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Full text of "Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen"

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ARCHIV 


FÜR    DAS 


STUDIUM  DER  NEUEREN  SPRACHEN 
UND  LITERATUREN. 


HERAUSGEGEBEN 


LUDWIG      HERRIG. 


XIII.   JAHRGANG,   23.  BAND, 


BRAUNSCHWEIG, 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  G Eü UGE W E STE KM A N N. 
185  8. 


As 


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1. 


S 


Vorwort. 


Die  Hoffnungen,  welche  der  Herausgeber  bei  der  Gründung 
dieser  Zeitschrift  im  Jahre  1846  aussprach,  sind  ihrer  Erfüllung 
immer  näher  gekommen.  Die  neuern  Sprachen  dürfen  nicht 
mehr  als  ein  blosses  Anhängsel,  sondern  sie  müssen  als  ein  we- 
sentlicher Theil  in  dem  Organismus  des  Schulunterrichtes  behan- 
delt werden. 

Viele  haben  mit  Theilnahme  wahrgenommen,  dass  es  der 
Zeitschrift  in  den  letzten  zwölf  Jahren  gelungen  ist ,  die  so  leicht 
sich  zersplitternden  Kräfte  zu  sammeln  und  zur  Pflege  eines 
früher  höchst  vernachlässigten  wissenschaftlichen  (iebietes  zu 
vereinigen.  Gegenwärtig  tritt  die  Zeitschrift  in  ein  neues  Sta- 
dium. Durch  die  Bemühungen  ihrer  Mitarbeiter  ist  nämlich 
gegen  Ende  des  vorigen  Jahres  in  |Berlin  eine  „Gesellschaft  für 
das  Studium  der  neueren  Sprachen"  entstanden,  welche  sich  mit 
der  Grammatik,  Geschichte  und  Literatur  der  neueren  Sprachen 
beschäftigt  und  bezweckt ,  das  Studium   derselben  vom   wissen- 


schaftlichen  und  pädagogisch  -  didaktischen  Standpunkte  zu  för- 
dern. Die  Gesellschaft,  welche  bereits  viele  rühmlichst  bekannte 
Männer  zu  der  Zahl  ihrer  ordentlichen  und  correspondirenden 
Mitglieder  rechnet,  wird  ihre  Verhandlungen  in  dieser  Zeitschrift 
veröffentlichen  und  dadurch  das  Archiv  mehr  und  mehr  zu  einem 
Centralpunkte  der  Bestrebungen  für  unsre  gemeinschaftliche 
Sache  machen.  Möchte  uns  dabei  die  kräftige  Unterstützung 
unsrer  Freunde  nimmer  fehlen ,  damit  der  Anbau  der  modernen 
Philologie,  —  wie  wir  es  schon  oftmals  gewünscht,  —  wahrhaft 
gefördert  werde. 


Yorsclilag    zu   einer  Encyclopädie   der   modernen 


Pliilologie. 


Jeder,  der  sich  auch  nur  oberflächlich  mit  den  neuern  Sprachen 
beschäftigt  hat,  weiss,  wie  unfertig  das  Studium  derselben  noch  ist  und 
wie  es  fast  auf  jedem  Qebiete  noch  an  der  tieferen  wissenschaftlichen 
Begründung  fehlt.  Zwar  mangelt  es  nicht  an  Lehrern  für  die  prak- 
tische Erlernung  der  Sprachen,  aber  grade  die  oft  zu  praktische  und 
ganz  unwissenschaftliche  Art  dieser  Maitres  ist  es  ja ,  welche  zu 
bekämpfen  das  Archiv  und  unsre  Gesellschaft  erstanden;  und  be- 
sonders diese  Auswüchse  haben  so  oft  den  classischen  Philologen  Ver- 
anlassung und  leider  auch  guten  Grund  gegeben,  auf  die  moderne  Phi- 
lologie mit  scheelen  Seitenblicken  und  halb  verachtend  herabzuschauen. 
Um  aber  ihren  Beschuldio:uno:en  mit  Erfoljj  entsregentreten  zu  ki3nnen 
und  die  moderne  Philologie  als  ebenbürtige  Schwester  neben  die  clas- 
sische  zu  stellen,  dass  sie  nicht  länger  als  Aschenbrödel  aus  den  pi'un- 
kenden  Salons  der  Wissenschaft  in  die  Küche  Verstössen,  sondern  als 
aufblühende  jüngere  Schönheit  der  bejahrteren  Concurrenz  machen 
könne  —  dazu,  sage  ich,  müssen  wir  von  Studirenden  der  modernen 
Philologie  strenge  Wissenschaftlichkeit  fordern,  basirt  auf  genauere 
Kenntniss  der  alten  Sprachen,  besonders  der  lateinischen,  welche  ja  die 
^lutter  und  Lehrerin  der  romanischen  war.  Es  kann  nun  hier  weder 
unsre  Absicht  sein,  noch  wäre  es  bei  dem  Vorhandensein  guter  Hülfs- 
mittel  auf  allen  Gebieten  der  classischen  Philologie  überhaupt  erforder- 
lich, den  Studirenden  für  diese  einen  Wegweiser  in  die  Hand  geben 
zu  wollen;  anders  aber  stellt  es  sich  für  die  Wissenschaft,  welche 
weder  einen  auch  noch  so  dürren  encyclopädischen  Leitfaden,  noch 
selbst,  ausser  an  einigen  kleineren  Universitäten,  Lehrstühle  besitzt,  auf 
denen  sie  in  angemessener  Weise  gelehrt  würde.  —  Schon  seit  lägerer 
Zeit  war  es  meine  Idee,  einen  Abriss  zu  entwerfen,  welcher  in  all- 
gemeinen  Zügen  dem   Studirenden    den  Weg  und  die  Hülfsmittel  an- 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXIII,  1 


2   Vorschlag  zu  einer  Encyclopädie  der  modernen  Philologie. 

gebe,  die  bei  wissenschaftlicher  Erforschung  der  neueren  Sprachen  dem 
Ziele  näher  führen  und  davor  schützen  könnten,  als  Autodidact,  wie 
das  bisher  wohl  geschah,  auf  den  ohne  "Wegweiser  bald  hier,  bald 
dorthin  führenden  Seitenwegen  zu  verirren ;  —  aber  theils  Mangel  an 
Zeit,  theils  die  Ueberlegung,  dass  bei  der  geringen  Zalil  von  Hülfs- 
quellen  oder  der  Schwierigkeit  der  schon  vorhandenen,  aber  vielfach 
zerstreuten  und  wenig  behandelten  Materialien  die  Kräfte  eines  Ein- 
zelnen nicht  ausreichen  würden,  haben  mich  veranlasst,  mit  einem  Plane 
hier  vorzutreten,  um  mit  Gesinnungsgenossen  vereint  das  wichtige 
Werk  zu  Tage  zu  fördern. 

Es  ist  den  ausgesprochenen  Grundsätzen  ganz  angemessen,  für 
eine  Encyclopädie  der  modernen  Philologie  an  die  schon  vorhandene 
der  classischen  Philologie  anzulehnen,  und  indem  man  die  in  dieser 
entwickelten,  für  beide  gültigen  Grundbegriffe  a  priori  festhält,  anzu- 
deuten, wo  theils  die  Sachen  selbst,  theils  die  von  Bernhardy,  *)  dessen 


•)  Es  ist  mir  von  mehreren  Seiten  zum  Vorwurf  gemacht,  dass  ich  mich 
an  Bernhardy's  Handbuch  angeschlossen  und  sein  Werk  als  dasjenige  hin- 
gestellt habe,  an  das  sich  das  unsrige  anlehnen  solle.  Ich  habe  dabei  durch- 
aus nicht  der  vom  Verfasser  selbst  eingeräumten  Mangelhaftigkeit  in  der 
Darstellung  das  Wort  reden  noch  mancherlei  Fehler  beschönigen  wollen, 
welche  das  Werk  auch  in  seiner  Anordnung  besitzt  und  die  besonders  Rei- 
chardt  in  seinem  Werke  „die  Gliederung  der  Philologie,"  p.  116  etc.  scharf 
kritislrt  hat;  aber  es  kam  mir  darauf  an,  auf  ein  \\'erk  als  Grundlage  zu 
verweisen,  das  in  manchen  Disciplinen,  die  für  moderne  wie  für  antike  Phi- 
lologie dieselben  sind,  schon  eine  concreto,  leicht  zu  beschaffende  Anleitung 
gibt,  auf  die  man  sich  beziehen  könnte,  die  man  im  neuen  Werke  nicht  zu 
wiederholen  brauchte. 

Dass   Wolf  und  Bernhardy  nur   unbedeutend   von   einander  abweichen, 
wird  eine  kurze  Zusammenstellung  der  beiderseitigen  Anordnung  geben. 

Wolf.  Bernhardy. 

Einleitung  über  Wesen  etc.  id.  Verhältniss  d.  Alterth.  z.  Modernen. 

Darstellung  der  Alterthumswissenschaft.  id. 

I.  Fundamentaltheile.  I.  Elemente. 

A.  Granmiatik.  A.  Hermeneutik: 

1.  Sprachkunde.  formal, 

2.  Philosophische  Grammatik.  objectiv, 

3.  Griechische  Grammatik.  synthetisch, 

4.  Lateinische  Gi'ammatik.  r>  »Tr, •*•!,. 

B.  Hermeneutik,  palaeographisch. 

C.  Kritik.  diplomatisch, 

subjectivisch. 

II.  Organon  der  Philologie. 

G.  Grammatik: 
allgemein, 
philosophisch, 
rhetorisch. 


Vorschlag  zu  einer  Encycl-opädie  der  modernen  Philologie.  3 

Werk  wir  im  Auge  haben,  eingehaltene  Anordnung  eine  Abänderung 
und  Umstellung  erfordere.  Ich  will  demzufolge  hier  die  leitenden  Ge- 
sichtspunkte angeben  und  zugleich  bei  den  einzelnen  Disciplinen  kurz 
anführen,  was  noch  einer  weiteren  Discussion  oder  der  speciellen  Aus- 
fiUirung  bedarl';  die  ganze  Zusammenstellung  kann  und  soll  aber  natür- 
lich nur  ein  gedrängter  Leitfaden  werden,  eine  Art  Repositorium,  dessen 
einzelne  Fächer  noch  weiter  mit  dem  klar  geordneten  Inhalt  anzufüllen 
sein  werden,  wenn  die  einzelnen  einschlagenden  Wissenschaften  einer 
gründlicheren,  allsoitigeren  Behandlung  theilhaftig  geworden  sind. 

Was  bei  Bernhardy  das  ganze  Werk  einleitet,  „ein  Ueberblick 
über  die  historische  Entwicklung  der  Philologie,"  das  wird  theils,  was 
das  Sprachliche  betrifft,  als  Einleitung  in  das  von  den  speciellen  Gi'am- 
matiken  handelnde  Capitcl  zu  verweisen  sein,  theils  aber,  insofern  man 
von  einer  Wissenschaft  der  modernen  Philolologie  von  den  Zeiten  eines 
Dante  an  redet,  ist  diese  Disciplin  noch  so  unbearbeitet,  so  liickenliaft 
und  schwierig  zu  übersehen,  dass  wir  sie  lieber  als  ein  für  die  Zukunft 
vorbehaltenes  Thema,   denn   als   einen  integrirenden  Theil  des  encyclo- 


U.  llaupttheile  der  Alterthumsw. 

IlL 

Reale  Wissenschaften. 

a.  Geographie. 

a.  =  c. 

b.  Pulitisclie  Geschichte. 

b.  =  a. 

c.  Alterthümer. 

c.  =  b. 

d.  ^Mythologie. 

d  = 

e.  Literaturgesoh.  d.  Wissenschaft. 

f.  Geschichte  der  Kunst: 

IV. 

Beiwerke. 

Epigrapliik, 
Architektur, 

e.  Kunst. 

Sculptur, 
Steinschnitt, 

- 

Malerei. 

Literaturgesch.  d.  Alterthumswissenj 

;ch. 

f.  = 

Ast's  Handbuch  gibt  manchen  Stoflf,  doch  in  der  Anordniing  ist 
gar  kein  geregeltes  Princip;  aber  auch  Boekh  ist  in  seiner  obenein  noch 
nicht  gedruckten  Encyclopädie  nicht  zu  bedeutend  von  diesem  Gange  ab- 
gewichen, und  zumal  in  den  Theilen,  welche  wir,  nur  mit  Hindeutung  auf 
altere,  beizubehalten  -wünschten,  der  Hermeneutik  und  Kritik,  ist  seine  An- 
ordnung wesentlich  dieselbe.  Er  beginnt  den  formalen  Theil  mit  der  Her- 
meneutik,   d.  h.  der       a.  grammatischen    j 

b.  historischen  (    .„  ,„„„„„. 
•    T  •  1     II             /  Auslegung: 

c.  mdividuellen         l  o     o  ^ 

d.  generischen  ' 

es     folgt     die     Kritik,     welche     er     nach     vorherigen    Bemerkungen    über 

^'^f,"'^,,     '   derselben,  über  kritisches  Talent  und  kritische  Sicherheit  gleich 
und  \\  crth    )  ' 

der  Hermeneutik  eintheilt  in  a.  grammatische, 

b.  historische, 

c.  individuelle, 

d.  generische. 

In  dem  materiellen  T heile  beginnt  die  allgemeine  Alterthumslehre 
mit  dem,  was  Bernhardy  zu  Anfang  des  Werkes  als  Einleitung  gibt,  d.  h. 
mit  der  Aufstellung  des  Begrills   vom  Antiken,    und  weist   dann  jeder   ein- 


4  Vorschlag  zu  einer  Encyclopädie  der  modernen  Philologie. 

pildischen  Lehrganges  hinstellen  möchten.  Für  unsern  Zweck  könnte 
vorerst  im  Anschlüsse  an  die  Geschichte  der  classischen  Philologie  bei 
Bernhardy  (Einleitung  2  bis  26  und  395  bis  zu  Ende)  eine  Nomen- 
datur  der  bedeutendsten  Männer  und  ihrer  epochemachenden  Werke 
o-enii"-en,  welche  für  eine  wissenschaftliche  Begründung  der  neueren 
Sprachen  gewirkt  haben. 

