melden,  was  an  einer  Sage 
wahr  ist,  die  man  in  Eamlurg  hat,  daß  näml.  in  Travermünde  ein 
Schif   angeckomen    sey   das    die   Pest   an    Bord   habe. 

Noch  bitte  ich,  daß  Sie  mir,  so  bald  es  seyn  kann  mit  der  däni- 
schen Post  6  Bouteillen  von  den  besten  Sorten  Rheinwein  vom  Lübecki- 
schen Keller»)  schicken,  und  dabey  den  Wein  benahmsen  und  den 
Preiß  schreiben,  ich  pflegte  sonst  dergleichen  Geschäfte  durch  den 
sei.  Strack^  betreiben  zu  laßen,  und  würde  Sie,  am  wenigsten  bey  dieser 
Gelegenheit,  damit  beladen,  wenn  ich  nicht  glaubte,  ich  kriegte  durch  Sie 
aufrichtigen  Wein,  und  wenn  mir  nicht  daran  gelegen  wäre  aufrichtigen 
zu  haben.  Es  soll  eine  Sechswöchnerin  davon  trinken  die  ich  herzlich 
lieb  habe  6,  und  andere  gute  Leute. 

*)   unter  andern  2  Bouteillen  Steinwein. 


1  Er  nahm  die  Stelle  nicht  an;  vgl.  jetzt  den  aufschlußreichen  Aufsatz 
von  Franz  Bertram,  'Karl  Philipp  Moritz'  und  Johann  Heinrich  Voß'  Be- 
werbung um  das  Rektorat  der  Stadtschule  zu  Hannover  (1780)':  'Han- 
noversche Geschichtsblätter'  (1913)  S.  177—192. 

2  H:   2  Seiten  8».       3  H:   2  Seiten  8». 

<  Vgl.  zu  der  Geldangelegenlieit  unten  Brief  50.       »  Strock?   Struck? 
6  Seine  Schwägerin,  von  der  er  am  8.  Dezember  1780  an  Gleim  berichtete. 
(Vgl.  W.Stammler:   'Zeitschrift  des  Harzvereins  für  Geschichte'  47,  S.  123.) 


52  Claudius  und  Gerstenberg 

Unsern  Gruß  an  die  Fr.  Residentin  und  lieben  Kinderlein.  Leben  Sie 
wohl  Matthias  Claudius 

H  Jacobi  hab  ich  geschrieben,  daß  Sie  ihm  über  seine  Lieblingssonaten, 
die  ich  Ihnen  letzthin  mitgebracht  habe,  selbst  schreiben  würden.  Machen 
Sie  mich  also  nicht  zum  Lügner,  und  schreiben  Sie  bald  an  ihn.  Frau 
Rebecca  meint,  Sie  sollten  hübsch  gleich  schreiben,  wenn  Ihre  Frau  ent- 
bunden seyn  wird,  nach  Wandsieck  näml.  und  würde  das  also  ein  anderer 
Brief  seyn  als  den  Sie  nach  Düsseldorff  schreiben  sollen. 

NB.  Die  holländischen  ducaten  sollen  zwar  itzo  7  ^  8  ß  thun.  Sie 
können  indeß,  wenn  Sie  das  lieber  wollen,  den  Schein  auf  120  holländische 
ducaten  stellen. 


Wandsbeck  d  19  Fehr.  1781. 

Viel  Glück  zum  blauäugigen  Sohn^,  wir  haben  es  uns  recht  lieb  seyn 
laßen.  Gott  sey  Lob  und  Dank,  daß  es  so  kurz  und  gut  gangen  ist;  er 
laße  es  auch  hier  bey  uns  zu  seiner  Zeit  kurz  und  gut  gehen  !^  Sagen  Sie 
der  Frau  Wöchnerin  von  uns  viel  freundliches,  und  pflegen  sie  bald  wieder 
aus  dem  Bette. 

ich  bin  sehr  neugierig  über  den  Salto  mortale  des  gutmühtigen  Traiite.'^ 

Ihre  3  Bücher  soll  Overieck  Ihnen  wieder  mitbringen,  ich  habe  sie 
alle  3  gerne  gelesen. 

Wenn  Büffons  roman^  in  Lübeck  zu  haben  ist,  und  nicht  über  2 — 4  ß 
kostet;  so  seyn  Sie  so  gut,  ihn  für  mich  zu  kaufen,  nur  die  Karte  muß 
dabey  seyn,  als  daran  mir  gar  viel  gelegen  ist.  ich  nenns  roman,  weil 
neben  viel  Wahrheit  so  gar  lieblich  geträumt  ist. 

Noch  habe  ich  2  Bitten, 

Eine,  daß  Sie  doch  bald  an  Jacobi  schreiben  wenns  noch  nicht  ge- 
schehen ist. 

die  zweite,  daß  Sie  mir  2 — 3  Bund  i  e^  20 — 30  Stück  W^aische  Bütte 
gütigst  ankaufen  und  überschicken  laßen. 

Frau  Rebecca  grüsst  herzlich,  und  ich  desgleichen,  und  habe  die  Ehre  pp 

M.  C.  — 

40.7 
[Wandsbek,  Februar  — März  1781.] 

Hier  der  Kasten,  lieber  Gerstenherg,  danke  für  den  guten  Willen,  und 
bitte  nicht  damit  zu  säumen.  Wen  ich  an  den  Brief  der  Sie  gefreut  hat 
einigen  Antheil  hätte,  so  war  es  gern  geschehen,  wir  erwarten  das  weitere 
mit  Ungedult. 

ich  habe  allen  Respect  für  Ihren  Büffon;  auf  seinem  Wege  hat  vieleicht 


1  H:  2  Seiten  S«. 

2  Gerstenbergs   siebentes  Kind,  Ende  Januar  geboren. 

3  Am    16.   Mai   1781    erblickte    Claudius'    fünfte    Tochter    Trinette    das 
Licht  der  Welt. 

*  Karl   Friedrich  Tränt,  Verwaltungsbeamter   in   Kopenhagen,  Gersten- 
bergs Freund. 

^  Die  'Epoches  de  la  nature".     ^  i  e  =z  id  est,  das  ist. 
7  H:   l  Seite  8». 


Claudius  und  Gerstenberg  53 

Niemand  sein  Werk  gethan.     Wen  ich  einmahl  nach  Lübeck  kome  wollen 
wir  des  alten  Dichters  Gesundheit  trinken.     Viel  Gruß,     ich  habe  Eile. 

Ihr  M.  C. 

41.1 

Wandsleck  d  9  Aprill  1781. 

Hiebey  Ihre  Bücher  wieder  zurück,  die  Epochcs  von  Büffon  habe  ich  an 
Cramern  nach  Kiel  geschickt.  Hiebey  mit  der  verlangte  Calendritr  de  Poche. 
er  kostet  28  ß  und  dafür  laßen  Sie  mich  W^raische  trockne  Bütte  haben, 
wenn  deren  ankommen. 

Wegen  Segeberg  wars  Schade,  wünsche  bald  anderweitige  gute  Nach- 
richten zu  hören.     Mit  der   Oiligation  bleibts  bis  weiter  wie  es   ist. 

Frau  Rebecca  befindet  sich  Gottlob  wohl,  und  medio  May  dürfte  sich 
ein  Knäblein  sehen  laßen2.     Gott  helfe! 

ich  hoffe,  daß  Sie  an  Jacobi  geschrieben  haben.  Beyfolgendes  Lied  vom 
Gr.  Nesselrodts  hat  er  mir  für  Sie  geschickt,  es  sind  ein  Paar  Schreibe- 
fehler  darin,  übrigens  ist  es  sehr  artig,  wie  Sie  mit  mehren  finden  werden. 

H  Kunze  hat  ja  nicht  Wort  gehalten.     Ist  er  hin  nach  Kielt 

vieleicht  gehe  ich  mit  Kottiüitz  nach  Aschberg  und  in  dem  Fall  könnten 
wir  vieleicht  über  Lübeck  zurückgehen  und  Sie  begrüßen. 

Wir  grüßen  herzlich  an  Sie  und  Frau  Sophie  und  sämtliche  Kinder,  und 
ich  hoffe,  daß  Darby  die  Mehlspeisen  schon  nach  Gibraltar  eingebracht  hat.* 

Ihr  M.  C. 

42.5 

Wandsbeck  d  4  May  1781. 

ich  hofte  auf  gute  Gelegenheit,  aber  es  will  keine  kommen;  also  hier  die 
Bücher,  als  Zimmermann^  und  der  Kalender,  die  ich  Ihnen  noch  restire. 

Unsre  Kinder  haben  alle  das  Fieber  gehabt  oder  noch.  Frau  Rebecca 
wird  sehr  kümmerlich.     Gott  helfe  uns  bald. 

Kotttüitz  ist  vor  14  Tagen  nach  Berlin  pp  abgegangen,  und  aus  unsrer 
Reise  nach  Aschberg  ist  nichts  geworden. 

Die  Mad.  Voss  hat  wieder  einen  Sohn.  Leben  Sie  wohl  und  grüßen 
Frau  und  Kinder  vielmahls.  M.  C. 

43.7 

Watidsbeck  d  12  Jul  1781. 
Guten  Tag.  8i  vales  bene  est  ego  valeo,  und  ersuche  Sie  morgen  mit 
der  dänischen  Post  mir  wohlgepackt  2  Boteillen  von  dem  alten  berühmten 
Lübecker  Steinwein  schreibe  Stein  wein  zu  überschicken.  Hiebey  2  rth. 
zu  dem  Behuf,  ich  ersuche  ferner  nicht  ungedultig  zu  werden,  daß  ich  so 
oft  incommodire,  will  mich  auch  gerne  wieder  incommodiren  laßen. 


1  H:  2  Seiten  8".        2  Vgl.  Anmerkung  3  zu  Brief  39. 

3  Ist  damit  der  bayrische  Dramatiker  Freiherr  von  Nesselrode  gemeint? 
<  Die  Bedeutung  dieses  Satzes  ist  mir  unklar.     Handelt  es  sich  etwa  um 

eine  Sendung  für  Freund  Schönborn  in  Algier? 

4  H:   1  Seite  8  <>. 

6  Irgendeine    Schrift   des    Hannoverschen    Leibarztes    und   Popularphilo- 
sophen  Johann  Georg  Zimmermann. 

7  H:  2  Seiten  8«». 


54  Claudius  und  Gerstenberg 

Das  Fieber  ist  endlich  aus  unserm  Hause  abgegangen,  und  wir  hoffen 
daß  es  Gesundheit  werde  nachgelaßen  haben,  die  gebe  Ihnen  und  uns  der 
liebe  Gott. 

übrigens  wüsste  ich  für  diesmahl  nichts  zu  berichten  als  einen  freund- 
lichen Gruß  von  Frau  Kebecca  und  den  Kinderlein  an  Sie,  Frau  Kesidentin 
und  die  Kinderlein. 

Wir  haben  ein  Familienstück  von  Herder,  nur  Silhouetten,  aber  gar 
treflich  gemacht i.  Ihr 

Matthias  Claudius. 
44.2 

Wandsbeck  d  19  Xhr  81. 

Ich  ziehe  freilich  Lübeck  vor;  außer  den  in  Ihren  Briefe  gedachten  Vor- 
theilen,  ist  der  Knabe  doch  näher  zur  Hand  wen  ihm  Krankheit  oder  sonst 
Trübsal  zustößt,  und  denn  ist  das  Reisegeld  auch  doch  höher  nach  Bordeaux 
als  nach  Lübeck.  Also  bitte  ich  in  Ihren  Bemühungen  bestens  fortzufahren. 
Es  soll  bald  der  Vetter  sich  in  Lübeck  'presentiren,  oder  gar  alle  Beide, 
damit  Herr  Koch^  die  Wahl  habe. 

Ich  hätte  Ihnen  die  Ostseeacfien  lieber  gegönnt  als  Muntern,  indeß 
dahit  Deus  his  quoque  finem. 

Wir  sind  gesund,  und  wollen  morgen  nach  Hamburg,  die  Weynacht- 
geschenke  zu  hohlen.  Viel  Glück  und  Gutes  zu  Weynachten  und  Neujahr, 
und  viele  Grüße  von  Frau  Rebecca.  Die  Sonaten  von  Eaidn  sind  sehr  schön, 
auch  einige  von  Reichardt,  sonderl.  die  erste,     addies. 

Ihr  M.  C. 

45.4 

Wandsbeck  d  26  Xbr.  81. 

ich  schrieb  Ihnen  neulich,  daß  die  jungen  Müllers  den  ersten  Tag  über 
kommen  sollten,  sich  dem  Herrn  Koch  zu  presentiren.  ich  dachte  damahls 
nicht  daran,  daß  die  beiden  Knaben  Ausgang  Januars  zu  Hause  reisen. 
Wenn  es  also  d  H  Koch  einerley  wäre,  so  könnten  sie  itzo  die  Reise  spahren. 
Sollte  es  aber  vor  H  Koch  die  Mine  von  Quackckeley  im  geringsten  nur 
haben  können,  so  ist  nicht  die  Rede  weiter  davon,  und  die  Knaben  korben 
den  ersten  Tag,  damit  er  sehe  ob  einer  von  ihnen  ihm  gefalle. 

Viel  Glück  und  Gutes  zum  Neuen  Jahre. 

Kempenfeldt  hat  eine  Schlacht  gehalten,  wenn  Guichen  ihm  nicht  zu 
sehr  an  Schiffen  ist  überlegen  gewesen,  so  hat  er  gewiß  gewonnen,  das 
ergibt  sich  aus  dem  Nahmen.  5  Viel  Grüße  von  Frau  Rebecca  an  Sie  und 
die  Frau  Residentin   und  lieben   Kinderlein. 

Ihr  M.  C. 


1  Vgl.  die  Silhouette  bei  Kühn,  'Die  Frauen  um  Goethe'  I,  S.  144. 

2  H :  1  Seite  8  ". 

3  Koch  verbessert  aus:  Schmidt.  —  Es  handelt  sich  um  eine  Hauslehrer- 
stelle, die  einer  von  Claudius'  Neffen  Müller  (siehe  oben  Anmerkung  2  zu 
Brief  7)  in  Lübeck  einnehmen  sollte.  ' 

*  H:   1  Seite  8». 

5  Richard  Kempenfeit  (1718 — 1782),  engl.  Admiral,  nahm  im  Amerika- 
nischen Freiheitskriege  am  12.  Dezember  1781  einen  Schiffstransport,  den 
der  französische  Admiral  de  Guichen  mit  seiner  Flotte  schützen  sollte,  in- 
folge kühnen  AngrifFe«  weg. 


Claudius  und  Gerstenberg  55 

46.1 

Wandsheck  d  6  Märtz  82. 

Viel  freundlichen  Gruß  zuvor.  8i  vales  bene  est  ego  valeo  und  bitte  Sie 
für  einliegenden  Ducaten  2  Boteillen  Stein  wein,  die  Boteille  zum  rth., 
mit  der  nächsten  dänischen  Post,  die  am  Freytag  von  Lübeck  geht, 
gütigst  zu  übermachen  und  für  das  Geld  was  nach  emhallage  pp  noch  an 
dem  Ducaten  überschießt  ein  Gericht  Dorsch  beypacken  zu   laßen. 

Unser  Schiffer  Daniel  Berg  ist  mein  Mann  nicht,  nachdem  er  Ihnen 
solche  große  Eile  vorgemacht  hat  die  Canaille  noch  über  3  Wochen  in 
Lübeck  gelegen,  und  der  Kasten  ist  erst  im  Februar  nach  Königsberg 
geckommen.     Wollen  den  Namen  doch  merken:   Daniel  Bergl 

sonst  habe  noch  zu  vermelden,  daß  ich  vor  einigen  Monahten,  da  unser 
bisheriges  Hauß  zusammenfallen  wollte,  uns  einen  eignen  Heerd  gekauft 
habe,  den  wir  auch  seit  14  Tagen  schon  würklich  cultiviren  und  sehr  probat 
finden.  Gott  erhalte  uns  gesund  darin  und  gebe,  daß  wir  darin  bleiben 
können  und  nicht  durch  eine  etwannige  cessione  bonorum  oder  dergleichen 
uns  von  ihm  trennen  müßen,  denn  wir  können  itzo  eine  Kuh  halten,  das 
uns  eine  trefl.  Hülfe  ist. 

ich  habe  einen  großen  Platz  hinter  dem  Hause,  darauf  ich  mir  von 
allen  meinen  Freunden  Einen  Baum  schenken  laße;  wenn  Sie  darauf 
cntriren  wollen  steht  er  Ihnen  auch  offen.  Uebrigens  sind  wir  gesund  und 
haben  neulich  unser  jüngstens  [!]  Mädchen  entwöhnt  oder  vielmehr  sind 
noch  daran.  Wir  grüßen  herzlich  an  Sie  die  Frau  Residentin  und  lieben 
Kinderlein,  und  erwarten  gute  Nachrichten  von  Tränte  pp 

Matthias  Claudius. 

47.* 

Wandsbeck  d  9  Sept.  82. 

Die  assignation  ist  richtig  angeckomen,  und  ich  danke  dafür.  Freilich 
hätte  ich  sie  gerne  zu  Johannis  gehabt,  indeß  komt  sie  itzo  auch  nicht 
ungelegen. 

Es  thut  uns  leid,  daß  Ihre  Frau  so  kränklich  ist;  aber  sollte  grade  dafür 
nicht  eine  Reise  nach  Hamburg  nützlich  seyn?  Auf  allen  Fall  wünschen 
wir  gute  Beßerung  und,  wen  Gott  will,  einen  kleinen  Jungen  stat  des  ver- 
lohrnen. 

Wir  sind  bis  auf  die  kleinste  Trinette,  die  sehr  schwer  Zähne  macht, 
samt  und  sonders  wohl  auf,  und  danken  Gotte  dafür.  Ueberbringer  dieses 
wird  Ihnen  das  übrige  mündlich  sagen,  was  ich  etwa  noch  schreiben 
könnte. 

Leben  Sie  wohl,  wir  grüßen  Sie  und  Ihre  Frau  vielmahl.  Gott  sey  mit 
Ihnen  Matthias  Claudius. 

Machen  Sie  doch  daß  der  Freund  quaestionis  nach  Hamburg  kommt. 

48.' 

W.  d  25  Nov.  82. 

Beyfolgendes  Buch  soll  ich  Ihnen  von  wegen  des  O  R.  Jacobi  übermachen*. 


1  H:   3  Seiten  8«.       2  H:   2  Seiten  8".         3  H:   3   Seiten  8". 
*  Der  erste  Band  der  'Vermischten  Schriften'   (Breslau  1781)   von  F.  H. 
Jacobi,  dessen  Druck  Claudius  in  Hamburg  überwacht  hatte. 


56  Claudius  und  Gerstenberg 

Bey  der  Gelegenheit  fragen  wir  nun  nachbarlich  an,  was  Sie  und  die 
Ihrigen  machen?   und  hoffen   daß  wir  gute  Antwort  erhalten  werden. 

Wir  unsers  Orts  sind,  die  kleinste  Zahnpatientin  ausgenomen,  Gottlob 
eine  Zeitlang  her  ziemlich  wohl  auf  gewesen.  Seit  einigen  Tagen  kränkelt 
Frau  Rebecca,  die-wieder  schwanger  ist;  ich  hoffe  indeß,  daß  es  nicht  Noht 
haben  soll,  und  wünsche  es  von  Herzen. 

daß  Voß  seinen  ältesten  Sohn  verlohren  hat,  wißen  Sie  vermuthlich 
schon;  so  wißen  Sie  denn  auch  dazu,  daß  einige  Leute  daran  arbeiten  ihn 
an  des  verstorbenen  C.  R.  Struensees,  Directors  der  Domschule,  [Stelle] 
nach   Halberstadt  zu  bringen. 

Neues  wüste  ich  sonst  nichts  zu  melden;  ich  habe  wieder  angekündigt, 
und  lege  auf  allen  Fall  2  Anzeigen  bey,  wenn  Ihnen  etwa  jemand  aufstieße, 
der  gern  damit  bestellt  seyn  wollte. 

Wir  grüßen  Sie  und  die  Frau  Residentin  vielmahls. 

Leben  Sie  wohl 

M.  Claudius. 

Haben  Sie  Schulzens  Volkslieder  ?  ^^    Das  heiß  ich  noch  Lieder. 

Ein  Gruß  an  Wiclcedes  u.  Henriette  pp 

49.2 

W.  d  28  Febr.  1783. 

ich  höre  von  Overbeck,  daß  Sie  diese  Tage  nach  Gopenhagen  gehen.  Glück 
zu  und  komen  Sie  wieder  mit  allem  was  Sie  sich  wünschen  und  Ihnen  gut  ist. 

ich  habe  imer  gehoft  diese  Zeit  nach  Lübeck  zu  komen,  aber  es  hat  sich 
auch  immer  Hinderniß  gefunden.  / 

Hier  schickt  Jacobi  Ihnen  ein  Paar  Blätter,  die  Sie  auch  im  Febr.  des 
Museums  finden  werden'. 

Wir  sind  gottlob  gesund  und  grüßen  Sie  und  Fr.  Residentin  und  Kinder. 

Voss  wohnt  itzo  auf  dem  Rahthause  in  Eutin  und  ist  überhaupt  zu- 
frieden*. 

Wen  Sie  Overbeck  sehen,  so  sagen  Sie  ihm  doch,  daß  ich  ihm  antworten 
und  ihn  besuchen  würde  gelegentlich. 

Gott  befohlen,  und  noch  einmal  glückliche  Reise. 

Ihr    M  C. 

ich  habe  gehört,  daß  H  Esmarch  bey  Stemann  sich  der  Collecte  für  den 
Asmus  in  Copenhagen  angenomen  hat*.  Wen  Sie  ihn  sehen  sollten,  so 
sagen  Sie  ihm  doch,  daß  er  bis  Ostern  Zeit  hat  mit  der  Einsendung, 
Chodowiecki  kann  mir  die  Kupfer  nicht  eher  liefern.  — 

Man  soll  in  Copenhagen  nicht  ungeneigt  seyn,  Herdern  an  Struensees 
Stelle  edentualiter  zum  generalsuperintendenten  zu  machen.  Stören  Sie 
das  nicht,    und  grüßen  Sie  Preislers. 


1  Der  Komponist  Abraham  Schulz.  Seine  erste  Sammlung  'Lieder  im 
Volkston'  erschien:   Berlin  1782. 

2  H:   3  Seiten  8". 

2  'Erinnerungen  gegen  die  in  den  Januar  des  Museums  eingerückten 
Gedanken  [des  Freiherrn  von  Fürstenberg]  über  eine  merkwürdige  Schrift': 
'Deutsches  Museum'  (1783)  Bd.  I,  St.  2,  S.  97—105. 

*  Er  war  dorthin  als  Rektor  des  Gymnasiums  berufen  worden. 

s  Es  handelt  sich  um  Subskribenten  für  den  4.  Teil  seines  'Asmus'  (er- 
schienen 1783). 


Claudius  und  Gerstenljerg  57 


[Wandsbek,  Herbst  1783.] 

Glück  zu  denn!  Das  heiß  ich  eine  Negociation  die  sich  gewaschen  hat. 
ihr  Ausgang  ist  mir  noch  imer  unbegreiflich,  und  ich  hätte  meinen  Hals 
dabey  zusetzen  können.* 

Daß  aber  Ihre  Frau  alles  dies  im  Bette  und  in  Krankheit  erleben  muß, 
thut  uns  sehr  leid.  Nun  Sie  von  der  einen  Seite  so  ganz  heraus  sind,  helfe 
Ihnen  der  liebe  Gott  auch  bald  von  dieser  andern  heraus.  Indeß  stehen  hier 
die  Sachen  mit  uns  so,  und  Sie  Werdens  auch  gefunden  haben  und  weiter 
finden,  daß  man,  wenn  noch  so  viele  Seiten  glücklich  heraus  komen,  doch 
immer  mit  einer  darin  bleibt.  Wie  gesagt,  Gott  gebe  der  Frau  Rittmeisterin 
bald  ihre  Gesundheit  wieder,  das  wünschen  ich  und  Frau  Rebecca  von 
Herzen. 

Ueber  das  Gedeyen  Ihrer  weitern  Projecte  bin  ich  nun  ganz  ruhig,  und 
ich  verzweifle  nach  dieser  ersten  Probe  gar  nicht  daran,  daß  Sie  Vice 
König  von  Norrwegen  werden  können;  ich  gönnte  Ihnen  aber  lieber  die 
Amtsmanns-Stelle  in  Ploen  pp. 

Das  Geld  von  Kottwitz  schicken  Sie  nur  an  mich  hieher  nach  Wand^- 
leck  mit  der  Dänischen  Post,  in  holländischen  ducaten,  wie  Sies  erhalten 
haben.  Zinsen,  glaub  ich,  wird  Kottvntz  nicht  nehmen,  und  sollte  ers 
wollen,  so  hat  es  damit  imer  noch  gute  Wege.  Er  wird  mir  Ihre  Ver- 
schreibung  nächstens  schicken,  und  ich  schicke  sie  denn  alsobald  an  Sie', 
und  bitte  mir  für  meine  Curtage'^  ein  Gericht  Dorsch  aus,  auch  nur  auf  die 
Dänische  Post  zu  geben. 

Unser  Erbprinz*  ist  entwöhnt,  weil  Frau  Rebecca  anfing  mager  zu 
werden  und  zu  husten.     Itzo  befinden  beide  sich  gottlob  wieder  wohl. 

addies  lieber  Gerstenierg,  wir  grüßen  Sie  alle  groß  und  klein,  bald 
Beßerung  mit  der   Kranken,  und  noch   einmahl  Glück  zu. 

Ihr     M  C. 


Wandsheck  d  24  Junitls.  85. 

Wir  haben  von  H  Mattheson  ^  erfahren  daß  Ihre  Frau  todt  ist.  obs  uns 
nun  gleich  nicht  unvermuhtet  noch  unerwartet  kommt;  so  hats  uns  doch 
erschreckt,  und  wir  bezeugen  unser  Beyleid  und  beklagen  Sie  in  mehr  als 
einer  Hinsicht. 

Es  ist  keine  Paßions-   sondern   eine  Weynachts   Cantlene    [!]    was    ich 


1  H:  3  Seiten  8». 

2  Gerstenberg  hatte  seine  Residentenstelle  in  Lübeck  für  20  000  Taler 
verkauft  und  ließ  sich  dann  für  vier  Jahre  als  Privatmann  in  Eutin  nieder, 
um  allerdings  nach  zwei  Jahren  wieder  in  den  Staatsdienst  zu  treten. 

3  Zu  diesen  Geldangelegenheiten  vgl.  oben  Brief  38. 

*  Courtage  z=  Maklergebühr. 

*  Der  heißersehnte  Sohn  war  am  8.  Mai  1783  geboren  worden. 

6  H:   2  Seiten  8". 

7  Der  Dichter  Friedrich  von  Matthisson,  damals  Erzieher  im  gräflich 
Sieversschen  Hause  zu  Altona,  hatte  im  Frühjahr  1785  mit  seinen  Zöglingen 
eine  'literarische  Pilgerfahrt'  durch  Schleswig-Holstein  unternommen,  auf 
der  er  in  Eutin  Voß  und  Gerstenberg  kennengelernt  hatte.  Mit  Claudius 
verband  ihn  eine  innige  Sympathie;  vgl.  seine  Schriften  VI,  S.  319. 


58  Claudiua  und  Gerstenberg 

gemacht'  und  was  Reichard  componirt  hat.  Wen  der  Ciavier  Auszug  heraus 
ist,  will  ich  ein  Exemplar  nach  Eutin  für  Sie  und  Voss  spediren. 

Wir  sind  Gottlob  gesund,  und  haben  vor  einigen  Wochen  unsre  4  jüng- 
sten Kinder  inoculiren  laßen. 

Vieleicht  habe  ich  den  Somer  noch  Gelegenheit  Eutin  zu  sehen,  und  wenns 
glücken  soll  in  Gesellschaft  von  Jacobi  und  Hamann. 

Leben  Sie  wohl  mit  ihren  Kindern,  meine  Frau  und  ich  grüßen  Sie  viel- 
mahl. Matthias  Claudius 

Hannover.  Wolfgang  Stammler. 


1  'Weynacht-Cantilene  von  Matthias  Claudius.  In  Musik  gesetzt  von  J.  Fr. 
Reichardt  1784.  Copenhagen  gedruckt  bei  Joh.  Hud.  Thiele.'  8  S.  Gr.-S". 
Dann  aufgenommen  in  'Asmus'  V,  S.  210 — 218. 


Diderot  und  Herder. 

Man  hat  Diderot  den  Vertreter  des  deutschen  Geistes  in  Frank- 
reich genannt;  vielmehr  war  er  aber  ein  Vertreter  des  fran- 
zösischen Bürgerstandes  und  ein  Jünger  der  englischen  Philosophen 
des  18.  Jahrhunderts  und  vor  allem  er  selbst,  'Diderot,  ein  einzig 
Individuum',  zusammengesetzt  aus  Originalität  und  aus  Vielseitig- 
keit, welche  Eigenschaften  ihm  eine  wahrhaftige  Zauberkraft  ver- 
heben und  die  geeignet  sind,  den  allgemeinen  Einfluß  zu  erklären, 
den  er  auf  die  Klassiker  des  deutschen  18.  Jahrhunderts  ausübte. 

So  lieferten  Diderots  'Bijoux  indiscrets'  und  seine  theatralischen 
Reformgedanken  die  wirksamsten  Waffen  zu  Lessings  Angriff 
gegen  die  pseudoklassische  Tragödie  und  bereiteten  'Minna  von 
Barnhelm'  vor,  während  der  'Taubstummenbrief'  in  dem  Haupt- 
gedanken und  in  vielen  Einzelheiten  dem  Verfasser  des  'Laokoon' 
wichtige  Anregungen  gab.i 

Diderots  Erzählungen  ('Les  deux  amis  de  Bourbonne',  'Entre- 
tiens  d'un  pere  avec  ses  enfants'),  die  er  im  Verein  mit  Geßner 
herausgegeben  hatte  (Zürich,  1773),  wirkten  mächtig  auf  die  Dich- 
ter der  Sturm-und-Drang-Periode;  auch  Goethe  konnte  in  'Götz' 
und  'Werther'  ihrem  Einfluß  nicht  entgehen. 2  Er  gab  eine  meister- 
hafte Übersetzung  des  'Neveu  de  Rameau',  so  daß  die  deutsche 
Ausgabe  (1805)  der  französischen  zuvorkam;  ^  die  freie  Übertragung 
des  'Essai  sur  la  peinture'  bot  ihm  die  Gelegenheit,  seine  eigene 
Theorie  über  das  Verhältnis  von  Natur  und  Kunst  auszulegen.* 
Dauzel  schreibt  die  Abweichungen  der  Goetheschen  'Iphigenie'  von 
der  gleichnamigen  Tragödie  des  Euripides  einer  Beeinflussung  von 
Seiten  des  französischen  Kritikers  zu, 5  und  Eggert  glaubt  in  'Wil- 
helm Meisters  Lehrjahren'  Anklänge  an  Diderots  'Paradoxe  sur  le 
comedien'  zu  finden.« 

Schüler  benutzte  in  den  'Räubern'  manche  Züge  der  'Deux 
amis  de  Bourbonne',  welche  zu  den  ersten  Produkten  der  Räuber- 


>  Vgl.  E.  Schmidt:  Diderot  und  Lessing,  'Die  Gegenwart'  Bd.  XXI 
(1882),  S.  133—36  und  153—55.  —  C.  Humbert:  Lessings  Stellung  zur 
französischen  Literatur,  'Archiv  für  Literaturgeschichte'  Bd.  II  (1872),  S.  443 
bis  469. 

2  V.  Rössel:  Hist.  des  relations  entre  la  France  et  l'Allemagne,  Paris, 
1897.     S.  435. 

'  R.  Schlösser:  'Rameaus  Neffe',  'Forschungen  zur  neueren  Literatur- 
geschichte' XV.    Berlin,  1900.     S.  258. 

*  G.  Döring:  Goethe  und  Diderot  über  die  Malerei.  'Preuß.  Jahrbücher' 
Bd.  LXI  (1888),  S.  393—404. 

^  W.  Danzel:  Goethes  Iphigenia  und  Diderot.  'Blätter  für  liter.  Unter- 
haltung', 23.  Jan.  1848. 

^  C.  A.  Eggert:  Goethe  und  Diderot:  Über  Schauspieler  und  die  Kunst 
des  Schauspielers.     'Euphorion'  Bd.  IV,  S.  301  —  17. 


60  Diderot  und  Herder 

romautik  gehört.  Diderots  'Hausvater',  bearbeitet  von  Gemmingen 
(1779),  diente  der  'Kabale  und  Liebe'  als  Vorbild.^  Der  Stoff 
des  Xenion  'Die  Flüsse'  ist  den  'Bijoux  indiscrets'  entnommen 
('Les  fleuves  indiscrets').^  Auch  er  übersetzte  eine  Erzählung  Di- 
derots ('Merkwürdiges  Beispiel  einer  weiblichen  Rache',  1785),  und 
Schanzenbach  ist  der  Meinung,  Schiller  habe  von  Diderot  erzählen 
gelernt  (vgl.  der  'Verbrecher  aus  Infamie'  und  der  'Geisterseher').^ 

Nun  soll  es  die  Aufgabe  dieser  Arbeit  sein,  die  Beziehungen 
zwischen  Diderot  und  Herder  festzustellen.  In  mancher  Hinsicht 
sind  sie  verwandte  Naturen :,  ihre  Beredsamkeit  und  Universalität, 
ihr  Entdeckungseifer  sind  verwandte  Züge;  beide  schweben  zwischen 
Philosophie  und  Poesie,  zwischen  Natur  und  Sitte,  zwischen  Skepsis 
und  Enthusiasmus.  Diese  Verwandtschaft  konnte  Herders  Seele 
sympathisch  stimmen  für  die  interessanten  Eindrücke,  die  er  von 
Diderots  Werken  empfing;  aber  auch  die  Vorsehung  erleichterte 
es  ihm,  sich  eine  möglichst  vollkommene  Kenntnis  von  Diderots 
schriftstellerischer  Tätigkeit  zu  verschaffen,  ja,  sogar  gönnte  sie  ihm 
einen  unmittelbaren  Einblick  in  die  geheimste  literarische  Werk- 
stätte des  großen  Enzyklopädisten. 

In  den  Königsberger  Studienjahren  beschäftigte  sich  Herder 
mehr  mit  Rousseau,  aber  schon  seine  ersten  Schriften  weisen  Stellen 
auf,  welche  seine  genaue  Kenntnis  von  Diderots  Werken  bezeugen. 
Einer  seiner  frühesten  Aufsätze  ('Haben  wir  noch  das  Publikum 
und  das  Vaterland  der  Alten?'  SWS.  I,  S.  22)  enthält  ein  Urteil 
über  die  'Pensees  philosophiques'  (ersch.  1746).  In  den  Literatur- 
fragmenten (1767)  erwähnt  er  die  dramatischen  Reformen  Diderots  * 
und  den  'Taubstummen brief  (ersch.  1751);^  im  'Torso'  nennt  er 
den  Verfasser  der  'Reflexions  sur  Terence'  (1762)  den  'Terenz  un- 
seres Jahrhunderts'.  6 

Im  letzten  Jahre,  welches  Herder  zum  Teil  noch  in  Riga  ver- 
bringt (1769),  entsteht  das  'IV.  Kritische  Wäldchen',  das  trotz  des 
ausgesprochenen  polemischen  Inhalts  in  den  allgemeinen  und  posi- 
tiven Betrachtungen  schon  ganz  deutlich  Diderots  Einfluß  verrät 
(s.  unten).  Auch  kommt  Herder  hier  öfters  auf  Diderot  zu  sprechen, 
der  bald  als  Reformator  des  Theaters,'^  bald  als  Verfasser  des 
'Blindenbriefes' 8  ('Lettre   sur  les  aveugles',   1749)   und   der  Enzy- 


'  C.  Flaischlen:  Otto  Heinrich  v.  Gemmingen  ...     Stuttgart,  1890. 

~  Zum  letzten  Xenion  dieses  Titels. 

3  0.  Schanzenbach:  Französische  Einflüsse  bei  Schiller,  Progr.  Stuttgart, 
1884—85.  —  C.  Sachs:  Schillers  Beziehungen  zur  französischen  und  eng- 
lischen Literatur.  'Herrigs  Archiv',  XVI.  Jahrg.,  Bd.  XXX  (1861),  S  83—110. 
—  Über  D.s  Einfluß  auf  die  deutsche  Literatur  vgl.  noch  L.  Crousle:  Les- 
sing et  le  goüt  frauQais  en  Allemagne.  Paris,  1863.  —  E.  E.  Schirlitz:  'Her- 
rigs Archiv'  Bd.  LXXIH  (1885),  S.  235  ff. 

♦  SWS.  IV,  S.  201.  5  SWS.  i^  s.  210.  e  SWS.  I,  S.  315.  ^  g^S.  IV, 
S.  18.       «  SWS.  IV,  S.  49. 


Diderot  und  Herder  61 

tlopädie/  bald  wieder  als  Ästhetiker  (Artikel  'Beau'  in  der  Enzy- 
klopädie; Sonderabdruck  1751)  ^  erwähnt  wird. 

Im  Mai  1769  verläßt  Herder  Riga;  er  kommt  Anfang  Juli  in 
Nantes  an,  wo  er  sich  ganz  dem  Studium  der  französischen 
Sprache,  Kultur  und  Literatur  widmet.  Er  vervollständigt  das 
TV.  Wäldchen  und  vertieft  sich  in  das  Studium  der  Enzyklopädie, 
welche  ihm  als  ein  Stützpunkt  dieser  labilen,  oberflächlichen 
französischen  Welt  erscheint.  Er  hält  nicht  nur  die  Franzosen 
im  allgemeinen  für  ein  sich  ausgelebtes,  hinsterbendes  Volk,^ 
sondern  behauptet,  auch  Diderot  habe  sich  ausgelebt,  und  seine 
übrigens  so  lehrreiche  und  interessante  Experimente  seien  mit  der 
größten  Vorsicht  zu  gebrauchen.^ 

Auch  der  kurze  Pariser  Aufenthalt  ändert  nichts  an  seinem 
Urteil;  doch  bedeuten  diese  IsTovembertage  eine  ereignisvolle  Zeit 
in  der  Ausbildung  seiner  Anschauungen.  Er  kommt  mit  D'Alem- 
bert,  Thomas,  Duclos,  D'Arnaud,  Barthelemy,  De  G-uignes,  Dau- 
benton und  Garnier  zusammen,  besucht  die  Kunstsammlungen 
(vielleicht  in  Gesellschaft  seines  Landsmanns  Witte)  und  den 
Garten  von  Versailles,  geht  oft  ins  'Theätre  frauQais',  wo  er 
Moles  vortreffliches  Spiel  in  Diderots  'Pere  de  famille'  bewun- 
dert.^ Am  T\achtigsten  aber  war  für  Herder  der  Besuch,  den  er 
bei  Diderot  abgestattet  hatte. 

Wenn  mr  die  verschiedenen  Briefwechsel  Diderots,  besonders 
den  mit  Mademoiselle  Voland,^  zu  Rate  ziehen,  so  finden  wir 
ihn  zu  dieser  Zeit  und  im  vorangegangenen  Sommer  vielfach  be- 
schäftigt. Sein  Freund  Grimm  hat  ihm  die  Redaktion  seiner 
'Correspondance'  aufgetragen;  für  diese  muß  er  selbst  eine  Kritik 
über  den  'Salon'  von  1769  schreiben.  Zu  derselben  Zeit  entwirft 
er  eines  seiner  inhaltreichsten  philosophischen  Werke,  den  'Reve 
de  D'Alembert',  welcher  ihn  zum  Vorläufer  Darwins  und  La- 
marcks  stempelt.  Der  Sommer  1769  bringt  ihm  endlich  seinen 
größten  Bühnenerfolg,  die  Reprise  des  'Pere  de  famille',  ein. 

Herders  Besuch  bei  ihm  fällt  also  in  eine  Periode,  welche 
Diderots  Tätigkeit  in  ihrer  ganzen  Universalität  entfaltet.  Er- 
stens ist  es  wahrscheinlich,  daß  Herder  die  berühmte  'Corre- 
spondance de  Grimm'  bei  Diderot  zu  lesen  bekommt,  oder 
wenigstens  sein  Interesse  darauf  gerichtet  wird  —  ein  Umstand, 
welcher  uns  das  Verständnis  der  'Plastik'  sehr  erleichtert.  Zwei- 
tens liegt  die  Vermutung  nahe.  Diderot  habe  ihm  den  'S  a  1  o  n 
de  17  6  9'  gezeigt,  bzw.  er  habe  kunsttheoretische  Fragen  mit 
ihm  besprochen.     Drittens:  der  'Reve  deD'Alembert'  hat 

1  SWS.  IV,  S.  145  ff.         2  SWS.  IV,  S.  148  f. 

3  Vgl.  R.  Haym:  Herder  nach  seinem  Leben  und  seinen  Werken,  Bd.  I, 
S    339  f 

*  SWS.  VIII,  441.    s  SWS.  VIII,  S.  93.     «  Assßzat-Tourneux,  Bd.  XVIII. 


62  Diderot  und  Herder 

das  Gespräch  auf  philosophische  Fragen  lenken  können.  Vier- 
tens bot  vielleicht  die  Aufführung  des  'Pere  de  famille',  welcher 
Herder  beigewohnt,  zu  einem  Gespräche  über  die  Theorie  des 
Dramas  Gelegenheit.  —  Die  Pariser  Tage  bilden  auch  sonst  eine 
wichtige  Periode  in  Herders  Leben.  Hier  entwickelt  sich  der 
Plan  der  'Plastik';  seine  philosophische  Weltanschauung  ge- 
winnt an  Festigkeit  und  Prägnanz;  seine  dramatische  Theorie 
bleibt  immer  unter  dem  Eindruck,  den  er  in  Paris  gewonnen 
hatte. 

In  den  stillen  Jahren  der  Bückeburger  Zeit  macht  Herder  die 
neu  erworbenen  oder  wenigstens  neu  formulierten  Ansichten  in 
einer  Reihe  von  Schriften  geltend.  Neben  der  ersten  Fassung 
der  'Plastik'  (1770),  in  welcher  er  sich  direkt  an  Diderot  an- 
schließt, entwirft  er  seine  Abhandlung  über  den  'Ursprung  der 
Sprache'  (1772),  welche  viele  Ansichten  des  Verfassers  der  'Lettre 
sur  les  sourds  et  muets',  des  'Reve  de  d'Alembert'  und  anderer 
Werke  zunutze  macht,  obwohl  er  sonst  ^  dem  'Taubstummen- 
brief'  jeden  sprachphilosophischen  Wert  abspricht.  Er  führt  eine 
kurze  Polemik  mit  Diderot  über  die  im  'Blindenbrief  aufgewor- 
fene Frage,  ob  der  Blinde  barmherzig  sein  könne  oder  nicht ;^  an 
anderer  Stelle  nennt  er  Diderot  einen  vortrefflichen  Ästhetiker 
und  setzt  ihn  dem  Aristoteles  gleich;^  endlich  erwähnt  er  wie- 
derum Diderots  dramatische  Reformpläne,  die  er,  namentlich  in 
bezug  auf  den  'stummen  Augenblick  der  Bühne',  mit  Begeiste- 
rung aufnimmt.^ 

Mit  der  Übersiedlung  nach  Weimar  kommt  Herder  nicht  nur 
in  das  wichtigste  literarische  Zentrum  des  damaligen  Deutsch- 
lands, sondern  zugleich  in  das  Zentrum  des  deutschen  Diderot- 
Kultus.  Nirgends,  selbst  Paris  nicht  ausgenommen,  waren  Di- 
derots ungedruckte  Schriften  besser  bekannt  und  gewürdigt  als 
in  Weimar,  wo  Goethe  'Rameaus  Neffen'  übersetzte  und  als 
eifriger  Leser  der  Grimmschen  'Correspondance'  Diderots  schrift- 
stellerische Laufbahn  Schritt  für  Schritt  verfolgte. 

Die  'Correspondance'  dürfte  Herder  schon  früher  gelesen 
haben,  da  er  Winckelmann  gegen  die  Franzosen  verteidigt  (Di- 
derot über  Winckelmann  nur  im  'Salon  de  1765',  erschienen  in 
der  'Correspondance').^  —  1778  schreibt  Herder,  Diderot  sei  ein 
Nachfolger,  wenn  nicht  ein  Nachahmer  Shaftesburys.^  Zwei 
Jahre  später  gibt  er  jedoch  zu,  daß  Diderot  doch  'seine  (eigene) 
Bahn  ging'."^  1779  versucht  er  Diderots  Apologie  des  Seneca^ 
zu  widerlegen.^     Später  wird  Herder  sein  Urteil  zurücknehmen 

1  SWS.  V,  S.  50.       2  SWS.  V,  S.  15.       ^  SWS.  V,  S.  280  f.       *  SWS.  V, 

S.  394.       5  SWS.  VIII,   S.  441.  e  SWS.   VIII,  S.   461.       ^   SWS.   XXIII, 

S.  154.  8  'Essai  sur  la  vie  de  Sßnöque  .  .  .'  (1778).  »  SWS.  V, 
S.    394. 


Diderot  und  Herder  63 

und  Diderots  Apologie  als  Grundlage  zu  einer  dramatischen  Be- 
handlung des  Gegenstandes  empfehlen.-^ 

Im  Jahre  1780  beginnt  die  Mitteilung  Diderotscher  Anekdota, 
die  Herder  vorzugsweise  dem  Prinzen  August  von  Gotha  ver- 
dankt, mit  der  Zusendung  des  'Jacques  le  Fataliste'  (französisch 
erst  1796  erschienen!),  und  auch  Jacobi  überläßt  ihm  eine  Ab- 
schrift des  'Paradoxe  sur  le  comedien'  (erschienen  1830!).^  Goethe 
und  Schiller  wollen  Herders  Übersetzertalent  und  sein  Interesse 
für  Diderot  nicht  unbenutzt  lassen;  so  fordert  Schiller  ihn  auf, 
die  'Religieuse'  (erschienen  1796!)  für  die  'Hören'  zu  übersetzen. 
Herder  lehnte  es  jedoch  ab,  obwohl  er  sich  schon  seit  längerer 
Zeit  und  noch  in  den  nächsten  Jahren  mit  dem  Plan  einer  Samm- 
lung selbstübersetzter  Diderotscher  Schriften  trug.^ 

Außer  diesen  neuen,  ungedruckten  Werken  erwähnt  Herder 
die  'Principes  de  l'acoustique' ^  und  'Richardsons  Ehrengedächt- 
nis' ('Eloge  de  Richardson',  1762);  das  letztere  gibt  ihm  Ge- 
legenheit, Diderots  hoher  Auffassung  vom  Wesen  des  Romans 
und  zugleich  dem  pathetischen  Stil,  dessen  er  sich  hier  bedient, 
volle  Anerkennung  zu  zollen.^ 

Allein  die  Zeit  der  Nachahmung  ist  für  Herder  vorüber;  die 
einst  jugendlich  bewegten  Anschauungsformen  sind  erstarrt.  Di- 
derots Einfluß  auf  ihn  machte  sich  besonders  vor  1778  geltend, 
und  zwar  in  Werken,  deren  Ursprung  in  die  Rigaer  oder  in  die 
Pariser  Zeit  zurückreicht,  so  vor  allem  im  'Vierten  Wäld- 
chen' und  noch  mehr  in  der  'Plastik'. 

Das  'Vierte  Kritische  Wäldchen'  erhielt  in  Nantes 
(1769)  seine  definitive  Fassung.  Es  enthält  den  Kern  der  'Pla- 
stik', und  so  kommt  schon  hier  der  Einfluß  Diderotscher  Ge- 
danken zum  Vorschein.  Doch  sei  die  Besprechung  dieses  Ein- 
flusses für  später  aufbewahrt,  um  nur  diejenigen  Teile  des  'Vier- 
ten Wäldchens'  zu  untersuchen,  die  in  die  'Plastik'  nicht  auf- 
genommen wurden. 

Das  'Vierte  Wäldchen'  ist  eine  Widerlegung  der  Riedeischen 
Ästhetik,  aus  deren  Trümmern  Herder  ein  neues  Gebäude  der 
Ästhetik  zu  errichten  sucht.  Im  ersten  Teil  handelt  es  sich  vor 
allem  um  allgemeine  ästhetische  Begriffe,  und  Herder  wirft 
seinem  Gegner  vor,  bei  der  Arbeit  die  besten  Ästhetiker  nicht 
zu  Rate  gezogen  zu  haben.  Diderots  Artikel  'Beau'  in  der  Enzy- 
klopädie sei  das  Beste,  was  man  neuestens  über  das  Schöne  ge- 
schrieben.^ Diderot  hält  die  Schönheit  für  ein  Verhältnis  ('un 
rapport'),    das  unser  Verstand  entdeckt,  das   aber  auch  in  den 

1  'Seneka,  Philosoph  und  Minister,  2  Briefe'.  SWS.  XVIII,  S.  391 
bis  401.     Vgl.  Haym  II,  503. 

2  Haym  II,  630.  ^  Haym  II,  630.  «  SWS.  XXII,  S.  66.  «  SWS.  XXII, 
S.  151  u.  161  f.       6  SWS.  IV,  S.  148  f. 


64  Diderot  und  Herder 

Dingen  selbst  Realität  besitzt.  Das  Charakteristische  in  seinem 
Standpunkte  ist  nun,  daß  er  die  Schönheit  objektiv  (in  den 
Dingen  existierend)  und  zugleich  subjektiv  (von  uns  be- 
griffen, gefühlt,  beurteilt)  auffaßt,  —  an  ein  absolutes 
Schöne  glaubt  und  doch  die  R  e  1  a  t  i  v  i  t  ä  t  des  Schönheitsurteils 
anerkennt.  Die  Spuren  dieses  ästhetischen  'Monismus'  finden 
wir  schon  im  'IV.  Wäldchen',  obwohl  diese  Auffassung  bei  Her- 
der erst  in  der  'Kalligone'  in  voller  Entwicklung  erscheinen 
wird.^ 

"Wie  Diderot  von  der  Widerlegung  der  Hutchesonschen  Ästhe- 
tik auf  seine  eigne  Auffassung  übergeht,  so  ist  auch  bei  Herder 
die  Widerlegung  des  Riedeischen  'sensus  communis',  welcher  — 
wie  Herder  in  einer  Fassung  des  Werkes  bemerkt  —  zuerst  in 
der  '  Crusisch  -  Dar jesisch- Hutchesonschen  Philosophie'  eine 
Rolle  spielt,^  der  Ausgangspunkt.  Im  Gegensatz  zu  Riedel 
schildert  Herder  die  langsame  Ausbildung  der  Begriffe,  beson- 
ders solcher  Abstrakta,  wie  des  Begriffs  der  Schönheit: 

'. . .  laßet  uns  in  unsere  Kindheit  '. . .  le  premier  pas  de  penser,  c'est 
zurückgehen:  die  ersten  Begriffe  von 

den  Körpern,  . , .  wie  haben  wir  sie  examiner  ses  perceptions,  de  les  unir, 
erlangt?  durch  viele  einzelne  Gefühle, 

durch   das  lange  Gegeneinander-  de  les  comparer  .  . .' 
halten    derselben,    durch   Verglei- 
chung.' 

'. . .  et  quelles  que  soient  les  expres- 

'. . .  wie  denn  die  ...  feinsten  sions  sublimes   dont    on   se   serve 

Abstrakta?  . . .  pour  designer  les  notions  abstraites 

wie  denn  Schönheit  ...   unmittel-  de  l'ordre  ...,   du  beau,   elles   ont 

bar  empfinden?'  passe   par  nos    sens   pour   arriver  ä 

notre  entendement.' 

(SWS.  IV,  S.  8  f.)  (Assezat  X,  S.  24  f.) 

Der  psychologische  Teil  steht  auch  sonst  unter  dem  Einflüsse 
Diderots: 

'. . .  blos  so  wird  das  Gefühl  ge-      's'assurer     que     les     objets     ne 
sichert,  daß  Wahrheit  außer  uns      f ont  pas  partie  de  lui-merae 
gebe  ...'  (SWS.  IV,  S.  29.)  ('Lettre  sur  les  aveugles',  Assezat  I, 

S.  321.) 

Beide  sprechen  von  der  Verschiedenheit  der  Geschmacks- 
urteile, die  aber  doch  in  den  Begriff  des  allgemein  Schönen  zu- 
sammenlaufen (vgl.  SWS.  IV,  S.  41  und  Assezat  X,  S.  41);  beide 
unterscheiden  höhere  und  niedere  Sinne,  und  beide  illustrieren 
diesen  Unterschied  damit,  daß  die  Vorstellungen  des  Geschmacks 
und   des   Geruchs   ihre  Benennungen   von   den   anderen   Sinnes- 


1  Vgl.    K.    Siegel:    Herder    als    Philosoph     (Stuttgart   u.    Berlin,    1907), 
S.   193   ff. 

2  In  der  Fassung  von  Nantes^    SWS.  IV,  S.  5. 


Diderot  und  Herder  65 

gebieten  borgen  müssen  (vgl.  SWS.  IV,  S.  49 — 53  und  53 — 54 
mit  Assezat  X,  S.  26  f.). 

Diejenigen  Teile  des  'Vierten  Wäldchens',  welche  es  mit  der 
'Plastik'  gemein  hat  (II.  Teil,  SWS.  IV,  S.  49—90),  dringen  auf 
Grenzscheidung  zwischen  den  einzelnen  Künsten.  Die  Grenz- 
scheidung  geschieht  auf  Grund  von  Experimenten  mit  Blind- 
geborenen; die  Gesetze  der  einzelnen  Künste  werden  aus  der  Be- 
schaffenheit der  entsprechenden  Sinnesorgane  abgeleitet.  So 
werden  namentlich  Skulptur  und  Malerei  getrennt,  da  sich 
diese  nach  dem  Gesicht,  jene  aber  nach  dem  Tastgefühl  richten 
muß. 

Diese  Gesichtspunkte  werden  auch  in  der  'P 1  a  s  t  i  k'  bei- 
behalten. Von  den  drei  Fassungen  dieses  Werkes^  werde  ich  die 
erste  (1769)  nur  dort  anführen,  wo  sie  etwas  Spezifisches  und 
Selbständiges  enthält;  von  den  beiden  anderen  werde  ich  die- 
jenige wählen,  welche  ihrem  Vorbilde  in  der  AusdrucSsweise 
näher  steht. 

Das  I.Kapitel  ist  der  'Lettre  sur  les  aveugles'  (1749) 
entlehnt.  Bei  Diderot  handelt  es  sich  hauptsächlich  darum,  die 
interessante  Lage  des  Blindgeborenen  zu  schildern  und  dessen 
Meinungen  über  eine  unbekannte  Welt  abzulauschen.  Für  die 
Zeitgenossen  war  aber  die  Hauptfrage,  ob  geheilte  Blindgeborene 
ihre  Augen  sofort  in  demselben  Sinne  gebrauchen  können  wie 
wir,  d.  h.  ob  sie  die  Körper,  welche  sie  durchs  Tastgefühl  bereits 
kannten,  mit  den  x\ugen  sofort  wiedererkennen  oder  nicht.  Di- 
derot hält  zwar  diese  Frage  für  weniger  wichtig,  doch  behandelt 
er  sie  ausführlich  genug,  um  dem  Verfasser  der  'Pla.stik'  die 
Zusammenstellung  des  Materials  zu  ersparen. 

Die  Berichte  über  die  geheilten  Blindgeborenen  (derBlinde 
von  Puis  (e)  aux,  'über  welchen  Diderot  Bemerkungen  machte', 
Saunderson  und  der  Blinde  von  Cheselden)  sind  in 
diesem  Zusammenhange  nur  ein  Auszug  aus  dem  'Blindenbriefe',^ 
obwohl  der  Bericht  über  den  Blinden  von  Cheselden  wörtlich  aus 
Smiths  Optik  übernommen  ist.^ 

Nach  diesen  Beispielen  geht  Herder  auf  die  Frage  über,  ob 
ohne  Tastgefühl  Körper  begriffen  werden  können: 

1  Die  erste:  1769,  Paris- Versailles ;  ersch.  'Lebensbild',  dann  SWS.  VIII, 
S.  88  ff.  Die  zweite:  1770,  Bückeburg,  fragm.  SWS.  VIII,  S.  116  ff.  Die 
dritte:  1778  (Ausgabe).  Systematisch,  aber  in  bezug  auf  praktischen  Wert 
und  literarisches  Interesse  der  Fassung  von  1770  nahestehend.  SWS.  VIII, 
S.  1  ff. 

2  Für  den  Blinden  von  Puiseaux:  SWS.  VIII,  S.  3  u.  116  vgl.  Assßzat  I, 
S.  280—85.  —  Saunderson:  SWS.  VIII,  S.  3  f.  vgl.  Ass6zat  I,  S.  295—302. 
—  Cheselden:   SWS.  VIII,  S.  4  f.  vgl.  Assözat  I,  S.  318  f. 

ä  Kürschners  Nationalliteratur  Bd.  76,  II.  Abt.:  Herders  Werke  III,  2. 
Herausgegeben  von  Hans   Lambel,   S.  277. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.     Sonderheft.  5 


66  Diderot  und  Herder 

' . . .  warum  soll  uns  Wunder  seyn,  ' .  . .    il   y   a  toute   apparence    que 

daß    Blinde,    denen   ihr   Gesicht   ge-  nous  ne   jugeons  des  distances   que 

geben  wurde,  nichts  als   ein  Bilder-  par   l'cxperience;    et  consequem- 

.  haus,  eine  gefärbte  Fläche'  (. . .  sa-  nient,  que  celui  qui  se  sert   de   sea 

hen)  . . .    'Sodann  sehen  wir  erst  . . .  yeux  pour  le  premiere  fois,   ne  voit 

durch  Gewohnheit  . . .'  que  des  surfaces  . . .' 

(SWS.  VIII,  S.  6  f.)  (Assezat  I,  S.  327.) 

Aber  die  Blindheit  hat  ihre  Vorteile  (SWS.  VIII,  S.  8  u.  21 
vgl.  mit  Assezat  I,  S.  281),  und: 

'Es    hat    blinde  Wachsbildner  '...    on   voit    qu'un    peuple   d'a- 

gegeben.     die    die    sehenden     über-      v  engl  es    pourrait    avoir   des    sta- 
trafen.'         (SWS.  VIII,  S.  8,  121.)  tuaires  . . .'     (Assezat  I,  S.  306.) 

Bei  dem  Nicht-Blindgeborenen  sind  Gesicht  und  Gefühl  eng 
miteinander  verbunden;  sie  helfen  einander,  aber  oft  verhindert 
der  eine  Sinn  die  Entwicklung  des  anderen: 

'...  indem  er  Gesicht  und  Gefühl  '...    l'usage    d'un    des    sens    peut 

unaufhörlich    verbindet,   eins   durchs       etre  perfectionne  et  accelere  par  les 
andre     untersucht,     erweitert,     hebt,      observations   de  l'autre  . . .  ces  ser- 
stärket,  ...  so  verschlingen  und  gat-       vices  sont  reciproques.' 
ten    sich    Gefühl    und    Gesicht   ..."  (Assezat  I,  S.  320.) 

'Weil    nun   aber   unser  Gesicht  und 

Gefühl  als  Schwestern  zusammen  er-       ' . . .  les  secours  que  nos  sens  se  pre- 
zogen  wurden,  und  von  Jugend  auf      tent  mutuellement, 
eine  der  Andern  die  Arbeit  tragen 
half  oder  sie  ganz  allein  übernahm: 

so  geschähe  es  auch  hier,  und  Seh  we-      les    erapechent    de    se    perfec- 
ster   verfehlte   die   Schwester.'       tionner.' 

(SWS.  VIII,  S.  8  f.)  (Assezat  I,  S.  285.) 

Nun  muß  der  wichtigste  Schritt  getan  werden :  die  kühne  Ver- 
bindung der  Sinne  mit  den  entsprechenden  Künsten.  In  der 
'Lettre  sur  les  aveugles'  tut  Diderot  diesen  Schritt  allerdings 
nicht;  doch  lesen  wir  im  'Salon  de  1765':  'La  sculpture  est  faite, 
et  pöur  les  aveugles,  et  pour  ceux  qui  voient.  La  peinture  ne 
s'adresse  qu'aux  yeux'  (Assezat  X,  420);  und  hierin  hat  er  viel- 
leicht mehr  recht  als  Herder,  der  die  Skulptur  gleichsam  aus- 
schließlich für  die  Blinden  und  die  Tastenden  aufbewahren  möchte. 

Der  tastende  Finger  schreibt  der  Bildsäule  Leben  und  Be- 
wegung zu  —  er  'beseelt'  sie.  Diesen  für  Herder  so  ungemein 
wichtigen  Gedanken  finden  wir  bei  Diderot,  aber  auch  bei  Winckel- 
mann;  außerdem  mag  'Le  Reve  de  D'Alembert'  zur  Verstär- 
kung dieses  —  übrigens  echt  Herderschen  —  Gedankens  beigetragen 
haben,  —  die  Stelle  nämlich,  wo  Diderot  'homme'  und  'statue' 
unterscheidet.^ 

'Eine   Statue  muß  leben  . . .     Wir  'Madame,   combien  nos  sens  nous 

müssen    sie   vor   uns    stehen    sehen,       suggerent    de    choses;    et    que   nous 


Assezat  II,  S.  105  ff. 


Diderot  und  Herder  67 

und  fühlen,  daß  sie  zu  uns  spricht  . ..'       aurons  de  peine,  sans  nos  yeux, 

a  supposer  qu'un  bloc  de  marbre 
ne  pense  ni  sent!' 
('Plastik'  17691  —  SWS.  VIII,  ('Lettre  sur  les  Aveugles', 

S.  88.)  Assezat  I,  S.  328.) 

Da  Herder  den  Blindgeborenen  als  den  geeignetsten  Repräsen- 
tanten des  reinen  Tastens  und  den  vollkommensten  Kunstrichter 
für  die  Bildhauerei  hinstellt,  so  muß  er  sich  gegen  Diderots  An- 
sicht verwahren,  nach  welcher  der  Blinde  nur  Zweckmäßigkeit, 
aber  keine  Schönheit  kenne:  'Ein  Blinder  hat  also  würklich  ein 
Schönes  ...  —  wider  Diderot  ...  Sein  Schönes  ist  nicht  blos 
Nutzbarkeit:  sondern  würkliche  unmittelbare  Bequemlichkeit  des 
schönen  Tastens'  (SWS.  VIII,  S.  94;  Tlastik'  17(59).  Der  Unter- 
schied zwischen  den  beiden  Standpunkten  ist  aber  mehr  ein  schein- 
barer; für  Diderot  wie  für  Herder  ist  ja  die  Schönheit  nur  der 
Ausdruck  der  funktionellen  Zweckmäßigkeit,  und  Herder  sagt 
selbst:  'Ich  fragte  eine  Blindgebohrne :  "welcher  Tisch,  welches 
Gefäß  ihr  lieber  sei?  das  eckige  oder  runde?"  Sie  antwortete: 
das  Runde,  denn  dies  sei  sanft  und  wohl  zu  faßen,  und  am  run- 
den Tisch  stoße  man  sich  nicht  ...'  usw.  (SWS.  VIII,  S.  70.  Vgl. 
Assezat  I,  S.  281). 

AVir  haben  das  I.  Kapitel  der  'Plastik'  mit  der  'Lettre  sur  les 
aveugles'  verglichen.  Das  Wesentliche  im  Gedankengange  der 
beiden  Werke  stimmt  überein;  der  Hauptgedanke  der  'Plastik' 
(Verbindung:  Gesicht — Malerei,  Gefühl — Skulptur)  ist  aber  in  einem 
anderen  Werke  Diderots  ('Salon  de  1765')  angedeutet.  Damit  will 
nicht  gesagt  werden,  daß  Herder  diesen  Gedanken  aus  dem  'Salon' 
geschöpft  habe;  vielmehr  handelt  es  sich  hier  um  eine  gemeinsame 
Vorlage  ('Lettre  sur  les  aveugles'). 

Diesem  Abschnitt  der  'Plastik'  gehören  noch  einige  Entlehnun- 
gen aus  Diderot  an,  welche  nur  in  den  früheren  Fassungen  vor- 
kommen und  geeignet  sind,  zu  bezeugen,  wie  genau  sich  Herder 
an  Diderot  hält: 

1)  'Versuch,  wie  ein  blinder  Philo-  '...  la  raorale  et  la  metaphysique 

soph  sich  eine  Welt  denken  würde.'       des  aveugles.' 

'Nous  y  aurions  trouve  . . .  des  prin- 

'Idealismus!  ...   Ein  Fühlender  ist       cipesd'une metaphysique tres-abstraite 

Idealist  durch  den  Sinn.'  et  fort   voisine  de   celle   des   idea- 

listes  .. .' 
'...  ganz  besondere  Einbildungs-  'Mais    si   l'imagination    de   l'a- 

kraft  der  Blinden  ...'  veugle-ne    n'est   autre  chose   que   la 

faculte   de   se   rappeler   et   combiner 
des   sensations    de   points  palpables, 
'...  daß  sie  weit  reellere,  nettere,       ...  s'en  ensuit  que  l'aveugle-ne  aper- 
abstraktere    Begriffe    von    Schön-       goit  les  choses  d'une  maniere   beau- 
heit  ...  haben.'  coup  plus  abstraite  que  nous  . . .' 

'Eine  solche  blinde  Liebe  1'  'La  beaute  de  la  peau  ...  sont  des 

,  qualitös  dont  il  fait  grand  cas  . . .' 

5* 


68 


Diderot  und  Herder 


Ein  "Widerspruch: 


'Ein  Blinder  ist  ein  furchtsames 
Geschöpf  . . .' 

(SWS.  VIII,  S.  96—99  u.  114.) 

2)  'Noch  empfand  der  zum  Säug'- 
linf^e  gewordne  Embryo  Alles  in 
sich  .  . .  Bei  jeder  sinnlichen  Emp- 
findung wird  er,  wie  aus  einem  tie- 
fen Traume  geweckt,  und  durch  einen 
empfindbaren  Stoß  lebhafter  an  eine 
Idee  erinnert,  die  seine  gegenwärtige 
Lage  in  der  Welt  veraulaßet  ...  Hier 
sind  z.  E.  zwo  gleiche  Empfindun- 
gen: gleich?  dieselben?  so  wird  das 
erste  Urteil  gebildet,  daß  das  Wieder- 
holle dieselbe  En^ffindung  sei.' 

(SWS.  VIII,  S.  120.) 

3)  'Wir  kennen  unsere  Seele  so 
wenig,  wie  unser  Gesicht,  weil 
wirs  nicht  studiren;  wir  studiren  an- 
dere Physiognomien,  nur  um  sie  zu 
erkennen,  wenn  sie  uns  begeg- 
nen . . .' 

(SWS.  VIII,  S.  96.) 

4)  'Die  Welt  eines  Fühlenden  ist 
blos  eine  Welt  der  unmittelbaren 
Gegenwart;  er  hat  kein  Auge,  mit- 
hin . . .  keine  Farben,  keine  Einbil- 
dungskraft . . .' 

(SWS.  VIII.  S.  96.   'Plastik'  1769.) 


'Les  menaces  ne  l'intimident  point . . .' 

(Assezat  I,  287,  290,  293,  304,  320, 

329  f.) 

'...  l'enfant  ni  l'aveugle  -  ne 
n'  ...  aper(;oivent  point  ...  on  n'est 
affecte,  dans  les  premiers  instants  de 
la  Vision,  que  d'une  multitude  de 
sensations  confuses  qui  ne  se  de- 
brouilient  qu'avec  le  temps  . . . ;  que 
les  sensations  n'ayant  rien  qui  res- 
semblent  essentiellement  aux  objets, 
c'est  ä  l'experience  ä  nous  instruire 
sur  des  analogies  qui  semblent  etre 
de  pure  Institution  . . .' 

(Assezat  I,  S.  320.) 

'II  en  est  pour  nous  de  ses 
nuances  comme  de  notre  propre 
vi  sage.  De  tous  les  hommes  ... 
celui  que  nous  nous  rappellerions  le 
moins,  c'est  nous  meme  Nous  n'e- 
tudions  les  visages  que  pour  re- 
couuaitre  les  personnes  ...' 

(Assezat  I,  S.  284  f.) 

' . . .  L'aveugle-ne,  ne  pouvant  co- 
lorer,  ni  parconscquent  figurer  comme 
nous  l'entendons,  n'a  memoire  que 
des  sensations  prises  par  le  toucher  . . .' 


(Assezat  I,  S.  291.) 

Im  II.  Abschnitte  der  'Plastik'  kann  nun  Herder  die  Grenze 
zwischen  Malerei  und  Skulptur  ziehen.  Er  findet  die  Kennzeichen 
der  Skulptur  der  Malerei  gegenüber  in  den  folgenden  Zügen: 
1)  Nacktheit  der  Gestalten  oder  nasse  Gewänder;  2)  kein 
Kolorit,  kein  Augapfel;  3)  keine  kleinliche  Ausarbeitung 
der  Haare;  4)  keine  Häßlichkeit,  keine  Verzerrung.  Da  sie 
nämlich  die  Aufgabe  hat,  schöne  Körper  für  den  tastenden  Finger 
zu  bilden,  so  muß  sie  alles  vermeiden,  was  die  schönen  Formen  oder 
Linien  stören  oder  verhüllen  könnte  (Haare,  Verzerrung,  Augapfel, 
Kleidung)  oder  was  der  Natur  des  Tastens  fremd  ist  (Färbung). 
Anderseits  ist  der  schöne  Körper  der  Ausdruck  einer  schönen 
Seele.  Die  Bildsäule  soll  leben;  sie  soll  individueller  sein  als  ein 
Abstraktum,  aber  idealisierter  als  ein  Individuum. 

Diese  Gesetze  der  Plastik  finden  wir  Punkt  für  Punkt  in  Di- 
derots  Vorrede  zu  den  Bildhauern  des  'Salon  de  1765',  welcher 
in  der  erwähnten  'Correspondance  de  Grimm'  erschienen  ist  — 
'erschienen'  für  einige  Auserwählte,  wie  den  Prinzen  von  Gotha 
und   die  Kaiserin  von  Rußland.     Außer  diesen  vornehmen  Lesern 


Diderot  und  Herder  69 

haben  nur  Diderots  und  Grimms  Freunde  und  Bekannte  Ab- 
schriften von  einzelnen  Aufsätzen  der  'Correspondance'  erhalten.  — 
Der  'Salon  von  1765'  ist  eine  der  trefflichsten  Leistungen  des 
Kunstkritikers  Diderot;  auch  ist  dieser  'Salon'  der  einzige,  der  für 
das  Publikum  abgedruckt  wird  (1795)  —  vielleicht  eben  darum, 
weil  man  ihm  theoretischen  AVert  zuschreibt.  Der  Abschnitt  über 
'Sculpture'  ist  der  einzige  Versuch  Diderots,  eine  Theorie  der  Bild- 
hauerkunst zu  geben.  Es  ist  höchst  interessant,  daß  der  Anfang 
dieses  Aufsatzes  sich  mit  Winckelmann  befaßt, i  dessen  'fa- 
natische' Begeisterung  für  das  klassische  Altertum  Diderot  etwas 
befremdet;  er  wundert  sich,  daß  ^Yinckelmann  von  der  'Schönheit' 
des  Torso  spricht  —  obwohl  er  selbst  in  seinem  'Essai  sur  la  pein- 
tui-e'  behauptet,  es  sei  leicht,  aus  einem  Finger  des  Körpers  den 
ganzen  Körper  zu  rekonstruieren. 2  Jedenfalls  schwebt  aber  ÄVinckel- 
manns  Geist  über  diese  interessanten  Zeilen,  welche  schon  alle 
Resultate  der  Herderschen  Theorie  in  sich  schließen;  verschieden  ist 
nur  der  Gesichtspunkt  in  der  Begründung  der  Regeln,  da  bei  Her- 
der das  Gewicht  auf  der  Betonung  des  'bUnden  Tastgefühls'  liegt, 
während  Diderot  auf  diesen  Umstand  nur  ganz  flüchtig  hinweist. 
Doch  lassen  wir  Diderot  das  Wort  reden: 

'...  les  statuaires  tiennent  plus  ä  l'antique  que  les  peintres  ... 
La  sculpture  est  faite  et  pour  les  aveugles  et  pour  ceux  qui 
voient  ...'  (Hauptgedanke  der  'Plastik'.)  'La  severe,  grave  et 
chaste  sculpture  choisit  . . .'  (Hohe  Auffassung  der  Skulptur.) 
'Elle  exagere  ...;  peut-etre  l'exageration  lui  convient-elle  mieux 
qu'ä  la  peinture  ...'    (Das  Kolossalische.    Vgl.  SWS.  VHI,  72  ff.) 