Eine  Ha upt aus  einander  setzung  der  Einleitung  wäl-e  aber 
alsdann  im  Anschluss  an  Bernhardy's  Capitel  „vom  Alterthum  und 
von  dessen  Verhältniss  zum  Modernen"  eine  gedrängte  Darlegung 
des  Modernen,  etwa  mit  Beziehung  auf  Schiller's  Ausspruch: 
Die  Alten  empfanden  natürlich,  wir  empfinden  das  Natürliche  —  (cf. 
Goethe,  XXX,  463),  wobei  wir  nicht  wie  für  die  classische  Philo- 
loo-ie  die  Zweitheilung  in  Griechen-  und  Römerthum,  sondern  die  Drei- 
theilun"-  festzuhalten  haben  werden,  und  sich  der  germanische  und  der 
romanische  Charakter,  dieser  repräsentirt  durch  das  Französische,  ge- 
wissermassen  als  These  und  Antithese  herausstellen  und  eine  Art  Syn- 
these in  dem  Englischen  finden.*) 


zelnen  Wissenschaft  ihre  Stelle   an.     Die  besondere  Alterthumskunde 
beginnt    mit     1.  Chronologie;  es  folgen 

2.  Geographie, 

3.  politische  Geschichte, 

4.  politische  Alterthümer; 

b.  Privatleben : 

1.  Metrologie, 

2.  Erwerb,  Landbau,  Handel,  Gewerbe,  häusUche  Oekonomie, 

3.  innere  Familienverhältnisse ; 

c.  äusseres  religiöses  Leben  und  Kunst: 

1.  Cultur, 

2.  Plastik, 

3.  Steinschneidekunst, 

4.  Malerei, 

5.  Orchestik, 

6.  Musik. 

Grade  b  und  c,    die    wesentlich   methodischer    bei   Bockh    geordnet    sind, 
können  und  müssen  wir  vorläufig  noch  unberücksichtigt  lassen,  ausser  in  den 
kurzen  von  mir  oben  bezeichneten  Andeutungen.     Was  aber  noch  folgt, 
Gesammte  Wissenschaft  der  alten  Völker: 

1.  Mythologie, 

2.  Geschichte  der  Philosophie, 

3.  Geschichte  der  einzelnen  Wissenschaften, 

a.  Mathematik, 

b.  Naturwissenschaften,  , 

4.  Geschichte  der  ethischen  Wissenschaften, 

5.  Geschichte  der  Literatur, 

6.  Geschichte  der  Sprache, 

sind  theils  für  unsern  Zweck  Gebiete,  die  schon  von  anderer  Seite  her  den 
Stuflirenden  zugänglich  sind  und  daher  nur  angedeutet  zu  werden  brauchen, 
theils  fallen  sie  wie  1  und  3  gänzlich  für  uns  fort,  oder  endlich  wir  weisen 
ihnen  wie  5  und  6  eine  bedeutendere,  andere  Stellung  in  unserm  Systeme  an. 
*)  ^V'arunl,  fragt  man  mich,  schliessen  Sie  das  Italienische  aus,  das  doch 
auch  zu  den  neueren  Sprachen  gehört?   Ich  will  nicht  antworten,  dass  ja  unsre 


Vorschlag  zu  einer  Encvclopädic  der  modernen  Philologie.     5 

Wir  kommen  damit  zur  Auseinandersetzung  über  die  Aufgabe 
der  modernen  Philologie,  welche  nach  unsrer  Ansicht  die  ist: 
„ein  anschauliches  Bild  der  modernen  Völker,  zunächst  und  haupt- 
sächlicli  der  nach  Literatur  und  Wissenschaft  am  meisten  entwickelten, 
aufzustellen  und  die  verschiedenen  Richtungen  ihres  geistigen  Lebens 
bis  zur  Jetztzeit  hin  durch  und  für  ein  wissenschaftliches  Verstehen 
ihrer  Sprachen  kunstmässig  und  wissenschaftlich  zu  erfassen."  Dabei 
kommen  dann  insbesondere  in  Betracht  diejenigen  Epochen,  welche  als 
wesentliche  Fermente  für  die  noch  nicht  für  uns  gleich  den  alten 
Sprachen  abgeschlossenen  lebenden  Sprachen  mitgewirkt  haben,  aber 
doch  als  mehr  oder  weniger  in  sich  abgerundete,  keiner  Fortbildung 
mehr  fähige  Sprachganze  der  genaueren  Betrachtung  anheimfallen,  die 
sich  ihnen  gegenüber  ganz  auf  dem  Standpunkte  der  classischen  Philo- 
logie (abgeschlossenen  Sprachen  gegenüber)  befindet;  wir  meinen  die 
verschiedenen  Ausbildimgen  der  deutschen  Sprache ,  das  Angelsäch- 
sische und  Altenglische,  das  Provenzalische  und  Alt  französische;  ja, 
wir  haben  mehr  Material  und  auch  mehr  Veranlassung,  als  das  ge- 
wöhnlich beim  Studium  der  classischen  Sprachen  geschieht,  auch  die 
Dialekte,  ihre  literai-ische  Entfaltung  und  ihren  Einfluss  auf  das 
Ganze  des  Sprach-  und  Volkslebens  mit  in  den  Kreis  unsrer  For- 
schungen hineinzuziehen. 


Gesellschaft  auch  so  exclusiv  sei,  denn  das  könnte  mir  als  eine  petitio  prin- 
cipii  ausgelegt  werden;  der  Grund  ist  der,  dass  wohl  in  Wahrheit  Niemand 
behaupten  wird,  das"  liebHche  Idiom  Dante's  und  Tasso's  habe  eine  welt- 
geschichtliche Bedeutung,  welche  es  mit  den  drei  von  uns  hervorgehobenen 
Sprachen  auf  eine  Stufe  stellen  hiesse.  AVenn  ich  auch  weder  den  mysti- 
schen Standpunkt  theile,  der  die  Divina  comedia  als  das  Gedicht  y.ax 
dSo/Tjv  anerkannte,  noch  Petrarca's  Sonette  über  die  bedeutendsten  lyrischen 
Producte  stelle,  so  hat  doch  die  italienische  Literatur  in  älterer  wie  in 
neuerer  Zeit  viele  der  edelsten  Erzeugnisse  aufzuweisen,  sie  ist  die  Sprache 
der  Musik,  und  in  Oesterreich  mit  Recht,  weil  dieses  Reich  italienische  Pro- 
vinzen besitzt,  unter  die  Unterrichtsfacher  mit  aufgenommen;  aber  über- 
schätzen wir  darum  nicht  Ihren  Werth  und  lassen  wir  vorläufig  den,  welcher 
diesem  Studium  obliegen  will,  sich  anderswo  her  als  aus  unsrer  Encyclopädie 
Raths  erholen. 

Wenn  aber  andere  Stimmen  für  das  Spanische  laut  wurden,  weil 
dieses  ja  besonders  in  norddeutschen  Städten  vielfach  im  praktischen  Ver- 
kehr angewandt  werde,  so  scheint  mir  auch  das  eine  einseitige  Ansicht, 
welche  den  zufalligen  Gebrauch  für  mercantile  Zwecke  mit  dem  inneren 
Werthe  und  der  welthistorischen  Geltung  verwechselt. 

Endlich  hat  ein  werther  Freund,  auf  dessen  Beistand  für  die  Behand- 
lung des  deutschen  Gebietes  ich  bedeutend  gerechnet  habe,  eine  Principien- 
frage  aufgestellt,  mit  welchem  Recht  ich  die  deutsche  Sprache  mit  den 
beiden  andern  verbinde,  während  sie  doch  so  sehr  aus  einander  lägen? 
Mag  man  auch  für  die  Gegenwart  dies  zugeben  wollen,  obwohl  sich  auch 
darüber  viel  streiten  Hesse,  so  wird  doch  Niemand  verkennen,  wie  viel  in 
den  älteren  Epochen  diese  drei  Sprachen  und  Literaturen  sich  gegenseitig 
verdanken  und  welch  bedeutendes  Licht  auf  jede  einzelne  derselben  durch 
gründlichere  Erforschung  der  andern  und  ihres  Einflusses  fallen  kann. 


6  Vorschlag  zu  einer  Encyclopädie  der  modernen  Philologie. 

Wenn  wir  nun  das  gesammte  uns  vorliegende  Gebiet  überblicken, 
so  treten  uns  zuerst  als  Grundlagen  der  Philologie  im  Allgemeinen  die 
zwei  Elemente  der  Hermeneutik  und  Kritik  entgegen,  beide  von 
formalem  Gehalt,  beide  nicht  nur  Werkzeuge,  sondern  auch  unentbehr- 
liche Führer.  Da  sie  dies  aber  nicht  nur  für  den  classischen  Philologen, 
sondern  auch  für  unser  Gebiet  sein  und  die  von  uns  geforderte  clas- 
sische  Bildung  auch  für  die  Behandlung  neuerer  Sprachen  dieselben 
Gesichtspunkte  als  leitend  aufstellen  wird,  so  brauchen  wir  in  unserm 
Leitfaden  die  Grundsätze  der  formalen,  der  objectiven  und  der  synthe- 
tischen Hermeneutik,  Avie  die  der  palaeographischen,  diplomatischen  und 
subjectiven  Kritik,  sie  als  bekannt  voraussetzend,  nur  mit  wenigen 
Worten  zu  besprechen.  Bei  der  letzteren  jedoch  wird  ein  Nachweis  der 
bedeutendsten  Quellen  für  moderne  Epigraphik  und  Palaeographie  nach 
Montfaucon  und  der  Paleographie  universelle,  soweit  sie  unsre  Schrift- 
steller angeht,  ferner  eine  gedrängte  Notiz  über  die  bedeutendsten  Ma- 
nuscripte  und  ihre  Epochen,  endlich  im  Anschlüsse  an  ein  Hänel  ver- 
besserndes, wenn  auch  nicht  so  ausfürliches  Register  eine  Uebersicht 
der  Bibliotheken  und  ihrer  Bedeutung  für  den  modernen  Philologen  zu 
geben  sein.  (Für  ein  specielles  Gebiet,  die  altfranzösischen  Helden- 
gedichte, werden  die  zwei  ersten  Bände  der  jetzt  von  Jannet  zu  edirenden 
Anciens  poetes  de  la  France  alles  handschriftliche  Matei'ial  genügend 
zusammenstellen.)  Für  die  Stütze  dieser  zwei  Elemente  sodann  und 
den  Schlüssel  zum  philologischen  Material,  die  Grammatik,  welche 
nicht  bloss  formale  Principien  zur  Ausübung  bringt,  sondern  einen 
reichen  formalen  Stoff  in  der  vollständigsten  Breite'  verhandelt,  werden 
wir  zunächst  einige  leitende  Gesichtspunkte  vom  allgemein -philoso- 
phischen Standpunkte  über  die  drei  Hauptsprachen  unsers  Gebietes 
aufzustellen  und  dem  Studirenden  ein  vorbereitendes  Kesumc  aus 
Grimm's  und  Diez's  herrlichen  Werken  zu  geben  haben,  nebst  kurzen 
Uebersichten  über  gothische,  alt-,  mittelhochdeutsche,  altprovenzalische, 
altfranzösische,  angelsächsische,  *)  altenglische  Grammatik ;  vorzubereiten 
und  anzubahnen  ist  dann  auch  nach  und  nach  die  Ausführung  von 
Specialgrammatiken  der  besondern  Hauptautoren,  welche  als  Repräsen- 
tanten einer  grossen  Epoche  dastehn  und  besonders  dem  allgemeinen 
Studium  anheimfallen.  Kurze  Lexikographie  wird  hier  den  bibliogra- 
phischen Zusatz  zu  vervollständigen  haben. 

Eine  Kritik  der  hauptsächlichsten  Grammatiken  des  Neufranzö- 
sischen und  Neucnglischen  wie  der  bedeutendsten  Lexica  und  methodisch- 
praktischen Uebungsbüclier  gehört  darauf  in  die  Methodologie,  welche 
die  betreffenden  Arbeiten  nach  den  darin  zu  Tage  getretenen  Principien 
zu  rangiren  und,  was  geleistet  ist,  zu  prüfen  hat.  Auch  hierfür  würden 
Beiträge  willkommen   sein,   da  unmöglich   von  Einem  erwartet  werden 


*)  Ein   solches  Handbuch  bereitet  Prof.  Herrig  vor,  auch  soll,   wie  Ich 
höre,  Prof.  Mätzuer's  englische  Grammatik  dieses  Gebiet  ausführlich  behandeln. 


Vorschlag  zu  einer  Encyclopiidie  iler  modernen  Philologie.  7 

kann,  er  habe  auch  nur  über  die  bedeutendsten  einschlagenden  Werke 
sogleich  eine  genaue  für  die  Kritik  genügende  Uebersicht. 

Wir  kommen  jetzt  zu  den  realen  Wissenschaften,  auf 
welche  der  Studircnde  aufmerksam  zu  machen,  für  deren  Studiu>n  ihm 
die  IVIethode  und  die  wichtigsten  Ilülfsmittel  angegeben  werden  müssen. 

1.  Geschichte.  Sie  ist  wesentlich  zum  Verständniss  der  jedes- 
maligen Geistesrichtung  und  Bildung  des  Volkes ;  eine  kurze  Ueber- 
sicht über  die  bedeutendsten  historischen  Schriftsteller,  je  nach  den  Völ- 
kern geordnet,  wird  den  gedrängten  Bericht  über  die  Ilauptbegeben- 
heiten  einzuleiten  haben,  und  Geographie,  Chronologie,  Numismatik 
sind  in  ähnlicher  Weise  zu  skizziren,  wobei  zum  Theil  ein  derartiger 
Versuch  als  der  erste  dieser  Ai't  auftreten  muss;  doch  hat  sich  der 
methodologische  Leitfaden  fast  ganz  auf  bibliographische  Notizen  zu 
beschränken. 

Wo  die  classische  Philologie  Alterthümer  als  besondere  Wissen- 
schaft aufstellt,  haben  auch  wir  ein  solches  Gebiet  in  kurzen  Umrissen 
der  Geschichte  anzuschliessen ;  daneben  aber  muss  der  Anfang  gemacht 
werden,  in  lebensfrischen  Bildern  den  Charakter  der  verschiedenen 
uns  angehenden  Völker  und  Epochen  vorzuführen  und  dem,  welcher 
als  letztes  Ziel  ein  gediegenes  Verständniss  der  neueren  Sprachen, 
nebst  der  Fähigkeit,  sie  praktisch  anzuwenden,  sich  vorgestellt  hat, 
dasjenige  zu  gewähren,  ohne  welches  keine  Sprache  wahrhaft  ver- 
standen, noch  der  Sprachgenius  erfasst  werden  kann,  nämlich  eine  aus 
eigener  Anschauung  des  Berichterstatters  hervorgegangene  Darstellung 
des  geistigen  und  physischen  Lebens  der  drei  Völker  nach  seinen  ver- 
schiedenen Momenten,  wie  es  sich  für  unsre  Zeit  vor  dem  Auge  des 
unparteiischen  gebildeten  Beschauers  abhebt. 

Hieran  schliesst  sich  die  Darstellung  der  verschiedenen  Litera- 
turen, ein  Capitel,  das  noch  fast  mehr  als  die  andern  im  Argen  liegt. 

Die  Franzosen  haben  zwar,  wie  sie  für  ihre  Geschichte  in  den 
zahlreichen  Memoiren  unerschöpfliche  Schätze  besitzen,  ohne  darum 
wahrhaft  grossartige,  den  ganzen  historischen  Stoff  bewältigende  Ge- 
schichtswerke über  ihr  Volk  aufweisen  zu  können,  in  der  Histoire  litte- 
raire  de  France,  in  den  Werken  der  Benedictiner  und  sonst  gewaltigen 
Stoff  für  eine  dereinstige  französische  Literaturgeschichte,  aber  weder 
Villemain,  Ampere  noch  Nisard  haben  Werke  geschafien,  welche  neben 
dem  Ruhme,  zum  Theil  geistreiche  Apercus  zu  sein,  auch  das  Verdienst 
besässen,  in  allen  Theilen  tief  eindringende  Forschungen  mit  unbefan- 
genem, wahrhaft  historischem  LTrtheile  zu  vereinigen.  Für  eine  Ge- 
schichte der  provenzalischen  Literatur  haben  zwar  Diez  und 
Andere  mannigfaches  Material  herbeigeschafft,  aber  eine  eigentliche 
Literaturgeschichte  gehört  auch  hier  noch  zu  den  Desideraten, 
denn  Werke  wie  Miliin,  Closset,  Mury-Lafon  und  Bruce- Whyte  können 
keine  Gnade  finden,  wenn  man  den  Massstab  literar-historischer  Werke 
über  die  classischen  Sprachen  anlegen  will.    Für  das  Englische  aber 


8   Vorschlag  zu  einer  Encyclopädie  der  modernen  Philologie. 

stellt  sich  die  Sache  wenig  besser;  denn  wenn  auch  hier  ausgezeichnete 
Reviews  fortlaufend  die  besten  Beiträge  für  die  Würdigung  der  bedeu- 
tendsten Erscheinungen  bringen,  wenn  einzelne  Autoren  auch  die  liebe- 
vollste Behandlung  bei  ihren  Landsleuten  erfahren  haben,  und  Werke 
wie  Warton's  history  of  English  poetry  besonders  für  die  ältere  Periode 
unerreicht  dastehen ,  so  fehlt  es  doch  auch  hier  noch  an  einem  nach 
allen  Seiten  hin  gerecht  werdenden  gründlichen,  aesthetisch  würdigenden 
und  zugleich  mit  den  nöthigen  bibliographischen  Notizen  ausgestatteten 
Werke ,  und  die  Hauptgesichtspunkte  dafür  wie  die  Grundskizzirung 
kann  die  encyelopädische  Uebersicht  vermitteln. 

Wenn  vielfach  noch  nicht  Vorarbeiten  genug  dafür  da  sind,  so  wird 
doch  täglich  mehr  Material  im  Einzelnen  an's  Tageslicht  gefördert,  und 
wenn  auch  z.  B.  für  die  ältere  französische  Literaturgeschichte,  welche  in 
Ideler's  Leitfaden  so  dürftig  und  oft  ft^lsch  behandelt  ist,  der  durch 
Herrn  Fortoul's  schönen  Plan  beabsichtigte  Aufschwung  immer  noch 
nicht  gekommen  ist,*)  so  haben  doch  auch  schon  die  Vorarbeiten  zu  dem 
enormen  von  Fortoul  beabsichtigten  Sammelwerke  bedeutenderes  Licht 
über  die  altfranzösischen  Schätze  und  ihre  Zusammenhänge  verbreitet, 
so  dass  eine  gedrängte,  richtigere  Darstellung  der  altfranzösischen  Li- 
teratur wohl  schon  versucht  werden  kann. 

Kurze  kritisirende  Angaben  der  bedeutendsten  auf  diesen  verschie- 
denen Gebieten  existirenden  Versuche  werden  so  am  Besten  dem  Stu- 
direnden  zeigen,  was  noch  fehlt  und  ihn  leichter  in  den  Stand  setzen, 
aus  dem  bald  hier  bald  da  gebotenen  Guten  sich  vorläufig  ein  einiger- 
massen  Ersatz  leistendes  Conglomerat  zusammenzustellen,  bis  auch  die 
Wissenschaft  der  Literaturgeschichte  sich  weiter  entwickelt  hat. 

Um  das  Leben  der  drei  Culturvölker  nach  allen  Seiten  hin  abzu- 
schliessen,  hat  der  Studirende  endlich  sich  wenigstens  einigermassen 
bekannt  zu  machen  mit  ihrer  Kunstgeschichte,  welche  ein  wichtiges 
Glied  in  der  grossen  Kette  bildet  —  zuletzt  mit  der  Geschichte  der 
Wissenschaften  bei  denselben,  welche  in  grossen  Umrissen  ent- 
worfen den  letzten  Stein  an  das  grosse  Gebäude  legen  wird,  dessen  Plan 
ich  hier,  vielleicht  mit  etwas  zu  excentrischen  Hoffnungen  für  sein  Ent- 
slehen vorgelegt  habe.  Wir  wissen  Alle,  woran  es  für  die  gründliche 
Heranbildung  neuer  Studiengenossen  fehlt;  tragen  wir  daher  Jeder  an 
seinem  Theile  dazu  bei,  fördernd  und  schaffend  mit  einzugreifen,  damit, 
was  ich  nur  dürftig  skizzirend  anrege  und  in  einem  kurzen  Leitfaden 
zu  behandeln  gedenke,  zu  einem  scliönen,  wohlgeregelten  Baue  erwachse, 
in  dem  sich  der  Studirende  heimisch  fühle  und  zurecht  finde. 


*)  Man  sehe  übrigens  unsern  Bericht  über  Herrn  ^annet's  jetzt  veröffent- 
lichten Prospectus,  der  wenigstens  theilweise  Fortonrs  Pläne  zu  realisiren 
verspricht. 

Dr.  C.  Sachs. 


Una:eclruckte    Briefe    aus    dem    Nachlasse 
Joh.  Arn.  Ebert's. 


Vor  einiger  Zelt  unternahm  ich  In  „Westermann's  Illustrirten 
Deutschen  Monatsheften"  die  VerüfFentlichung  eines  Theils  des 
Ebert'schen  Briefwechsels,  der  sich  im  Besitze  der  Nachkommen 
Joh.  Joach.  Campe's  befindet. 

Rücksichten  auf  den  beschränkten  Raum,  den  die  gedachte 
Zeitschrift  für  derartige  Pubhcationen  bewilligen  kann,  machten 
eine  Unterbrechung  des  begonnenen  Abdrucks  nothwcndig,  und 
da  für  den  ausgebreiteten  Leserkreis  der  Monatshefte  ohnehin 
nur  die  hervorragendsten  Theile  der  ganzen  Correspondenz  von 
Interesse  sein  konnten,  so  wurden  daselbst  nur  die  Briefe  von 
Klopstock,  Lavater,  Gleim,  sodann  einige  einzelne  Schreiben  von 
Uz,  Hagedorn  u.  A.  gegeben;  der  Rest  dieses  brieflichen  Nach- 
lasses ,  welcher  zur  genaueren  Charakteristik  der  unmittelbaren 
Vorgänger  unserer  literarischen  Glanzperiode  von  höchster  Wich- 
tigkeit ist,  liegt  noch  als  ungehobener  Schatz  der  Oeffentlichkeit 
fern.  Nachfolgend  wird  nun  das  Werthvollste  daraus  zusammen- 
gestellt, wobei  sämmtliche  Briefe  ganz  unverändert  in  der  ur- 
sprünglichen Form  und  Schreibweise  gegeben  und  mit  nöthigen 
Erläuterungen  versehen  werden  sollen.  Die  bereits  gedruckten 
Theile  des  Nachlasses,  auf  welche  bereits  in  einem  der  früheren 
Hefte  des  Archivs  selbst,  sowie  auch  in  vielen  andern  wissen- 
schaftlichen Zeitschriften  wiederholt  hingedeutet  wurde,  finden 
sich  in  „  Weslermann's  Illustrirten  deutschen  Monatsheften " 
Band  2  und  3,  Heft  7.  8.  10.  11.  13.  —  unter  dem  Titel:  „Un- 
gedruckte Briefe  von  Cramer,  Gleim,  Klopstock,  Lavater,  Ramler, 
Uz  u.  A.  an  J.  A.  Ebert.  Zur  Charakteristik  ihres  literari- 
schen Verkehrs  zusammengestellt  und  erläutert  von  Dr.  Adolph 
Glaser."  — 


10  Ungedruckte  Briefe 


I. 


Schlichtegroll. 

Gotha,  d.  24.  Oct.   1792. 
Wohlgebohrner, 
Hochzuverebrender  Herr  Hofrath! 

Die  Vollendung  dieses  neuen  Bandes  des  Nekrologs  erinnert  mich 
lebhaft  daran ,  -welch'  schönen  Beytrag  dazu  ich  Ihrer  Güte  verdanke. 
Erlauben  Sie  mir  also,  dass  ich  Ihnen  das  gedruckt  zurökgebe,  was 
Ihnen  so  schon  gehört.  Ich  habe  diesen  Theil  unter  sehr  zerstreuen- 
den Freuden  und  Leiden,  wie  ich  sie  beyde  bis  dahin  noch  nicht  empfun- 
den hatte,  ausgearbeitet,  und  ich  fürchte  leider,  dass  er  hie  und  da  die 
Spur  davon  nur  zu  deutlich  an  sich  tragen  wird.  Da  ich  die  Ent- 
schuldigung Avegen  Kürze  der  Zeit  und  Uebereilung  der  Presse  nicht 
gern  einem  andern  Schriftsteller  zu  Gute  kommen  lasse,  so  nehme  ich 
auch  ungern  meine  Zuflucht  zu  ihr;  aber  es  giebt  Combinationen ,  wo 
sie  doch  Grund  hat,  und  ich  darf  behaupten,  dass  die  Lage,  in  der 
ich  mich  befand,  von  dieser  Art  war.  Dem  nächsten  Theile  soll,  hoffe 
ich,  mehr  Feile  werden,  er  erfordert  es  auch  um  so  mehr,  da  ich  für 
ihn  die  Heroen  unter  den  Verstorbenen  des  vorigen  Jahres  aufgespart 
habe.  —  Da  ich  Ihre  Güte  nun  schon  so  überzeugend  erfahren  habe, 
so  darf  ich  hoffen ,  dass  Sie  auch  für  die  Zukunft^  ein  freundlicher  Be- 
förderer meines  Unternehmens  bleiben  werden. 

Die  politischen  Dinge  haben  seit  Ihrem  Gothaischen  Besuche  eine 
sonderbare  Wendung  genommen.  Eben  heute  hat  die  Nachricht  von 
der  Eroberung  von  Mainz  und  von  dem  Separat-Frieden,  den  der  König 
V.  Pr.  mit  den  Franzosen  geschlossen  haben  soll  hier  grosses  Erstaunen 
erregt.  Viele  Frankfurter  Kaufleute  sind  seit  einigen  Wochen  schon 
in  Eisenach  und  hier,  selbst  mit  ihren  Waaren  gewesen.  —  Doch  dieser 
Stoff  ist  so  reich,  dass  er  fiir  einen  Brief  zu  reich  ist.  Es  ist  schick- 
licher, dass  ein  friedlicher  Schulmann  aus  seiner  stillen  Klause  einen 
mit  andern  als  blutigen  Lorbeeren  bekränzten  und  mit  dem  Stabe  be- 
schenkten Dichter  mit  andern  Nachrichten  und  Betrachtungen  unter- 
halte. —  Vor  einer  Woche  ist  mein  Freund  Becker  von  einer  Reise 
nach  Wien ,  die  er  in  Gesellschaft  meines  Schwiegervaters ,  des  geh. 
Hofr.  Rousseau  gemacht  hatte,  zurückgekehrt,  und  hat  mir  gleich  das 
erste  Wiedersehen  mit  der  für  mich  traurigen  Nachricht  verbittert,  dass 
er  von  hier  nach  Nürnberg  ziehen  will.  Er  hat  in  Wien  ein  Reichs- 
privilegium  für  seinen  Anzeiger  bekommen,  und  gefunden,  dass  es  unter 
diesen  Umständen  schicklicher  für  ihn  seyn  wird,  ihn  in  einer  Reichs- 
stadt, die  fast  in  der  Mitte  des  deutschen  Reichs  liegt,  zu  schreiben. 
Schon  in  G  Wochen  wird  er  dahin  abgehen ;  seine  Frau,  die  ihrer  Nie- 


aus  dem  Nachlasse  J.  A.  Eberfs,  11 

derkunft  nahe  ist,  wird  bis  zum  Frühjahre  noch  hier  bleiben.  Ihr  und 
den  Schwestern  geht  der  Abschied  von  ihrer  sehr  artig  eingerichteten 
ländlichen  Wirthschaft  sehr  nahe.  Ich  verliere  dadurch  den  Umgang 
meines  hiesigen  vertrautesten  und  schätzbarsten  Freundes ;  beyni  Ver- 
gleiche seiner  Lage  hier  und  dort  nuiss  ich  ihm  nolhwcndig  Glück 
Avünschen. 