'Faunen  und  Satyren   sind  an  'Le  marbre  ne  rit  pas.  Elie  s'enivre 

sich  nicht  häßliche  MiiSg-eburten,    ...  pourtant  avec   les   faunes   et  syl- 

und  also  bildsam  . . .'  vains  . . .' 

(SWS.  Vm,  S.  149.     'PL'  1770.) 

'La  sculpture  suppose  un  enthousiasme  plus  opiniätre  et  plus 
profond,  plus  de  ce  feu  couvert  et  secret  qui  bout  au  dedans  ...' 
(Vgl.  SWS.  VHI,  S.  13.)  'Si  la  sculptm-e  ne  souffre  pas  une 
idee  commune,  eile  ne  souffre  pas  davantage  une  execution 
mediocre  .. .' 

'De  quelques  questions  que  je  me 

1)  suis  faites  sur  la  sculpture,  la  1^,  c'est: 

'Selbst  im   Reizbaren  zur  Verfüh-       Pourquoi  la  chaste  sculpture  . . .  mon- 

nmg  ist  das  Nackte  nicht  dasselbe.       tre  plus  souvent  et  plus  franchement 

Eine  Statue  ...:  Nachbild  eines  schö-      la  nudite  des  sexes?    c'est  que  ses 

nen  Geschöpf  Gottes  und  um  sie  ist      moeurs,  plus  sauvages  et  plus  iuno- 

Unschuld  ...'  centes,   sont  meilleures    que   celles 

(SWS.  VUI,  S.  24,  f.)  de  la  peinture  . . .' 


1  Winckelmanns  'Hist.  de  l'Art  ancien',  übersetzt  von  Sellius;    vgl.  As- 
sezat  X,  420. 

2  'Essai  sur  la  peinture',  Assezat  461  ff. 


70 


Diderot  und  Herder 


(Deui  entspricht: 
3) 
keine  Ausarbeitung  der  Haare; 
SWS.  VIII,  S.  : 


1)  Nasse  Gewänder. 

'Die  Bildnerei  kann  nicht  beklei- 
den, denn  ... 

das  Gewand  . . . 
nimmt  uns   . . .   das   Gute,   Vollkom- 
mene des  Körpers,  was  Zweck  der 
Kunst  Avar  . . .' 

'Und  nun  in  der  Kunst  ist  ein  Ge- 
wand von  Stein,  Erz,  Holz  im  höch- 
sten Grade  drücken  dl' 

'Es  ist  ein  Fels  voll  Erhöhung 
und  Vertiefung  ...;  du  wirst  das 
Unding  fühlen.' 

(SWS.  VIII,  S.  18  u.  133.) 

2)  Kolorit. 


'...  da  ist  kein  Einfacher  Ge- 
sichtspunkt, kein  von  daaiis  Ord- 
nen des  Lichts  ...  so  kann  diese  [die 
Farbe]  nichts  als  das  freie  Spiel  des 
Lichts  verhindern.' 

('Plastik'  1770.    SWS.  VIII,  Ui.) 

'Wenn  Bildhauerei  Körper  durch 
Formen  nachahmt;  Farbe  ist  nicht 
Form,  ihr  also  fremde.' 

(SWS.  Vm,  S.  143.     'PL'  1770.) 

Keine  Gruppe  (vgl.  Kap.  V). 
'Bewegung  in  der  Ruhe.' 

2)  'Ein  aufgemahlter  Augapfel 
ist  entweder  kein  Augapfel  oder  er 
ist  ...  ein  farbichter  Auswuchs,  der 
Schauder  macht  ...' 


'La  2e,  c'est:  Pourquoi  la  sculp- 
ture  a  dcpouille  les  femmes.  de  ce 
voile  de  la  pudeur  . . .  ?'  'la  beaute 
de  ce  coutour,  le  charme  de  ce  ser- 
pentement  serait  rompu  . . .' 

'La  Be;  Pourquoi  les  Anciens  n'ont 
Jamals  drape  leurs  figures  qu'avec 
des  linges  mouillees?'  'C'est  que, 
quelque  peine  que  Ton  se  donne  pour 
caracteriser  en  marbre  une  etoffe,  on 
n'y  reussit  jamais  . . . ;  qu'un  etoffe  . . . 
grossiere  derobe  le  nu  que  la  sculp- 
ture  est  ...  jalouse  ...  de  prononcer; 
et  que  ...  la  veiite  des  plis  ...  con- 
servera  je  ne  sais  quoi  de  lourd, 
qui,  se  joignant  ä  la  nature  de  la 
pierre,  fera  prendre  au  tout  un  faux 
air  de  rocher.' 


('La  4e':  Idealisierung.) 

'La  5^,  c'est:  Quel  serait  l'effet 
du  coloris  de  la  peinture  sur  une 
Statue?' 

'Manvais,  je  pense.  1"  II  n'y  aurait 
autour  de  la  Statue  qu'un  seul  point 
oü  ce  coloris  serait  vrai  . . .' 


'2"  il  n'y'a  rien  de  si  deplaisant  ä 
l'oeil  que  le  contraste  du  vrai  mis  ä 
cote  du  faux  ...' 


'La  chose,  c'est  la  statue,  seule, 
isolee,  solide,  prete  ä  se  mou- 
voir  ...' 

'Creusez  l'orbite  des  yeux  ä  une 
Statue  et  remplissez  -  la  d'un  oeil 
d'email  ou  d'une  pierre  coloree,  et 
vous  verrez  si  vous  en  suppor- 
terez  l'effet  . . .' 

(Assezat  X,  417—23.) 


(SWS.  VIII,  143.     'PL'  1770.) 

In  den  übrigen  drei  Abschnitten,  die  teilweise  nur  in  der  Fas- 
sung von  1778  vorhanden  sind,  finden  wir  hie  und  da  noch  Spu- 
ren Diderotscher  Gedanken.  —  So  im  IV.  Abschnitt,  wo  Herder 
erklärt,  jede  (äußere)  Form  habe  eine  tiefe  (innere)  Bedeutung: 
der  Würfel  ist  das  Symbol.,  der  Solidität  und  der  Ruhe,  die  Kugel 
das  der  Bewegung  usw.  Ahnliches  lesen  wir  auch  in  der  'Lettre 
sur  les  sourds  et  muets'  (Additions;  Assezat  I,  405  f.):  '...  fau 
dra-t-il  conserver  dans  un  piedestal  quelque  idee  de  legerete?  on 


1 


Diderot  und  Herder  71 

abandonner  le  cube  pour  le  cylindre  ...,  de  l'inconstance  ? 
...  on  cherchera  une  figure  que  la  statue  ne  touche  qu'en  un 
point.  C'est  ainsi  que  la  Fortune  sera  placee  sur  un  gl  übe,  et 
le  Destin  sur  un  cube.' 

Wie  die  einfachsten  geometrischen  Körper,  so  muß  auch  die 
Bildsäule  eine  Seele,  einen  Charakter,  kurz:  'Bewegung  in  der 
Ruhe'  ausdrücken:  'La  vie  est  dans  une  figure  en  repos  ... 
Ils  disent  d'une  figure  en  repos,  qu'elle  a  du  mouvement,  c'est- 
ä-dire  qu'elle  est  prete  h  se  mouvoir.'  (Diderot:  'Pensees  de- 
tachees'.     Assezat  XII,  81.) 

Im  V.  Kapitel  behandelt  Herder  allgemeine  ästhetische  und 
kunsttheoretische  Begriffe,  wie:  1)  das  Erhabene  und  das  Schreck- 
hche,    2)  das  Kolossalische,    3)   die  Allegorie,    4)  die  Gruppierung. 

Die  Bildung  von  kolossalischen  Gestalten  will  Herder  nur  der 
Skulptur  gewähren;  dieser  Gedanke  ist  schon  bei  Diderot  vorhan- 
den, i  aber  auch  bei  Shaftesbury.2  —  Die  Mischung  von  Allegorie 
und  Wirklichkeit  vernichtet  die  Wirkung  selbst  des  erhabensten 
Kunstprodukts.  (Vgl.  SWS.  VIII,  S.  105.  'Fl.'  1769  mit  'Essai 
sm-  la  peinture',  1765.  Assezat  X,  S.  500.)  —  Die  komplizierte 
Gruppe  ist  in  der  Skulptur  nicht  an  ihrem  Flatze;  das  Wesen 
dieser  Kunst  fordert  ja  eine  einzige,  isolierte  Gestalt  oder  wenig- 
stens eine  Gruppe  von  Gestalten,  die  in  eine  Einheit  verschmelzen 
(Laokoon!).  'La  sculpture  n'offrant  jamais  qu'une  figure  isolee, 
ou  qu'un  groupe  de  deux  ou  trois  ...'3  'Laocoon,  ...  trois  fi- 
gures  isolees,  liees  par  les  seules  convolutions  d'un  serpent  . . .'  ^  — 

In  der  'Plastik'  erreichte  Diderots  Einfluß  auf  Herder  seinen  Höhe- 
punkt. In  den  folgenden  wird  es  versucht,  die  übrigen  Berührungs- 
punkte der  Anschauungen  beider  auf  dem  Gebiete  der  Kunsttheorie, 
der  Theorie  des  Dramas  und  der  Sprachphilosophie  anzudeuten. 

In  bezug  auf  die  Kunst  sind  beide  Idealisten,  und  so  halten 
sie  den  Forträtisten,  der  die  gegebenen  Gesichtszüge  pünktlich 
nachahmt,  für  keinen  echten  Künstler: 

'...    80    ideisirt    er    ...,    ist   ...  '...  la  difference  du  portrai- 

kein  gemeiner  Künstler;  vom  Per-  tiste  et  de  vous  ...  consiste  essen- 
traitmahler,  der  ein  Ideenloses  ob-  tiellement  en  ce  que  le  portraitiste 
wohl  genaues  Conterfait  macht  ...,  rend  fidelement  Nature  comme  eile 
verschieden.'  est  .. .' 

('Kalligone',  SWS.  XXII,  S.  298.)        ('Salon  de  1767',  Assezat  X,  9—12.) 

Für  diese  Idealisierung  liefert  die  antike  Kunst  ein  hohes  Bei- 
spiel; doch  darf  das  Studium  der  antiken  Kunst  die  direkte  Be- 
obachtung und  die  unmittelbare  Nachbildung  der  Natur  nicht  ver- 
drängen.    Die   Kunst    der    Griechen    und    Römer    ist   die    Frucht 

1  'Salon  de  1767',  Assezat  XI,  S.  38. 

2  J.  C.  Hatch:  Der  Einfluß  Shaftesburys  auf  Herder,  'Studien  für  ver- 
gleichende Literaturgeschiclite'  Bd.  I  (1901),  S.  118  f. 

3  Assezat  XIU,  Ö6  u.  XI,  42.       *  'Salon  de  1767',  Assezat  XI,  42. 


72  Diderot  und  Herder 

eines  langen  und  schwierigen  Emporstrebens  und  der  höchste  Gipfel 
einer  natürlichen  Entwicklung  —  das  günstige  Klima  aber  nur 
eine  der  vielen  Kräfte,  die  sie  hervorgebracht  haben  (vgl.  'Alt.  Krit. 
Wäldchen'  in  SWS.  IV,  203—13  mit  'Salon  de  1767'  in  Asse- 
zat  X,  12  f.  und  'Essai  sur  la  peinture',  welcher  bei  Hartknoch 
in  Riga  erschienen  ist!).i  — 

Die  im  'Torso'  gegebene  ausführliche  Kritik  der  Diderotschen 
Reform  des  Dramas  entspricht  dem  Standpunkte  der  heutigen  Kri- 
tik im  allgemeinen  wie  auch  in  vielen  Einzelfragen.  Man  'weiß, 
wie  sehr  er  (Diderot)  für  den  Augenschein  des  gemeinen  Lebens, 
für  Theatergemälde,  für  die  fast  gar  zu  feine  Pantomime,  ...  für 
Charaktere,  Lebensarten,  Stände  eingenommen  sey  ...'  Aber  wenn 
Herder  hier  besonders  Diderots  Forderung,  man  stelle  Berufsarten, 
Stände  ('condition')  statt  Charaktere  dar,  bekämpf t,2  so  vergißt  er 
das  später,  als  er  statt  Schuldramen  solche  Stücke  verlangt, 
welche  die  'Fehler  und  Heldentaten  der  Jugend'  behandeln.^  — 
Übrigens  erkennt  Herder  Diderots  Verdienste  im  Kampfe  gegen 
die  pseudoklassische  Tragödie  an.  Die  Tragödie  —  sagt  er  — 
sei  nicht  für  eine  Monarchie  wie  Frankreich,  nicht  für  die  alle 
Leidenschaften  auflösende  französische  Sprache.  (Vgl.  bei  Diderot: 
Tragödie:  eine  republikanische,  Komödie:  eine  monarchistische 
Kunstgattung.)*  Beide  schwärmen  für  den  'stummen  Augenblick 
der  Bühne',  für  das  'edle  Komische'.^  'Welche  Schule  der  Sitten 
ist  in  der  Welt  besser  als  Theater!' ß  ruft  Herder  aus,  um  'Di- 
derots Stimme  zu  verstärken'.'^ 

Wie  vom  Drama,  so  verlangt  Herder  auch  von  der  Oper 
Rührung  des  menschlichen  Gemüts.  Darum  tadelt  er  die  'Zahl- 
meisterei', in  welche  die  Theorie  der  Musik  unter  den  Händen 
Grimms,  D'Alemberts,  Rameaus  und  Diderots  entartet;  im  Gegen- 
satze zu  den  'Principes  de  l'acoustique'  des  letzteren  legt  er 
mehr  Gewicht  auf  die  Melodie  als  auf  die  Harmonisierung.  §  Der 
Unterschied  zwischen  Herders  und  Diderots  Standpunkt  ist,  daß 
Diderot  sich  mehr  für  die  Technik  der  Musik  interessiert,  Herder 
aber  mehr  für  den  ästhetischen  Genuß,  den  sie  uns  bietet.  Doch 
kommen  sie  darin  überein,  daß  die  französische  Oper  weder  'mensch- 


1  Zwei  Hauptrichtungen  ihrer  Kunsttheorie  haben  Diderot  und  Herder 
mit  Lessing-  gemein:  1)  das  Streben  auf  Grenzscheidung  zwischen  den 
Künsten;  2)  die  Hervorhebung  des  wichtigen  Umstandes,  daß  der  Künstler 
nur  ein  einziges  Moment  des  immer  veränderlichen  Lebens  besitzt,  das  er 
verewigen  soll  ('Erstes  Wäldchen'  in  SWS.  III  vgl.  mit  'Essai  sur  la  pein- 
ture' in  Assezat  X,  S.  499). 

2  SWS.  II,  315  ff.,  II,  207—27  und  A.  Köschmieder:  'Herders  theoreti- 
sche Stellung  zum  Drama',  'Bresl.  Beitr.',  N.  F.,  Heft  35,  Stuttgart  1913,  S.  41. 

3  Köschmieder:  S.  C9.  *  Köschmieder:  S.  125.  5  gws.  II,  221  ff.  und 
Köschmieder:  S.  41-43.  e  SWS.  IV,  475  f.  '  SWS.  IV,  483.  «  'Viertes 
Wäldchen'  in  SWS.  IV,  90  f.   und  'Kalligone'  in  SWS.  XXII,  66,  70  f. 


Diderot  und  Herder  73 

lieh'  noch  'einfach'  sei ;  ^  darum  ergreifen  sie  für  die  italienische 
Oper  Partei  2  und  erwarten  von  dem  musikalischen  Ausdruck  der 
wahren  Empfindung  eine  mächtige  moralische  Wirkung. 3 

In  der  I.  Sammlung  der  'Fragmente'  versucht  Herder  die 
Frage  nach  dem  Ursprung  der  Sprache  zu  beantworten,  und  zwar 
im  Anschluß  an  Diderots  'Taubstummenbrief'.  So  unterscheidet 
er  eine  natürliche  und  eine  grammatische  Wortfolge.  Die  natür- 
liche (=  logische)  Wortfolge  nennt  zuerst  den  Gegenstand,  dann 
das,  was  man  davon  aussagt;  sie  hat  keine  Inversionen,  und  so 
kann  sie  mit  Recht  eine  'philosophische'  Wortfolge  genannt  werden. 
(Vgl.  SWS.  I,  190—91  mit  Assezat  I,  3öl  u.  360.)  Herder  hebt 
die  Wichtigkeit  der  Betonung  hervor  und   führt  ein   Beispiel  an: 

'Ein Beispiel:  Fleuch  die  Schiangel  'serpentem  fuge  ...' 
ruft  mir  jemand  zu,  der  mein  fliehen 

zu  seinem  Hauptaugenmerk  hat,  wenn  'L'homme  peureux  ne  songe  qu'au 

ich    nicht    fliehen    wollte.    —    Die  serpent;  mais  celui  qui  craint  moins 

Schlange  fleuch I   ruft  ein  anderer,  le  serpent  qua  ma  perte,  ne   songe 

der  nichts  geschwinder  will,  als  mir  qu'ä  ma  fuite;  Tun  s'effraie,  et  l'autre 

die   Schlange    zeigen;    fliehen    werd  m'avertit.' 
ich  von  selbst,  so  bald  ich  von  ihr 

höre  ...'                  (SWS.  I,  191  f.)  (Assezat  I,  364.) 

Auch  die  Einteilung  der  Sprachgeschichte  in  drei  Perioden  er- 
innert an  Diderots  drei  Entwicklungsstufen  der  menschlichen  Sprache 
(I.  Naturtöne  und  Gebärden;  IL  vernünftige  Sprache;  III.  har- 
monische Ausdrucksweise;  vgl.  SWS.  I,  192  f.  und  Assezat  I,  372). 
—  Schließlich  teilt  Herder  Diderots  Ansicht  über  die  französische 
Sprache,  indem  er  sagt:  '. ..  für  das  poetische  Genie  ist  diese 
Sprache  der  Vernunft  ein  Fluch',  und  doch  hat  sie  'noch  immer 
viele  Inversionen'  (vgl.  SWS.  I,  194  f.  mit  Assezat  I,  361,  370  — 72). 

In  seiner  'Abhandlung  über  den  Ursprung  der  Sprache' 
(1771)  geht  Herder  weit  über  Diderot  hinaus,  doch  stützt  er  sich 
hie  und  da  auf  'D'Alemberts  Traum'  oder  auf  den  'Taub- 
stummenbrief.     An  jenen  erinnert  die  Theorie  der  'Naturtöne': 

'Selbst  die  feinsten  Saiten  des  Thie-  'Un    animal    etant    un    instrument 

rischen  Gefühls   . . .     Die  geschlagne  sensible  parfaitement  sembiable  ä  un 

Saite    thut    ihre    Natuqiflicht:     sie  autre,   doue   de   U   meme   confor- 

klingtl     Sie  nift   einer  gleichfüh-  mation,    monte    des    memes    cor- 

lenden  Eciio  .. .'  des  . . .' 

'In  allen  Sprachen  tönen  noch  Reste  ' Aussi  trouvez-vous  les  interjections 

dieser  Naturtöne  ...'  ...   les  memes  dans  toutes  les  lan- 

(SWS.  V,  S.  5  f.)  gues  . . .'       (Assezat  II,  115—17.) 

Die  'Abhandlung  über  den  Ursprung  der  Sprache'  enthält  be- 
reits eine  scharfe  Kritik  des  'Taubstummenbriefes';  doch  gibt  es 
manche  Berührungspunkte  zwischen  den  beiden  Werken,  so:  1)  Be- 

1  'Reisejournal',  SWS.  IV,  483  ff. 

2  'Reisejournai',  SWS.  IV,  483,  vgl.  mit  'Entretiens  sur  le  Fils  naturel', 
Assezat  VII,  162  ff.      3  'Adrastea',  SWS.  XXIU,  343  ff. 


74  Diderot  und  Herder 

tonung  des  simultanen  Auftretens  mehrerer  Ideen  (Beispiel!);  2)  Be- 
nennung der  Dinge  nach  ihren  auffallendsten  Eigenschaften;  3)  Ein- 
führung der  rhythmischen  Ordnung  in  die  Sprache  durch  die  Gebärden. 

1)  'Bei  sinnlichen  Geschöpfen,  die 

durch  verschiedne  Sinne  auf  Einmal  (Vgl.  Assezat  I,  370,  367.) 

empfinden,    ist    diese    Versammlung 

von  Ideen  unvermeidlich  . . .'     'Eine  'Monsieur,      considerez      l'homme 

große  wichtige  Uhr,  mit  allen  ihren      comme  un  horloge  ambulant  ...' 

scharfen    Rädern    . . .    (^gleicht    dem) 

Menschen  mit  seinen  Triebfedern  . . .' 

(SWS.  V,  368.)  (Assezat  I,  368.) 

2)  'Der  Baum  wird  Rauscher,   der 
Wind    Säusler,    die    Quelle    Riesler 
heißen  ...'*   (*  Anm.  nur  in  der  spä- 
teren Fassung.)    'Diderot  ist  ...  kaum  (Vgl.  Assezat  I,  350,  382.) 
auf   diese   Hauptmaterie    gekommen, 

da  er  sich  mit  Inversionen  . . .  auf- 
hält' (SWS.  V,  60.) 

3)  'Aber  wie  hat  die  Sprache  ganz 
ohne  Grammatik  bestehen  können? 
Da  gab  die  große  Einstimmung  der 
Geberden   gleichsam   den  Takt,  und 

die    Sphäre,    wohin    es    gehörte   . . .  Grundgedanke  bei  Diderot. 

Diese  Weissagungskunst,  aus  einzel- 
nen Zeichen  Zusammenhang  zu  er- 
rathen  —  wie  weit  können  sie  noch 
nur  Einzelne  Stummen  und  Tauben 
treiben!'  (SWS.  V,  86.)  (Assezat  I,  bes.  S.  35i.) 

Natürlich  kann  aber  bei  Herder  von  einer  sklavischen  Nach- 
ahmung nicht  die  Rede  sein.  Wenn  Diderot  ihm  neue  Gesichts- 
punkte gibt,  so  hat  Herder  immer  das  Verdienst,  diese  Gesichts- 
punkte seiner  Anschauungsweise  anzupassen;  auch  geht  er  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  über  seinen  Gewährsmann  hinaus  und  schuldet 
ihm  nichts  mehr  als  einige  Steine,  mit  denen  er  auf  Grund  selb- 
ständiger Ideen  sein  Lehrgebäude  schöpferisch  errichtet,  i 

Debreczen.  Johann  Hankiss. 


'  In  der  Philosophie  sind  beide  Vertreter  des  Leibnizschen  Dynamismus ; 
beide  stehen  im  Rufe  von  'Darwinisten';  vgl.  K.  Siegel:  Herder  als  Philo- 
soph, Stuttgart  u.  Berlin  1907.  —  L.  Weis:  Herder  und  die  moderne  Natur- 
philosophie, 'Philos.  Monatshefte',  Bd.  XIV  (1878).  —  Fr.  von  Bärenbach: 
Herder  als  Vorgänger  Darwins,  Berlin  1877. 

Als  Pädagogen  betonen  beide  die  Anschaulichkeit  des  Unterrichts  und 
den  innigen  Zusammenhang  der  Schule  mit  dem  Leben;  sie  möchten  die  la- 
teinische und  die  griechische  Sprache  wie  moderne  Sprachen  behandelt  wissen. 
Nicht  die  Ausbildung  des  Verstandes,  sondern  die  des  Gemüts  und  der  mo- 
ralischen Anlagen  des  Menschen  soll  der  Zweck  der  Erziehung  sein.  — 
Doch  können  diese  Übereinstimmungen  höchstens  als  ein  Beweis  für  die 
geistige  Verwandtschaft  der  beiden  betrachtet  werden,  da  Diderots  pädago- 
gische Schriften  erst  später  erschienen  sind  (s.  Assezat  III  u.  IV). 


Goethes  älteste  Gedichtsammlung. 

Die  im  folgenden  erörterten  Betrachtungen,  Probleme,  Zweifel, 
Ergebnisse  traten  mir  zuerst  im  Sommer  1910  nahe,  als  ich 
für  Lietzmanns  Sammlung  kleiner  Texte  für  theologische  und 
philologische  Vorlesungen  und  Übungen  einen  Abdruck  der 
ersten,  zunächst  für  Charlotte  von  Stein  in  der  ersten  weimari- 
schen Zeit  zusammengestellten  handschriftlichen  Gedichtsamm- 
lung Goethes  (in  der  Weimarischen  Ausgabe  mit  H  ^  bezeichnet) 
auf  Grund  der  1908. in  den  Schriften  der  Goethegesellschaft  er- 
schienenen Faksimile-Wiedergabe  vorbereitete  und  herausgab 
(Bonn  1910).  Daß  in  diesem  Gedichthefte  nicht  alles  von  Goethes 
Hand  herrührt,  lehrt  auch  schon  eine  oberflächliche  Betrachtung, 
besonders  der  Interpunktionszeichen,  und  auch  dem  Herausgeber 
Wähle  war  das  natürlich  nicht  entgangen,  der  bereits  hervorhob 
(S.  23):  'Auch  die  sehr  mangelhafte  Interpunktion  ...  ist  von 
einer  fremden  Hand  gebessert  und  bereichert',  und  mit  Recht 
schon  erwog,  ob  vielleicht  Herder  oder  etwa  Wieland  hier  als 
mphr  oder  weniger  pedantischer  Korrektor  anzunehmen  sei.  Ein- 
gehendes genaues  Studium  nicht  nur  der  Zeichen,  sondern  auch 
der  Texte  im  einzelnen  und  kleinsten  lehrte  mich,  daß  diese  frem- 
den Eingriffe  an  vielen  Stellen  noch  tiefer  reichen,  als  man  zu- 
nächst annehmen  konnte,  und  daß  Wähle  in  der  Beurteilung 
Goetheschen  Eigentums  an  diesen  Korrekturen  vielfach  nicht 
skeptisch  genug  gewesen  ist  Ich  bekam  schließlich  den  schmerz- 
lichen Eindruck,  daß  der  Dichter  sein  ursprünglich  als  Gabe  der 
Liebe  an  die  Freundin  gedachtes  und  so  auch  von  ihr  empfange- 
nes lyrisches  Heft  später  recht  unbarmherzig  und  grausam  hat 
zurichten  lassen,  ein  Eindruck  im  kleinen,  wie  ihn  die  italieni- 
schen Briefe  im  großen  erwecken,  bei  denen  Erich  Schmidt  tref- 
fend von  einer  'Objektivierung  des  Vergangenen'  sprach,  'die 
beim  ersten  Anblick  etwas  Erschreckendes  hat  und  ohne  welche 
doch',  wie  er  entschuldigend  hinzusetzt,  'ein  Leben  und  Wirken 
wie  das  Goethesche  undurchführbar  wäre'  ('Tagebücher  und 
Briefe  Goethes  aus  Italien'  S.  XXIII).  Das  Ideal,  das  mir  da- 
mals bei  meinem  Abdruck  vorschwebte,  war  kein  anderes,  als  den 
Versuch  zu  wagen,  alle  diese  fremden  Bestandteile  der  Hand- 
schrift auszumerzen  und  die  ursprüngliche  Gestalt  der  Texte 
wiederherzustellen,  wie  sie  aus  Goethes  Feder  geflossen  waren, 
ein  Ideal  freilich,  das  wie  jedes  Ideal  im  einzelnen  unerreichbar 
bleiben  muß,  so  sehr  auch  der  Annäherungsversuch  gelungen  und 
der  Wunsch  erfüllt  erscheinen  mag.  Wenn  ich  jetzt  dazu  komme, 
das  damals  gegebene  Versprechen  einer  genaueren  Darlegung  die- 


76  Goethes  älteste  Gedichtsammlung 

ser  Probleme  und  Zweifel  einzulösen,  so  sei  es  mir  bei  der  Natur 
der  zu  behandelnden  Fragen,  die  in  das  Kleine  und  Kleinste  der 
philologischen  Betrachtung  hinabsteigen  müssen,  gestattet,  den 
Weg  einer  streng  systematischen  Methode  zu  vermeiden  und,  an 
die  einzelnen  Gedichte,  soweit  ich  sie  zu  behandeln  vorhabe,  an- 
knüpfend, mich  freier  zu  bewegen.  Wem  eine  Untersuchung  wie 
die  vorliegende  wertlos  oder  überflüssig  erscheint,  dem  halte  ich 
mit  Bernays  in  seiner  geistvollen  Abhandlung  'Zur  Lehre  von 
den  Zitaten  und  Noten'  ('Schriften  zur  Kritik  und  Literatur- 
geschichte' 4,  345)  Lessings  Worte  entgegen  (Wie  die  Alten  den 
Tod  gebildet:  'Sämtliche  Schriften'  11,  3):  'Die  Wichtigkeit  ist 
ein  relativer  Begriff,  und  was  in  einem  Betracht  sehr  unwichtig 
ist,  kann  in  einem  andern  sehr  wichtig  werden.  Als  Beschaffen- 
heit unsrer  Erkenntnis  ist  dazu  eine  Wahrheit  so  wichtig  als  die 
andere,  und  wer  in  dem  allergeringsten  Dinge  für  Wahrheit  und 
Unwahrheit  gleichgültig  ist,  wird  mich  nimmermehr  überreden, 
daß  er  die  Wahrheit  bloß  der  Wahrheit  wegen  liebet.' 

1.  'Mahomets  Gesang.'  Schon  dies  erste  Gedicht  gibt  ein 
deutliches  Bild  von  den  beiden  in  unserm  Gedichthefte  beleg- 
baren Interpunktionsgruppen,  der  ursprünglichen,  von  Goethe 
stammenden  und  der  jüngeren,  apokryphen,  von  fremder  Hand 
eingesetzten.  Der  junge  Goethe  war  sehr  sorglos  in  der  Zeichen- 
setzung, wovon  man  sich  in  Morris'  'Jungem  Goethe'  ein  erschöp- 
fendes Bild  machen  kann,  und  auch  der  mittlere  und  ältere,  der 
in  der  Regel  ja  diktierte,  würde  sich  bei  einem  Schulmeister  von 
heute  manche  schlechte  Zensur  holen.  Wir  sind  heute  durch  den 
Schulunterricht  in  dieser  Hinsicht  logisch-intellektuell  gebildet 
oder  vielleicht  auch  verbildet  und  gestatten  metrisch-rhythmi- 
schen oder  Gefühlswerten  keinen  Einfluß  auf  die  Interpunktion, 
scheren  daher  auch  poetisch-musikalischen  und  wissenschaftlich 
abhandelnden,  lehrenden  und  erzählenden  Stil,  auch  Tempounter- 
schiede, Staccato  und  Legato  roh  vernachlässigend,  unbekümmert 
über  einen  Kamm.  Goethes  Grundsätze  auf  diesem  Gebiete  ver- 
dienten eine  eingehende  Untersuchung:  dürftige  Bemerkungen  gibt 
Lehmann  ('Goethes  Sprache  und  ihr  Geist'  S.  376),  dem  aller- 
dings 1852  noch  so  gut  wie  gar  kein  handschriftliches  Material 
vorlag,  brauchbare  Burdach  (Werke  6,  358;  'Goethes  eigenhän- 
dige Reinschrift  des  Westöstlichen  Divan'  S.  20),  Minor  (Werke 
38,  189)  und  Schröder  ('Göttinger  Nachrichten'  1905  S.62).  Im 
Mannesalter  setzt  er  in  die  Diktate  seiner  Schreiber  mehr  oder 
weniger  regelmäßig  gegen  unsre  Gewohnheit  Kommata  ein,  die 
kurze  phonetische  Pausen  am  Ende  von  Sprechtakten  markieren 
sollen,  und  meidet  umgekehrt  Kommata,  an  die  wir  vom  logischen 
Standpunkte  aus  gewöhnt  sind,  an  Stellen,  wo  offensichtlich  weder 


Goethes  älteste  Gedichtsammlung  77 

damals  noch  heute  eine  Sprechpause  vorhanden  ist,  wie  z.  B.  vor 
und  nach  dem  Vokativ,  vor  dem  Relativpronomen,  vor  und  nach 
der  Apposition.  Ausrufungs-  und  Fragezeichen,  die  er  ihres 
pathetisch-deklamatorischen  Wertes  wegen  den  farbloseren,  mehr 
logisch  trennenden  Zeichen  gegenüber  bevorzugt,  sind  nicht  streng 
geschieden,  was  sich  aus  der  Beobachtung  der  lebendigen  Sprache 
ohne  weiteres  erklärt;  Gänsefüßchen  zur  Hervorhebung  direkter 
Rede  werden  selten  und  ganz  unregelmäßig  gebraucht,  wie  noch 
der  sich  an  die  Ausgabe  C  eng  anschließende  Usus  der  weimari- 
schen Ausgabe  zeigt.  In  der  auch  in  diesem  Betracht  sorgloseren 
Jugendzeit  ist  natürlich  noch  weniger  System  und  Grundsatz  zu 
finden,  und  zumal  bei  Versen  kommen  höchstens,  und  auch  das 
unvollkommen,  psychologisch-deklamatorische  Absichten  verein- 
zelt zur  Geltung.  Vers-  und  Strophenschlüsse  involvieren  an 
sich  schon  Pausen  im  Vortrag,  da  modernes,  pseudo-realistisches 
Verdecken  und  Verschmieren  der  metrischen  Kola  und  der  Vers- 
grenzen glücklicherweise  noch  unbekannt  war,  bedürfen  also 
keiner  Interpunktion.  Die  sprechenden  Beweise  für  alle  diese 
Bemerkungen  sind  in  Fülle  den  späteren  Gedichten  unsrer  Hand- 
schrift unschwer  zu  entnehmen,  bis  zu  denen  der  zeichensetzende 
Eifer  der  fremden  Hand  nicht  vorgedrungen  ist.  Des  Dichters 
absolute  Unbekümmertheit  um  dies  äußere  Gewand  seiner  Schöp- 
fungen zeigt  recht  deutlich  ein  eine  Liedersendung  begleitender 
Brief  an  den  Herausgeber  der  'Iris',  in  dem  es  heißt  ('Der  junge 
Goethe'  4,  150):  'Interpunktieren  Sie  doch  die  Liedchen,  wies  dem 
Leser  am  vorteilhaftesten  ist.'  Und  Heinse,  der  die  Korrekturen 
der  'Iris'  besorgte,  entfährt  denn  auch  in  einem  Briefe  an  Georg 
Jacobi  über  Goethes  'Erwin  und  Elmire'  der  Stoßseufzer  ('Sämt- 
liche Werke'  9,  238):  'Jetzt  hab'  ich  zween  Bogen  Korrektur  vor 
mir  liegen,  in  Göthens  Operette  Komma,  Kolon,  Semikolon  und 
Punktum  zu  machen,  Ausrufungszeichen  in  Fragezeichen  zu  ver- 
wandeln, zz  in  tz  und  desgleichen.' 

Ich  sagte,  schon  das  erste  Gedicht  gebe  ein  deutliches  Bild 
von  den  beiden  Interpunktionsgruppen,  der  Goetheschen  und  der 
fremden.  Neben  schlanken,  zarten,  graziösen  Zeichen,  die  zu  dem 
Charakter  der  Schriftzüge  selbst  vortrefflich  passen  (Ausrufungs- 
zeichen 3.  35.  36.  49.  52.  53.  56,  Kommata  14.  51.  55.  58.  65), 
stehen  eckige,  dicke,  ungeschickte  (Kommata  10.  23.  24.  36.  38. 
40.  44.  46.  61.  62,  Kola  25.  29.  32,  Semikolon  42,  Apostroph  44, 
Ausruf ungszeichen  41  eingeklemmt.  48):  nur  jene  sind  aller 
Augenscheinlichkeit  nach  echt,  diese  apokryph.  Daß  der  Augen- 
schein hier  nicht  trügt,  kann  zudem  noch  streng  erwiesen  werden. 
Wähle  hat  (S.  10)  gezeigt,  daß  der  kleine  Quartband  mit  Ab- 
schriften Goethescher  Gedichte  aus  dem  Nachlaß  der  Frau  von 
Stein,  von  dem  zuerst  Düntzer  ('Archiv  für  Literaturgeschichte' 


78  Goethes  älteste  Gedichtsammlung 

6,  96)  Bericht  gegeben  hat,  me  schon  die  Anordnung  zeigt,  als 
Kopie  unsrer  Handschrift  anzusehen  ist:  er  gibt  also,  von  Ver- 
sehen der  Schreiberin  abgesehen,  unser  Heft  so  wieder,  wie  es 
sich  vor  dem  Eingriff  der  fremden  Hände  darstellte.  Ich  habe 
seinerzeit  den  ganzen  Band  bei  Gelegenheit  eines  Aufenthalts  in 
Kochberg  durchverglichen  und  dabei  der  Interpunktion  der  Kopie 
besondere  Aufmerksamkeit  gewidmet:  die  Resultate  dieser  Ver- 
gleichung  kann  ich  in  diesem  Zusammenhange  verwerten.  In 
unserra  Gedicht  nun  hat  die  Kopie  der  Frau  von  Stein  nur  die"" 
oben  als  echt  erkannten  Interpunktionszeichen,  während  alle  die- 
jenigen fehlen,  die  sich  dem  Augenschein  als  apokryph  ergeben 
haben.  Auch  der  Gedankenstrich  53,  bei  dem  man  zweifelhaft 
sein  konnte,  wird  durch  die  Kopie  als  echt  erwiesen. 

Die  Kopie  der  Frau  von  Stein  lehrt  femer,. da  auch  sie  die  Les- 
arten 'weitverbreiten'  39,  'über'  60  (vgl.  Wähle  S.  23)  und  'SeegeF 
67  hat,  daß  die  an  diesen  drei  Worten  vorgenommenen  Korrek- 
turen jüngeren  Datums  sind.  Sind  sie  überhaupt  vom  Dichter 
selber  vorgenommen?  Zwar  das  'vorüber'  zeigt  das  für  Goethes 
Hand  in  allen  Lebensaltern  charakteristische,  weit  nach  oben 
ausladende  v.  Aber  bei  den  beiden  andern  Korrekturen  habe  ich 
ernste  Zweifel:  'Seegel'  schreibt  Goethe  auch  in  der  'Seefahrt'  15. 

17.  32;  warum  sollte  er  es  hier  geändert  haben?  Die  Einsetzung 
von  'weitverbreiteten'  für  'weitverbreiten'  (der  erste  Druck  im 
Musenalmanach  hat  'weitverbreit'ten')  zerstört  den  Rhythmus,  der 
daktylische  Versfüße  prinzipiell  ausschließt,  ist  also  eine  pedan- 
tische, nur  für  das  isolierte  Wort  gedachte  Änderung,  die  einen 
Vulgarismus  oder  eine  altertümliche  Freiheit  ohne  Rücksicht  auf 
die  Deklamation  beseitigt:  ich  glaube,  man  kann  das  dem  Dichter 
schwerlich  zutrauen;  auch  die  Züge  der  Buchstaben  sind  un- 
goethesch.  In  der  Göschenschen  Ausgabe  der  'Schriften'  ist  denn 
auch  'ausgespannten'  eingesetzt  worden,  d.  h.  die  Altertümlich- 
keit zwar  beseitigt,  aber  der  Rhythmus  des  Verses  nicht  zerstört. 
—  Zu  beachten  ist  noch  die  Lesart  'Turne'  61,  zumal  sie  im  Les- 
artenapparat der  Weimarischen  Ausgabe  (2,  306)  übersehen  wor- 
den ist.  Der  Musenalmanach  hat  'Türme',  was  Lesefehler,  aber 
ebensogut  auch  eigenmächtige  Besserung  Boies  sein  kann.  'Turn' 
ist  die  dem  jungen  und  älteren  Goethe  geläufige  Form,  nicht  nur 
im  'Gottfried'  und  'Götz  von  Berlichingen',  wo  die  Quelle  beein- 
flussen konnte  ('Der  junge  Goethe'  2.  214.  221.  225.  242.  243. 
246.  255.  3,  186.  235.  241.  248.  251.  252.  262.  268.  274.  279.  280), 
sondern  auch  sonst  (ebenda  2,  301.  4,  8.  100.  5,  263.  291.  317), 
selbst  noch  vereinzelt  in  italienischer  Zeit  (Tagebücher  1,  310; 
Briefe  8,  230)  und  im  'Divan'  (Werke  6,  269:  vgl.  ferner  8,  349. 
356.   11,  402.     12,  364.  366.   13,  2,  176.  196.  271.  328.  332.  337. 

18,  2,  110.  111.  151.  17,  343.  51,  29);  ebenso  'Türner'  ('Der  junge 


Goethes  älteste  Gedichtsammlung  79 

Goethe'  2,  154.  227.    3,   17.  74.  184.  253;  Werke  14.  227.    15, 
2,  150). 

Xoch  weitere  fremde  Bestandteile  sind  in  der  Handschrift  zn 
erkennen,  für  die  uns  freilich  leider  die  Kopie  der  Frau  von  Stein 
keine  Dienste  als  Kronzeugin  leisten  kann.  Es  ist  längst  bekannt, 
daß  Goethe  bis  ins  höchste  Alter  (noch  die  durch  das  Faksimile 
in  den  Schriften  der  Goethegesellschaft  teilweise  weiteren  Krei- 
sen bekannt  gewordene  Reinschrift  des  'Divan'  und  zahlreiche 
späte  Niederschriften  in  lateinischen  Buchstaben  geben  Belege) 
die  Eigenheit  oder  sagen  wir  ruhig  Unart  nicht  loswurde,  die 
Umlautsbezeichnungen  der  Vokale,  besonders  der  Majuskelvokale 
nach  Belieben  hie  und  da  wegzulassen,  also  mit  andern  Worten 
o,  0.  u  statt  ä,  ö,  ü  zu  schreiben  (vgl.  darüber  und  über  die  kri- 
tische Behandlung  solcher  Fälle  beim  Abdruck  von  Handschriften 
Schröders  Ausführungen  in  den  'Göttinger  Nachrichten'  1905 
S.80).  Unser  lyrisches  Heft  bietet  eine  Fülle  von  Beispielen,  die 
in  meinem  Abdruck  gebührenderweise  in  den  Lesartenapparat 
verwiesen  worden  sind.  Das  erste  Gedicht  zeigt  hierin  Verschie- 
denheiten: neben  der  gewöhnlichen  Umlautsbezeichnung  durch 
einen  einzigen,  mehr  oder  weniger  deutlich  runden  oder  eckigen 
Kringel,  die  vom  Dichter  selbst  herrührt,  finden  sich  einmal  (28) 
zwei  deutlich  nebeneinanderstehende  dicke  Punkte,  ein  anderes 
Mal  (34,  vgl.  dasselbe  Wort  'Gebürgen'  51)  zwei  deutlich  neben- 
einanderstehende zarte  Strichelchen  (ob  36  dieselbe  Hand  am 
Werke  war,  möchte  ich  nicht  mit  absoluter  Sicherheit  behaupten). 
Beide  Bezeichnungsweisen  weichen  von  dem  vorher  erwähnten 
Usus  Goethes  ab,  und  gerade  in  solchen  Kleinigkeiten,  die  ge- 
dankenlos und  völlig  mechanisiert  hingeschrieben  zu  werden  pfle- 
gen, hat  jedes  Individuum  einen  bestimmten  Typus  der  Form 
parat,  nicht  aber  zwei,  noch  weniger  gar  drei.  Diese  Umlaute 
sind  also  an  den  beiden  zitierten  Stellen  sicher  von  der  Hand 
eines  fremden  Lesers,  den  das  Fehlen  der  Umlautsbezeichnung  m 
'Bache'  und  'Gebürgen'  störte,  eingesetzt  worden.  Kann  man 
wissen,  von  wem  das  geschehen  sein  mag?  Herder,  dessen  Bei- 
hilfe für  die  Interpunktion  Wähle  (S.  23)  für  möglich  hält,  ist 
hier  sicher  ausgeschlossen,  da  er  wie  Goethe  den  einzigen  Krin- 
gel für  die  Bezeichnung  der  Umlaute  verwertet,  wie  schon  die 
Faksimiles  in  Könneckes  Bilderatlas  zeigen.  Dagegen  melden 
sich  für  die  beiden  sauberen  Strichelchen,  in  Reih'  und  Glied 
nebeneinandergesetzt,  zwei  Anwärter:  Wieland  und  Frau  von 
Stein.  In  dem  Faksimile  aus  Wielands  'Clelia  und  Sinibald'  (bei 
Könnecke  S.  245)  finden  sich  diese  schlanken,  pedantisch  ge- 
strichenen Strichelchen  regelmäig  über  a,  u  und  v  (über  o  be- 
vorzugt Wieland  den  einzigen  Kringel,  hatte  also,  wie  es  scheint, 
für   die  verschiedenen   Vokale  verschiedene   Typen   parat);    die 


80  Goethes  ältest«  Gedichtsammlung 

Kopie  der  Frau  von  Stein,  die  mit  gleich  spitzer  Feder  geschrie- 
ben ist  wie  unsre  Striche  in  Vers  34,  zeigt  durchweg  diese  zier- 
liche Art  der  Umlautsbezeichnung.  Spiegeln  sich  nicht  in  dieser 
winzigen  Kleinigkeit  die  Temperamente  der  vier  Personen?  Neben 
Goethes  und  Herders  Leidenschaftlichkeit  steht  Wielands  etwas 
pedantische  Sorgfalt  und  Charlotte  von  Steins  kühle  Ruhe.  Der 
letzteren  möchte  ich  persönlich  die  Verantwortung  für  die  Zei- 
chen, deren  Fehlen  ihr  beim  wörtlichen  Abschreiben  auch  noch 
intensiver  als  einem  einfachen  Leser  auffallen  mußte,  noch  lieber 
zuschieben  als  Wieland,  von  dem  wir  nicht  wissen,  ob  er  über- 
haupt jemals  unser  Ij^risches  Heft  in  Händen  gehabt  hat;  aber 
wissen  wir  alles,  was  wir  wissen  möchten? 

Damit  aber  auch  nicht  das  kleinste  Strichelchen  unbeachtet 
und  unglossiert  bleibe,  werfen  wir  schließlich  noch  einen  kurzen 
Blick  auf  Vers  31:  vor  dem  Worte  'silberprangend'  findet  sich 
dort  in  der  Höhe  der  Zeile  der  Ansatz  eines  Buchstabens,  der 
nach  dem  Duktus  der  Goetheschen  Hand  wohl  nicht  gut  etwas 
andres  hat  werden  sollen  und  können  als  ein  großes  S.  Das 
Wort  'silberprangend'  sollte  also  im  ersten  Moment  mit  großem  S 
geschrieben  werden,  wie  wenn  es  einen  Vers  eröffnete,  obwohl 
es  mitten  im  Verse  steht.  Man  könnte  hierin  zunächst  nichts  wei- 
ter als  einen  Beleg  für  eine  orthographische  Gewohnheit  der  da- 
maligen Zeit  erblicken,  adjektivische  Komposita,  deren  erster 
Bestandteil  ein  Substantivum  ist,  groß  zu  schreiben:  mir  ist  eine 
andre  Auffassung  in  diesem  Falle  wahrscheinlicher.  Diese 
Tatsache  erlaubt  uns,  wie  ich  glaube,  einen  Schluß  auf  die  Vor- 
lage, aus  der  Goethe  das  Gedicht  abgeschrieben  hat.  Wie  hat 
man  sich  überhaupt  diese  Vorlagen  zu  denken?  Wähle  läßt  ihn 
(S.  22)  'aus  älteren  Handschriften,  aus  Musenalmanachen,  Mo- 
natsschriften und  sonstigen  Werken,  wo  sie  zuerst  gedruckt  wor- 
den waren'  die  Gedichte  abschreiben.  Ich  habe  mich  immer  ge- 
wundert, daß  hier  einer  andern  Möglichkeit,  einer  Niederschrift 
aus  dem  Gedächtnis  gar  nicht  gedacht  wird,  die  mir  mindestens 
ebenso  plausibel  scheint,  zumal  eine  solche  bei  der  für  die  'Iris' 
bestimmte  Gedichtsendung  vom  L  Dezember  1774  ausdrücklich 
bezeugt  ist  ('Der  junge  Goethe'  4,  150).  Haben  wir  doch  weiter 
eine  Äußerung  Wielands  gegen  Böttiger  aus  dem  November  1794, 
worin  er  sich  über  sein  schlechtes  Versgedächtnis  beklagt,  sowohl 
für  eigene  wie  für  fremde  Dichtungen,  und  fortfährt  (Böttiger, 
'Literarische  Zustände  und  Zeitgenossen'  1,  144):  'Ganz  anders 
sei  es  mit  Goethe:  dieser  wisse  fa^t  alle  seine  Werke  auf  den 
Nagel  herzusagen;  denn,  setzte  er  hinzu,  es  sind  Emanationen 
seines  Ichs,  das  er  unbeschränkt  lieb  hat.'  In  dieser  extremen 
Form  ist  das  natürlich  übertrieben,  auch  muß  man  Wieland,  der 
besonders  in  Böttigers  Gesellschaft  gar  zu  gern  lästerte,  die  bos- 


I 


Goethes  älteste  Gedichtsammlung  81 

hafte  Begründung  zugute  halten,  aber  der  Kern  der  Behauptung 
bleibt  jedenfalls  bestehen,  daß  Goethe  viele  seiner  Dichtungen 
frei  reproduzieren  konnte  und  nicht  auf  die  Hilfe  des  Papiers 
angewiesen  war,  sei  dies  nun  beschrieben  oder  bedruckt  gewesen. 
Unser  Gedicht  jedenfalls  wurde  aus  einer  sichtbaren  Quelle,  nicht 
aus  dem  Gedächtnis  reproduziert:  das  beweist  der  verräterische 
Ansatz  des  großen  S.  'Mahomets  Gesang'  hat,  was  man  natür- 
lich längst  beachtet  hat  (vgl.  schon  Wähle  S.  16;  ganz  kürzlich 
hat  Seuffert  in  einem  zu  Steinmeyers  70.  Geburtstag  veranstal- 
teten Privatdruck  das  ästhetische  Problem  dieses  Form  wandeis 
feinsinnig  behandelt),  in  unserm  Heft  eine  Umarbeitung  er- 
fahren, bei  der  die  ursprüngliche  Dialogform  verschwand  und 
auch  in  der  Abteilung  der  Verse  eine  Reihe  Änderungen  ein- 
traten (vgl.  meinen  Lesartenapparat).  Das  Wort  'Silberpran- 
gend' nun  bildete  in  der  älteren  Fassung  einen  Vers  für  sich  und 
begann  daher  mit  großem  S:  eine  Handschrift  oder  den  Druck  im 
Musenalmanach  hatte  Goethe  vor  Augen,  als  er  die  umgearbeitete 
Form  des  Hymnus  in  unser  Heft  eintrug,  und  aus  einer  rein 
mechanischen  Übernahme  diesem  großen  S  erklärt  sich  der  momen- 
tane Lapsus  der  Feder,  der  nicht  über  den  ersten  Anfang  des 
Buchstabens  hinausgeführt  wurde.  So  kann  auch  einmal  ein 
scheinbar  bedeutungsloser  Strich,  philologisch  ausgedeutet,  wert- 
voll werden  und  den  AVeg  zu  einem  Probleme  weisen. 

2.  'Wanderers  Sturmlied.'  Dies  Gedicht  zeigt  ein  ganz 
ähnliches  Bild  wie  das  vorige:  eine  fremde  Hand  hat,  wenn  auch 
nicht  sehr  ausgiebig,  die  Zeichensetzung  bereichert  durch  Zei- 
chen, deren  äußere  Form  wieder  in  derselben  Weise  sich  von 
den  echten,  ursprünglichen  Zeichen  Goethes  deutlich  abhebt. 
Auch  hier  sind  die  Xachhilfen  der  Interpunktion  mehr  gelegent- 
lich, Konsequenz  ist  nirgends  erstrebt.  Als  Bestätigung  und 
Kontrolle  der  Okularinspektion  der  Handschrift  dient  uns  wäeder 
die  Kopie  der  Frau  von  Stein.  Als  apokrj^phe  Kommata  erwei- 
sen sich  so  L  4.  23.  28.  45.  47.  48,  mit  einer  einzigen  Ausnahme, 
die  einem  Relativsatz  zugute  kommt,  sämtlich  der  logischen  Ab- 
trennung des  Vokativs  gewidmet.  Apokryphe  Fragezeichen 
stehen  40  (dies  sehr  sonderbar  gestaltete  Zeichen  sieht  seiner  sehr 
eckigen  Form  nach  am  ehesten  wie  ein  Fragezeichen  aus,  das 
jemand  aus  einem  ursprünglich  vorhandenen  Ausrufungszeichen 
in  ungeschickter  Weise  umgewandelt  hat;  die  Feder  erinnert, 
zart  und  spitz,  an  die  Umlautstrichelchen  in  'Mahomets  Gesang'; 
die  Kopie  der  Frau  von  Stein  hat  hier  allerdings  keine  Inter- 
punktion). 44.  51,  apokryphe  Apostrophe  50.  106.  Demgegen- 
über haben  als  echte  Interpunktionszeichen  zu  gelten  die  Kom- 
mata 16.  25.  30.  39.  41.  43.  55.  72.  76.  81.  85.  90.  102.  108,  die 
Ausrufungszeichen  28.   29.  59.   61.  75.  76.   110.   111.   116,  das 

Archiv  f.  n.  Sprachen.     Sonderheft.  g 


82  Goethes  älteste  Gedichtsammlung 

Fragezeichen  110,  der  Apostroph  108.  Auch  der  Korrektor  der 
vernachlässigten  Umlaute  ist  mit  seinen  zwei  sorgsamen  Strichel- 
chen wieder  ein  paarmal  zu  erkennen  (10.  49.  66.  89).  —  Bei" 
Vers  15  'Über  Deukalions  Flutschlamm'  findet  sich  am  Rande 
des  Blattes  ein  Strich,  dessen  Wähle  (S.  23)  gedenkt,  ohne  eine 
Erklärung  zu  versuchen.  Ich  glaube  für  diesen  Strich  mit  voller 
Sicherheit  Frau  von  Stein  verantwortlich  machen  zu  können.  Der 
Name  Deukalion,  der  obenein  mit  einem  eher  klein  als  groß  zu 
beurteilenden  d  geschrieben  ist,  in  dem  außerdem  der  M-Bogen 
mit  dem  oberen  Teil  des  h  zusammengeflossen  ist,  war  ihr  ent- 
weder ganz  unbekannt  oder  doch  nicht  deutlich  lesbar:  sie  setzte 
daher,  zumal  auch  auf  dem  Wege  vom  u  zum  k  die  Feder  aus- 
gesetzt hatte  und  ein  kleiner  leerer  Zwischenraum  entstanden 
war,  'den  Kaiions'  in  ihre  Kopie,  wie  schon  Düntzer  ('Archiv'  6, 
100)  mitgeteilt  hat,  und  scheute  sich  im  beneidenswerten  Bewußt- 
sein ihrer,  wie  sie  glaubte,  richtigen  Entzifferung  nicht,  durch 
Einsetzung  eines  kühnen  Bogens  aus  dem  kleinen  k  ein  großes 
zu  machen.  Von  ihrer  Hand  stammt  dann  natürlich  auch  der 
Strich  am  Rande,  der  den  Fehler  des  Schreibers  wie  im  Extem- 
porale eines  Schülers  markieren  sollte. 

An  sechs  Stellen  finden  sich  Korrekturen  im  Texte,  von 
denen  aber  sicher  nur  zwei  auf  Goethe  selbst  zurückgehen,  und 
zwar  stellen  sie  Änderungen  dar,  die  unmittelbar  nach  der  Nie- 
derschrift vorgenommen  worden  sind,  denn  beide  sind  schon  in 
die  Kopie  der  Frau  von  Stein  m,it  übergegangen.  43  ist  'um- 
wärmend' für  'erwärmend'  (im  Lesartenapparat  der  weimarischen 
Ausgabe  2,  310  ist  fälschlich  'wärmend',  die  Lesart  des  ersten 
Drucks  in  den  'Nordischen  Miszellen'  von  1810,  auch  als  ur- 
sprüngliche Lesart  von  H  ^  angegeben)  eingetreten;  68  hat  der 
Dichter  das  'Grün',  das  er  zunächst  in  Übereinstimmung  mit 
älteren  Handschriften,  (der  an  Jacobi  und  der  an  Sophie  La- 
roche gesandten:  vgl.  Werke  2,  310  und  Steig  im  'Jahr- 
buch des  freien  deutschen  Hochstifts'  1910  S.  337)  geschrie- 
ben hatte,  wohl  mit  Rücksicht  auf  das  im  nächsten  Verse  un- 
mittelbar folgende  'grünen'  in  'Kraft'  verändert.  Anders  steht 
es  mit  den  vier  weiteren  Korrekturen  in  unserm  Gedicht,  da  sie 
wiederum  fremder  Hand  zuzuschreiben  sind.  26  ist  'ziehen'  in 
'ziehn'  geändert,  wodurch  der  Rhythmus  ohne  Frage  gebessert 
ist,  und  das  ist  die  Lesart  geblieben  seit  der  Ausgabe  B,  in  der 
Goethe  das  Gedicht,  nachdem  es  1810  unrechtmäßig  veröffentlicht 
war,  zuerst  aufnahm.  Die  ältere  Lesart,  wie  sie  uns  die  an 
Sophie  Laroche  gesandte  Handschrift  und  der  Druck  in  den 
'Nordischen  Miszellen'  übereinstimmend  bewahrt  haben,  war 
'ziehen  sich  die  Musen':  sie  genügte  durch  den  zugefügten  Artikel 
den  rhythmischen  Anforderungen,  die  dort  die  Verwandlung  der 


Goethes  älteste  Gedichtsammlung  83 

zweisilbigen  Verbalform  in  die  einsilbige  wünschenswert  er- 
scheinen ließen,  und  man  muß  die  Möglichkeit  offenhalten,  daß 
in  unsrer  Handschrift,  die,  wie  wir  noch  sehen  werden,  höchst- 
wahrscheinlich auf  einer  geschriebenen  Vorlage  beruht,  der  A'^ers 
genavi  so  lautete  und  der  Artikel  nur  durch  ein  A-^ersehen  aus- 
gefallen ist.  46  ist  'all'  durch  ein  an  der  oberen  Zeile  beigesetztes 
e  in  'alle'  geändert:  das  ist  grammatische  Pedanterie,  wie  sie 
dem  jungen  Goethe  völlig  unmöglich  war,  mit  dessen  Sprach- 
gebrauch dies  unflektierte  'all',  auf  einen  vorangegangenen  Plu- 
ral bezogen,  durchaus  übereinstimmt  (ich  verweise  nur  in  un- 
serm  Heft  auf  'Künstlers  Morgenlied'  2  und  'AVanderer'  129); 
auch  beide  vorhin  genannten  Handschriften  haben  'all'.  49  er- 
weist sich  das  e  in  'umkränzende'  dadurch  als  nachträglichen 
fremden  Zusatz,  daß  es  nicht  mit  dem  vorhergehenden  d  in  einem 
Federduktus  geschrieben  ist,  sondern  isoliert  daneben  steht  (vgl. 
die  Endsilbe  -de  30.  31.  35.  37.  91):  obwohl  alle  sonstigen  Hand- 
schriften und  Drucke  'umkränzende'  haben,  kann  doch  nur  'um- 
kränzend' das  richtige  sein,  denn  die  AVorte  'umkränzend  Selig- 
keit rings  ums  Leben'  sind  Apposition  zu  dem  vorausgehenden 
A^okativ  'Musen  und  Charitinnen'  und  feiern  diese  himmlischen 
AVesen  als  diejenigen,  die  die  Seligkeit  wie  einen  Kranz  rings  um 
das  Leben  herumlegen  und  dadurch  alles  im  Dasein  verherrlichen. 
Endlich  hat  eine  fremde  Hand  58,  wieder  gegen  den  Rhythmus 
des  Averses.  'Phöb  Apoll'  in  'Phöbus  Apoll'  geändert,  ohne  63  die- 
selbe Schlimmbesserung  einzuführen:  gegen  die  übereinstim- 
mende Lesart  aller  Handschriften  ist  diese  pedantische  Änderung 
(und  zwar  merkwürdigerweise  nur  58,  während  63  'Phöb"  ge- 
setzt wurde)  aus  unserm  Heft  in  B  eingedrungen.  AVer  mag 
diese  Pedanterie  auf  dem  Gewissen  haben?  Sicher  wohl  nicht 
Frau  von  Stein,  die  Deukalion  nicht  kannte  und  der  die  antiken 
Namen  wie  der  gesamten  Bildung  der  damaligen  Zeit  überhaupt 
in  erster  Linie  durch  französische  A^ermittlung  bekannt  waren. 
Ich  möchte  sie  am  liebsten  AVieland  zutrauen,  der  beständig  mit 
den  antiken  Dichtern  in  den  Ursprachen  lebte  und  dessen  sorg- 
same Art  am  ehesten  an  einer  solchen  genialen  AA^illkürlichkeit 
Anstoß  nehmen  konnte. 

Eine  Lesart  verdient  noch  unsre  besondere  Aufmerksamkeit, 
weil  sie  wieder  wie  die  'Turne'  in  'Mahomets  Gesang'  im  Lesarten- 
apparat der  weimarischen  Ausgabe  (2,  310)  übersehen  worden 
ist  und  weil  sie  uns  eine  überraschende  und  sehr  sonderbare 
Kühnheit  der  an  der  Antike  herangebildeten  und  so  rasch  er- 
starkten Odensprache  des  jungen  Goethe  (vgl.  auch  Hildebrand, 
'Beiträge  zum  deutschen  Unterricht'  S.  92)  allein  aufbewahrt; 
denn  wenn  man  den  Abdrücken  ganz  trauen  darf,  was  ich  gerade 
in  diesem  Einzelfalle  bei   seiner   Ungewöhnlichkeit  nicht   ohne 


84  Goethes  älteste  Gedichtsammlung 

Bedenken  tun  kann,  findet  sie  sich  sonst  in  keiner  Handschrift 
wieder  (auch  nicht  'Der  junge  Goethe'  2,  124).  Der  dritte  Ab- 
satz beginnt  deutlich  (18):  'Dem  du  nicht  verLässest,  Genius, 
wirst  die  wollnen  Flügel  unterspreiten,  wenn  er  auf  dem  Felsen 
schläft.'  In  der  im  Anfang  der  Absätze  mehrfach  wiederkehren- 
den Refrainzeile  ist  also  der  sonst  überall  stehende,  in  dem  Rela- 
tivsatz allein  berechtigte  Akkusativ  des  Pronomens  von  dem 
Yerbum  des  Hauptsatzes,  das  eine  dativische  Beziehung  verlangt, 
in  den  Dativ  gedrängt  worden,  da  es  zugleich  Demonstrativum 
und  Relativum  zu  vertreten  hat,  eine  grammatische  Erscheinung, 
die  aus  den  klassischen  Sprachen  in  den  mannigfachsten  Formen 
bekannt  ist  und  dort  den  Namen  der  Attraktion  führt.  Jakob 
Grimm  hat  ihr  eine  seiner  weitblickenden  und  feinsinnigen  aka- 
demischen Abhandlungen  gewidmet  ('Kleinere  Schriften'  3,  312), 
m  der  er  sagt  (S.  314):  'Attraktion,  Bächen,  ja  Wassertropfen 
ähnlich,  die,  m^o  sie  sich  nähern,  ineinander  rinnen,  gewährt  die 
ungehemmte  Rede  cler  Griechen  am  meisten,  wenigere  schon  die 
lateinische  . . .  Deutsche  Zunge,  der  von  jeher,  so  weit  ihre  ge- 
schriebenen Denkmäler  reichen,  Zwang  angetan  wurde,  sei  es 
durch  Steiflieit  der  Übersetzungen,  sei  es  durch  Verwahrlosung 
oder  beschränkte  Regel  der  Grammatiker,  kann  oft  nur  Spuren 
dessen,  was  dennoch  nicht  ganz  in  ihr  unterging,  zeigen.  Gott- 
sched und  Adelung  würden  sich  davor  gekreuzigt  haben,  sie  und 
alle  übrigen  Sprachlehrer  wissen  gar  nichts  davon.'  Daß  Goethe 
bei  seiner  'Relativitätsliebe'  ein  Virtuose  auf  dem  Gebiete  der 
Attraktion  gewesen  ist.  wußten  wir  längst  aus  Lehmanns  fleißi- 
gen, leider  in  der  Auffassung  unsäglich  pedantischen  und  oft 
stark  schulmeisterlichen  Forschungen  (S.  126):  aber  keiner  der 
dort  besprochenen  Fälle  kommt  dem  unsrigen  an  Kühnheit  auch 
nur  entfernt  gleich,  und  auch  aus  sonstiger  nhd.  Literatur  bringt 
Grimms  reiche  Sammlung  kein  einziges  entsprechendes  Beispiel. 
'Des  Dichters  eigene  Hand  erst  macht  auch  das  Ungewöhnlichste 
glaubhaft'  muß  man  hier  mit  Suphan  (bei  AVahle  S.  5)  sagen. 
Welcher  Vorlage  hat  Goethe  das  Gedicht  entnommen,  als  er 
es  in  unser  Heft  aufnahm?  Ein  Druck  lag  damals  noch  nicht 
vor;  mindestens  drei  Handschriften  hatte  er  vor  Jahren  davon 
aus  der  Hand  gegeben,  eine  an  Jacobi,  im  Original  erhalten,  eine 
an  Sophie  Laroche,  in  der  Kopie  von  Arnims  Diener  Frohreich 
erhalten,  eine  vielleicht  an  Boie.  die  dem  mehrfach  glättenden  und 
damit  das  Verständnis  erleichternden  Abdruck  in  den  'Nordi- 
schen Miszellen'  zugrunde  gelegt  wurde,  zu  deren  Redaktion  Voß 
Beziehuns^en  hatte.  Alle  drei  stimmen  im  wesentlichen  wörtlich 
überein  (daß  in  der  letzten  einzelne  Verse  an  zwei  Stellen  fehlen, 
wird  Versehen  bei  der  Herstellung  der  Druckvorlage  sein,  was 
mindestens  für  das  Fehlen  von  18 — 22  bei  der  durch  die  Refrain- 


Goethes  älteste  Gedichtsammlung  85 

zeile  und  ihre  Wiederholungen  leicht  möglichen  Abirrung  des 
Auges  äußerst  wahrscheinlich  und  auch  für  67 — 70  möglich  ist, 
wo  das  Vorhandensein  einer  nicht  mitgeteilten  Stelle  durch 
Striche  angedeutet  wird)  und  stehen  in  mehrfacher  Beziehung 
unserm  Text  einstimmig  gegenüber;  abgesehen  von  einigen  Diffe- 
renzen in  der  Versabteilung  wird  der  Eingangsvers  'Wen  (den) 
du  nicht  verlassest,  Genius'  hier  nach  9.  17.  27  (sonderbarerweise 
nicht  auch  nach  22)  refrainartig  wiederholt,  so  daß  drei  Absätze 
entstehen,  Strophen  verschiedener  Länge,  die  durch  diese  Refrain- 
zeile je  eingeleitet  und  abgeschlossen  werden.  In  unserm  Texte 
ist  diese  Wiederholung  am  Schluß  der  Abschnitte  aufgegeben, 
und  die  gleichlautende  Zeile  leitet  nun  nur  noch  die  vier  ersten 
Strophen  der  Ode  ein.  Meines  Erachtens  dürfen  wir  darin  eine 
Bearbeitung  sehen,  die  der  Dichter  für  unsre  Niederschrift  vor- 
nahm, um  eine  gewisse  Hypertrophie  des  begeisterten  Stammeins, 
die  in  der  ursprünglichen  Fassung  vorhanden  war,  auf  ein  künst- 
lerisches Maß  zurückzuführen.  Ich  gebe  dieser  Auffassung  vor 
der  andern  Möglichkeit,  es  liege  hier  eine  ältere  Form  des  Ge- 
dichts vor  und  die  Wiederholungen  seien  vielmehr  jüngerer  Zu- 
satz, den  Vorzug.  Eine  Niederschrift  nach  dem  Gedächtnis 
scheint  mir  bei  einem  Gedicht  von  dieser  Länge,  das  zudem  ohne 
leicht  faßlichen  und  festhaltbaren  Gedankenzusammenhang  nur 
auf  den  reißenden  Wellen  leidenschaftlichen  Gefühlsüber- 
schwangs dahinflutet,  das  sich  als  eine  Augenblicksimprovisation 
nicht  nur  gibt,  sondern  wirklich  eine  solche  ist,  so  daß  ihm  der 
Dichter  selbst  später  die  Bezeichnung  Halbunsinn  nicht  ganz  ohne 
Berechtigung  aufheften  konnte  (Werke  28,  119),  absolut  aus- 
geschlossen. Die  Niederschrift  wird  auf  Grund  einer  Handschrift 
erfolgt  sein,  die  Goethe  vorlag:  so  erklärt  sich  auch  der  sofort 
berichtigte  Schreibfehler  in  Vers  5  am  ungezwungensten  durch 
ein  versehentliches  Abirren  auf  die  folgende  Zeile. 

3.  'Künstlers  Morgenlied.'  Dies  Gedicht  gibt  uns  ein 
Bild  eines  Textes  mit  echter  Goethescher  Interpunktion,  die  von 
keiner  fremden  Hand  beeinflußt  und  verbessert  worden  ist.  Die 
Zeichensetzung  ist  von  der  zurückhaltendsten  Sparsamkeit:  der 
Punkt  steht  nur  am  Strophenschluß  und  fehlt  auch  da  in  einer 
ganzen  Reihe  von  Stellen,  wo  wir  ihn  heute  unbedingt  setzen 
würden,  aus  der  an  sich  richtigen  Empfindung  des  Dichters  her- 
aus, daß  der  schon  durch  die  bildliche  Anordnung  der  Strophen 
genügend  gekennzeichnete  Strophenschluß  ganz  von  selbst  Vor- 
tragspausen involviert,  eine  Interpunktion  also  hier  eigentlich 
am  wenigsten  vonnöten  ist;  außer  diesen  Punkten  finden  sich  in 
den  80  Versen  nur  zehn  Zeichen:  die  Apostrophe  14.  17.  55.  59. 
die  Kommata  26.  43  und  die  Ausrufungszeichen  37.  45.  51.  52, 
sämtlich  bestätigt  durch  die   Kopie  der  Frau  von  Stein.     Der 


86  Goethes  älteste  Gedichtsammlung 

Wortlaut  des  Textes  zeigt  kleine  Abweichungen  von  dem  ersten 
Druck  im  Anhang  zu  Mercier- Wagners  'Versuch  über  die  Schau- 
spielkunst', die  als  Besserungen,  wohl  nicht  als  ältere  Lesarten 
aufzufassen  sind  (so  besonders  28  'Götterhand'  für  'Gottheit 
Hand'  und  29  'ab  auf  den  Totenrogus'  für  'rab  auf  den  Leichen- 
rogus').  Die  versehentliche  Vorausnahme  der  16.  Strophe,  die 
dem  Dichter  erst  zum  Bewußtsein  kam,  als  er  sie  schon  vollstän- 
dig niedergeschrieben  hatte,  und  dann  durch  Tilgungsstriche  wie- 
der gutgemacht  werden  mußte,  deutet  auf  ein  Abirren  des  Auges, 
also  auf  eine  sichtbare,  vermutlich  handschriftliche  Vorlage. 
Wenn  38  'Feinde  Wut'  in  Teindewut'  verbessert  ist,  so  liegt  da 
wohl  eine  momentane  Korrektur  vor,  die  durch  das  ähnliche  Kom- 
positum 'Tränenwut'  44  in  der  folgenden  Strophe  veranlaßt 
worden  zu  sein  scheint  (der  erste  Druck  hat  beide  Male  getrennte 
Komposita).  Auf  die  Bleistiftkorrektur  im  ersten  Verse  (Wähle 
S.  24),  der  dann  in  der  Göschenschen  Ausgabe  der  'Schriften'  ge- 
folgt worden  ist,  komme  ich  später  bei  Gelegenheit  der  Bleistift- 
korrekturen im  'Bundeslied'  zurück. 

4.  'An  Schwager  Kronos.'  Auch  hier  finden  wir  durch 
das  ganze  Gedicht  hin  nur  originale  Interpunktion:  die  Aus- 
rufungszeichen 2.  12.  27,  die  Kommata  6.  7.  28.  33.  34.  35.  39, 
den  Apostroph  8,  den  Gedankenstrich  23,  das  Kolon  39.  Charak- 
teristisch für  Goethes  Interpunktionsweise  ist  besonders  das 
Fragezeichen  nach  Vers  9,  das  wir  nach  unsrer  streng  logischen 
Einstellung  erst  nach  11  setzen  würden,  da  ja  der  gesamte,  die 
drei  Verse  umfassende  Satz  als  Frage  gemeint  ist,  ebenso  wie  wir 
z.  B.  auch  das  Ausrufungszeichen  nach  12  lieber  erst  nach  13  an- 
bringen würden:  bis  in  die  Handschriften  des  Alters  hinein  pflegt 
Goethe  längere,  durch  ein  Ausrufs-  oder  Fragepathos  getragene 
Perioden  nicht  als  Einheit  zu  behandeln,  sondern  die  starke, 
pathetische  Interpunktion  schon  nach  der  ersten  rhythmischen 
Sprechpause  anzubringen  und  den  Rest  der  Periode  mit  einem 
einfachen  Punkt  abzufinden  (man  sehe  beispielsweise  'Egmont' 
AVerke  8,  291, 15,  sowie  die  Lesarten  der  Berliner  Handschrift 
des  Dramas  zu  281, 8.  284,  8.  295,  2  und  'Tankred'  571.  573, 
ferner  'Mahomet'  52,  'Iphigeuie'  1896,  'Tasso'  979;  weitere  Bei- 
spiele geben  die  Tafeln  13  und  24  der  aus  der  Reinschrift  des 
'Divan'  für  die  Goethe  -  Gesellschaft  faksimilierten  Blätter, 
ferner  der  Lesartenapparat  des  'Divan'  in  der  weimarischen  Aus- 
gabe, wo  Burdach  diesen  Dingen  besondere  Aufmerksamkeit  ge- 
schenkt hat).  Das  einzige  Apokryphe  in  der  Interpunktion  uns- 
res  Gedichts  sind  die  beiden  zarten  Strichelchen  des  uns  schon  be- 
kannten Umlautskorrektors,  der  34  'schaumenden'  und  36  'Holle' 
verbessert,  aber  dicht  daneben  'nachtliches'  und  auch  17  'über' 
stehen  gelassen  hat,  das  im  Verein  mit  der  kühn  des  grammati-. 


Goethes  älteste  Gedichtsammlung  87 

sehen  Sehemas  spottenden  Konstruktion  dieses  Verses  Frau  von 
Stein  zu  dem  Lesefehler  'Aber'  verführt  hat  (vgl.  'Archiv'  6, 
101).  Die  verwischte  Bleistiftkorrektur,  die  in  den  drei  Schluß- 
versen die  spätere  Lesart  der  Göschenschen  Ausgabe  der  'Schrif- 
ten' vorbereitet  (Wähle  S.  25),  wird  später  beim  'Bundeslied'  be- 
sprochen werden. 

5.  'Prometheus.'  In  dieser  Ode  ist  der  apokryphe  Korrektor 
wieder  lebhafter  tätig  gewesen  als  in  den  beiden  vorigen  Ge- 
dichten. Nach  dem  Augenschein,  den  die  Kopie  der  Frau  von  Stein 
bestätigt,  sind  echt  Goethesch  nur  die  Ausrufungszeichen  2.  5.  58, 
die  Kommata  7.  9.  36.  47.  52.  55,  die  Fragezeichen  32.  38.  42  und 
der  Apostroph  33;  apokryph  sind  demgegenüber  das  Semikolon 
18,  die  Kommata  19.  22.  23.  48,  die  Fragezeichen  30.  51  und  das 
Ausrufungszeichen  34.  Der  Korrektor  der  vergessenen  Umlauts- 
bezeichnungen ist  Vers  14.  15.  18  in  Tätigkeit  getreten.  Auch  die 
Verbesserung  in  Vers  45  ist  von  fremder  Hand,  denn  'Schicksaal' 
ist  die  dem  jungen  Goethe  geläufige  Schreibweise  (vgl.  z.  B.  Briefe 
3,  100);  dagegen  liegt  35  momentaner  Schreibfehler  und  unmittel- 
bare Korrektur  vor.  Fremde  Besserungen  finden  sich  dann  noch 
an  drei  Stellen:  24  ist  'kehrt'  in  'kehrte',  ebenso  48  'sollt'  in  'sollte' 
verändert,  um  den  Präterital formen  in  schematischer  Weise  die 
übliche  schriftsprachliche  Endung  zu  sichern,  während  23  'wüßt' 
unbehelligt  stehengeblieben  ist  (der  Schriftduktus  setzt  beidemal 
hinter  t  aus,  und  das  e  steht  unvermittelt  daneben,  vgl.  dagegen 
die  Endung  -te  31);  ferner  ist  47  ein  'du'  eingeschoben.  Alle  drei 
Änderungen  sind  apokryph,  denn  sie  fehlen  sowohl  der  Kopie  der 
Frau  von  Stein  als  der  aus  Mercks  Nachlaß  erhaltenen  Hand- 
schrift des  Gedichts,  und  auch  der  spätere  erste  Druck  in  Jacobis 
Spinozabuch,  der  sicher  auf  eine  weitere,  verlorene  Handschrift 
zurückgeht,  kennt  sie  noch  nicht. 

6.  'Ganymed.'  Wir  haben  das  gleiche,  uns  nun  schon  ge- 
läufige Bild.  Echte  Interpunktionszeichen  sind:  die  bei  dem  lei- 
denschaftlich-dithyrambischen Charakter  der  Ode  besonders  zahl- 
reichen Ausrufungszeichen  3.  8.  10.  17.  20.  22.  26.  28.  29.  32,  die 
Kommata  12.  24  und  das  Fragezeichen  21;  apokryph  dagegen: 
die  Kommata  7.  13.  16.  31  und  der  Apostroph  9.  Die  Abweichun- 
gen, die  unser  Text  gegenüber  dem  Wortlaut  einer  erhaltenen 
Einzelhandschrift  darbietet,  welche  ihrerseits  einer  Kopie  Luisens 
von  Göchhausen  zugrunde  liegt  (vgl.  Werke  2,  313),  insbesondre 
6  'Wärme'  für  'Wonne',  27  'eurem'  (momentan  aus  'meinem'  ver- 
bessert) für  'deinem',  das  schon  auf  den  Vokativ  der  Schlußzeile 
vorausdeutet,  und  32  'allliebender'  für  'all freundlicher',  sind  als 
Besserungen  gegenüber  einer  älteren  Fassung  anzusehen,  über 
deren  objektive  Bewertung  man  freilich,  mindestens  bei  27,  zwei- 
erlei Meinung  sein  kann:  so  hat  das  Verhältnis  der  Texte  meines 


88  Goethes  älteste  Gedichtsammlung 

Erachtens  richtig  schon  Wolff  ('Goethes  Gedichte  in  ihrer  ge- 
schichtlichen Entwicklung'  S.  570)  aufgefaßt. 

7.  'Menschengefühl.'  Apokryph  sind  hier  die  den  Vokativ 
einschließenden  Kommata  5  sowie  die  Korrekturen  1  und  5,  die 
Goethes  charakteristische  Orthographie  von  'grose'  und  'liesen', 
die  ihm  durch  die  Eigenheit  seines  Dialekts  nahegelegt  wurde,  in 
dem  es  kein  stimmhaftes  s  gibt,  dieser  spirantische  Laut  vielmehr 
überall  ohne  Stimmton  gesprochen  mrd  wie  in  ganz  Ober-  und 
Mitteldeutschland,  in  die  landläufigen  Formen  mit  ss  über- 
führen.   Über  das  Kreuz  am  Rande  vgl.  Wähle  S.  23. 

8.  'Eislebenslied.'  Apokryph  sind  hier,  wie  die  Kopie  der 
Frau  von  Stein  erweist,  die  Kommata  3.  5.  6  und  die  Ausrufungs- 
zeichen 5.  7  (nicht  dagegen  4).  Zu  beachten  ist  noch  eine  fremde 
Besserung  im  Schlußverse,  die  wieder  im  Lesartenapparat  der 
Weimarischen  Ausgabe  (1,  383)  nicht  erwähnt  ist:  statt  des  zwei- 
ten 'brichts'  hieß  es  ursprünglich  'bricht',  wie  die  geklemmte 
Stellung  des  eingeschobenen  s  und  der  unterbrochene  Federduktus 
(vgl.  "krachts'  6  und  die  beiden  andern  'brichts')  deutlich  zeigt. 
Damit  ist  zugleich  bewiesen,  daß  der  erste  Druck  im  Merkur  vom 
Februar  1776  nicht  Goethes  Vorlage  gewesen  sein  kann,  weil  auch 
er  'brichts'  hat:  die  Verse  dürften  aus  dem  Gedächtnis  nieder- 
geschrieben sein.  Das  s  hat  ein  fremder  Leser  im  Streben  nach 
pedantischem  Parallelismus  eingesetzt,  und  Goethe  ist  leider  in 
der  Göschenschen  Ausgabe  der  'Schriften'  diesem  Korrektor  blind- 
lings gefolgt. 

9.  'Königlich  Gebet.'  Eine  fremde  Hand  hat  hier  die  Kom- 
mata nach  der  Interjektion  1  und  3  und  vor  und  nach  dem  Voka- 
tiv 5  eingesetzt  sowie  das  Ausrufungszeichen  3  eingeklemmt,  um 
schematische  Gleichförmigkeit  mit  1  zu  erreichen.  Über  das  Kreuz 
am  Rande  vgl.  Wähle  S.  23. 

10.  'Seefahrt.'  In  diesem  Gedichte  ist  die  Interpunktion  rein 
und  unverfälscht  geblieben,  nur  der  Umlautskorrektor  hat  sich  an 
zwei  Stellen  mit  seinen  zwei  zarten  Strichelchen  geltend  gemacht: 
er  hat  sich  der  umlautlosen  'Vogel'  29  erbarmt,  wogegen  das 
ebenso  heilungsbedürftige  'mannlich'  41  unberührt  geblieben  ist, 
und  hat  im  Eingangsverse  'Nacht'  in  'Nacht'  gebessert.  Eine 
andre,  dicker  fließende  Feder  nahm  dann  an  der  harten  Elision 
ihrerseits  Anstoß  und  setzte  schematisch  'Nächte'  ein,  wodurch 
nicht  nur  der  Parallelismus  des  sprachlichen  Ausdrucks,  sondern 
auch  der  Rhythmus  des  Verses  durch  Einführung  eines  unpassen- 
den Daktylus  in  den  sicher  und  fest  abgemessenen  trochäischen 
Schritt  dieses  prachtvollen  Gedichts  zerstört  worden  ist.  Und 
warum  dieser  verwundende  Eingriff  in  das  blühende,  eigenartige 
Leben  eines  Kunstwerks?  Wiederum  aus  Pedanterie,  weil  wohl 
'Taglang',  nicht  aber  'Nachtlang'  in  dem  hier  erforderlichen,  übri- 


Goethes  älteste  Gedichtsammlung  89 

gens  durcliaus  nicHt  mißzuverstehenden  Sinne  einer  längeren 
Reihe  von  Tagen  (Nächten)  in  der  gewöhnlichen  Umgangssprache 
gebräuchlich  ist.  Hier  läßt  sich  nun  der  sichere  Beweis  führen, 
\'on  wem  die  zarten  Umlautsstrichelchen  herrühren,  für  die  oben 
bei  'Mahomets  Gesang'  noch  Wieland  und  Frau  von  Stein  als  An- 
wärter vorgestellt  worden  waren.  Sie  entstammen  der  Feder  der 
Frau  von  Stein,  denn  bereits  ihre  Kopie  hat  die  Lesart  'Nacht' 
(ohne  e,  nicht  'Nächte'),  so  daß  sie  an  der  metrischen  Schlimm- 
besserung unschuldig  ist.  Aber  auch  diese  letztere  muß  schon  sehr 
früh  in  unser  Heft  hineingekommen  sein,  denn  bereits  die  dem 
ersten  Druck  im  'Deutschen  Museum'  vom  September  1777  zu- 
grunde liegende  Abschrift  hat  mit  einer  weiteren  erzpedantischen 
Änderung  'Tagelang  Nächtelang'  (ebenso  die  aus  Mercks  Nachlaß 
erhaltene  Handschrift,  die  nichts  andres  als  eine  wertlose  Ab- 
schrift aus  dem  Museum  ist  und  deshalb  im  Lesartenapparat  der 
Weimarischen  Ausgabe  2,  311  ruhig  hätte  unberücksichtigt  blei- 
ben dürfen),  während  die  an  Lavater  gesandte  Handschrift  mit 
der  ursprünglichen  Lesart  unsres  Textes  übereinstimmt  (vgl.  auch 
Werke  1,  365).  Die  Feder,  die  das  präteritale  e  eingeführt  hat, 
scheint  mir  nach  Duktus  und  Farbe  der  Einträge  dieselbe,  die 
auch  die  textlichen  Änderungen  in 'Mahomets  Gesang', 'Wanderers 
Sturmlied',  'Prometheus'  und  'Eislebenslied'  auf  dem  Gewissen  hat. 
A^ielleicht,  wie  mir  an  einer  Stelle  oben  wahrscheinlich  vorkam, 
ist  es  Wieland,  dessen  Beziehungen  zu  Goethe  gerade  in  den  aller- 
ersten Weimarischen  Jahren  am  engsten  und  jedenfalls  enger 
waren  als  Mitte  der  achtziger  Jahre,  weshalb  ich  auch  nicht  mit 
Wähle  (S.  23)  annehmen  möchte,  daß  diese  fremde  Durchsicht  des 
Heftes  in  die  Zeit  fällt,  wo  der  Dichter  mit  dem  genaueren  Plane 
seiner  in  die  Göschensche  Ausgabe  der  'Schriften'  aufzunehmen- 
den Gedichtsammlung  sich  beschäftigt  hat,  so  nahe  eine  solche  Ver- 
mutung an  und  für  sich  liegen  würde.  Die  ungeschlachten  Inter- 
punktionszeichen, die  wir  feststellen  konnten,  gehören  weder  der 
Frau  von  Stein  noch  Wieland  an;  auch  Herder,  wie  ich  glaube, 
haben  wir  keine  zwingende  Veranlassung  als  ihren  Urheber  an- 
zusehen: vielleicht  war  hierbei  überhaupt  keine  geistige  Notabili- 
tät,  sondern  ein  Berufsmann  der  Feder  am  Werke,  ein  Schreiber 
oder  gelernter  Kanzlist,  der  eine  Druckvorlage  vorzubereiten  hatte. 
11.  'Der  Wanderer.'  Auch  hier  ist  die  originale  Inter- 
punktion vollständig  intakt  erhalten:  die  deklamierend-patheti- 
schen  Zeichen  sind  in  großer  Zahl  vorhanden,  die  logisch  satz- 
trennenden nur  in  geringer.  Vers  150  ist  'Cuma'  durch  Einsetzung 
von  zwei  zarten  Strichelchen  in  'Cumä'  gebessert  und  zwar  durch 
Frau  von  Stein,  deren  Kopie  bereits  'Cumä'  h^t  ('Archiv' 6, 103): 
sie  zeigt  sich,  hier  besser  in  der  antiken  Nomenklatur  orientiert  als 
oben  bei  Deukalion  und  kannte  den  Stadtnamen  wohl  von  der 


90  Goethes  älteste  Gedichtsammlung 

Cumäischen  Sibylle.  Diese  Korrektur  hat  aber  in  den  vom  Dichter 
selbst  veranstalteten  Ausgaben  seiner  Gedichte  keine  Aufnahme 
gefunden:  alle  sind  vielmehr  bei  dem  auch  in  allen  älteren  Hand- 
schriften und  im  ersten  Druck  im  Musenalmanach  überlieferten 
'Cuma',  der  italienischen  Namensform  für  die  Ruinen  der  antiken 
Stadt,  die  Goethe  allein  geläufig  gew^esen  zu  sein  scheint  und  die 
er  auch  Werke  40,  292  anwendet,  geblieben.  Der  nach  124  in 
unserm  Text  fehlende,  in  den  Handschriften  und  im  ersten  Druck 
sich  findende  Vers  'Du  meines  Lebens  Hoffnung!'  ist  schwerlich 
absichtlich  gestrichen,  sondern  wohl  nur  bei  der  Abschrift  aus 
der  Vorlage  irrtümlicherweise  übersehen  worden:  eine  Aufzeich- 
nung aus  dem  Gedächtnis  scheint  mir  bei  diesem  Gedicht  der 
liänge  wie  dem  poetischen  Formcharakter  nach  nicht  gut  denkbar; 
daß  die  Vorlage  aber  der  Druck  im  Musenalmanach  gewesen  sein 
müsse,  wie  WolfF  (S.  499)  behauptet,  ist  nicht  zu  erweisen,  ob- 
wohl Goethe  schon  im  Mai  1773,  wie  er  selbst  sagt  ('Der  junge 
Goethe'  3,  44),  keine  Abschrift  mehr  besaß. 

12. — 25.  Diese  Gruppe  von  größtenteils  kleineren  Gedichten 
darf  ich  zusammenfassen,  da  sie  für  unsre  Betrachtung  der  Inter- 
punktion und  der  Textgeschichte  im  einzelnen  nur  sehr  wenige 
Anhaltspunkte  gewähren.  Fremde,  apokryphe  Satzzeichen  finden 
sich  nur  in  fünf  Gedichten:  in  12  ('Ein  Gleichnis'),  13  ('Legende') 
und  15  ('Freuden  des  jungen  Werthers')  sind  zur  Hervorhebung 
der  Reden,  besonders  des  lebhaften  Dialogs  im  ersten  der  genann- 
ten Gedichte,  ziemlich  grobe  Anführungszeichen  eingesetzt  wor- 
den, in  12,  21  noch  dazu  sicherlich  gegen  den  Sinn  des  Dichters, 
der  das  Wort  'Mißgeburt'  trotz  des  Ausrufungszeichens  schwer- 
lich als  erregten  Ausfall  des  Knaben  gegen  den  grausamen  Fuchs 
gemeint  hat,  trotzdem  diese  Auffassung  seit  B  in  den  offiziellen 
Goethetext,  offenbar  aus  unserm  Hefte  eingedrungen  ist  (der 
erste  Druck  im  'Wandsbecker  Boten'  hat  das  Ausrufungszeichen 
nicht);  ferner  erscheint  der  Umlautskorrektor  und  verbessert  in 
24,  21  'tummlich'  in  'tümmlich',  schwerlich  richtig,  da  auch  die 
ältere  Einzelhandschrift  'tummlig'  hat,  und  in  25,  6  die  uralaut- 
losen  'Handlein'.  Momentane  Besserungen  des  Dichters  selbst 
liegen  zweifellos  vor:  19,  1  'ihr'  statt  'ihrs',  das  wohl  von  dem 
folgenden  'ichs'  beeinflußt  wurde,  und  23,  2  'Man'  statt  'Hch',  was 
in  die  Kopie  der  Frau  von  Stein  bereits  übergegangen  ist.  Da- 
gegen erweisen  sich  die  zweifellos  von  Goethe  selbst  eingeführten 
Änderungen  in  25  ('Anekdote  unsrer  Tage'):  17  'dem'  statt  'mei- 
nem', 27  'Und  nur  die  allerschönste'  statt  'Hätt'  ich  nur  jetzo 
meine'  und  28  'Kann  dich  für  uns'  statt  'Wollt'  sie  für  dich'  als 
spätere,  die  an  die  Stelle  der  Lesarten  der  ersten  Drucke  in  Mer- 
ci  er- Wagners 'Versuch  über  die  Schauspielkunst'  und  im  Musen- 
almanach zuerst  die  der  Göschenschen  Ausgabe  der 'Schriften'  ein- 


Goethes  älteste  Gedichtsammlung  91 

setzen,  schon  dadurcli,  daß  die  Kopie  der  Frau  von  Stein  sie  alle 
drei  noch  nicht  hat.  In  demselben  Gedicht  beweist  der  auf  Ab- 
irrung des  Auges  beruhende  Schreibfehler  nach  7,  daß  die  Nieder- 
schrift nicht  nach  dem  Gedächtnis,  eine  Möglichkeit,  die  sonst  für 
alle  Gedichte  dieser  Gruppe  zugegeben  werden  muß,  sondern  nach 
einer  Vorlage  erfolgt  ist.  Die  einzige  Korrektur  von  fremder 
Hand  liegt  12,  9  klar  zutage,  wo  das  richtige  'dem'  gegen  den  Sinn 
des  Dichters  in  'den'  geändert  ist,  denn  der  Dativ  hängt  von  'ver- 
prahlt und  verschwätzt'  im  folgenden  Verse  ab,  nicht  von  'ergötzt', 
das  hier  adverbial  im  Sinne  von  'auf  ergötzliche  Weise'  steht.  So- 
weit in  diesen  Gedichten  Lesarten  begegnen,  die  von  den  vorauf- 
liegenden ersten  Drucken  abweichen '  (vgl.  im  einzelnen  meinen 
Variantenapparat),  haben  wir  es  samt  und  sonders  mit  Besserun- 
gen Goethes  zu  tun,  eine  Auffassung,  die  ich  auch  für  den  in  17 
('Kenner  und  Künstler')  nach  3  fehlenden  Vers  'Der  Mund  noch 
aufgeschwollen!'  für  die  wahrscheinlichste  halten  möchte. 

26.  'Bundeslied.'  Dieses  Gedicht,  ursprünglich  zur  Hoch- 
zeitsfeier des  Pfarrers  Ewald  in  Offenbach  verfaßt,  über  den  aus 
späterer  Zeit  uns  Varnhagen  in  seinen  'Denkwürdigkeiten  des 
eigenen  Lebens'  (5,  54)  eingehend  berichtet  und  der  auch  in  Hum- 
boldts Briefen  an  eine  Freundin  (1,  46.  54.  267.  301.  2,  300.  308. 
396)  vorkommt,  ein  echter  Gelegenheitsgesang  mit  persönlichsten 
Anspielungen  auf  lokale  wie  menschliche  Verhältnisse,  ist  hier 
im  Gegensatz  zu  dem  ersten  Druck  im  Merkur  vom  Februar  1776 
einer  Umarbeitung  unterzogen  worden,  die  die  Tendenz  verfolgt, 
unter  Beseitigung  jener  allzu  persönlichen  Elemente  (man  beachte 
besonders  den  Wegfall  der  auf  Goethes  nahen  Abgang  nach  Italien 
deutenden  Schlußstrophe)  die  ephemere  Gelegenheitsschöpfung  in 
die  höhere  Sphäre  des  gesellschaftlichen  Festgesanges  zu  erheben 
(vgl.  darüber  Wolff  S.  660).  Fremde  Interpunktion  macht  sich 
nur  in  den  beiden  Kommata  3  und  27  bemerklich:  im  übrigen  ist 
die  originale  Zeichensetzung  erhalten  und  unversehrt  geblieben. 
An  drei  Stellen  finden  sich  momentane  Korrekturen:  7  hatte 
■Goethe  erst  mit  seh  zu  dem  Worte  'schnellen'  angesetzt,  der  Les- 
art des  Merkur,  ersetzte  das  aber  sofort  durch  'reinen',  ein  deut- 
licher Beweis,  daß  die  Merkurfassung  ihm  vor  Augen  lag,  das 
Gedicht  also  nicht  aus  dem  Gedächtnis  niedergeschrieben  ist,  was 
sich  mit  der  umarbeitenden  Tendenz  sowieso  nicht  gut  vertragen 
hätte;  19  ist  'der'  in  'die'  verwandelt,  da  der  Goethes  sonstigem 
Sprachgebrauch  besser  entsprechende  Genetiv  bei  'genießen'  im 
folgenden  Verse  eine  gleiche,  nur  mit  Schwierigkeiten  zu  ermög- 
lichende, weil  tiefer  greifende  Änderung  nötig  gemacht  haben 
würde  (die  Kopie  der  Frau  von  Stein  bietet  trotzdem  'der  freien', 
ohne  an  dem  Wechsel  der  Konstruktion,  der  dadurch  entsteht, 
Anstoß    zu   nehmen,    zu    dem    rückläufigen    Mißverständnis    der 


92  Goethes  älteste  Gedichtsaniinlung 

Goethesclien  Korrektur  wohl  auch  durch  das  'freie'  verführt,  das 
fast  wie  'freiii'  aussieht:  vgl.  'Archiv'  G,  106);  29  war  versehent- 
lich 'geenget'  aus  31  statt  'gedränget'  eingedrungen.  Eine  vierte 
Korrektur,  die  Ersetzung  der  älteren  Lesart  'Ringsum  mit  freiem 
Blick'  26  durch  'Mit  freiem  Lebensblick',  ist  dagegen  erst  einer 
späteren  Zeit  zuzuschreiben,  da  sie  in  der  Kopie  der  Frau  von 
Stein  sich  noch  nicht  findet. 

Ferner  weist  das  'Bundeslied'  an  drei  Stellen  (vgl.  die  faksimi- 
lierte Wiedergabe  bei  Wähle  S.  24.  25)  stärkere  bessernde  Ein- 
griffe auf,  die  teilweise  die  Lesarten  der  Göschenschen  Ausgabe 
der  'Schriften'  vorausnehmen  und  mit  Bleistift  eingezeichnet  sind. 
Diese  Bleistifteinträge  werden  von  Wähle  (S.  23)  mit  einer  zwei- 
felsfreien Sicherheit  dem  Dichter  selbst  zugeschrieben,  in  der  ich 
ihm  nicht  folgen  kann:  nach  meiner  Ansicht  haben  wir  hier  wie- 
der eine  fremde,  leider  unbekannte  Hand  am  Werke  zu  sehen.  Es 
muß  allerdings  zugegeben  werden,  daß  mit  einer  gewissen  Diffe- 
renz der  Schriftzüge  eines  und  desselben  Schreibers  unbedingt  zu 
rechnen  ist,  für  die  die  Verschiedenheit  des  beim  Schreiben  ver- 
wendeten konsistenten  Materials  verantwortlich  ist:  Gänsefeder- 
züge und  Bleistiftzüge  derselben  Hand  sind  nicht  ohne  weiteres 
genau  und  vollkommen  identisch.  Trotzdem  aber  kann  ich  den 
Glauben  nicht  aufbringen,  daß  die  Hand,  die  diese  drei  Einträge 
und  die  ganz  konformen  in  der  Eingangszeile  von  'Künstlers  Mor- 
genlied' und  in  den  Schlußzeilen  vom  'Schwager  Kronos'  (vgl. 
oben  S.  86)  gemacht  hat,  Goethes  Hand  sein  soll.  Der  Eindruck 
des  Schriftduktus  und  die  Buchstabenformen  weichen  zu  sehr  von 
den  Formen  und  dem  gewohnheitsmäßigen  Duktus  des  Dichters 
ab:  der  Korrektor  vermeidet,  was  ein  prinzipieller  Unterschied 
von,  wie  ich  glaube,  allergrößter  Bedeutung  ist,  alle  w-Bogen  fast 
ausnahmslos  ('euch',  'aufgebaut',  'treuen'  'erneuert',  'unser';  nur 
'auf  hat  einen  solchen) ;  in  der  Verbindung  uf  ('aufgebaut',  'auf') 
setzt  das  /  immer  mit  einer  deutlichen  offenen  Schlinge  an  das  u 
an,  während  Goethe  den  Ansatz  mit  einem  einfachen  deutlichen 
Strich  ohne  Schlinge  nimmt  (vgl.  die  vielen  'auf  in  unserm  Ge- 
dichtheft: Wanderers  Sturmlied  20.  68.  112;  Künstlers  Morgen- 
lied 19.  29.  33.  39.  47.  72;  Schwager  Kronos  11.  12.  22;  Ganymed 
22.  28.  30;  Seefahrt  26.  36.  44;  Wanderer  21.  31.  72.  168;  Gleich- 
nis 24;  Legende  12;  Freuden  Werthers  7;  Ein  Reicher  6;  Christel 
6.  10,  12;  Anekdote  14;  Bundeslied  11.  13;  Jägers  Nachtlied  15: 
Zu  einem  gemalten  Band  4.5;  ferner: 'Lauf  Mahomets  Gesang 26; 
'gehäuft'  Künstlers  Morgenlied  30;  'lüften'  Schwager  Kronos  41; 
'Häuflein'  Freuden  Werthers  8;  'Ruf  Anekdote  25;  'luftig'  Zu 
einem  gemalten  Band  4);  die  Form  des  r  ('treuen',  'erneuert') 
weicht  völlig  von  der  Goetheschen  ab:  'was'  hat  nicht  den  für 
Goethes  Hand  zeitlebens  so   charakteristischen,  weit  nach  oben 


Goethes  älteste  Gedichtsammlung  93 

nusindonden  Bogen  des  w.  Ferner  ist  dieser  Korrektor  von  einer 
•geradezu  fatalen  Undeutlichkeit,  so  daß  manche  Lesarten  nur  von 
dem  späteren  Text  der  'Schriften'  aus  suggestiv  beurteilt  einen 
Sinn  geben  und  man  ernstlich  zweifeln  darf,  ob  wir  recht  daran 
tun,  uns  in  den  unlösbaren  Bann  dieser  Suggestion  zu  begeben: 
an  der  einzigen  Stelle,  wo  dies  maßgebende  Korrektiv  mangelt, 
bei  dem  als  'gut'  gelesenen  Worte  in  Vers  8,  tritt  schon  bei  Wähle 
ein  nur  zu  sehr  berechtigtes  Fragezeichen  auf,  da  der  Rhythmus 
des  Verses  durch  die  Einsetzung  eines  so  stark  betonten,  wichtigen 
Wortes  in  die  Senkung  eine  Goethe  schwer  oder  gar  nicht  zu- 
zutrauende Holprigkeit  bekommt;  aber  z.  B.  'alles'  ist  mindestens 
ebenso  zweifelhaft  als  jenes  fragliche 'gut',  das  ebensogut 'mit' wie 
'Gott' heißen  könnte.  Wer  diese  Änderungen  vorgenommen  hat,  weiß 
ich  nicht:  daß  sie  nicht  vom  Dichter  herrühren,  scheint  mir  sicher. 
27.  'Jägers  Nachtlied.'  28.  'Zu  einem  gemalten 
Band.'  Beide  Gedichte  geben  zu  Bemerkungen  fast  keinen  An- 
laß. 27,  7  liegt  wohl  ein  momentaner  Schreibfehler  vor:  dem  Dich- 
ter kam  aus  Versehen  'dein'  statt  des  richtigen  'mein'  in  die  Feder, 
aber  der  Ansatz  zu  diesem  Worte  'de'  wurde  sogleich  wieder  ge- 
strichen. Die  Fassung  des  Schlußgedichts,  das  im  Sesenheimer 
Liederbuch  in  einer  mehrfach  abweichenden  und  außerdem  um 
eine  Strophe  längeren  Form  erhalten  ist,  entspricht  der  seinerzeit 
für  die  'Iris'  aus  dem  Gedächtnis  aufgezeichneten  (vgl.  'Der  junge 
Goethe'  4,  150)  bis  auf  eine  Stelle  in  Vers  7,  wo  charakteristischer- 
weise statt  des  'eilet',  das  der  Abdruck  der  'Iris'  bietet,  das  ur- 
sprüngliche 'tritt  sie'  aus  der  dunklen  Tiefe  des  Gedächtnisses 
wiederaufgetaucht  ist,  das  drei  Jahre  früher  verloren  war  und 
durch  eine  Variante  ersetzt  wurde. 

Ich  fasse  die  Ergebnisse  meiner  Untersuchung  noch  einmal 
kurz  zusammen.  In  dem  für  Frau  von  Stein  zusammengestellten 
Gedichtheft  sind  außer  der  Hand  des  Dichters  vier  verschiedene 
fremde  Hände  festzustellen.  Frau  von  Stein,  die  erste  Leserin  der 
Sammlung,  hat  bei  Gelegenheit  einer  Kopie,  die  sie  wohl  bald 
nach  Empfang  der  Urschrift  für  sich  selbst  anfertigte,  die  fehlen- 
den Umlautszeichen  in  einer  größeren  Zahl  von  Fällen  nach- 
getragen (Nr.  1.  2.  4.  5.  10.  11.  24.  25).  Kurz  darauf  hat  eine 
zweite  Hand,  vielleicht  Wieland,  eine  kleine  Anzahl  von  Text- 
änderungen vorgenommen  (Nr.  1.  2.  5.  8.  10).  Später  hat  eine 
dritte  Hand,  vielleicht  ein  Schreiber  oder  Kanzlist,  die  Inter- 
punktion einiger  Gedichte  revidiert  und  bereichert  (Nr.  1.  2.  5 — 9. 
12.  13.  15.  26).  Von  einer  vierten,  unbekannten  Hand  rühren  ver- 
einzelte, in  den  Wortlaut  der  Texte  tiefer  eingreifende  Bleistift- 
korrekturen her,  die  fast  durchweg  vom  Dichter  für  die  Göschen- 
sche  Ausgabe  der  'Schriften'   adoptiert  wurden   (Nr.   3.  4.  26). 


94  Goethes  älteste  Gedichtsammlung 

Endlich  hat  dann  auch  Goethe  selbst  an  wenigen  Stellen  spätere 
Besserungen  angebracht  (Nr.  1.  25.  26).  * 

Die  chronologische  Frage,  wann  die  Sammlung  entstanden  ist, 
läßt  sich  durch  das  Gedicht  'Seefahrt'  (Nr.  10)  einwandfrei  und 
vollständig  lösen.  Den  Terminus  a  quo  gibt  das  Datum  der  Ent- 
stehung dieses  Gedichts,  11.  September  1776,  mit  dem  es  in  un- 
serm  Hefte  unterschrieben  ist.  Als  Terminus  ad  quem  muß  der 
Juli  1777  gelten,  da  nach  meiner  obigen  Darlegung  (S.88)  die 
Doppelkorrektur  'Nächtelang'  statt  des  ursprünglichen  'Nacht- 
lang', an  der  Frau  von  Stein  und  Wieland  beteiligt  sind,  schon  in 
den  ersten  Druck  im  'Deutschen  Museum'  vom  September  dieses 
Jahres,  also  in  die  diesem  zugrunde  liegende  handschriftliche  Vor- 
lage übergegangen  ist:  Anfang  August  war  Boie  damit  beschäf- 
tigt, das  Manuskript  für  das  Septemberheft  in  Ordnung  zu  bringen 
(vgl.  'Briefe  von  und  an  Bürger'  2,  105).  Wenn  Wähle  (S.  10) 
unser  Gedichtheft  als  eine  Art  Fortsetzung  einer  Sendung  von 
'allerhand  Schreibereien  meiner  ersten  Jahre'  ansehen  möchte,  die 
Goethe  am  1.  Juni  1777  seiner  Freundin  übermittelte  (vgl.  Briefe 
3,  158),  so  ist  das  nicht  zwingend,  denn  das  Heft  kann  ebensogut 
vor  dieser  Sendung  zusammengestellt  und  Frau  von  Stein  ge- 
widmet worden  sein.  Jedenfalls  aber  zwischen  September  1776 
und  Juli  1777  fällt  sowohl  die  Sammlung  selbst  als  auch  die 
Durchsichten  der  ersten  Besitzerin  und  Wielands,  während  für  die 
übrigen  fremden  Einzeichnungen  kein  genauerer  Terminus  ad 
quem  zu  ermitteln  ist  als  Goethes  Abreise  nach  Italien. 

Zur  Beurteilung  der  Vorlagen,  die  der  Dichter  benutzt  hat, 
stelle  ich  zum  Schluß  noch  zusammen,  an  welchen  Stellen  die  bis 
dahin  bekannten  Gedichte  zuerst  gedruckt  worden  sind: 

Musenalmanach:  Nr.  1.  11.  17.  18.  25: 

Mercier-Wagners   'Versuch  über  die  Schauspielkunst':   Nr.  3. 
17.  25; 

Merkur:  Nr.  8.  21.  24.  26.  27; 

Museum:  Nr.  10; 

Wandsbecker  Bote:  Nr.  12.  16.  18; 

Iris:  Nr.  22.  28. 
Alle  übrigen  Nummern  (2.  4—7.  9.  13—15.  19.  20.  23)  waren 
ungedruckt.  Wenn  nun  auch  natürlich  Musenalmanach  und  Mer- 
kur in  Weimar  für  Goethe  leicht  zu  erreichen  waren,  wenn  er  sich 
darum  umtat,  so  bleibt  doch  beachtenswert,  daß,  wie  mir  vom 
Goethe-Nationalmuseum  auf  meine  Anfrage  freundlichst  mit- 
geteilt wird,  sich  in  seiner  nachgelassenen  Bibliothek  kein  ein- 
ziges der  angeführten  Bücher  vorfindet. 

Jena.  Albert  Leitzm  ann. 


Schlemihle. 

Eine  Studie  zum  Fortleben  des  Chamissoschen  Märchens 
in  Deutschland  und  England. 

Cbamissos  Märchen.  —  Möglichkeiten  der  Weiterbildung:  das  Schatten- 
motiv, Schlemihls  Persönlichkeit,  die  Gestalt  des  Pechvogels.  —  Motiv- 
nachbildungen: das  verkaufte  Spiegelbild  (E.  T.  A.  Hoffmann)  und  sein 
Kreis,  das  verkaufte  Herz  (Hauff)  und  sein  Kreis.  —  Wiederaufnahme  der 
Schlemihlgestalt:  im  Drama,  in  der  erzählenden  Dichtung.  —  Neue  Motiv- 
nachbildungen: der  verkaufte  Magen,  der  verkaufte  Schlaf,  der  verkaufte 
Namen,  das  verkaufte  Genie  u.  a.  —  Englische  Schlemihle:  der  verkaufte 
Appetit  (Besant),  die  verkaufte  Jugend  (Wells),  der  verstoßene  Schatten 
(Wilde).  —  Eine  dänische  Parallele:  Andersen.  —  Schlemihl  als  Pechvogel: 
in  rein  komischer  Auffassung  (F.  Th.  Wangenheim,  D.  Kaiisch),  als  tragi- 
komische Gestalt:  der  jüdische  Typus  (Kompert) ;  in  tragischer  Auffassung: 
als  Symbol  der  Vaterlandslosigkeit  (D.  Mendl,  J.  G.  Meyer),  als  Symbol 
der  Dekadenz    (Schaukai). 

Chamissos  Feter  Schlemihl  gehört  zu  den  nicht  allzu  zahlreichen 
Werken  unserer  Dichtung,  die  ihren  Weg  in  die  Weltliteratur 
gefunden  haben,  nicht  nur  in  dem  Sinne,  daß  er  weit  über  die 
Grenzen  der  deutschen  Sprache  gedrungen  ist,  sondern  auch  in 
dem  anderen  Sinne,  daß  er  lebendig  geblieben  ist  durch  allen 
Wechsel  des  Geschmacks  hindurch  und  damit  eben  zum  festen 
Besitz  in  erster  Linie  unseres  Volkes,  aber  nicht  bloß  unseres 
Volkes  geworden  ist.  Dies  Kindermärchen,  das  so  gar  nicht  ehr- 
geizig, schier  als  gelegentlicher  Versuch  seines  Verfassers  auf- 
tritt, ist  frisch  geblieben  wie  am  ersten  Tage,  es  hat  eine  dichte- 
rische Gestalt  geschaffen,  die  groß  und  klein  vertraut  ist,  unter 
seiner  Mitwirkung  ist  der  Name  Schlemihl  zur  Bezeichnung  eines 
Typus  geworden,  der  zwar  schon  vor  seinem  Helden  da  war,  nun 
aber  mit  Vorliebe  den  Namen  trägt,  der  durch  Chamisso  volks- 
tümlich geworden  ist. 

Die  Forschung  hat  diese  Nachwirkung  der  Dichtung  bisher 
nur  gestreift  —  wo  sie  länger  beim  Veter  Schlemihl  verweilte, 
hat  eine  andere  Frage  sie  stets  von  neuem  beschäftigt:  die  Be- 
deutung des  Schattensymbols.  Und  gewiß  ist  diese  Frage  an- 
ziehend genug;  zwar  hat  Chamisso  1829  selbst  erklärt,  sein  Schle- 
mihl sei  durchaus  nicht  Erzeugnis  genauer  Berechnung,  er  wolle 
überhaupt  selten  etwas  mit  der  Poesie:  'Ich  hatte  auf  einer  Reise 
Hut,  Mantelsack,  Handschuhe,  Schnupftuch  und  mein  ganzes  be- 
wegliches Gut  verloren;  Fouque  frug,  ob  ich  nicht  auch  meinen 
Schatten  verloren  habe,  und  wir  malten  uns  das  Unglück  aus.'^ 
Aber  damit  ist  natürlich  nur  der  zufällige  Anstoß  zur  dichteri- 

1  "WcrTcc  V  31.5  (ich  zitiere  nach  der  überall  wohl  am  bequemsten  zu- 
gänglichen  Ausgabe   Sydows  in   der   Goldenen  Klassiker- Bibliothek). 


96  Schlemihle 

sehen  Sehöpfung  bezeichnet;  das  so  gegebene  Motiv  gewährte  die 
unvergleichliche  Möglichkeit,  sehr  persönliche  Stimmungen,  die 
Frucht  eines  ganz  eigenen  Lebenslaufs  und  besonderer  Anlage 
zu  gestalten,  diese  waren  bestimmend  für  den  Gesamtcharakter 
des  Märchens,  und  ihnen  nachzuspüren  behält  seinen  Wert  für 
die  Kenntnis  Chamissos  und  die  eindringlichere  Auffassung  sei- 
nes Werkes;  mit  der  künstlerischen  Freude  daran  hat  freilich 
eine  besondere  Bedeutung  des  Schattens  nichts  zu  tun.  Stellen 
wir  es  nur  fest:  was  dem  Chamissoschen  Schlemihl  seinen  unver- 
geßlichen Zug  verleiht,  ist  die  Tatsache,  daß  Peter  eben  seinen 
Schatten,  seinen  richtigen,  natürlichen,  schönen  schwarzen  Schat- 
ten verkauft,  und  bezeichnend  ist,  daß,  wie  auf  der  einen  Seite 
man  zwar  für  den  Schattenverlust  die  eine  oder  andere  Parallele 
aus  dieser  und  jener  Sage  nachgewiesen  hat,  aber  doch  weder  das 
durch  Körners  Gedicht  wohlbekannte  Abenteuer  des  Studenten 
von  Salamanca  noch  die  Geschichte  vom  Schatten  des  schottischen 
Grafen,  die  Lyser-^  erzählt,  als  Quellen  Chamissos  angesprochen 
werden  können,  auf  der  anderen  Seite  für  einen  guten  Teil  von 
Peters  Nachfahren  eben  der  Schattenhandel  charakteristisch  ge- 
worden ist.  Das  heißt  denn  doch,  daß  nicht  so  sehr  irgendeine 
tiefere  Bedeutung  die  Phantasie  der  jüngeren  Geschlechter  an- 
regte, als  ein  eigentümliches  dichterisches  Motiv  und  die  Person 
seines  Trägers.  Von  dieser  Seite  möchte  ich  nun  Chamissos  Werk 
betrachten:  hat  man  es  bisher  nur  in  Beziehung  gesetzt  zu  seinem 
Schöpfer  und  darüber  hinaus  es  betrachtet  als  Erzeugnis  einer 
bestimmten  Zeit  der  deutschen  Literaturgeschichte,  so  möchte  ich 
nach  Maßgabe  meiner  Kenntnis  zeigen,  wie  es  auf  gleichzeitige 
und  jüngere  Schriftsteller  eingewirkt  hat,  und  damit  eine  Vor- 
stellung von  seinem  Nachleben  in  unserer  Literatur  geben. 

Bisher  sind  diese  Dinge  nur  gestreift  worden.  Am  meisten 
Beachtung  hat  noch,  wie  natürlich,  die  Tatsache  gefunden,  daJ3 
E.  T.  A.  Hoff  mann  ein  Seitenstück  zum  Feter  Schlemihl  ge- 
schrieben hat;  von  zwei  Fortsetzungen,  die  man  ihm  gegeben  hat, 
sagt  Oskar  Walzel  am  Schlüsse  der  Einleitung  zu  seiner  Cha- 
misso-Ausgabe  (in  Kürschners  Deutscher  Nationalliteratur)  ein 
paar  knappe  Worte;  vor  allem  hat  in  der  zweiten  Ausgabe  von 
Goedekes  Grundriß  Bd.  6  E.  F.  Koßmann  in  seinem  Cha- 
misso-Artikel  aufgezählt,  was  ihm  an  Nachbildungen  u.  ä.  be- 
kannt war.  Er  nennt  ohne  weitere  Charakterisierung  Hoff- 
m  a  n  n  s  Novelle  Bas  verlorene  Smegelhild,  Andersens  Mär- 
chen Der  Schaffen,  ein  anderes  Märchen  von  Fr.  Brunold,  ein 
Zaubersuiel  Der  Vuzlividi  von  F.  Rosen  au.  eine  Posse  Teter 
Schlemihl  von  D.  K  a  1  i  s  c  h  ,  Fortsetzungen  des  Stoffes  von  F  r. 

1  Abendländische  1001  Nacht.     Meißen   1838—39.     Bdch.   1/2. 


Schlemihle  97 

Förster  und  L.  Becli stein,  eine  (mir  leider  unbekannt  ge- 
bliebene) holländische  Behandlung  von  C.  E.  van  Koetsveld 
Zonder  schaduw  und  ein  Buch  von  Friedrich  Riedel  Teter 
Schlemiel  und  sein  Sohn,  ein  Zeit-  und  Charakterbild  aus  den 
Ländern  Bimbam  und  Bivbav,  Frankfurt  und  Leipzig  1839. 

Ich  kann  die  Liste,  wie  sich  zeigen  wird,  nicht  unbeträchtlich 
vermehren,  jedoch  wird  zunächst  in  ihr  der  letzterwähnte  Titel 
zu  streichen  sein.  Zunächst  kann  Riedels  sonderbares  Erzeug- 
nis nicht  als  Werk  der  Dichtkunst  gelten,  und  überdies  steht  es 
mit  unserem  Schlemihl  nur  im  alleräußerlichsten  Zusammenhang. 
Es  gibt  sich  als  die  wahre  Biographie  seines  Helden,  der  bei  Cha- 
misso  als  Selbstbiograph  'aus  der  interessantesten  Periode  seines 
Lebens  alle  Tatsachen  klüglich  verschleiern  mußte,  die  auf  seine 
Gestalt  und  Beschaffenheit  entfernt  einen  Schatten  werfen';  ein 
Grund  zu  dieser  Anknüpfung  ist  aber  sachlich  nirgends  zu  sehen, 
sie  ergab  sich  anscheinend  nur  aus  einem  zufälligen  Namens- 
anklang. Es  handelt  sich  nämlich  um  eine  gegen  eine  ganz  be- 
stimmte Persönlichkeit  gerichtete  Schmähschrift:  die  üblen  Spe- 
kulationen eines  jüdischen  Emporkömmlings  mit  ihren  Folgen 
für  Bamberg  ('Bimbam')  und  weiterhin  ganz  Bayern  ('Bivbav') 
werden  in  Form  einer  Lebensbeschreibung  geschildert.  Wer  ge- 
meint ist,  lohnt  sich  bei  dem  Tiefstand  des  ganzen  sträflich  un- 
geschickten und  langweiligen  Geschreibsels  nicht  festzustellen; 
der  Name  des  Angegriffenen  wird  damit  erklärt,  daß  er  ihn  sich 
bei  seinem  Übertritt  zum  Christentum  aus  denjenigen  seiner  Paten 
Schlemmbold  und  Gabriel  zusammensetzte.  Zum  Schluß  ist 
Schlemiels  Rolle  in  Bivbav  ausgespielt;  er  läßt  ein  falsches  Be- 
gräbnis veranstalten  in  der  Absicht,  in  Wien  ein  neues  Leben  an- 
zufangen —  das  deutet  auf  einen  geplanten  zweiten  Teil  hin,  in 
dem  wohl  auch  der  Sohn,  der  zwar  im  Titel,  nicht  aber  im  Text 
genannt  ist,  eine  Rolle  spielen  sollte.  Daß  dieser  zweite  Teil  nicht 
erschienen  ist,  kann  man  nach  dem  Charakter  des  ersten  weder 
ein  Wunder  noch  einen  Schaden  nennen. 

Gegenüber  einem  solchen  Eindringling  in  die  Familie  der 
Schlemihle  empfiehlt  es  sich,  zunächst  zu  bestimmen,  was  für  Züge 
ihre  echten  Mitglieder  tragen  müssen.  Der  bloße  Name  wie  bei 
Riedel  tut  es  nicht:  er  muß  entweder  wirklich  anzeigen,  daß  es 
sich  um  denselben  Helden  handelt  wie  bei  Chamisso,  so  daß  also 
die  Erlebnisse  des  neuen  Schlemihl  zu  denen  des  alten  in  irgend- 
welcher Beziehung  stehen,  oder  aber  er  ist  nicht  als  Personen-, 
sondern  als  Gattungsname  aufzufassen.  Dabei  besteht  die  Ähn- 
lichkeit entweder  im  Erlebnisse  des  Helden  oder  im  Charakter. 
'Im  ersten  Fall  heißt  der  Held  gar  nicht  Schlemihl,  aber  er  ist 
Träger  des  bezeichnenden  Motivs:  wie  dpr  Urschlemihl  seinen 
Schatten,  so  verkauft  der  Vetter  irgendein  Besitztum,  das  seiner 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    Sonderheft.  7 


98  Schlemihle 

eigentlichen  Natur  nach  unverkäuflich  ist,  weil  es  nach  aller  Er- 
fahrung zum  Menschen  untrennbar  gehört.  Im  zweiten  Fall  han- 
delt es  sich  um  Leute,  die  ihr  Schilderer  selbst  gern  als  Schlemihle 
bezeichnet,  weil  sie  mit  ihrem  erlauchten  Namensgeber  die  Eigen- 
schaften teilen,  an  welche  man  bei  seinem  Namen  denkt. 

Um  diese  näher  zu  bezeichnen,  können  wir  von  einer  brief- 
lichen Äußerung  Chamissos^  an  seinen  Bruder  ausgehen.  Da 
heißt  es,  daß  Schlemihl  in  der  gewöhnlichen  Sprache  der  Juden 
die  Benennung  von  ungeschickten  und  unglücklichen  Leuten  sei, 
denen  nichts  in  der  Welt  gelinge.  Ein  Schlemihl  breche  sich  den 
Finger  in  der  Westentasche  ab,  er  falle  auf  den  Rücken  und  breche 
sich  das  Nasenbein,  er  komme  immer  zur  Unzeit.  Selbstverständ- 
lich hat .  Chamisso  diesen  Namen  für  seinen  Helden  mit  gutem 
Grund  gewählt,  aber  trotzdem  scheint  mir  für  den  Blick  des  un- 
befangenen Lesers  das  Pechvogeltum  nicht  seine  hervorstechendste 
Eigenschaft  zu  sein:  Peter  Schlemihl  verkauft  seinen  Schatten 
für  die  Aussicht  auf  unbegrenzten  Reichtum ;  wenn  es  ihm  schlecht 
bekommt,  so  ist  das  aber  nicht  nur  sein  Pech,  sondern  in  der  mo- 
ralischen Welt  des  Märchens  wird  ihm  doch  auch  seine  Schuld 
heimgezahlt  —  sie  sühnt  er  mit  seinem  ganzen  späteren  Leben. 
Also  die  dichterische  Gestalt  deckt  sich  durchaus  nicht  ganz  mit 
Chamissos  Erläuterung  des  Begriffs,  in  dem  von  Schuld  keine 
Rede  ist;  im  übrigen  wollte  der  Dichter  mit  jenen  Worten  auch 
nur  sagen,  was  sich  Juden  in  ihrer  Ausdrucksweise  unter  einem 
Schlemihl  vorstellen,  er  wollte  den  Namen,  nicht  das  Wesen  sei- 
nes Helden  erklären.  Wo  nun  aber  späterhin  dichterische  Ge- 
stalten auftauchen,  die  wir  ihrem  Wesen  nach  als  Schlemihle  be- 
zeichnen, da  sind  sie  Pechvögel  derart,  wie  sie  der  Brief  be- 
schreibt, Vertreter  eines  persönlich  schuldlosen  Schlemihltums. 

Sehr  hübsch  deutlich  macht  diesen  Begriff  des  Schlemihltums 
die  berühmte  Stelle  in  Heines  Jehuda  Ben  Halevy.  Die  Schick- 
salsschläge, die  einen  Dichter  da  treffen,  erscheinen  als  typisch 
für  das  allgemeine  Schlemihltum  der  Jünger  Apolls  —  der  Gott 
selbst,  dem  sich  unter  den  Händen  der  weiße  Leib  der  Nymphe 
in  einen  Lorbeerbaum  verwandelte,  war  ja  der  erste  Schlemihl, 
und  seitdem  ist  der  Dichterkranz  —  er  besteht  aus  Lorbeer- 
zweigen! —  das  Zeichen,  daß  seine  Träger  von  ihrem  Schutzherrn 
noch  eine  andere  Gabe  mitbekommen  haben  als  der  Lieder  süßen 
Mund.  Indessen  Apollo  als  Schlemihl  bleibt  ein  sonderbarer  Ge- 
danke, nicht  seinetwegen  wäre  Heine  bei  der  Deutung  des  Begriffs 
anzuführen.  Doch  er  plaudert  weiter:  er  will  wegen  der  Bedeu- 
tung des  Wortes  beim  'Dekan  der  Schlemihle'.  bei  Chnmisso  selbst, 
angefragt  haben,  dieser  habe  ihn  an  seinen  Freund  Hitzig  als  be-' 


Vom  17.  März  1821    (a.  a.  0.  V  313). 


Schlemihle  99 

sonders  Sachverständigen  gewiesen,  und  von  ihm  habe  er  denn 
auch  nach  langem  Drängen  eine  Erklärung  erhalten.  Diese  deckt 
sich  nun  aber  nicht,  wie  Chamissos  letzter  Herausgeber  Sydow^ 
meint,  im  wesentlichen  mit  dem,  was  die  schon  erwähnte  Brief- 
stelle weiterhin  berichtet.  Nach  ihr  soll  der  Talmud  von  einem 
Manne  des  Namens  Schlemihl  berichten,  daß  er  Umgang  mit  der 
Frau  eines  Rabbi  hatte,  sich  dabei  ertappen  ließ  und  getötet 
wairde;  die  Erläuterung  zu  der  Stelle  soll  dann  das  Unglück  dieses 
Schlemihl  ins  Licht  stellen,  der  so  teuer  das,  was  jedem  anderen 
hingeht,  bezahlen  muß.  Gewiß  ist  es  nun  zunächst  dasselbe,  wenn 
bei  Heine  ein  Simri  von  der  Hand  des  Pinhas  den  Tod  erleidet, 
weil  er  sich  mit  einer  Kanaaniterin  erlustigt,  aber  die  Hauptsache 
kommt  erst.    Heine  fährt  fort: 

Aber  mündlich  überliefert  Sondern  daß  der  Blinderzürnte 

Hat  im  Volke  sich  die  Sage,  Statt  des  Sünders  unversehens 

Daß  es  nicht  der  Simri  war,  Einen  ganz  Unschuld'gen  traf, 

Den  des  Pinhas  Speer  getroffen,  Den  Schlemihl  ben  Zuri  Schadday. 

Dieser  nun,   Schlemihl  I., 
Ist  der  Ahnherr  des  Geschlechtes 
Derer  von  Schlemihl.    Wir  stammen 
Von  Schlemihl  ben  Zuri  Schadday. 

Und  damit  haben  wir  denn  die  Auffassung,  die  den  Schlemihl- 
typus  bestimmt,  soweit  er  nicht  durch  das  Schattenmotiv  mit  dem 
Urbild  zusammenhängt:  ein  Schlemihl  ist  einer,  der  zu  seinem 
Pech  ganz  unabhängig  von  eigenem  Verschulden  kommt,  sein 
Pech  gehört  zu  ihm  kraft  Schicksalsbestimmung  —  wenn  ein 
Simri  erschlagen  wird,  so  hat  er  doch  wenigstens  vorher  seinen 
Spaß  gehabt,  ein  Schlemihl  kommt  erst  gar  nicht  so  weit:  er  lei- 
det als  gänzlich  Unbeteiligter,  weil  es  eben  so  sein  soll.  Wer  nun 
die  richtigere  Talmudgelehrsamkeit  hat,  Heine  oder  Chamisso, 
kann  uns  in  diesem  Zusammenhang  selbstverständlich  sehr  gleich- 
gültig sein  —  den  besonderen  Schlemihltypus  dieser  Art  hat  jeden- 
falls Heine  umrissen,  ohne  dabei  den  Anspruch  zu  erheben,  ihn 
erfunden  zu  haben.  Er  betont  selbst,  daß  Chamisso  dem  "Worte 
Schlemihl  in  Deutschland  Bürgerrecht  verschafft  habe,  zu  er- 
gänzen ist  natürlich,  daß  wir  den  Begriff  nicht  aus  dem  Orient 
zu  beziehen  brauchten.  Chamissos  Märchen  ist  Ende  1813  fertig 
geworden  und  erst  spät  im  Jahre  1814  erschienen  —  am  1.  Ok- 
tober hatte  der  Verfasser  selbst  noch  kein  Druckexemplar  ^  — , 
im  selben  Jahre  1814,  und  zwar  schon  im  Juni,  also  sicherlich 
ohne  alle  Kenntnis  des  Schlemihl,  dichtete  Uhland  seinen  Un- 
stern, dessen  Held  durchaus  ein  Schlemihl,  nur  ohne  den  Namen, 


1  A.  a.  0.  I,  XCVI. 

2  A.  a.  0.  V  311  f.   (Brief  vom  1.  X.  1814). 


100  Schlemihle 

ist.  Dies  eine  Beispiel  genügt  schon,  um  klarzumachen,  daß 
spätere  Gestalten  dieser  Art  ganz  ebenso  aus  persönlichen  Stim- 
mungen und  Erlebnissen  hervorgegangen  sein  können  wie  Unstern 
oder  Peter  Schlemihl  —  sie  reihen  sich  an  den  Letzten  aber  in- 
sofern an,  als  der  Name,  der  durch  Chamisso  jedermann  vertraut 
geworden  ist,  sie  nun  zu  einer  Familie  zusammenfaßt. 

Demnach  hätten  wir  also  theoretisch  bei  der  Schlemihlfamilie 
zu  scheiden  zwischen  Wiederaufnahme  des  Chamissoschen  Schle- 
mihl, Wiederholungen  des  Motivs  und  schicksalsverwandten  Ge- 
stalten —  freilich  dürfen  wir  nicht  erwarten,  jedes  einzelne  Werk 
einer  dieser  drei  Gruppen  säuberlich  zuteilen  zu  können:  es  liegt 
in  der  Natur  der  Sache,  daß  zwar  nach  den  wesentlichen  Zügen 
eine  bestimmte  Zugehörigkeit  feststeht,  daß  Nebenzüge  aber  in 
eine  andere  Gruppe  hinüberspielen  können. 

Das  zeigt  sich  gleich  in  der  ersten  an  Veter  Schlemihl  an- 
knüpfenden Erzählung:  E.  T.  A.  Hoffmanns  Abenteuer  der 
Silvesternacht  vereinigen  Bestandteile  aller  drei  Gruppen  in  sich, 
so  aber,  daß  die  eigentliche  Erzählung  als  Wiederholung  des 
Motivs  zu  gelten  hat.  Der  Träger  der  Rahmenerzählung  weist 
ausgesprochene  Pechvogelzüge  auf:  tückischer  Zufall  bringt  ihn 
in  gesellschaftlich  peinliche  Lagen,  er  ist  ungeschickt  und  täp- 
pisch, die  Geliebte,  die  er  nach  langer  Zeit  Aviedersieht,  deren  An- 
blick ihn  in  allen  Verzückungen  idealer  Leidenschaft  erglühen 
läßt,  speist  ihn  mit  kalt  förmlicher  Redensart  ab,  sie  ist  überdies, 
wie  ihm  überraschend  zum  Bewußtsein  kommt,  mit  einem  lächer- 
lichen, fratzenhaften  Philister  verheiratet:  wie  Schlemihl  sieht  er 
sich  fremd  in  einer  Welt,  die  ihn  nicht  versteht,  in  die  er  nicht 
hineinpaßt.  Im  kühlen  Keller  sucht  er  Trost,  und  mit  gar  selt- 
samen Gesellen  gerät  er  da  zusammen:  da  ist  Schlemihl  höchst- 
selbst in  seiner  berühmten  verschnürten  Kurtka  mit  zierlichen 
Pantoffeln  über  den  Siebenmeilenstiefeln,  die  Botanisierkapsel 
mit  allerhand  seltenen  Pflanzen  zur  Hand;  da  ist  der  geheimnis- 
volle 'Graf  Suwarow',  der  vor  jedem  Spiegel  erzittert,  und  bald 
fühlen  die  drei,*  daß  sie  zusammengehören  wie  die  Teile  eines  Klee- 
blattes. Der  innere  Geist,  mit  leuchteriden  Augen  aus  der  Larve 
des  irdischen  Maskenspiels  herausschauend,  läßt  sie  sich  als  Ver- 
wandte erkennen,  und  so  fällt  ihr  Gespräch  'in  jenen  Humor,  der 
nur  aus  dem  tief  bis  auf  den  Tod  verletzten  Gemüte  kommt'.  Aber 
ein  plötzlicher  Mißton,  eine  Anspielung  auf  etwas  allen  drei  un- 
wiederbringlich Verlorenes,  sprengt  die  Eintracht.  Man  scheidet 
verstimmt;  die  Pantoffeln  fortwerfend,  schreitet  Peter  Schlemihl 
mit  gewaltigem  Schritt  über  die  Türme  des  Berliner  Gendarmen- 
marktes; die  beiden  anderen  aber  führt  der  Zufall  wieder  zu- 
sammen in  demselben  Gasthof zinimer,  und  hier  erfährt  der  Er- 
zähler von  seinem  seltsamen  Schlafgenossen,   dem   sogenannten 


Schlemihle  101 

Graf  Suwarow,  dem  wirklichen  Erasmiis  Spiklier,  die  Geschichte 
vom  verlorenen  Spiegelhildc. 

Die  Anregung  dureli  Chamissos  Märchen  läge  auf  der  Hand, 
auch  wenn  sie  nicht  durch  Hitzigs  Brief  an  Fouque  vom  Januar 
1827^  ausdrücklich  bezeugt  würde.  Hitzig  hat  Peter  Schlemihl 
Hoffmann  vorgelesen:  'Außer  sich  vor  Vergnügen  und  Spannung 
hing  er  an  meinen  Lippen,  bis  ich  vollendet  hatte;  nicht  erwarten 
konnte  er,  die  persönliche  Bekanntschaft  des  Dichters  zu  machen, 
und  sonst  jeder  Nachahmung  so  abhold,  widerstand  er  doch  der 
Versuchung  nicht,  die  Idee  des  verlorenen  Schattens  in  seiner  Er- 
zählung . . .  ziemlich  unglücklich  zu  variieren.' 

So  urteilt  Hitzig,  und  sicherlich  hat  er  insoweit  recht,  als 
Hoffmanns  Geschichte  nicht  gerade  zu  den  hervorragendsten  sei- 
ner Dichtungen  gehört.  Wenn  er  schon  ein  Seitenstück  geben 
wollte,  so  ist  der  Gedanke!,  den  Schatten  durch  das  Spiegelbild 
zu  ersetzen,  nicht  so  übel  —  auch  dieser  Verlust  eines  anscheinend 
doch  wesenlosen  Zubehörs  zur  menschlichen  Erscheinung  schließt 
den  leichtsinnigen  Verkäufer  aus  dem  Kreise  der  Normalmenschen 
aus,  vernichtet  sein  bürgerliches  Dasein  und  macht  ihn  zum  Ein- 
samen. Die  Sinnenfälligkeit,  die  dieser  Mangel  mit  der  Schatten- 
losigkeit  teilt,  hat  es  neben  dem  großen  Namen  Hoffmanns  auch 
dahin  gebracht,  daß  sich  an  Erasmus  Spikher  eine  eigene  kleine 
Nachfolge  geschlossen  hat :  in  Offenbachs  Oper  Hoffmanns 
Erzählungen  wird  sein  Geschick  verwertet,  imd  noch  in  gar  nicht 
langer  Vergangenheit  hat  Hanns  Heinz  Ewers  in  seinem  für 
Paul  Wegener  verfaßten  Kinodrama  Der  Student  von  Frag  das 
Motiv  erneuert.  In  der  Durchführung  bleibt  Hoffmann  freilich 
hinter  Chamisso  zurück:  bei  diesem  naht  der  Versucher  selbst 
dem  Helden,  und  was  er  will,  ist  klar.  Das  Leid,  das  die  Schatten- 
losigkeit  über  Schlemihl  bringt,  soll  ihn  mürbe  machen;  um  den 
Schatten  zurückzuerhalten,  soll  er  seine  Seele  hingeben.  Das  ist 
freilich  auch  bei  Hoffmann  das  Ziel;  aber  sein  dämonischer  Doktor 
Dapertutto,  ein  Zwischending  zwischen  Gottseibeiuns  und  Quack- 
salber, besitzt  nicht  die  eindrucksvolle  Einfachheit  von  Chamissos 
'Grauen',  und  die  Kurtisane  Giulietta,  die  als  Zwischenfigur  zwi- 
schen Versucher  und  Opfer  steht,  ist  in  ihrem  Wesen  erst  recht 
nicht  durchsichtig:  die  Art,  wie  sie  Erasmus  sein  Spiegelbild  ab- 
schmeichelt, wirkt  gekünstelt  neben  Chamissos  dem  Märchen 
ebenbürtiger  Weise.  Und  schließlich  bleibt  bei  Hoffmann  ein  un- 
gelöster Rest:  Erasmus  zwischen  der  Geliebten  und  seiner  Haus- 
frau erinnert  an  das  später  so  gern  von  ihm  abgewandelte  Thema 
von  dem  künstlerisch  empfindenden  Jüngling,  der  zwischen  einem 
Leben  im  Bereich  seiner  Ideale  und  dem  Behagen  alltäglichen 


i  A.  a.  0.  III  158. 


102  Schlemihle 

Philisteriums  zu  wählen  hat.  Aber  Giulietta  und  Dapertutto  sind 
Geschöpfe  des  Bösen,  und  was  soll  es  da,  daß  Spikhers  Frau 
einerseits  als  sein  guter  Genius,  anderseits  als  für  das  Leid  ihres 
Mannes  verständnislose,  dem  platten  Alltag  verfallene  Philisterin 
erscheint?  So  hinterläßt  die  Erzählung  keinen  reinen  Eindruck, 
sehr  im  Gegensatz  zu  dem  glücklichen  Gedanken  Chamissos,  der 
seinen  Helden  läutert  und  ihn  dann  für  das  unwiederbringlich 
Verlorene  durch  ein  entsagungsvolles,  aber  mit  dem  Glück  der 
wissenschaftlichen  Forschung  erfülltes  Leben  entschädigt. 

Wenn  sich  in  Hoffmanns  Erzählung  sämtliche  drei  Schlemihl- 
typen  vereint  finden,  so  sind  sie  aber  nicht  alle  unter  Chamissos 
Einfluß  entstanden.  Der  Träger  der  Rahmenerzählung,  unter  dem 
wir  uns  Hoffmann  selbst  vorzustellen  haben,  ist  zwar  ein  Schle- 
mihl,  aber  ein  vorchamissoscher.  Er  trägt  die  Pechvogelzüge,  die 
Hoffmann  gern  seinen  höheren,  poetischen  Naturen  gibt,  im  be- 
sonderen teilt  er  sie  mit  dem  Studenten  Anseimus,  dem  Helden 
des  Goldenen  Topfes:  dies  Märchen  ist  aber  schon  1813  abge- 
schlossen worden,  also  ehe  Hoffmann  Peter  Schlemihl  kennen- 
lernte. Die  Geschichte  vom  verlorenen  Sjnegelhilde  entstand  in 
der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  1814,  als  Peter  Schlemihl  eine 
neueste  Neuigkeit  war;  diesem  Vorbilde  verdankt  die  Hoffmann- 
sche  Geschichte  ihr  Märchenmotiv,  und  mit  ihm  war  selbstver- 
ständlich der  Sonderlingscharakter  des  Mannes  ohne  Spiegelbild 
bestimmt.  Neben  dem  Motiv  machte  aber  auch  sein  Träger,  der 
schattenlose  Schlemihl,  tiefen  Eindruck  auf  den  Kammergerichts- 
rat: das  wäre  doch  einmal  ein  Kauz  gewesen,  mit  dem  es  sich  ver- 
lohnt hätte,  im  stillen  Keller  beim  Punsch  zu  hocken,  den  mußte 
er  drum  noch  einmal  herv^orholen  aus  der  Thebais  und  beim  Um- 
trunk zeigen,  den  er  so  gern  geteilt  hätte!  So  sind  also  zwei  von 
den  drei  Gesellen  bestimmt  durch  Chamissos  Vorbild,  und  zwar 
durch  Motiv  und  Gestalt,  der  dritte  ist  aber  ein  Schlemihl  aus 
eigenen  Gnaden. 

Im  Anschluß  daran  mag  ein  Wort  über  die  Frage  gesagt  sein, 
ob  etwa  in  Hoffmanns  weiterem  Schaffen  noch  Anregungen  vom 
Schlemihl  her  nachweisbar  sind.  Hitzig  erzählt,^  daß  während 
eines  heftigen  Krankheitsanfalles  Hoffmann  der  Gedanke  auf- 
ging, in  einem  Märchen  zwei  Gestalten  einander  gegenüberzustel- 
len, einen  häßlichen,  dummen  Kerl,  dem  jedes  fremde  Verdienst 
als  eigenes  angerechnet  wird,  und  einen  ausgesprochenen  Pech- 
vogel. Das  ist  der' Keim  zu  Klein  Zaches,  und  wenn  darin  auch 
jene  Gegenüberstellung  nicht  durchgeführt  ist,  der  Student  Bal- 
thasar wird  doch  durch  allerhand  peinliches  Mißgeschick  zur 
Verzweiflung  gebracht.    Aber  er  gehört  zum  Anselmtypus;  will 


Hoffmanns  Werke   (Ausgabe  Ellinger)   IV  10. 