Ihr  guter  Wirth  im  Mohren,  Frey  tag,  dessen  Sie  sich  wohl 
noch  erinnern  werden ,  ist  vor  2  AVochen  plötzlich  am  Schlage  gestor- 
ben. Sein  Tod  hat  hier  viel  Mitleid  mit  seiner  noch  sehr  unerzogenen 
Familie  erregt.  —  Kurz  vorher  ging  einer  der  beliebtesten  Älitglicder 
der  Mohrgesellschaft  Hr.  Zinkeisen  von  hier  weg,  u.  kam  nach  Alten- 
burg in  einen  neuen  Platz.  Man  feyerte  seinen  Abschiedstag  mit  ei- 
nem grossen  Feste  in  der  Gesellschaft,  deren  Secretär  er  viele  Jahre 
gewesen  war.  Unser  Gotter  machte  dabei  eine  Gesundheit,  die  die 
Freuden  des  Tags  erhöhte ,  und  die  ein  zu  treffliches  Product  dieses 
glücklichen  Reimers  ist,  als  dass  ich  sie  Ihnen  nicht  mittheilen  sollte. 
Hier  ist  sie: 

Heil  sey  dem  treusten  Freund  von  diesem  guten  Flause 

Und  von  der  Brüderzunft,  die  hier  ihr  AVesen  treibt! 

Dem  herrlichen  Compan,  der  nie  bey  einem  Schmause 

Vorsetzlich  fehlt,  und  nie  dem,  der  sich  an  ihm  reibt, 

Trunk  gelt  es,  oder  Witz  —  die  "Wette  schuldig  bleibt. 

Der  immer  wohlgemuth  und  immer  wohlbeleibt, 

Den  hübschen  Weiberchen  die  Grillen  gern  vertreibt, 

Und  gern  als  Eremit  in  seiner  stillen  Klause 

Bald  am  Klaviere  weilt,  bald  emsig  Noten  schreibt. 

Heil  ihm,  der  unser  Freund  auch  in  der  Ferne  bleibt! 
O  dass  er  dort  wie  hier  in  steter  Freude  hause! 
Dass  nie  ein  Sorgensturm  um  seine  Fenster  brause! 
A\'ohl  aber,  Avenn  er  sich,  wer  weiss  wie  bald,  beweibt, 
Ein  Schwärm  von  Kindern  ihn  mit  Sang  und  Klangj  umsause; 
Dass,  wird  sein  Haar  einst  weis,  und  seine  Stirne  krause. 
Auch  dann  noch  sein  Humor  mit  jedem  Lenz  sich  mause, 
"Wenn  ihn  gleich  hie  und  da  ein  Jugendsündchen  kneipt; 
Und  dass,  wenn  endlich  spiit  die  allgemeine  Pause 
Für  ihn  beginnt,  Freund  Hain  ihm  sanft  die  Kolbe  lause. 

Vielleicht  bekäme  ich  einen  Krieg  mit  Hr.  Gotter,  wenn  er  wüsste, 
dass  ich  ein  kleines  Scherzgedicht,  das  halb  Impromptu  war  u.  das 
seinen  vorzüglichsten  "VYerth  erst  durch  das  Locale,  auf  das  es  genau 
passte,  erhielt,  Ihnen  mitgetheilt  habe;  aber  ich  konnte  mir  die  Freude 
nicht  versagen ,  es  Ihnen  abzuschreiben ,  und  mir  dabey  Ihr  frohes 
Lächeln  hey  den  letzten  unerwartet  —  drollicht  —  glücklichen  Reimen 
zu  denken!  In  dieser  Gattung  leichter,  "schön  gesagter,  glücklich  ge- 
reimter Einfälle  ist  Golters  Muse  wirklich  unübertrefflich.  Man  sollte 
ihm  jeden  solchen  Einfall  sogleich  mit  der  Feder  abstehlen  ,  und  auf- 
heben; denn  viele  werden  verloren  gehen,  indem  er  sich  selten  die 
IMüIie  nimmt,  sie  aufzubewahren. 


12  -  Ungedruckte  Briefe 

Die  sanften  Freuden  der  glücklichsten  Ehe,  die  ich  jetzt  geniesse, 
machen  mich  zu  einem  doppelt  dankbaren  Bewohner  dieser,  bey  allen 
Mühseligkeiten  doch  auch  sehr  freudenreichen  Erde.  Hätte  ich  Ihnen 
doch  kurz  vor  dem  Junius  dieses  Jahres  geschrieben,  ehe  meine  gute 
Auguste  meine  Gattinn  wurde!  Da  hätte  es  sich  doch  noch  thun 
lassen,  Ihnen  zu  sagen,  wie  liebenswerth  und  gut  sie  ist;  jetzt  erlaubt 
es  mir  die  Schicklichkeit  doch  nicht  mehr  so ,  Ihren  Lobredner  zu  ma- 
chen, und  ich  muss  warten,  bis  ich  Sie  Ihnen  einmahl  selbst  zuführen, 
u.  von  einem  so  musterhaft-glücklichen  Gatten  zu  ähnlich-dauerhaften 
Eheglück  einweihen  lassen  kann. 

Ihrer  Frau  Gemahlin  und  Ihnen  empfehle  ich  mich  gehorsamst. 
Meine  Frau,  meine  guten  Aeltern  u.  meine  Schwester  desgleichen. 
Mit  den  Gesinnungen  der  grössten  Hochachtung  bin  ich  auf  immer 

Ew.  "Wohlgeboren 

gehorsamster  Diener 

E.    Schlicbtegroll. 


n. 

R  a  m  1  e  r. 


Mein  Herr  und  geliebtester  Freund, 

Ich  darf  Ihnen  diesen  heiligen  Nahmen  ohne  Scheu  geben,  weil 
ich  weiss  dass  unser  Gleim  das  ersetzt  hat,  was  erst  ein  langer  Um- 
gang schafft.  Ich  sehe  Sie  also  als  einen  Freund  an,  mit  dem  ich 
schon  ein  vertrautes  Fass  Wein  ausgetrunken  habe,  denn  dieser  ist  uns 
das,  was  andern  Leuten  die  Metzen  Salz  sind.  O  wie  freue  ich  mich, 
mein  liebster  Ebert ,  dass  Sie  mein  Freund  seyn  werden ,  Sie ,  den  ich 
schon  so  lange  unter  dem  HaufFen  der  witzigen  Köpfe  in  Deutschland 
unterschieden  habe.  Ihr  Leonidas  hat  alle  meine  Erwartungen  erfüllt. 
Die  edlen  Gesinnungen  darin  sind  mit  einem  Feuer  ausgedrückt,  das 
nur  aus  meines  Eberts  Herzen  kommen  kann.  Reine  Harmonie  herrscht 
in  jeder  Zeile,  die  Ausdrücke  sind  ausgesucht  schön,  die  Touren  so 
neu  und  so  kühn  als  sie  sepi  dürfen,  und  das  Gantze  so  ausgearbeitet, 
dass  es  ein  deutsches  Original  geworden  ist.  Auch  habe  ich  schon 
bemerkt  dass  unsre  Poeten  Ihren  Leonidas  mit  gutem  Nutzen  gelesen 
haben.  Mich  deucht  ich  habe  Spuren  davon  in  Klopstocks  beyden 
letzten  Gesängen  gefunden.  Ja,  dass  ich  nur  alles  heraussage,  ich 
habe  selbst  in  meiner  Uebersetzung  des  Horatz  Spuren  davon  gefunden, 
und  dieses  muss  ich  doch  besser  sehen  können,  als  sonst  jemand.  Ich 
werde  alles   dieses  von   Ihrem  Young  sagen ,   wenn  er  erst  ankommen 


aus  dem  Nachlasse  J.  A.  Ebert's.  13 

wird.  Wieviel  erwarte  ich  von  Ihrer  Uebersetzung  dieses  eintzigcn 
Geistes!  Ich  danke  Ihnen  für  ein  Unternehmen  von  solchem  Um- 
fange. Wie  sehr  werden  Sie  die  poetische  Sprache  bereichern  und  un- 
sern  dummen  Landsleuten  die  Prosa  verleiden.  Und  den  besten,  die 
nicht  mehr  deutsche  sondern  Weltbürger  sind,  wie  viel  Freude  wird 
es  denen  machen,  wenn  sie  einen  Tlieil  ihrer  eignen  Gedanken  von 
den  besten  Engelliindern  gedacht  und  von  meinem  Ebert  so  schön  nach- 
gedacht finden! 

Naide,  so  habe  ich  hier  ein  vortreffliches  Mädchen  getauft,  Naide 
glaubt  dass  Ihr  Young  recht  für  sie  geschrieben  sein  wird,  weil  sie 
von  der  schönen  Melancholie  just  so  viel  hat  als  ein  vollkommnes  Hertz 
oder  ein  voUkommner  Verstand  (ich  vermische  beydes  gleichfalls)  haben 
muss.  Sie  hat  den  Leonidas  eingetrunken ,  was  wird  sie  mit  dem 
Young  machen  ?  Verschlingen  wird  sie  ihn,  wenn  ich  von  einem  Mäd- 
chen diesen  mehr  als  männlichen  Ausdruck  wagen  darf. 

Lassen  Sie  uns  nicht  aufhören   einander   zu   schreiben    und  nicht 
aufhören  einander  zu  lieben.     Ich  bin  ewig  der  Ihrige,  ewig 
Ihr 

getreuer 

R  a  m  1  e  r. 

Berlin,  den  13.  May 
175L 


Hochzuverehrender  Herr  Professor, 

Theuerster  und  geliebtester  Freund, 
Wie  vielen  Dank  bin  Ihnen  nicht  schuldig,  dass  Sie  meinen  Pro- 
pheten Glaucus  so  gütig  commentirt,  und,  wie  ich  weiss,  so  nachdrück- 
lich declamirt  haben!  Ich  habe  letzteres  mit  Iliren  beiden  Grossen 
Engelländern,  dem  Glover  und  Young,  zu  verschiedenen  malen  gleich- 
falls zu  thun  Gelegenheit  gehabt,  und  dabey  erinnert,  dass  es  eine 
rechte  Wohlthat  für  uns  wäre,  wenn  ein  Autor  die  Mühe,  die  ein 
Original  kostet,  an  das  Meisterstück  eines  Fremden  zu  wenden  sich 
herabliesse.  In  der  That  sind  sie  allzugütig,  dass  Sie  die  grossen 
Engelländer  noch  grösser  machen ,  da  Sie  es  so  vollkommen  in  Ihrer 
Gewalt  haben  allein  gross  zu  seyn. 

Was  Hagedorn  vor  zwanzig  Jahren  von  Ihnen  sagen  konnte,  das 
konnte  man  damals  von  keinem  einzigen  auf  dem  ganzen  deutschen 
Parnasse  sagen.  Sechs  Bogen  nur  von  Trinkliedern  Ihrer 'Art  (und  so 
viel  müssen  Sie  doch  wohl  in  Ihrem  Pulte  liegen  haben)  wären  mir 
ein  angenehmeres  Messgeschenk,  als  sechs  Tragödien  von  welcher  deut- 
schen Feder  sie  wollen.  Aber  ich  bin  bange,  Sie  möchten  auch  recal- 
citriren,  wie  der  vortreffliche  Erbprinz:  ich  schweige  also  hiervon,  und 


14  Uugedruckte  Briefe 

gelie  weiter.  Von  Herrn  Lessing  haben  wir  sein  Theater,  verbessert 
und  vermehrt,  auf  die  Michaelismesse  zu  erwarten.  Ihn  selbst  hoffe  ich 
bald  wieder  in  Berlin  zu  sehen. 

Auch  als  Patriot  habe  ich  seine  Zurückkunft  aus  Schlesien  ge- 
wünscht. Berlin  ist  für  eine  so  grosse  Stadt  erschrecklich  arm  an 
guten  Scribenten.  Ihr  Braunschweig  ist  wirklich  reicher.  Aus  Eigen- 
nutz habe  ich  oft  gewünscht,  Sie  und  die  Herren  Pr.  Zachariä  und 
Gärtner  möchten  sich  entschliessen  Braunschweig  mit  Berlin  zu  ver- 
tauschen. Aber  Sie  würden  nur  verlieren,  wenn  ich  gleich  gewönne. 
Ihr  Carolinum  ist  jetzt  noch  der  beste  deutsche  Parnass:  drey  gute 
Poeten  sind  an  keinem  andern  Orte  beysammen.  Wahrhaftig  ich  möchte 
gern  der  vierte  seyn,  wenn  ich  leben  könnte,  wo  ich  wollte. 