Schlemihle  103 

man  ihn  einen  Schlemihl  nennen,  so  darf  er  deshalb  doch  nicht 
als  abhängig  von  Chamissos  Peter  aufgefaßt  werden.  Dagegen 
erscheint  mir  ein  solcher  Zusammenhang  bei  Klein  Zaches  selbst 
gar  nicht  ausgeschlossen,  insofern  er  nämlich  eine  Gegensatzfigur 
zu  Schlemihl  ist:  dieser  gelangt  trotz  persönlicher  Gaben,  trotz 
ungezählten  Reichtums  zu  keinem  Erfolg,  weil  ihm  etwas  eigent- 
lich Gleichgültiges  fehlt;  Klein  Zaches  aber,  dem  wertlosen,  un- 
scheinbaren Knirps,  läuft  jeder  Erfolg  förmlich  nach,  weil  er 
etwas  an  und  für  sich  ebenso  Gleichgültiges  besitzt,  seine  einzige 
Schönheit,  sein  reiches  Haar,  verbirgt  eine  Strähne,  die  ihm  als 
Talisman  eine  gütige  Fee  geschenkt  hat.  Man  kann  auch  sagen, 
Peter  Schlemihl  fehlt  sein  Schatten,  der  doch  sein  rechtmäßiges 
Eigentum  einst  war,  Zaches  erhält  einen  unrechtmäßigen,  ihm 
nicht  gebührenden  Schatten  in  all  den  Leistungen  der  anderen, 
die  sich  an  seine  Person  heften.  Ein  Zusammenhang  zwischen 
Veter  Schlemihl  und  Klein  Zaches  in  der  Art,  wie  er  zwischen 
jenem  und  den  Abenteuern  der  Silvesternacht  besteht,  ist  dabei 
natürlich  nicht  vorhanden;  es  kann  sich  nur  darum  handeln,  daß 
der  Eindruck,  den  Chamissos  Märchen  auf  Hoffmann  machte,  die 
Bahn  bestimmt  hat,  in  der  sich  seine  freischaffende  Märchen- 
phantasie bewegte. 

Was  nun  das  Verkaufsmotiv  anlangt,  so  ist  die  Erzählungs- 
literatur der  Restaurationszeit  nicht  sehr  ergiebig  an  Nach- 
bildungen. Es  ist  natürlich  sehr  wohl  möglich,  daß  derartiges 
noch  in  dieser  oder  jener  Erzählung  eines  lange  vergessenen  Ver- 
fassers verborgen  liegen  mag;  für  die  hervorragenderen  Erzähler 
war  vielleicht  der  frische  Eindruck  solcher  Vorgänger  wie  Cha- 
misso  und  Hoffmann  zu  stark,  als  daß  sie  Neigung  gehabt  hätten, 
einen  unabweisbaren  Vergleich  herauszufordern.  Im  Gesamt- 
gebiet der  deutschen  Erzählungskunst  ist  natürlich  der  Einfluß 
ihres  großen  Meisters  Hoffmann  ganz  anders  spürbar  als  der- 
jenige Chamissos,  der  nur  gelegentlich  ihr  Gebiet  betrat  —  so 
steht  denn  auch  der  brave  Kandidat  Kilian,  der  ausgesprochene 
Pechvogel,  den  Hoffmanns  schwächerer  Nachahmer  und  Verehrer 
C.  AVeisflog  in  der  zweiten  Historie  seiner  Novelle  Bas  große 
Los  ^  schildert,  im  Schatten  des  Studenten  Anseimus  —  als  Schle- 
mihl wird  er  jedenfalls  nirgends  bezeichnet,  so  nahe  es  eigentlich 
für  uns  wenigstens  läge.  Es  ist  auch  Hoifmanns  Einfluß,  der  in 
seines  Freundes  C.  W.  Contessa  Märchen  Das  Schivert  und 
die  Schlangen^  das  Spiegelmotiv  eine  eigenartige  Fortbildung  er- 
fahren läßt:  da  fällt  in  einem  Zaubersaal  der  Blick  des  Knappen 
Bolko  auf  sein  Spiegelbild;  plötzlich  wird  es  lebendig,  löst  sich 

1  Phantasiestücke  und  Historien  (Dresden  1824—29),  Bdch.  III,  1824 
(bequem  zugänglich  bei  Reclam  Nr.  312). 

2  Aus  dem  Jahre  1816  {Schriften  Bd.  5,  Leipzig  1826). 


104  Schlemihle 

heraus  und  folgt  dem  Urbild  auf  Schritt  und  Tritt,  jede  seiner 
Bewegungen  nachäffend.  Dann  aber  vertauschen  sich  die  Rollen: 
das  Spiegelbild  knechtet  das  Urbild,  zwingt  es  in  die  Rolle  der 
Kopie  —  ein  ganz  fruchtbarer  Gedanke,  den  wir  noch  einmal  auf- 
tauchen sehen, -^  mit  dem  aber  Contessa  nicht  viel  anzufangen 
weiß.  Es  bleibt  bei  ihm  bei  einer  komischen  Episode;  schließlich 
stellt  sich  sogar  heraus,  daß  das  Spiegelbild  Rübezahl  ist,  der 
Beschützer  des  Helden,  der  den  naseweisen  Knecht  hat  strafen 
wollen  —  trotz  Rübezahls  Sagenruhm  wirkt  das  hier  wie  eine 
kahle  rationalistische  Erklärung. 

Chamissos  Peter  verkauft  seinen  Schatten,  und  im  allgemeinen 
muß  gerade  der  Handel  als  charakteristisch  für  das  Motiv  gelten; 
immerhin  konnte  das  Los,  das  den  Schattenlosen  trifft,  auch  dazu 
anregen,  eine  andere  Begründung  zu  suchen.  Von  dem  Öster- 
reicher S.  W.  Schießler  stammt  eine  Legende  in  poetischer 
Form  Ber  Mann  ohne  Schatten,^  in  der  die  Schattenlosigkeit  als 
Strafe  verhängt  wird.  Der  Apostel  Paulus  lagert  sich  auf  dem 
Wege  nach  Ephesus,  um  dem  Sonnenbrande  zu  entgehen,  unter 
einem  Palmbaum;  mit  harten  Worten  scheucht  aber  der  Besitzer 
den  vermeintlichen  Landstreicher  fort.  Paulus  geht,  und  mild 
genug  ist  seine  Rede,  aber  ein  anderer  ist  sein  Rächer.  Die  Nach- 
barn sehen  mit  Entsetzen,  daß  der  Besitzer  des  Gartens  seinen 
Schatten  verloren  hat;  als  vom  Himmel  Gezeichneter  wird  er  ge- 
mieden, nur  nachts  wagt  er  sich  heraus:  so  gehen  ihm  Hab  und 
Gut  zugrunde,  schließlich  meidet  er  die  Heimat,  irrt  unstet  um- 
her, bis  er  an  des  Meeres  Strand,  inbrünstig  des  Apostels  Ver- 
zeihung erflehend,  vom  Tode  erlöst  wird. 

Es  ist  wohl  nicht  wahrscheinlich,  daß  Schießler  einer  wirk- 
lichen Legende  folgt  —  sie  wäre  am  Ende  den  eifrigen  Spürern 
nach  Vorbildern  des  Schlemihlmotivs  nicht  entgangen;  die  Acta 
Sanctorum  wissen  jedenfalls  nichts  von  einem  solchen  Erlebnis 
Pauli.  Da  liegt  es  bei  dem  großen  Erfolg  des  Märchens  doch  wohl 
nahe,  anzunehmen,  daß  Schießler  an  dies  dachte:  das  Vorbild  für 
die  Einleitung  lieferten  natürlich  Jesus  und  der  Schuster  von 
Jerusalem,  das  Los  Schlemihls,  mit  dem  die  hervorgehobenen 
Züge  ja  Ähnlichkeiten  bieten,  legte  den  Gedanken  nahe,  den 
Schatten  zur  Strafe  zu  entziehen  —  so  darf  denn  dieser  Mann  ohne 
Schatten  seinen  bescheidenen  Platz  unter  den  Schlemihlen  be- 
anspruchen. 

Daß  die  mittelmäßige  Legende  eines  unbekannten  Verfassers 
bisher  unbeachtet  blieb,  wird  niemand  verwunderlich  finden; 
merkwürdig  genug  ist  aber,  daß  die  Parallele,  die  ein  sehr  be- 

1  Bei  Andersen;  man  vergleiche  übrigens  auch  Kurt  Münzers 
Novelle  Der  Spiegel  (Velhagen  d  Klasings  Almanach  1918). 

2  Gedichte,  Bd.  III,  Prag  1827. 


Schlemihle  105 

kanntes  Märchen  eines  heute  noch  viel  gelesenen  Dichters  bietet, 
der  Aufmerksamkeit  anscheinend  entging.  Ich  meine  Wilhelm 
Hauffs  Das  steinerne  Herz  (in  der  Sammlung  Das  Wirtshaus 
im  Spessart).  Oder  ist  es  nicht  ein  ausgesprochener  Schlemihl- 
handeL  den  der  Schwarzwälder  Kohlenbrenner  Peter  Munk  mit 
dem  Waldgeiste,  dem  langen  Holländer  Michel,  eingeht?  Aus 
Unverstand  und  Leichtsinn  hat  er  sein  eigenes  Glück  nicht  be- 
wahren können;  als  er  vor  Bankrott  und  Schuldgefängnis  steht, 
bietet  ihm  der  Geist  die  Fülle  des  Reichtums,  wenn  er  sich  sein 
Herz,  das  dumme  zuckende  Ding,  das  ein  vernunftgemäßes,  be- 
hagliches Leben  nur  störe,  aus  der  Brust  nehmen  und  ein  Steinherz 
dafür  einsetzen  lasse.  So  haben  es  ja  eine  ganze  Reihe  hervor- 
ragender Persönlichkeiten  des  Schwarzwaldes  gemacht,  Peter 
darf  ihre  sorglich  in  Gläsern  verwahrten  und  etikettierten  Herzen 
bewundern  —  unwillkürlich  taucht  dabei  die  Erinnerung  auf  an 
jene  heitere  Episode  Ariosts,  da  Astolfo  auf  dem  Monde  eine  ähn- 
liche Flaschensammlung  mustert  und  dabei  auch  mit  aller  Anteil- 
nahme eigenen  ehemaligen  Besitz  wiederfindet:  Schlemihle  in- 
dessen sind  Ariosts  Helden  nicht,  sie  haben  ihren  Verstand  nicht 
verkauft,  sondern  bloß  verloren.  Wie  des  Schwarzwälders  Handel 
weitergeht,  ist  bekannt  genug:  gleich  Schlemihl  kommt  er  da- 
hinter, daß  er  mit  dem  Herzen  doch  mehr  dahingegeben  hat,  als 
er  dachte.  Was  nützt  ihm  aller  Reichtum,  wenn  er  sich  seiner 
nicht  mehr  freuen  kann!  Aber  vergeblich  sucht  er  den  Kauf 
rückgängig  zu  machen;  aus  eigener  Kraft  zu  entsagen  vermag  er 
nicht,  und  das  ist  nur  logisch,  denn  solch  ein  Entschluß  müßte 
aus  dem  Herzen  kommen,  das  er  doch  nicht  mehr  hat.  So  muß 
denn,  als  er  immer  weiter  in  Schuld  und  Frevel  versinkt,  ein 
freundlicher  Waldgeist  rettend  eingreifen  und  alles  zum  Guten 
wenden. 

Die  Motivverwandtschaft  mit  Chamissos  Märchen  erscheint 
mir  unverkennbar,  und  darüber  hinaus  darf  ein  unmittelbarer 
Zusammenhang  als  wahrscheinlich  gelten.  Eine  eigentliche 
Quelle  hat,  soweit  ich  sehe,  noch  niemand  für  das  Steinerne  Herz 
nachgewiesen;  darstellen  wollte  Hauff  die  Bekehrung  des  geizi- 
gen, gefühllosen  Reichen.  Daß  jemand  um  des  Reichtums  willen 
dem  Teufel  seiner  Seelen  Seligkeit  verkauft,  ist  ein  schier  alltäg- 
liches Motiv;  aber  von  solchem  Handel  durfte  bei  Hauff  nach  der 
ganzen  Anlage,  nach  dem  beabsichtigten  Ausgang  nicht  die  Rede 
sein.  Peter  Munks  Sünde  ist  die  Herzlosigkeit;  da  mochte  das 
vorhandene  berühmte  Märchen  vom  Schattenlosen  den  Gedanken 
nahelegen,  Peter  Munk  nach  dem  Muster  seines  Namensvetters 
sein  Herz  verhandeln  zu  lassen.  Man  "udrd  schließlich  auch  dar- 
auf hinweisen  dürfen,  daß  Hauff  1826  in  Hamburg  Hitzigs  Be- 
kanntschaft machte,  daß  er  dann  in  Berlin  eifrig  mit  ihm  ver- 


106  Schlemihle 

kehrte,  ihm  die  Bekanntschaft  hervorragender  Berliner  dankte. 
Selbst  wenn  Chamisso,  der  damals  in  Berlin  war,  nicht  unter  ihnen 
gewesen  sein  sollte,  an  den  Dichter  des  Schlemihl  hätte  Hauff 
doch  durch  seinen  nahen  Freund  Hitzig  erinnert  werden  müssen, 
und  kurz  danach  entstand  das  Märchen  (Hauff  starb  1827). 

Die  Erzählung  bewegt  sich  in  viel  anspruchsloseren  Bahnen 
als  Peter  Schlemihl;  sie  kann  sich  an  menschlicher  Bedeutung 
nicht  mit  ihm  messen,  ist  aber  als  treffliches  Beispiel  volksmäßi- 
ger Erzählungskunst  heute  noch  lebendig.  Um  das  Motiv  hat  sie 
das  Verdienst,  daß  sie  zuerst  sich  einen  Weg  offenhielt,  den  Kno- 
ten glücklich  zu  lösen,  und  das  ist  nicht  ohne  Bedeutung,  da  nicht 
jeder  Schlemihl  als  Einsiedler  sein  Leben  beschließen  konnte  und 
ein  tragischer  Ausgang  bei  einem  Fehl,  der  mehr  auf  Leichtsinn 
als  auf  Schlechtigkeit  beruht,  für  ein  Volksmärchen  doch  allzu 
hart  erscheinen  mochte.  Auf  diesen  glücklichen  Ausgang,  ferner 
auch  darauf,  daß  die  Folgen  des  Herzensverkaufs  sich  in  leben- 
diger Handlung  ganz  anders  anschaulich  machen  ließen  als  der 
Verlust  von  Spiegelbild  und  Schatten,  ist  es  denn  zurückzuführen, 
daß  Das  steinerne  Hers  eine  zweite  Untergruppe  unter  den  Schle- 
mihldichtungen  gebildet  hat:  es  wurde  der  Ausgangspunkt  einer 
ganzen  Reihe  von  Bühnenwerken. 

Schwarzwaldlandschaft  und  -Meldung,  der  ländliche  Stand 
der  Personen,  dazu  auch  die  schlichte  Handlung  legten  es  nahe, 
hier  den  Stoff  zu  einem  Volksstück  mit  G-esang  oder  geradezu 
einer  Oper  zu  suchen,  und  in  der  Tat  handelt  es  sich  fast  durch- 
weg um  derartiges,  nicht  weniger  als  acht  Titel  zählt  Groedeke^ 
auf,  und  darunter  sind  vier  Opern.  In  unserem  Zusammenhang 
dürfte  der  Hinweis  auf  diese  Gruppe  genügen,  mehr  als  bloße 
Nennung  darf  aber  ein  Stück  der  österreichischen  Volksbühne  be- 
anspruchen, das  in  Ferdinand  Eaimunds  Überlieferung  steht  — 
mit  Hauff  teilt  es  das  Motiv,  ohne  daß  man  freilich  behaupten 
kann,  es  müsse  es  aus  seiner  Erzählung  geschöpft  haben.  Am 
24.  April  1841  wurde  im  Theater  an  der  Wien  zum  erstenmal  auf- 
geführt Das  Marmorhers,  romantisch-komisches  Volksmärchen 
mit  G-esang  in  drei  Aufzügen;  der  Verfasser  ist  der  fruchtbare, 
weiterhin  allerdings  nicht  sehr  erfolgreiche  Raimundnachfahre 
Carl  Haffner^  (1804 — 76).  Wie  bei  seinem  großen  Vorbild 
ist  hier  eine  menschliche  Handlung  mit  Vorgängen  in  der  Geister- 
welt verknüpft:  die  Hexe  Akarone  muß  dem  Dämon  Ahriman 
jährlich  neun  Herzen  opfern,  ein  Jüngling,  an  sich  ein  Ausbund 
von  Edelmut,  verkauft  ihr  das  seine  um  vermeintlich  getäuschter 
Liebe  willen.    Die  Folgen  entsprechen  denen  bei  Hauff:  im  zwei- 

1  Bd.  9,  S.  208  ff. 

2  Gedruckt   in   österreichisches  Volkstheater,   Leipzig  1845    f.    (3   Bde.), 


Schlemihle  107 

ten  Akt  wendet  sich  alles  ab  von  dem  hartherzigen,  gefühllosen 
Weltmann,  treu  bleibt  ihm  nur  der  alte  Jakob  Taubenherz,  dessen 
Sohn  er  einst  gerettet  hat.  Als  der  erfährt,  was  den  Wandel  im 
Wesen  des  Heiden  verursacht  hat,  zögert  er  nicht,  sich  selbst  zu 
opfern  —  mit  seinem  Herzen  will  er  das  seines  einstigen  Wohl- 
täters einlösen.  Der  Hexe  aber  fehlt  noch  ein  Herz  an  der  nöti- 
gen Zahl,  sie  will  also  das  ihr  verfallene  nur  gegen  zwei  neue  her- 
ausgeben —  also  muß  sich  auch  Jakobs  Frau  zum  Opfer  ver- 
stehen. Aus  Liebe  zu  ihrem  Manne  ist  sie  bereit,  die  verhängnis- 
volle Stunde  ist  da,  und  —  die  Hexe  ist  betrogen,  denn  die  Herzen 
liebender  Eheleute  sind  eins!  So  hat  sie  denn  nicht  die  ausbedun- 
gene Zahl  —  damit  ist  aber  ihre  Macht  aus,  der  ganze  Handel 
rückgängig;  Akarone  versinkt,  und  alles  ist  in  schönster  Ord- 
nung. 

Trotz  des  unerlaubt  leichtfertig  zusammengezimmerten  dra- 
matischen Gerüstes,  trotz  der  äußerlichen  Nachahmung  Rai- 
munds, der  mit  des  Meisters  Glauben  an  seine  Gestalten  auch  sein 
echter  Humor  und  seine  Poesie  fehlen,  war  das  Marmorherz  ein 
großer  Bühnenerfolg,  den  Haffner  nicht  wieder  erreicht  hat.  Er 
war  wohl  vor  allem  der  Gestalt  des  alten  Taubenherz  zu  danken, 
dessen  einfältige  Treue  nur  allzu  deutlich  auf  Wirkung  auf  Lach- 
muskeln und  Tränendrüsen  berechnet  ist,  aber  auch  der  Wandel 
des  Helden  von  schwärmerischem  Jugendedelmut  zu  kältester  Ge- 
fühlslosigkeit  ließ  sich  theatralisch  wirksam  ausbeuten  —  der 
Herzensverkauf  ist  dafür  ein  glückliches  Symbol.  Das  zeigte  sich 
noch  viel  später,  als  Hans  von  Wolzogen  Elauberts 
Feerie  Le  chäteau  des  coeurs  für  die  deutsche  Bühne  bearbeitete 
{Bas  Schloß  der  Herzen)}  Während  in  Flauberts  Bilderfolge  sich 
nichts  findet,  was  unser  Thema  näher  angeht,  läßt  Wolzogen  den 
Gnomenkönig  als  das  böse  Prinzip  der  Handlung  danach  trachten, 
sich  lebendige,  menschliche  Herzen  durch  Überredung  oder  Ge- 
walt anzueignen.  Ein  wenig  deutsche  Märchenluft  ist  in  die 
fremdartige  Umgebung  hineingetragen,  die  Wirkung  von  Kind- 
heitserinnerungen, und  zu  ihnen  kann  schon  Hauffs  Märchen 
beigetragen  haben. 

Nicht  nur  durch  diesen  Herzenshandel  gehört  Haffiler  in 
eine  Darstellung  unseres  Motivs;  er  hat  wohl  gehofft,  den  ersten 
großen  Erfolg  durch  ein  ähnliches  Thema  erneuem  zu  können, 
und  wählte  sich  den  Verkauften  Schlaf.^  Da  haben  wir  einen 
reichen  Wucherer  und  Menschenschinder,  der  aber  keinen  Schlaf 
findet,  während  sein  treuer  und  braver  Diener  Liebmann  auf  dem 
Ruhekissen    seines    ungestörten   Gewissens    selbst  auf    Steinen 


1  In  Hendels  Bibliothek  der  OesamtUteratur  Nr.  1325 — 26. 

2  Bei  Reclam  Nr.  255   [1870]. 


108  Schlemihle 

schläft,  soviel  er  Lust  hat.  Natürlich  kauft  der  Wucherer  den 
Schlaf  Liebmanns  —  das  Zaubermittel  erhält  er  von  seiner  hexen- 
haften alten  Amme,  dem  etwas  kümmerlichen  bösen  Prinzip  des 
Stückes  — ,  aber  der  Handel  bringt  ihm  keinen  Gewinn.  Der 
Dämon  der  Nacht  straft  ihn,  weil  er  die  Gesetze  der  Natur  ge- 
brochen hat,  damit,  daß  sein  Schlaf,  den  er  nun  zwar  hat,  durch 
die  furchtbarsten  Träume,  die  Bilder  seiner  Untaten,  ihm  zur 
Folterqual  wird.  Da  geht  er  in  sich,  sucht  gutzumachen,  was  er 
gesündigt  hat,  und  seine  echte,  durch  Taten  bekräftigte  Reue 
bringt  ihm  die  Verzeihung  der  überirdischen  Mächte:  sie  lassen 
zu,  daß  der  Handel  rückgängig  gemacht  wird,  Liebmann  erhält 
seinen  Schlaf  wieder,  und  der  Wucherer  wird  nun,  da  er  sie  ver- 
dient, auch  nächtliche  Ruhe  finden. 

Das  Stück  hat  eine  Besonderheit:  sie  besteht  in  der  Motivie- 
rung des  Verkaufs.  Liebmann  (an  sich  ein  ziemlich  kümmer- 
licher Nachfahre  von  Raimunds  Valentin)  gibt  seinen  Schlaf  nicht 
aus  Leichtsinn  noch  aus  persönlicher  Not  fort,  sondern  aus  den 
uneigennützigsten  Beweggründen,  mit  dem  Geld  stiftet  er  frei- 
gebig und  edelsinnig  Segen,  wo  er  nur  kann.  Sein  Tun  soll  und 
muß  darum  als  verdienstlich  gelten,  Schuld  trifft  ihn  nicht,  und 
da  der  Himmel  ihn  mit  einem  Temperament  gesegnet  hat,  das 
ihn  die  Plage  der  Schlaflosigkeit  mit  einer  gewissen  Gutlaunig- 
keit  ertragen  läßt,  so  haben  wir  in  ihm  das  seltene  Exemplar 
eines  glücklichen  Schlemihl,  wenn  anders  die  Bezeichnung  hier 
überhaupt  angewendet  werden  darf.  Denn  der  Verkaufte  Schlaf 
liefert  ein  gutes  Beispiel  dafür,  wie  vorsichtig  man  bei  der  Be- 
hauptung literarischer  Zusammenhänge  sein  muß;  so  verlockend 
hier  die  Beziehung  auf  Peter  Schlemihl  sein  mag,  so  schwer  es  an- 
zunehmen sein  mag,  daß  Haffner  das  Märchen  nicht  gekannt 
habe,  seine  unmittelbare  Anregung  kam  nicht  aus  ihm  —  nie- 
mand würde  es  ahnen,  wenn  er  es  selbst  auf  dem  Titelblatte  nicht 
angäbe,  daß  seine  Quelle  ein  Gedicht  —  M.  G.  Saphirs  war,  die 
'Deklamation'  Der  verkaufte  Schlaf.^  Das  ist  eine  Art  Moral- 
predigt nicht  eigentlich  erzählenden  Charakters,  aber  wir  haben 
den  reichen  Sünder,  der  einem  Armen  den  Schlaf  abkauft  (wie 
das  möglich  ist,  kümmert  Saphir  nicht) ;  wir  haben  den  Gott  des 
Schlafes,  der  über  die  List  des  Sterblichen  zürnt,  die  bösen 
Träume,  durch  die  er  sie  durchkreuzt;  der  Schluß  gewährt  die 
tröstliche  Aussicht,  daß  Gebet  und  Tränen  alles  wieder  gutmachen 
können,  und  verkündet  die  Moral,  daß  Himmelsgüter  nicht  zu 


1  Zu  finden  in  Saphirs  Fliegendem  AVhum  für  Ernst,  Scherz,  Humor 
(2  Bde.),  Leipzig  1846.  — ■  Haffners  Dramatisierung  scheint  bedeutend  jünger 
zu  sein ;  sie  fehlt  in  der  Sammlung  seiner  Stücke  und  wird  auch  von  Wurz- 
bach, dessen  Artikel  über  Haffner  im  österreichischen  Schriftstellerlexikon 
bis  1862  reicht,  nicht  erwähnt. 


Schlemihle  109 

kaufen  sind.  Daß  Saphir  seinerseits  von  Teter  Schlemihl  aus- 
gegangen ist,  scheint  nach  dem  ganzen  Charakter  des  Gedichtes 
nicht  wahrscheinlich;  es  wirkt  eher  wie  ein  Seitenstück  zu  La 
Fontaines  Le  Financier  et  le  Savetier,  aus  dem  bei  uns  Johann, 
der  muntere  Seifensieder  wurde. 

Gegenüber  der  stattlichen  Anzahl  von  Dramatisierungen,  die 
von  Hauffs  Märchen  zu  nennen  waren,  erscheint  Peter  Schlemihl 
nur  spärlich  bedacht  von  der  Gunst  der  Theatermänner.  Zwar 
wurde  schon  im  Februar  1819  auf  dem  Josephstädter  Theater  in 
Wien  ein  'komisches  Zauberspiel  in  drei  Aufzügen'  von  Fer- 
dinand Rosenau  aufgeführt,  das  Der  Puzlivizli  oder  der 
Mann  ohne  Schatten  heißt,  und  wenn  der  Verfasser  es  'frei  nach 
de  la  Motte  Fouque'  bearbeitet  haben  will,  so  wird  er  ja  wohl 
Chamisso  meinen.  Gedruckt  ist  es  aber  wohl  nie  worden;  auch 
Hitzig  wußte  nur,  daß  unter  den  Personen  der  graue  Mann  und  ein 
Albert  schlechthin  erscheinen,  und  vermutete  unter  dem  letzten 
Schlemihl;  über  den  Inhalt  konnte  er  nichts  berichten.  Von 
Bäuerles  1818  aufgeführtem  Stück  Der  Schatten  von  Fausts 
Weihe^  muß  es  ganz  dahingestellt  bleiben,  ob  es  mit  dem  Schle- 
mihlmotiv  etwas  zu  tun  hat. 

Erst  ein  Menschenalter  später  hören  wir  abermals  von  einem 
Schlemihldrama:  diesmal  ist  es  eine  Posse  mit  Gesang  in  einem 
Aufzug;  'teilweise  nach  einem  älteren  Sujet'  bemerkt  der  Ver- 
fasser David  Kaiisch;  dies  'ältere  Sujet'  ist  vielleicht 
irgendeine  Pariser  oder  Wiener  Posse,  hatte  aber  mit  Chamissos 
Märchen  nichts  zu  tun;  die  paar  Worte,  die  über  Kaiisch ens  Stück 
zu  sagen  sind,  gehören  in  späteren  Zusammenhang. 

Zu  diesen  sehr  bescheidenen  Erzeugnissen  der  dramatischen 
Muse  hat  sich  in  jüngstvergangener  Zeit  eine  viel  anspruchsvollere 
Erneuerung  gesellt.  Hermann  Wette,  der  Westfale,  der 
Dichter  des  Krauskopf,  ist  mit  einem  Peter  SchlemihP  hervor- 
getreten, den  er  ein  'modernes  Teufelsmärchen  in  fünf  Akten' 
nennt.  Modern  ist  sehr  wörtlich  gemeint;  die  Handlung  liegt  zur 
Zeit  des  Erscheinens,  das  heißt  also  in  der  Zeit  des  gewaltigen 
Aufschwungs  der  deutschen  Wirtschaft,  der  Ort  ist  der  westfäli- 
sche Industriebezirk,  im  besonderen  die  Gegend  von  Bottrop. 
Peter  Schlemihl,  ausgestattet  mit  echten  und  rechten  Pechvogel- 
zügen, ein  gescheiterter  Theologe,  will  unter  die  Journalisten 
gehen,  er  soll  die  Leitung  einer  großkapitalistischen  Gedanken 
dienenden  Zeitung  übernehmen  —  aber  erfüllt  von  den  Idealen 
der  sozialen  Pastoren  und  der  Bodenreformer  schlägt  er  das  ver- 
lockende Angebot  aus  und  steht  nun  vor  dem  Elend.     Da  naht 


Vgl.  G  o  e  d  e  k  e,  Grundriß  (erste  Auflage)  III,  2,  826. 
Leipzig  1910. 


110  Schlemihle 

ihm  der  Versucher,  der  'Graue',  hier  Monsieur  Malin  genannt; 
der  Schattenhandel  wird  abgeschlossen,  und  zwar  so,  daß  Peter 
noch  ein  Jahr  seinen  Schatten  behalten  soll  und  ihn  nachher  im 
Austausch  gegen  den  Glückssäckel  jederzeit  wiederbekommen 
kann.  Bis  hierher,  d.  h.  bis  zum  Schluß  des  1.  Aktes,  schließt 
sich  die  Handlung  trotz  aller  Modernisierung  eng  an  Chamisso; 
nun  aber  geht  "Wette  eigene  "Wege.  Peter,  den  die  Aussicht  ge- 
lockt hat,  durch  den  Reichtum  seine  Grundsätze  verwirklichen 
zu  können,  erweist  sich  ihnen  auch  treu;  da  führt  der  Verlust 
seines  Schattens  die  Katastrophe  herbei,  auf  die  Malin  gerechnet 
hatte,  der  enttäuschte  Idealist  will  jetzt  Malins  Schüler  werden: 
er  folgt  ihm  zunächst  in  die  große  Welt.  Aber  er  besinnt  sich 
wieder,  er  trotzt  auch  der  letzten  Lockung  Malins,  der  ihn  durch 
die  Liebe  zu  fangen  hofft;  der  Bruch  erfolgt.  "Wohl  wird  jetzt 
der  schattenlose  Peter  von  der  Landbevölkerung  gehetzt;  die  Not 
hilft  ihm  zur  Erkenntnis,  'daß  der  Mensch  nichts  von  seinem 
"Wesen,  auch  nicht  den  kleinsten  Teil  seines  Schattens  verlieren 
darf,  will  er  vor  Gott  und  sich  selbst  bestehen';  er  überwindet 
Malin  endgültig,  erhält  seinen  Schatten  wieder,  und  nun  soll  sein 
Leben  dem  Kampf  gegen  den  Mammon  gelten,  das  Gut,  das  er 
früher  erworben,  soll  deutsches  Bauernland  werden;  er  selbst 
geht  als  Fabrikarbeiter  unter  das  Volk.  Im  5.  Akte  finden  wir 
ilm  wieder  als  den  Fahnenträger  der  christlich-sozialen  Arbeiter; 
als  solcher  verhindert  er  einen  großen  Schlag,  den  die  großkapita- 
listischen Arbeitgeber  im  Bunde  mit  ihren  polnischen  und  kroati- 
schen Arbeitern  gegen  die  Deutschen  planen  —  er  selbst  freilich 
wird  heimtückisch  erstochen.  An  seiner  Bahre  aber  bekennt  sich 
sein  alter  Gegner  —  er  tritt  seit  dem  2.  Akte  als  Graf  "Westphalen- 
Malin  auf  —  überwunden:  er  will  und  muß  vom  Teufel  los,  als 
deutscher  Adliger  wird  er  Führer  sein  des  Volkes  der  Arbeit; 
Schlemihls  letzten  "Willen  wird  er  vollstrecken  und  'dann  soll  am 
deutschen  "Wesen  noch  einmal  die  "Welt  genesen'. 

Verklungene  Zeiten!  Der  jüngste  der  Schlemihle  ist  durch 
die  weiteste  Kluft  von  uns  getrennt:  es  ist  gar  anders  gekommen 
als  sein  Dichter  träumte.  Aber  der  Traum  ist  so  herzgewinnend, 
daß  wir  die  literarischen  vSchwächen  der  Dichtung  schon  mit  in 
den  Kauf  nehmen.  Sie  liegen  ja  so  klar  zutage:  so  bequeme 
Verträge  darf  der  Böse  doch  nicht  schließen!  Seit  wann  bleibt 
dem  Märchenhelden  der  Gewinn  aus  einem  Zauberhandel,  wenn 
dessen  Voraussetzungen  nicht  mehr  gelten?  Peter  Schlemihls 
Reichtum  müßte  doch  zerrinnen,  nachdem  er  Fortunats  Säckel 
zurückgegeben  hat!  Und  wer  ist  eigentlich  Monsieur  Malin? 
Ist  er  der  leibhaftige  Satan,  dann  kann  er  doch  nicht  hinterher 
ohne  weiteres  als  adliger  Führer  des  deutschen  A^olkes  gelten:  ist 
er  aber  ein  Mensch,  wie  kann  er  schlechthin  dämonische  Zauber- 


Schlemihle  111 

künsie  üben?  Ist  der  Vertrag,  den  er  dann  mit  seinem  Herrn 
und  Meister  geschlossen  hat,  auch  so  bequem  wie  sein  eigener  mit 
Schlemihl?  Derartiges  ließe  sich  noch  genug  anführen,  und  trotz 
alledem  wollen  wir,  statt  zu  kritteln,  heute  lieber  dem  Verfasser 
den  hohen  Sinn  neiden,  mit  dem  er  einst  seinen  Stoff  erfaßte; 
Chamisso  selbst  hätte  ja  wohl  behaglich  Beifall  genickt  zu  dem 
Gedanken,  seinen  Schlemihl  zu  einem  Typus  deutschen  Wesens, 
zu  einer  Verkörperung  der  ringenden  deutschen  Volksseele  zu 
machen.  In  ganz  anderem  Sinne  liegt  uns  heute  der  Gedanke 
wieder  nahe:  ganz  anders  freilich  müßten  wir  nach  dem  gi'oßen 
Zusammenbruch  die  Farben  mischen,  als  einst  Hermann  Wette 
in  den  Tagen  der  Hoffnung. 

Die  Dramatisierungen  von  Chamissos  Märchen  —  ob  die  an- 
gekündigte Oper  von  Richard  Strauß  Die  Frau  ohne  Schatten 
dazugehört,  bleibt  abzuwarten  —  ließen  den  Helden  seine  Schick- 
sale in  besonderer  Beleuchtung  vor  unsern  Augen  erleben;  wenn 
die  erzählende  Dichtung  Peter  noch  einmal  aus  der  Einsiedelei 
hervorholen  wollte,  konnte  sie  nicht  wohl  abermals  erzählen,  was 
schon  bei  Chamisso  zu  lesen  war,  sie  mußte  irgendwie  suchen,  über 
ihn  hinauszukommen.  Eine  gewisse  äußere  Veranlassung  dazu 
gab  der  Tod  Chamissos  (1838);  unmittelbar  durch  ihn  ist  —  min- 
destens nach  des  Verfassers  Behauptung  —  veranlaßt  Peter  Schle- 
mihls  Heimhehr,  die  umfängliche  Erzählung  des  alten  Lützowers 
und  späteren  'kgl.  preußischen  Hofdemagogen'  Friedrich 
Förster.-'  Das  Vorwort  berichtet,  wie  einst  Chamisso  in  einem 
Gespräch  über  Goethes  Faust  (dessen  zweiter  Teil  damals  noch 
nicht  vorlag)  geäußert  habe,  der  Teufel  dürfe  jedenfalls  nie  und 
in  keinem  Falle  recht  behalten;  Förster  habe  zugestimmt,  zu  glei- 
cher Zeit  aber  Chamisso  angeregt,  nun  auch  dafür  zu  sorgen,  daß 
der  Graue  beim  Schattenhandel  zu  guter  Letzt  doch  der  Betrogene 
sei.  Andere  hätten  sich  seiner  Bitte  angeschlossen,  den  redlichen 
Schlemihl  nicht  auf  zeitlebens  in  die  ägyptische  Einsamkeit  zu 
verbannen,  und  Chamisso  habe  auch  nicht  geradezu  abgelehnt,  sei 
aber  weiteren  Ansinnen  ausgewichen  und  habe  die  Fortsetzung 
auf  unbestimmte  Zeit  vertagt.  Nach  seinem  Tode  finde  sich  nun 
Förster  durch  ein  leichtsinnig  gegebenes  Versprechen  gebunden, 
und  so  veröffentliche  er  denn  den  zweiten  Teil  des  Veter 
Schlemihl. 

Daß  ähnliche  Bitten  an  Chamisso  herangetreten  sind,  ist  schon 
denkbar:  der  Ausgang  seines  Märchens  machte  an  sich  eine  Fort- 
setzung möglich:  die  ernsthafte  Absicht  hat  er  aber  kaum  gehabt, 
und  leider  war  Förster  nicht  der  Mann,  der  der  Aufgabe  gewach- 
sen war.     Er  verwischte  die  tiefernste  Grundlage  der  Dichtung; 


Leipzig  1843. 


112  Schlemihle 

um  seines  Zweckes  willen  ließ  er  unberücksichtigt,  daß  das  Mär- 
chen nicht  bloße  Erfindung,  sondern  aus  dem  innersten  Erleben 
gewachsen  war.  Chamissos  Schlemihl  folgt  seinem  Wesen,  wenn 
er  sich  in  die  Öde  der  Wüste  birgt,  er  hat  unter  Menschen  nichts 
mehr  zu  suchen;  bei  Förster  ist  das  Einsiedeltum  nur  Sühne  für 
schließlich  läßlichen  Fehl  seiner  Jugend,  und  es  kommt  der  Tag, 
da  Peter  meint,  genug  gesühnt  zu  haben.  Von  seiner  Tränen- 
seligkeit hat  ihn  das  Wüstenleben  geheilt,  er  hat  gelernt,  den 
Humor  der  Dinge  einzusehen:  das  heißt  dann  freilich,  er  ist  gar 
nicht  mehr  Schlemihl.  Wie  sollte  der  auf  den  Gedanken  kommen, 
daß  die  Schattenlosigkeit  am  Ende  auch  ihre  Vorteile  hat  —  das 
ist  aber  gerade  des  Försterschen  Schlemihl  neugewonnene  Ein- 
sicht! Auf  der  Fahrt  in  die  Welt  benutzt  er  sie  denn  auch  recht 
erfolgreich:  dem  Schattenlosen  gelingt  manch  geschickter  Streich, 
er  gewinnt  sogar  die  Liebe  der  schönen  Adele,  der  Tochter 
Rustans,  des  einstigen  Leibmamelucken  Napoleons.  Freilich  sei- 
nen Schatten  möchte  er  doch  wiederhaben,  aber  allein  ist  er  trotz 
manchem  Hin  und  Her  dem  Grauen  nicht  gewachsen.  Da  hilft 
die  Liebe:  die  schöne  Adele  opfert  um  des  Geliebten  willen  ihr 
Spiegelbild,  und  beim  letzten  Kampf  mit  dem  Grauen,  zu  Berlin 
am  Grabe  Chamissos,  bringt  das  Spiegelbild  die  Entscheidung: 
der  Graue  versinkt,  und  Schlemihl  hat  seinen  Schatten  wieder. 
Nach  einer  mühsamen  Episode  schließt  die  zuletzt  bedenklich 
versandende  Erzählung  mit  der  fröhlichen  Hochzeit  des  so  lange 
Unbehausten. 

Auch  abgesehen  von  den  betonten  grundsätzlichen  Einwän- 
den gegen  Försters  Versuch,  läßt  sich  nicht  allzuviel  Gutes  von 
ihm  rühmen;  wohl  findet  sich  manche  anziehende  Einzelheit,  wie 
das  Auftreten  des  Fürsten  Pückler-Muskau  und  die  Episode  des 
Jean-Paul-Festes  in  Kuhschnappel,  im  ganzen  ist  aber  die  Er- 
findung mühselig  und  gezwungen,  die  Darstellung  breit  und  lang- 
weilig; das  Beste  an  dem  Buch  sind  zweifellos  die  zwölf  Zeich- 
nungen, die  Hosemann  beigesteuert  hat. 

Und  doch  ist  das  Buch  Försters  wohl  nicht  ohne  Einfluß  ge- 
blieben auf  einen  zweiten  Versuch,  mit  Chamissos  Kalbe  zu 
pflügen.  Noch  heute  ist  die  Märchensammlung  des  Thüringers 
Ludwig  Bechstein  in  vielen  Händen,  wird  sein  Name  als 
Sagenforscher  und  -kenner  rühmlich  genannt,  um  so  vergessener 
ist  freilich  seine  dichterische  Betätigung.  Er  kannte  Försters 
Versuch  sehr  wohl,  erwähnt  er  ihn  doch  in  seiner  'kosmologisch- 
literarischen  Novelle  Die  Manushripte  Peter  Schlemihls}  Frei- 
lich urteilt  er  über  seinen  Vorgänger  nicht  sehr  günstig  und  be- 
ruft sich  dabei   auf  die   zeitgenössische  Kritik;    man  muß  ihm 


1  Berlin  1851  (2  Teil^) ;  vgl.  I,  143. 


Schlemihle  113 

jedenfalls  lassen,  daß  er  seinen  besonderen  Weg  einschlug,  der 
ihm  erlaubte,  den  gefährlichen  unmittelbaren  Wettbewerb  mit 
Chamisso  zu  vermeiden.  Am  Schlüsse  des  Märchens  erzählt  näm- 
lich Schlemihl,  wie  er,  die  Wunderkraft  seiner  Stiefel  ausnutzend, 
alle  Erscheinungen  des  irdischen  Lebens  gründlich  kennengelernt, 
die  erkannten  Tatsachen  in  mehreren  Werken  dargelegt,  seine 
Folgerungen  und  Ansichten  in  einer  Reihe  von  Abhandlungen 
auseinandergesetzt  habe;  er  werde  Sorge  tragen,  daß  dieser  sein 
Nachlaß  nach  seinem  Tode  an  die  Berliner  Universität  gelange. 
Hier  knüpft  Bechstein  an:  Schlemihl  hat  Nachricht  über  seine 
wissenschaftliche  Hinterlassenschaft  in  die  Heimat  gesendet,  und 
durch  eine  wunderbare  Schickung  gerät  die  Aufforderung,  diese 
Manuskripte  zu  bergen,  an  einen  armen  Schlucker  von  sächsischen 
Magister.  So  berichtet  denn  die  Novelle  von  Mendels  Fahrt  ins 
Pharaonenland:  es  gelingt  ihm,  die  Höhle  zu  finden,  den  Schatz 
zu  heben;  Schlemihls  Asche  kann  er  würdig  bestatten.  Und  nun 
kommt  die  Tragik:  die  Brust  geschwellt  von  der  Hoffnung,  als 
Herausgeber  auf  der  Titelseite  grundlegender  Werke  zu  prangen, 
bringt  Mendel  Schlemihls  Erbschaft  durch  mancherlei  Fährnisse 
und  Versuchungen  glücklich  nach  Hause:  ach,  es  ist  eben  Schle- 
mihls Erbschaft.  Die  Berliner  Universität  dankt  schönstens  für 
die  ihr  zugedachte  Gabe,  und  erst  recht  bitter  ist  die  Enttäu- 
schung, als  auch  die  Buchhändler  gar  nicht  erkennen  wollen,  was 
ihre  Ehrenschuld  wäre.  So  ist  denn  das  Ende  aller  Hoffnungen 
ein  trübseliges  Korrektordasein,  ein  steter  Kampf  mit  der  Not  des 
Lebens  —  als  letzte  Ironie  wirkt  es,  daß  die  Schilderung  seiner 
Fahrt  und  späteren  Mühsale,  die  er  dem  angeblichen  Herausgeber, 
seinem  Freunde  Bechstein,  gegeben  hat,  ihn  nach  seinem  Tode  als 
Verfasser  das  erreichen  läßt,  was  er  als  Schlemihls  Treuhänder 
vergeblich  erstrebte:  den  Platz  im  Meßkatalog. 

Nun  stellt  sich  Bechsteins  Novelle  aber  nicht  nur  als  eine  An- 
knüpfung an  Chamissos  Märchen  heraus,  sie  ist  mehr  als  das: 
Bechsteins  Held  ist  ein  Peter  Schlemihl  redivivus.  Die  Gestalt 
als  solche  ist  aufgenommen:  ein  Pechvogelgeschick  ist  gestaltet 
ohne  Einschlag  des  Wunderbaren  und  ohne  die  Schuld  des  Schat- 
tenverkaufs. Mendel  ist  eine  brave  Haut,  aber  dem  Leben  nicht 
gewachsen,  gelehrt  und  fleißig,  doch  ohne  eigenen  Gedanken,  der 
geborene  Famulus,  der  sich  nur  im  Schatten  eines  Meisters  wohl- 
fühlt. So  gar  bescheiden  ist  das  Glück,  das  er  sucht,  und  doch 
gleitet  es  ihm  aus  den  Händen:  er  hat  da  schon  seine  trübe  Erfah- 
rung gemacht,  ehe  er  die  Fahrt  nach  Ägj^pten  antritt.  Wie  will 
er  nun  diesen  Schatz  hüten,  wie  weist  er  die  Versuchung,  die 
Manuskripte  einem  verdrehten  Engländer  zu  verkaufen,  weit  von 
sich,  und  der  Kaufpreis  hätte  dem  Bescheidenen  doch  für  sein  Leben 
eine  behagliche  Zukunft  gesichert!     Und  äabei  schlägt  er  denn 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    Sonderheft.  g 


114  Schlemihle 

das  G'lück,  das  er  jetzt  wirklich  in  der  Hand  hat.  ans  —  freilich, 
er  mnß  es  ja  wohl  tun,  denn  Mr.  Highgoods  Grold  hätte  diesen 
Schlemihl  doch  nimmer  glücklich  gemacht:  nie  hätte  ihn  der  G-e- 
danke  losgelassen,  daß  er.  der  Mann  der  "Wissenschaft,  ein  Mam- 
monsdiener geworden  sei,  daß  er  mitgeholfen  habe,  in  englischen 
Truhen  die  Früchte  eines  langen  Forscherlebens  zu  vergraben  — 
ihm  schlägt  eben  zum  Unheil  aus.  was  er  auch  besitzt. 

Aber  Bechsteins  Buch  ist  keine  schmale  Novelle,  das  Schiff- 
lein segelt  mit  recht  schwerer  Fracht.  Schon  Mendels  Schilde- 
rung seiner  Orientfahrt  verfällt  allzusehr  in  die  Weise  einer 
Eeisebeschreibung.  die  Kenntnisse  verbreiten  will,  und  der 
lästigste  Ballast  sind  auch  für  ihn  die  unheilvollen  Manuskripte. 
Wir  müssen  eine  Vorstellung  von  ihnen  erhalten,  begreifen,  daß 
der  Buchhandel  ihnen  gegenüber  spröde  ist;  aber  anderseits  auch 
Mendels  Urteil  über  sie  verstehen,  und  er  darf  dabei  nicht  als 
Schwachkopf  erscheinen.  Der  Ausweg  ist,  daß  Schlemihl  ein 
System  der  gesamten  Geschichts-  und  Naturwissenschaft,  ein 
'kosmologisches  Universum'  verfaßt  hat,  eine  Anhäufung  eines 
gewaltigen  Stoffes  an  Tatsachen,  Zahlen  usw.,  die  trotz  oder  viel- 
fach gerade  wegen  ihrer  absonderlichen  Art  wohl  geeignet  ist, 
ein  Gemüt  wie  das  Mendels  mit  staunender  Bewunderung  zu 
füllen.  Wenn  nun  aber  Mendel  vor  unseren  Augen  mehr  als  eine 
Gelegenheit  benützt,  diese  und  jene  Abteilung  zu  mustern,  und 
dabei  eine  Übersicht  des  Inhalts  in  der  Art  eines  antiken  Argu- 
mentums  gibt,  dann  verstehen  mr  freilich  sowohl  Mendel  als 
auch  die  hartherzigen  Verleger,  nur  wird  dies  Ergebnis  mit  dem 
Preis  einer  gehörigen  Langenweile  bezahlt:  Bechsteins  Kunst  ist 
an  der  Aufgabe,  dies  Problem  dichterisch  zu  lösen,  gescheitert. 
Immerhin:  wenn  Bechstein  Schlemihl  in  seiner  Höhleneinsamkeit 
eine  ungeheure,  letzten  Endes  doch  zwecklose  Gelehrsamkeit  auf- 
häufen läßt,  wenn  sein  eigener  Held  sein  Leben  an  diesem  Stoff- 
wuste  vertut  im  Gegensatz  zu  einem  praktischen  Franzosen,  der 
gutverkäufliche  Dinge  aus  Ägypten  holt,  zu  einem  verschrobenen 
Engländer,  dem  die  Jagd  nach  Altertümern  nur  Sport  und  Zeit- 
vertreib ist,  dann  spüren  wir  doch,  daß  er  in  der  Schlemihlfigur 
ein  Symbol  deutschen  Volkstums  gesehen  hat,  ein  nicht  nur  für 
die  Wende  der  vierziger  und  fünfziger  Jahre  zeitgemäßes  Sym- 
bol —  leider  reichte  die  dichterische  Kraft  bei  weitem  nicht  aus, 
um  es  zu  künstlerischer  Bedeutsamkeit  zu  erheben. 

Bechstein  erwähnt  nicht  nur  Försters  Versuch,  sondern  an 
derselben  Stelle  (I,  143)  auch  andere  'Fortsetzungen'  oder  'Ergän- 
zungen'; freilich  nennt  er  nur  Hoffmanns  Verlorenes  Spiegel- 
hild  und  fährt  dann  fort:  'andere  folgten,  und  der  Gottseibeiuns 
errichtete  ein  Leihhaus :  er  machte  guten  Markt  mit  Namen,  Haa- 
ren und  was  sonst  der  Mensch  sein  eigen  nannte  und  allenfalls 


Schlemihle  115 

nicht  täglich  bedurfte'.  Leider  hat  es  bei  dieser  sehr  allgemeinen 
Andeutung  sein  Bewenden,  und  heute  ist  es  bei  dem  Eintags- 
charakter dieser  Literatur  jedenfalls  schwer  anzugeben,  worauf 
Bechstein  anspielt.  An  sich  ist  seine  Aussage  ja  nicht  unwahr- 
scheinlich; anderseits  redet  er  nicht  als  Forscher,  sondern  als 
ISTovellist  und  könnte  sich  sehr  wohl  dagegen  verwahren,  daß  seine 
Worte  buchstäblich  genommen  werden.  Goedeke  nennt  jeden- 
falls nur  eine  Dichtung,  die  als  eine  Art  "Wiederaufnahme  des 
Verkauf smotivs  gelten  kann,  ein  Märchen  von  F.  Brunei  d, 
unter  welchem  Schriftstellernamen  sich  der  märkische  Lehrer 
Aug.  Fried r.  Mayer  birgt.  Es  heißt  Waldgeist  und  steht  in 
den  See-  und  Waldmährchen} 

Von  einem  braven  Jägerburschen  erzählt  es,  der  aber  eine 
Schlafratte  ist,  und  dem  deshalb  die  Wilddiebe  über  den  Kopf 
wachsen.  Da  verkauft  er  dem  Teufel  für  eine  auf  weite  Entfer- 
nung sicher  treffende  Büchse,  was  über  zehn  Stunden  Schlaf  ist, 
und  damit  fängt  sein  Unglück  an.  Jetzt  ein  angesehener  Jäger, 
will  er  gleich  obenhinaus;  er  verliebt  sich  in  die  Tochter  seines 
gräflichen  Herrn  und  setzt  nun  -den  Handel  fort:  um  zwei  Stun- 
den Schlafes  erwirbt  er  sich  ein  Schloß,  für  zwei  weitere  das 
nötige  Geld,  und  nun  erreicht  er  sein  Ziel.  Aber  jetzt  wacht  er 
zuviel,  und  in  den  schlaflosen  Stunden  quält  den  Emporkömm- 
ling das  Mißtrauen;  für  nochmals  zwei  Stunden  Schlaf  erhält  er 
ein  Glas,  mit  dem  er  die  Herzen  der  Menschen  durchschaut,  und 
nun  wird  die  Sache  natürlich  noch  schlimmer.  Sein  Weib  verläßt 
ihn;  um  endlich  einmal  ordentlich  schlafen  zu  können,  opfert  er 
abermals  zwei  Stunden.  Dann  geht  er  in  die  Welt;  des  Lebens 
satt  und  übersatt  kehrt  er  zurück  und  will  jetzt  nur  den  Tod,  aber 
der  Teufel  weigert  ihm  den.  Da  verzichtet  er  auf  sein  Menschen- 
dasein; den  letzten  Schlaf  gibt  er  hin,  um  den  Körper  loszuwer- 
den: als  Menschenschatten  huscht  er  durch  den  Wald. 

Einiges  wenigstens  kann  ich  diesem  bisher  allein  verzeichne- 
ten Beispiel  hinzufügen:  das  Verkaufsmotiv  findet  sich  bei  dem 
baltischen  Freiherrn  Alexander  von  Ungern-Stern- 
b  e  r  g,  einem  der  frühesten  Vertreter  des  jungdeutschen  Romans, 
dessen  Novellentitel  Die  Zerrissenen  es  ja  zum  bezeichnenden 
Schlagwort  für  die  Zeit"  brachte.  In  seinem  Buche  der  drei 
Schivestern^  steht  die  Novelle  Der  rote  Ziverg;  eine  Episode  die- 
ser, die  Erzählung  des  dicken  Herrn,  besteht  gleich  aus  zwei 
Schlemihlgeschichten,  die  man  'Der  verkaufte  Magen'  und  'Der 
verkaufte  Schlaf  nennen  mag.  Der  dicke  Herr  erzählt  von  son- 
derbaren Bekanntschaften,    die   er  gemacht  hat:    da   hat   er   zu- 


1  Berlin  1845,  S.  152  ff. 

»  2  Bände,  Leipzig  1847;  vgl.  I,  219  ff. 


116  Schlemihle 

nächst  1837  im  Bade  einen  hageren  Mann  kennengelernt,  ein 
AVunder  von  unermüdlicher  Eßlust,  gefeit  gegen  die  Folgen  selbst 
des  üppigsten  Mahles.  Ein  Zufall  macht  den  Erzähler  zum  Zeu- 
gen eines  Gespräches,  in  dem  seltsame  Dinge  ans  Tageslicht  kom- 
men: der  Hagere  kann  nach  Herzenslust  schlemmen,  weil  das 
Verdauen  ein  anderer  zu  besorgen  hat;  ein  armer  Teufel,  der  sich 
einst  auf  den  Jahrmärkten  mühsam  genug  als  Eisenfresser  (im 
wörtlichen  Sinne)  durchgeschlagen  hat,  ist  durch  hohen  Lohn  von 
dem  Hageren  bewogen  worden,  ihm  seinen  Magen  zur  Verfügung 
zu  stellen;  durch  magnetische  Operationen  ist  die  Übertragung 
vollzogen  worden,  aber  bald  genug  ist  dem  armen  Kerl  der  Han- 
del leid  geworden.  Denn  sein  Herr  kann  sich  nun  an  Werken  der 
Kochkunst  letzen,  die  schwerer  zu  verdauen  sind  als  Kieselsteine; 
er  aber  kann  nicht  viel  mehr  als  Stein  und  Bein  klagen  und  eine 
Lohnerhöhung  durchsetzen,  muß  er  doch  jeden  Augenblick  fürch- 
ten, daß  sein  Trotz  dadurch  bestraft  wird,  daß  der  Fresser  auf 
seine  Kosten  einfach  Gift  nimmt.  Über  den  Ausgang  der  Sache 
weiß  der  Erzähler  selbst  nichts,  da  der  Hagere  mit  seinem  ge- 
plagten Gefolgsmann  plötzlich  abreist. 

Ebenso  leicht  macht  Sternberg  sich  die  Lösung  bei  seiner 
zweiten  Schlemihlgeschichte.  In  ihr  hat  ein  ungeheuer  reicher 
Frankfurter,  ein  Emporkömmling  aus  den  niedersten  Schichten, 
alles,  was  sein  Herz  begehrt;  nur  schlafen  kann  er  nicht.  Und 
doch  war  einst  ein  fester,  traumloser  Schlaf  sein  einziger  Besitz, 
bis  den  selig  auf  der  Landstraße  Schlummernden  ein  finster- 
blickender, unheimlicher  Geselle  aufgeweckt  hat,  um  ihm  für 
hundert  Taler  eine  Stunde  Schlaf  abzukaufen.  Leichtsinnig  hat 
er  das  Geld  verschwendet  und  dann  gegen  immer  größere  Summen 
immer  mehr  Schlaf  verhandelt,  schließlich  die  letzte  Stunde  für 
seinen  jetzigen  Reichtum.  Seitdem  kann  er  kein  Auge  mehr  zu- 
tun; aber  als  der  dicke  Herr  mit  seiner  Erzählung  soweit  ist,  be- 
merkt er,  daß  seine  ganze  Zuhörerschaft  ihrerseits  sanft  ent- 
schlummert ist  —  und  damit  ist  die  Episode  zu  Ende. 

Nach  Bechstein  hätte  der  Gottseibeiuns  auch  guten  Markt  mit 
Namen  gemacht,  was  schließlich  bei  unserm  Geschäft  ein  sonder- 
barer Handelsgegenstand  ist.  Spielt  er  vielleicht  an  auf  die  Er- 
zählung Der  Mann  ohne  Namen  von  dem  im  Vormärz  viel  ge- 
lesenen Karl  Spindler,^  einem  reichbegabten,  freilich  viel  zu 
fruchtbaren  Erzähler?  Hier  ist  der  Ausgangspunkt  ein  Hasard- 
spiel zwischen  zwei  Nebenbuhlern,  italienischen  Adligen:  der 
eine  verspielt  sein  Hab  und  Gut,  seinen  Anspruch  auf  die  Ge- 
liebte, zuletzt  das  Anrecht  auf  seinen  Namen.     Die  Folgen  ent- 


1  In  der   Sammlung  'Sommermalven'    (2  Bde.),   Stuttgart  1833;    vgl.   II, 
291  flf. 


Schlemible  117 

sprechen  dem  Typus  dieser  Art  von  Schlemihlgeschichten:  ohne 
Namen  ist  der  Unglückliche  ausgestoßen  aus  Familie  und  Gesell- 
schaft; selbst  Räuber  weisen  ihn  aus  ihrer  Mitte,  der  Priester,  bei 
dem  er  sich  taufen  lassen  will,  weigert  seine  Hilfe,  er  ist  ja  schon 
getauft,  und  seinen  Namen  soll  er  nur  wiederzuerlangen  suchen. 
So  muß  er  wehrlos  zusehen,  wie  sein  Gegner  ihm  Ruf  und  Ehre 
schändet,  in  Jammer  und  Elend  geht  er  zugrunde.  Das  tiber- 
natürliche Element  fehlt  der  Erzählung  gänzlich,  und  eben  des- 
halb wird  man  nicht  unbedingt  behaupten  wollen,  daß  sie  aus 
Chamissos  Saat  aufgegangen  ist;  Spindler  erzählt  übrigens  'frei 
nach  dem  Französischen'  —  leider  kann  ich  seine  Vorlage  nicht 
nachweisen. 

Man  erkennt  leicht  an  den  vier  Erzählungen  eine  Abschwä- 
chung  des  Motivs.  Die  Zeiten  der  Märchendichtung  der  Roman- 
tiker waren  vorüber,  der  Geschmack  des  Publikums  hatte  sich 
abgewandt  vom  Übernatürlichen  und  seinen  Beziehungen  zur 
Sinnenwelt;  diese  Schriftsteller  aber  wollten  dem  Publikum  die- 
nen. Gewiß  stand  Brunold  den  literarischen  Richtungen  des 
Tages  fern;  er  wollte  ein  Märchen  geben,  aber  er  fand  nicht 
den  Märchenstil:  die  Poesie  suchte  er  in  gehobener  Sprache,  in 
einem  etwas  sentimentalen  Ton,  aber  damit  macht  er  uns  höch- 
stens mißtrauisch  gegen  die  Glaubwürdigkeit  seiner  Entwicklung 
des  Problems  —  wir  sehen  gar  nicht  ein,  warum  der  Jäger  nach 
dem  ersten  Verkauf  immer  weiter  auf  die  abschüssige  Bahn  ge- 
drängt werden  muß,  warum  er  sich  nicht  besser  sichert.  Spindler 
oder  seine  Vorlage  verzichtet  auf  alles  Märchenhafte;  was  übrig- 
bleibt, ist  eine  etwas  hintertreppenmäßig  anmutende  Schauer- 
geschichte; Sternberg  endlich,  an  sich  ein  Verehrer  des  achtzehn- 
ten Jahrhunderts,  schlägt  einen  Ton  an,  bei  dem  man  etwas  an  die 
ironische  Art  erinnert  wird,  in  der  man  im  Zeitalter  der  Aufklä- 
rung Märchen  erzählte.  Eine  Stilprobe  ist  die  philosophische  Er- 
kenntnis, mit  der  sich  sein  ehemaliger  Steineschlucker  tröstet: 
'Haben  wir  nicht  immer  verdauen  müssen,  wenn  unser  Adel  und 
unsere  Vornehmen  an  ihren  glänzenden  Tafeln  schmausten?  Sie 
haben  sich  immerdar  mit  uns  in  einen  so  kräftigen  magnetischen 
Rapport  zu  setzen  gewußt,  daß  wir  die  Last  und  sie  den  Genuß 
haben.'  Dabei  ist  dann  auch  ganz  bezeichnend,  daß  in  der  ersten 
Geschichte  Sternberg  den  Teufelspakt  durch  den  modernen 
Magnetismus  ersetzt,  in  der  zweiten  aber  die  Person  des  Käufers 
im  unklaren  läßt;  gewiß,  er  gibt  ihr  einen  dämonischen  Zug,  be- 
gnügt sich  dabei  aber  mit  so  allgemeinen  Andeutungen,  daß  von 
Märchenstimmung  kaum  die  Rede  sein  kann. 

Auch  die  späteren  Jahrzehnte,  die  auf  dem  Gebiete  des  Kunst- 
märchens an  sich  manche  trefflichen  Leistungen  aufzuweisen 
haben,  sind  in  Deutschland  dem  Motiv  des  Schattenhandels  und 


118  Schlemihle 

seinen  Umformungen  nicht  günstiger  gewesen;  Chamissos  klassi- 
sche Behandlung  ist  sicherlich  ein  Hemmnis,  weil  bei  der  scharf 
ausgeprägten  Besonderheit  dieses  Handels  jede  Umformung  zum 
A^ergleich  herausfordert.  Mancher  Titel  könnte  zwar  irreführen; 
doch  Paul  Heyses  Troubadournovelle  Der  verkaufte  Gesang 
streift  unser  Thema  nur,  denn  es  handelt  sich  um  einen  in  den 
Umständen  begründeten,  an  sich  ganz  sachgemäßen  Vertrag,  bei 
dem  der  eine  Dichtertruder  auch  gar  nicht  seine  Sanges f  äh i g- 
keit,  sondern  nur  die  öffentliche  Ausübung  seiner  Kunst  dran- 
gibt,  und  Das  verkaufte  Lächeln  von  S.Trebitsch^  ist  unserm 
Zusammenhang  ganz  fremd.  Zu  nennen  wüßte  ich  nur  ein  Mär- 
chen von  HeleneStökl,  Weh  dem,  der  nicht  lügt,^  das  dem  Ge- 
danken wenigstens  nahesteht,  und  eine  Novelle  von  A.  von  Per- 
fall, Das  verkaufte  Genie.^  Dort  ist  der  Held  ein  Wahrheits- 
fanatiker, der  der  Lüge  flucht;  ein  Kobold  nimmt  ihn  beim  Worte 
und  entzieht  ihm  die  Gabe,  irgend  etwas  zu  sagen,  was  nicht  im 
strengsten  Sinne  wahr  ist;  der  arme  Assessor  gerät  sofort  in  die 
scheußlichsten  Verlegenheiten,  stößt  jedermann  vor  den  Kopf  und 
ist  heilfroh,  als  er  aus  seinem  Silvestertraum  erwacht,  denn  nichts 
anderes  ist  es  gewesen.  Aber  die  hübsche  Geschichte  steht  un- 
serem Motiv  nur  nahe;  sieht  man  von  der  Traumeinkleidung  ab, 
so  fehlt  der  eigentliche  Verkauf.  Auch  Perfall  gibt  einen  'Som- 
mernachtstraum'; aber  bei  ihm  haben  wir  doch  einen  wirklichen 
Handel:  ein  Maler  verkauft  an  einen  mit  seiner  bloßen  Geldmacht 
unzufriedenen  schwerreichen  Amerikaner  um  eine  Million  sein 
Genie,  bei  beiderseitiger  Einwilligung  soll  der  Kauf  nach  zehn 
Jahren  rückgängig  gemacht  werden  können.  Da  nun  der  Maler 
mit  seinem  Gelde  nichts  Gescheites  anfangen  kann,  der  Millionär 
nur  den  Fluch  des  Genies  zu  spüren  bekommt,  so  sind  beide  nach 
zehn  Jahren  die  unglücklichsten  Menschen  —  zum  Glück  haben 
sie  beide  nur  geträumt.  Haschischträume,  die  der  Wille  des  guten 
Genius  der  Geschichte  bestimmt  hat,  des  väterlichen  Freundes  des 
Amerikaners,  eines  in  alle  Weisheit  des  indischen  Orients  ein- 
gedrungenen Gelehrten. 

Der  Mangel  dieser  letzten  Erfindungen  liegt  in  der  schwäch- 
lichen Art,  in  der  sie  das  Übernatürliche  in  das  alltägliche  Leben 
einführen.  Chamisso  hatte  den  echten  Romantikermut  zum  mo- 
dernen Märchen:  sein  Grauer  ist  da  und  fordert  für  sich  trotz  der 
neuzeitlichen  Umgebung  Glauben;  er  kauft  den  Schatten,  weil  er 
als  letzten  Gewinn  eine  unsterbliche  Seele  zu  erbeuten  hofft  —  die 
neueren  Dichter  wollen  aber  vom  leibhaftigen  Gottseibeiuns  und 
seiner  Seelenjagd  nicht  recht  etwas  wissen.     Nun  gibt  es  so  viel 


1  Wien  1905.       2  Jq  Schorers  Familienblatt  1883,  829  flf. 
ä  Kürschners  Bücherschatz  Nr.  650  (o.  J.). 


Schlemihle  119 

Dinge  zwischen  Himmel  und  Erde,  daß  auch  ohne  die  Mächte  der 
Hölle  alle  Schauer  des  Übernatürlichen  im  Rahmen  unserer  Zeit 
beschworen  werden  können;  für  unser  Thema,  das  "einmal  an 
einen  Kauf  gebunden  ist,  wird  ein  dämonischer  Mensch  an  Stelle 
des  Teufels  als  Käufer  einzutreten  haben;  ein  Ansatz  dazu  ist  ja 
auch  Perfalls  gelehrter  Amerikaner.  Aber  der  Stil  der  phantasti- 
schen Erzählung  hat  sich  in  Deutschland  nur  langsam  erneuert; 
im  allgemeinen  blieb  man  im  alten  Märchenlande;  hier  zwar  ist 
es  verlassen,  dafür  ist  aber  der  Traum  vorgeschützt,  der  zu  nichts 
verpflichtet,  in  dessen  Bezirk  erlaubt  ist,  was  gefällt.  Perfall  tat 
wenigstens  einige  Mystik  hinzu,  griff  ins  Gebiet  der  Hypnose 
hinüber;  aber  zu  mehr  als  durchschnittlicher  Unterhaltungsware 
reichte  seine  Kunst  nicht  aus. 

Das  Verhältnis  dieser  letzten  Behandlungen  des  Motivs  zu 
Chamissos  Märchen  ist  wohl  anders  zu  beurteilen  als  das  der 
früheren.  Brunold  und  Sternberg  übertrugen  sicherlich 
unter  der  unmittelbaren  Anregung  Chamissos  den  Schlemihl- 
handel  auf  einen  anderen  Gegenstand;  bei  Stökl  und  Per- 
fall ist  die  Bekanntschaft  mit  dem  Schlemihlmärchen  zwar  ohne 
weiteres  vorauszusetzen,  deshalb  brauchen  sie  aber  durchaus  nicht 
unmittelbar  von  ihm  angeregt  zu  sein.  Sie  sind  wohl  eher  von 
der  alten  Weisheit  und  stets  neuen  Beobachtung  ausgegangen, 
daß  die  Menschenkinder  gewöhnlich  höchst  unzufrieden  mit  dem 
sind,  was  ihnen  ihre  gegenwärtige  Lage  bietet;  so  unzufriedene 
Seelen  durch  den-  Traum  von  ihren  Schmerzen  zu  heilen,  ist  viel- 
bewährtes Dichterrezept.  Nun  ist  der  Schlemihlhandel  eins  von 
den  zahlreichen  Märchenmotiven  geworden,  mit  denen  die  Phan- 
tasie als  mit  ererbtem  Besitz  schaltet;  wenn  hier  im  Traum 
unbesonnene  Wünsche  Wirklichkeit  werden  sollten,  so  lag  es 
nahe,  dem  Wahrheitsfreund  die  Fähigkeit  zu  lügen,  dem  Künst- 
ler das  Talent  zu  nehmen  —  das  geeignete  Schlemihlmotiv  wurde 
einfach  übertragen,  ohne  daß  der  Schriftsteller  deshalb  zu  Cha- 
missos Märchen  ein  Seitenstück  zu  geben  beabsichtigte.  Das  hin- 
dert natürlich  nicht,  daß  die  fertige  Erzählung  für  uns  zu  der 
Gruppe  tritt,  deren  charakteristischer  Vertreter  nun  einmal  Cha- 
missos Schlemihl  ist. 

Dasselbe  gilt  wohl  auch  von  einem  neueren  Drama,  das  ich 
indessen  nur  aus  einer  Besprechung  kenne,^  der  am  9.  Dezember 
1916  in  Dresden  aufgeführten  Legende  Das  Lied  der  Königin 
von  Paul  Hermann  Hartwig.  Merkwürdig,  wie  da  der  alte 
Haffner  wieder  auflebt  —  gelesen  hat  Hartwig  Das  Marmorhers 
sicher  nicht,  aber  so  zahlreich  sind  die  Möglichkeiten  märchen- 
hafter Symbolisierung  nun  einmal  nicht,  daß  nicht  die  einfacheren 


^  Literarisches  Echo  20,  554. 


120  öchlemihle 

Formen  immer  wieder  neu  gefunden  werden.  Auch  hier  ein 
Herzenshandel:  Prinzessin  Magelone  hat  den  überflüssigen  Muskel 
für  höchste  Frauenschönheit  verkauft.  Und  nun  spielt  sie  Tu- 
randot  und  Circe  in  einer  Person;  der  Löser  ihrer  Rätsel  wendet 
sich  zwar  von  der  Herzlosen,  aber  die  Sehnsucht  nach  ihr  läßt 
ihn  nicht  los,  und  so  will  er  selbst  sein  Herz  dem  Zauberer  ver- 
kaufen. Die  Rettung  bringt  eine  alte  Melodie,  die  einst  Mage- 
lonens  Mutter  sang,  unter  ihrem  Einfluß  weiß  sie  opfermutig  ihr 
Herz  zurückzugewinnen.  Soweit  sich  urteilen  läßt,  gibt  das 
Drama  eine  deutliche  Probe  von  dem,  was  oben  angedeutet  ist: 
wie  nämlich  ein  moderner  Schriftsteller  mit  Märchengut  schaltet. 

Alles  in  allem  sind  die  deutschen  Abwandlungen  des  Schatten- 
handels ziemlich  schwächlich  ausgefallen;  die  Erklärung  dafür 
hatten  wir  wenigstens  zum  Teil  darin  gefunden,  daß  ein  eigent- 
licher moderner  Stil  für  die  phantastische  Erzählung  bei  uns 
nicht  vorhanden  war;  der  große  deutsche  Meister  E.  T.  A.  Hoff- 
mann  war  ja  in  Ungnade  gefallen,  und  wenn  immer  wieder  hier 
und  dort  ein  einzelner  seine  Spur  betreten  hatte,  eine  eigentliche 
Überlieferung  gab  es  nicht.  Eine  mittelbare  Bestätigung  dieser 
Begründung  kann  der  Umstand  liefern,  daß  diese  Art  der  Schle- 
mihlerzählungen  wirkungsvolle  A^ertreter  in  einem  Lande  fand, 
das  jenen  Stil  hatte,  in  England.  Dort  war  er  seit  Poe  vor- 
handen, und  der  Amerikaner,  ein  Menschenalter  jünger  als  Hoff- 
mann, hatte  auch  gewußt,  das  Wunderbare  seiner  Erzählungen 
in  eine  neue  Form  zu  kleiden,  die  Märchenmotive  wurden  ersetzt 
durch  Vorstellungen,  die  ihre  Wurzel  in  der  neuen  Wissenschaft 
von  den  Abgründen  der  menschlichen  Seele,  den  Wundem  des 
Willens  hatten  —  Vorstellungen  übrigens,  die  auch  Hoffmann 
nicht  fremd  waren,  nur  sich  bei  ihm  noch  unter  dem  Bilde  un- 
mittelbaren Eingreifens  übernatürlicher  Mächte  gaben.  Auf  Poes 
Pfaden  konnte  dann  einem  Schriftsteller,  der  gewiß  zu  den 
hervorragenden  Erzählern  seiner  Zeit,  aber  durchaus  nicht  zu 
den  Greistern  ersten  Ranges  gehörte,  eine  treffliche  typische  Schle- 
mihlgeschichte  gelingen  —  ich  meine  Walter  Besant  und 
seinen  Case  of  Mr.  Lucraft} 

Es  ist  eine  Icherzählung  wie  Veter  SchlemihJ;  als  alter  Mann 
erzählt  Mr.  Lucraft  sein  einziges  romantisches  Erlebnis,  jüngeren 
zur  Warnung,  sich  selbst  zur  behaglichen  Erinnerung  an  über- 
standene  Not.  Als  entlassener  Schauspieler  ist  er  einst  in  London 
herumgeirrt,  keinen  Penny  in  der  Tasche,  eine  Beute  des  quälend- 
sten Hungers,  den  der  Duft  der  Speisehäuser,  die  leckeren  Aus- 
lagen der  Lebensmitfcelhändler  noch  unablässig  neu  aufreizten. 

^  Nicht  bei  Tauclinitz;  die  Originalausgabe  London,  Chatto  and  Windus 
o.  J.  Doch  stemmt  die  Erzählung  wohl  aus  den  achtziger  Jahren:  1884 
erschien  eine   (verkürzte)    deutsche  Übersetzung  in  Schorers  Familienblatt. 


Schlemihle  121 

Ein  stattlicher  älterer  Herr  hat  ihn  angesprochen;  auf  sein  Ge- 
ständnis, daß  er  hungrig  sei,  hat  er  ihn  ausgefragt  nach  der 
Größe  und  Art  seines  augenblicklichen  Hungers  und  seines  ge- 
wöhnlichen Appetits;  schließlich  ist  er  ihm  auf  seine  Einladung 
in  sein  Haus  gefolgt.  Und  das  Mahl,  das  ihm  da  vorgesetzt  wurde 
—  noch  im  Alter  kann  er  nicht  vergessen,  wie  er  einhieb  unter 
den  Augen  und  der  grotesken  Bewunderung  seines  Wirtes! 
Dann  ist  ihm  ein  Vertrag  vorgelegt  worden,  nach  dem  er  seinen 
Appetit  für  eine  einmalige  Summe  von,  50  Pfund  und  ein  monat- 
liches Gehalt  von  30  verkaufen  sollte.  Er  hat  gezögert,  dann 
aber  unter  dem  hypnotisierenden  Einfluß  des  stärkeren  Willens 
seines  Gastgebers  unterschrieben,  sogar  mit  dem  'ganz  besonderen 
Saft',  und  damit  hat  eine  Zeit  unsäglicher  Leiden  begonnen. 
Denn  der  alte  Herr,  ein  Fresser  und  Säufer  von  unbarmherziger 
Gier,  kannte  keine  Schonung  und  sprang  mit  dem  gekauften 
Appetit  derart  um,  daß  die  Folgen  bei  dem  armen  Lucraft  nur 
allzubald  sichtbar  wnirden.  Seine  Tage  sind  hingegangen  zwi- 
schen Anfällen  wüstesten  Rausches  und  der  entsprechenden  kör- 
perlichen Rückwirkung;  in  den  Augen  der  Welt  ist  er  ein 
Trunkenbold  schlimmster  Art  gewesen^  und  so  hat  er  sich  und 
sein  Elend  verkrochen  in  einer  abgelegenen  Wohnung,  um  wenig- 
stens nicht  jeden  Augenblick  der  Schande  ausgesetzt  zu  sein,  in 
der  Öffentlichkeit  sich  in  der  Gosse  wälzen  zu  müssen.  Auch  ohne 
das  hat  er  sich  ja  als  Ausgestoßener  fühlen  müssen;  jene  un- 
zähligen menschlichen  Beziehungen,  die  auf  der  Gemeinsamkeit 
der  sinnlichen  Bedürfnisse  beruhen,  waren  für  ihn,  der  Speisen 
wie  Getränke  nur  durch  das  Gesicht  unterschied,  nicht  mehr  vor- 
handen, und  da  ist  ihm  zu  spät  die  Erkenntnis  Schlemihls  auf- 
gegangen, daß  niemand  einen  Teil  seines  Selbst,  und  sei  es  schein- 
bar der  entbehrlichste,  verhandeln  darf,  will  er  als  Mensch  unter 
Menschen  leben.  Ein  paar  Monate  hat  er  sich  so  hingeschleppt, 
zuletzt  täglich  den  widerlichsten  Tod  vor  Augen,  den  Tod,  den 
vor  ihm  schon  vier  andere  Opfer  seines  Peinigers  gefunden  hatten, 
da  ist  ihm  unerwartet  noch  Rettung  geworden.  Der  Käufer  seines 
Appetits  ist  am  Schlagfluß  gestorben  —  so  hat  es  wenigstens  ge- 
heißen; Lucraft  freilich  ist  anderer  Meinung:  nach  Andeutungen, 
die  der  unheimliche  Famulus  des  alten  Vielfraßes,  der  Neger 
Bouledeneige,  ihm  gemacht  hat,  darf  er  annehmen,  daß  er  einen 
Pakt  mit  dem  Teufel  gemacht  hatte  und  dieser  rechtzeitig  ab- 
gelaufen ist. 

Die  Erzählung  ist  in  ihrer  Art  ein  kleines  Kabinettstück; 
gewiß  fehlt  ihr  die  schlichte,  ergreifende  Art  des  deutschen  Mär- 
chens; zum  Typus  ^äe  unser  Schlemihl  hätte  der  brave  Lucraft, 
der  eben  ein  Durchschnittsphilister  ist,  nie  werden  können,  aber 
darauf  hat  es  Besant  auch  nicht  abgesehen.   Er  erzählt  eine  seit- 


122  Schlemihle 

same  Geschichte  und  gibt  ihr  als  guter  Erzähler  den  Stempel  der 
Wahrheitstreue,  wenn  auch  groteske  Züge  in  der  Schilderung  des 
teuflischen  Negers  und  seines  Herrn,  der  im  bürgerlichen  Leben 
den  Ruf  eines  frommen  Menschenfreundes  genießt,  nicht  gespart 
sind;  aber  von  jenem  innerlichen  Erleben,  der  Offenbarung  eige- 
nen Wesens,  die  Chamissos  Märchen  hat,  ist  hier  nichts  zu  spü- 
ren, und  als  Symbol  bleibt  erst  recht  der  Schattenverkauf  einzig 

—  an  einem  Appetitsymbol  herumzurätseln  fällt  wohl  keinem 
ein.  Natürlich  erinnern  wir  uns  bei  dem  Motiv  an  jene  Geschichte 
Sternbergs  —  aber  ein  gewaltiger  Abstand  trennt  dessen 
mageren  Bericht  von  der  voll  entwickelten  Erzählungskunst  des 
Engländers.  Dort  einfach  die  nackten  Tatsachen,  hier  sehen  wir, 
wie  ein  armer  Teufel  in  Versuchung  kommt,  folgen  ihm  Schritt 
für  Schritt  auf  der  abschüssigen  Bahn,  erleben  Schande  und  Reue 
mit  ihm  und  wissen  doch  schließlich  durch  die  Einkleidung  seiner 
Erzählung,  daß  es  gar  zu  schlimm  nicht  werden  kann.  Das  ein- 
zige, was  nicht  ganz  in  den  Ton  hineinpaßt,  ist  der  Teufelspakt 
und  Bouledeneige  als  verkappter  Mephistopheles  —  freilich  ist 
schwer  zu  sagen,  wie  Besant  den  Knoten  sonst  hätte  lösen  wollen: 
ein  einfacher  Schlagfluß  wäre  zu  gut  für  den  alten  Heuchler,  ein 
tragisches  Ende  hätte  zum  verkauften  Appetit  nicht  recht  gepaßt 

—  also  mußte  schon  der  Gottseibeiuns  bemüht  werden. 

Es  bliebe  noch  zu  erwägen,  ob  Besant  von  Chamissos  Märchen 
angeregt  woirde;  die  Frage  ist  zu  bejahen,  und  wir  brauchen  uns 
dafür  nicht  auf  die  vorhandenen  englischen  Übersetzungen  zu 
berufen,  auch  nicht  auf  jene  englische  Karikatur  zur  Krönung 
Wilhelms  IV.,  von  der  Hitzig^  berichtet  und  die  mindestens 
beweist,  daß  im  Jahre  1831  eine  Anspielung  auf  Schlemihl  und 
seine  Schattenlosigkeit  in  England  sehr  wohl  verstanden  wurde. 
In  diesen  Zusammenhang  gehört  noch  die  Erzählung  Shadowless 
Men,  die  Dickens  einst  in  seine  Household  Words^  aufnahm, 
auch  ein  Ableger  des  Schlemihl,  insofern  ihr  Verfasser  von  Cha- 
missos scherzhafter  Deutung  des  Schattensymbols  in  der  Vorrede 
zur  französischen  Übersetzung^  ausgeht:  ein  Schatten  kann  nur 
von  einem  Körper,  einem  'Soliden',  geworfen  werden,  wer  also 
schattenlos  ist,  mangelt  der  Solidität,  und  so  handelt  die  englische 
Erzählung  denn  von  Leuten,  die  dem  äußeren  Erfolg  nachjagen 
und  ihn  auch  erreichen  (mindestens  zeitweise),  die  aber  vergessen 
und  andere  vergessen  machen,  daß  nur  Tüchtigkeit,  'Solidität', 
Bürgschaft  dauernden  Wohlstandes  ist.  All  diese  Dinge  bezeugen 
die  Bekanntschaft  der  Engländer  mit  Chamissos  Märchen;  aber 

1  Chamissos  Werke    (Ausgabe   Sydow)    III   155. 

2  Bequem    zugänglich    in   Novels   and    tales    reprinted    from    Eousehold 
Words  Bd.  VIII,  S.  62—78.     Leipzig,  Tauchnitz,  1858. 

3  Von   1838,  vgl.   Werke  ed.  Sydow  III  150  f. 


Schlemihle  123 

wüßten  wir  von  ihnen  niclits,  so  würde  uns  Besant  selbst  sagen, 
woher  er  das  Motiv  hat  und  damit  auch  die  vertiefte  Auffassung 
von  dem,  was  die  Yerschachening  eines  scheinbar  noch  so  entbehr- 
lichen Besitzes  für  den  Menschen  bedeutet.  Er  weist  selbst  auf 
sein  Vorbild  hin,  allerdings  nicht  im  Case  of  Mr.  Lucraft,  aber  in 
einer  späteren  Erzählung  The  douhts  of  Bives}  Darin  handelt  es 
sich  um  das  Motiv  des  Personentausches,  und  das  Wunder  wird 
bewirkt  durch  ein  orientalisches  Geheimmittel.  Besant  führt  be- 
kannte Fälle  an,  bei  denen  das  Mittel  seine  Wirkung  getan  habe-, 
und  fährt  fort:  'Ja,  sogar  Teile  des  Menschen  sind  verkauft  oder 
ausgetauscht  worden.  Derart  sind  die  Fälle  Peter  Schlemihls,  der 
seinen  Schatten  verkaufte,  und  Luke  Lucrafts,  der  seinen  Appetit 
verkaufte  . . .'  (es  folgen  noch  einige  Beispiele,  die  mit  unserem 
Motiv  nichts  zu  tun  haben).  Das  ist  eine  Nebeneinanderstellung, 
die  uns  wohl  das  Eecht  gibt,  Besants  Erzählung  als  beabsichtigtes 
Seitenstück  zu  unserem  Märchen  anzusehen. 

Ganz  anziehend  ist  nun,  daß  Besant  in  diesen  Zusammen- 
hang die  Geschichte  von  der  verlorenen  Persönlichkeit  bringt 
(z.  B.  vom  sizilischen  König  Robert,  der  in  einen  Bettler  ver- 
wandelt wurde);  es  ist  ein  Motiv,  das  bis  in  die  neueste  Zeit  zu 
dichterischer  Gestaltung  gelockt  hat.  Und  wirklich,  der  aus- 
gestoßene König  und  seinesgleichen  tragen  etwas  von  Schlemihl 
an  sich;  sie  haben  nur  nicht  einen  Teil  ihrer  sinnlichen  Erschei- 
nung verloren,  sondern  das  Ganze,  indessen  fehlt  doch  der  cha- 
rakteristische Handel,  das  Abtreten  unverwertbaren  Besitzes  für 
äußere  Vorteile,  wirklich  zu  unserem  Motiv  gehören  sie  also  nicht. 
Aber  eine  neuere  Behandlung  nähert  sich  doch  unserem  Thema  so, 
daß  .sie  hier  einen  Platz  verdient;  es  ist  eine  Geschichte  von  H.  G. 
Wells,  der  bekanntlich  einer  der  glücklichsten  Vertreter  der 
phantastischen  Erzählung  im  heutigen  England  ist;  sie  findet  sich 
in  der  Sammlung  The  Plattner  story^  und  heißt  The  story  of  the 
late  Mr.  Elvisham. 

Einzelheiten  erinnern  an  Besant:  auch  hier  ein  junger  Mensch, 
ein  Student,  in  beschränkter  Lage,  von  bester  Gesundheit  und  in 
voller  Lebenskraft,  wovon  sich  der  Versucher,  ein  gebrechlicher 
Greis,  aufs  sorgfältigste  überzeugt;  auch  hier  spielt  der  hypnoti- 
sierende Blick  eine  Rolle;  die  Verlockung  besteht  darin,  daß  der 
Alte,  ein  berühmter  Gelehrter  von  großem  Reichtum,  den  Jüng- 
ling zu  seinem  Erben  einsetzen  will,  nur  müsse  er  sich  verpflich- 
ten, seinen  Namen  zu  tragen.  Und  dann  kommt  die  entscheidende 
Stunde  bei  einem  Essen,  zu  dem  der  alte  Elvisham  seinen  kräf- 
tigen Erben  eingeladen  hat.  Er  bringt  ihn  dahin,  seine  Zukunft 
mit  seines  Wirtes  Vergangenheit  zu  vergleichen,  und  als  das  Wort 

1  Sammlung  Verbena  Carnellia  Stephanotis,  Leipzig,  Tauchnitz,  1892; 
vgl.  S.  59.  2  Leipzig,  Tauchnitz,  1900. 


124  Schlemihle 

fällt,  daß  des  großen  Gelehrten  Vergangenheit  wohl  des  Jüng- 
lings Zukunft  wert  sei,  fragt  er  ihn,  ob  er  denn  tauschen  wolle. 
'Sie  nehmen  vielleicht  meinen  Namen,  meine  Stellung,  aber  wür- 
den Sie  denn  auch  bereitwillig  meine  Jahre  nehmen?'  Und  der 
Student  antwortet  'ritterlich',  ohne  sich  viel  dabei  zu  denken:  'Ja, 
mit  dem,  was  Sie  geleistet  haben.'  Da  wird  er  beim  Wort  ge- 
nommen, ein  geheimnisvolles  Pulver  bringt  das  Werk  zustande: 
am  anderen  Morgen  erwacht  er  als  Elvisham,  ein  Greis  mit  allen 
Altersgebrechen,  und  ist  noch  dazu  betrogen,  denn  Elvisham  hat 
ihm  außer  seinem  kränklichen  Körper  nur  gelassen,  was  er  ge- 
leistet hat,  aber  den  Intellekt,  der  ihn  dazu  instand  setzte,  hat  er 
behalten,  und  außerdem  ist  er  jetzt  in  seiner  neuen  Verkörpe- 
rung sein  eigener  Erbe  und  wird  nicht  lange  zu  warten  haben. 
Mit  teuflischer  Schlauheit  hat  er  seinem  Opfer  alle  Mittel  ge- 
nommen, den  Tausch  rückgängig  zu  machen,  man  hält  ihn  für 
wahnsinnig,  und  so  findet  er  keinen  anderen  Ausweg  als  die  Selbst- 
befreiung durch  von  seinem  Verderber  mit  tückischer  Berechnung 
bereitgestelltes  Gift.  Die  Erzählung  hat  Ichform,  gibt  sich  als 
die  letzten  Aufzeichnungen  des  Unglücklichen;  wir  sollen  darin 
aber  durchaus  nicht  die  fixe  Idee  eines  Wahnsinnigen  erblicken 
—  lakonisch  setzt  Wells  hinzu,  daß  in  der  Tat  Elvishams  ge- 
samtes Vermögen  einem  jungen  Manne  namens  Eden  verschrieben 
war,  dieser  aber  vierundzwanzig  Stunden  vor  dem  Selbstmord 
Elvishams  einem  Straßenunfall  zum  Opfer  fiel. 

Natürlich  gilt,  wenn  die  phantastische  Erzählung  ein  solches 
Thema  behandelt,  Lessings  Lehre  von  den  Geistererscheinungen 
auf  der  Bühne:  es  ist  Sache  des  Dichters,  uns  in  die  Stimmung 
zu  versetzen,  in  der  wir  bereit  sind,  ihm  zu  folgen.  Chamisso 
überwand  diese  Schwierigkeit,  indem  er  von  Anfang  an,  von  dem 
Augenblick,  wo  der  Graue  die  seltsamsten  Dinge  aus  der  Tasche 
zieht,  ohne  daß  jemand  anders  als  Schlemihl  sich  darüber  wun- 
dert, seine  Leser  daran  gewöhnt,  inmitten  des  Alltäglichen  dem 
Wunder  zu  begegnen;  Besant  und  Wells  aber  meiden  durchaus 
die  Märchenluft,  und  da  kommt  freilich  ein  Augenblick,  wo  wir 
stutzen:  bei  Besant,  wenn  unter  der  Maske  des  Negers  der  Teufel 
hervorlugt,  bei  Wells,  wenn  das  geheimnisvolle  Pulver  zu  wirken 
beginnt  —  gewiß,  ihre  hochentwickelte  Erzählungskunst  läßt  uns 
nicht  los,  aber  etwas  überlistet  fühlen  war  uns  doch:  in  dieser 
Form  empfinden  wir  das  Wunder  als  etwas  Fremdes  in  der  Um- 
gebung, in  der  es  uns  entgegentritt. 

Darum  scheint  zur  Atollen  Wirkung  der  Schlemihlhandel  doch 
das  Märehen  zu  brauchen,  und  als  solches  finden  wir  ihn  bei 
Oscar  Wilde  in  The  fishennan  and  his  soul}    Das  Problem 


lu  Ä  housc  of  pomcyranatcs. 


Schlemihle  125 

scheint  Wilde  an  und  für  sich  gereizt  zu  haben:  auch  sein  Eoman 
The  picture  of  Dorian  Gray  berulit  ja  auf  einem  ähnlichen  Ge- 
danken: wenn  Dorian  auf  die  natürliche  Eigenschaft  des  Men- 
schen zu  altern  verzichtet,  wenn  nicht  mehr  in  seiner  äußeren 
Erscheinung,  sondern  an  seinem  Bilde  sich  die  Spuren  der  vor- 
überrollenden Jahre  zeigen,  so  gibt  auch  er  einen  Teil  seines 
Selbst  auf.  Doch  was  hier  nur  ein  Anklang  ist,  kommt  im  Mär- 
chen zur  vollen  Entwicklung. 

Ein  Fischer  wirbt  um  die  Liebe  einer  Mxe  —  erfolglos,  denn 
erst  wenn  er  seine  menschliche  Seele  fortschickt,  will  sie  ihn  er- 
hören. Und  weil  seine  Seele  ihm  ja  doch  nichts  nützt,  weil  er  sie 
nicht  sehen,  nicht  fühlen  kann,  die  Nixe  aber  über  alles  liebt,  so 
forscht  er  überall,  wie  er  denn  seiner  Seele  ledig  werden  kann. 
Endlich  findet  er  Rat  bei  einer  Hexe:  mit  einem  Messer,  das  sie 
ihm  gibt,  soll  er  rund  um  seine  Füße  herum  seinen  Schatten  ab- 
schneiden und  ihn  gehen  heißen,  denn  der  Schatten  ist  nicht  der 
Schatten  des  Leibes,  sondern  der  Leib  der  Seele.  Der  Fischer 
tut  es;  aber  die  Seele,  die  nun  vor  ihm  steht,  ein  Bild  seiner  selbst, 
will  sein  Herz  mithaben,  denn  die  Welt  ist  grausam  —  aber  wie 
kann  er  ihr  geben,  was  der  Geliebten  gehört!  Da  scheidet  die 
Seele,  doch  einmal  in  jedem  Jahr  will  sie  den  Fischer  rufen,  am 
selben  Ort  wollen  sie  sich  treffen,  vielleicht  werde  sie  der  Fischer 
brauchen.  So  trennen  sie  sich:  der  Fischer  eilt  ins  Meer  zur  Ge- 
liebten, der  Schatten  oder  die  Seele  geht  in  die  Welt.  Zweimal 
ruft  dann  die  Seele  den  Fischer  zum  Stelldichein:  seltsame  Er- 
lebnisse berichtet  sie  von  ihren  Fahrten,  und  mit  deren  Beute,  dem 
Spiegel  der  Weisheit,  dem  Ring  des  Reichtums,  lockt  sie  ihn,  ihr 
zu  folgen.  Aber  mehr  als  Weisheit  und  Reichtum  ist  Liebe;  erst 
der  dritten  Versuchung  erliegt  der  Fischer:  eine  \\a^inderbare  Tän- 
zerin will  er  sehen,  denn  die  Nixe  hat  keine  Füße.  So  tritt  die 
Seele  wieder  in  seinen  Leib,  er  warft  seinen  Schatten  wieder,  und 
auf  ihr  Geheiß  wandert  er  Tag  für  Tag  weiter,  und  jeder  Tag  ist 
bezeichnet  mit  einer  kaltblütigen  Untat,  die  er  auf  Antrieb  seiner 
Seele  begeht  —  er  hat  sie  ja  ohne  Herz  in  die  böse  Welt  hinaus- 
gesandt, was  Wunder,  daß  sie  deren  Weise  angenommen  hat.  Ihn 
packt  der  Ekel;  er  will  sich  von  ihr  trennen,  wie  er  es  früher 
getan  hat,  aber  er  muß  hören,  daß  das  nur  einmal  möglich  war, 
jetzt  müsse  er  seine  Seele  behalten.  Da  preßt  er  die  Lippen  zu- 
sammen, bindet  sich  die  Hände,  um  allen  Einflüsterungen  seiner 
bösen  Seele  zu  trotzen,  und  kehrt  zurück  an  den  Seestrand.  Aber 
die  Nixe  hört  nicht  mehr  auf  seinen  Ruf,  mag  er  ihn  auch  ein 
Jahr  täglich  wiederholen,  und  stündlich  lockt  ihn  die  Seele,  die 
Liebe  zu  opfern.  In  bitteren  Nöten  vergehen  ihm  die  Tage:  die 
Seele  beugt  sich,  wie  sie  ihm  zuflüstert,  seinem  Willen,  nun  möge 
er  ihr  aber  auch  sein.  Herz  öffnen,  daß  sie  eins  mit  ihm  werde  wie 


126  Schlemihle 

in  früheren  Tagen.  Drückt  ihn  denn  nicht  auch  Schuld  gegen  sie? 
Hat  er  sie  nicht  hinausgestoßen  in  die  Welt?  Und  was  muß  sie 
da  gelitten  haben,  ehe  sie  hart  und  eigennützig  wurde!  Er  will 
ihren  Wunsch  erfüllen,  ihr  sein  Herz  öffnen,  doch  wie  ein  Wall 
umgibt  es  die  Liebe,  und  sie  findet  keinen  Eingang.  Da  über- 
wältigt ihn  das  Mitleid;  er  will  ihr  helfen  —  aber  ein  Trauer- 
schrei ertönt  vom  Meere,  die  Wellen  tragen  die  Leiche  der  Ge- 
liebten zu  ihm,  er  läßt  die  Flut  auch  über  sich  hingehen,  um  mit 
ihr  zu  sterben,  denn  jetzt  weiß  er,  daß  Liebe  nicht  nur  stärker  ist 
als  Weisheit  und  Reichtum,  sondern  auch  als  die  Schönheit  der 
Menschentöchter.  Als  ihm  aber  das  Herz  bricht  durch  die  Fülle 
seiner  Liebe,  findet  die  Seele  den  Eingang  in  sein  Innerstes:  im 
Tode  ist  er  mit  der  Geliebten  vereint  als  derjenige,  der  er  einst 
war  in  den  Tagen  der  Vergangenheit. 

Vergeblich  wäre  es  wohl  hier,  im  einzelnen  nach  einer  beson- 
deren 'tieferen  Bedeutung'  zu  suchen  oder  gar  allegorisch  aus- 
legen zu  wollen.  Wilde  hat  mit  allem  Glanz  seines  Stils,  mit 
einer  Fülle  von  phantastischen  Erfindungen  ein  Märchenschicksal 
symbolisch  gestaltet  —  ist  es  ein  Schlemihlschicksal?  Der  Fischer 
erkauft  mit  seiner  Seele  die  Liebe  seiner  Seejungfrau,  aber  er  ver- 
kauft sie  nicht  an  irgend  jemand,  der  ihm  ein  anderes  Gut  dafür 
gäbe.  Wohl  spielt  der  Teufel  eine  gewisse  Rolle:  der  Lohn  der 
Hexe  für  das  Geheimnis  ist,  daß  der  Fischer  mit  ihr  tanzt,  und 
daraus  wird  dann  eine  Art  Walpurgisnachtszene ;  aber  dem  Teufel 
zu  huldigen  weigert  sich  der  Jüngling,  und  so  kann  von  einem 
Satansliandel  nicht  die  Rede  sein.  Auf  der  anderen  Seite  ver- 
zichtet der  Fischer  aber  doch  auf  seine  Seele,  um  etwas  zu  ge- 
winnen, was  ihm  mehr  gilt,  und  die  Art,  wie  er  sich  selbst  und 
anderen  den  Verlust  als  unwesentlich  hinstellt,  ist  ganz  in  der 
Art  der  Schlemihle.  Wie  ihnen  ergeht  es  ihm  dann  auch:  weil  er 
seine  Seele  hingegeben  hat,  ruht  seine  Liebe  nur  auf  Sinn  und 
Herz;  es  ist  nicht  die  Liebe  des  ganzen  Menschen.  Drum  unter- 
liegt er  einer  stärkeren  Sinnenlockung,  und  nun  trifft  ihn  das  volle 
Schlemihlschicksal.  Auch  da  er  der  Seele  in  die  Welt  folgt,  ist 
er  nicht  ein  ganzer  Mensch,  die  Seele  ist  ja  nicht  wirklich  eins 
mit  ihm;  so  fühlt  er  sich  in  der  Welt  fremd,  sein  Handeln  verletzt 
alle  Gesetze  menschlicher  Gemeinschaft,  zum  Seevolk  kann  er 
auch  nicht  zurück,  und  so  ist  er  hier  wie  dort  ein  Ausgestoßener 
—  erst  der  Tod  kann  die  Versöhnung  bringen. 

Ob  Wilde  eine  Anregung  durch  Chamisso  erhielt,  wage  ich 
nicht  zu  entscheiden;  uns  Deutschen  wird  ja  sicherlich  der  los- 
gelöste Schatten  die  Erinnerung  an  unseren  Schlemihl  wecken, 
aber  wir  dürfen  nicht  vergessen,  daß  eine  alte  Märchenvorstellung 
die  Seele  mit  dem  Schatten  gleichsetzt,^  und  folglich  Wilde  von 

1  Vgl.  V.  d.  Leyen,  Das  Märchen   (Leipzig  1911)   S.  55. 


Schlemihle  127 

dieser  aiiso:e^angen  sein  kann.  Wie  dem  min  sei,  auf  jeden  Fall 
ist  klar,  daß  Wilde  dadurch,  daß  er  das  bürgerlich  alltägliche 
Leben  und  die  Gegenwart,  in  der  sonst  unsere  Geschichten  spie- 
len, mit  der  romantischen  Märchenwelt  vertauschte,  sich  jene 
Fortbildung  des  Motivs  ermöglichte,  die  in  der  Rückkehr  des 
Schattens  oder  der  Seele  liegt.  Bei  Chamisso  und  seinen  unmittel- 
baren Gefolgsleuten  ist  und  bleibt  der  Schatten,  oder  was  sonst 
an  seine  Stelle  tritt,  etwas  Lebloses,  eine  Sache,  die  man  ver- 
kaufen kann;  in  Wildes  Märchenwelt  kann  das  dahingegebene 
Gut  ein  selbständig  handelndes  Individuum  sein,  braucht  daher 
nicht  verkauft,  sondern  kann  fortgeschickt  werden. 

Es  ist  merkwürdig,  daß  dieser  Zug  vorweggenommen  war  von 
dem  nordischen  Märchendichter  Andersen,  der  sich  lange  vor 
Wilde  des  Stoffes  bemächtigt  hatte,  er  in  unraittelbarem  Zu- 
sammenhang mit  Chamisso,  den  er  persönlich  kannte  und  auf 
dessen  Veter  Schlemihl  er  noch  dazu  in  seinem  Märchen  Der 
Schatten  ausdrücklich  als  auf  einen  Vorgänger  seines  Helden  an- 
spielt. Auch  in  anderer  Beziehung  wirkt  seine  Erzählung  als 
Mittelglied  zwischen  Chamisso  und  Wilde:  einerseits  bleibt  er  in 
der  Gegenwart,  läßt  alltägliche  Leute  in  alltäglicher  Umgebung 
auftreten,  anderseits  läßt  er  aber  doch  diesen  Alltag  als  märchen- 
haft erscheinen,  und  zwar  nicht  nur  durch  die  Kette  von  wunder- 
baren Vorfällen,  die  sich  in  ihm  abspielen  —  das  wäre  bei  Cha- 
misso ja  nicht  anders  —  sondern  an  und  für  sich:  es  geschieht 
hier  wie  oft  bei  Andersen  durch  Hineinbeziehung  der  Großen 
dieser  Erde,  die  sich  nun  in  der  modernen  Umgebung  so  gemüt- 
lich absolutistisch  und  ungeniert  benehmen,  wie  man  sich  es  eben 
nur  im  Märchen  gestatten  kann. 

Andersen  erzählt  von  einem  Gelehrten,  der  seinen  Schatten 
auf  Kundschaft  schickt  nach  einem  geheimnisvollen  Hause,  das 
seine  Wißbegier  erregt  hat;  er  soll  gehen,  aber  das  AViederkommen 
nicht  vergessen.  Doch  der  Schatten  kehrt  nicht  zurück,  und  so  ist 
der  Gelehrte  schattenlos.  Aber  das  ist  nicht  so  schlimm,  wie  es 
aussieht;  dem  neuen  Schlemihl  wächst  der  Schatten  nach,  und  so 
vergißt  er  denn  schier  sein  Erlebnis.  Aber  nach  Jahren  kehrt  der 
Schatten  zurück:  ein  feiner  Herr  in  Schwarz,  nur  ein  bißchen 
mager;  er  berichtet,  jenes  Haus  sei  das  Haus  der  Poesie  gewesen, 
und  bis  ins  Vorgemach  sei  er  gekommen.  Da  sei  er  denn  über  sich 
ins  klare  gekommen:  sein  ehemaliger  Herr  wäre  nicht  Mensch 
geblieben,  wenn  er  sich  dorthin  gewagt  hätte;  er  aber  sei  Mensch 
geworden  und  habe  seine  Laufbahn  gemacht.  Sehr  ehrenwert  ist 
sie  in  der  bösen  AVeit,  über  die  er  klagt,  kaum  gewesen,  aber  was 
tut's:  jetzt  ist  er  ein  gemachter  Mann.  Und  er  bringt  es  noch 
weiter:  als  er  nach  einigen  Jahren  wiederkommt,  ist  er  dick  und 
fett  geworden;  sein  ehemaliger  Herr  aber  grämt  sich,  weil  nie- 


128  Schlemihle 

mand  seine  Bücher  über  das  Wahre,  Gute  und  Schöne  liest.  So 
kehrt  sich  denn  das  Verhältnis  der  beiden  um:  der  Schatten  er- 
weist sich  als  der  Stärkere,  schließlich  mietet  er  sich  seinen  Herrn 
als  Reisebegleiter  und  gibt  ihn  gar  (denn  er  selbst  ist  schattenlos) 
als  seinen  Schatten  aus.  Damit  imponiert  er  einer  Königstochter 
derart,  daß  sie  sich  in  ihn  verliebt  und  ihn  heiraten  will;  er  aber 
stellt  jetzt  die  letzte  Zumutung:  sein  Herr  soll  sich  als  sein  Schat- 
ten bekennen  und  jährlich  einmal  ihm  zu  Füßen  liegen.  Da  em- 
pört sich  freilich  dessen  Menschenwürde,  aber  zu  spät;  der  Schat- 
ten behauptet,  sein  Schatten  sei  verrückt  geworden,  er  läßt  ihn 
ieinsperren,  und  als  Hochzeit  ist,  da  hat  man  den  Gelehrten  schon 
wegen  Majestätsbeleidigung  hingerichtet. 

Die  Übereinstimmung  zwischen  Andersen  und  Wilde  geht 
recht  weit:  hier  wie  dort  wird  der  Schatten  fortgeschickt,  erlebt 
besondere  Abenteuer  in  einer  bösen  und  eigennützigen  Welt,  kehrt 
zurück  zum  alten  Herrn  und  erweist  sich  als  der  Stärkere;  hier 
wie  dort  ist  das  Ziel  des  einst  Verstoßenen  eine  Aufhebung  der 
Trennung,  eine  Wiedervereinigung;  hier  scheiden  sich  dann  die 
Wege:  bei  Wilde  eine  Art  Versöhnung  im  Tode,  bei  Andersen 
der  Triumph  des  Schattens.  Die  dichterische  Gestaltung  ist  bei 
Wilde  weit  überlegen:  abgesehen  davon,  daß  Andersen  die  Gleich- 
setzung von  Schatten  und  Seele  nicht  vornimmt,  hat  er  nichts 
von  dem  Erfindungsreichtum  und  dem  phantastischen  Glanz  des 
englischen  Märchens;  noch  bedenklicher  ist,  daß  auch  in  sich  sein 
Bau  kaum  recht  haltbar  erscheint.  Er  kann  nicht  mit  seinem 
schlichten  Märchensinn  bestehen:  das  Haus  der  Poesie,  in  dessen 
Vorhof  der  Schatten  gelangt,  das  der  Gelehrte  nur  von  ferne  sieht, 
weist  allzu  deutlich  auf  irgendeinen  allegorischen  Sinn  hin.  Daß 
jemand,  der  selbst  versäumt  hat,  sich  den  Weg  ins  Haus  der 
Poesie  zu  bahnen,  nachher  vergeblich  Bücher  über  das  Wahre, 
Gute  und  Schöne  schreibt,  ist  verständlich;  aber  was  es  bedeuten 
soll,  daß  er  seinen  Schatten  entsendet,  dieser  nur  zum  Vorhof  ge- 
langt und  dann  sein  Leben  auf  eigene  Hand  führt,  ist  doch  sehr 
undurchsichtig.  Darf  man  überhaupt  so  mit  Märchenmotiven 
umspringen,  wie  es  hier  geschieht?  Der  Gelehrte  ist  zunächst 
nach  Entsendung  des  Schattens  schattenlos;  dann  wächst  ihm 
aber  der  Schatten  wieder!  Das  ist  wahrhaftig  nicht  Märchenart 
und  weist  wieder  auf  allegorische  Bedeutung  hin.  Man  möchte 
daran  denken,  daß  der  Gelehrte  einst  nach  hohen  Zielen  strebte; 
aber  er  hat  sich  nicht  mit  seiner  ganzen  Persönlichkeit  eingesetzt; 
zufrieden  mit  einer  Annäherung  an  das  Ideal,  hat  er  sich  begnügt 
mit  dem,  was  im  Vorhof  der  Poesie  zu  finden  war  und  jedem  zu- 
sagte. Er  ist  dann  andere  Wege  gegangen;  aber  als  er  von  neuem 
den  Idealen  seiner  Jugend,  dem  Wahren,  Guten  und  Schönen, 
nachtrachtet,  findet  er,  daß  er  sein  Bild  festgelegt  hat,  er  kommt 


Schlemihle  129 

nicht  auf  gegen  die  einmal  bestehende  Vorstellung,  er  unterliegt 
seinem  falschen  Ich.  Dann  wäre  also  der  Schatten  etwas  wie  der 
Ruf  des  Menschen;  aber  man  kann  nicht  sagen,  daß  die  Deutung 
zwingend  ist;  wenn  der  Gedanke,  den  Schatten  zum  Herrn  des 
Körpers  zu  machen,  seinen  Reiz  hat,  so  braucht  er  doch  eine  an- 
dere Durchführung  als  diese  zwischen  Märchen  und  Allegorie 
ziemlich  unerquicklich  schwankende,  in  der  das  phantastische  Ge- 
schehen in  keiner  Weise  typisch  wirkt. 

Die  holländische  Fassung  des  Themas,  von  der  Goedeke  be- 
richtet, ist  mir  leider  unbekannt  geblieben,  und  auch  aus  Frank- 
reich kann  ich  nichts  von  Schlemihlgeschichten  berichten,  ab- 
gesehen von  der  nicht  näher  nachgewiesenen  Vorlage  von  Spind- 
lers Erzählung.  Als  verwandt  berührt  allerdings  das  Motiv  von 
Balzacs  La  peau  de  chagrin,  das  seinerseits  ja  wieder  zu  Wildes 
Picture  of  Dorian  Gray  Beziehungen  hat,  aber  es  ist  doch  nur 
eine  Verwandtschaft.  Zur  eigentlichen  Schlemihlfamilie  gehört 
Raphael  de  Valentine  nicht.  Es  fehlt  der  eigentliche  Handel: 
das  geheimnisvolle  Stück  Leder,  das  jeden  Wunsch  erfüllt, 
sich  aber  auch  mit  jedem  Wunsche  verkleinert,  ist  eine  freie 
Gabe.  Indem  er  sie  annimmt,  findet  er  sich  freilich  auch  damit 
ab,  daß  seine  Lebensdauer  an  die  Größe  des  Talismans  geknüpft 
ist,  jeder  erfüllte  Wunsch  kürzt  ihm  die  Frist  seiner  Tage.  Aber 
er  gibt  doch  nichts  hin,  was  im  eigentlichen  Sinne  zu  ihm  als 
Sinnen wesen  gehört:  seine  Gesundheit  als  solche  behält  er  ja,  sie 
wird  erst  in  dem  Maße  gefährdet,  wie  der  Talisman  stärker  ab- 
nimmt; die  Lebensdauer  ist  aber  nur  ein  relativer  Begriff:  Achill 
ist  kein  Schlemihl,  wenn  er  das  kurze,  ruhmerfüllte  Leben  dem 
langen,  tatenlosen  vorzieht. 

Damit  hätte  ich  aufgezählt,  was  mir  von  Nachbildungen  des 
Schlemihlhandels  bekannt  geworden  ist;  es  bleibt  ein  Wort  zu 
sagen  über  die  literarische  Gestaltung  des  Typus,  dem  Chamisso 
durch  seinen  Märchenhelden  den  Namen  gegeben  hat,  also  über 
den  geborenen  Pechvogel,  das  Opfer  nicht  einer  Schuld,  sondern 
eines  Fatums.  Im  Zusammenhang  dieser  Abhandlung  ist  da  wohl 
Beschränkung  am  Platze:  die  Sachlage  ist  doch  die,  daß  in  einer 
Monographie  des  Pechvogels  den  Schlemihlen  ein  Kapitel  ein- 
zuräumen wäre,  daß  aber  nicht  jener  als  die  ältere,  häufig  mit 
Peter  Schlemihl  in  gar  keinem  Zusammenhang  stehende  Gestalt 
anhangsweise  beim  Schlemihltypus  behandelt  werden  kann.  Vom 
Unstern,  dem  Studenten  Anseimus  und  einem  oder  dem  anderen 
ihrer  Art  ist  die  Rede  gewesen,  weil  sie  Zeitgenossen  Schlemihls 
sind;  daß  die  weitere  Entwicklung  wohl  verdiente,  einmal  dar- 
gestellt zu  werden,  kann  für  sich  allein  schon  die  eindrucksvollste, 
weil  am  tiefsten  aufgefaßte,  am  mächtigsten  ausgeführte  Aus- 
prägung des  Motivs  beweisen:  Fr.  Th.  Vischers  Auch  einer. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    Sonderheft.  9 


130  Schlemihle 

Aus  demselben  Grunde  bleiben  auch  ausländische  Pechvögel  bei- 
seite, denn  der  Name  Schlemihl  als  Bezeichnung  für  diesen  Typus 
ist  doch  wohl  nur  im  Deutschen  üblich.  An  sich  wäre  ja  jener 
gute  Kerl  in  der  ersten  Erzählung  von  Richepins  Les  morts 
bizarres  eine  prachtvolle  Illustration  zu  Chamissos  eigener  Deu- 
tung des  Namens  Schlemihl:  jede  beste  Absicht  wird  ihm  falsch 
ausgelegt,  jede  Wohltat  schlägt  demjenigen,  dem  sie  helfen  soll, 
zum  Verderben  aus,  unschuldig  kommt  er  ins  Zuchthaus  und 
stirbt  schließlich  sogar  durch  Henkershand;  zu  böser  Letzt  steht 
auf  dem  Grabstein,  den  ihm  der  einzige,  der  seines  Wesens  Güte 
erkannt  hat,  setzen  läßt,  unter  seinem  Namen  statt  'homme  de 
bien'  'homme  de  rien'!  Wir  Deutsche  könnten  für  Helden  und 
Geschichte  kaum  einen  besseren  Namen  finden  als  'Ein  neuer 
Schlemihl'  —  Eichepin  überschreibt  sie  so,  wie  sein  Pechvogel 
heißt  Constant  Giiignard:  sicherlich  eine  .treffliche  Taufe,  aber 
aus  unserm  Kreise  rückt  damit  die  Erzählung. 

So  begnüge  ich  mich  denn  einige  Werke  zu  nennen,  deren 
Schöpfer  durch  die  Bezeichnung  ihres  Helden  als  Schlemihl  seine 
Einreihung  unter  die  Nachkommenschaft  der  Chamissoschen  Ge- 
stalt wenigstens  nahelegen.  Voran  steht,  wenigstens  zeitlich,  eine 
Geschichte  von  Er.  T h.  W a n g e n h e i m.  Der  Schlemihl^  -ge- 
nannt, aus  dem  Jahre  1838.  Ein  Jüngling,  der  gar  nicht  weiß, 
wie  dumm  er  ist,  erzählt  von  mancherlei  unvermutetem  Pech,  das 
ihn  betroffen  hat  und  das  ihm  den  Namen  Schlemihl  —  er  hat 
ihn  freilich  selbst  als  Pseudonym  für  herzbrechend  schlechte  Ge- 
dichte benutzt  —  eingetragen  hat;  er  wandert  schließlich  aus  und 
wird  ins  Land  der  Schlemihle  verschlagen,  dessen  König  ihn  als 
Missionar  des  Schlemihlianismus  wieder  nach  Europa  schickt. 
Hierher  gehört  auch  die  schon  erwähnte  Posse  Peter  Schlemihl 
von  David  Kalisch,^  die  am  17.  Mai  1850  erstmalig  auf- 
geführt wurde,  ein  anspruchsloses  Stückchen,  das  freilich  Wan- 
genheims armseliges  Erzeugnis  an  Laune  und  Witz  weit  über- 
ragt. Der  Schauplatz  sind  Pankows  damals  noch  ländliche  Flu- 
ren. Peter  Schlemihl,  ein  Witwer  in  schon  vorgerückten  Jahren, 
ist  der  Bräutigam  einer  reichen  Bauerstochter,  die  ihn  natürlich 
nicht  mag,  weniger  seines  Äußeren  wegen,  als  weil  er  eben  ein 
'graulicher  Schlemihl'  ist,  weil  ihr  'sein  Charakter,  sein  Tempera- 
ment, seine  fortwährende  Angst  vors  Schicksal'  zuwider  sind. 
Der  Vater  tröstet:  'er  hat  viel  Unglück  gehabt,  das  Schicksal  hat 
ihn  verfolgt,  und  da  ist  er  denn  jetzt  —  was  der  Jöbildete  sagt  — 
Eataliste  geworden'  —  mit  welchem  Recht,  darüber  gibt  Schlemihl 
selbst  in  einem  Couplet  ergiebige  Auskunft,  und  die  Handlung 

1  In  Eistorische  Novellen  (Hamburg)   S.  95 — 136;  was  an  dieser  wie  den 
anderen  Geschichten  'historisch'  sein  soll,  ist  das  Geheimnis  des  Verfassers. 
2  Berlin  1850  (Manuskriptdruck). 


Schlemihle  131 

bestätigt  es  reichlich;  der  Schluß  ist  natürlich,  daß  Schlemihl  um 
eine  erhoffte  Erbschaft  und  damit  zugleich  um  die  Braut  kommt. 

Wir  haben  also  bei  Wangenheim  und  Kaiisch  Schlemihl  als 
bloß  lächerliche  Figur;  die  Widerwärtigkeiten,  die  den  Pechvogel 
treffen,  sind  entweder  an  sich  rein  komisch  (beim  Sektgelage 
fliegt  Waugenheims  Schlemihl  der  Pfropfen  an  die  Nase  u.  ä.) 
oder  erscheinen  in  komischer  Beleuchtung;  im  übrigen  sind  auch 
die  Pechvögel  ziemlich  unangenehme  Menschen,  ihr  Unglück  er- 
weckt also  kein  Mitgefühl,  wirkt  teilweise  als  verdient.  Aber 
wir  erinnern  uns,  wie  Chamisso  in  seiner  Erklärung  der  Bezeich- 
nung Schlemihl  aus  der  Sprache  der  Juden  die  Frage,  ob  der  Be- 
treffende sein  Geschick  etwa  verdiene,  ganz  beiseite  läßt,  wie 
nach  seiner  gesamten  Ausdrucksweise  sogar  anzunehmen  ist,  daß 
es  sich  um  unverdientes,  schicksalgegebenes  Unglück  handelt. 
Faßt  man  die  Sache  aber  so,  dann  verdient  der  Schlemihl  Mit- 
gefühl, ist  alles  andere  als  Possenfigur  —  bei  der  Herkunft  der 
Bezeichnung  ist  es  kein  Wunder,  daß  wir  diese  Auffassung  auch 
zunächst  bei  den  Juden  vertreten  finden,  zuerst,  soweit  ich  sehe, 
bei  Leopold  Kompert,  der  eine  seiner  Erzählungen  Schle- 
miel^  nennt.  Er  beginnt  mit  einer  Begriffsbestimmung,  die  sich 
inhaltlich  genau  mit  derjenigen  Chamissos  deckt;  er  zeichnet 
dann  das  Bild  eines  braven  Menschen,  dem  nur  eine  unglückselige 
Empfindlichkeit  gegen  äußere  Eindrücke  Spannkraft  und  Selbst- 
vertrauen raubt;  gewiß,  er  ist  ein  Pechvogel,  aber  was  ihn  an 
Ungemach  trifft,  würde  von  einem  anderen  leicht  genug  verwun- 
den oder  abgeschüttelt  werden,  er  aber  läßt  sich  einschüchtern, 
wehrt  sich  gar  nicht  oder  zu  spät  und  gerät  so  schließlich  unter  die 
Räder  des  Geschicks.  Er  bleibt  ein  liebenswürdiger  Mensch,  wir 
bedauern  ihn  und  zucken  dabei  die  Achseln,  weil  es  doch 
schließlich  an  und  für  sich  so  geringfügiges  Mißgeschick  ist,  das 
ihn  aus  dem  Gleise  hebt,  aber  wir  verstehen,  wie  die  er- 
drückende Summe  ihn  am  Leben  verzweifeln  läßt,  ihn  in  den 
Tod  treibt.  Eine  leise  Komik  haftet  dabei  an  seinen  Erlebnissen 
wie  an  seiner  Person  - —  aus  der  Possengestalt  ist  der  Held  einer 
menschlich  ergreifenden  Tragikomödie  geworden. 

Komperts  Anschel  ist  sicherlich  ein  Typus  und  dürfte  bei 
Schriftstellern,  die  das  jüdische  Volkstum  schildern,  mehr  als 
einen  Nachfolger  gefunden  haben ;^  anderseits  hat  aber  Kompert 
seine  Gestalt  so  fein  herausgearbeitet,  daß  man  sich  wohl  die 
Vorgänge  der  Handlung  anders  denken  kann,  aber  kaum  ersicht- 
lich ist,  wie  der  Schlemihl  selbst  über  dies  Musterbild  hinaus  ent- 


1  In  Atis  dem  Ghetto  (1848)  . 

2  Ein  freundlicher  Zufall  hat  mir  das  Israelitische  Familienilatt  Eam- 
hurg  zugeführt.  Darin  findet  sich  (19.  Jahrg.  Nr.  6;  8.  2.  1917)  eine 
Skizze  Der  Schlemihl  von  H.  Links. 


132  Schlemihle 

wickelt  werden  sollte.  Wohl  aber  war  das  möglich,  wenn  man 
die  Gestalt  mit  dem  Chamissoschen  Märchenhelden  in  Beziehung 
setzte.  Denn  wenn  Wangenheim  die  Bezeichnung  wohl  kaum 
gewählt  hätte,  wenn  sie  nicht  durch  Chamisso  allgemein  bekannt 
geworden  wäre,  so  ist  das  bei  dem  Juden  Kompert,  der  spezifisch 
jüdisches  Leben  schildern  will,  nicht  der  Fall:  seine  Erzählung 
könnte  genau  ebenso  geschrieben  worden  sein,  wenn  es  niemals 
ein  Märchen  vom  schattenlosen  Peter  gegeben  hätte. 

Anders  steht  es  aber  mit  einer  Geschichte,  die  sich  in  dem 
großen  Sammelwerk  von  Sagen,  Erinnerungen  usw.  der  böhmi- 
schen Juden,  den  Sippurim,^  findet;  sie  heißt  Ein  jüdischer  Peter 
Schlemihl,  und  David  M e n  d  1  ist  der  Verfasser.  Freilich :  wem 
sie  der  Zufall  ohne  den  Titel  zutrüge,  würde  kaum  auf  den  Ge- 
danken kommen,  daß  sie  irgend  etwas  mit  unserem  Chamisso  zu 
tun  haben  könne.  Von  Jekewel  handelt  sie,  einem  hochbegabten 
Talmudschüler,  den  aber  Eitelkeit  und  Hochmut  auf  falsche 
Wege  bringen,  der  sich  durch  die  abendländische  Philosophie  dem 
überlieferten  Glauben  seiner  Väter  entfremden  läßt.  Es  kommt 
zu  einer  Katastrophe;  er  wird  als  nicht  mehr  rechtgläubig  gemie- 
den und  sinkt  zum  niedersten  Verkehr,  zu  den  Ausgestoßenen  des 
Ghetto,  herab.  Aber  die  milde  Menschenweisheit  eines  neuen  Rabbi 
rettet  ihn;  er  geht  in  sich,  sühnt,  was  er  gefehlt  hat,  und  wird  als 
verirrtes,  nun  aber  um  so  teureres  Schaf  wieder  aufgenommen. 
Literarische  Vorzüge  hat  die  breiterzählte  Geschichte  nicht,  aber 
sie  ist  ein  echter  Sproß  von  Chamissos  Märchen,  wie  die  Vorrede 
in  aller  Ausführlichkeit  dartut.  Da  erzählt  der  A^erfasser,  wie  er 
zum  hundertundersten  Male  Chamissos  Märchen  gelesen  habe;  im 
Traum  sei  ihm  darauf  Peter  Schlemihls  Gestalt  erschienen,  aber 
vor  seinen  sehenden  Augen  habe  sie  sich  allmählich  in  die  Jeke- 
wels  verwandelt,  der  schließlich  als  jüdischer  Peter  Schlemihl  vor 
ihm  gestanden  habe.  Wie  die  Gedankenverbindung  zustande  kam, 
ist  leicht  zu  sehen:  nicht  aus  dem  dichterischen  Eindruck  des  Mär- 
chens und  seines  Helden,  sondern  aus  einer  Deutung  des  Schatten- 
verlustes. Mendl  sah  darin  zweifellos  Chamissos  Vaterlandsver- 
lust symbolisiert;  der  Umstand,  daß  sein  Jekewel  ebenfalls  in 
die  Gefahr  kommt,  seinen  natürlichen  Boden  in  Religion  und 
Volkszugehörigkeit  zu  verlieren,  genügte  ihm,  um  ihn  zum  'jüdi- 
schen Schlemihl'  zu  machen,  obwohl  sonst  nach  Charakter  und 
Schicksalen  gar  keine  Beziehungen  bestehen. 

Diese  Deutung  von  Chamissos  Märchensymbol  lag  nahe  genug 
und  ist  oft  gegeben  —  es  ist  also  nicht  verwunderlich,  daß  sie 
auch  einer  zweiten  Erzählung  zugrunde  liegt,  dem  Roman  von 
Johann  Georg  Meyer  Der  neue  Schlemihl.-    Er  beginnt  ge- 

1  Herausgegeben  von  Jak.  W.  Paseheles;  5.  Sammlung  (Prag  1864) 
S.  210—80.  2  Berlin  1905. 


Schlemihle  13 

waltig  romantisch,  wenn  man  will  auch  hintertreppenmäßig:  Zi- 
geuner stehlen  aus  Rache  ein  Grafenkind  im  zartesten  Säuglings- 
alter, den  Sproß  einer  alten  französischen  Adelsfarailie,  die  ihren 
Sitz  nicht  weit  von  der  deutsch-französischen  Grenze  hat;  un- 
mittelbar darauf  stirbt  durch  die  Unvorsichtigkeit  der  Hebamme 
das  gleichaltrige  Söhnchen  eines  altdeutschen  und  alldeutschen 
Oberlehrers  in  einem  elsässischen  Städtchen.  Da  ein  Zufall  die 
Hebamme  und  die  Zigeunerin,  die  den  Grafensohn  trägt,  gerade 
rechtzeitig  zusammenführt,  kann  der  junge  Franzose  an  die  Stelle 
des  toten  Kindes  treten,  ohne  daß  irgend  jemand  etwas  merkt  und 
—  das  übrige  kann  man  sich  denken.  Der  Fremdling  wächst  em- 
por in  den  Anschauungen  seines  vermeintlichen  Vaters,  bis  die 
Entdeckung  der  wahren  Verhältnisse  erfolgt.  Sie  zerreißt  sein 
Leben:  als  Deutscher  kann  er  sich  gerade  von  seinem  betont  völki- 
schen Standpunkt  nicht  mehr  betrachten;  in  den  Anschauungs- 
kreis des  väterlichen  Hauses  findet  er  sich  auch  nicht  hinein, 
Freundschaft  und  Liebe  zerbrechen  ihm:  er  hat  nicht  hier,  nicht 
dort  Vaterland  und  Volk.  Endlich  findet  er  den  AVeg,  der  ihm 
das  Leben  erträglich  macht:  es  ist  der  Verzicht  auf  persönliches 
Glück,  die  Arbeit  an  der  völkerverbindenden  Wissenschaft. 

Die  peinliche  Stellung  zwischen  zwei  Völkern  ist  ein  dichte- 
rischer Vorwurf,  zu  dessen  Behandlung  Ereignisse  der  jüngsten 
Vergangenheit  mehrfach  angeregt  haben  —  man  denke  nur  an 
Schickeies  Hans  im  Schnakenloch  —  es  ist  nicht  ohne  Reiz, 
daß  der  Roman  das  Problem  in  seiner  Weise  vorausgenommen  und 
es  dabei  unter  den  Schutz  Peter  Schlemihls  gestellt  hat.  Die 
Schicksale  des  Helden  sind  dabei  auch  viel  mehr,  als  es  bei 
Mendl  der  Fall  war,  nach  dem  Vorbilde  gestaltet  worden,  freilich 
hat  der  Verfasser  mit  der  unerlaubt  unwahrscheinlichen  Kon- 
struktion der  Voraussetzungen  die  Ähnlichkeit  etwas  teuer  er- 
kauft. Schickele  hat  damit,  daß  er  den  Elsässer  als  solchen  hin 
und  her  gezogen  sein  läßt  zwischen  dem  Staate  der  Väter  und  dem 
Lande  der  Stammesgenossen,  ein  ganz  anders  ergreifendes, 
menschlich  bedeutsameres  Motiv  gefunden  und  hat  ja  auch,  wozu 
freilich  die  besonderen  Umstände  reichlich  beigetragen  haben, 
einen  ansehnlichen  Erfolg  gefunden,  während  Meyers  Roman 
ziemlich  unbeachtet  blieb  —  mehr  als  Durchschnittsware  ist  er 
freilich  nicht. 

Wir  hatten  gesehen,  daß  Schlemihl  als  Pechvogel  bei  Kompert 
zu  einer  Art  endgültiger  Prägung  als  jüdischer  Typus  gediehen 
war;  eine  Weiterentwicklung  war  auf  diesem  Boden  nicht  wahr- 
scheinlich —  wohl  aber  ist  die  Möglichkeit  dazu  gegeben,  wenn 
man  den  Typus  aus  dieser  einengenden  Umgebung  herausnimmt, 
wobei  dann  auch  seine  komischen  Züge  fallen  können.  So  ist 
Richard    Schaukai   verfahren  in   drei   Geschichten,    die   er 


134  Schlemihle 

unter  dem  gemeinsamen  Titel  Schlemihle'^  vereinigt  hat  —  die 
zweite,  Elisa  Hußfeldt,  läßt  sich  freilich  nicht  gerade  leicht  unter 
den  Gesichtspunkt  bringen,  den  der  Sammeltitel  fordert.  Der 
Schlemihl  soll  doch  wohl  Elisas  Gatte  sein:  ein  Mann,  der  reich 
und  elegant  ist,  der  auch  einen  eigentümlichen  Reiz  auf  seine  Um- 
gebung ausübt  und  der  doch  am  Leben  scheitert.  Es  fehlt  ihm 
irgend  etwas,  was  den  Mann  macht:  er  wird  mehr  geheiratet  als  er 
heiratet,  er  lädt  in  der  Ehe  die  erste  Schuld  auf  sich,  aber  nicht 
durch  Leidenschaft,  sondern  durch  etwas,  was  er  sofort  als  un- 
besonnene Geschmacklosigkeit  empfindet;  er  könnte  dann  den 
Ehebruch  seiner  Frau  sehr  wohl  verhüten,  wenn  er  nur  nicht  den 
rechten  Augenblick  verpaßte;  er  treibt  ins  Duell  mehr  hinein, 
als  daß  er  es  herbeiführt,  und  nicht  viel  anders  ist  es  mit  der  Schei- 
dung. Dabei  gehören  die  beiden  Gatten  doch  eigentlich  zusam- 
men, aber  wieder  gestalten  sich  dieDinge  so,  daß  die  Frau  die  ent- 
scheidenden Schritte  tut.  Da  überkommt  ihn  das  Gefühl  eines 
verfehlten,  zwecklosen  Lebens  —  mit  der  Pistole  setzt  er  den 
Schlußpunkt  darunter.  Weit  deutlicher  ist  die  Beziehung  zum 
Typus  in  der  ersten  und  dritten  Geschichte:  jene,  Mathias  Siehen- 
list  und  das  Schloß  der  hundert  Liebhaber,  erzählt  von  einem 
Buckligen,  einem  unehelichen  Proletarierkind,  den  sein  Äußeres 
und  seine  Herkunft  von  den  Freuden  des  Lebens  ausschließen, 
die  er  doch  in  Wien  verlockend  genug  vor  Augen  sieht.  Ein  selt- 
sames Freundschaftsbündnis  schließt  ihn  an  einen  heruntergekom- 
menen Kavalier;  dessen  Erzählungen,  dessen  Erbschaft  —  sie 
besteht  aus  Liebesbriefen  und  den  Bildnissen  schöner  Frauen 
zaubern  ihm  eine  erotische  Traumwelt  herauf,  deren  Königin  die 
Mutter  jenes  Grafen,  einst  eine  große  Sünderin,  ist.  Für  seine 
Phantasie  ist  keine  Zeit  vorhanden;  er  sieht  sie  vor  seinem  gei- 
stigen Auge  in  all  den  Reizen  verführerischer  Frauenschönheit, 
und  wirklich  erblickt  er  auch  einmal  im  Prater  von  ferne  sein 
Ideal.  Aber  nur  von  fern,  und  Aug'  in  Auge  muß  er  sie  sehen; 
so  lauert  ör  Tag  für  Tag  auf  ihren  Wagen,  bis  die  große  Stunde 
komme.  Endlich  soll  sein  Hoffen  belohnt  werden,  er  stellt  sich 
der  Equipage  in  den  Weg  —  was  er  sieht,  ist  'ein  welkes,  faltiges, 
müdes  Gesicht,  erloschene  Augen,  greisenhaft  dünne  Haare  um 
die  eingesunkenen  Schläfen':  seitdem  lebt  Mathias  im  Irrenhause 
und  bildet  sich  ein,  es  sei  das  Schloß  der  Gräfin,  'das  Schloß  der 
hundert  Liebhaber'.  Die  dritte  Erzählung  endlich.  Von  Tod  su 
Tod,  läßt  die  Seele  eines  österreichischen  Granden  wiedergeboren 
werden  im  Sohn  eines  Wiener  Kleinbürgers;  natürlich  versteht 
der  arme  Junge  sich  selbst  nicht;  er  fühlt  sich  fremd  in  seiner 
Umgebung  und  hat  doch  nicht  die  Kraft,  sich  ihr  zu  entziehen; 
eines  Tages  ist  er  tot,  ohne  gelebt  zu  haben. 
^  München  und  Leipzig,  1908. 


Schlemihle  135 

An  Chamissos  Schlemihl  schließt  Schaukai  seine  drei  armen 
Teufel  an  durch  die  Gesamtbezeichnung,  die  er  ihnen  gibt;  aber 
mit  seiner  Person  haben  sie  nichts  zu  tun  und  kaum  mehr  mit 
der  Deutung,  die  einst  der  Romantiker  dem  Namen  gab:  sie  sind 
nicht  Pechvögel,  weder  im  Sinne  von  Uhlands  Unstern,  Hoff- 
manns Anseimus  noch  in  dem  des  jüdischen  Typus.  Man  vp^ird 
schon  anerkennen  müssen,  daß  Schaukai  aus  der  besonderen 
Stimmung  des  ersten  Jahrzehnts  unseres  Jahrhunderts,  die  ja 
krankhafte  Erscheinungen  mit  besonderem  Anteil  umgab  und  in 
Österreich  sicher  nicht  am  schwächsten  war,  dem  alten  Namen 
einen  besonderen,  modernen  Typus  untergeschoben  hat.  Den 
früheren  Pechvögeln  mißglückte  einzelnes  wieder  und  wieder; 
aber  wenn  sie  sich  an  den  Ecken  und  Kanten  des  alltäglichen 
Lebens  wund  stießen,  so  geschah  es,  weil  sie  dem  Alltag  und  ihrer 
Umgebung  von  Rechts  wegen  überlegen,  eigentlich  Bürger  einer 
besseren  Welt  waren.  Die  Schaukalschen  Schlemihle  sind  das 
gerade  Gegenteil:  nicht  einzelne  Widerwärtigkeiten  bedrängen 
sie,  sondern  ihr  ganzes  Dasein  ist  von  vornherein  verfehlt;  sie  sind 
nicht  sittlich  besser  als  ihre  Umgebung,  sondern  physisch  gering- 
wertiger, sie  sind  dem  Alltag  nicht  gewachsen,  und  so  gehen  seine 
Räder  über  sie  fort.  Wir  bedauern  sie  nicht  deshalb,  weil  es 
schade  um  sie  wäre,  weil  sie  ein  besseres  Geschick  verdient  hät- 
ten, sondern  weil  sie  schließlich  nichts  dafür  können,  daß  sie  Ge- 
zeichnete sind. 

Nicht  sehr  erfreulich  sind  diese  Gestalten,  Geschöpfe  eines 
etwas  dekadenten  Symbolismus,  aber  etwas  von  deutscher  Zeit- 
stimmung ist  in  ihnen  eingefangen;  schlimm  genug,  daß  in  ihnen 
so  viel  Krankhaftes,  Lebensmüdes  steckt,  das  den  Tagen  ganz 
fremd  war,  da  Chamisso  von  eigenem  schweren  Erleben  sich 
durch  sein  so  viel  tapferes  Entsagen  enthaltendes  Märchen  be- 
freite. Für  Hitzigs  Kinder  war  es  geschrieben;  weit  über  die 
Kinderstube  ist  seine  Wirkung  hinausgewachsen.  Wir  sahen,  vne 
in  den  Raum  eines  Jahrhunderts  sich  zahlreiche  Abwandlungen 
zusammendrängten,  wie  Gestalt  und  Schicksal  des  Helden  zur 
symbolischen  Nachbildung  lockten,  besonders  unter  dem  Gesichts- 
punkt des  Verhältnisses,  in  dem  der  einzelne  zu  Volk  und  Vater- 
land steht,  gelegentlich  wuchs  sich  sogar  Peter  zum  Sinnbild  des 
deutschen  Volkes  aus:  nicht  viele  Kunstmärchen  werden  sich 
solch  anhaltender  Wirkung  rühmen  können!  Peter  aber  mag  sich 
in  seiner  ägyptischen  Einsiedelei  trösten:  trotz  des  Handels  mit 
dem  Grauen,  seinen  Schatten  hat  er  doch  geworfen. 

Berlin-Lichtenberg.  Albert  Ludwig. 


Nebentonstärken. 

Eigene  Lehre  und  ihre  Stellung  zu  S.  Behn,  'Der  deutsche 
Rhythmus'. 


In  meiner  'Bindung  der  deutschen  Rede'  ^  habe  ich  auf  Grund  von 
Wörtern  wie  Lichtstrahlen,  rotbraune,  anrufen  und  im  engsten 
Anschluß  an  die  uns  geläufigsten  Gedichtformen  mit  einsilbigen 
Umsenken  und  ein-  oder  zweisilbigen  Insenken,  ich  spreche  da  von 
Hauptsenken,  die  Silben  ihrer  Tonstärke  nach  in  drei  verschie- 
dene, überall  in  der  Sprache  nachzuweisende  Arten  eingeteilt  —  in 
starkbetonte  ('),  schwachbetonte  (-)  und  unbetonte  (-)  — 
sowie  die  daraus  bildbaren  Füße  und  Zeilen  aufgezeigt  und  benannt. 
Bei  der  näheren  Beschäftigung  mit  Gedichten  von  mehr  als  ein- 
silbigen Umsenken  und  mehr  als  zweisilbigen  Insenken,  d.  h.  mit 
Nebensenken,  hat  es  sich  mh  nun  zum  mindesten  als  sehr  vor- 
teilhaft, wenn  nicht  als  notwendig  erwiesen,  diesen  drei  Haupt- 
tonstärken noch  zwei  andere  —  Nebentonstärken  —  hinzu- 
zufügen. 

Wenn  wir  auch  in  den  meisten  Fällen  ohne  sie  auskommen 
dürften,  so  bleiben  sie  doch  einer  eingehenden  Behandlung  wert 
genug,  und  es  gilt,  erst  einmal  ein  besonderes  Genam  (eine  Ter- 
minologie) für  sie  zu  schaffen,  die  MögUchkeit  einer  Besprechung 
und  wissenschaftlichen  Bearbeitung  überhaupt. 

Das  will  ich  hier  versuchen,  und  ich  glaube  das  —  im  engsten 
Anschluß  an  die  in  meinem  Buche  für  die  Haupttonstärken  und 
deren  Füße  schon  gegebenen  und  da  auch  nachzusuchenden  Namen 
—  so  einfach  und  zusammenhangend,  wie  es  bei  der  so  mannig- 
faltigen Verbindbarkeit  der  Stärkestufen  überhaupt  nur  möglich  ist, 
leisten  zu  können. 

Li  solchen  Nebensenken  können  nämlich  zwei  oder  mehr  eigent- 
lich unbetonte  oder  eigentlich  schwachbetonte  Silben  zusainmen- 
treffen.  Dann  ordnet  sich  meist  —  nicht  zu  schnelles  Sprechen 
vorausgesetzt  —  die  eine  dieser  an  sich  gleichbetonten  Silben  der 
anderen  über,  ohne  jedoch  die  nächsthöhere  Haupttonstärke  zu  er- 
reichen, d.  h.  aus  der  schwachbetonten  Silbe  wird  eine  fast  stark- 
betonte, aus  der  unbetonten  eine  fast  schwachbetonte. 

Dem  entsprechend  wollen  wir  auch  aus  den  drei  —  einfachen  — 
Zeichen  für  die  Hauptstärken  zwei  neue  —  aus  ümen  zusammen- 
gesetzte —  für  die  Nebenstärken  bilden,  und  zwar  für  die  fast 
starkbetonte:  ±,  für  die  fast  schwachbetonte:  r. 


Verlag  von  K.  Curtius,  Berlin  1916. 


Nebentonstärken  137 

A.  Die  zweisilbigen  Umsenken. 

Neben  den  ebenen  zweisilbigen  Senken,  der  tiefen  [--:  (wär)mere 
(Luft)]  und  der  flachen  [--:  (glück)licb  und  (froh)],  wie  sie  fast 
nur  zwischen  stärker  betonten  Silben  vorkommen,  habe  ich  in  mei- 
nem Buche  (S.  18)  noch  zwei  unebene  Senken  genannt,  die  Fall- 
senke  [--:  (fort)gehen]  und  die  Steigsenke  [--:  (Mon)denschein]. 

Zu  diesen  letzten  —  den  dann  mittleren  Fall-  und  Steig- 
senken —  kommen  nun  noch  vier  andere  hinzu:  die  zwei  tiefen 
(•r-,  -r)  und  die  zwei  flachen  [j.-,  __?.). 

Von  ihnen  —  den  un mittleren  Fall-  und  Steigsenken  — 
kommt  je  der  erste  wohl  nur  am  Anfang,  der  letzte  nur  am  Ende 
einer  Zeile  vor;  zwischen  zwei  Heben  fällt  der  Unterschied  in  der 
Tonstärke  ihrer  Silben  so  gut  wie  fort,  werden  sie  eben. 

Setzen  wir  nun  noch  entsprechend  hinter  die  Fallsenken  und 
vor  die  Steigsenken  die  Heben,  so  erhalten  wir  vier  neue  Fußarten. 

Neben  den  gewöhnlichen,  mittleren  Fallspringer  (--':  unter- 
sucht; 'unechter  Schwebspringer'  S.  15)  tritt  nun  noch  der  flache 
{-!--'•.  vor  mein  Haus)  und  der  tiefe  (--':  vergesellt),  neben  den 
—  nun  mittleren  —  Steigtanzer  ('--:  Heidentum;  'unechter 
Schwebtanzer'  S.  15)  der  flache  ('--^:  andachtlos)  und  der  tiefe 
('-r:  walteten). 

Diese  vier  neuen  Fußarten  wollen  wir  nun  auch  durch  Bei- 
spiele belegen. 