Ich  nehme  mir  die  Freyheit  hiebey  einen  Brief  an  den  Herzog 
Ferdinand  zu  legen.  Ich  habe  geglaubt,  der  Herzog  wäre  schon  wieder 
nach  Magdeburg  gereist,  wohin  ich  meine  Ode  an  ihn  abgeschickt  hatte. 
Allein  er  hat  den  24ten  sowohl  als  den  30ten  März  aus  Braunschweig 
geschrieben,  und  mit  seinem  letztern  eigenhändigen  Briefe  mich  zugleich 
mit  einer  sehr  kostbaren  goldenen  Tabatiere  i-egalirt,  für  welches  Ge- 
schenk ich  in  beyliegendem  Briefe  meinen  Dank  abstatte.  —  Und  weil 
Sie  mich  noch  immer  so  lieb  haben,  wie  vor  vierzehn  Jahren,  so  kann 
ich  beiliegendes  Paar  Dutzend  Verse  in  keine  bessern  Hände  geben, 
als  in  die  Ihrigen,  Verse,  die  wenigstens  die  Antipoden  jener  langen 
Ode  sind ,  die  Ihnen  Hr.  Pr.  Zachariä  von  mir  gegeben  haben  wird. 
Vir  bone  &  prudens  versus  reprehende  inertes,  oder,  wenn  Sie  glauben, 
dass  der  Durchl.  Prinzessin  Braut  diese  Berenice ,  mit  Ihren  Erklä- 
rungen, gefallen  möchte,  alsdann  stelle  ich  es  in  Ihren  freundschaftlichen 
"Willen,  ihr^zu  verrathen,  wer  die  Berenice  und  der  Ptolem.  seyn  sollen. 

Gegen  den  Rosenmond  werde  ich  sie  hier  drucken  lassen  —  wenn 
sie  gefällt. 

Man  hat  mir  auf  der  Post  gesagt,  dass  schon  eine  Menge  Ge- 
dichte auf  dieses  hohe  Beylager  eingeschickt  wären.  Ich  habe  mein 
Liedchen  fein  in  Vorrath  gemacht,  weil  ich  meiner  Gesundheit  niemals 
lange  traue.  Wenn  ich  mich  nicht  nenne,  so  glaube  ich  werden  mich 
unsre  Kritiker  nicht  errathen.  Ich  grüsse  unsern  lieben  gesunden 
Freund  Zachariä  und  bin  mit  der  aufrichtigsten  Hochachtung 

Theuerster  Freund 

Ihr 

Berlin  d.  9.  April  ergebenster  Diener 

1765.  C.    W.    R  a  m  1  e  r. 

P.  S.  Grüssen  Sie  doch  auch  den  Herrn  Secretär  Kircheisen  von  mir. 
Er  war  ehemals  mein  bester  Zuhörer,  und  ist  jetzt  bey  der 
Durchl.  Princessin  Braut  Secretaire  geworden. 


aus  dem  Nachlasse  J.  A.  Ebert's.  15 


Ich  ergreife  diese  Gelegenheit,  mein  theuerster  Freund,  Ihnen  den 
zweyten  Theil  der  lyrischen  Blumenlese  zu  ühersenden.  Der  Ueber- 
bringer  ist  Herr  Nouseul ,  ein  Acteur  von  dem  hiesigen  deutschen 
Theater.  Er  ist  nur  kurze  Zeit  hier  gewesen,  und  hat  sich  in  einigen 
Rollen  sehr  zu  seinem  Vortheil  gezeigt,  auch  zugleich  seiner  Frau  einen 
so  guten  Unterricht  gegeben,  dass  sie  durch  diesen  und  ihre  eigenen 
Naturgaben,  eine  de!"  besten  Schauspielerinnen  geworden  ist,  die  wir 
hier  gesehen  haben.  Sie  erhielt  den  Beyfall  der  ganzen  Stadt,  und 
folglich  den  Neid  ihi-er  IMitspielerinnen.  Zank  ist  auf  jedem  Theater 
leicht  zu  haben,  sobald  man  ihn  haben  will,  und  ein  solcher  Zank  nö- 
thigt  ihn  seinen  Aufenthalt  zu  verändern,  und,  sobald  er  ihn  erst  selbst 
weiss,  seine  Frau  nachkommen  zu  lassen.  Man  sagt  hier,  (um 
diesen  Umstand  habe  ich  ihn  selbst  niemals  hefragen  wollen)  er  soll 
von  Geburt  ein  Graf  seyn ,  und  aus  Liebe  unter  seinen  Stand  geheu- 
rathet  haben. 

Tausend  Dank,  mein  Liebster,  für  Ihren  vortrefflichen  Leonidas, 
der  künftige  "Woche  ölfentlich  meinen  jungen  Helden  vorgelesen  wer- 
den soll. 

Sie  versprachen  mir  die  Nahmen  der  Verfasser  einiger  Lieder, 
die  ich  aus  den  Brem.  Beyträgen  und  den  vermischten  Schriften  ge- 
nommen habe.  Die  meisten  weiss  ich  schon  durch  die  Güte  des  Hrn. 
Pr.  Zachariä;  doch  fehlen  mir  noch  die  Nahmen  zu  folgenden  Liedern. 

Im  ersten  Theil.     Pag.  419.    Herr  Robert  und  Frau  Robertiu. 

Pag.  79.  Ich  liebte  nur  Ismenen.  (Ist  zwar  niclit  aus  diesen 
Sammlungen,  soll  aber  doch  in  Braunschweig  gemacht  seyn.) 

Pag.  '61.  0  wehe  mir,  du  guter  Mann.  —  P.  111.  Schon  lange 
schmeck  ich  ein  Vergnügen. 

Im  zweiten  Theil:    Pag.  39.    Büsche,  die  ihr  mich  versteckt. 

P.  50.  Es  eilt  im  wilden  Kriege.  —  P.  58.  Hört,  hört  die  stren- 
gen Sittenlehren.  —  P.  67.  Ich  sah  die  junge  Sylvie.  —  P.  65.  Mein 
Freund,  du  kannst  mir  glauben.  P.  86.  Endosia,  Dein  Leben  gleiche. 
(Steht  im  Vossischen  Musenalmanach  1778  sub  littera  y.)  —  P.  53. 
Kommt,  ihr  Frauen  auf  den  Klee.  (Gott.  Musenalmanach  1774  R.) 
Pag.  281.  Siehe  mein  Röschen,  der  Frühling  ist  da.  (Gott.  Musen- 
almanach 1774  sub  littr.  J.) 

Vielleicht  erfahren  Sie  durch  einen  Freund  die  Verfasser  dieser 
drey  letzten.  Herr  Göcking  wollte  sie  mir  melden ;  er  wird  es  aber 
vergessen  haben.  Hätte  ich  mehr  Zeit  gehabt,  so  hätte  ich  Ihnen  zu 
Ihrer  eigenen  Nachricht  die  Nahmen  im  Register  beigeschrieben.  Und 
nun  einen  herzlichen  Kuss  an  Ihre  liebe  Frau  Gemahlin  von 

Ilu'em 
Berlin  den  25.  Jan.  getreuen  Freunde  und 

1771.  Milchbruder  R. 


16  Ungedruckte  Briefe 

4. 
Hochgeehrtester  Herr  und  Freund, 

Ob  wir  gleich  beide  nicht  gern  Briefe  schreiben,  so  gebe  ich  Ihnen 
doch  mein  Wort,  Ihnen  dieses  Jahr  wenigstens  fiinfe  zu  schreiben. 
Fünf  Bücher  von  Liedern  der  Deutschen  muss  ich  Ihnen  nothwendig 
zur  Prüfung  überschicken;  ich  habe  Sie  in  einem  Briefe  an  unsern 
Lessing  damit  bedroht.  Im  fünften,  siebenten  und  achten  fehlt  mir 
noch  ein  Lied.  Diese  drey  Plätze  habe  ich  mit  Fleiss  für  ein  jugend- 
liches Lied  von  meinem  Leibdichter  Ebert  offen  gelassen.  Im  neunten 
stehen  Ihnen  noch  zw^anzig  Plätze  offen.  Was  Sie  in  beykommendem 
sechsten  Buche  einer  guten  Sammlung  unwerth  finden,  belieben  Sie 
nur  mit  einem  Striche  zu  bemerken,  und  es  zugleich  mit  einem  ei- 
genen Liede  zu  ersetzen.  Eine  jede  Aenderung  von  Ihrer  Hand ,  sie 
betreffe  auch  die  kleinste  Kleinigkeit,  wird  mir  ein  angenehmes  Ge- 
schenk seyn. 

Herr  Nicolai  fodert  von  mir  eine  gewisse  Ode  für  Sie.  Hier 
haben  Sie  eine  für  sich ,  und  eine  auf  den  Punsch ,  für  des  Erbprinzen 
V.  Braunschweig  Durchlaucht.  Liest  die  Fr.  Erbprinzessin  auch  deutsch, 
oder  verdolmetschen  Sie  ihr  zuweilen  etwas  deutsches?  Meine  Ode 
betrifft  das  Lieblingsgetränk  ihres  Vaterlandes ;  sie  müsste  also  billig 
von  der  Englischen  Prinzessin  verstanden  werden.  Meinem  Könige 
darf  ich  sie  wohl  nicht  in  die  Hände  zu  spielen  suchen :  die  Sprache 
möchte  ihm  zu  schwer  seyn ;  ob  er  gleich  in  seiner  fabrique  einen 
schönen  Punschnapf  stehen  hat,  den  ich  mir  wohl  damit  verdienen 
möchte!  Welch  ein  massiger  Wunsch!  Ich  stehe  nach  und  nach  mit 
allen  Oden  zu  Dienste ,  die  ich  noch  fabrlciren  werde ,  mit  der  Bedin- 
gung ,  sie  in  keine  Hände  kommen  zu  lassen ,  die  sie  drucken  lassen 
möchten.  Herr  Nicolai  fordert  auch  noch  einen  Prologen  für  Sie; 
den  hat  aber  einer  meiner  Schüler  gemacht,  und  ich  nur,  ein  wenig 
stark,  corrigirt.  Er  ist  Ihrer  Erwartung  nicht  gemäss,  und  fällt 
also  weg. 

Morgen  wird  Koch  bey  uns  sein  Theater  mit  der  Miss  Sara 
Sampson  eröffnen.  Das  ist  für  mich  die  beste  Neuigkeit,  die  ich  Ih- 
nen schreiben  kann.  Sobald  Sie  mir  mein  sechstes  Buch  der  Lieder 
wieder  zurück  senden  werden,  erwarten  Sie  das  fünfte,  und  eine  kleine 
Ode  dazu.  Ich  umarme  Sie  mit  der  vollkommensten  Hochachtung  und 
Liebe,  als 

Ihr 

getreuer  Milchbruder 
Berlin  d.  9.  Juni  und  aufrichtigster  Freund 

1771.  Ramler. 


aus  dem  Nachlasse  J.  A.  Ebert's.  17 

5. 
Mein  liebster,  mein  brüdorUchor  Ebert, 
Ihren  letzten  Abschied  bey  dem  Geh.  F.  Rath  B.  hätte  ich  ohne 
Thränen  nicht  aushalten  können;  ich  musste  mich  also  der  Gesellschaft 
heimlich  entziehen,  so  gern  ich  Sie  auch  noch  einmal  an  mein  brüder- 
liches Herz  gedrückt  hiitte.  Es  ist  zwar  nicht  recht,  dass  Berlin  Ihrem 
Braunschweig  niclit  so  nahe  liegt,  wie  Ihr  Wolfenbüttel,  damit  ich  alle 
Woche  zweymal  bis  siebenmal  bey  Ihnen  seyn  könnte.  Wie  tlieucr 
sind  Sie  mir,  mein  liebster,  seitdem  ich  so  viel  Gelehrte  seit  zwanzig 
Jahren  habe  kennen  lernen,  die  nicht  Ihi'en  Glimpf,  Ihr  weiches  Herz, 
Ihre  Edelmuth  besitzen,  aber  dagegen  oft  einen  sehr  eingeschränkten, 
einen  sehr  eigensinnigen  Geschmack  besitzen!  Wie  nöthig  ist  mir  ein 
Gelehrter  und  ein  Denker,  der  das  Herz  auf  der  Zunge  trägt,  und 
einen  allgemeinen  Geschmack  des  Guten  und  Schönen  hat,  und  in 
dessen  Herzen  kein  P'ünkchen  Neid  und  Eyfersucht  aufkommen  kann  ! 
—  Es  ist  mit  den  Menschen  wie  mit  den  Waaren:  die  besten  muss 
man  sich  aus  der  Fremde  kommen  lassen,  und  unsre  besten  gehen  in 
die  Fremde. 

Sie  erwähnen  höchst  gütigst  eines  kleinen  Streites  unter  uns,  der 
eine  Viertheistunde  dauerte,  und  der  bey  uns  beiden  gewiss  keine  Narben 
zurückgelassen  hat,  weil  er  noch  keine  Wunden  schlug.  Ich  weiss  ge- 
wiss, ich  Eamler,  als  Fremder,  würde  damals  eben  so  vertheidigt  ha- 
ben, als  Sie ;  und  Sie,  als  Berlinischer  Einwohner,  Avürden,  nach  endlich 
erschöpfter  Geduld ,  eben  so  angeklagt  haben ,  als  ich.  Wir  wollen 
beide  diesem  Menschen  zugestehen ,  dass  er  die  Verskunst  ziemlich 
versteht,  und  in  der  Reimkunst  ein  wirkliches  Genie  ist;  wenn  sich 
dieses  Genie  aber  mit  unserm  Klopstock,  dem  Genius  der  Dicht- 
kunst, und  mit  allen  andern  Dichtern  nach  der  Reihe  zu  messen, 
ja  sich  gar  über  sie  wegzusetzen  fortfährt,  und  nie  demüthiger  wer- 
den will ,  so  wollen  wir  es  beide  wenigstens  für  ein  unverschämtes 
Genie  halten. 

Sie  empfangen  von  unserm  Herrn  Postrath  Gräfe  das  7.  u.  8. 
Buch  meiner  Sammlung,  mit  der  Bitte,  es  ja  nicht  zu  verlieren,  weil 
ich  den  Verlust  nicht  völlig  wieder  ersetzen  könnte.  Doch  diese  Bitte 
war  unnützt;  aber  diese  zweyte  taugt  desto  mehr:  Sie  werden  nehmlich 
von  Ihrem,  bereits  A^on  vielem  Ausbessern  ermüdeten  Freunde  gebeten, 
bey  frischen  Kräften  das  Mittelmässige,  das  noch  stehen  geblieben  ist, 
in  etwas  Gutes  und  das  Gute  in  etwas  Besseres  umzuschafFen.  Die 
Stücke,  die  der  Sammlung  nicht  würdig  sind,  durch  bessere  zu  ersetzen, 
und  auch,  dieser  Rekrutirung  wegen,  unsern  Lessing  zu  erinnern, 
der  mir  Bcyträge  aus  zienUich  unbekannten  Deutschen  Dichtern  ver- 
sprochen hat. 