Was  ich  in  meinem  Buche  bei  Behandlung  der  einfachen 
Springer  (S.  29  f.)  und  Tanzer  (S.  24)  wie  der  Gleichschwebspringer 
und  -tanzer  (S.  34  ff.)  ausgeführt  habe,  findet  dadurch  seine  Er- 
gänzung. 

a.  Die  Vorsenken. 

1.  Der  tiefe  Fallspringer  ist  in  Zusammengesetzen  äußerst 
selten.  Mit  ihm  beginnen  Wörter  wie:  vergesellschaften,  vergewissem, 
vergewaltigen,  (sich)  verbestellen.  Gewiß  'heben  wir'  hier  'die  erste 
der  beiden  Senksilben  etwas  stärker  hervor'.  Darum  sind  solche 
Silbschaften  aber  doch  noch  nicht  ohne  weiteres  'unechte  Schweb- 
springer' oder,  was  dasselbe  ist  und  wie  ich  jetzt  sage,  mittlere 
Fallspringer  —  so  meinte  ich  (S.  30)  — ,  sondern  durchaus  noch 
tiefe  Fallspringer.  Ein  gleiches  gilt,  wenn  auch  nicht  so  un- 
eingeschränkt, von  den  Zusammengestellen  'mit  dem  bestimmten 
Artikel  oder  den  unbetonten  er,  sie,  es  wie:  die  Gefahr,  sie  behält, 
er  bedenkt'. 

2.  Flache  Fallspringer  sind  etwa:  ging  ihm  nach,  fand  ihn 
ruhn,  seit  ihr  kamt,  o  mein  Glück,  durch  dies  Tor,  nun  ist  Nacht. 

Hatte  ich  in  meinem  Buch  (S.  36)  gesagt:  'Außer  Zusammen- 
hang', d.  h.  ohne  Hebe  vor  sich,  denn  dann  wird  ja  ohne  Frage 
die   Senke  eben,   'müssen'   'diese   Füße   als  Einsenker',  d.  h.   mit 


138  Nebentonstärken 

starkbetonter  erster  Silbe  'aufgefaßt  werden',  so  gilt  das  nur  für 
den  —  da  allerdings  vorliegenden  Fall  —  der  Beschränkung  auf 
drei  Tonstufen.  Li  der  Regel  tritt  vielmehr  die  erste  Silbe  nur 
wenig  über  die  zweite  hervor,  ist  also  bloß  fast  starkbetont,  so  daß 
wir  es  dann  eben  wirklich  mit  einem  flachen  Fallspringer  zu  tun 
haben. 

b.   Die  Nachsenken. 

1.  Was  vom  Tiefspringer  (-  -  ')  galt,  daß  am  Zeilanfang  die 
erste  Silbe  fast  schwach  betont  wird,  ist  auch  entsprechend  vom 
Tieftanzer  ('--)  zu  sagen.  Hat  dieser  keine  Hebe  hinter  sich, 
so  wird  unwillkürlich  die  letzte  Silbe  etwas  verstärkt  —  was  ja  be- 
kanntlich Klopstock  und  manchen  lambendichter  dazu  geführt  hat, 
sie  als  Länge,  d.  h.  als  starkbetonte  Silbe  zu  verwenden.  So  weit 
brauchen  wir  nun  nicht  zu  gehen.  Aber  die  Verstä  kung  ist  da: 
wir  haben  es  mit  einer  fast  schwachbetonten  Silbe  zu  tun. 

Formen  wie  ältere,  weiteste,  seltene,  Wanderer,  bettelten  müssen 
also  jetzt  zunächst  als  tiefe  Steigtanzer  angesehen  werden  — 
wie  man  sie  außerdem  verwenden  kann,  ist  eine  Sache  für  sich. 
So  können  —  unter  Umständen  —  auch  noch  Zusammgestelle 
ausgesprochen  und  deshalb  auch  aufgefaßt  werden,  wie:  hielten  es, 
weinte  er. 

2.  Noch  bestimmter  und  unzweifelhafter  kommen  dann  die 
flachen  Steigtanzer  vor.  Dahin  gehören  besonders  Zusamm- 
gesetze  wie  Rotdornblatt,  Fruchtbarkeit,  Grundherrschaft,  unruh- 
voll, sehnsuchtfrei,  oder  Zusammgestelle:  einsam  sein,  hinsehn 
wu-d,  angehn  darf. 

Daß  bei  sehr  schnellem  Sprechen  diese  schrägen  Umsenken  sich 
den  ebenen  annähern,  ist  gewiß,  ebenso,  daß  bei  besonders  hervor- 
hebendem Sprechen  sie  auch  mit  der  angrenzenden  Hebe  zu  Einsenkern 
bzw.  zu  mittleren  Schwebspringern  oder  -tanzern  werden  können. 

Doch  das  sind  Erscheinungen  anpassender  Verwendung, 
auf  die  ich  hier  nicht  näher  eingehen  will. 

B.  Die  dreisilbigen  Senken. 

Von  den  acht  aus  Haupttonstärken  möglichen  Formen  drei- 
silbiger Senken  (S.  18)  habe  ich  (S.  125  f.)  drei  besonders  erwähnt: 
die  mittlere  Tief  wogsenke  [---:  (sor)genvolle],  die  mittlere 
Tieftanzsenke   [---:  (ein)fahreudes  (Schiff)],  den   halben  Ein- 

senker  [ :   (fuhr)    über  ihn  (hin)],    und    hätte    ich   noch  einen 

vierten  nennen  sollen:  die  mittlere  Tief  springsenke:  [---: 
(leuch)tete  so  (schön)]. 

Die  anderen  vier: ■,  ---,  -^^, kommen  in  Wirklich- 
keit kaum  ohne  eine  Nebentonstärke  auf  irgendeiner   Silbe  vor. 


Nebentonstärken  139 

Von  dreisilbigen  Senken  mit  Nebentonstärken  gibt  es  fünf 
tiefe  Arten:  die  tiefe  Tiefspringsenke  (---),  Tiefwogsenke 
{---),  Tief  tanzsenke  {---),  die  tiefe  Fallspringsenke  (- - -) 
und  die  tiefe  Steigtanzsenke  (---). 

Dazu  kommen  dann  noch  neun  mittlere  Arten,  die  ich  erhalte, 
wenn  ich  in  den  neun  im  Deutschen  aus  den  drei  Haupttonstärken 
bildbaren  dreisilbigen  Schwebfüßen  (S.  15)  an  Stelle  der  stark- 
betonten Silbe  eine  bloß  fast  starkbetonte  setze,  z.  B.  für  '  -  - : 
^  -  -.  Diese  Schwebsenken  behalten  im  einzelnen  die  Namen  ihrer 
Urformen,  nur  durch  das  Beiwort  Senke  näher  bestimmt. 

Die  weitere  Bestimmung  mittlich  kann  meist  fortfallen,  weil  über- 
haupt bloß  zwei  entsprechende  tiefe  Formen  vorkommen,  die  eb.en 
genannte  tiefe  Fallspringsenke  und  Steigtanzsenke. 

So  entstehen: 

^  _  -  Falltanzsenke 

-i  -  _  Steigtanzsenke  (mitthch) 

^__  Flachtanzsenke 

_  j:  w  Fallwogsenke 
.^  _i  _  Steigwogsenke 
__i_  Flach  wogsenke 

_  -  -i  Fallspringsenke  (mittlich) 
^  _  ^  Steigspringsenke 
i  Flachspringsenke 

Hierbei  gibt  die  Bezeichnung  Fall-,  Steig-  und  Flach-  an,  ob 
die  beiden  nicht  fast  starkbetonten  Silben  für  sich  im  ganzen  in 
ihrer  Tonstärke  fallen,  steigen  oder  gleich  flach  sind. 

Diese  Art  der  Benennung  hat  sich  mir  als  einfacher  und  un- 
mittelbar verständücher  erwiesen  als  die  früher  (S.  15)  von  mir 
angewandte  —  aber  deshalb  nicht  etwa  falsche  —  zählende  Art 
(1.,  2.  und  3.  Schwebtanzer  usf.). 

a.  Die  Insenken. 

Von  diesen  dreisilbigen  Senken  mit  Nebentonstärken  kommen 
als  Insenken  meist  nur   die  vier  wogenden  Arten  in  Betracht. 

1.  Die  tiefe  Tiefwogsenke  finden  wir  vor  allem  in  Zusamm- 
gestellen  eines  tiefen  Steigtanzers  ('--)  mit  einem  Steiger  (^ '), 
so  in:  leuchtendes  Gesicht,  warteten  genug.  Andere  Formen  sind: 
merkten  die  Gefahr,  hielten  es  bereit.  Daß  solche  eigentlich  bloß 
fast  schwachbetonten  Silben  in  'iambischen'  Zeilen  oft  als  Heben 
gelten,  daß  das  eigentlich  wider  das  zugrunde  gelegte  Maß  ist,  aber 
doch  in  den  sonst  zu  gleichen  Tonfall  ein  wenig  Abwechslung 
bringt,  weiß  man. 


140  Nebentonstärken 

Fallwogsenken  haben  Zusammge setze  wie:  unruhvolle,  Häß- 
lichkeiten, Vollmondnächte;  unfruchtbare,  vorzustellen  oder  Zusamm- 
gestelle:  Einzug  halten,  ausruhn  wollen. 

Steigwogsenken  stehen  z.  B,  in:  übermütig  sein,  (von)  Kin- 
dern ganz  umringt,  Sonnenschein  auf  Schnee. 

Flachwogsenken  in:  sehnsuchtvoll  bergauf,  einsam  und  allein. 

b.  Die  Vorsenken. 

Als  Vorsenken  kommen  dann  außer  diesen  eben  behandelten 
wogenden  Arten  noch  die  tanzenden  in  Betracht. 

Die   tiefe  Tieftanzsenke  kann  ich  dabei  übergehen. 

Dann  bleiben  die  drei  (mittleren)  Schwebtanzsenken  zu 
besprechen. 

Falltanzsenken  finden  wir  in:  bist  du  bereit,  kam  nicht  her- 
vor, hielt  ihn  gepackt; 

Steigtanzsenken  in:  traten  nicht  auf;  liefen  treppauf;  Sonnen- 
schein hin,  Sonnenschein  her;  krochen  zu  Kreuz;  und  endlich 

Flachtanzsenken  in:  und  nun  aös  Meer,  fall  mir  nicht  auf, 
lock  ihn  doch  fort,  sah  sich  nicht  um.- 

Die  tiefe  Fallspringsenke  ---(')  wird  im  Deutschen  kaum 
vorkommen,  wenn  man  nicht  etwa  noch:  er  versieht  sich  (nicht 
andere)  als  eine  solche  auffassen  will. 

c.  Die  Nachsenken. 

Auch  die  Nachsenken  lassen  Wogsenken  zu;  ich  will  sie  aber 
auch  hier  nicht  noch  einmal  besprechen,  sondern  nur  die  Spring- 
senken behandeln. 

Die  tiefe  Tiefspringsenke  ist  selten.  Besonders  in  Mittel- 
formen kommt  sie  vor:  leuchtendere,  blühendere,  aber  auch  sonst: 
fertigere,  eiligere,  oder  in  Zusammgestellen :  blendete  es. 

Hier  sei  denn  auch  km'z  die  tiefe  Steigtanzsenke  erwähnt, 
z.  B.  in:  wehmütiger,  sehnsüchtige,  rotbärtige,  absendete,  herleitete, 
die  uns  jetzt  nur  mit  noch  einer  Hebe  hinter  sich  wirklich  als 
^langer  Schwebf aller'  (S.  25)  gelten  kann. 

Eine  mittlere  Fallspringsenke  haben  z.  B.:  Rücksicht  ver- 
dient, unklug  genug,  angriffsbereit,  einsetzen  kann,  hinhalten  darf. 
Ansehen  hat,  mohnblumenrot,  Schneeglöckchenblatt, 

eine  Steigspringsenke:  binsenumkränzt,  Blindekuh  spielt, 
unter  ihm  stand,  Avollten  nicht  mehr 

und  eine  Flachspringsenke:  sah  ihn  noch  nicht,  anschauhch 
sein,  Vorstellbarkeit, 

"Wenn  ich  (S.  35  f.)  Formen  der  letzten  Art  genau  wie  solche, 
die  wir  oben   als  Flachtanzsenken  kennengelernt  haben,   mit   den 


Nebentonstärken  141 

Heben  vor  bzw.  hinter  den  dreisilbigen  Senken  als  lange  flache 
Einsenker  gekennzeichnet  habe,  so  läßt  sich  das  nur  verteidigen, 
wenn  man  sich  zugleich  des  Unterschiedes  bewußt  bleibt,  der  trotz 
allem  in  nicht  angewandter  Sprache  zwischen  'Wahrnehmbarkeit' 
und  'trat  vor  ihn  hin'  besteht. 

C.   Die  Doppelfüße. 

Die  bisher  besprochenen  Senkarten  mit  Nebentonstärken  kom- 
men nun  noch  besonders  in  den  Doppelfüßen  vor,  die  ich  zum 
Schluß  noch  kurz  zusammenstellen  möchte;  vor  allem  auch  des- 
wegen, weil  sie  Gelegenheit  bieten,  die  —  bisher  ausgelassenen  — 
Wogsenken  am  Anfang  und  Ende  von  Zeilen  zu  behandeln. 

Ich  habe  in   meinem  Buche  (S.  16;  26,  32)  zunächst  die  vier 

—  einfachen,  mittleren  —  Doppelfüße  genannt:  den  fallen- 
den und  steigenden  Doppelfaller  ( '-_-:  Winterstürme;  -^^^: 
hintergehen)  sowie  den  fallenden  und  steigenden  Doppel- 
steiger (^'--:  versunken  sein;  -_>.':  bestanden  fort). 

Setzt  man  in  diese  Formen  an  Stelle  der  schwachbetonten 
Silben  fast  schwachbetonte,  so  erhält  man  die  vier  tiefen  Doppel- 
füße: 

1.  '  -  -  -:  wässerige, 

2.  T-  'v.:  vergewissern;  der  Gesunde;  er  zerlegte, 

3.  ^  '  -  r :  besonnene,  verbreiteten,  es  regnete,  der  Bessere 

—  nur  noch  mit  einer  Hebe  hinter  sich,  darf  man  diese  Wörter 
als  'lange  Woger'  (S.  27)  im  strengsten  Sinne  auffassen  — 

und  4.  V.  -r  ^ ' :  er  vergesellt. 

Setzt  man  dagegen  das  eine  Mal  für  die  erste  unbetonte 
Silbe,  zweitens  für  die  zweite  unbetonte  Silbe  und  drittens  für 
beide  unbetonte  Silben  eine  schwachbetonte  Silbe,  so  erhalten 
wir  die  3-4  =  12  flachen  oder  besser  schwebenden  Doppel- 
füße, und  zwar  —  je  nachdem  ob  die  Silben  an  den  beiden  Stellen 
der  ursprünglich  unbetonten  Silben  für  sich  betrachtet  im  ganzen 
fallen  oder  steigen  oder  gleich  hoch  sind  (s.  o.  S.  4)  —  den  fall- 
schwebenden,  steigschwebenden  oder  gleichschwebenden 
Falldoppelfaller,  Steigdopp elfaller,  Falldoppelsteiger  oder  Steig- 
doppel steigen 

Dabei  ist  zu  beachten,  daß  außerdem  in  zehn  Fällen  die  ur- 
sprünglich schwachbetonte  Silbe  in  eine  fast  starkbetonte  um- 
wandelt, weil  wir  in  der  Regel  zwei  schwachbetonte  Silben  hinter- 
einander —  ohne  Überordnung  der  einen  —  nur  aussprechen,  wenn 
sie  von  zwei  stärker  betonten  Silben  umschlossen  sind  —  was  in 
den  zehn  Fällen  aber  eben  nicht  der  Fall  ist. 

Nur  in  zwei  Formen:  dem  steigschwebenden  Steigdoppel- 


142  Nebentonstärken 

faller  (--'-:  hielten  Andacht)  und  dem  fallschwebenden  Fall- 
doppelsteiger (-'--:  im  Sonnenschein)  ist  eine  solche  Hebung 
der  Tonstärke  nicht  nötig. 

Diese  beiden  Formen  konnte  ich  deshalb  schon  in  meinem 
Buche  erwähnen,  was  ich  denn  auch  (S.  16;  27,  32)  —  allerdings 
unter  anderen,  jetzt  nicht  genügend  erscheinenden  Namen  —  getan 
habe. 

Bilden  wir  jetzt  noch  im  einzelnen  die  Formen  dieser  Schweb- 
doppelfüße und  setzen  ein  paar  Beispiele  hinzu. 

a)  Neben  dem  einfachen  Falldoppelfaller  ('-_-:  Riesen- 
mächte) stehen  die  drei  schwebenden: 

1.  der  fallschwebende  {'-j.^:  Sehnsucht  haben), 

2.  der  steigschwebende  {'-.j.-:  Beisevorfall), 

3.  der  gleichschwebende  ('__i-:  Weltkriegunglück); 

b)  neben  dem  einfachen  Steigdoppelfaller  (_-'-:  voller 
Witze)  stehen  die  drei  schwebenden: 

1.  der  fallschwebende  (_;:_'-:  ganz  durchschossön), 

2.  der  —  uns  schon  bekannte  —  steigschwebende  (--'-: 
meine^Handschuh), 

3.  der  gleichschwebende  (-^-'-:  welch  ein  Wahnsinn); 

c)  neben  dem  einfachen  Falldoppelsteiger  (^'^-:  Besuch 
gehabt)  stehen  die  drei  schwebenden: 

1.  der   —   uns   auch   schon    bekannte   —   fallschwebende 
(-'--:  ans  Vaterland), 

2.  der  steigschwebende  (-'--^:  Vergißmeinnicht), 

3.  der  gleichschwebende  (-'_-i:  umwarb  ihn  sehr); 

und  endlich  d)  neben  dem  einfachen  Steigdoppelsteiger 
(^  _  ^  ' :  bestellte  ab) 

1.  der  fallschwebende  {-^^'•.  was  ihr  gefiel), 

2.  der  steigschwebende  (-^-':  behalt  mich  lieb), 

3.  der  gleichschwebende  {-j.-':  und  sah  ihn  an). 

Vielen  wird  eine  so  genaue  Bestimmung  und  sogar  Benennung 
von  Tonstärkeformen  überflüssig  erscheinen,  und  doch  wird  mir, 
glaube  ich,  der  eine  oder  andere  dankbar  sein,  bei  der  Behandlung 
von  Einzelfragen  auf  dies  —  nur  im  Überblick  über  das  Ganze 
zu  gewinnende,  innerlich  zusammenhangende  und  außerdem  deutsche 
— -  Genam  zurückgreifen  zu  können. 

Auf  die  mehr  natürliche  oder  bestimmten  Vorformen  mehr 
oder  minder  stark  angepaßte  Verwendung  solcher  Füße  ein- 
zugehen, muß  ich  späteren  Untersuchungen  überlassen. 


NebentonBtärken  143 

IL 

Den  äußeren  Anstoß  zu  der  eben  dargelegten  Weiterführung 
meiner  1916  veröffentlichten  Lehre  von  der  Dreiteilung  der  Beton- 
stärken  hatte  mir  Anfang  1917  die  damals  nur  sehr  flüchtige 
Kenntnisnahme  des  1912  (bei  K.  J.  Trübner,  Straßburg)  erschienenen 
Buches  von  S.  Behn:  'Der  deutsche  Rhythmus  und  sein  eigenes 
Gesetz.  Eine  experimentelle  Untersuchung.  Aus  dem  psychologischen 
Institut  der  Universität  Bonn'  gegeben. 

Nachdem  ich  nun  meine  eigenen,  dann  ganz  unabhängig  aus 
meinen  früheren  Begriffen  und  Benennungen  weiter  entwickelten, 
neuen  Auffassungen  im  vorigen  klargelegt  habe,  möchte  ich  —  nach 
jetzt  endlich  erfolgter  genauerer  Durcharbeitung  des  Behnschen 
Buches  —  meine  Stellung  zu  ihm  des  näheren  auseinandersetzen. 

Ich  stimme  mit  Behn  überein  in  der  Ablehnung  des  fremden 
griechisch-römischen  Einflusses  (V)  und  in  der  Forderung  einer 
eigenwüchsigen  Begründung  der  Verslehre,  die  mit  mehr  als  zwei 
Betonunterschieden  rechnen  soll  (10). 

Ich  erkenne  den  von  ihm  erweiterten  lOopstockschen  Grundsatz 
(66):  'Die  Betonungsstufe  und  Dauer  aller  deutschen  Silben 
im  Satze  hängt  von  ihrem  Sinn  wert  ab'  (VIII)  als  Regel  an. 
Insofern,  als  in  allen  kurzen  und  in  allen  langen  Wellen  einer  Zeile 
'Silben  einer  bestimmten  Betonungsstufe  immer  länger  als  alle 
weniger  betonten,  kürzer  als  alle  betonteren'  (93)  dauern,  gibt  es 
in  der  Tat  'für  deutsches  Maß'  'keinen  Streit  um  akzentuierende 
und  quantitierende  Metrik'  (67)  mehr. 

Überaus  wichtig  ist  auch  die  allgemeine  Bemerkung  (113):  'In 
Wellen'  derselben  Zeile  (95)  'und  Zeilen'  derselben  Strophe  (97) 
'besteht  also  die  allgemeine  Tendenz,  Unterschiede  der  Dauern  aus- 
zugleichen.' 

In  dem  ersten  Teil  dieses  Gesetzes:  'In  der  Zeile  wird  die  lange 
Welle  der  kurzen  gegenüber  an  Dauer  verkürzt'  (95)  und  doch  auch 
umgekehrt,  liegt  denn  auch  der  Grund  für  die  (Bindung,  123  f.) 
von  mir  angezeigte  Stimmungsänderung  bei  Änderung  der  Länge 
der  Senken  in  derselben  Zeile. 

Auch  in  der  ablehnenden  Stellung  zu  Saran  (127 — 14S)  wie 
vor  allem  in  der  annehmenden  zu  Älinor  (148 — 160)  fühle  ich 
mich  mit  Behn  einig. 

Wenn  ich  nun  —  nach  einer  nochmaligen  Betonung  meiner 
grundsätzlichen  Übereinstimmung  mit  den  Ausführungen  Behns 
und  einem  Hinweis  auf  die  Verdienstlichkeit  dieser  Arbeit  —  auf 
die  Einzelheiten  der  von  ihm  gemachten  Betonungsunterschiede  und 
damit  auf  meine  Abweichungen  von  seinen  Anschauungen  zu 
sprechen  komme,  so  möchte  ich  da  von  einer  Bemerkung  aus- 
gehen, die  er  selber  (152)  über  Saran  gemacht  hat:  'Sarans  Unter- 


144  Nebentonstärken 

Übersicht  über  die  wichtigsten  zwei-  und  dreisilbigen  Füß( 

I.  Füße 


Zwei- 
teilung 


Drei- |undFünf-|  teil  ung 


A. 

Zwei- 
silber 


Tieffüße  Flachfüße 


Fallcr 


Tieffaller 
Hände 


Flachfaller 
Andacht 


Steiger 


Tiefsteiger 
Gefahr 


Flachsteiger 
umsonst 


B. 
Drei- 
silber 


Schrägfüße 


Tanzer 


Ebentanzer 


Tief  tanz  er 

bettelte 

(viel) 


Flachtanzer 

wirf  ihn  doch 
(fort) 


Schrägtanzer 


Falltanzer 
ansehen 


Steigtanzer 

tief 

wander- 
tet 

mittlich 

flach 

'  _  j. 

einsam 

sein 

Übersicht 

Woger 


Ebenwoger 


Tiefwoger 
besehen 


Flachwoger 

mein  Vor- 
mund 


Seh  rag  woger 


Fallwoger 
ihr  Herren 


Steigwoger 
bemerkbar 


Springer 


Ebenspringer 


Tief- 
springer 

(leuch)teteu 
auf 


Flach- 
springer 

(hielt)  ihn 
umfaßt 


Schrägspringer 


Fallspringer 


tief 

ver- 
gesellt 


mittlich 


unter- 
wühlt 


flach 


stieß  ihn 
fort 


Steigspringer 
behielt  recht 


Nebeatonstärken  345 

und  Senken  bei  Zwei-,  Drei-  und  Fünfteilung  der  Betonungen. 


II.  Senken 


Drei-  |  u  n  d  F  ü  n  f  - 1  t  e  i  1  u  n  g 


Schrägsenkel 


tief 
verge(nießen) 


Fallsenke 
I  mittlich  I 

über{rascht) 


flach 
um  ein(Haar) 


Steigsenke 
tief         I  I  mittlich  | 

{hef)teten      (Wan)derlu9t 


flach 
(an)dachtvoll 


E  b  e  n  f  u  ß  s  e  n  k  e  n 


Schrägfußsenkeii 


Tanzsenken 


Tieftanzsenke 
außer  Ge(fahr) 


Flach tanzsenke 


nahm  ihn  dann 
(mit) 


Falltanzsenke 
gab  ihnen (Glück) 


Steigtanzsenke 
tief  mittlich 

(hin'lsclileu-     waren 
(lertet        um(9tellt) 


Wogsenken 


Tiefwogsenke 
tief         mittlich 


(war-) 
teten 

(treu) 


(nah)men 

sein 

Ge- 
(schenk) 


Flachwogsenke 

(Voll)mond- 
antlitz 


Fallwogsenke 
(Häß)lichkeiten 


Steigwogsenke 
(Wun)dersehnsucht 


Springsenken 


Tiefspringsenke 


1       tief        mittlich 


(blü-) 
hen- 
dere 


(schleu-) 

derte 

ihn 


Flach - 
springsenke 

(weh)mutfrei 
sein 


Fallspvingsenke 
(an)denkenlos 


Steigspringsenke 
(im)mer  noch  nicht 


Ebensenken 


1 r 

Tiefsenke 
(en)dete  (laut) 


Flachsenke 

(hob)  ihn  vom 
(Roß) 


ebene 
Fallsteig- 
senke 

(gold)feuer- 
um(loht) 


ArcLiv  f.  n.  Sprachen.    Sonderheft. 


lU 


146  Neben  tonstilrken 

Scheidungen  . . .  sind  minutiöser'  als  die  von  Minor  und  ihm,  'für 
den  Künstler  darum  zu  schwerfällig,  . . .  Und  so  fallen  sie  in  der 
Kunstlehre  fort.' 

Mir  scheint,  dieser  Satz  gilt  auch  noch  für  die  von  ihm  ge- 
machten Unterscheidungen  gegenüber  meinen.  Aus  den  'zahllosen 
Abstufungen  der  Tonstärke',  die,  wie  er  ganz  richtig  mit  Minor 
schreibt,  'unmerklich  ineinander  übergehen',  hebt  er  (1 — 8)  —  ent- 
sprechend den  sehr  fein  auseinandergehaltenen  sieben  Sinnwert- 
stufen —  zunächst  auch  sieben  Betonstufen  heraus  —  die  aller- 
dings dann  sofort  (8)i  auf  fünf  beschränkt  werden:  auf  die  drei 
auch  schon  von  Minor  (152)  erkannten  Hauptbetonungsstufen: 
hochbetont,  mitbetont,  unbetont  und  die  zwei  Paare  von  Neben- 
betonungsstufen: unterhochbetont  und  übermitbetont  einerseits, 
untermitbetont  und  überunbetont  anderseits  — ,  für  die  aber  keine 
einheitlichen  Namen  mehr  gegeben  werden.  Ich  habe  diese  Stufen: 
starkbetont,  schwachbetont,  unbetont  sowie  —  zusammenfassend  — 
fast  starkbetont  und  fast  schwachbetont  genannt. 

Dabei  sind  (102)  'hochwertig'  'die  Wurzeln  der  Begriffswörter', 
'mittelwertig'  'die  Wurzeln  der  Beziehungswörter  sowie  die  nicht 
flektierenden  Vorsilben  und  Nachsilben'  und  'tiefwertig'  'die  flek- 
tierenden Vorsilben  und  Endungen',  womit  ich  im  allgemeinen  ein- 
verstanden bin. 

Was  die  Zeichen  (9,  105)  betrifft,  so  scheinen  mir  seine 
(_i,  A,  ^.,  t,  w)  umständlicher  und  weniger  übersichtlich  als  meine 
(',  j.,  _,  T,  w):  den  Unterschied  von  Haupt-  und  Nebentonstärken 
veranschaulichen  diese  dadurch,  daß  nur  die  für  die  letzten  zusammen- 
gesetzt sind,  die  für  die  ersten  dagegen  einfach,  und  die  Zusammen- 
setzung der  Nebentonzeichen  erfolgt  aus  den  beiden  sie  umgebenden 
Haupttonzeichen  —  was  beides  bei  Behn  nicht  der  Fall  ist. 

Aber   auch   mit   diesen    fünf   Unterschieden    wird   der   Dichter 

—  bisher  nur  an  zwei  gewöhnt  —  in  der  Regel  nicht  viel  an- 
zufangen wissen.  Zunächst  scheinen  mir  —  wie  das  im  ersten  Teil 
dieser  Arbeit  auch  ausgeführt  ist  —  höchstens  drei  Unterschiede 
für  den  Künstler  brauchbar  zu  sein  und  nur  in  ganz  besonderen 
Fällen  —  für  zweisilbige  Umsenken  und  dreisilbige  Lisenken  — 
auch  fünf. 

Forschenden  Gelehrten,  Seelkundern  und  Kunstwissenschaftern 
bleibt  es  zwar  unbenommen,  noch  feinere  Unterschiede  zu  machen 

—  wie  etwa  Behns  'sieben  Positionsordnungen'  zur  Bestimmung 
der  Überunbetontheit  (68  ff.)  — ,  um  damit  (jedichte  lauf  lieh  auf- 
zulösen; der  schaffende  Künstler  kann  da  n-icht  folgen.  Sich  aber 
gerade    auf   dessen   Standpunkt  zu  stellen,   seine   Bedürfnisse  und 


*  Bei  der  auch  von  anderen  bemerkten  'Unmöglicbkeit',  'mit  mehr  als 
fünf  verschiedenen  Intensitäten  Icänger  vergleichend  zu  arbeiten'  (9,  s.  auch  104). 


NebentonstärkcD  147 

Fähigkeiten  zu  berücksichtigen,  wie  ich  es  hier  tun  möchte,  dazu 
berechtigt  bei  der  Besprechung  von  Behns  Arbeit  der  besondere 
Wert,  den  er  selber  immer  wieder  (V,  17,  149,  152,  154)  auf  die 
Anregungen  legt,  die  aus  seinen  Untersuchungen  für  die  Kunst 
und  den  Künstler  hervorgehen  sollen. 

Auf  Grund  seiner  (26 — 98)  mitgeteilten  Versuche  hat  nun  Behn 
(106 — 109)  gemäß  seiner  Fünfteilung  'alle  möglichen',  sinkenden 
und  steigenden,  kurzen  und  langen  (d.  h.  zwei-  und  dreisilbigen) 
'Wellen'  (d.  h.  Füße  und  Senken)  'kombinatorisch'  zusammengestellt 
und  durch  je  ein  Beispiel  belegt. 

Die  dafür  gewählten  Bezeichnungen  (auch  21  ff.)  sind  alle  reich- 
lich lang  und  auch  nur  zum  Teil  ganz  einwandfrei,  wie  'kurze, 
sinkende',  'kurze,  steigende',  'lange,  nur  sinkende'  und  'lange,  nur 
steigende  Wellen'  erster,  zweiter,  dritter  und  —  für  die  ersten 
beiden  Arten  —  auch  vierter  Ordnung,  unklar  bleibt  mir  die  Be- 
zeichnung 'lange,  mehr  sinkende',  'mehr  steigende  Welle':  Heide- 
land z.  B.  soll  eine  'lange,  mehr  sinkende  Welle'  sein,  'weil  (?) 
die  letzte  Silbe,  das  Tal,  betonter  ist  als  die  vor  ihr,  ohne  doch 
so  hoch  wie  der  Berg  sich  zu  erheben'  (22).    Außerdem  müßte  es 

—  wenigstens  nach  mathematischem  Sprachgebrauch  —  für  'lange, 
sinkende'  und  'lange,  steigende'  'flache  Wellen'  vielmehr  ebene 
Wellen  heißen. 

Endlich  scheint  mir  auch  die  Anzahl  der  Benennungen  noch  nicht 
hinreichend  zu  sein. 

Wenn  man  nun,  vne  ich,  die  bewußte  künstlerische  Verwertung 
dieser  80  Formen  nicht  für  möglich  hält,  sondern  mit  weniger  — 
deshalb  aber  immer  noch  mit  mehr  als  bisher  —  auskommen  zu 
müssen  glaubt,  wenn  man  in  der  Regel  statt  fünf  Unterschieden 
nur  drei  wählt,  dann  fragt  es   sich,   wie   denn   nun  die  von  Behn 

—  lehi'lich  ganz  richtig  aufgefaßten  —  beiden  Nebentonstärken 
auf  die  Haupttonstärken  zu  verteilen,  welchen  von  meinen  'Füßen 
oder  Senken  mit  nur  drei  Tonstärken'  seine  'Wellen  mit  irgend- 
einer Nebentonstärke'  zuzuordnen  sind. 

Sehen  wir  uns  einmal  die  Beispiele  —  zunächst  für  die  Wellen 
erster  Ordnung,  d.  h.  die  eigentlichen  Füße,  mit  starkbetonter 
Silbe  —  auf  ilu-e  Zusammfaßbarkeit  hin  an. 

Die  vier  verschiede]ien  Beispiele  für  die  'kurzen,  sinkenden 
Wellen  erster  Ordnung',  für  die  Fall  er,  wie  ich  sage:  'Landhaus, 
Landung,  landend,  Lande',  lassen  sich  ohne  Schwierigkeit  in  zwei 
Gruppen  teilen:  in  solche  mit  entschieden  schwachbetonter  Silbe  an 
zweiter  Stelle:  Landhaus  und  Landung,  die  ich  kurz  Flachfaller 
nenne,  und  in  solche  mit  nicht  mehr  schwachbetonter:  landend, 
Lande,  die  ich  kurz  Tief  faller  nenne. 

Von  den  vier  'kurzen,  steigenden  Wellen  erster  Ordnung',  den 
Steigern,  wie  ich  sage:  betont,  bestritt.  Verstand,  [in  der  Winter-] 

10* 


148  Nebentonstärkeir 

nacht  strahlt,  wird  wohl  kaum  einer  den  durch  die  —  noch  dazu  in 
der  folgenden  Silbe  stehende  —  größere  Anzahl  von  Geräuschlauten 
hervorgerafenen  Unterschied  in  der  Betonung  von  betont  und  bestritt 
■für  groß  genug  erachten,  daß  der  Künstler  damit  arbeiten  könnte. 
Die  beiden  Beispiele  fasse  ich  deshalb  als  Tiefs  teiger  zusammen. 

Wenn  man  einmal  mit  Behn  (99)  bestimmte  Vorsilben  wie  er, 
ver,  zer,  ent  in  der  Tat  stärker  ausspricht,  als  ich  es  tue,  sie  dem- 
nach zu  den  schwachbetonten  Silben  rechnet,  so  lassen  sich  auch 
hier  wieder  die  beiden  noch  übrigen  Füße  zu  einer  Gruppe,  den 
Flachsteigern,  vereinen. 

Auch  die  vier  Beispiele  für  die  'langen,  sinkenden,  flachen 
[besser  ebenen]  Wellen  erster  Ordnung',  für  die  Eben  tanzer: 
Vollmondschein,  heimatlos,  leuchtendste  Str[eiter],  leuchtete  zerfallen 
ohne  weiteres  in  zwei  Klassen,  deren  einzelne  Glieder  wieder  für 
den  Künstler  kaum  unterschieden  zu  verwerten  sind,  in  die  Fl  ach - 
tan  zer:  Vollmondschein,  heimatlos,  und  die  Tieftanzer:  leuch- 
tendste Str[eiter],  leuchtete.  Die  gerade  in  diesen  Fällen  von  mir 
oben  (3  f.)  beachtete,  durch  die  Stellung  am  Ende  hervor- 
gerufene Hebung  der  letzten  Silbe  über  die  vorletzte  hinaus,  die 
Unebenung  oder  Schrägung  dieser  sonst  vor  einer  Hebe  ebenen 
Füße,  wird  von  Behn  nicht  berücksichtigt. 

'[Mil-]de  behü^ten"],  [läjchelnd  bestrei-[ten],  ihm  ein  Pferd, 
[Voll-]mondschein  leuch-[tet]',  die  vier  Beispiele  für  die  'langen, 
steigenden,  flachen  AVellen  erster  Ordnung',  kurz  für  die  Eben- 
springer,  zeigen  gleichfalls  zwei  Arten:  die  beiden  Tiefspringer 
und  die  beiden  Flachspringer. 

Die  Hebung  der  ersten  Silbe  solcher  Formen,  wenn  sie  am 
Anfang  von  Zeilen  stehen,  habe  ich  oben  (2)  eingehend  be- 
sprochen, auch  sie  wird  von  Behn  nicht  erwähnt  —  es  ist  das  ja 
allerdings  auch  keine  durch  den  Sinnwert  hervorgerufene  Tonstärken- 
änderung. Ich  halte  sie  aber  trotzdem  für  wichtig,  ja  entschieden 
für  wichtiger  noch  als  die  durch  Stellung  vor  mehreren  Geräusch- 
lauten, also  auch  nicht  durch  Sinnwertänderung  hervorgerufene  und 
von  Behn  so  über  Gebühr  beachtete. 

Von  den  sechs  'langen,  nur  sinkenden  Wellen  erster  Ordnung', 
den  Falltanzern:  Heimsuchung,  heimsuchend  tr[effen],  Land- 
hause, elendest,  Heilande,  leuchtendste  scheinen  mir  die  vier  mitt- 
leren als  für  den  Künstler  zu  wenig  unterschieden  in  eine  Klasse 
zu  gehören:  es  sind  (mittlere)  Falltanzer. 

Was  das  Wort  Heimsuchung  betrifft,  so  wird  es  —  vor  einer 
starkbetonten  Silbe  stehend  —  ohne  weiteres  zu  den  schon  be- 
sprochenen Flachtanzern,  zu  Vollmondschein  und  heimatlos,  zu 
rechnen  sein,  am  Ende  einer  Zeile  sogar  auch  —  ebenso  wie  diese  - 
zu  den  flachen  Steigtanze rn,  mit  leicht  stärkerer  Betonung 
der  letzten  Silbe  (oben  3). 


Nebentonstärkcn  149 

Und  'leuchtendste'  kann  hier  nicht  andere  gewertet  werden  als 
oben  als  Tieftanzer  und  am  Ende  einer  Zeile  unter  Umständen 
als  tiefer  Steigtanzer  (oben  3). 

Als  Beispiele  für  die  'langen,  nur  steigenden  Wellen  erster 
Ordnung',  die  Steigspringer,  werden  [rei-]nigend  AVas-(ser], 
[rei-]ne  Entzük-[kung],  [die-]ser  hat  Mut,  [rä-]chend  zerreis-[se], 
[die-|ses  sei  dei-[ne  Tat]  und  du  hast  Mut  gegeben. 

Spricht  man  auch  hier  wieder,  wie  schon  oben,  mit  Behn  die 
Vorsilben  eut  und  zer  etwas  stärker,  d.  h.  schwachbetont  aus,  so 
wird  man  die  vier  mittleren  Formen  zu  einer  Klasse,  den  mitt- 
leren Steigspringern,  rechnen  dürfen. 

Die  erste  Form  würde  ich  dagegen  als  nicht  wesentlich  von 
[mil-]de  behü-[ten]  und  [lä-]chelnd  bestrei-[ten]  auffassen  und  so 
mit  diesen  —  vorausgesetzt,  daß  eine  Hebe  voraufgeht  —  einfach 
als  Tief  Springer  bezeichnen,  ebenso  wie  'du  hast  Mut'  neben 
'ihm  ein  Pferd'  und  '[VoU-Jmondschem  leuch-[tet]',  wenn  eine  Hebe 
voraufgeht,  als  Flachspringer. 

Die  tiefen  und  die  flachen  Steigspringer  sind  ebenso  wie  die 
tiefen  und  die  flachen  Falltanzer  neben  den  mittleren  etwas  sehr 
Seltenes  —  stehen  sie  am  Anfang  bzw.  am  Ende  einer  Zeile,  so 
wh-d  nämlich  meist  immer  der  etwas  stärkere  Ton  gerade  auf  die 
an  sich  weniger  stark  betonte  erste  bzw.  letzte  Silbe  gelegt,  stehen 
sie  zwischen  zwei  Heben,  so  fällt  der  Unterschied  in  der  Tonstärke 
der  beiden  Silben  so  wenig  ins  Gewicht,  daß  —  wenigstens  der 
ausübende  Künstler  —  ihn  vernachlässigen  darf. 

Die  vier  mittleren  Formen  von  den  sechs  'langen,  mehr  sinken- 
den Wellen  erster  Ordnung',  den  Steig  tanzern:  Heimatland, 
Edelmut  [zeigte],  Heideland,  wundersam[e],  freudelos,  [die]  Wälle 
bestr[eichen]  wird  kaum  einer  als  verschieden  benutzen  können,  sie 
sind  alle  vier  mittlere  Steigtanzer. 

Heimatland  hat  dann  in  der  Tat  —  am  Ende  stehend  —  die 
von  Behn  ihm  gegebene  Form  -ia^A  oder  '-^,  es  ist  ein  flacher 
Steigtanzer,  aber  nicht  anders,  als  es  auch  Yollmondschein  und 
heimatlos  am  Ende  sein  würden,  und  würde  ebenso  wie  sie  in  der 
Mitte  als  Flachtanzer  zu  werten  sein. 

Es  gibt  dann  auch  noch  tiefe  Steigtanzer  (^--  oder  '-r). 
Nur  würde  ich  gerade  in  dem  von  Behn  gewählten  Beispiel:  [die] 
Wälle  bestr[eichen]  aus  dem  schon  angeführten  Grunde  keinen 
solchen  sehen,  wohl  aber  etwa  in  dem  am  Ende  stehenden  älteren 
—  das,  ohne  daß  noch  irgendein  Geräuschlaut  folgt,  doch  von 
Klopstock  deshalb  sogar  als  Einsenker  mit  seiner  letzten  Silbe  als 
Hebe  verwertet  wird. 

Was  endlich  die  Beispiele  für  die  'langen,  mehr  steigenden 
Wellen  erster  Ordnung',  für  die  Fallspringer:  [breite-]ten  be- 
hü-[tend],  deren  Heim,  offenbart,  deren  Strei-[te],  offenbar- [te],  ward 


150  Nebentüustärkeu 

umstellt  betrifft,  so  wird  man  auch  hier  die  vier  mittleren  als  kaum 
unterscheidbar  in  eins  zusammenfassen  können.  Es  sind  mittlere 
Fallspringer. 

Wenn  Behn  das  erste  Beispiel  'breiteten  behütend'  in  der  dritten, 
vierten  und  fünften  Silbe  als  tiefen  Fallspringer  (' -  ^  oder  ~-  ') 
aufgefaßt  haben  v^ill,  so  kann  ich  ihm  darin  ausnahmsweise  einmal 
zustimmen  —  aber  nicht  der  Stellung  vor  besonderen  Geräusch- 
lauten wegen  ist  für  mich  -ten  hier  fast  schwachbetont,  sondern  nur 
weil  diese  Silbe  —  bei  Behn  zufällig  —  zwischen  zwei  unbetonten 
Silben  steht,  und  sie  würde  auch  so  betont  bleiben,  wenn  das  Bei- 
spiel etwa  'breiteten  erhebend'  hieße  oder  'breitete  behütend'  —  für 
Behn  aber,  seinen  Ausführungen  gemäß,  nicht.  'Ward  umstellt' 
endlich  ist  wieder  richtig  —  wenigstens  sofern  es  am  Anfang  steht  — 
als  flacher  Fall  Springer  {Ai:^  oder  ^_')  hingestellt;  steht 
aber  eine  starkbetonte  Silbe  davor:  'das  Gehölz  ward  umstellt',  so 
gleicht  sich  der  Betonunterschied  aus  und  wir  haben  es  wieder  wie 
in  'ihm  ein  Pferd',  '[Voll-]mondscheinleuch-[tetJ'  und  'du  hast  Mut' 
mit  einem  Flachspringer  zu  tun. 

Wer  vermöchte  die  noch  zu  unterscheiden  oder  gar  in  ihnen 
verschiedene  Mittel  künstlerischen  Ausdrucks  zu  erblicken? 

Nachdem  ich  so  die  40  Behnschen  Wellen  erster  Ordnung  zu 
16  bzw.  unter  Einschluß  der  oben  (12)  genannten  vier  sehr  seltenen 
zu  höchstens  20  —  einzeln  benannten  —  Füßen  zusammengezogen 
habe,  kann  ich  untersuchen,  wie  die  für  die  einzelnen  Silben  ver- 
wendeten Nebentonzeichen  in  Haupttonzeichen  verwandelt  worden 
sind.  Ich  finde  dabei,  daß  für  ein-  und  zweisilbige  Insenken  sowie 
für  einsilbige  Umsenken,  d.  h.  für  Hauptsenken,  das  Behnsche 
Zeichen  für  fast  starkbetont  A  in  das  Zeichen  für  schwachbetont 
(:5.  oder  _),  das  für  fast  schwachbetont  -  in  das  für  unbetont  -  ver- 
ändert werden  muß  —  will  man  die  entsprechenden  Wörter  richtig 
mit  drei  Tonzeichen  wiedergeben  — ;  auf  die  abweichende  Betonung 
von  ent,  ver  und  zer  habe  ich  ja  schon  aufmerksam  gemacht. 

Diese  Regel  gilt  nun  aber  auch  noch  für  die  Wellen  zweiter, 
dritter  und  vierter  Ordnung,  in  denen  die  starkbetonte  Silbe  fehlt, 
die  also  gar  keine  regelrechten  Füße  mehr  sind,  sondern  schon 
Senken  genannt  werden  müssen  —  ausnahmslos  allerdings  nur,  so- 
fern es  sich  noch  um  Hauptsenken  handelt.  In  Nebensenken  kommt 
die  Möglichkeit  hinzu,  daß  einzelne  Silben  durch  die  besondere 
Stellung  zu  anderen  in  ihrer  Tonstärke  gehoben  werden  und  so 
Zeichen  für  Nebentonstärken,  \Vie  bei  Behn,  erhalten,  allerdings  oft 
bei  fast  schwach  betonten  Silben,  wie  schon  oben  angedeutet,  aus 
einem  ganz  anderen  Grunde  als  bei  ihm. 

Von  den  sechs  weiteren  Beispielen  Behns  für  die  kurzen,  sinken- 
den Wellen:  [Winter-] landschaft,  [hinüber- |fahrend,  [Märchen-]lande; 
deren  Str[eit],  deren  [Heimat];   [breite-]ten  be-[hütend]    würde  ich 


iS't'bentoiistilrkou  151 

zunächst  mit  ihm  das  erste  als  Flachfallsenke  (A:l  oder  _^_) 
bezeichnen,  die  vier  mittleren  aber  nicht  unterscheiden,  vielmehr  als 
mittlere  Fallsenken  (--)  zusammenfassen. 

Die  tatsächliche  Fastschwachbetontheit  des  -ten  im  letzten  Bei- 
spiel kann  ich  aber  nur  auf  die  Stellung  zwischen  zwei  unbetonten 
Silben  zurückführen,  nicht  auf  das  noch  folgende  b  in  be-,  weshalb 
ich  denn  auch  von  den  sechs  weiteren  Beispielen  für  die  kurzen, 
steigenden  Wellen  höherer  Ordnung :  geof-[fenbart],  [überzeu-]gend 
of-[fenbart],  [mir  an-]vertraut;  [sa-]ge  wes[-sen  Stern],  [leuch-]tend 
um-[strömte] ;  [brei-]te  bestr[ickend]  im  letzten  das  be  trotz  der 
darauf  noch  folgenden  Geräuschlaute  nicht  für  fast  schwachbetont 
halten  kann,  die  Senke  vielmehr  als  eine  einfache  lange  Tief- 
senke bezeichnen  muß. 

Eine  wirkliche  tiefe  Steigsenke  läge  für  mich  etwa  vor  in 
[brei-]tete  [erstaunt].  Auch  hier  kann  ich  wieder  zwischen  dem 
ersten,  zweiten,  vierten  und  fünften  Beispiel  nicht  genügend  Unter- 
schiede entdecken,  sie  enthalten  vielmehr  alle  in  annähernd  gleicher 
Weise  die  mittlere  Steigsenke. 

Daß  ich  persönlich  als  Beispiel  für  eine  flache  Steigsenke 
lieber  nicht  '[mir  an-]vertraut'  gewählt  hätte,  wird  man  schon  wissen; 
etwa  '[Hand]  aufs  Herz'  wäre  mir  passender  erschienen. 

Wenn  er  dagegen  in  den  sechs  Beispielen  für  die  langen,  sinken- 
den, flachen  Wellen  höherer  Ordnung:  [Winter-]landschaft  im 
[Norden],  [sie]  haben's  bestr[itten],  [todes-] mutige;  deren  Ge-[treue], 
diese  Ge-[fahr];  [der  peini-]gendste  Ge-[danke]  das  erste  als  Flach- 
tanzsenke (A:l:l   oder   j- )  bezeichnet,  so  bin  ich  ganz  seiner 

Meinung,  muß  aber  auch  hier  wieder  die  Verwertbarkeit  der  Unter- 
schiede der  vier  mittleren  Formen  bestreiten.  Ich  fasse  sie  als 
mittlere  Tieftanzsenke  zusammen. 

Im  letzten  Beispiel  würde  auch  ich  eine  tiefe  Tieftanzsenke 
finden,  aber  auch  hier  nur  wieder  —  anders  als  Behn  —  wegen 
der  besonderen  Stellung  hinter  einer  unbetonten  Silbe. 

Die  sechs  Beispiele  für  die  langen,  steigenden,  flachen  Wellen 
höherer  Ordnung  lauten  dann:  [Lie-]be  geof-[fenbart],  [wenn  ich 
mich  am  si-]chersten  füh-[le].  ihm  die  Of-[fenbarung];  [lei-]tete 
de-[ren],  [strei-]chelten  de-[ren  Gewände];  [kein  rei-]nigenders 
G[ewitterj. 

Das  erste,  zweite,  vierte  und  fünfte  Beispiel  sind  als  mittlere 
Tiefspringsenke  zu  vereinen,  das  dritte  kann  man,  mit  einer  Hebe 
davor,  ganz  wohl  als  Flachspringsenke  (^jlA  oder ^)  be- 
zeichnen. Das  letzte  ist  auch  für  mich  eine  tiefe  Tief  springsenke, 
aber  nur  auf  Grund  der  noch  folgenden  unbetonten  Silbe. 

Von  den  vier  Beispielen  der  langen,  nur  sinkenden  Wellen:  die 
das  bestr[eiten],  die  sich  be-[hüten],  [du]  solltest  be-[hüten];  diesen 
be-[hüte]  sind  die  beiden  ersten  Falltanzsenken,  die  beiden  fol- 


152  Neben  tonstäikeii 

genden  aber  —  zusammen  mit  den  oben  schon  genannten  vier 
langen,  sinkenden,  flachen  "Wellen  [sie]  haben's  bestr|itten],  [todes-] 
mutige,  deren  Ge-| treue],  diese  Ge-ffahr]  —  Tieftanzsenken. 

Lange,  nur  steigende  Wellen  höherer  Ordnung  sind  auch  bloß 
vier  da:  [bese-]ligen  wird,  [zur  Erleich-]terung  wird,  wozu  ha-[ben 
sie  das  getan];  [rei-]nigend  mei-[ne  Seele].  Das  erste  und  letzte 
Beispiel  ist  für  mich  eine  mittlere  Tiefspringsenke  gleich 
den  vier  obengenannten  langen,  steigenden,  flachen  Wellen  höherer 
Ordnung,  das  zweite  ist  klar  eine  Steigspringsenke,  das  dritte 
dagegen  scheint  mir  von  Behii  selber  schlecht  gewählt  —  Vo'  kann 
doch  kaum  als  bloß  fast  schwachbetont  l  bezeichnet  werden.  Besser 
stände  da  etwa  im  Sinne  Behns  '[bereite-]ten  zu  Hau-[se  vor]',  und 
dann  würde  auch  das  als  Steigspringsenke  zu  fassen  sein. 

Auch  die  vier  langen,  mehr  sinkenden  Wellen  höherer  Ord- 
nung: [sie]  Werdens  ver-[gessen],  werde  nicht  [zornig],  [ich]  würde 
bestr[eiten] ;  diese  best[echliche]  lassen  sich  zweiteüen.  Die  beiden 
ersten  sind  —  unter  Annahme  der  Schwachbetontheit  des  ver  — 
mitttlere  Steigtanzsenken,  die  beiden  anderen  wiederum  Tief- 
tanzsenken. 

Tiefe  Steigtanzsenken  entständen  für  mich  erst  in  Formen 
wie:  anmutige  (oben  5). 

Von  den  vier  langen,  mehr  steigenden  Wellen  endlich:  [lie-]bend 
geof-[fenbart],  diese  Of-[fenbarung],  denen  warst  [du  im  Wege]; 
[glän-]zendste  U-[berredungskunst]  sind  die  erste  und  die  letzte 
mittlere  Tiefspringsenken,  die  zweite  und  die  dritte  (mittlere) 
Fallspringsenken. 

Wirklich  tiefe  Fallspringsenken  sindsehr  selten,  in  [leuchte-]te 
geof-[fenbart]  würde  ich  eine  erblicken. 

So  wären  denn  auch  die  40  Wellen  höherer  Ordnung  zusammen- 
gezogen, und  zwar  zu  18  —  einzeln  besonders  benannten  —  Senken. 

Im  Unterschiede  zu  Behn  habe  ich  bei  allen  meinen  bisherigen 
Untersuchungen  immer  auch  die  Woger  und  die  Wogsenken  mit- 
berücksichtigt und  muß  das  auch  weiterhin  für  sehr  tunlich  halten 
—  schon  in  Rücksicht  auf  die  vielen  Wort  woger. 

WiU  man  alles  rein  lehrlich  Überflüssige  vermeiden,  dann  dürfte 
man  auch  nicht  einmal  mit  Behn  steigende  und  sinkende  Wellen 
unterscheiden,  sondern  müßte  sich  rein  auf  die  Darstellung  der 
Senken  beschränken.  Diese  müßten  dann  allerdings  noch  auf 
jeden  Fall  durch  die  von  Behn  ganz  vernachlässigten  Wogsenken 
(oben  1 5  ff.)  ergänzt  werden  - —  denn  dann  kann  man  sich  unmög- 
lich bloß  auf  'Wellen'  im  Sinne  von  Behn  besckränken,  d.  h.  auf 
solche  Zusammenstellungen  von  Betonungsstufen,  in  denen  'die  erste 
oder  die  letzte  Silbe  betonter  ist  als  die  übrigen'  (21),  d.  h.  auf 
Welltäler. 

Schon    an    mehreren    Stellen    (oben    11   f.)    habe    ich    auf   den 


Nebentonstärken  153 

Unterschied  in  der  Bestimmung  der  Fastschwachbetout- 
heit  einer  Silbe  bei  Behn  und  bei  mir  hingewiesen.  Ich  muß 
darauf  noch  einmal  genauer  eingehen. 

An  zwei  Stellen  (68—71  und  101  f.)  kommt  Behn  auf  die  Ton- 
stäi-kesteigerung  durch  den  'quantitativen  Einfluß  der  Konsonanten- 
häufung' 'im  Gebiete  der  tiefwertigen  Silben'  (68)  zu  sprechen. 

Auf  Grund  einer  Scheidung  von  kurztönenden  (g,  b)  und  lang- 
tönenden (m,  s,  f)  Geräuschlauten  werden  je  nach  der  Ai't  und 
Anzahl  der  auf  die  tiefwertige  Silbe  folgenden  Geräuchlaute  sieben 
Positionsordnungen  aufgestellt. 

1.  behalte,  2.  behaltet,  3.  behalten,  4.  behaltets,  5.  behalten  sie, 
6.  bestreiten,  7.  werden  streiten. 

Dabei  werden  —  abgesehen  von  dem  Fall,  daß  das  Wort  mit 
dem  unbetonten  e  endet  —  auch  die  Geräüschlaute  des  folgenden 
Wortes  mitgerechnet  _ (69). 

Und  nun  soll  die  Überunbetontheit  einer  Silbe  —  nicht  etwa 
davon  abhängen,  daß  auf  die  unbetonte  Silbe  zwei  oder  mehr  Ge- 
räuschlaute folgen,  was  allenfalls  noch  zu  gebrauchen  wäre  — , 
sondern  davon,  daß  die  betreffende  Silbe  'mindestens  um  drei  Ord- 
nungen über  der  Silbe  niedrigster  Ordnmig'  derselben  Zeile  steht!! 

Daraus  folgt  dann,  daß  zwar  in  'aus  alten  Zeiten'  (115)  das 
-ten  von  alten  zweiter  Tonstärke  ist,  dasselbe  -ten  in  'aus  alten 
Welten'  aber  nur  erster,  daß  es  sich  aber  sofort  ^\4eder  in  eine 
Silbe  zweiter  Tonstärke  verändert,  wenn  das  n  der  letzten  Silbe 
fehlt,  wie  etwa  in  'die  alten  Wälle';  daß  zwar  das  be  in  'diese 
bestechliche'  (108)  überunbetont  ist,  nicht  aber,  wie  (113)  ausdrück- 
lich angegeben  wird,  das  -ten  in  'breiteten  Gewand',  'was  vielmehr 
wider  Sinnwert  und  Position  wäre'! 

Damit  kann  kein  Dichter  etwas  anfangen! 

Ja,  diese  Unterschiede  sind  so  schwer  festzustellen,  daß  sogar 
Behn  selber  einen  Fehler  macht,  indem  er  (107)  in  'breiteten  be- 
[hütend]'  das  -ten  doch  für  überunbetont  ausgibt,  obwohl  doch  nach 
früheren  Ausführungen  (68)  b  und  g  beide  km-ztönend  sind. 

Demgegenüber  halte  ich  es  für  angebracht,  wenn  auch  nicht 
auf  die  Unterscheidung  unbetonter  Silben  nach  Art  und  Anzahl 
darauffolgender  Geräuschlaute,  so  doch  auf  die  Verwertung 
dieser  Unterschiede  zu  verzichten  —  solche  verwertbaren  vielmehr 
nur  für  Nebensenken  auf  Grund  der  Stellmig  unbetonter  Silben 
entsprechend  vor,  nach  und  zwischen  anderen  'unbetonten  Silben 
anzunehmen,  wie  das  oben  auch  überall  getan  ist.  Damit  ist  eine 
gewisse  Bezogenheit  in  der  Bewertung  und  Bezeichnung  von  Silben 
auf  andere  —  aber  doch  in  unmittelbarer  Nähe  stehende  —  Silben 
zugegeben. 

Die  darf  aber  —  und  damit  komme  ich  auf  den  letzten  Punkt  — 
doch  kaum  schon  so  weit  gehen  wie  bei  Behn  —  der  dem  Grund- 


154  Nebentonstärken 

satz  der  'Relativität  der  Betonungsstufen'  gemäß  z.  B.  die 
Stufe  Uberunbetont  nur  gelten  lassen  will  'bei  sonst'  innerhalb  der 
Zeile  'besetzter  Stufe  Unbetont'  (68). 

In  'sie  bestreiten's'  wären  dann  die  zweite  und  vierte  Silbe  un- 
betont (w),  in  'sie  bestreiten's  alle'  wegen  der  Unbetontheit  des 
letzten  e  dagegen  überunbetont  (^)!! 

Doch  schließlich  ließe  sich  das  noch  verteidigen.  Unerträglich 
wird  dies  Verfahren  aber,  wenn  auch  entschieden  schwachbetonte 
Silben  —  bloß  weil  keine  unbetonte  mit  in  der  Zeile  steht  —  un- 
betont gewertet  werden:  'Zwei  aus  dem  Zusammenhang  gelöste, 
aber  aufeinander  bezogene  Silben  bilden  immer  eine  kurze  Welle 
aus  Hochbetont  und  Unbetont'  (44),  weshalb  denn  auch  (115)  in 
'sie  trübt  mir  ja  den  Blick'  sie  unbetont  (-)  ist,  in  'sie  blieb  aus 
alten  Zeiten'  dagegen  schwachbetont  (i.),  lein  (118)  in  'wie  Auglein 
schön'  unbetont  {-),  in  'mit  allen  den  Würzlein  aus'  dagegen 
schwachbetont  {i-),  in  'weil'  auf  mir'  (124)  die  beiden  letzten  Silben 
unbetont  (-  -),  ebenso  vde  das  'und'  in  'für  und  für'  gegen  'Klag' 
und  Jubel'  (119)!! 

Auf  die  Weise  wird  es  ganz  unmöglich,  einen  reinen  Flach- 
weller  'als  ich  traurig  zu  dir  kam'  von  einem  reinen  Tiefweiler 
'nahmen  alle  Früchte  fort'  zu  unterscheiden,  woran  aber  dem  Dichter 
sehr  viel  liegt.  Die  auch  von  Behn  (48)  bei  seinen  Versuchen 
erkannte  'Neigung  zu  festen  Stufen'  ist  nur  zu  berechtigt. 

Im  übrigen  hoffe  ich,  daß  in  diesen  Auseinandersetzungen  mit 
Behn  —  sowohl  darin,  wo  ich  mich  mit  ihm  eins  finde,  wie  aber 
auch  besonders  darin,  wo  ich  mich  von  ihm  unterscheide  —  sich 
die  Brauchbarkeit  meiner  im  ersten  Teil  dieser  Arbeit  dargelegten ' 
Betonformen  zusammen  mit  ihrem  Genam  klar  herausgestellt  hat. 

BerUn.  H.  L.  Stoltenberg. 


Kleinere  Mitteilungen. 

Zur  Frage  der  Sesenheimer  Lieder. 

Das  Sesenheimer  Lied  'Bälde  seh'  ich  Rickgeu  wieder'  entspricht  nicht 
der  Situation  und  dem  Verhältnis  Goethes  zu  Friederike  (vgl.  K,  Reuschel, 
Euphorion  1918,  S.  57—61). 

Es  muß  also  aus  einer  anderen  Zeit  Goethes  stammen  und  eine  andere 
zur  Empfängerin  haben  oder  überhaupt  nicht  von  Goethe  geschrieben  sein. 
Folgendes  spricht  für  Lenzens  Autorschaft: 

1.  Die  Koseform  'Rickgen'  findet  sich  in  Goethes  vorweimarischer  Zeit 
nicht,  während  sie  Lenz  gebraucht,  Dram.  Nachl.  S.  185 — 186,  Der  Ausdruck 
'süßte  Melodie'  scheint  aus  Lenzens  Sprachschatz  zu  stammen.  In  dem  Auf- 
satz 'Klassifikation  der  Konversationstöne'  schreibt  er:  'Die  Baßgeige  ver- 
stärkt unter  den  verschiedenen  Parthien  eines  Konzerts  die  Harmonie  und 
verstärkt  das  süße  der  übrigen  Instrumente.' 

2.  Es  ist  anderswo  niclit  überliefert,  daß  Friederike  mit  Goethe  dessen 
Lieder  oder  Volkslieder  gesungen  hat  (vgl.  Morris,  D.  jg.  Goethe  VI,  160). 
Lenz  hat  aber  mit  'Friederike  und  ihren  Kousinen  ein  gutes  deutsches 
Lied'  gesungen  (Lenz,  Briefe,  hg.  von  Freye-Stammler  1918,  II,  148).  An 
Salzmann  berichtet  er  unterm  5.  August  1772,  daß  er  'einen  trefflichen  Fund 
von  alten  Liedern'  gemacht  habe.  Im  Mai  1776  bittet  er  von  Weimar 
aus  Friederike  um  elsässische  Volksromanzen  für  den  Herzog.  Briefe  1,269. 

3.  Lenz  war  für  Musik  begabt,  er  spielte  selbst  vorzüglich  die  Laute  und 
hatte  Freude  am  Gesang.     Briefe  II,  236. 

4.  Die  weibliche  Stimme  übte  auf  ihn  einen  starken  erotischen  Reiz. 
Sesenheimer  Lied  Nr.  5:  'Wo  singst  du  itzt?'  —  'Himmel,  welche  Stimme 
höre  ich!'  (Katharina  v.  Siena),  'Die  Stellung,  der  Ton  ihrer  Stimme  würden 
mich  wahnwitzig  gemacht  haben'  (Moralische  Bekehrung)  —  ...  'rief  sie  mit 
einer  Stina^.e,  deren  Zauberklang  er  nicht  länger  widerstehen  konnte'  (Land- 
prediger) '. .  .  Wenn  zwei  Leute  zusammen  singen,  es  ist,  als  ob  sie 
sonst  was  miteinander  täten.'     Dram.  Nachl.,  S.  235. 

In  seinen  Wahnsinnsanfällen  rief  Lenz  oft  den  Namen  Friederike,  und 
beim  Hören  einer  Aveiblichen  Stimme  mag  er  an  Friederikes  Stimme  erinnert 
worden  sein.  'Lenz'  Raserei  verdoppelte  sich,  so  oft  er  eine  weibliche 
Stjmme  hörte',  schreibt  Pfeffel  an  Sarasin.  (Waldmann,  Lenz  in  Briefen, 
1894.) 

In  Dorpat  entsteht  Ende  Januar  1780  sein  Liebeswahnsinn  zu  Julie  von 
Albedyll  beim  Anhören  ihres  'sehr  guten  Gesanges',  'darüber'  dichtet 
er  'ein  versifiziertes  Monodrama'.  Briefe  II,  236.  Im  Briefe  vom  März  1780 
gedenkt  er  des  Gesanges  mit  Friederike. 

Das  'Ach  wie  schön  hat's  mir  geklungen'  entspricht  daher  ganz  Lenzens 
pathologischer  Erotik  und  Empfindungsweise. 

Bei  Goethe  finden  wir  ähnliches  nur  in  'Lilis  Park',  wo  er  schalkhaft- 
ironisch die  Hörigkeit  in  der  Liebe  schildert. 

Lenz  dagegen  war  wie  sein  Waldbruder  Herze  seiner  Liebe  'hündisch 
getreu'  (II.  Teil,  5.  Brief),  in  seinen  Dramen  läßt  er  seine  Liebhaber  ihrer 
Dame  mehr  als  ein  dutzendmal  'zu  Füßen'  liegen. 

5.  Man  vergleiche  die  Verse  vom  'wahren  Gram'  mit  den  Worten,  die 
er  vor  seiner  Abreise  nach  Landau  an  Salzmann  schreibt:  '. . .  um  den  letzten 


156  Kleinere  Mitteilungen 

Tag    recht   vergnügt  dort   zuzubringen,    recht  vergnügt   —   mittlerweile 

mein  Herz   von  nichts  als  Flammen,  Dolchen,  Pfeilen  und  Wunden   de- 
klamiert.' 

Königsberg  i.  Pr.  R.  Ballof, 

Über  die  ^SiziKanische  Yesper*  von  J.  M.  R.  Lenz. 

Die  Entstehungszeit  der  'Sizilianischen  Vesper'  ist  ungewiß.  Weinhold 
nahm  das  Jahr  1775  an,  Rosanow  und  andere  dagegen  1780,  als  Grund 
konnten  sie  jedoch  nur  das  erst  in  Rußland  erwachende  historische  Interesse 
des  Dichters  anführen. 

Folgende  Erwägungen  lassen  die  Entstehungszeit  des  Dramas  mit  einiger 
Wahrscheinlichkeit  bestimmen. 

Das  Schauspielfragment  'Graf  Heinrich'  hat  Lenz  im  Herbst  1772  verfaßt. 
Hier  kommt  der  Name  Ruggieri  vor.  Weinhold  meint,  Lenz  habe  den 
Namen  nicht  aus  Dante,  den  er  wohl  nicht  gelesen  habe,  sondern  aus  Ger- 
stenbergs 'Ugolino'  entlehnt. 

Folgende  Stellen  aus  Lenzens  Aufsätzen  zeigen  aber,  daß  er  Dante  gekannt 
hat:  'Über  die  Theorie  der  drei  Einheiten  1772'  vgl.  Friedrich,  Die  Anmer- 
kungen übers  Theater,  1907,  S.  127;  'Rezension  eines  neu  herausgekomme- 
nen Trauerspiels  vom  2.  Dezember  1772';  '. . .  und  Dante  hätte  gewiß  nicht 
das  Herz  gehabt,  eine  solche  Figur  in  der  Hölle  erscheinen  zu  lassen,  viel 
weniger  auf  dem  Theater.' 

Ich  vermute  nun,  Lenz  wurde  im  Jahre  1773  durch  Dante  angeregt,  das 
geschichtliche  Ereignis  der  sizilianischen  Vesper  in  einem  Drama  zu  behan- 
deln. Durch  'Ugolino'  war  ja  Italien  und  seine  Geschichte  ein  beliebter 
Schauplatz  für  ein  Drama  geworden.  Div.  Com.  Par.  VIII,  67 — 82  weist 
Dante  auf  die  sizilianische  Vesper  hin.  Purgat  III,  140  hören  wir  von 
Manfred  und  seiner  Tochter  Konstanze. 

Diese  Vermutung  wird  durch  folgende  Erwägung  wahrscheinlicher  gemacht. 

Bei  Lenz  finden  sich  sehr  häufig  zur  gleichen  Zeit  dieselben  Worte  und 
Wendungen,  so  daß  man  auf  die  gleiche  Entstehungszeit  zweier  Stücke 
schließen  kann,  wenn  sich  Übereinstimmungen  in  Worten  und  Ausdrücken 
zeigen.     Beispiele  ließen  sich  genug  anführen. 

Nun  lesen  wir  in  den  Anmerkungen  übers  Theater:  'Hätt'  ich  nur  mit 
diesen  Anmerkungen  das  ausgerichtet,  was  Petracius  in  seinem  Gastmahl 
des  Trimalchir  von  . . .'  (aus  dem  Jahre  1773). 

Im  Petron  heißt  der  Sklave  des  Encolp  Giton.  Denselben  Namen  führt 
aber  der  griechische  Sklave  in  der  'Sizilianischen  Vesper',  was  vermuten 
läßt,  daß  Lenz  diesen  Namen  der  1773  erschienenen  Heinseschen  Übersetzung 
des  Petron  entlehnt  hat. 

Ich  nehme  daher  an,  die  Konzeption  des  Dramas,  durch  Dante  und 
Ugolino'  angeregt,  ein  Verzeichnis  der  Personen  und  ein  kurzer  Entwurf 
'mag  im  Jahre  1773  entstanden  sein. 

Als  dann  Lenz  nach  Rußland  zurückgekehrt  war,  plante  er  eine  ver- 
besserte Ausgabe  seiner  Jugenddramen.  Dies  und  das  neu  erwachte  histo- 
rische Interesse  mögen  den  Dichter  bestimmt  haben,  den  alten  Stoff  wieder- 
aufzunehmen, vielleicht  auch  die  Absicht,  durch  ein  historisches  Drama  den 
schlechten  Eindruck,  den  er  durch  seine  Komödien  bei  seinen  Verwandten 
gemacht  hatte,  wieder  auszulöschen. 


Kleinere  Mitteilungen  157 

Man  hat  gefragt,  welche  historischen  Quellen  Lenz  für  sein  Drama  be- 
nutzte. 'Wegen  der  starken  Umgestaltung  des  geschichtlichen  Hergangs', 
meint  Weinhold,  'möchte  es  das  Wahrscheinlichste  sein,  daß  seine  geschicht- 
liche Erinnerung  schwankend  und  unsicher  geworden  war  und  er  daher 
diesen  zweifelhaften  Gedächtnisstoff  in  dichterischer  Willkür  verarbeitete.' 

Diese  Vermutung  trifft  jedoch  nicht  zu.  Man  hat  übersehen,  daß  fol- 
gende Stelle  aus  dem  satirischen  Gespräch  'Über  Delikatesse  der  Empfin- 
dung', das  in  der  ersten  Zeit  nach  der  Rückkehr  (1780)  entstand:  Lenz, 
Werke,  hg.  von  Blei,  V,  295,  in  Zusammenhang  mit  der  Sizilianischen  Ves- 
per zu  bringen  ist. 

Daraus  ergibt  sich  einmal:  Lenz  hat  Muratori,  Annali  d'Italia  1753 — 56 
oder  dessen  deutsche  Übersetzung  Leipzig  1745—50  als  Quelle  benutzt;  zum 
anderen:  er  hat  den  Vorgang  nicht  aus  unsicherer  geschichtlicher  Erinne- 
rung, sondern  bewußt  umgestaltet  und  rechtfertigt  hier  eine  solche  Ver- 
änderung. 

Die  angeführte  Stelle  läßt  daher  mit  Wahrscheinlichkeit  schließen,  daß 
die  Ausführung  des  Dramas  in  die  Jahre  1780  oder  1781  fällt. 

Auf  einen  Punkt  möchte  ich  noch  aufmerksam  machen:  V,  2  erinnert  an 
den  Schluß  des  Clavigo. 

Königsberg  i.  Pr.  R.  Ballof. 


Verlag  von  Seorg  We/iermann,  Braunfdiweig  und  Hamburg 

DEUTSCHE 

ME  ISTER  PROSA 

EIN  LESEBUCH 

von 

EDUARD  ENGEL 

Dritte  veränderte  Auflage  ^o  11.  bis  15.  Taufend 

Gefammelf  aus  den  Werken  von  \Tb  verfdiiedenen  Sdiriffffellern 

Mif  einem  Bildnis  Leffings  und  adif  handfdirifflidien  Lefeffü&en 

Schulausgabe  in  Halbleinen  gebunden  10  Mark 

Sefdienkausgabe  auf  holzfreiem  Papier  in  Halbleinen  gebunden  15  Mark 

Vom  preussischen  Unlerrichlsminislerium  für 
die  ihm  unterstellten  Lehranstalten  empfohlen 

Das   anerkannt    beffe    deuffdie   Lefebudi 

Nidif  nur  für  die  Sdiulen  geeignet, 

fondern  ein  edles  Hausbudi 

für  jeden  gebildeten 

Deuffdien 

Seiner  „Deuffdien  Sfilkunff",  in  der  er  unfereProfaliferafur  fdiarf  unter 
dieLupe  nimmt  und  den  Deutfdien  zeigt,  wie  nidit  gefdir:eben  werden 
füllte,  hat  Engel  ein  Lefebudi  zur  Seite  gegeben,  das  eineAuslefe  deutfdier 
MufterftüÄe  enthält,  an  der  gezeigt  wird,  wie  unfere  großen  Sdiriftfteller 
Jahrhunderte  hindurdi  die  hohe  Kunft  geübt,  audi  ohne  den  SdimuA  ge- 
bundener Rede  die  vollkommene  innere  Form,  das  heißt  den  Einklang 
von  Gehalt  und  Ausdru*,  zu  finden.  Nur  Klaffifdies,  Meifterlidies  nadi 
Inhalt  und  Kunftform  ift  dargeboten.  So  ift  das  Werk  nidit  nur  ein  Quell 
ftiliftifdier  Belehrung,  fondern  audi  ein  reidier  Born  fittlidier,  äffhetifdier 
und  wiffenfdiaftlidier  Anregung.  Wer  feiner  Lektüre  einen  Teil  der  Muße- 
ftunden  widmet,  wird  reine,  nadihalfige  ErquiAung  darin  finden.  Ein 
präditiges  Werk  für  alle  Lehrerbibliotheken.  Sdiulblaff  der  Provinz  Sadifen 

So  find  alle  Gattungen  des  Stils  und  mit  ihnen  alle  Hauptzweige  des 
Lebens  in  diefem  Budie  vertreten  und  madien  es  zu  einer  muftergül- 
tigen  Sammlung  vornehmer  deutfdier  Profa,  durdi  die  nidit  nur  ein  künft- 
lerifdier  und  literarifdier,  fondern  zugleiii  ein  nationaler  Geift  weht. 
Arfur  Braujeweffer  in  der  „Danziger  Zeitung" 

Das  würdig  ausgeftattete,auSgezeidineteBudi  dürfte  den  Befitzern  und 
Lefern  von  Engels  „Deutfdier  Stilkunft"  überaus  willkommen  fein. 
Es  eignet  fidi  aber  audi  vortrefflidi  zum  Gebraudi  in  höheren  Sdiulen. 

Dresdner  Journal 


Prüfungsetemplare  ftehen  auf  Wunfdi  zu  ermäßigtem  Preis  zur  Verfügung 


A.  Sachregister. 


Kursiv  gedruckt  sind  Abhandlungen,  Kleinere  Mitteilungen,  Sitzungsberichte;   in  Antiqua  die 
Anzeigen.    Die  Ziffern  bezeichnen  Band  (131—140  =  31 — 40)  und  Seite. 


I.  Allgemeines. 

Rud.  Tobler,  Ad.  Tobler  zum  Krieg 
1870  33/175. 

Festschrift  für  L.  Morsbach  von 
F.  Holthausen  und  H.  Spies  (Jordan^ 
32/429. 

Pfandl,  Ein  Wort  xur  Auffassung 
des  Begriffs  Lit.- Wissenschaft  37/223. 

Sifx.  der  Berl.  Oes.  für  das  Stud. 
der  n.  Spr.  32/154,  33/421,  34/295, 
35/422,  37/77,  38/116,  40/136;  Verx. 
der  Mitgl.  32/169,  34/408,  35/428, 
38/122,  40/141 

Gelehrtengeschichte. 

Schidtx,  Erich  Schmidt  31/273. 
Jaberg,  Emil  Freyfnond  f  37/218. 
Heusler,  Axel  Olrik  36/1. 

Sprachwissenschaft. 

Wvlpel,  Wirklichkeit  und  Sprache 
(A.  Bally)  34/211. 

Jaberg,  Sprache  als  Äußerung  und 
Spr.  als  Mitteilung  36/84. 

Marty,  Gesam.  Schriften,  hg.  von 
Jos.  Eisenmeier,  Alfr.  Kastil,  Osk. 
Kraus  (B.  Fehr)  39/100. 

Klemperer,  Zum  Verhältnis  von 
Sprachivissenschaft  und  Völkerpsycho- 
logie 40/125. 

Literatur. 

Stammler,  Zum  Fortleben  d.  antiken 
Theaters  im  Mittelalter  36/285. 

Winkler,  Eine  mittelalterl.-kirchl. 
Fassung  der  Sage  von  Hero  und  Lean- 
der 32/405. 

Steinberger,  Untersuchungen  zur 
Entstehung  der  Sage  von  Hirlanda 
von  Bretagne  sowie  zu  den  ihr  am 
nächsten  verwandten  Sagen  (W.  Be- 
nary)  32/435. 

Schröder,  Th.,  Die  drani.  Bearbei- 
tungen der  Don-Juan-Sage  in  Spanien, 


Italien  und  Frankr.  bis  auf  Moliere 
einschl.  (M.  J.  Wolff)  32/190. 

Wechssler,  Zum  Problem  des  Komi- 
schen auläßl.  Molieres  (M.  J.  Wolff) 
31/212. 

Lommatxsch  E.,  Zum  Ritterbrauch 
des  Prahlens  34/114. 

Koeppel,  Aristoteles,  Browning  und 
Björnson  31/164. 

Pelizaeus,  Beiträge  zur  Gesch.  der 
Legende  vom  Judenknaben  (A.  Hilka) 
33/187. 

Pfandl,  Zur  Biblioqr.  des  voyages 
en  Espagne  33/413,  34/143,  35'175. 

Liiduiq  A.,  Homunculiu.  Androiden 
37/137,  38/141,  39/1. 

V.  Löwis  of  Menar,  Der  Held  im 
dtschn.  und  russ.  Märchen  (E.  Bleich) 
33/179. 

Landau,  Hebrew-Germ.  romances 
and  tales  and  their  relation  to  the 
romautic  lit.  of  the  Middle  Ages.  Part  1 
(R.  Petsch)  32/175. 

11.  Germanische  Sprachen. 
Allgemeines, 

Cook  A.  S.,  Runic  momwients  known 
as  obelisks  32/395. 

Zachrisson,  The  suffix  *-ingja  in 
Oermanic  names  33/348. 

Metoula  Sprachführer:  Dänisch, 
Norweg.  und  Schwed.  (Joh.  Neuhaus) 
33/448. 

Paulussen,  Rhythmik  und  Technik 
des  sechsfüßigen  Jambus  im  Dtsch. 
und  Engl.  (R.  Fischer)  34.166. 

Schöffler,  Der  Pflanxenname  Wald- 
meister im  Me.  und  Nhd.  36/234. 

Spitzer,  Anti-Charabcrlain.  Betrach- 
tungen eines  Linguisten  über  H.  St. 
Chamberlains  'Kriegsaufsätze'  und  die 
Sprachbewertung  im  allgem.(E.Lerch) 
40/167. 

1 


Register  au  Archiv  Band  131—140 


1.  Skandinavisch. 

Bcnary,  Zur  Hervararsaga  33/332. 

Richter  W.,  Chr.  Weises  nordische 
Dramen  ^Regenerus'  und  'Ulvilda' 
34/245. 

2.  Deutsch. 

Allgemeines. 

Geiger  f,  Außerunqeyi  Montesqiiieus 
über  die  Deutschen  38/217. 

Krieger,  Friedrich  der  Große  und 
seine  Bücher  (Mangold)  33/475. 

Pfand! ,  Zur  span.-dtschn.  Orts- 
namenkunde des   Mittelalters  34/380. 

Kilian,  Aus  der  Praxis  der  med. 
Dramaturgie  (R.  Fischer)  34/163. 

Witkop,  Heidelberg  und  die  dtsche. 
Dichtung  (Daffis)  35/189. 

Walzel,  Ricarda  Huch.  Ein  Wort 
über  die  Kunst  des  Erzählens  (Friede- 
mann) 36/299. 

Liebermunn.  Die  dtsche.  Volksseele 
im  britischen   Urteil  37/222. 

Heusler  A.,  Dtscher.  und  antiker 
Vers  (Petsch)  37/234. 

Stoltenberg,  Bindung  der  dtschn. 
Rede  (Petsch)  37/234. 

Brandl,  Das  geistige  Testament 
uveier  Alttiroler:  Joh.  Schuler  und 
Beda  Weber  38/224. 

Schivarx  K.,  Vom  Pradler  Bauern - 
theater  40/254. 

Spitzer,  Fremdwörterhatz  und 
Fremdvölkerhaß  (E.  Lerch)  40/168. 

Sprache. 

Sehrt,  Zur  Gesch.  der  wgerm.  Kon- 
junktion 'Und'  (Feist)  36/172. 

Lasch ,  Mittelniederdtsche.  Gram. 
(Zippel)  33/430. 

Enderlin,  die  Mundart  von  Keßwil 
in  Oberthurgau  (Gebhardt)  31/445. 

Abegg,  Die  Mundart  von  Urseren 
(Gebhardt)  31/445. 

Bohnenberger,  Die  Mundart  der 
dtschn.  Walliser  im  Heimattal  und  in 
den  Außenorten  (Gebhardt)  34/153. 

Berger,  Die  Laute  der  Mundarten 
des  St.  Galler  Rheintals  und  der  an- 
grenzenden vorarlbergischen  Gebiete 
(Gebhardt)  34/153. 

Dtsche.  Dialektgeographie.  Berichte 
und  Stud.  über  G.  Weukere  Sprach- 
atlas des  Dtschn.  Reiches,  hg.  von 
F.  Wrede.  Heft  V  hg.  von  T.  Frings 
(Gebhardt)  34/151. 


Weigand,  Dtsch.  Wörterbuch  (Feist) 
32/419. 

Bergmann  Karl,  Der  dtsche.  Wort- 
schatz dargest.  auf  Grund  des  dtschn. 
Wörterbuchs  von  Weigand  (Feist) 
31/459. 

Schweizerisches  Idiotikon.  Wörterb. 
der  schweizerdtschn.  Sprache.  LXVI — 
LXXVIII  (Gebhardt)  34/152. 

Loewe,  Germ.  Pflanzennamen.  Etj^- 
mol.  Untersuchungen  (Feist)  31/459. 

Seiler,  Entwicklung  der  dtschn. 
Kultur  im  Spiegel  des  dtschn.  Lehn- 
worts. T.  13.  T.  4.  (W.  Nickel) 
34/150. 

Schneider  K.,  Zur  Ausgestaltung 
der  deutschen  Sprache  (W.  Nickel) 
34/150. 

Kruer,  Der  Bindevokal  und  seine 
Fuge  im  schw.  dtschn.  Präterit.  bis 
1150  (Feist)  34/161. 

Plenio,  Über  die  sogen.  Dreiteiligkeit 
und  Zweiteiligkeit  in  der  mhd.  Strophik 
36/16. 

A.  Becker,  Sprache  Friedrichs 
V.  Spee.  Beitrag  zur  Gesch.  der  nhd. 
Schriftsprache  (A.  Hübner)  32/182. 

Spitzer,  Nochmals  mundartl. -dtsch. 
'Schlamassel' ,    'schlamast(ik)'    38/234. 

Maußer,  Dts(!lie.  Soldatenspr.  (W. 
Richter)  38/241. 

Getzhuhn ,  Untersuchungen  zum 
Sprachgebr.  und  Wortschatz  der  Klage 
(W.  Richter)  38/237. 

Stoltenberg,  Nebentonstärken.  Eigene 
Lehre  und  ihre  Stellung  zu  Behn,  Der 
dtsche.  Rhythmus  40,  Dtsch.  Sonder- 
heft 136. 

Literatur. 

Heusler,  Vorschläge  zum  Hilde- 
brandslied 37/1. 

Paul  H.,  Ulrich  v.  Eschenbach  und 
seine  Alexandreis.  (Hilka)  36/319. 

Stettner,  Wolframs  Wappen  in  der 
Manessischen  Hs.  37/65. 

Hilka,  Zur  Eatharincnlegende :  die 
Quellen  der  Jitgendgesch.  Katharinas, 
insbesondere  in  der  mittelniederdtsehn. 
Dichtung  und  in  der  mittelniederländ. 
Prosa  40/171. 

Benary,  Basin  und  Elegast  32/144, 

Juethe,  Der  Minnesänger  Hiltbolt 
V.  Schwangau  (A.  Hübner)  32/423. 

Lockemann,  Techn.  Stud.  zu  Luthers 
Briefen  an  Friedr.  den  Weisen  (Brecht) 
31/446. 


Register  zu  Archiv  Band  131 — 140 


Schölte,  Probleme  der  Grimmels- 
hausenforschung  I  (Körnchen)  31/170. 

Eisner,  Gi-immelshausen:  der  flie- 
gende Wandersmann  nach  dem  Monde 
32/1. 

Münnig  Eilisab.,  Calderon  und  die 
ältere  dtsche.  Romantik  (Ludwig) 
31/459. 

Schröder  E.,  Zwei  altdeutsche 
Schwanke:  Die  böse  Frau,  Der  Wein- 
schwelg (W.  Richter)  34/156. 

Bolte  Joli..,  Sclin-edische  Beiträge  xii 
unserer  älteren  Thcatergeseh.  31/144. 

Hermann  M.,  Forschungen  zur 
dtschn.  Theatergesch.  des  Mittelalters 
und  der  Renaissance  (Daffis)  35/181. 

Kaulfuß  -  Diesch ,  Untersuchungen 
über  das  Drama  der  Jesuiten  im 
17.  Jhdt.  31/1. 

Geiger,  Ludw.  Börne  und  Bakel 
Varnhagen  39/26. 

Mtdertt,  Hur  can  von  der  Hell 
39/217. 

Fimck,  Ein  Brief  von  Geliert  a?i 
den  Fabeldichter  Pfeffel  36/147. 

Müller  B.  A.,  Straßburger  Lokal- 
kolorit in  Frischlins  Julius  redivivus' 
35/1. 

Singer,  Lit- Gesch.  der  dtschn. 
Schweiz  im  Mittelalter  (H.  Schneider) 
40/146. 

Ullrich  Herrn.,  Zu  Herders  'Ideen 
xur  Philosophie  der  Gesch.'  36/284. 

Koschmieder,  Herders  theoret. 
Stellung  zum  Drama  (Petsch)  31/448. 

Geiger,  Notixen  über  Herder  und 
Lessing  38/218.* 

Hankiss,  Dideroiu.  Herder  40,  Dtsch. 
Sonderh.  59. 

Achelis,  Zu  Lessing s  Aufsaix  Ronm- 
lus  und  Riniiciiis  39/137. 

Kersten,  Voltaires  Henriade  in  der 
dtschn.  Kritik  '  vor  Lessing  (Levin- 
stein)  34/421. 

Deetjen,  Bürger  u.  H.v.  Müncl/hausen 
31/424. 

Lederer  Max,  Dialog-Elemente  des 
Ifflandsch.  Dramas  38/1. 

Deuschle,  Aufleben  der  dtschn.  Lit. 
des  17.  Jhdts.  im  Zeitalter  der  Ro- 
mantik 40,  Dtsch.  Sonderh.  1. 

Qeiqer,  Unbekannte  Briefe  Ifflands 
33/310. 

Lederer,  Zeitgenössische  Urteile  über 
Iffland  33/300. 

Mazzucchetti ,  Schiller  in  Italia 
(G.  Hartmann)  32/214. 


Kuberka,  Der  Idealismus  Schiller 
als  Erlebnis  und  Lehre  (Ludwig)  31/177 

Basch,  Poetique  de  Schiller  (Lud- 
wig) 31/177. 

Geiger,  Zu  Schillers  Don  Carlos. 
Eine  dramaturgische  Abhandig.  37/154. 

Huch  Ric,  Wallenstein.  Eine 
Charakterstudie  (Petsch)  35/184. 

Leitzmann,  Die  Hauptqucllen  zu 
Schillers  Wallenstein  (Petsch)  35/184; 
Zu  Schillers  dramat.  Nachlaß  34/27. 

Sejffert,  Schillers  Musenalmanache 
(Wolfr.  Suchier)  33/431;  Schillers 
Musenalmanach  (Petsch)  35/184. 

Bereslieim,  Schiller  als  Herausg. 
der  Rhein.  Thalia,  Thalia  und  Neuen 
Thal,  und  seine  Mitarbeiter  (Petsch) 
35/184. 

Geiger,  W.v.  Humboldt  über  Schiller 
und  Goethe  ßb/29. 

Ballof,  Über  die  Sixilian.  Vesper 
von  J.  M.  B.  Lenx  40,  Dtsch.  Sonder- 
heft 156. 

Geiger,  Georg  Forster  über  dtsche. 
Lit.  und  über  Schiller  34/372. 

Georg  Försters  Tagebücher.  Hg.  von 
Zincke  und  Leitzmann  (Levinstein) 
34/419. 

Zincke,  Georg  Förster  nach  seinen 
Originalbriefen  (Löschhorn)  35/432. 

Leitxmann,  Briefe  G.Forsters^b/26Q. 

Leitzmann,  Zu  R.  Hayms  Biogra- 
phie W.  V.  Humboldts  33/401. 

Leitzmann,  W.  v.  Humboldt  (Lud- 
wig) 40/267. 

Schönemann,  A.  v.  Arnims  geistige 
Entwicklung  an  seinem  Drama  'Halle 
und  Jerusalem'  erläutert  (Agnes  Har- 
nack)  31/175. 

Geiger,  Volksliedinteresse  und 
Volksliedforschung  in  der  Schweiz 
(Lohre)  33/181. 

Buchtenkirch,  Kleists  Lustsp.  'Der 
zerbrochene  Krug'  auf  der  Bühne 
(Daffis)  35/432. 

Behme,  H.  v.  Kleist  und  Ch.  M.  Wie- 
land (R.  Petsch)  33/435. 

Heinrich,  H.  v.  Kleist  und  K.  F. 
Hindenburg  34/129. 

Heinrich,  H.  v.  Kleist  und  Frank- 
furt a.  0.  32/273. 

Grabbes  Werke,  hg.  v.  Sd.  Wukadi- 
novic  (Schacht)  32/419. 

Enders,  Fr.  Schlegel  (R.  M.  Meyer) 
31/457. 

Kör?ier,  Zu  A.  W.  Schlegels  Bricf- 
weehsel  mit  Chr.  Lassen  36/149. 


Register  zu  Archiv  Band  131—140 


Mazzucchetti,  A.  W.  Schlegel  und 
die  ital.  Lit.  (K.  Voßler)  37/98. 

Schwartz  W.,  A.  W.  Schlegels  Ver- 
hältnis zur  span.  und  portug.  Lit. 
(Pfandl)  35/450. 

Herzfeld,  A.  W.  Schlegel  in  seinen 
UeKiehimyen  xu  engl.  Dichtern  und 
Kritikern  39/149. 

Lüdeke,  Tiecks Shakesp.-BuchB9l210. 

Bräuning-Oktavio,  J.  H.  Merck  als 
Mitarbeiter  an  Wielands  'Teutschem 
Merkur'  31/24,  285. 

Mayne,  Gesch.  der  dtschn.  Goethe- 
Biogr.  Kritischer  Abriß,  2.  Abdr. 
Daffis)  32/183. 

Gundolf,  Goethe  (Ludwig)  39/228. 

Carre,  Characieristics  of  Qoethe  de 
S.  Austin  et  la  collaboration  de  H.  Ü. 
Robinson  31/145. 

Geiger,  Qoethe-Misxellen :  1.  0.  als 
Tyrann.  2.  Jacobiüber  Wieland  und  0. 
3.  O.  und  die  Narrenakademie  37/66. 

Geiger,  Bettine  Brentano  und  ihre 
Besuche  bei  Goethe  31/18. 

Bäumer  Gertr.,  Goethes  Freun- 
dinnen. Briefe  zu  ihrer  Charak- 
teristika (H.  Beyer)  40/268. 

Geiger,  Zu  einem  Briefe  Goethes 
34/128,  39/83. 

Aus  Ottilie  v.  Goethes  Nachlaß. 
Briefe  und  Tagebücher  von  ihr  und 
an  sie  bis  1832.  Nach  den  Hss.  des 
Goethe-  und  Schillerarchivs,  hg.  von 
W.  V.  Oettingen  (Geiger)  32/424. 

Leitxmann,  Goethes  älteste  Gcdicht- 
sammlmig  40,  Dtsch.  Sonderh.  75. 

Goethes  Faust:  Nach  Entstehung 
und  Inhalt  erklärt  von  E.  Traumann. 
2.  Bd.  Der  Tragödie  2.  T.  (Geiger) 
32/427. 

Geiger,  Zwei  Äußerungen  Goethes 
über  seinen  Faust  37/220;  Die  Ber- 
liner Aufführung  des  Faust  am 
15.  Mai  1838  38/99. 

Geiger,  Goethe  über  Wielands  Oberon. 
37/220. 

Keller  W.  J.,  Goethe's  estimate  of 
the  Greek  and  Lat.  writers  as  reveal- 
ed  by  his  works,  letters,  diaries,  and 
conversations  (Ludwig)  39/232. 

Geiger,  Zu  Goethes  Gesprächen 
35/397. 

Bose7iherg,  Goethes  'Braut  von 
Corinth    in  Frankreich  39/179. 

Ballof  Über  die  Echtheit  des  Sesen- 
heimer  Liedes  'Bälde  seh  ich  Rickgen 
wieder'  40/247. 


Ballof,  Zur  Frage  der  Sesenheimer 
Lieder  40,  Dtsch.  Sonderh.  155. 

Geiger,  Ich  ging  im  Walde  35/260. 

Geiger,  Ein  merkwürdiges  Urteil 
über  Goethes  '  Wahlverwandtschaften' 
36/281 ;  Zu  einem  Goetheschen  Spruch 
38/221. 

Loewenthnl,  Vmi  Goethe  über  Heine 
XU  V.  Hugo  39/227. 

Stammler,  Claudius  und  Gersten- 
berg 40,  Dtsch.  Sonderh.  21. 

Moestue  Wilh.,  Kritisches  xu  Uhlands 
Briefwechsel  und  Tagebuch  38/221; 
Neue  kritische  Bern,  xu  Uhlands 
Briefw.  und  Tageb.  40'251. 

Schwaller,  Untersuchungen  zu  den 
Dramen  W.  Spangenbergs  (W.  Stamm- 
ler) 33/439. 

Ludwig  Karl,  Untersuchungen  zur 
Chronologie  Albrechts  von  Halber- 
stadt (W.Richter)  35/180. 

Wackemell,  Ludw.  Steub,  Ad.  Pich- 
ler  und  der  Tiroler  Sängerkrieg 
(Brandl)  35/434. 

Steig,  über  Grimms'  dtsche.  Sagen' 
35/47,  225. 

Geiger,  Rahel  und  F.  A.  Wolf 
36/283;  Zu  Michel  Beer  36/282. 

di  Leesthal,  Studien  über  Veldekes 
Eneide  (W.  Richter)  34/155. 

Symons,  Kudrun'-^  (W.  Richter) 
34/154. 

Riesenfeld,  H.  v.  Ofterdingen  in  der 
dtschn.  Lit.  (W.  Nickel)  34/149. 

Im  polnischen  Exil.  Briefe  von 
Thcr.  Forster  an  ihre  Stiefmutter. 
Mitget.  von  A.  Leitxmann  33/268. 

Waiblinger,  Liebe  und  Haß,  ungedr. 
Trauerspiel.  Nach  dem  Ms.  hg.  von 
A.  Fauconnet  (Levinstein)  34/417. 

Köhler,  Die  Lyrik  M.  v.  Schenken- 
dorfs (Löschhorn)  35/188. 

Ludteig  Alb.,  Schlemihle  40,  Dtsch. 
Sonderh.  95. 

Heilniann,  Mörikes  Lyrik  und  das 
Volkslied  (H.  Lohre)  34/416. 

Hempel,  Die  Kunst  Friedrichs  von 
Logau  (W.  Richter)  38/237. 

Geiger,  Literar.  Anklänge  38/99. 

Wagner  A.  M.,  Ungedr.  Briefe  und 
Dichtungen  aus  dem  Nachlaß  H.  W. 
V.  Gerstenbergs  34/3,  35/11,  36/24, 
209,  40/1. 

Richert  Gertr.,  Aus  dem  Brief- 
wechsel der  Brüder  Grimm  mit  Roma- 
nisten und  Schriftstellern  34/339, 
35/320,  38/73. 


Register  zu  Archiv  Band  131 — 140 


Wöber  Ä.,  Äfis  dem  .  Lager  der 
Berliner  Romantik  40/185. 

Fischer  \V.,  Ferd.  Freiligrath  und 
Annely  Böltß  40/25. 

Meyer  Rieh.  M.,  Die  dtsche.  Lit.  bis 
zum  Beginn  des  19.  Jhdts.,  hg.  von 
0.  Pniower  (A.  Ludwig)  36/173. 

Nagl,  Zeidler  und  Castle,  Dtsch.- 
österr.  Literaturgesch.  2  Bde.  1.  Abt. 
(Petsch)  36/302. 

Siebs,  Herrn.  Allmers,  sein  Leben 
und  Dichten  (Keese)  34/164. 

Litzniann,  E.  v.  Wildenbruch.  l.Bd. 
(E.  Groß)  34/414. 

Schulze  Werner,  G.  Schwab  als 
Balladendichter  (Mayne)  34/413. 

Fleury,  Herwefjh  als  Uhersetxer. 
Ungedr.  Briefe  von  Bodenstedt  32/66. 

Baidinger,  G.  Herwegh,  Gedanken- 
welt der  'Gedichte  eines  Lebendigen' 
(W.  Richter)  38/239. 

Geiger,  Eine  xeitgenössische  Äuße- 
rung über  das  junge  Dtschland.  38/99. 

Walzel,  Hebbeiprobleme  (Lindau) 
33/183. 

Saedler,  Hebbels  Moloch  (Friede- 
mann) 36/301. 

Speyer,  Die  dt  sehn.  Kaiser  in  der 
Dichtung  C.  F.  Meyers  33/45. 

Brecht,  C.  F.  Meyer  und  das  Kunst- 
werk seiner  Gedichtsammlung  (H. 
Beyer)  40/147. 

Deeijen,  Zur  Oesch.  einer  romant. 
Zeitschrift  36/145. 

Geiger,  Eine  unbekannte  Gegen- 
schrift gegen  Gufxkoivs  Wally  36/229. 

Suchier  Wolfr. ,  Dr.  Chr.  Phil.  Hoester 
(Kinderraann)  40/145, 

A.  V.  Dr.-Hülshoff,  Neues  aus  ihrer 
Jugendzeit  (Deetjen)  33/442. 

Pfeiffer,  Die  Lyrik  der  A.  v.  Dr.- 
Hülshoff  (Bertha  Badt)  33/445. 

Carre  J.  M.,  W.  Wheivell  et  H.  C. 
Robinson  31/425. 

Chr.  Weises  Dramen  'Regenerus' 
und  'Ulvilda'  nebst  einer  Abhdig.  zur 
dtschn.  und  seh  wed,  Literaturgesch.  hg. 
von  W.  V.  Unwerth  (Levinstein)33/437. 

Krüger  Herrn.  A.,  Der  junge  Raabe 
(Riemann)  33/446. 

G.  Kellers  Leben,  Briefe  und  Tage- 
bücher, hg.  von  E.  Ermatinger.  3.  Bd. 
(Heynen)  38/240. 

G.  Kellers  Leben,  Briefe  und  Tage- 
bücher. Auf  Grund  der  Biographie 
J.  Baechtolds  dargest.  und  hg.  von 
E.  Ermatinger  (Heynen)  35/190. 


3.  Holländisch. 

Lion,  Der  erste  Psalrn  in  niederländ. 
Dichtung  vorn  Jahre  1740  40/252. 

Koßmann,  Nieuwe  Bijdragen  tot 
de  Geschiedenis  van  het  nederlandsche 
Tooneel  in  de  17^  en  18e  Eeuw  (J. 
Bolte)  34/415. 

4.  Englisch. 

Weltkf'ieg. 

Trent  W.  P.,  Germany  33/265; 
Austria-Hungary  33/266. 

Viereck,    The  iron  chaneellor  34/1. 

Keynes,  The  economic  consequences 
of  the  peace  (Liebermann)  40/148. 

Brandt,  An  Prof.  Frederic  J.  Car- 
penter,  Barrington,  Illinois  39/213. 

Liebermann,  Vorahnung  von  Flug- 
zeug und  U-Boot  39/87. 

Allgemeines. 

Liebermann,  Zum  Urkundenwesen 
bei  den  Angelsachsen  31/153. 

Liebermann,  Mancus  als  Goldmünxe 
31/153. 

Liebermann,  Jahr  und  Tag  35/401. 

Liebermann,  Zur  Oesch.  der  engl. Per- 
sonennamen im  13.  — 16.  Jhdt.  31/154. 

Liebermann,  Zu  Liedrefrain  und 
Tanx  im  engl.  Mittelalter  40/261. 

Liebermann,  Zwischenspiele  für  Ed- 
uard IL  40/262. 

_    Liebermann,    Engl.    Volksspiele   in 
cler  Johannisnacht  31/429. 

Born,  Die  engl.  Ereignisse  der  Jahre 
1685 — 90  im  Lichte  der  gleichzeit. 
Flugschriftenlit.  Dtschlands.  (Lieber- 
mann) 40/271. 

Brie,  Imperialistische  Strömungen 
in  der  engl.  Lit.  (Ludwig)  36/317. 

Liebermann,  Englands  Dichtung 
und  Sprache  im  Weltkrieg  37/221. 

Tönnies,  Der  engl.  Staat  und  der 
dtsche.  Staat  (Liebermann)  38/249. 

Kilgler  Herrn.,  Ansprache  am  Shake- 
speare- Tag  im  Dtschn.  Theater  xu 
Berlin  1919  39/85. 

Roosevelt  Th.,  Hist.  as  lit.,  and 
other  essays  (Brandl)  40/274. 

Sprache. 

Holt  hausen,  Die  ae.  Beda- Glossen 
36/290. 

Förster  M.,  Paläographisches  xu 
Bedas  Sterbespruch  35/282. 


Register  zu  Archiv  Band  131—140 


Förster  31.,  Die  altkornische  Be- 
arbeitung von  Abt  ^Ifrics  lat.-ae. 
Glossar  35/285. 

Förster  M.,  Äe.  yre,  der  Singular 
XU  öran  'Ör'  32/397. 

Förster  M.,  Nochmals  ae.  fregen 
'Frage'  35/399. 

Förster  M.,  Spätae.  Prosper- Glossen 
in  Cambridge  36/290. 

Swaen,  Note  on  the  Ä.-S.  Indieia 
monasterialia  40/106. 

Bradley,  Someplace-names  in  Sweet' s 
A.-S.  reäder  31/427. 

Brandt,  Siegmuyid,  Siegfried  und 
Brunhilde  in  Ortsnamen  des  nordwestl. 
Englds.  33/408. 

Liebermann,  Southampfons  ältester 
Name  33/133. 

Tangl,  Frühags.  Doppelformen  von 
Eigennamen  35/399. 

Förster  M.,  Frühags.  Doppelformen 
von  Eigerinamen?  36/289. 

Wende,  Über  die  nachgestellten  Prä- 
positionen im  Ags.  (Björkman)  35/437. 

Spira,  Die  engl.  Lautentwicklung 
nach  frz.  Grammatiker  -  Zeugnissen 
(Jordan)  31/186. 

Zachrisson,  Pronunciation  of  Engl, 
vowels  1400—1700  (Brunner)  35/195. 

Liebermann,  Zum  Verschwinden 
ags.  Buchstaben  aus  dem  me.  Alpha- 
bet 31/428. 

Liebermann,  Shuteme.:  'Lastschiff 
40/263. 

Zippel  f,  Zwei  angebliche  me.  Inter- 
jektionen 34/131. 

Luick,  Histor.  Gram,  der  engl.  Spr. 
1.  Bd.  (Zachrisson)  33/450. 

Zachrisson,  To  Luick's  'Histor. 
Gram.'  34/378. 

Einenkel,  Gesch.  der  engl.  Spr.  IL, 
Histor.  Syntax  (Fehr)  36/307. 

Deutschbein,  System  der  ne.  Syntax 
(Fehr)  36/176. 

Stoelke,  Die  Inkongruenz  zwischen 
Subj.  und  Prädikat  im  Engl,  und  ver- 
wandten Sprachen  (Brunner)  36/181. 

Hor>i  Wilh.,  Zur  ae.  Wortgesch. 
40/106. 

Horyi  Wilh.,  Zur  engl.  Wortgesch. 
38/62. 

Sisam,  Epenthesis  in  the  consonant 
groups  sl,  sn.  31/305. 

Stvaen,  Entirely,  wholly,  larqely, 
frankly  34/48. 

Zachrisson,  French  'le'  for  Engl, 
'the'  35/69. 


Daniel,  Outline  of  English  phonetics 
(Brandl)  39/98. 

Schröer,  Ne.  Aussprachewörterb. 
mit  besonderer  Berücksichtigung  der 
wichtigsten  Eigennamen  (Wildhagen) 
34/183. 

Klein  W.,  Der  Dialekt  von  Stokesley 
in  Yorkshire,  North  Riding  (Brunner) 
33/457. 

Literatur. 

Moore,  Notes  on  the  0.  E.  'Christ' 
31/311. 

Brandl,  Die  Urstammtafel  der  West- 
sachsen und  des  Beowulfepos  37/6. 

Zur  Zeitbestimmung  des  Kreuxes  von 
Ruthwell  36/150, 

Müller  Joh.,  Kulturbild  des  Beo- 
wulfepos (Brunner)  38/242. 

Klaeber,  Das  Grändelsmoor  —  eine 
Frage  31/427. 

Konrath,  Eiiie  ae.  Vision  vom  Jenseits 
39/30. 

Gonser,  Das  ags.  Prosaleben  des 
hl.  Guthlac  (Brunner)  36/306. 

Lehmann  P,,  Wert  und  Echtheit 
einer  Beda  abgesprochenen  Schrift 
(Liebermann)  40/269. 

Kolbe,  Die  Konjugation  der  Lindis- 
farner  Evangelien  (Wildhagen)  31/461. 

Förster  M.,  Die  ae.  Beigaben  des 
Lambeth-Psalters  32/328. 

Lieberma^m,  Ags.  Urkunde  1085 — 
1117  33/133. 

Liebermann,  Ein  staatsrechtlicher 
Satx  uElfrics  aus  tat.  Quelle  39/84. 

Liebermann,  Vorrang  rechter  Seite 
31/153. 

Liebermann,  Emendation  xu  JVcer- 
ferä  31/153.^ 

Brandl,  Venantius  Fortunatus  und 
die  ags.  Elegien '  Wanderer'  und  'Ruine' 
39/84. 

Sieper,  Die  ae.  Elegie  (Brotanek) 
37/240. 

Codice  Vercellese  con  omelie  e 
poesie  in  lingua  anglosassone,  ripro- 
dotto  in  fototipia,  con  introd.  del 
Prof.  Dott.  Foerster  (Keller)  39/233. 

2jupitxa,  Jacob  und  seine  xirölf 
Söhne.  Engl.  Verslegende,  hg.  von 
Brandl  38/156... 

Förster  M.,  Älteste  Fassung  des  me. 
Gedichts  'Earth  upon  earth'  38/39. 

Brotanek,  Texte  u.  Untersuchungen 
zur  ae.  Lit.-  und  Kirchengesch.  (Wild- 
hagen) 34/169. 


Kegister  zu  Archiv  Band  131—140 


Leifxmann,  Bemerkungen  xu  Oalfred 
V.  Monmouth  34/373. 

Logeman,  The  M.-E.  West  Minster 
prose  psalter,  Ps.  90,  10  34/132. 

Holthausen,  Ein  nie.  Hymnus  auf 
Maria  und  Christus  und  seine  kym- 
rische   Umschrift  40/33. 

Förster  M.,  Beiträge  xur  mittel- 
alterlichen  Volkskunde.  IX.  34/264. 

Zenke,  Synthesis  u.  Analysis  desVer- 
bumsim  Orrmulum  (Wildhagen)  31/461. 

Chaucer  and  his  poetry.  Lectures 
delivered  in  1914  by  G.  L.  Kittredge 
(E.  Koeppel)  34/175. 

Förster  M.,  Chauceriana  I.  32/399. 

Eitle,  Die  Satzverknüpfung  bei 
Chaucer  (Brunner)  33/460. 

Liebermann,  Zu  Chaucers  Stellung 
in  Hofämtern  40/261. 

Bihl,  Wirkungen  des  Rhythmus  in 
der  Spr.  von  Chaucer  und  Gower 
(Brunner)  38/243. 

Cook  A.  S.,  Dante  and  OouerS2ld95. 

Cracken,  Lydgatiana  31/40. 
Cords  Rose,  Fünf  me.  Gedichte  aus 
der    Hs.    Rawlinson    Poetry   36   und 
Rawlins.  C.  86  35/292. 

Christ,  Zu  Rieh.  Rolle  von  Hampole. 
Eine  vatikanische  Hs.  des  Psalmen- 
kommentars 36/35. 

Rolle's  Meditationes  de  passione 
Domini  according  to  Ms.  Upsala  C  494 
with  introd.  and  notes  by  H.  Lind- 
quist  (Liebermann)  39/235. 

Brunner,  Die  Reimsprache  der  sogen, 
kent.  Fassung  der  ^Sieben  weisen 
Meister'  40/199. 

Thiemke,Die  me.  Th.  Beket-Legende 
des  Gloucesterlegendars.  Kritisch  hg. 
mit  Einl.  { Brunner)  40/270. 

Bolle  W.,  Forbes'  'Songs  and  fan- 
cies',  das  erste  in  Schottland  gedr. 
Liederbuch  31/320,  32/36,  281. 

Hecht,  Bibliographisches  xu  J.  Forbes' 
Songs  and  fancies  40/108. 

Neuendorff,  Nachklänge  des  nuß- 
braunen Mädchens  32/139. 

Bodenstein,  Zur  Oesch.  von  Chevy 
Chase  36/151. 

Brunner,  Zum  Balladenrhythmus 
40/259. 

Brie,  Zwei  verlorene  Dichtungen  ro7i 
Skelton  38/226. 

Long  Percy  W.,  The  name  'Shep- 
herd's  calendar'  31/429. 

Brunner,  Die  Dialektwörter  in 
Spensers  'Shepherd's  calendar'  32/401. 


Bninner,  Hs.  Brit.  Mus.  Additional 
31042  32/316. 
Fehr,  Zu  'The  pearV  81/154. 
Patience :  an  alliterative  version  of 
Jonah  by  the  poet  of  Pearl  (Brunner) 
32/184. 

Brotanek,  Zu  den  ältesten  engl.  Hexa- 
metern 33/87. 

Herxfeld  0.,  Thom.  Russell,  ein 
früher  Vermittler  dtschr.  Lit.  in  Eng- 
land 36/153. 

Liebermann,  Zu  Thom.  Oceleve 
40/261. 

Liebermann,  Weltliches  Theater  in 
der  Kirche  31/429. 

Swaen,  Fair  Margaret  and  Sweet 
Williatn  36/40. 

Stopes,  The  debt  the  Engl,  stage 
owes  to  the  Burbages  31/155. 

Lüdeniann,  Shakesp.s  Verwendung 
von  gleichartigem  und  gegensätzlichem 
Parallelismus  bei  Figuren,  Situationen, 
Motiven  und  Handlungen  (R.  Fischer) 
347180. 

Hörn  Wilh.,  Das  Komische  in 
Shakesp.s  Tragödien  mid  die  Maler 
Reynolds  und  Hogarth  37/159. 

Phelps,  Father  Parsons  in  Shakesp. 
33/66. 

Oollancx,  The  name  Polonius  32/141. 
Brückner,    Zum    Namen    Polonius 
32/404. 

Trench,  Shakesp.s  Hamlet.    A  new 

commentary  (R.  Fischer)  34/179. 

Tilley,  Notes  on '  Tu-elfth  n  ight'Ulim. 

Cyntia's  revels   or,    The   fountain 

of  self-love    by  B.  Jonson,    ed.  by 

A.  C.  Indson  (R.  Fischer)  34/182. 

Thelemann,  Dictys  als  Mitquelle 
von  Shakesp.s  Troilus  33/91. 

Kerl  Anna,  Die  metr.  Unterschiede 
von  Shakesp.s  King  John  und  Jul. 
Caesar  (R.  Fischer)  34/178. 

Koeppel  E.,  Zu.  'Amor  und  Psyche' 
in  England  31/161. 

Fischer  M.,  Zum  Stil  der  Elisabeth. 
Madrigale  33/1. 

Lawrence,  Restoratio7i  stage  nurseries 
32/301. 

Becker  0.,  'The  advenim-es  of  Don 
Simonides',  ei?i  Poznan  von  B.  Rieh 
und  seine  Quelle  31/64. 

Brunner,  Ein  Yorkshire-Dialekttext 
aus  dem  18.  Jhdf.  33/134. 

Schuhe  K,  Zu  Halts  Satiren  31/430. 

Maier  W.,   Chr.  Anstey   und   der 

New  Bath  Guide.    Beitrag  zur  Ent- 


Register  zu  Archiv  Band  131 — 140 


Wicklung  der  engl.  Satire  im  18.  Jhdt. 
(M.  Fischer)  33/461. 

Liljegren,  Studies  on  Milton  (Brandl) 
38/246. 

Gälvez,  Guevara  in  England  (A. 
Ludwig)  38/244. 

Orane,  Date  of  Forde's  Monteljon 
31/434. 

Danielowsky  Emma,  Richardsons 
erster  Roman  (Dibelius)  38/247. 

Holthausen,  Smollett  u.  J.Paul  35/402. 

Hörn  W.,  Der  Kirchenschlaf  bei 
Swift  und  Hogarth  37/68. 

Jiricxek,  Zur  Textgesch.  von  Mac- 
pherson's  Fragtnents  36/151. 

Macpherson's  Fragments  of  ancient 
poetry.  In  diplom.  iS^eudr.  mit  den 
Lesarten  der  Umarbeitungen  hg.  von 
L.  Jiriczek  (Wolfg.  Keller)  36/186. 

Richter  Helene,  Gesch.  der  engl. 
Romantik  IL  Bd.  1.  T.  (A.  Ludwig) 
36/315. 

Hörn  W.,  Thomson  und  Qains- 
borough  38/65. 

Koeppel  E.,  Georgian  poetry  81/315. 

The  Cambr.  hist.  of  Engl.  lit.  ed. 
by  Sir  A.  W.  Ward  and  A.  R.  Waller 
vol.  X.  (Brandl)  33/184. 

Koeppel  E.,  Zur  Byron-Biogr.  31/163. 

Bader,  Lord  Byron  im  Spiegel  der 
xeitgen.  dtschn.  Dichtung  35/303. 

Bader,  Zu  Childe  Harold's  Mo- 
nitor 38/65. 

Bader,  Byroniana  H.  Der  Verf.  von 
'Childe  Harald  in  the  shades'  38/228. 

Bader.  Byroniana  HI.  Verf.  des 
Uriel  39/214. 

Pfandl,  R.  Southev  und  Spanien 
(Hämel)  40/163. 

Fehr,  Keats  im  Lichte  der  neueste)» 
Forschtiny  39/163. 

Jacobson  Anna,  Ch.  Kingsleys 
Beziehungen  zu  Dtschland.  (Brunner) 
40/273. 

Albrecht,  Sprachgebr.  des  Dialekt- 
dichters Ch.  E.  Benham  zu  Colchester 
(W.  Klein)  36/182. 

Willoughby,  Samuel  Naylor  and 
'Reynard  the  fox'  (Herzfeld)  35/197. 

Dibelius,  Ch.  Dickens  (A.  Ludwig) 
35/199. 

Fiedler  Fritx,  Dickens'  Gebrauch  der 
rhythm.  Prosa  itn  Xmas  earol  39/47. 

Fiedler  Fritx,  Dickens'  Belesenheit 
40/43. 

Wüliamson  C.  N.  and  A.  M.,  The 
wedding  day  (A.  Ludwig)  40/275. 


Fischer  W.,  Über  Bret  Hartes  Drama 
'Two  men  of  Sandy  Bar'  36/72. 

Fehr,  Zu  Swinburnes  literar.  Biogr. 
36/240. 

Jiricxek,  Orkadische  Zauberlieder 
36/150. 

Depken,  Sherl.  Holmes,  Raffles  und 
ihre  Vorbilder  (A.  Ludwig)  35/202. 

Sixtus,  Sprachgebr.  des  Dialekt- 
schriftstellers Frank  Robinson  (Mutsch- 
mann)  31/181. 

Schulze  Bruno,  Exmoor  scolding 
and  Exmoorcourtship  (Brunner)  31/184. 

Eimer,  Drei  Briefe  von  Elixab.  P. 
Peabody  über  Nath.  Hatothorne  u.  a. 
33/318. 

Olivero,  On  the  poems  of  Sarah 
Hei  Whitman  32/78. 

Fehr,  0.  Wildes  'The  harlot's  house' 
34/59. 

Fehr,  Stud.  zu  0.  Wildes  Gedichten 
(Brie)  39/237. 

Segal,  Bern.  Shaw,  a  study  (W.  Reh- 
bach) 36/187. 

Hörn  Wilh.,  George  Gissing  über  das 
dichterische  Schaffen  37/25. 

Bennet,  The  truth  about  an  author 
(A.  Ludwig)  40/275. 

Watson,  The  Excelsior  (A.  Ludwig) 
40/275. 

Un  tetrichts  Wesen. 

Förster  M.,  Ae.  Lesebuch  für  An- 
fänger (Wildhagen)  34/167. 

Dannheißer,  England  past  and  pre- 
aent.  Engl.  Lese-  und  Realienbuch 
für  höh.  Schulen  (Rieh.  Böhmer)  33/462. 

Hl.  Romanische  Sprachen. 

Allgemeines, 

Jacoby,  Zur  Gesch.  des  Wandels 
von  lat.  ü  zu  y  im  Gallorom.  (Gamill- 
scheg)  38/126. 

Seifert  Eva,  Zur  Entwicklung  der 
Proparoxytona  auf  -ite,  -Ita  -itu  im 
Gallorom.  (Schultz-Gora)  40/164. 

Gamillscheg,  Studien  zur  Vorgesch. 
einer  rom.Tempuslehre(Spitzer)  31/466. 

Nedired,  Die  linguistische  Exkursion 
des  Züricher  rovi.  Seminars  32/411. 

Kaufmann,  Die  gallorom.  Bezeich- 
nungen für  den  Begriff  'Wald'  (Thom) 
32/204. 

Gamillscheg  und  Spitzer,  Bezeich- 
nungen der  Klette  im  Gallorom. 
(K.  Jaberg)  39/110. 


Register  zu  Archiv  Band  131—140 


Windisch,  Das  keltische  Britannien 
bis  zu  Kaiser  Arthur  (Pokornv) 
32/434. 

Tuttle,  Romanic  notes  33/167. 

Tuttle,  Romanic  *akivia  33/170. 

Tuttle,  'Sapta'  in  icestern  Romanic 
33/409. 

Seifert  Eva,  Die  Lehre  rotn  Akxent 
in  den  r/allorom.  Mundarten  34/387. 

Wag?ier  M.  L.,  Das  Sardische  im 
Ro7n.  etymol.  Wörterbuch  von  Meyer- 
Lübke  (Liefere/.  4—10)  34/309,  35/103, 
40/240. 

Spitzer,  Katal.  'tramitar'  weiter- 
geben, Hrämit'  I?istanx,  spart.  Hrdmite' 
Instanxcnweg  36/162. 

Spitxer,  Zum  REW.  Nr.  111 7 :  birnis 
'rot'  37/74. 

Spitzer,  Aufsätze  zur  rora.  Syntax 
und  Stilistik  (E.  Lerch)  40/282. ' 

Henschel  Margot,  Zur  Sprachgeo- 
graphie Südwestgalliens  (v.  Wartburg) 
40/155. 

Mitteilungen  und  Abhandlungen  aus 
dem  Gebiete  der  rom.  Philol.,  ver- 
öffentl.  vom  Seminar  für  rom.  Spr. 
und  Kultur,  Hamburg.  Bd.  III  (Jordanl 
36/190. 

Pfandl,  Beiträge  zur  span.  und 
provenz.  Lit.-  und  Kulturgesch.  des 
Mittelalters  (Hämel)  34/423. 

Bertrand,  Cervantes  et  le  roman- 
tisme  allemaud  (Hämel)  34/186. 

Lommatx.sch,  Savaric  v.  Mauho7i 
und  G.  Keller  34/384. 

Wulff,  Die  frauenfeiudl.  Dichtungen 
in  den  rom.  Literaturen  des  Mittel- 
alters bis  zum  Ende  des  13.  Jhdts. 
( Pariselle  i  33 '21 2. 

1.  Französisch. 

Allgemeines. 

Strich,  Liselotte  und  Ludwig  XIV. 
(M.  J.  Wolff)  32/197. 

Merk  Jos.,  Anschauungen  über  das 
Leben  der  Kirche  im  afrz.  Heldenepos 
Elise  Richter)  3.5/205. 

Lommatxseh,  Ne  vache  ne  ccel! 
31/437. 

Sprache. 

Schönig,  Rom.  vorkonsonantisches 
L  in  den  heutigen  frz.  Mundarten 
■V.  Wartburg)  33/465. 

Brück,  Lber  zwei  Punkte  der  rom. 
Lautgesch.  33/354. 


Homing,  Glossare  der  rom.  Mund- 
arten V.  Zell  (La  Baroche)  u.  SchSnen- 
berg  im  Breuschtal  (Belmont)  in  den 
Vogescn  (Ganiere)  37/90. 

Voßler,  Frankreichs  Kultur  im  Spie- 
gel seiner  Sprachentwicklung.  Gesch. 
der  frz.  Schriftspr.  von  den  Anfängen 
bis  zur  klass.  Neuzeit  (Rubel)  31/220. 

Schinz,  Les  accents  dans  l'ecriture 
fr§se.  (Pariselle)  33/212. 

Wagner  M.  L.,  Lat.  fundibtdtim 
>*funibulum  und  intestinaoistenti- 
nae  39/96. 

Lommatxseh,  Zu  afrz.  flori  =  weiß 
35/170. 

Spitxer,  Frx.  fleurs  =  fluores  ?  dd/S9. 

Schultz-  Oora ,  Afrx.  viaus  <  vtlis 
35/171. 

Schultx-Gora,  Afrx.  'e'estla  somme' 
35/411. 

Schultz- Gora,  Zum  afrx.  Substant. 
berserex  35/415. 

Schultz-  Gora,  Par  impossibleBSIlld. 

Schidtx-  Gora,  Afrx.  estre  dou  mains 
38/232. 

Schultz- Gora,  Afrx.  bourghes,  Obl. 
bourghet  40/264. 

Benartj,  Zu  'ftls  de  ehar'  40/266. 

Walberg,  Quelques  remarques  sur 
l'ancien  frang.  'ne  garder  Teure  que . . .' 
(Schultz-Gora)  39/116. 

Baist,  Per  und  for  38/230. 

Spitxer,  Frz.printemps,  ital.prima- 
vera  35/417. 

Spitzer,  Zu  REW  Nr.  9544a: 
Winnld  36/163. 

Spitxer,  Afrz.  dnser,  daserie,  dasian 
36/165. 

Spitzer,  Über  einige  Wörter  der 
Liebessprache  (E.  Lerch)  40/167. 

Schultz-Gora,  Zum  Geschlecht  von 
afrz.  ost  34/139. 

Schultx-Gora,  Afrx.  'a  chicf  de  foix' 
36/169. 

Ad.  Toblers  Afrz.  Wörterb.,  hg.  von 
E.  Lommatzsch  (Cohn)  37/83. 

Cohn,  Bemerkungen  %u  Ad.  Toblers 
afrx.  Wörterb.  39/51,  40/84. 

Trunzer,  Die  Syntax  des  Verbums 
bei  G.  de  Deguilcville  (Walther  Suchier) 
35/442. 

Weil,  Sprache  des  Gilles  de  Chin 
von  Gauth.  de  Tuurnay  (Pillet)  39/106. 

Beiz,  Die  Münzbezeichnung  in  der 
afrz.  Lit.  (Walther  Suchier)  36/188. 

Schultx-Gora,  En  somet  (KarU- 
reise  V.  fi07)  37/75. 


10 


Register  zu  Archiv  Band  131—140 


Lerch  E.,  Prädikative  Partizip,  für 
Verbalsubstantiva  im  Frz.  (C'etait  son 
reve  accompli)  (Spitzer)  31/225. 

Faj,  Elliptical  partitive  usage  in 
affirmative  clauses  in  French  prosc 
of  the  14Ü1,  15th,  and  16*'ii  centuries 
(K.  Schmidt)  33/211. 

Winkler,  La  doctrine  granimaticale 
frQse.  d'apres  Maupas  et  Oudin  (Fran- 
9ois)  31/479. 

Tappolet,  Ursachen  des  Wortreich- 
tums bei  den  Haustiernamen  der  frx. 
Schweix  31/81. 

Tappolet,  Die  alemannischen  Lehn- 
wörter in  den  Mundarten  der  frz. 
Schweiz  (v.  Wartburg)  37/248. 

Stipp,  Die  Benennungen  des  Jahres 
und  seiner  Teile  auf  dem  Boden  des 
heutigen  Frankr.  (Jaberg)  32/227. 

Spitxer,  Frx.  allons  doncl    33/147. 

Tiktin,  Frx.  euree  und  Verwandtes 
33/120. 

Heiß,  Entstehung  des  romant.  Tri- 
meters  31/125,  384. 

Soltmann,  Syntax  der  Modi  im  Frz. 
(Spitzer)  33/203. 

Haas,  Frz.  Syntax  (F.  Strohmever) 
38/256. 

Lorck,  Passe  def.,  imparf.,  passe 
indef.  (Elise  Richter)  34/209. 

Stimming,  Der  a.  c.  i.  im  Frz.  (Fried- 
wagner) 34/435. 

Gohin,Lalanguefr§se.  (K.  Schmidt) 
38/470. 

Oetken,  Der  Modus  des  Objekt- 
satzes im  Französ.  (F.  Strohmeyer) 
32/207. 

Thorn,  Sartre-Tailleur.  Etüde  de 
lexicologie  et  de  geographie  lin- 
guistique  (Jaberg)  32/416. 

Herzog,  Histor.  Sprachlehre  des 
Neufrz.  (Rubel)  31/223. 

Gillot  H.  und  G.  Krüger,  Diction- 
naire  system.  frgs.-allemand;  1.  Bd. 
1.— 2.  Abt.  (Pariselle)  31/230. 

Richter  Elise,  Studie  über  das  neu- 
este Frz.  35/348,  36/124,  269. 

Spitxer,  Zu  frx.  omelette  'Eierkuchc?t' 
38/110. 

Literatur. 

Bedier,  Les  legendes  epiques. 
Recherches  sur  la  formation  des  chans. 
de  geste  (Tavernier)  31/187. 

Theodor,  Die  komischen  Elemente 
der  afrz.  chans.  de  geste  (Else  Stem- 
berg)  33/468. 


Stemberg  Else,  Das  Tragische  in 
den  chans.  de  geste  (A.  C.  Ott)  36/205. 

Farnsworth,  Uncle  and  nephew  in 
the  old  french  chans.  de  geste  (Jordan) 
33/218. 

Spanier,  Die  Ironie  im  afrz.  National- 
epos (Pillet^  35/443. 

Olschki,  Paris  nach  den  afrz.  natio- 
nalen Epen.  —  Der  ideale  Jlittelpunkt 
Frankreichs  im  Mittelalter  in  Wirk- 
lichkeit und  Dichtung  (Winkler)  38/130. 

Die  afrz.  Prosaversion  der  Alexius- 
legende.  Kritisch  hg.  von  E.  Lutsch 
(Hilka)  33/191. 

Voretxsch,  Alfer  und  Entstehwig 
der  frx.  Helde^idichtung  34/294. 

Lommatxsch,  Oautier  de  Coincy 
als  Satiriker  (  Walther  Suchier)  33/471. 

Geizer,  Der  afrz.  Yderroman  (Fried- 
wagner)  36/191. 

Schult'X-Gora,  Zum  Texte  des  Yder- 
romans  37/229. 

Hoffmann  Angelica,  R.  de  la  Piere, 
R.  le  Clerc,  R.  de  Castel.  Zur  Arraser 
Literaturgesch.  des  13.  Jhdts.  (Schultz- 
Gora)  37/92. 

Cohn,  Zum  O.  d'Ängleterred2IS5, 336. 

Nitze,  The  sisters  and  the  Conte 
del  Graal  (Jordan)  33/218. 

Geher,  Zu  der  anglonorm.  Vers- 
version des  Briefes  des  Presbyters 
Johannes  ed.  Hilka  37/70. 

Schidtx-Gora,  Zum  'Planch'  des 
Bertran  Carbonel  39/225. 

Hilka,  Zu  'GoufredeSatenic'  40/130. 

Aucassin  und  Nicolette.  Dtsch.  von 
V.  Oppeln-Bronikowski  (Noll)  32/193. 

Suchier  Wolfram,  Zu  Aucassin  und 
Nicolette  in  Dtschland.  35/403. 

Christ,  Cleomades-Fragmente39l222. 

Levy,  Bemerkungen  xu  Oavaudan, 
ed.  Jeanroy  35/374. 

Hilka,  Aus  dem  Nachlaß  von  Wendel. 
Foerster:  I.  Carmen Rotolandi.  ü.  Iden- 
tität des  Beneoit  des  Trojaromans  und 
der  Reimchronik.  —  Nachruf:  W. 
Foerster  xum  Gedächtnis  35/121. 

Schultx-  Gora,  Eine  Stelle  im  Placi- 
das-Eustachius  (V.  278)  34/146. 

Winkler,  Marie  de  France  (Geizer) 
40/279. 

Becker  Ph.  A.,  Jugendgedichte  Marga- 
retas  aus  einer   Wiener  Hs.  31/334. 

Schultx- Gora,  Ein  Jeu-parti  zwi- 
schen Maistre  Jehan  und  Jehan  Bretel 
36/292. 

Hilka,  Zum  Creseentiastoff  33/135. 


Register  zu  Archiv  Band  131—140 


11 


Hilka,  Ein  neuer  Text  der  Florentia- 
scufe  33/151. 

Die  Lieder  Raouls  von  Soissons, 
hg.  von  E.  Winkler  (Lnbinski)  33/472. 

Förster  Marg.,  Die  frz.  Psalmen- 
übersetzung vom  12.  bis  zum  Ende 
des  18.  Jhdts.  (Thurau)  35/444. 

Eckhardt,  Remy  Belleau  (Heiß) 
40/292. 

Jordan,  Eruähnung  Vinc.  Voihires 
in  seiner  Eigenschaff  als  Introdueteur 
des  ambassadeurs  36/170. 

Becker  Ph.  A.,  Cleme?it  Marot. 
Nachlese  33/142,  34/147. 

Lemm,  Aus  einer  Chartier-Hs.  des 
kffl.  KupferstichkabineUs  xu  Berlin 
32/131. 

Smith  H.  E.,  Literarv  criticism  of 
P.  Bayle  (Elise  Sonntag)  31/215. 

Jordan,  Die  Pariser  Pucelle  32/146. 

Schiffer,  Tassoni  in  Frankreich 
(Wiese)  35'448. 

Jordan,  Oijrayio  Berger ac  und  Mon- 
taigne 35/386. 

Jordan,  Frage  der  Echtheit  von  Oyr. 
Bergeracs  'Sonnenreise'.  —  'Sonnenr.' 
und  'Essays'  von  Montaigne  38/188, 
39/72. 

Claus,  Jean  Godard,  Leben  und 
Werke  (W.  Baeske)  32/441. 

Hofer,  Rabelais:  Kritische  Dar- 
stellung der  mod.  Rab.-Forschung  und 
ihrer  Probleme  32/103,  352,  33/97. 

Bauer  C,  'La  vraye  histoire  comique 
de  Francion',  der  erste  realist.  Boman 
Frankreichs  33/366. 

Jordan,  Ein  xeitgen.  Ms.  der'  Re- 
flexions sur  le  bonheur  der  Marqnise 
du  Chutelet  33/115. 

Dietschy,  Die  'Dame  d'intrigue' 
in  der  frz.  Originalkomodie  des  16. 
und  17.  Jhdts.  (Glaser)  36/327. 

La  Gazette  de  1609,  reimpression 
textuelle  avec  une  notice  par  L.  Loviot 
(M.  Lopelmann)  33/213. 

Searles,  Les  sentiments  de  l'Aca- 
demie  frgse.  sur  le  Cid  (Glaser)  36'204. 

Wolff  M.J.,  Moliere  und  della  Porta 
34/148. 

Zenker,  Zuei  Quellen  von  Molieres 
Misanthrope  34/321,  35/148. 

Oeiger,  Ldterar.    Anklänge  38/109. 

Wolff  M.  J.,  Italienisches  %utn  Tar- 
tuffe 39/226. 

Schwennhagen,  Verhältnis  der  Ecole 
des  maris  xm  Mendoxas  'El  marido 
hace  muger'  31/166. 


Achenwall,  Stud.  zur  Gesch.  der  kom. 
Oper  in  Frankreich  im  18.  Jhdt.  und 
ihre  Beziehungen  zu  Moliere  (M.  Fehr) 
33/198. 

Voßler,  La  Fontaine  und  sein  Fabel- 
werk (Schultz-Gora)  40/294. 

V.  Wurzbach,  Gesch.  des  frz.  Romans. 
1.  Bd.  Von  den  Anfängen  bis  zum 
Ende  des  17.  Jhdts.  iGlaser)  32/191. 

V.  Roretz,Diderots  Weltanschauung, 
ihre  Voraussetzungen  und  Leitmotive 
(Sakmann)  32/445. 

V.  Voß,  Diderots  Moralphilosophie 
(Sakmann)  32/442. 

Marcel,  Le  frere  de  Diderot  (Sak- 
mann) 32/444. 

Neumann  Dorothea,  Der  Artikel 
Geneve  des  VII.  Bds.  derEncyclopädie 
(Glaser)  37/93. 

Lombard,  La  correspondance  de 
l'abbe  Du  Bos.  —  L'abbe  Du  Bos. 
Un  initiateur  de  la  pensße  mod.  (Heiß) 
40/165. 

Jordan,   Voltairiana  32/408. 

Price  W.  R.,  Symbolism  of  Vol- 
taire's  novels  with  special  reference 
to  Zadig  (Sakmann)  31/218. 

Jordan,  Die  Münchener  Voltaire- 
Hss.  31/347. 

Frank,  La  Beaumelles  'Mes  jjensees' 
36/249,  37/34,  192. 

Lemm,  Das  Ms.  des  Kardinals  de 
Rohan  32/151. 

Allard  Emmy,  Friedrich  d.  Gr.  in  der 
Lit.  Frankreichs  (A.  Ludwig)  33/199. 

Koehler,  Der  Dandvisraus  im  frz. 
Roman  des  19.  Jhdts!  (W.  Küchler) 
32/198. 

Bertel,  Jules  de  Ressgguier  (Wink- 
ler) 31/462. 

Fach,  Die  Naturschilderung  bei  Ch. 
Nodier  (Heiß)  32/196. 

Jakob,  L'illusion  et  la  dßsillueion 
dans  le  roman  realiste  fr^s.  (1851 — 90) 
(Heiß)  32,212. 

Rochette,  L'esprit  dans  les  oeuvres 
poetiques  de  V.  Hugo  (Heiß)  32/193. 

Blossom,  La  composition  de  Sa- 
lammbo  d'apres  la  correspondance  de 
Flaubert  1857—62  (Heiß)  35/211. 

Coleman  A.,  Flaubert's  liter.  deve- 
lopment  in  the  light  of  his  Memoires 
d'uu  Fou,  Novembre,  and  education 
sentimentale  (Heiß)  35/211. 

Fay  und  Coleman  A.,  Sources  and 
structure  of  Flaubert's  Salammbo 
(Heiß)  3.5/211. 


12 


Register  zu  Archiv  B&nd  131—140 


Schirmer,  Stendhal  und  Deutschland 
33/158. 

Henriot.  A  quoi  revent  les  jeunes 
gens  (G.  Noll)  32/200. 

Sattler,  Hon.  de  Balzacs  Roman  La 
peau  de  chagrin  (Heiß)  32/196. 

Heiß,  Balzac  (Morel)  33/195. 

Bernheim,  Balzac  und  Swedenborg. 
Einfluß  der  Mystik  Swedenb.s  und 
Saint-Martins  auf  die  Romandichtung 
Balzacs  (Heiß)  34/441. 

Turquet-Milnes,  The  influence  of 
Beaudelaire  in  France  and  England 
(Heiß)  32/450. 

Reuel,  Maupassant  als  Physiog- 
nomiker (Neubert)  37/94. 

Oelxer,  Maupassant  und  Flaubert 
40/222. 

Neubert,  Die  liter.  Kritik  Mau- 
passants.  —  Die  krit.  Essays  G.  de 
Maup.s  (Geizer)  40/295. 

Michaelis  Paul,  Philosophie  u.  Dich- 
tung bei  Einest  Renan  (Heiß)  34/441. 

Lemm,  Zur  Entstehungsgesch.  von 
E.  Zolas  Rougon-Macquait  und  den 
Quatre  ßvangiles  (Heiß)  34/440. 

Fischer  W.,  'The  Merchant  prince 
of  Cornville'  von  S.  E.  Groß  und 
Rostands  '  Cyrano  de  Bergerac'  i33/382. 

Fischer  W.,  Ei7i  Zwiegespräch  des 
Erasmus  von  Rotterdam  und  Rostands 
'Cyr.  de  Bergarac'  36/287. 

Beutler,  Der  Wortschatz  in  Edm. 
Rostands  Dramen  (Spitzer)  33/477. 

Küchler  Walther,  Rom.  Rolland, 
Henri  Barbusse,  Fr.  v.  Unruh  (Geizer) 
39/258. 

Jordan,   Neue   Oyrano-Lit.  33/417. 

Burkhardt  Hei.,  Stud.  zu  P.  Hervieu 
als  Romancier  und  Dramatiker  (K. 
Glaser)  39/258. 

Babbit,  The  masters  of  French  mod. 
criticism  (M  J.  Wolff)  33/201. 

Dupouy,  France  et  Allemagne,  litt^r. 
comparees  (Morel)  33/192. 

Suchier-Birch-Hirschfeld,  Gesch.  der 
frz.  Lit.  von  den  ältesten  Zeiten  bis 
zur  Gegenwart.  1.2  von  H.  Suchier 
(Glaser)  32  437;  II.2  (Glaser)  34/206. 

Glaser,  Rodenbach,  der  Dichter  des 
toten  Brügge  (Th.  Engwer)  38/132. 

Curtius,  Der  liter.  Wegbereiter  des 
neuen  Frankreich(V.Klemperer)39/256. 

Un  terrichts  wesen . 
Strohmeyer,    Frz.   Unterrichtswerk 
(Jensen)  38/134. 


Herrig  und  Burguy,  France  littßr., 
remaniee  par  H.  Bornecque  (Pariselle) 
32/202. 

Cuitius  Anna,  Der  frz.  AufsatzS  (M. 
Hartmann)  35/447. 

2.  Provenzalisch. 

Sprache. 

Dederich,  Die  lexikograph.  Eigen- 
tümlichkeiten des  Frankoprovenzal. 
nach  dem  Atlas  linguistique  de  la 
France  (Jaberg)  32/216. 

Kolsen,    Randnoten    xu    E. 
prov.   Wörterbüchern  (1—8)  39/87. 

Polack  Marg.,  Zur  Gesch.  der  ei- 
Diphthonge  im  Prov.  37/210. 

Schultz-  Oora,  Aprov.  warres.33/411. 

Wagner  M.  L.,  Aprov.  lieis.  39/94. 

Bruch,  Prov.  aus  'unbebaut'  85/173. 

Schultz- Gora,  Ein  prov.  Sprich- 
wort 39/222. 

Literatur. 

Lewent,  Zu  Pons  von  Capduelh 
40/263. 

Der  Trobador  Cadenet,  hg.  von 
C.  Appel  (Schultz-Gora)  40/288. 

Die  Lieder  d.  Trobador  G.d'Espanha. 
Hg.  von  O.Hoby  (Schultz-Gora)  34/431. 

Levy  E.f,  Zum  Texte  von  Eobys 
Ausg.  des  G.  d'Espanha  38/100. 

Strempel,  Gir.  de  Saliuhac,  ein 
prov.  Trobador  (Levyf)  38/265. 

Sutorius,  Le  debat  prov.  de  l'äme 
et  du  Corps  (Levy)  37/256. 

Der  Trobador  Pistoleta,  hg.  von 
E.  Niestroy ;  der  Trobador  G.  Magret, 
hg.  von  F.  Naudieth  (Kolsen)  34/424. 

Lery,  Zu  Pistoleta  ed.  Niestroy  und 
G.  Magret  ed.  Naudieth  36/156. 

Kolsen,  Wilh.  v.  la  Tor,  Ges  eil  que's 
blasmon  d' Amor  33/156. 

Kolsen,  Wilh.  v.  la  Tor,  Canson  ab 
gais  motz  36/166. 

Bern.  v.  Ventadorn.  Seine  Lieder 
mit  Einl.  hg.  von  C.  Appel  (Schultz- 
Gora)  36/322. 

Bergert,  Die  von  den  Trobadors 
genannten  oder  gefeierten  Damen 
(Kolsen)  35/206. 

Bertr.  v.  Born.  Hg.  von  A.  Stim- 
ming2  (Lewent)  33/215. 

Stimming,  Zu  Bertr.  de  5or«  34/101. 

Franz  A.,  Über  den  Troubadour 
Marcabni  (C.  Appel)  34/193. 


Register  zu  Archiv  Rand  131 — 140 


la 


Caynüli,  L'Älba  del  codice  vaticano 
reginense  1462  31/412. 

d'Arbaud,  Lou  lausie  d'Arle. 
Pouemo  (Minckwitz)  33/223. 