Die  aufgeschriebenen  Stellen,  Avorüber  wir  uns  miteinander  ver- 
gleichen wollten,  mögen  immer  verloren  seyn,  ich  habe  noch  Vorrath 
hievon,  und  werde  einmal  alle  zusammen  abschreiben  und  entweder  mit 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXIII.  2 


18  Ungedrucktft  Briefe 

meiner  eigenen  Entscheidung  sie  Ihnen  übersenden,  oder  auch  meine 
Entscheidung  weglassen,  um  zu  sehen,  ob  wir  von  einander  abgehen 
werden,  und  aus  was  für  Ursachen  wir  es  thun.  Ich  seufze  noch  ein- 
mal: Ach  wäre  mein  Ebert  doch  hier!  Wie  viel  vernünftige,  wie  viel 
empfindsame  Spaziergänge  wollten  wir  thun !  Wie  patriotisch  wollten 
wir  für  unsror  Enkel  Sprache  sorgen !  Wie  viele  halb  fertigen  Ar- 
beiten uns  mittheilen!  u.  s.  w.  u.  s.  w. 

Sagen  Sie  mir  doch,  wie  ich  es  künftig  bey  einer  neuen  und  ver- 
mehrten Ausgabe  meiner  lyrischen  Sächelchen  mit  meinem  so  oft  be- 
sungenen Könige  halten  soll?  Ich  habe  es  noch  nicht  gewagt,  ihm 
die  Lobgesänge  auf  ihn  selbst  zuzuschicken.  Die  Schwierigkeit  der 
Materie  ist  es  nicht,  warum  ich  glaubte,  die  Stücke  würden  ihm  nicht 
gefallen  ;  sondern  die  Schwierigkeit,  die  ihm  die  deutsche  Büchersprache, 
ja  noch  mehr,  die  deutsche  Poetensprache  machen  muss ,  die  er  gar 
nicht  gewohnt  ist,  so  sehr  er  auch  in  einer  andern  Sprache  selbst  Poet 
und  selbst  Richter  der  Poeten  ist.  Ich  habe  hier  keinem  Grossen,  der 
um  ihn  ist,  geschmeichelt,  dass  ich  glauben  und  hoffen  könnte,  er  würde 
mir  einen  Dienst  in  dieser  Sache  leisten.  Wäre  ich  gewiss  versichert, 
dass  er  seinen  Dichter  nur  nicht  auslachen  würde,  so  schickte  ich  ihm 
die  Büchelchen  geradezu.     Vielleicht  ist  dieser  Weg  der  beste. 

Wissen  Sie,  juvenum  nobilium  cliens!  einen  bessern,  so  sagen  Sie 
mir  ihn.  Wenn  nicht,  so  werde  ich  wohl  darüber  sterben,  und  mein 
Opfer  niemals  bis  zum  Throne  bringen.  Wenigstens  wird  es  fein 
sonderbar  lassen,  dass  ich  gesungen  habe ,  als  ob  ich  dazu  gedungen 
worden  wäre,  und  mich  so  sehr  gehütet  habe,  das  Gesungene  vor  mei- 
nes Helden  Augen  kommen  zu  lassen ,  als  ob  ich  Strafe  deswegen 
verdient  hätte. 

Ich  umarme  Sie,  mein  Bester,  imd  werde  diesen  Brief  dem  vor- 
trefflichsten unter  den  Mädchen  geben ,  mit  der  Sie  sich  des  Boten- 
lohnes wegen  selbst  abfinden  mögen.  Leben  Sie  wohl,  und  überleben 
Sie  Ihren 

Berlin  25  Oct.  bis  ins  Grab  beständigen  getreuen 

1771.  Ramler. 


6. 
Geliebter  Freund! 

Herr  Cacault,  ein  Französischer  philosophischer  Kopf,  und  Freund 
unserer  Litteratur,  ist  mir  von  Herrn  Weisse  zuerst  als  sein  Freund 
empfohlen  worden,  und  nun  .empfehle  ich  ihn  wieder  als  den  meinigen. 
Er  wünscht  bey  seiner  Durchreise  durch  Braunschweig  vor  allen 
Dingen  meinen  Ebert  kennen  zu  lernen ,  von  dem  ich  ihm  so  viel 
Gutes  vorgesagt  habe,  und  hiernächst  alle  die  übrigen  Herren,  die 
mein  Ebert  mit  ihm  bekannt  machen  will. 

Und  nun  tausend  Glückwünsche  zu  dem  vortrefTlichsten  Mädchen, 


aus  dem  Nachlasse  J.  A.  Ebort's.  19 

zu  Ihrer  wohlgerathenen  Schülerin.     Sie  imisste  keinen  andern  haben, 
als  denjenigen,  den  sie  am  meisten  zu  lieben  und  zu  ehren  Gelegenheit 
gehabt  hatte.      Auch    wünsche    ich  Ihnen  Glück    zu   dem    Canonicat, 
was  der  Herzog,  wie  ich  höre,  Ihnen  zum  Ilochzeitsgeschenk  gemacht 
hat.      Herr  Zachariä,  sagte  man  mir,  verhcurathe   sich  gleichfalls  und 
habe  ein  ebenmässiges   Geschenk   erhalten.      Sagen  Sie   meinem  alten 
Correspondenten  von  Kortes  Zeiten  her,  dass  ich  an  Seinem  Vergnügen 
und   Glück   den    freundschaftlichsten    Antheil    nehme.      Ich   kann    ihm 
nicht   selbst    schreiben,    weil   ich   die   Gicht   habe,    und  überhaupt   ein 
Correspondent  bin,  wie  mein  liebster  Milchbruder.    Aber  auf  den  einen 
Brief,  der  das  wichtigste  betraf,   was  ein  Poet  wissen  muss,  nehmlich 
wie  der  Erb-Pr.   das  übersandte  Büchelchen  aufgenommen  habe,  hätte 
mir  mein   Milchbrüderchen   doch    wohl    antworten  sollen.      Ich   muss 
also  vermuthen,    dass  mein  AVerkchen   keinen    sonderlichen  Beyfall  ge- 
funden habe.      Sie  haben  mir  gewissermasson  doch  einen  Brief  geschrie- 
ben ,  wofür  ich  Ihnen  meinen   grossen    Dank    schuldig   bin ,   ich    meine 
den    vortrcti'lichen    Gedruckten   an    Herrn    Schmid.      Mir  nicht   allein, 
der   ich   bestochen   bin,   sondern   allen    die  ihn  gelesen   haben,    hat  er 
ausserordentliches   Vergnügen   gemacht.       Man    sieht    einen   Athleten, 
der   zwar  lange  nicht  mitgekämpft  hat,    der  aber  zeigt,    dass  er   die 
ganze  Fechtkunst  versteht,    sobald   er  einmal   wieder  in  die  Schranken 
tritt.     "Was  gäbe  ich  nicht  für   einen   zweyten  Brief  an  mich?   und  für 
einen  dritten  an  Lessing,  und  für  einen  vierten  an  —  wen  Sie  wollen. 
Ich  setze  mich  zuerst,  weil  ich  gewiss  weiss,  dass  ich  mich  durch  eine 
Ode   an   meinen  Ebert  lösen  wurde.      Herr   Lessing  mag   sich  durch 
eine  Comödie  lösen,  worin  er  ein  Mädchen  schildert,  dass  ausserordent- 
lich liebenswürdig  ist ,   und  wozu   er  das  Muster    von   Ihrem  Mädchen 
nimmt.      Aber  ist  die  Hochzeit  auch    nicht    schon   vorbey?      Damit  ich 
Frau  und  nicht  Mädchen  schreibe,  wenn  ich  Sie  künftig  ersuche,  meine 
Grüsse  an  sie,  und,  welches  ich  itzt  gleich  thue,  an  Ilu-en  Herrn  Vater 
und  Frau  Mutter   zu   bestellen.     Vergessen   Sie   doch  nicht,   wenn  ich 
so  glücklich  seyn  soll  einmal  Ihre  Hand  Avieder  zu  lesen,  mir  zu  sagen 
ob  ich  Ihrem  E.  P.  noch  ein  wenig  gefalle? 

Principibus  placuisse  viris  non  ultima   laus  est.     Ich  umarme  Sie 
und  bin  ewig  und  unveränderlich  ganz  der  Ihrige 

Berlin  den  25  .Januar  Ramler. 

1773. 


7. 

Mein  geliebter  Herzensfreund! 

Diesen    meinen    Gruss    wird    Ihnen    ein   junger   Musikus,     Herr 

Reichard  einhändigen,    den  ich  unmöglich    durch   Braunschweig  kann 

durchreisen  lassen,  ohne  Sie  gesehen  zu  haben.      Sie  werden  an  diesem 

jungen  Manne   ein   musikalisches   Genie    und   noch    andere   schätzbare 


20  Ungedruckte  Briefe 

Eigenschaften  entdecken,  ■worunter  auch  diese  ist,  dass  er  Sie,  und 
alle,  die  Ihnen  gleichen,  bewundert  und  verehrt.  Dass  Sie  mit  Ihrer 
geliebten  Frau  höchst  vergnügt  und  glücklich  leben,  das  v^'ciss  ich, 
und  darf  mich  also  darnach  nicht  erkundigen ;  aber  das  möchte  ich 
doch  Avohl  wissen,  was  wir  das  nächstemal  von  Ihnen  zu  lesen  be- 
kommen werden,  und  wie  bald  wir  es  bekommen  sollen.  Imgleichen, 
ob  bald  ein  kleiner  Ebert  (ein  weit  besseres  Werk,  als  Ihre  besten  Ge- 
schriebenen) ob  bald  ein  solcher  Liebesgott  vom  Schoosse  seiner  Mutter 
den  Vater  mit  halbgeöffneten  Lippen  anlachen  wird.  Ich  reisse  mich 
von  meiner  neuen  Ausgabe  des  Bathyll  (von  der  ich  noch  fünf  Bogen 
nach  Leipzig  zur  Messe  schicken  soll)  mit  Gewalt  los,  um  das  Ver- 
dienst zu  haben,  Ihnen  öfter  zu  schreiben,  als  Sie  mir.  Ich  hätte  Sie 
bey  dieser  letzten,  vermuthlich  letzten,  Verbesserung  in  vielen  Dingen 
zu  Rath  ziehen  mögen:  aber  immer  Briefe  desswegen  zu  schreiben 
schien  mir  keine  Erleichterung  bey  meiner  Vielschreiberei  zu  seyn.  Ich 
bin  durch  beyliegendes  Gedichtchen,  wozu  ich  mir,  nach  meiner  alten 
Gewohnheit,  ziemlich  viel  Zeit  nahm,  an  der  Vollendung  des  kritischen 
Buches  gehindert  worden ,  welches  ich  aber  fertig  zu  schaffen  eilen 
muss.  Daher  ich  mich  Ihnen  diesesmal  kurz  und  eilfertig  empfehle, 
einen  meiner  besten  Segenswünsche  Ihrer  besten  Frau  gebe ,  Herrn 
Lessing,  Zachariä,  Eschenburg  grüsse  und  mich  mit  dem  aufrichtigsten 
Herzen  nenne 

Ihren 

getreuesten  Freund 
Berlin  den  30  April  und  Milchbruder 

1774.  Ramler. 

N.  S.  Die  Anmerkungen  unter  diesem  Vorspiel  sind  für  das 
einfaltige  Berlinische  Parterr  gemacht,  und  werden  in  meiner  künftigen 
Ausgabe  wegbleiben.  Zu  dieser  will  ich,  nach  Ihrem  und  Ihres  Ha- 
gedorns Beispiel,  andere  Anmerkungen  machen,  die  ich  grosse  Lust 
hätte  Ihnen  noch  in  diesem  Jahre  zuzuschicken. 


8. 

Liebster  Freund! 
Wir  haben  hier  mit  unserm  lieben  Lessing  recht  vergnügt  gelebt. 
Zuerst  ihn  brav  ausgefragt,  und,  als  wir  merkten,  dass  er  uns  das 
meiste  und  beste  geschrieben  geben  wollte,  zu  fragen  aufgehört.  Ich 
habe,  wie  gewöhnlich,  von  allem  mit  ihm  gesprochen,  wovon  ich  mir 
zu  sprechen  nicht  vorgenommen  hatte,  und  alles  vergessen,  wovon 
ich  nothwendig  mit  ihm  zu  sprechen  hatte ;  ich  werde  mich  also  wieder 
aufs  Briefschreiben  verlassen  müssen,  eine  Sache,  worin  wir  beide  gleich 
genau  und  gleich  unermüdet  sind.  —  Sie  ei'mahnen  mich  zum  Schrei- 
ben, —  damit  Sie,  wie  Moses  sagt,  sich  mit  dem  wohllüstigen  Lesen 


aus  dem  Nachlasse  J.  A,  Eberfs.  21 

einen  Zeitvertreib  machen  kJmncn:  eben  so  mache  ichs  mit  unscrm 
Lessing;  ich  ermahne  ihn  mit  allen  rhetorischen  Figuren  zu  cinci- neuen 
Komödie,  besonders  zum  Schlaftrunk,  weil  ich  zu  dieser  den  Titel  her- 
gegeber habe:  aber  er  lässt  sich  ruhig  ermahnen,  und  folgt  seiner 
eigenen  Laune  und  der  Bequemlichkeit.  Ich  finde  es  gleichfalls  viel  be- 
quemer, meine  Stunden  mit  Lesen  hinzubringen,  als  mit  Ausarbeitimgen, 
wovon  der  Dank  in  Kritiken  besteht ,  die  so  künstlich  auf  Schrauben 
gesetzt  werden,  dass  man  denken  muss,  man  habe  uns  nur  aus  Gnade 
und  Barmherzigkeit  ungezüchtigt  entwischen  lassen.  Wenn  icli  einmal, 
Avie  Pope,  wild  werden  könnte,  so  würde  ich  alles,  was  schon  wider 
mich  grob  gesagt  und  fein  gestichelt  ist,  zusammenschreiben,  und  es 
selbst  der  Welt  zum  Geschenke  machen.  Es  würde  sich  alsdann  zeigen, 
dass  ich  nicht  eine  einzige  gute  Eigenschaft  besässe,  sondern  noch  un- 
gliicklicher  wäre,  wie  das  schlechteste  unter  allen  menschlichen  Ge- 
schöpfen ist,  wovon  doch  jedes  wenigstens  eine  oder  ein  Paar  gute 
Seiten  hat.  Freylich  weiss  die  Welt  nicht,  oder  vergisst  es  auch  den 
Augenblick,  Avas  wider  unsres  gleichen  Leutchen,  die  im  Grunde  doch 
gute  Leutchen  sind,  gewitzelt  wird.  Schade  nur,  dass  wir  es  nicht  so 
geschwinde  vergessen.  Wir  erwarten  wenigstens  einen  warmen  Dank, 
und  erhalten  im  eigentlichsten  Verstände  Ungewinn  und  Schaden. 
Meine  Gattung  von  Poesie  ist  die  undankbarste  unter  allen.  Schriebe 
ich  Fäbelchen  oder  auch  Satiren,  so  würde  ich  gelesen  und  vielleicht 
gefiirchtet.  Aber  nichts,  als  lauter  reiner  Weihrauch,  den  der  nicht  zu 
riechen  bekömmt,  dem  er  angezündet  wird,  und  dessen  die  übrigen, 
denen  er  nicht  angezündet  Avird ,  bald  überdrüssig  werden.  —  Wenn 
man  meinem  Milchbruder  in  Schriften  auch  nur  von  Ferne  eine  saure 
Miene  macht,  so  werde  ich  beleidigt;  dann  denke  ich,  wen  wollen  wir 
denn  einmahl  vom  Herzen  loben  und  schätzen ,  wenn  wir  unsre  besten 
Männer  so  kalt  und  zweydeutig  loben?  Sie  können  sich  also  nur  mit 
mir  trösten.  Mündlich  und  in  Briefen  bekomme  ich  die  deutlichsten 
und  oft  die  ausschweifendsten  Lobeserhebungen,  damit  man  es  im 
Drucke  wieder  massigen  kann.  Fehler  werden  mit  bestimmten  Worten 
und  Beweisen  angeführt,  das  Beste  wird  gar  nicht  angeführt,  sondern 
nur  mit  den  abgedroschenen  allgemeinen  Lobeserhebungen  belegt, 
die  ein  jeder  bekömmt,  dem  man  nichts  Böses  sagen  Avill.  Ich  rede 
hier  fast  nur  von  einem  einzigen  Kritiker,  dessen  Aufführung 
mir  nahe  geht ;  denn  wirklich  lese  ich  zu  wenig  gelehrte  Zeitungen, 
als  dass  ich  viel  für  oder  Avider  mich  erfahren  könnte.  —  Poesien, 
Avelche  ich  nun  gern  bis  in  mein  60  Jahr  machen  möchte,  habe  ich, 
seit  meinem  49  Jahr,  nicht  gemacht;  aber  fremden  Liedern  ein  Paar 
Feilstösse  gegeben,  das  habe  ich  Avohl.  —  Zum  Exempel:  Avenn  ich 
Avüsste,  dass  unser  vortreffliche  Prof.  Eschenburg  es  nicht  übel  nehme, 
Avenn  ich  eines  seiner  Lieder,  das  ich  im  Almanach  d.  d.  Musen  ge- 
funden habe,  in  die  Cur  nähme,  so  wollte  ich  es  ihm  zur  Prüfung  und 
zur  letzten  Ausfeilune:  übersenden.     Nach  meiner  neuen  Leseart  würde 


22  Un gedruckte  Briefe 

es,  so  viel  ich  es  aus  dem  Kopfe  weiss,  (denn  diesen  Brief  schreibe 
ich  bei   Herrn  Voss,   wo  Lessing   diesen  Tag    zubringt)   ungefähr   so 

anfangen : 

Philet. 

So  verändert,  Freund  Elpin? 
Was  soll  dieser  Rosmarin, 
Da  dein  jugendliches  Ilaar 
Sonst  umkränzt  mit  Rosen  war? 

Elpin. 

CWoens  Lieb'  ist  mir  geraubt: 
Rosen,  sprach  ich,  um  mein  Haupt 
Dürft  ihr  künftic;  nicht  mehr  blühn! 
Darum  trag  ich  Rosmarin.  —  u.  s.  w. 

Weil  ich  die  Folge  nicht  mehr  im  Gedächtniss  habe.  —  Ich  wollte 
gern  in  der  lyrischen  Blumenlese  von  allen  unsern  guten  Dich- 
tern wenigstens  ein  Stück  aufzuweisen  haben ,  und  es  wäre  Sünde  und 
Schande,  wenn  ich  unsern  Eschenburg  ausliesse.  Klopstocken  habe 
ich  ausgelassen ,  weil  er  für  diese  Sammlung  zu  hoch  ist ;  er  kann  sich 
aber  mit  mir  trösten:  denn  mich  selbst  habe  ich  auch  ausgelassen. 
Ich  hoffe  zwar  von  ihm,  aber  nicht  von  einigen  seiner  Schüler, 
Vergebung,  wenn  ich  eines  seiner  leichten  Lieder  verkürzt.  Wenn 
Sie  uns  dieses  Jahr  besuchen,  so  wollen  wir  darüber  Conferenz  halten. 
Ich  umarme  Sie  mit  der  wärmsten  Freundschaft,  küsse  Ihrer  vortreff- 
lichen Frau  die  Hände ,  —  und  Mund  und  AVangen  dazu  —  (es  ist 
ja  fürs  erste  nur  im  Briefe!)  und  bin 

Ihr 

Berlin  20  Februar  ewig  getreuer  brüderlicher 

1776.  Ramler. 


9. 

Mein  gellebtester  bester  Freund! 

Der  Herr  Hofrath  Raupach ,  ein  Schlesier ,  und  Ihrem  lieben  Mi- 
nister, dem  vortrefflichen  Zedlitz,  lieb  und  werth,  wird  Ihnen  seine 
Person  und  diesen  Brief  bringen.  Er  liebt  die  deutsche  Litteratur  in 
ausnehmendem  Grade,  und  ist  mit  allen  unsern  alten  und  neuen  Dichtern 
so  bekannt,  wie  wir  selbst:  das  ist  genug,  ihn  auf  die  kurze  Zeit,  da 
Sie  ihn  in  Braunschweig  sehen  werden,  Ihrer  Freundschaft  zu  empfehlen. 
Ich  lege  hier  des  Prof.  Eschenburgs  aufgefundenes  Liedchen,  mit  meinen 
Varianten  bey,  mit  der  Bitte,  mir  es  gütig  zu  verzeihen,  dass  ich  meine 
Feile  an  sein  Gedicht  zu  setzen  gewagt  habe,  und  mit  der  zweyten 
Bitte  an  ihn,  mit  seiner  eigenen  Feile  darüber  herzufahren.  Sein 
Lied  ist  zu  einer  neuen  lyrischen  Blumenlese  bestimmt,  die  den  zweyten 


aus  dem  Nachlasse  J.  A.  Ebert's.  23 

Tlieil  und  den  Schluss  dieser  mülisainen  und  vielloicht  undankbaren 
Arbeit ,  ausmachen  soll.  Ich  bin  in  diese  Arbeit  durch  die  kloine 
Veranlassung  hineingezogen  worden,  dass  ich  dem  Tonkünstler  ein  paar 
Stellen  bequemer  machon  müssen.  Bald  darauf  habe  ich  immer  weiter 
um  mich  gegrillen,  und  andern  das  zu  leisten  gesucht,  was  ich  vielleicht 
(wenn  ich  meinen  eigenen  Vortheil  besser  verstanden  hätte)  mir  nur 
allein  hätte  leisten  sollen.  Ich  will  sehen,  ob  ich  Ihnen  nicht  zur  letzten 
Beurtheilung,  das  ganze  Buch  in  einigen  Wochen  hinüberschicken  kann. 
Sie  sind  patriotisch  gesiimt;  Ihnen  liegt  die  Ehre  Ihrer  zeitverwandten 
Dichter  am  Herzen,  und  dafür  umarme  ich  Sie  auch  mit  doppolten 
Küssen,  Ihre  liebenswürdige  Frau  in  diese  Umarmung  mit  einge- 
schlossen; und  bin  ewig 

Ihr 

getreuester  Freund  und 
Berlin  den  28  April  redlicher  Milchbruder 

1776.  Ramler. 


10. 
Liebster  Freund  und  theuerster  Milch bruder! 

Diesen  mir  so  werthen  Nahmen  muss  ich  nicht  abkommen  lassen. 
Und  nun  Avie  befinden  Sie  sich  auf  Ihrer  Reise  ?  oder  wie  haben  Sie 
sich  befunden?  Herr  Reich  aus  Leipzig  wird  Ihnen  doch,  meinem 
Auftrage  gemäss,  die  Fabellese  übersandt  haben?  Ich  hatte  ihm  zu- 
gleich ein  Briefchen  an  Sie  und  an  viele  Mitarbeiter  der  Fabeln  hin- 
geschickt, mit  der  Bitte,  zu  jedem  Briefe  ein  Exemplar  auf  Holl.  Papier 
hinzu  zu  thun.  Wenn  er  alles  getreulich  ausgerichtet  hat,  so  wird  es 
mir  lieb  seyn,  wenn  mein  Freund,  der  Nichtschreiber ,  es  mir  einmahl 
melde.  Aber  vornehmlich  erinnert  mich  Himburg,  dass  ich  Sie  er- 
suchen möchte ,  für  ihn  eine  neue  Ausgabe  Ihrer  Youngischen  Nacht- 
gedanken zu  veranstalten.  Ich  besorge,  dergleichen  druckt  man  sonst 
ohne  Anfrage;  es  ist  also  ein  gutes  Zeichen,  dass  er  wenigstens  es 
nicht  so  macht,  wie  die  Nachdrucker.  Auch  weiss  ich  aus  Erfahrung, 
dass  er  die  versprochenen  Autorgebühren  richtig  zahlt.  Schreiben  Sie 
ihm  doch  selbst  hierüber.  Er  sagt,  Ihr  Buch  wäre  abgegangen,  und 
es  könnte  leicht  ein  Nachdruck  in  der  Schweiz  oder  in  Wien  oder 
Strasburg  oder  Manheira  gemacht  werden. 

Ich  habe  Ihrem  gnädigen  Herzoge  meine  Fabellese  zugesandt ; 
ich  wünsche,  dass  sie  Seinen  Beyfall  erhalten  mag.  Ich  hätte  ihm 
wohl  die  Nahmen  der  Verfasser  in  das  Register  schreiben  können,  icli 
wollte  aber  das  Exemplar  nicht  länger  zurück  halten.  Verslein  zum 
Anfange  habe  Ich  hineingoschrioben.  Die  beiden  letzten  davon  habe 
ich  noch  im  Gedächtniss : 

Auch  Thetis  Sohn  ergriff,  entfernt  vom  Schlachtgewülil, 
Des  alten  Chirons  Saitenspiel- 


24        Ungedruckte  Briefe  aus  dem  Nachlasse  J.  A.  Ebert's. 

Das  übrige  denken  Sie  sich  leicht  hinzu. 

Wenn  Sie  doch  die  Youngischen  Satiren  von  den  Nachtgedankon 
trennen  wollten!  Manches  Frauenzimmer  liebt  diese  Satiren  nicht; 
und  manche  Mannsperson  leider!  die  Nachtgedanken  nicht. 

Grüssen  Sie  meine  liebe  Freundin,  Ihre  theuerste  Hälfte,  und 
geben  ihr  in  meinem  Nahmen  den  Kuss  eines  Freundes.  Ich  bin  mit 
dem  wärmsten  Herzen  Ihr  *) 

Berlin  d.  21  Dec.  ewig  getreuer  Freund 

1783.  Ramler. 


*)  Der  in  diesen  Briefen  häufig  wiederkehrende  Ausdruck  Milchbruder 
ist  nicht  gut  im  gewöhnlichen  Sinne  zu  verstehen,  da  Ebert  zwei  Jahre 
jünger  war  als  Ramler.  Vermuthlich  gab  die  grosse  Aehnlichkeit  der  beiden 
Freunde  die  Veranlassung  zu  dieser  Bezeichnung.  Die  Karscbin  wurde,  als 
sie  Ebert  zum  erstenmale  sah,  von  dieser  Aehnlichkeit  so  überrascht,  dass 
sie  ihr  Erstaunen  in  folgende  Verse  ergoss: 

Ebert  und  Ramler. 

Ihr  Götter  was  hab  ich  gesehn, 
Durch  welchen  unter  Euch  ist  dieses  Wunder  geschehn? 

Sie  sind  nicht  einer  Mutter  Söhne; 

Und  dennoch  hatten  wohl  nicht 

Die  Brüder  der  schönen  Helene 

Mehr  Aehnlichkeit  im  angesicht 

Als  Ebert  und  der  Sänger  des  Süssen  Pygmalions. 

Von  beyder  Lippen  fliessen 
Accente  der  Musen  und  des  hohen  ApoUons, 

In  beider  Auge  funkelt 

Ein  gleiches  liebüches  Blau, 
Wie  auf  Vergissmeinnicht  und  Hyacinthen  der  Thau 
Wenn  keine  Wolke  den  Morgen  Verdunkelt. 