3.  Katalanisch. 

Textes  catalans  avec  leur  trans- 
criptious  phon.  par  J.  A.  Pereira  (Fr. 

Krüger)  38/273. 

4.  Italienisch. 

Sprache. 

Stiefel,  Die  ital.  Tenzone  des  13. 
Jhdts.  und  ihr  Verhältnis  zur  pro- 
venzal.  Tenzone  (Pillet)  38/267. 

Miltschinsky  Marg.,  Der  Ausdruck 
des  konzessiv.  Gedankens  in  den  alt- 
nordital.  Mundarten   (Wiese)    38/136. 

Arnholdt,  Stellung  des  attribut.  Adj. 
im    Ital.   und    Span.  (Lerch)   39/242. 

Thorn,  Qualche  parola  sui  rerbi 
denominativi  delV italiano  31/440. 

Camilli  A.,  Rafforxamenti  inixiali 
in  italiatio  31/170. 

Spitxer,  Nachträge  xu  meinem  Ar- 
tikel über  ital.  cosi  (Arch.  301335) 
32/149. 

Spitxer,  Ital.  laxxaretto  'Kranken- 
haus' 37/2^5. 

Spitxer,  Ital.  taranai,  tananai 
'Wirricarr,  Lärm'  36/164. 

Spitxer, Nochmals  ital. ghetto^Qß^b. 

Wagner  M.  L.,  Südital.  kandkka 
37/226. 

Literatur. 

Voßler,  Ital.  Lit.  der  Gegenwart 
von  der  Romantik  zum  Futurismus 
(Wiese)  33/479. 

Voßler,  Ital.  Lit.-Gesch.3  (Wiese) 
36/327. 

Mignon,  fitude  de  la  lit.  ital.  (G. 
Hartmann)  32/213. 

Bertoni,  I  trovatorid'Italia  (Schultz- 
Gora)  34/194. 

Levy  E.,  Zu  O.  Bertoni,  I  trovatori 
d'Italia  40/109. 

Tonaca,  Per  la  biogr.  di  G.  Boccac- 
cio (G.  Hartmann)  33/226. 

Dantis  Alagherii  De  monarchia 
libri  III.  rec.  Ludov.  Bertalot  (Wiese) 
39/120. 

Federn,  Dante  und  seine  Zeit  2 
(Wiese)  35/213. 

Camilli,  II  gran  riüuto  dantesco 
33/163. 


Camilli,  1  versi  112—3,  135—6  del 
Purgatorio  V  33/162. 

Camilli,  Cid  terra  infra  le  pietre 
redende  33/163. 

V.  d.  Schuleuburg,  Ein  neues  Por- 
trät Petrarcas  (Wiese)  39/121. 

Wolff  M.J.,  Ariosts  Satiren  40/206. 

Smith  W.,  The  comedia  dell'arte. 
A  studv  in  Ital.  popul.  comedy  (B. 
Fehr)  32/185. 

Serban,  Leopardi  sentimental  (G. 
Hartmann)  3.^/480. 

Lettres  inedites  relatives  ä  G.  Leop. 
publikes  par  N.  Serban  (G.  Hartmann) 
33/225. 

Ravasi,  Leop.  et  Mme.  do  Stael 
32/209. 

Serban,  Leop.  et  la  France  (G. 
Hartmann)  32/450. 

5.  Korsisch. 

spitxer,  Kors.  ghjamberluccu,  jam- 
'tonto,  dappoco'  38/109. 

Spitxer,  Berichtigung  daxu  39/97. 

6.  Spanisch. 

Sprache. 

de  Diego  G.,  Elementes  de  gramä- 
tica  histörica  castellana  (Fr.  Krüger) 
40/159. 

de  Lamano  y  Beneite,  El  dialecto 
vulgär  salmantino  (Fr.  Krüger)  37/263. 

Spitxer,  Altspan,  curiar  'schütxen' 
35/420. 

Spitxer,  Altspan,  decir,  ptg.  descer 
'herabsteigen'  36/296. 

Bruch,  Span,  naia  und  lat.  novalis 
38/111. 

de  Diego,  Sobre  el  castellana  'en- 
hiesto'  39/96, 

Spitxer,    Über  span.  que  32/375. 

de  Toro-Gisbert,  Americanismos 
(P.  de  Mugica)  31/231. 

Spitxer,  Zu  span.  xara  'Mais'  3G/165. 

LiteratifT. 

liistoria  de  la  lit.  espanola  y  anto- 
logia  de  la  misma  por  Gn  Jünemann 
(Graefenberg)  32/211. 

V.  Faulhaber,  Calderon,  der  Meister- 
sänger der  Weltlit.  Vortrag  (Pfandl) 
36/207. 

Pfandl,  Der  Didlogo  de  Mugeres 
von  1544  und  seine  Bedeutung  für 
die  Castillejo-Forschung  40/72. 


14 


Register  zu  Archiv  Band  131 — 140 


Wagner  M.  L.,  Der  mexikan.-span. 
Sohelmenronian  'Pertquillo  Sarnirmto' 
des  Fern,  de  Lixardi  34/76. 

El  sacrificio  de  la  Misa  por  G.  de 
Berceo.  Ed.  de  A.  G.  Solalindc 
(Pfand!)  34/185. 

Parpal  y  Marques,  Menendez  y 
Pelayo  historiador  de  la  lit.  espan. 
(Hämel)  33/228. 

GonzaloB-Blanco,  Marc.  Menendez 
Pelayo  (Hämel)  33/228. 

Pietscli,  Concerning  Ms.  2-G-5  of 
the  Palace  libr.  at  Madrid  (Brugger) 
33/299. 

Lehmann -Nitscbo,  Adivinanzas  Rio- 
platenses  (Petsch)  34/189. 

7.  Rumänisch. 

Ion  Creangä's  Harap  Alb,  hg.,  übers, 
und  erläut.  von  G.  Weigand  (Jamlk) 
35/219. 


Jarnik,  Zur  Interpret,  von  Ion 
Cremuß's  Harap  Alb  37/51,  38/207, 
39/198. 

Spitzer,  Rum.  grmü  (grunü)  'Hügel' 
34/138. 

Bruch,  Ewn.  grmü  'Hügel'  35/416. 

IV.  Alte  Sprachen. 
Lateinisch. 

Vulgärlat.  Inschriften,  hg.  von  E. 
Diehl  (Rubel)  31/478. 

Lehmann  Paul,  Vom  Mittelalter  und 
von  der  lat.  Philol.  des  Mittelalters 
(Hilka)  35/439. 

Lehmann  Paul,  Aufgaben  und  An- 
regungen der  lat.  Philol.  des  Mittel- 
alters (Liebermann)  39/259. 

Achelis,  Äesope  trugedian  31/435. 

Reinholdt,  Wundergeschn.  des  Cod. 
Pal.  germ.  118  (Hilka)  39/261. 


B.  Personenregister. 

Kursiver  Druck  bedeutet  Originalbeitrag. 


Achelis,  Zu  Lessings  Aufsatz  Ro- 
mulus  und  Rimicius  39/137.  —  Msope 
tragedian  31/435. 

Appel,  Franz,  Über  den  Trou- 
badour Marcabru  31/193. 

Bader,  Lord  Byron  im  Spiegel  der 
xeitgen.  dtschn.  Dichtung  35/303,  — 
Zu  Childe  Harold's  Monitor  38/65.  — 
Byroniana  IL  Der  Verf.  von  'Childe 
Har.  in  the  shades'  38/228.  —  Byro- 
niana in.    Verf.  des   Uriel  39/214. 

Badt,  Pfeiffer,  Die  Lvrik  der  A. 
V.  Dr.-Hülshoff  33/445. 

Baeske,  Claus,  Jean  Godard, 
Leben  und  Werke  32/441. 

Baist,  Fer  und  for  38/230. 

Ballof,  Über  die  Echtheit  des 
Sesenheimer  Liedes  'Bälde  seh  ich 
Rickgeti  ivieder'  40/247.  —  Zur  Frage 
der  Sesenheimer  Lieder  40,  Dtsch. 
Sonderh.  155.  —  Über  die  Sizilian. 
Vesper  von  J.  M.  R.  Lenx  40,  Dtsch. 
Sonderh.  156. 

Bally,  Wylpel,  Wirklichkeit  und 
Sprache  34/2il. 

Bauer,  La  vraye  hist.  comique  de 
Francion,  der  erste  realist.  Roman 
Frankreichs  33/366. 


Becker,  G.,  The  adventures  of  Don 
Simonides,  ein  Roman  von  B.  Rieh 
und  seine  Quelle  31/64. 

Becker,  Ph.  A.,  Jugendgedichk 
Margarctas  31/334.  —  Clement  Marot. 
Nachlese  33/142,  34/147. 

Benary ,  Basin  und  Elegast  32/144. 
—  Zur  Hervararsaga  33/332.  — 
Steinberger,  Untersuchungen  zur  Ent- 
stehung der  Sage  von  Hirlanda  v.  Bre- 
tagne sowie  zu  den  ihr  am  nächsten 
verwandten  Sagen  32/435.  —  Zu  'fils 
de  char'  40/266. 

Beyer,  Bäumer,  Goethes  Freun- 
dinnen. Briefe  zu  ihrer  Charakteristik  2 
40/268.  —  Brecht,  C.  F.  Meyer  und 
der  Kunstwert  seiner  Gedichtsamm- 
lung 40/147. 

B  j  ö  r k m  an ,  Wende,  Über  die  nach- 
gestellten Präpositionen  i.  Ags.  35/437. 

Bleich,  V.  Löwis  of  Menar,  Der 
Held  im  dtschn.  und  russ.  Märchen 
33/179. 

Bodenstein,  Ztir  Gesch.  von  Chery 
Chase  36/151. 

Bolle,  Forbes'  'Songs  andfaneies', 
das  erste  in  Schottland  qedr.  Lieder- 
buch 31/320,  32/36,  281." 


Register  zu  Archiv  Band  131—140 


15 


B  o  1 1  e ,  Schwedische  Beitr.  xu  unserer 
älteren  Theater gesch.  31/144.  —  Koß- 
mann,  Nieuwe  Bijdrage  tot  de  Ge- 
schiedenis  van  het  nederlandsche  Too- 
neel  in  de  17e  en  18«  Eeuw.  34/415. 

Bradley,  Some  place-names  in 
Stveefs  A.-S.  reader  31/427. 

B  ran  dl,  Das  geistine  Testament 
xwcier  Alttiroler:  Joh.  Schuler  und 
Beda  Weber  38/224.  —  Wackerneil, 
Ludw.  Steub,  Ad.  Pichler  und  der 
Tiroler  Sängerkrieg  35/434.  —  Ati 
Prof.  Fred.  J.  Carpenter,  BarrirK/ton, 
Illinois  39/213.  —  Th.  Roosevelt,  Eist, 
as  lit.  and  other  essays  40/274.  — 
Die  Urstammtafel  der  Westsachsen 
und  das  Beownlfepos  37/6.  —  Vetian- 
tius  Fortunatus  tind  die  ags.  Elegien 
'Wanderer'  und  'Ruine'  39/84.  — 
Ztcr  Zeitbestimmung  des  Kreuxes  ron 
Ruihuell  3G/150.  —  Siegmund,  Sieg- 
fried und  Brunhilde  in  Ortsnamen 
des  nordwestl.  Englds.  33/408.  —  Jones, 
Outlines  of  Engl,  phonetics  39/98.  — 
Cambr.  bist,  of  Engl.  lit.  ed.  bv  Sir 
A.  W.  Ward  and  A.  R.  Waller.  Vol.  X. 
33/184.  —  Liljegren,  Studies  on  Mil- 
ton  38/246. 

Bräuning-Oktavio,  J.  Heim: 
Merck  als  Mitarbeiter  an  Wielands 
'Teutschem  Merkur'  31/24,  285. 

Brecht,  Lockeraann,  Techn.  Stud. 
zu  Luthers  Briefen  an  Fr.  den  Weisen 
31/446. 

Brie,  Zwei  verlorene  Dichtungen 
von  Skelton  38/226.  —  Fehr,  Studi  zu 
0.  Wilde's  Gedichten  39/237. 

Brotanek,  Sieper,  Die  ae.  Elegie 
37/240.  —  Zu  den  ältesten  engl.  Hexa- 
metern 33/87. 

Bruch,  Über  xwei Punkte  der  rotn. 
Lautgesch.  33/354.  —  Provenxal.  aus 
'unbebaut'  35/173.  —  Span,  nnva  und 
lat.  novalis  38/111.  —  Rum.  grum 
'Hügel'  35/416. 

Brückner,  Zum  Namen  Polonius 
32/404. 

Brugger,  Pietsch,  Conceming 
Ms.  2-G-5  of  the  Palace  libr.  at  Ma- 
drid 33/299. 

Brunner,  Gonser,  Das  ags.  Prosa- 
leben des  hl.  Guthlac  36,306.  —  Joh. 
Müller,  Kulturbild  des  Beowulfepos 
38/242.  —  Patience.  An  alliterativc 
Version  of  Jonah  by  the  poet  of  Pearl 
32/184.  —  Die  Reimsprache  der  sog. 
kent.    Fassung     der     'Sieben     aeisen 


Meister'  40/199.  —  Bihl,  Wirkungen 
des  Rhythmus  in  der  Spr.  von  Chau- 
cer  und  Gower  3S/243.  —  Eitle,  Die 
Satzverknüpfung  bei  Chaucer  33/460. 
Thiemke,  Die  nie.  Th.  Beketlcgende 
des  Gloucesterlegendars.  Kritisch  hg. 
mit  Einl.  40/270.  —  Hs.  Brit.  Mus. 
Additional  31042  32/316.  —  Zachris- 
son,  Pronunciation  of  Engl,  vowels 
1400—1700  35/195.  —  Die  Dialckt- 
wörter  in  Spensers  'Shepherd's  ca- 
lendar'  32/401.  —  Zum  Balladen- 
rhythmusA0/25d.  —  Klein,  Der  Dialekt 
von  Stokesley  in  Yorkshire,  North 
Riding  33/457.  —  Stoelke,  Die  In- 
kongruenz zwischen  Subj.  und  Prä- 
dikat im  Engl.  u.  verwandten  Sprachen 
3C/181.  —  Ein  Yorkshire-Dialekttext 
aus  dem  18.  Jhdt.  33/134.  —  Br.  Schulze, 
Exmoor  scolding  and  Exmoor  court- 
ship  31/184.  —  Jacobson,  Ch.  Kings- 
leys  Beziehungen  zu  Deutschland 
40/273. 

C  a  m  i  1 1  i ,  Rafforx  umenti  inixiali 
in  italiano  31/170.  —  //  gran  rifiuto 
dantesco  33/163.  —  1  versi  112-3, 
135-6  del  Purgatorio  V.  33/162.  — 
Qiä  terra  infra  le  pietre  vedendo 
33/163.  —  L'Alba  del  codice  vaticano 
reginense  1462  31/412. 

Carre,  'Char acter isti es  of  Qoethe' 
de  S.  Austin  et  la  collaboration  de 
H.  a  Robinson  31/145.  —  W.  Whe- 
well  et  H.  G.  Robinson  31/425. 

Christ,  Zu  Rieh.  Rolle  von  Eam- 
pole.  Eine  Vatikan.  Hs.  des  Psalmen- 
kommentarsZQßb.  —  Cleomades  Frag- 
mente 39/222. 

Cohn,  Zutn  0.  d' Angleterre  d2/85, 
336.  —  Ad.  Toblers  Afrz.  Wörterb., 
hg.  von  E.  Lommatzsch  37/83.  —  Be- 
merkungen XU  Ad.  Toblers  Afrx. 
Wörterb.,  Liefrg.  1—2   39/51,  40/84. 

Cook,  Riinic  monuments  knounas 
obelisks  32/395.  —  Dante  and  Qouer 
31/395. 

Cords,  5  me.  Gedichte  aus  den 
Hss.  Rawlinson  poetry  36  und  Rau- 
lins.  C.  86  35/292. 

Crane,  Date  of  Forde's  Monteljon 
31/434. 

Daffis,  Witkop,  Heidelberg  und 
die  dtsche.  Dichtung  315/189.  —  Herr- 
raann,  Forschungen  zur  dtschn.  The- 
atergesch.  des  Mittelalters  und  der 
Renaissance  35/181.  —  Mayne,  Gesch. 
der  dtschn.  Goethe-Biogr.  Krit.  Abriß. 


16 


Register  zu  Archiv  Band  181 — 140 


2.  Abdr.  32/183.  —  Buchtenkirch, 
Kleists  Lustsp.  'Der  zerbroch.  Krug' 
auf  der  Bühne  35/432, 

D  eetj  en ,  Bürger  und  H.  v.  Münch- 
hausen  31/424.  —  Ä.  v.  Dr.-Hülshoff, 
Neues  aus  ihrer  Jugendzeit  33/442.  — 
Zur  Oesch.  einer  romajit.  Zeitschr. 
36/145. 

Deuschle,  Aufleben  der  Li  f.  des 
17.Jhdts.  im  Zeitalter  der  Romantik 
40,  Dtsch.  Souderh.  1. 

Dibelius,  Danielowsky,  Richard- 
sons  erster  Roman  38/247. 

de  Diego,  Sobre  el  castellano  'en- 
hiesto    39/96. 

Eimer,  Drei  Briefe  von  Elisab.  P. 
Peahody  über  Nath.  HautJwrne  u.  a. 
33/318. 

E 1 8  n  e  r ,  Orimmelshausen :  der 
fliegende  WandersiJtann  nach  dem 
Monde  32/1. 

Eng  wer,  Glaser,  Rodenbaoh,  der 
Dichter  des  toten  Brügge  38/132. 

Fehr  B.,  Marty,  Gesara.  Schriften, 
hg.  von  Eisenmeier,  Kastil,  Kraus 
39/100.  —  Einenkel,  Gesch.  der  engl. 
Spr.  IL,  Histor.  Syntax  36/307.  — 
Deutschbein,  System  der  ne.  Syntax 
36/176.  —  Zu  'The  pearV  31/154.  — 
Keats  im  Lichte  der  neuesten  Forschung 
39/163.  —  Zu  Swinburnes  liter.  Biogr. 
36/240.  —  0.  Wildes  'The  harlot's 
house'  34/59.  —  W.  Smith,  The  co- 
media  dell'arte.  A  study  in  Itaiian 
popul.  comedy  32/185. 

Fehr  M.,  Achenwall,  Stud.  zur 
Gesch.  der  kom.  Oper  in  Frankr.  im 
18.  Jhdt.  und  ihre  Beziehungen  zu 
Möllere  33/198. 

Feist,  Sehrt,  Zur  Gesch.  der  wgerm. 
Konjunktion  'Und'  36/172.  —  Kruer, 
Der  Bindevokal  und  seine  Fuge  im 
Bchw.  dtsch.  Präterit.  bis  1150  3^4/161. 
—  Bergmann,  Der  dtscbe.  Wortschatz 
dargest.  auf  Grund  des  dtschn.  Wörter- 
buchs von  Weigaud  31/459.  —  Loewe, 
Germ.  Pflanzennamen.  Etymol.  Unter- 
suchungen 31/459.  —  Weigand,  Dtsch. 
Wörterb.  32/419. 

Fiedler  Fritz,  Dickens'  Gebrauch 
der  rhythm.  Prosa  im  Xmas  carol 
39/47.  —   Dickens'  Belesenheit  40/43. 

Fischer  M.,  Zum  Stil  der  Eli- 
sabeth. Madrigale  33/1.  —  W.  Maier, 
Chr.  Anstey  und  der  New  Bath  Guide. 
Beitr.  zur  Entwicklung  der  engl.  Satire 
im  18.  Jhdt.  33/461. 


Fischer  R.,  Paulusscn,  Rhythmik 
u.  Technik  des  sechsfüßig.  Jambus  im 
Dtschn.  und  Engl.  34/166.  —  Kilian, 
Aus  der  Praxis  der  raod.  Dramaturgie 
34/163.  —  Trench,  Shakesp.s  Hamlet. 
A  new  commentary  34/179.  —  Kerl, 
Die  metr.  Unterschiede  von  Shakesp.s 
King  John  und  Jul.  Caesar  34/178.  — 
Lüdemann,  Shakesp.s  Verwendung 
von  gleichartigem  und  gegensätzlich. 
Parallelismus  bei  Figuren,  Situationen, 
Motiven  und  Ilandlgn.  34/180.  — 
Cynthia's  revels  or,  The  fountain  of 
self-love  by  B.  Jonson,  ed.  by  A.  C. 
Indson  34/182. 

Fischer  W.,  Ferd.  Freilißrath  und 
Aniely  Balte  40/25,  —  Über  Brei 
Hartes  Drama  ^Two  men  of  Sandy 
Bar'  36/72.  —  'Tlie  Merchont  Prince 
of  Cornville'  von  S.  E.  Groß  und 
Rostands   'Cyr.  de  Bergerac'   33/382. 

—  Ein  Ziviege.^jjräch  des  Erasmus 
von  Rotterd.  und  Rostands  'Cyr.  de 
Bergerac'  36/287. 

Fleury,  Herwegh  als  Übersetzer. 
Ungedr.  Briefe  von  Bodenstedt  32/66. 

Förster  M.,  Die  altkor n.  Bear- 
beitung von  Abt ^Ifrics  lat.-ae.  Glossar 
35/285.  —  Spätae.  Prospcr- Glossen  in 
Cambridge  36/290.  —  Ae.  yre,  der 
Singul  xu  örari  'Ör'  32/397.  — 
Npchmals  ae.  frcgen  'Frage'  35/399. 

—  Paläographisches  xu  Bedas  Sterbe- 
spruch 35/282.  —  Friihags.  Doppel- 
formen von  Eigennamen?  35/282.  — 
Die  ae.  Beigaben  des  Lambeth-Psalters 
32/328.  —  Älteste  Fassung  des  nie. 
Gedtchts  'Barth  upon  earth'  38/39.  — 
Chauceriana  1.  32/399.  —  Beiträge  xur 
mittelalterlichen  Volkskunde  7X.34/264. 

Frangois,  Wiukler,  La  doctrine 
grammaticale  fr§se.  d'apres  Maupas  et 
Oudin  31/479. 

Frank,  La  Beaumelles  'Mes  pen- 
sees'  36/249,  37/34,  192. 

Friedemann,  Walzel,  Ric.  Huch, 
Ein  Wort  über  die  Kunst  des  Er- 
zählens 36/299.  —  Saedler,  Hebbels 
Moloch  36/301. 

Friedwagner,  Geizer,  Der  afrz. 
Yderroraan  36/191.  —  Stimming,  D. 
a.  c.  i.  im  Frz.  36/191. 

Funck,  Ein  Brief  von  Geliert  an 
den  Fabeldichter  Pfeffel  36/147. 

Gamillscheg,  Jacoby,  Zur  Gesch. 
des  Wandels  von  lat.  fi  zu  y  im  Gallo- 
rom.  38/126. 


Register  zu  Archiv  Band  131 — 140 


17 


Ganiöre,  Horning,  Glossare  der 
rom.  Mundarten  von  Zell  (La  Baroche) 
und  Schönenberg  im  Breuschtal  (Bel- 
mont)  in  den  Vogesen  37/90. 

Gebhardt,  Abegg,  Die  Mundart 
von  Urseren  31/445.  —  Bohnenberger, 
Die  Mundart  der  dtschn.  Walliser  im 
Heimattal  und  in  den  Außeuorten 
34/153.  —  Berger,  Die  Laute  der  Mund- 
arten des  St.  Galler  Rheintals  und  der 
angrenzenden  vorarlbergischenGebiete 
34/153.  —  Enderlin,  Die  Mundart  von 
Keßwil  in  Oberthurgau  31/445.  — 
Schweizerisches  Idiotikon.  Wörterb. 
der  schweizerdtsch.  Spr.  LXVI  bis 
LXXIII  34/152.  —  Dtsche.  dialekt- 
geogr.  Berichte  und  Stud.  über  Weu- 
kers  Sprachatlas  des  Dtschn.  Reiches, 
hg.  von  F.  Wrede.  Heft  V  hg.  von 
Th.  Frings  34/151. 

Geiger  -f,  Äußerungen  Montes- 
quieus  über  die  Dtschn.  38/217.  — 
Notixen  über  Herder  und  Lessing 
38/218.  —  Unbekannte  Briefe  Ifflands 
33/310.—  W.V.Humboldt  über  Schiller 
und  Goethe  35/29.  —  Q.  Forster  über 
dtsche.  Lit.  und  über  Schiller  34/372. 

—  Zu  Schillers  Don  Carlos.  Eine 
dramattirgische  Abhandig.  37/154.  — 
Ooethe-Misxellen .  1.  Goethe  als  Tyrann. 

2.  Jacobi  über  Wieland  und  Goethe. 

3.  Goethe  tmd  die  Narrenakademie 
37/66.  —  Bettine  Brentano  und  ihre 
Besuche  bei  Goethe  31/8.  —  Zu  einein 
Briefe  Goethes  34/128,  39/83.  —  Aus 
Ottilie  V.  Goethes  Nachlaß.  Briefe 
und  Tagebücher  von  ihr  und  an  sie 
bis  1832.  Nach  den  Hss.  des  Goethe- 
und  Schillerarchivs  hg.  von  W.  v.  Oet- 
tingen  32/424,  —  Goethes  Faust.  Nach 
Entstehung  und  Inhalt  erkl.  von  E. 
Traumann.  2.  Bd,  Der  Tragöd.  2.  T. 
32/427,  —  Zwei  Äußerungon  Goethes 
Über  seinen  Faust  37/220.  —  Die  Ber- 
liner Aufführg.  des  Faust  am  15.  Mai 
1838  38/99.  —  Goethe  über  Wielands 
Oberon  37/220.  —  Zu  Goethes  Ge- 
sprächen 35/397.  —  Ich  ging  im  Walde 
35/260.  —  Zu  einem  Goetheschen 
Spruch  38/221.  —  Liferar.  Anklänge 
38/99.  —  M71  merkwürdiges  Urteil 
über  Goethes  'Wahlverwandtschaften' 
36/281.  —  Eine  utibekannte  Gegen- 
schrift gegen  Gutxkotos  Wally  36/229. 

—  Raliel  und  F.  A.  Wolf  36/283.  — 
Zu  Michel  Beer  36/282.  —  Ludw. 
Börne   und  Rahel  Varnhayen   39/26. 


—  Eine  xcitgen.  Äußerung  über  das 
junge  Deutschland  38/99.  —  Literar. 
Anklänge  38/109. 

Geizer,  Zu  der  anglonorm.  Vers- 
version des  Briefes  des  Presbyters 
Johannes  ed.  Hilka  37/70.  —  Winkler, 
Marie  de  France  40/279.  —  Maiqmssant 
und  Flaubert  40/222.  —  Neubert,  Die 
literar.  Kritik  G.  de  Maupassants.  — 
Die  krit.  Essays  G.  de  Maupassants 
40/295.  —  Küchler,  Rom.  Rolland, 
Henri  Barbusse,  Fr.  v.  Unruh  39/285. 

Glaser,  Suchicr  u.  Birch-Hirsch- 
feld,  Gesch.  der  frz.  Lit.  von  den  älte- 
sten Zeiten  bis  zur  Gegenw,  von  H. 
Suchier3  32/437;  Bd.  112  34/206.  — 
Searles,  Les  sentiments  de  l'Academie 
frQse.  sur  le  Cid  36/204.  —  Dietschy, 
Die  'Dame  d'intrigue'  in  der  frz. 
Originalkomödie  des  16.  u.  17.  Jhdts. 
36/327.  —  V.  Wurzbach,  Gesch.  des 
frz.  Romans,  l.Bd.,  von  den  Anfängen 
bis  zum  Ende  des  17.  Jhdts.  32/191. 

—  Neumann,  Der  Artikel  Geneve  des 
VII.  Bds.  der  Encyclopädie  37/93.  — 
Burkhardt,  Stud.  zu  P.  Hervieu  als 
Romancier  und  Dramatiker  39/258. 

Gollancz,  The  nanie  Polonius 
32/141. 

Gräfenberg,  Hist.  de  la lit.  espaö. 
y  antologia  de  la  misma  por  G.  Jüne- 
mann  32/211. 

Groß,  Litzmann,  E.  v.  Wilden- 
bruch, 1.  Bd.,  34/414. 

Hämel,  Pfandl,  R.  Southey  und 
Spanien  40/163.  —  Pfandl,  Beitr.  zur 
span.  und  prov.  Lit.-  und  Kulturgesch. 
des  Mittelalters  34/423.  -  Bertrand, 
Cervantes  et  le  romantisme  allemand 
34/186.  —  Gonzalez-Blanco,  Marc. 
Menendez  Pelayo  33/228.  —  Parpal  y 
Marques,  Menendez  y  Pelayo  histo- 
riador  de  la  lit.  espaü.  33/228. 

Hankiss,  Diderot  und  Herder  AQ, 
Dtsch.  Sonderh.  59. 

Harnack  Agnes,  Schönemann, 
A.  V.  Arnims  geistige  Entwicklung 
an  seinem  Drama  'Halle  und  Jeru- 
salem' erl.  31/175. 

Hartmann,  Mazzucchetti,  Schiller 
in  Italia  32/214.  —  Mignon,  Etüde 
de  la  lit.  italienne  32/213.  —  Torraca, 
Per  la  biogr.  di  G.  Boccaccio  33/226. 
— Serban,  Leopardi  sentimental  33/480. 

—  Lettres  inedites  relatives  ä  G.  Leo- 
pardi, publiees  par  N.  Serban  33/225. 

—  Ravasi,  Leop.  et  Mme  de  Stael 

2 


18 


Register  zu  Archiv  Band  131 — 140 


32/209.  —  Sorban,  Leop.  et  la  France 
32/450.  —  Curtius,  Der  frz.  Aufsatz 
35/447. 

Hecht,  Bibliographisches  zu  J. 
Forbes'  Songs  and  fnncies  40/108. 

Heinrich,  H.  v.  Kleist  und  K.  F. 
Hindenburg  34/129.  —  E.  v.  Kleist 
und  Frankfurt  a.  0.  32/273. 

Heiß,  Entstehung  des  ronmnt.  Tri- 
meters  31/125,  384.  —  Lombard,  La 
correspondance  de  l'Abbe  Du  Bos.  — 
L'Abbe  Du  Bos.  Un  initiateur  de  la 
pensee  mod.  40/165.  —  Eckhardt, 
Remy  Belleau  40/292.  —  Rochette, 
L'esprit  dans  les  oeuvres  pootiques 
de  V.  Hugo  32/193.  —  "Walter,  Hon. 
de  Balzacs  Roman  La  peau  de  cha- 
grin  32/196.  —  Bernheim,  Balzac  und 
Swedenborg.  Einfluß  der  Mystik 
Swed.s  und  Saint-Martins  auf  die 
Romandichtg.  Balzacs  34/441.  — 
Blossom,  La  composition  de  Sa- 
lammbö  d'apres  la  correspondance  de 
Flaubert  35/211.  —  Coleman,  Flau- 
bert's  literary  development  in  the  light 
of  his  Memoires  d'un  fou,  Novcmbre, 
and  Education  sentimentale  35/211.  — 
Fay  and  Coleman,  Sources  and  struc- 
ture   of  Flaubert's  Salammbo  35/211. 

—  Jakob,  L'illusion  et  la  desillusion 
dans  le  roman  real.  frgs.  (1851—90) 
32/212.  —  P.  Michaelis,  Philosophie 
und  Dichtung  bei  E.  Renan  34/441. 

—  Lemm,  Zur  Entstehungsgesch.  von 
Zolas  Rougon-Macqiiart  und  den  Qua- 
tre  evangiles  34/440.  —  Turquet-Mil- 
nes,  Influence  of  Baudelaire  in  France 
and  Engl.  32/450.  —  Fach,  Die  Natur- 
schilderung bei  Ch.  Nodier  32/196. 

Herzfeld,  A.  IV.  Schlegel  in  seinen 
Bexiehungen  xu  engl.  Dichtern  und 
Kritikern  39/149.  —  Th.  Rüssel,  ein 
früher  Vermittler  dtschr.  Lit.  in 
Engld.  36/153.  —  Willoughby,  Sam. 
Naylor  and  'Reynard  the  fox'  35/197. 

Heusler,  Axel  Olrik  36/1.  —  Vor- 
schläge ximi  Hildebrandslied  37/1. 

Heynen,  Gottfr.  Kellers  Leben, 
Briefe  und  Tagebücher.  Auf  Grund 
der  Biogr.  J  Baechtolds  dargest.  und 
hg.  von  E.  Ermatinger  35/190.  — 
G.  Kellers  Leben,  Briefe  und  Tage- 
bücher, hg.  von  E.  Ermatinger.  3.  Bd. 
38/240. 

Hilka,  Pelizaeus,  Beitr.  zur  Gesch. 
der  Legende  vom  Judenknaben  33/187. 

—  Zur  Katharinenlegende :  Die  Quelle 


der  Jiigendgesch.  Katharinas,  insbe- 
sondere in  der  mittelniederdtsch.  Dich- 
tung und  in  der  mittelnieder länd. 
Prosa  40/171.  —  Paul,  Ulr.  v.  Eschen- 
bach und  seine  Alexandreis  36/319. 

—  Die  afrz.  Prosaversion  der  Alexius- 
legende,  kritisch  hg.  von  E.  Lutsch 
33/191.  —  Zu  Ooufre  de  Satenie  40/130. 

—  Alis  d.  Nachlaß  von  Wend.  Foerster: 
1.  Carmen  Rotolandi.  2.  Identität  des 
Beneoit  des  Trojaromans  und  der 
Reitnchron.  —  Kachruf:  W.  Foerster 
zum  Oedächtnis  35/121.  —  Zum  Cres- 
cetitiastoff  33/135.  —  Ein  neuer .  Text 
der  Florentiasage  33/151.  —  Lehmann, 
Vom  Mittelalter  und  von  der  lat. 
Philol.  des  Mittelalters  35/439.  — 
Reinholdt,  Wundergeschn.  des  Cod. 
Pal.  germ.  118  39/261. 

H  0  f  e  r ,  Rabelais :  Krit.  Darstellung 
der  mod.  Rabelais-Forschung  und  ihrer 
Probleme  32/103,  352,  33/97. 

Holthausen,  Dieae. Beda- Glossen 
36/290.  —  Ein  me.  Hymnus  auf  Maria 
imd  Christus  tmd  seine  kymr.  Um- 
schrift 40/38.  —  Smollett  und  J.  Paul 
35/402. 

Hörn,  Zur  engl.  Wortgesch.  38/62. 

—  Zur  ae.  Wortgesch.  40/106.  —  Das 
Komische  in  Shakesp.s  Tragödien  und 
die  Maler  Reynolds  und  Hogarth 
37/159.  —  Der  Kirchenschlaf  bei ' Steift 
und  Hogarth  37/68.  —  Thomson  und 
Oainsbo7-oughii8/6b.  —  George  Qissing 
aber  das  dichterische  Schaffen  37/25. 

Hüb n er  A.,  A.  Becker,  Sprache 
Friedrichs  v.  Spee  32/182.  —  Juethe, 
Der  Minnesänger  Hiltbolt  v.  Schwan- 
gau 32/423. 

Jaberg,  Emil  Frey7nondf  37/218. 

—  Sprache  als  Äußerung  und  Sprache 
als  Mitteilung  36/84.  —  Gamillscheg 
und  Spitzer,  Bezeichnungen  der  Klette 
im  Gallorom.  39/110.  —  Stipp,  Die 
Benennungen  des  Jahres  und  seiner 
Teile  auf  dem  Boden  des  heutigen 
Frankr.  32/227.  —  Thoru,  Sartre- 
Tailleur,  Etüde  de  lexicologie  et  de 
geogr.  linguistique  32/416.  —  Dede- 
rlch.  Die  lexikograph.  Eigentümlich- 
keiten des  Frankoprovenzal.  nach  dem 
Atlas  ling.  de  la  France  32/216. 

Jarnik,  Ion  Creangä's  Harap  Alb, 
hg.,  übers,  und  erläut.  von  C.  Wei- 
gand  35/219.  —  Zur  Interpretat.  von 
I.  Creangä's  H.  A.  37/51,  38/207, 
39/198. 


Register  zu  Archiv  Btond  131 — 140 


19 


Jensen,  Strohmeyer,  Frz.  Unter- 
richtswerk 38/134. 

Jiriczek,  Zur  Textgesrh.  von  Mac- 
jihersons  Fragments  36/151.  —  Orka- 
dische  Zauberlieder  36/150. 

Jordan ,  Festschr.  für  L.  Morsbach, 
redig.  von  Holthausen  u.  Spies  32/429. 

—  Spira,  Die  engl.  Lautentwicklung 
nach  frz.  Grammatiker -Zeugnissen 
31/186.  —  Mitteilungen  u.  Abhandlgn. 
aus  dem  Gebiet  der  rom.  Philol.,  ver- 
öffentl.  vom  Seminar  für  rom.  Spr. 
und  Kultur,  Hamburg,  Bd.  III  36/190. 

—  Nitze,  The  sister's  son  and  the 
Conte  del  Graal  33/218.  —  Farnsworth, 
Uncle  and  nephew  in  the  old  French 
chans.  de  geste  33/218.  —  Die  Pariser 
'Pucelle'  32/146.  —  Erwähnung  Vinc. 
Voitures  in  seiner  Eige^isch.  als  In- 
troducteur   des  ambassadeiirs  36/170. 

—  Cyr.  Bergerac  wid  MontaignedößSö. 

—  Frage  der  Echtheit  voji  Cyr.  Ber- 
geracs  'Sonnenreise' .  —  'Sonnenreise' 
und  'Essays'  von  Montaigne  38/188, 
39/72.  —  Xeue  Cyr.-Lit.  33/417.  — 
Ein  xeitgen.  Ms.  der  Reflexions  sur 
le  bonheur  der  Marquise  du  Chätelet 
33/115.  —  Die  Münchener  Voltaire- 
Hss.  31/347.  —    Voltairiana  32/408. 

Kaulfuß-Diesch,  Untersuchungen 
über  das  Drama  der  Jesuiten  im  17. 
Jhdt.  31/1. 

Keller,  Codice  Vercellese  con 
omelie  e  poesie  in  lingua  anglosassone, 
con  introd.  del  Prof.  Dott.  Foerster 
39/233.  —  Macpherson's  Fragments 
-}f  ancient  poetry.  In  diplom.  Neudr. 
mit  den  Lesarten  der  Umarbeitungen 
hg.  von  Jiriczek  36/186. 

Keese,  Siebs,  Herm.  Allmers,  sein 
Leben  und  Dichten  34/164. 

Kindermann,  Suchier,  Dr.  Chr. 
Phil.  Hoester  40/145. 

K 1  a  e b  e  r ,  Das  Orändelsmoor  —  eine 
Frage  31/427. 

K 1  e  i  nW.,Albrecht,  Der  Sprach  gebr. 
des  Dialektdichters  Ch.  E.  Benham  zu 
Colchester  36/182. 

Klemperer,  Zum  Verhältnis  von 
Sprachtvissensch.  und  Völkerpsycho- 
logie 40/125.  —  Curtius,  Die  literar. 
Wegbereiter  des  neuen  Frankreich 
39/256. 

K  o  e  p  p  e  1 ,  Aristoteles,  Broivning 
und  Bjbrnson  31/164.  —  Zu  'Amor 
und  Psyche'  in  England  31/161.  — 
Chaucer  and  his  poetry.  Lectures  deli- 


vered  in  1914  by  G.  L.  Kittredge 
34/175.    —    Oeorgian   poetry  31/315. 

—  Zur  Byron-Biogr.  31/163. 
Kolsen,   Wilh.  v.  la  Tor,   Qes  eil 

que-s  blasmon  d'Amor  33/156.  —  W. 
V.  la  Tor,  Canson  ab  gais  motz  36/166. 

—  D.  Trobador  Pistoleta,  hg.  von 
E.  Niestroy;  d.  Trob.  G.  Magret,  hg. 
von  F.  Naudieth  34/424.  —  Bergeret, 
Die  von  den  Trobadors  genannten 
oder  gefeierten  Damen  35/206.  — 
Randnoten  xu  E.  Levys  provenxal. 
Wörterbüchern  (1—8)  39/87. 

Konrath,  Eine  ae.  Vision  vom 
Jenseits  39/30. 

Körnchen,  Schölte,  Probleme  der 
Grimmeishausenforschung   I.   31/176. 

Körner,  Zu  A.  W.  Schlegels  Brief- 
wechsel  mit  Chr.  Lassen  36/149. 

Krüger  Fritz,  Textes  catalans 
avec  leur  transcript.  phonet.  par  A. 
Pereira  38/273.  —  de  Lamano  y  Be- 
neite,  El  dialecto  vulgär  salmantino 
37/263.  —  G.  de  Diego,  Elementos  de 
gram,  histör.  castellana  40/159. 

Küchler,  Koehler,  Der  Dandyis- 
mus im  frz.  Roman  des  19.  Jhdts. 
.32/198. 

Kügler,  Ansprache  am  Shakesp.- 
Tag  im  Dtschn.  Theater  xu  Berlin  1919 
39/85. 

Lawrence,  Restoration  stage  nur- 
series  32/301. 

L  e  d  e  r  e  r ,  Dia  log-Elemen  te  des  Iff- 
Jandschen  Dramas  38/1.  —  Zeitgen. 
Urteile  über  Ifflatid  33/300. 

Leitzmann,  Goethes  älteste  Ge- 
dichtsammlung 40,  Dtsch.  Sonder- 
heft 75.  —  Zic  Schillers  dram.  Nach- 
laß 34/127.  —  Zu  R.  Hayms  Biogr. 
W.  V.  Hmnboldts  33/401.  —  Briefe 
G.  Forsters  35/266.  —  Im  polnischen 
Exil.  Briefe  von  Ther.  Forster  an  ihre 
Stiefmutter  33/268.  —  Bemerkungen 
xu  Oalfr.  V.  2Ionmouth  34/373. 

Lemm,  Aus  der  Chartier-Hs.  des 
Kgl.  Kupferstichkabinetts  xu  Berlin 
32/131.  —  Das  Ms.  des  Kardinals  de 
Rohan  32/151. 

Lerch,  Spitzer,  Anti-Chamberlain. 
Betrachtungen  eines  Linguisten  über 
H.  St.  Chamb.s  'Kriegsaufsätze'  und 
die  Sprachbewertungimallgem. 40/167. 

—  Spitzer,  Fremdwörterhatz  u.  Frerad- 
völkerhaß  40/168.  —  Spitzer,  Aufsätze 
zur  rom.  Syntax  und  Stilistik  40/282. 

—  Spitzer,  Über  einige  Wörter  der 

3* 


20 


Register  zu  Archiv  Band  131—140 


Liebessprache  40/167.  —  Arnholdt, 
Stellung  des  attribut.  Adj.  im  Ital. 
und  Span.  39/242. 

Levinstein,  G.  Forsters  Tage- 
bücher. Hg.  von  P.  Zincke  und  A, 
Leitzmann  34/419.  —  Waiblinger,  Liebe 
und  Haß,  ungedr.  Trauerspiel.  Nach 
dem  Ms.  hg.  von  A.  Fauconnet  34/417. 

—  Kersten,  Voltaires  Henriade  in  der 
dtschn.   Kritik    vor   Lessing    34/421. 

—  Chr.  Weises  Dramen  'Regenerus' 
und  'Ulvida'  nebst  einer  Abhandig. 
zur  dtschn.  und  schwed.  Lit.-Gesch. 
hg.  von  W.  V.  Unwerth  33/437. 

L e  V y  t,  Bemerkungen  zu  Oavaudan, 
ed.  Jeanroy  35 '3  74.  —  Ziim  Texte  von 
HobysAusg.  des  O.  d' EspanhaS8/100. — 
Strempel,  G.  de  Salinhac,  ein  prov. 
Trobador  38/265.  —  Sutorius,  Le  debat 
prov.  de  l'äme  et  du  corps  37/256. 

—  Zu  Pistoleta,  ed.  Niestroy  und  0. 
Maqret,  ed.  Naudieth  36/156.  —  Zu 
G.Bertoni,  'Itrovatorid'Italia'  40/109. 

Lewent,  Bertr.  v.  Born,  hg.  von 
A.  Stimming2  33/215.  —  Zu  Potts  v. 
Caioduelh  40/263. 

Liebermann,  Die  dtsche.  Volks- 
seele in  britischem  Urfeil  37/222.  — 
Keynes,  The  economic  consequences 
of  the  peace  40/148,  —  Vorahnung 
von  Flugxeug  imd  U-Boot  39;87.  — 
Zum  Urkundenwesen  bei  den  Angel- 
sachsen 31/153.  —  Mancus  als  Oold- 
ynünxe  31/153.  —  Englands  Dichtung 
und  Spr.  im  Weltkrieg  37/221.  — 
Tönnies,  Der  engl.  Staat  und  der 
dtsche.  Staat  38/249.  —  Born,  Die 
engl.  Ereignisse  der  Jahre  1685—90 
im  Lichte  der  gleichzeit.  Flugschriften- 
lit.  Deutschlands  40/271.  —  Engl. 
Volksspiele  vi  derJohan  tiistia cht3 1  /429 . 

—  Zwischenspiele  für  Edward,  II. 
40/262.  —  Zu  Liedrefrain  und  Tanx 
im  engl.  Mittelalter  40/261.  —  Zur 
Qesch.  der  engl.  Personemiamen  im 
13.—16.Jhdt.  31/154.  —  Southamptons 
ältester  Name  33/133.  —  Zum  Ver- 
schwinden ags.  Buckstaben  aus  dem 
me.  Alphabet  31/428.  —  Shute  me.: 
'Lastschiff  40/263.  —  Ags.  Urkunden 
1085—1117  33/133.  —  P.  Lehmann, 
Wert  und  Echtheit  einer  Beda  abge- 
sprochenen Schrift  40/269.  —  Ein 
staatsrechtl.  Satz  ^Ifrics  aus  lat. 
Quelle  39/84.  —  Emendation  xu  War- 
fer ä  31/153.  —  Rolle's  Meditatio  de 
passione   Domini    according   to   Ms. 


Uppsala  C  494  39/235.  —  Zu  Chaucers 
Stellung  in  Ilofämtern  40/261.  —  Zu 
Thom.  Occleve  40/261.  —  Weltliches 
Theater  in  der  Kirche  31/429.  —  Vor- 
rang rechter  Seite  31/153.  —  P.  Leh- 
mann, Aufgaben  und  Anregungen  der 
lat.  Philog.  des  Mittelalters  39/259. 

Lindau,  Walzel,  Hebbelprobleme 
33/183. 

Lion,  Der  erste  Psalm,  in  nieder- 
länd.  Dichtung  vom  Jahre  1740  40/252. 

Loewenthal,  Von  Ooethe  über 
Heine  xu  V.  Hugo  39/227. 

Loge  man,  TheM.-E.  West  Minster 
prose  psalter,  Ps.  90, 10  34/132. 

Lohre,  P.  Geiger,  Volksliedinter- 
esse und  Volksliedforschung  in  der 
Schweiz  33/181.  —  Heilmann,  Mörikes 
Lyrik  und  das  Volkslied  34/416. 

Lommatzsch,  Savaric  v.  Mauleon 
und  O.  Keller  34/384.  —  Ne  vache  ne 
z;ee// 31/437.  —  Zu  afrx.flori  =  weiß 
35/170.  —  Zum  Ritterbraueh  des 
Prahlens  34/114. 

Long,  The  name  'Shepherd's  cii- 
lendar'  31/429. 

Lop el mann,  La  Gazette  de  1609,  | 
reimpression  textuelle  avec  une  notice  l 
par  L.  Leviot  33/213.  I 

Lösch  hörn,  Zincke,  G.  Forster 
nach  seinen  Orig.-Briefen  35/432.  — 
Köhler,  Die  Lyrik  M.  v.  Schenken- 
dorfs 35/188. 

Lubinski,  Die  Lieder  Raouls 
V.  Soissons,  hg.  von  E.  Winkler  33/472. 

Lüdeke,  Tiecks  Shakesp.-Buch 
39/210. 

Ludwig  A.,  Homunculi  und  An- 
droiden  37/137,  38/141,  39/1.  —  Schle- 
mihle  40,  Dtsch.  Sonderh.  95.  —  R. 
M.  Meyer,  Die  Dtsche.  Lit.  bis  zum 
Beginn  des  19.  Jhdts.,  hg.  von  0.  Pni- 
ower  36/173.  —  Münnig,  Calderon  und 
die  ältere  dtsche.   Romantik   31/459. 

—  Kuberka,  Der  Idealismus  Schillers 
als  Erlebnis  und  Lehre  31/177.  — 
Basch,  Poetiques  de  Schiller^^  31/177. 

—  Gundolf,  Goethe  39/228.  —  Keller, 
Goethe's  estimate  of  the  Greek  and 
Lat.  writers  as  revealed  by  his  works, 
letters,  diaries  and  conversations 
39/232.  —  Leitzmann,  W.  v.  Hum- 
boldt 40/267.  —  Brie,  Imperialistische 
Strömungen  in  der  engl.  Lit.  36/317. 

—  Gälvez,  Guevara  in  Engld.  38/244. 

—  Hei.  Richter,  Gesch.  der  engl.  Ro- 
mantik 36/31 5. — Dibelius,  Ch.  Dickens 


Register  zii  Archiv  Band  181 — 140 


21 


35/199.  —  Depken,  Sherl.  Holmes, 
Raffles  und  ihre  Vorbilder  35/202.  — 
Bennet,  The  truth  about  au  author 
40/275.  —  Watson,  The  Excelsior 
40/275.  —  C.  N.  and  A.  M.  Williana- 
son,  The  wedding  day  40/275.  — 
Allard,  Friedr.  der  Gr.  in  der  Lit. 
Frankreichs  33/199. 

Mac  Cracken,  Lydgatiana  31/40. 

Mangoldf,  Krieger,  Friedr.  d.  Gr. 
und  seine  Bücher  34  413. 

Mayue,  W.  Schulze,  G.  Schwab 
als  Balladendichter  34/413. 

Meyer  R. M.,  Enders,  Fr.  Schlegel 
31/457. 

Miuckwitz,  Arbaud,  Lou  Lausie 
d'Arle.  Pouemo  33/223. 

Mo  es  tue,  Kritisches  xu  Uhlands 
Brieftoechscl  und  Tagebuch  38/221.  — 
Neue  krit.  Bemerlcuiigen  xu  TJhl.s 
Briefw.  U7xd  Taget.  40/251. 

Moore,  Notes  on  the  0.  E.' Christ' 
31/311. 

Morel,  Heiß,  Balzac  33/195.  — 
Dupouy,  France  et  AUemagne,  lit. 
comparees  33/192. 

M  u  g  i  c  a ,  Toro-Gisbert,  Americanis- 
mos  31/231. 

'iS.Vil  Qxit, Hur  can  von  der  Helim  1211. 

Müller  B.  A.,  Straßburger  Lokal- 
kolorit i?i  Frischlins  'Jul.  redivivns' 
35/1. 

Mutschmann,  Sixtus,  Sprachgebr. 
des  Dialekt-Schriftstellers  Frank  Eo- 
binson  31/181. 

Nedwed,  Die  linguist.  Exkursion 
des  Züricher  rom.  Seminars  32/411. 

Neubert,  Reuel,  Maupassant  als 
Physiognomiker  37/94. 

Neuendorff,  Nachklänge  des  nuß- 
hraunen  Mädchens  32/139. 

Neu  haus,  Metoula  -  Sprachführer : 
Dänisch,  Norweg.  und  Schwed.  33/448. 

Nickel,  Schneider,  Zur  Ausgestal- 
tung der  dtschn.  Sprache  34/150.  — 
Seiler,  Entwicklung  der  dtschn.  Kultur 
im  Spiegel  des  dtschn.  Lehnworts 
34/150.  —  Riesenfeld,  H.  v.  Ofter- 
dingen  in  der  dtschn.  Lit.  34/149. 

N  0 1 1 ,  Aucassin  und  Nicolette.  Dtsch. 
von  F.  V.  Oppcln-Bronikowski  32/193. 
—  E.  Henriot,  A  quoi  revent  les 
jeunes  gens  32/200. 

Olivero,  On  the  poems  of  S.  H. 
Whitman  32/78. 

Ott,  Sternberg,  Das  Tragische  in 
den  char.3.  de  geste  36/205. 


P  a r i  s  e  1 1  e ,  Wulff,  Die  f rauenf eindl. 
Dichtungen  in  den  rom.  Literaturen 
des  Mittelalters  bis  zum  Ende  des 
13.  Jhdts.  33/312.  —  Schinz,  Les  ac- 
cents  dans  l'ecriture  frgse.  33/212.  — 
Gillot  und  Krüger,  Diction.  System, 
f  r^s.-allemand  l.Bd.,  1.— 2.  Abt.  31/230. 

—  Herrig  und  Burguy,  France  lit. 
remanioe  par  Bomecque  32/202. 

Petsch,  Landau,  Hebrew-Germ. 
romances  and  tales  and  thcir  relation 
to  the  romantic  lit.  of  the  Middle- 
Ages.  Parti.  Ar thurian  legends 32/175. 

—  Heusler,  Deutscher  und  antiker 
Vers  37/234.  —  Stoltenberg,  Bindung 
der  dtschn.  Rede  37/234.  —  Nagl, 
Zeidler  und  Castle,  Dlsch.-öster.  Lit- 
Gesch.  36/302.  —  Koschmieder,  Her- 
ders theoret.  Stellung  zum  Drama 
31/448.  —  Berresheim,  Schiller  als 
Herausg.  der  Rhein.  Thalia,  Thalia 
und  Neuen  Thalia  und  seine  Mitarbeiter 
35/184.  —  Huch,  Wallenstein.  Eine 
Charakterstudie  35/184.  —  Leitzmann, 
Hauptquellen  zu  Schillers  Wallenst. 
35/184.  —  Seiffert,  Schillers  Musen- 
almanach 35/184.— Behme,  H.v.  Kleist 
und  Ch.  M.  Wieland  33/435.  —  Leh- 
mann-Nitsche,  Adivinanzas  Riopla- 
tenses  34/189. 

P  f  a  n  d  1 ,  Ein  Wort  xur  Auffassung 
des  Begriffs  'Lit.-  Wissetischaft'  37/223. 

—  Zur  Bibliogr.  des  voyar/es  en  Es- 
pagne  33/413,  34/143,  35/175.  —  2^.r 
span.-dtschn.  Ortsnamerikunde  des 
Mittelalters  34/380.  —  Schwartz,  A. 
W.  Schlegels  Verhältnis  zur  span.  und 
portug.  Lit.  35/450.  —  El  sacrificio 
de  la  Misa  por  G.  de  Berceo.  Ed.  de 
A.  G.  Solalinde  34/185.  —  Der  'Dia- 
logo de  Mugeres'  ton  1544  und  seine 
Bedeutung  für  die  Castillejo-Forsckung 
40/72.  —  v.  Faulhaber,  Calderon,  die 
Meistersänger  der  Bibel  in  der  Welt- 
lit.  Vortrag  36/207. 

P  h  e  1  p  s ,  Father  Parsons  in  Shake- 
speare 33/66. 

Pillet,  Weil,  Sprache  des  G.  de 
Chin  von  Gauth.  de  Tournay  39/106. 

—  Spanner,  Die  Ironie  im  äfrz.  Na- 
tionalepos 35/443.  —  Stiefel,  Die  ital. 
Tenzonc  des  13.  Jahrhunderts  und  ihr 
Verhältnis  zur  provenzal.  Tenzone 
38/267. 

Plenio,  Über  die  sog.  Dreiteilig- 
keit loid  Ziceiteitigkeit  in  der  mhd. 
Strophik  36/16. 


Register  zu  Archiv  Band  131—140 


P  ü  k  0  r  n y ,  Windisch,  Das  keltische 
Britannien  bis  zu  Kaiser  Arthur 
32/431. 

Polack,  Zur  Gesch.  'der  ei-I)iph- 
thonge  im  Provenxal.  37/210. 

Rehbach,  Segal,  Bern.  Shaw,  a 
study  36/187, 

R  i  c  h  e  r  t ,  Aus  dem  Briefwechsel  der 
Brüder  Grimm  mit  Romanisten  und 
Schriftstellern  34/339,  35/320,  38/73. 

Rieht  er  Elise,  Merk,  Anschauungen 
über  die  Lehre  und  das  Leben  der 
Kirche  im    afrz.   Heldenepos  35/205. 

—  Lorck,  Passe  def.,  imparf.,  passe 
indef.  34/209.  —  Studie  über  das 
■neueste  Frx.  35/348,  36/124,  269. 

Richter  W.,  Schröder,  Zwei  alt- 
dtsche.  Schwanke:  Die  böse  Frau, 
Der  Weinschwelg  34/156.  —  Getzhuhu, 
Untersuchungen  zum  Sprachgebr.  und 
Wortschatz  der  Klage  38/237.  — 
Maußer,  Dtsche.  Soldatenspr.  38/241. 

—  Symons,  KudrunS  34/154.  —  G. 
di  Leesthal,  Stud.  über  Veldekes 
Eneide  34/155.  —  Hempel,  Kunst 
Friedrichs  von  Logau  38/237.  —  K. 
Ludwig,  Untersuchungen  zur  Chro- 
nologie Albrechts  von  Halberstadt 
35/180.  —  Baldinger,  G.  Herwegh, 
Gedankenwelt  der  'Gedichte  eines 
Lebendigen'  38/239.  —  Chr.  Weises 
nordische  Dramen  'Begenerus'  und 
'Ulvilda'  34/245. 

Riemann,  H.  A.Krüger,  Der  junge 
Raabe  33/446. 

R  ö  h  m  e  r ,  Dannheißer,England  past 
and  present.  Engl.  Lese-  und  Realien- 
buch für  höh.  Schulen  33/462. 

Rosenberg,  Goethes  'Braut  von 
Corinth'  in  Frankreich  39/179. 

Rubel,  Voßlcr,  Frankreic;iS  Kultur 
im  Spiegel  seiner  Sprachentwicklg. 
Gesch.  der  frz.  Schriftspr.  von  den 
Anfängen  bis  zurklass.  Neuzeit  31/220. 

—  Herzog,  Histor.  Sprachlehre  des 
Neufrz.  31/223.  —  Vulgärlat.  In- 
schriften, hg.  von  Diehl  31/478. 

Sakmann,  Price,  Symbolism  of 
Voltaire's  novels  with  special  refe- 
rence  to  Zadig  31/218,  —  v.  Voß, 
Diderots  Moralphilosophie  32/442.  — 
Marcel,  Le  frere  de  Diderot  32/444. 

—  v.Roretz,  Diderots  Weltanschauung, 
ihre  Voraussetzungen  iind  Leitmotive 
82/445. 

Schacht,  Grabbes  Werke  von  Spir. 
Wukadmovic  32/419. 


Schirmer,  Ste?i(lhal  mid  Deutsch- 
land 33/158. 

Schmidt  K.,  Fay,  Elliptical  parti- 
tive  usage  in  affirmative  clauses  in 
French  prose  of  the  litt,  I5th^  and 
16th  centuries  33/211.  —  Gohin,  La 
langue  frgse.  33/470. 

Schneider,  Singer,  Lit-Gesch.  der 
deutschen  Schweiz  im  Mittelalter 
40/146. 

Schöffler,  Der  Pflanxenname 
•  Waldmeister'  im  Me.  und  IS'Äc?. 36/234. 

S  e  h  u  1  z  e ,  Zm  Halls  Satiren  31/430, 

Schultz,  Erich  Schmidt  31/273, 

Schultz-Gora,  Seifert,  Zur  Ent- 
wicklung der  Proparoxytona  auf  -ite, 
-ita,  -itu  im  Gallorom.  40/164.  —  Zum 
Geschlecht  von  afrz.  ost  34/139.  — 
Afrx.  bourghes,  obl.  bourghet  40/264. 
—  Afrx.  estre  dou  mains  38/232.  — 
Zum  afrx.  Subst.  berserex  35/415.  — 
Afrx.  viatis <v'ilis  35/171.  —  Afrx.  a 
Chief  de  foix  36/169.  —  Afrz.  c'est  la 
somme  35.411.  —  Walberg,  Quelques 
remarques  sur  l'ancien  frgs.  'ne  gar- 
der Teure  que  . . .'  39/116.  —  En 
somet  (Karlsreise  V.  607)  37/75.  — 
Par  impossible  38/113.  —  Eine  Stelle 
im  Placidas-Eustachius  (V.  278) 
34/146.  —  Zum  'Pkmrh'  des  Bertr. 
Carbonel  39/225.  —  Zum  Texte  des 
Yderromans  37/229.  —  Hoffmann, 
R.  de  la  Piere,  R.  le  Clerc,  R.  de 
Castel.  Zur  Arrascr  Lit.-Gesch.  des 
13.  Jhdts.  37/92.  —  Ein  Jeu-parti 
zwischen  MaistreJehan  undJeh.  Bretel 
36/292.  —  Voßler,  La  Fontaine  und 
sein  Fabelwerk  40/294.  —  Aprov. 
marvcs  33/411.  —  Ein  prov.  Sprich- 
ivort  39/222.  —  Bern.  v.  Ventadorn. 
Seine  Lieder  mit  Einl.  hg.  von  C. 
Appel  36/322.  —  Der  Trobador  Ca- 
denet,  hg.  von  C.  Appel  40/288.  — 
Die  Lieder  des  Trobador  G.  d'Espanha. 
Hg.  von  0.  Roby  34/431.  —  Bertoni, 
I  trovatori  d'Italia  34/194. 

Schwarz,  Vom  Pradler  Bauern- 
theafer  40/254. 

Schwennhagen,  Verhältnis  der 
'Ecole  des  77iaris'  xu  Mendoxas  'El 
marido  hace  muger'  31/166. 

Seifert  Eva,  Lehre  vom  Akzent  in 
den  gallorom.  Mundarten  34/387. 

Sisam,  Epenthesis  in  the  consonnnt 
groups  sl,  sm  31/305. 

Sonntag,  Smith,  Liter,  criticism 
of  P.  Bayle  31/215. 


Register  zu  Archiv  Band  131—140 


23 


Speyer,  Die  dtschn.  Kaiser  in  der 
Dichtung  C.  F.  Meyers  33/45. 

Spitzer  ,Nochmals  mimdartl.-dtsch. 
■Schlamassel',   'seklamastfik)'    38/234. 

—  Gamillscheg,  Stud.  zur  Vorgesch. 
einer  rora.  Tempuslehre  31/466.  — 
Katal.  'tramitar'  weitergeben,  Hrämit' 
Instanx,  span.  Hrdmite'  Instanxenweg 
36/162.  —  Zum  REW  Nr.  1117: 
birrits  'rot'  37/74.  —  Zum  REW 
Xr.  9544a:  Wlnald  36/163.  —  Afrx. 
daser,  daserie,  dasion  36/165.  —  Frx. 
fleurs  =  fluores?  39/89.  —  Zu  frx. 
Omelette  Eierkuchen  38/110.  —  Frx. 
printemps,  ital.  primavera  35/417.  — 
Frx.  allons  donc!  33/147.  —  Lerch, 
Prädikative  Partiz.  für  Verbalsubst. 
im  Frz.  31/225.  —  Soltmann,  Svntax 
der  Modi  im  Frz.  33/203.  —  Beutler, 
Wortschatz  in  Edm.  ßostands  Dramen 
33/477.  —  Nachträge  xu  meinem  Ar- 
tikel über  ital.  cosi  {Archiv  30/335  ff.) 
32/149.  —  Nochmals  ital.ghetto  40,265. 

—  Ital.  taranai,  tananai  'Wirnvarr, 
Lärm  36/164.  —  Ital.  laxxaretto 
'Krankenhaus'  37/225.  —  Kors.  ghjam- 
berluecu,  jam-'tonto,  dappoco'  38/109; 
Berichtigung  daxu  39/97.  —  Altspan. 
deeir,  ptg.  descer  'herabsteigen'  36/296. 

—  Altspan,  curiar  'schütten'  35/420. 

—  Über  span.  que  32/375.  —  Zu 
span.  xara  'Mais'  36/165.  —  Rum. 
gruiu  (grunu)  'Hügel'  34/138. 

Stammler,  Schwaller,  Untersuch, 
zu  den  Dramen  W.  Spangenbergs 
33/439.  —  Zu7n  Fortleben  des  antiken 
Theaters  i?n  Mittelalter  36/285.  — 
Claudius  und  Gerstenberg  40,  Dtsch. 
Sonderh.  21. 

Steig,  Über  Orimms  'Dtsche.  Sagen' 
85/47,  225. 

Sternberg  Theodor,  Die  kom.Ele- 
mente  der  afrz.  chans.  de  geste  33/468. 

Stettner,  Wolframs  Wappen  in 
den  Manessischen  Hss.  37/65. 

S  t  i  m  m  i  n  g ,  ZuBertr.  de  5om34/101 . 

Stoltenberg,  Nebentonstärken. 
Eigene  Lehre  und  ihre  Stellung  xu 
Behn,  Der  dtsche.  Rhythmus  49,  Dtsch. 
Sonderh.  136. 

Stop  es,  The  debt  the  Engl,  stage 
oii-es  to  the  Burbages  31/155. 

Strohmeyer  F.,  Haas,  Frz.  Syn- 
tax 38/256.  —  Oetken,  Der  Modus  des 
Objektsatzes  im  Frz.  32/207. 

Suchier  Walther,  Münzbezeich- 
nungen in   der  afrz.   Lit.   36/188.  — 


Trunzer,  Die  Syntax  des  Verbuma  bei 
G.  de  Deguileville  35/442.  —  Lom- 
matzsch,  Gautier  de  Coincv  als  Sati- 
riker 33/471. 

Suchier  Wolf r.,  Zu  Aucassin  und 
Nicolette  in  Deutschland  35/403.  — 
Seyffert,  Schillers  Musenalmanache 
33/431. 

Swaen,  Fair  Margaret  and  Sweet 
William  36/40.  —  Entirely,  wholly, 
largely,  frankly  34/48.  —  Note  on  the 
A.-S.   Indicia   monasterialia   40/106. 

T  an  gl.  Fr  ühags.  Doppelformen  von 
Eigennamen  35/399. 

Tapp  ölet,  Ursachen  und  Wort- 
reichtum bei  den  Tiernamen  der  frx. 
Schiceix  31/81. 

Tavernier,  Bedier,  Les  legendes 
epiques.  Recherches  sur  la  formation 
des  chans.  de  geste  31/187. 

Thelemann,  Dictys  als  Miiquelle 
von  Shakesp.s  Troilus  33/91. 

Thorn,  Kaufmann,  Die  gallorom. 
Bezeichnungen  für  den  Begriff  Wald 
32/204.  —  Qualche  parola  sui  verbi 
denominativi  deW italiano  31/440. 

Thurau,  Marg.  Förster,  Die  frz. 
Psalmenübersetzungen  vom  12.  bis  zum 
Ende  des  18.  Jhdts.  35/444. 

Tilley,  Notes  on  'Twelfth  nigM 
34/133. 

Titkin,  Frx.  cureeund  Verwandtes 
33/120. 

T  0 b  1  er  Rud.,  Ad.  Tobler  xum  Krieg 
1870  33/175. 

Trent,  Germany  33/265.  —  Au- 
stria-Hungary  33  266. 

Tuttle,   Romanic  *akwia  33/170. 

—  'Sapia'  in  western  Romanic  33/409. 

—  Romanic  notes  33/167. 
Ullrich,    Zu   Herders    'Ideen    xur 

Philosophie  der  Gesch.'  36/284. 

Viereck,  The  iron  chancellor S4ll. 

Voretzsch,  Alter  und  Entstehung 
der  frx.  Heldendichtung  34/294. 

Voßler,  Mazzucchetti,  A-W.  Schle- 
gel und  die  ital.  Lit.  37/98. 

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Dichtungen  aus  dem  Nachlaß  H.  W. 
Gerstenbergs  34/3,   35/11,  36/24,  209. 

Wagner  M.  L  ,  Das  Sardische  im, 
Rom.  etymol.  Wörterb.  von  Meyer- 
Lübke  34/309,  35/103,  40/240.  —  Lat. 
fundihuliün>*fioiibulum  und  inte- 
st inaoistetitinac  39/96.  —  Altprov. 
lieis  39/94.  —  Südital.  kandkka  37/226. 

—  Der  mexikan.-sjjan.  Schelmenroman 


24 


Rearister  zu  Archiv  Baud  131 — 140 


'Periquillo  Sarniento'  des  Fern,  di  lA- 
mrdi  34/76. 

V.  Wartburg,  Henschel,  Zur 
Sprachgeographie  Südwestgalliens 
40/155.  —  Schönig,  Rom.  vorkonso- 
nantisches L  in  den  heutigen  frz. 
Mundarten  33/465.  —  Tappolet,  Die 
aleman.  Lehnwörter  in  den  Mundarten 
der  frz.  Schweiz  37/248. 

Weber,  Aus  dem  Lager  der  Ber- 
liner Romantik  40/185. 

Wies  e,Miltschinsky,Der  Ausdruck 
des  konzessiv.  Gedankens  in  den  alt- 
nordital.  Mundarten  38/136.  —  Federn, 
Dante  und  seine  Zeit2  35/213.  — 
Dantis  Alagherii  De  monarchia  li- 
bri  III.  39/120.  —  v.  d.  Schulenburg, 
Ein  neues  Porträt  Petrarcas  39/121. 

—  Schiffer,  Tassoni  in  Frankreich 
85/448.  —  Voßler,  Ital.  Lit.  der  Gegen- 
wart von  der  Romantik  zum  Futuris- 
mus 33/479.  —  Ital.  Lit.-Gesch.  36/327. 

Wildhagen,  Schröer,  Ne.  Aus- 
sprachewörterb.  mit  besond.  Berück- 
sichtigung der  wichtigsten  Eigennamen 
84/183.  —  Kolbe,  Die  Konjugation 
der  Lindisfarner  Evangelien    31/461. 

—  Zenke,  Synthesis  und  Analysis  des 
Verbums  im  Orrmulum  31/461.  — 
Brotanek,  Texte  und  Untersuchungen 
zur  ae.  Lit.-  und  Kirchengesch.  34/169. 

—  Förster,  Ae.  Lesebuch  für  An- 
fänger 34/167. 


Winkler,  Eine  mittelalterl. -kirch- 
liche Fassung  der  Sage  von  Hera  und 
Leander  32/405.  —  Ölschki,  Paris  nach 
den  afrz.  nationalen  Epen,  —  Der 
ideale  Mittelpunkt  Frankreichs  im 
Mittelalter  in  Wirklichkeit  und  Dich- 
tung 38/130.  —  Bertel,  Jules  de  Resse- 
guier  31/462. 

Wolff,  Th.  Schröder,  Die  dramat. 
Bearbeitungen  der  Don-Juan-Sage  in 
Spanien,  Italien  und  Frankr.  bis  auf 
Moliere  einschl  32/190.  —  Wechßler, 
Zum  Problem  des  Komischen  anläßl. 
Molieres  31/212.  —  Strich,  Liselotte 
und  Ludwig  XIV.  32/197.  —  Moliere 
und  della  Porta  34148.  —  Italienisches 
xum  Tartuffe  39/226.  —  Babbit,  The 
masters  of  French  mod.  criticism  33/201. 
—  Ariosts  Satiren  40/206. 

Zachrisson,  The  suffix  *-ingja  in 
Oermanic  names  33/348.  —  Luick, 
Histor.  Gram,  der  engl.  Sprache  1.  Bd. 
33/450.  —  To  Luick's  'Histor.  Oram.' 
34(378.  —  French  He'  for  Engl.  Hhe' 
35^69. 

Zenker,  Zwei  Quellen  von  Molieres 
Misanthrope  34/321,  35/148. 

Z i p  p  e  1 1.  Lasch,  Mittelniederdtsche. 
Gram.  33/430.  —  Zwei  angebliche  me. 
Interjektimien  34/131. 

Z  u  p  i  t  z  a ,  Jacob  und  seine  12  Söhne. 
Engl.  Verslegende,  hg.  von  A.  Brandt 
38/156. 


PB 

3 
A5 

^d. 139-1/0 


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der  neueren  Sprachen 


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