Sie  haben  Einerley 
Lächeln  und  Blick  wie  der  freundliche  May, 

Und  der  rosengeschmückte 

Nach  Ihm  folgende  Mond. 
Ihre  Mutter  entzückte  V 

Einer,  der  den  Olimpus  bewohnt, 

In  wollüstigen  Träumen 

Zu  verschiedener  Zeit, 
Als  Ihr  Wesen  begunte  zu  keimen. 
Ja,  Ja  —  daher  entstand  die  Gleichgeschaffenheiti 

Phöbus  ist  es  gewesen, 

Beyde  sind  des  Gottes  Voll, 

und  von  Ihm 

Zu  Lieblingen  erlesen. 

Deren  Ruhm  nicht  untergehen  soll. 

Braunschweig.  Dr.  Adolph  Glaser. 


Beiträge 

zur   englischen   Lexikographie. 
(Zweiter  Artikel.) 


R ,  the  three  R's  of  Sir  William  Curtis  =  Lesen ,  Schreil)en  und 
Rechnen,  davon  so  genannt,  dass  Alderman  Curtis,  der  Liebling 
Georg's  IIL,  einst  in  einem  Toaste  „roading,  writing,  'rithmetic"  feierte. 
(Nach  J.  Schmidt,  Archiv,  Bd.  21,  p.  348.) 

rabble,  to,  wurde  1689  von  den  covenanters  gebraucht,  in  der 
Bedeutung:  bischöfliche  Geistliche  aus  ihrem  Amte  vertreiben.  Mac- 
aulay,  Hist.  IV,  pp.  248,  250,  251  Tchn. 

rabbit  me  =  damn  me,  wiederholt  in  Goldsraith's  Lustspielen, 
zu  seiner  Zeit  also  wohl  eine  alltägliche  Redensart. 

rack.  Nach  den  Dictionnairen  sollte  man  vermuthen,  dass  es  in 
der  Bedeutung:  ziehendes  Gewölk  nur  an  den  zwei  citirten  Stellen  in 
Shakspeare  vorkommt.  Es  wird  jedoch  noch  heute  häufig  gebraucht, 
unter  andern  von  Thos.  Äloore,  I,  p.  391,  II,  p.  313,  III,  p.  316 
Tchn. 

ragged  schools,  die  in  neuerer  Zeit  für  die  vagabundirönde  Ju- 
gend Londons  gegründeten  Armenschnlen. 

ramshackle,   Substantive.      The  Newcomes,  II,  p.  318  Tchn. 

ray-dog,  eine  Fischart.     Kingsley,   Two  years  ago,  p.  50  Tchn. 

read,  the,  Substantive.  On  Monday  when  I  arrived  and  took 
ray  seat  at  the  head  desk,  and  my  first  read  of  the  newspaper,  as  was 
my  right,  the  first  thing  I  read  was.  Thackeray,  History  of  Samuel 
Titmarsh,  chpt.  I. 

readership,  Correctorstelle  in  Buchdruckereien. 

refugees  =  cowboys,  in  consequence  of  their  having  taken 
refuge  under  the  protection  of  the  crown.  Cooper,  The  spy,  p.  199 
Tchn. 

r  e  g  i  s  t  r  a  r.  Der  Civilstandsbeamte.  England  und  Wales  zer- 
fallen in  624  regis  tration-districts. 

regulation  cap,  regulation-  suit,  regulation  sword 
u.  s.w.,  beim  Militair,  die  vorschriftsmässige  Mütze,  Uniform,  der  vor- 
schiiftsmassisre  Defren. 


26  Beiträge  zur  cnglisclien  Lexikographie. 

renowner.  So  übersetzt  Longfellow,  Hyperion,  p.  66  das 
deutsche  Renommist. 

to  r  e  p  o  r  t  one's  seif,  militärischer  Ausdruck  :  sich  melden. 

to  reread,  to  read  again. 

a  rheoboam,  a  shovfi  hat. 

the  rhine,  in  Somersetshire  für  Graben.  Macaulay,  Hist.  II, 
172  Tchn.  Between  them  and  the  enemy  lay  three  broad  rhines, 
filled  with  water  and  soft  mud.  Two  of  these,  called  the  Black  Ditch 
and  the  Langmoor  Rhine,  Monmouth  knew  that  he  must  pass.  But 
the  existence  of  a  trench,  called  the  Bussex  Rhine,  had  not  been  men- 
tioned  to  him  by  any  of  his  scouts.  —  Van  Dalen  hat  dieses  rein  pro- 
vinzielle Wort  wohl  mit  Unrecht  in  sein  Vocabulary  aufgenommen. 

ribbon,  Ordensband,  wie  ruban.     Thos,  Moore,  IV,   101   Tchn. 

rieh,  reich  an  guten  Einfällen,  Schulausdruck.  DTsraeli,  Co- 
ningsby,  8,  1.     Log  of  the  Water  Lily,  p.  42  Tchn. 

riddle-me-ree,  ein  Räthselrefrain,  wahrscheinlich  corrumpirt 
aus  riddle-me-right. 

to  ride  (the)  Skimmington.  Eine  Beschreibung  dieses  Schand- 
ritts in  Butler's  Hudibras,  Part  II,  Canto  IL 

Right-boys  =  White-boys.  Atlantis,  II,  22. 

the  ring,  in  Arcansas,  ein  über  dem  Hufe  des  Pferdes  fest- 
geschnürter seidener  Faden,  um  den  Reisenden  wegen  Lahmheit  des 
Pferdes  zur  Umkehr  zu  zwingen.  Marryat,  Monsieur  Violet,  p.  298  Tchn. 

to  rise,   Schulausdruck,  einen  höhern  Platz  bekommen. 

river-brethren,  eine  religiöse  Secte  in  Nordamerika  (Kohl, 
Reise  im  Nordwesten  der  Vereinigten  Staaten,  p.  25). 

Roger  de  Cover ley,  ein  alter  Tanz. 

roller,  ein  Gebäck  in  den  Vereinigten  Staaten  (Kohl,  Reise  im 
Nordwesten  der  Vereinigten  Staaten,  p.  239). 

the  roly-poly  pudding;  so  schreibt  Thackeray,  Snobs,  chp. 
35,  gewiss  unrichtig  für  rolly-pooly  (von  roll  in  the  pool). 

the  roost,  die  Meeresströmung.     Walter  Scott,  Pirate,  I,  1,., 

rove,  in  der  Seesprache  gewöhnliches  Participium,  das  nicht  zu 
to  rive,  sondern  zu  to  reeve  gehört  mit  demselben  Vocalwechsel  wie 
hove  von  to  heave.     Cooper,  Jack  o'the  Läutern,   p,  328  Tchn. 

ruffs  and  rees?  Eine  Vogelart;  nur  bei  James,  stepmother, 
II,  p.  230  Tchn.  und  Beauchamp,  p.  210  Tchn. 

the  runner,  1)  einer  der  bei  dem  Schulfest  montem  beschäf- 
tigten Knaben  (siehe  die  unter  montem  citirte  Stelle) ;  2)  der  Passa- 
giermäkler in  New  York,  ein  Betrüger,  der  über  die  Einwanderer  her- 
fällt und  sie  durch  falsche  Vorspiegelungen  um  ihre  Habe  zu  bringen 
sucht,   von  den  Deutschen  durch  das  platte  Loafer  (Läufer)  übersetzt. 

rush-cart,  ein  aus  Binsen  gemachter  und  bei  den  Maifesten 
gebrauchter  Wagen,  dessen  genaue  Beschreibung  zu  finden  ist  in  Ains- 
worth,  Lancashire  witches,  I,  p.  113  Tchn. 


Beiträge  zur  englischen  Lexikographie.  27 

sack.  „They  were  well  provided  Avith  that  kind  of  Sfianish 
wine  which  is  called  ,sack',  though  the  true  name  of  it  be  Xeque, 
from  the  province,  when  it  comes."  —  Mandelsho,  travels  into  the 
Indies,  London  1G69,  p.  5. 

sack  er,  früher  der  Name  einer  kleinen  Art  Kanone.  W.  Scott, 
Montrose,  I,  p.  39,  Schlesinger'sche  Ausgabe. 

sainted,  oft  gleichbedeutend  mit  late,  dead,  selig. 

Saint  Swithin.  Nach  einer  abergläubischen  Kegel  tritt  lange 
Regenzeit  ein,  wenn  es  am  Tage  des  Saint  Swithin  geregnet  hat.  Da- 
her Punch,  n.  819,  p.  112:  The  birthplace  of  St.  Medard,  who  is 
the  French  St.  Swithin,  has  long  been  a  puzzle  to  French  archaeo- 
logists.  However,  the  bibliopile  Jacob  says  that  there  is  every  ground 
for  supposing  it  was  somewhere  near  Tours,  for  undoubtedly  St.  Me- 
dard's  Province  in  France  was  To-Rain  (Touraine). 

to  sali,  oft  von  Personen,  stolz  einherschreiten. 

safe  bind,  safe  find,   Sprichwort. 

Santiclaus.  Longfellow,  Outre-mer.  Standard  Amer.  Auth., 
p.  305:  The  shops  were  füll  of  dolls  and  playthinö;s  for  tlie  Bifana 
who  enacts  in  Italy  the  same  merry  interlude  for  children  that  Santi- 
claus does  in  the  North.  Dieser  Santiclaus  ist  offenbar  der  am  Rhein 
verehrte  und  von  dort  durch  Einwanderer  nach  Amerika  versetzte 
St.  Nicolaus. 

satisfied  in.  I  was  lately  satisfied  in  what  I  heard  of  be- 
foic  ....  that  the  mystery  of  annealing  glass  is  now  quite  lost  in  Eng- 
land. Füller,  Mixt  Contemplations  on  these  times  in  Fuller's  Good 
Thoughts,  Pickering,  1846,   p.  221. 

save  you,  abgekürzt  für  God  save  you,  die  früher  sehr  gebräuch- 
liche Begrüssungsformel. 

(God)  save  the  mark,  ein  immer  in  ironischem  Sinne  gebrauchter 
Ausruf. 

savourly.  Damit  bezeichneten  die  Independenten  die  ihnen 
zusagenden  Predigten.     Macaulay,  Hist.   of  Engl.,  T,  p.  121   Tchn. 

scene,  Hinterdecoration,  im  Gegensatz  zu  side  oder  wing, 
Seitencoulisse. 

Scratch  er,  eine  Art  schnarrender  Rolle,  mit  denen  sich  die  den 
Jahrmarkt  zu  Greenwich  Besuchenden  zur  Belustigung  einander  unver- 
merkt über  den  Rücken  fuhren  (F.  A.  Flügel). 

screw,  turfcant,  ein  schlechtes  Pferd.  Charles  Lever,  Arthur 
O'Leary,  I,  pp.  118,  125,  313  Tchn. 

scrub,  der  ,,Busch,"  Wald  in  Van  Diemensland.  James,  The 
convict,  II,  p.  104   Tchn. 

scruf,  der  Nacken.  Marryat,  Jacob  Faithful,  I,  6.  I  shall  take 
you  by  the  scruf  of  the  neck.  —  Dickens,  Little  Dorritt,  I,  p.  310  Tchn. 

scuft  of  the  neck,  dasselbe  in  Gaskell,  Life  of  Charlotte  Bronte, 
I,  p.  270  Tchn. 


28  Beiträge  zur  englischen  Lexikographie. 

sculping,  young  sculping,  seacant  (F.  A.  Flügel). 
a  scnp,  amerik.,  a  swing.    The  wide,  wide  world,  p.  102  Tchn. 
second-scent.     Analog   dem  second  sight    gebildet   von  Thos. 
Moore  in  den  Fire-worshippers : 

With  that  keen  second-scent  of  death 
By  which  the  vulture  snuffs  his  food 
In  his  still  warm  and  living  breath. 

secret,  a,  ein  unter  dem  Anzüge  getragenes  Panzerhemd.  Mac- 
aulay,  Hist.  IV,  p.  301. 

Secularists,  heterodoxe  Kirchenpartei  in  England. 

selftaught,  well  taught,  Sprichwort. 

to  send,  vor  Participien  der  Verba  der  Bewegung  zur  Verstär- 
kung angewendet.  Warren,  Now  and  then,  I.  He  flung  him  out  into 
the  open  air  with  such  a  violence  which  sent  him  staggering  se- 
veral  yards.  Derselbe,  The  Thunderstruck.  Shall  we  be  at  once  split 
asunder  into  innumerable  Fragments  and  sent  drifting  through  in- 
definite Space.  Macaulay,  The  royal  troops  instantly  fired  such  a 
volley  of  musketry  as  sent  the  rebel  horse  flying  in  all  directions. 
James,  The  stepmother,  II,  p.  189  Tchn.  As  soon  as  this  is  all 
settled,  l'll  pay  her  wages  and  send  her  packing. 

serpent  f e n c e  ==  Virginia  fence  (Kohl,  p.  301). 

shaky,  exchange  cant,  faul,  in  schlechten  Umständen.  Thakeray, 
History  of  Samuel  Titmarsh.  Other  circumstances  occurred  in  the  city 
of  London  which  seemed  to  show  that  our  director  was  —  what  is  not  to 
be  found  in  Johnson's  dictionary  —  rather  shaky. 

shambles,  a,  als  Singularis.  Bulwej*,  Zanoni,  III,  7.  Thick 
steams  of  blood  rise  as  from  a  shambles.  Prescott,  The  whole  land 
was  converted  in  a  vast  human  shambles. 

sham,  nach  Macaulay,  Hist.  of  Engl.,  I,  p.  253  Tchn.,  seit  der 
Zeit  Karl's  des  Zweiten  in  Gebrauch.    Vergl.  North's  Examen,  p,  231. 

shamefas  tness,  die  eigentliche  Form  für  shamefacedness,  vom 
angelsächsischen  sceara-feast;  es  kommt  vor  in  der  Bibelübersetzi^g 
von  1611,  Timoth.  I,  2,  9. 

shandry,  eine  Wagenart.  Gaskell,  Ruth,  p.  161  Tchn.  und 
The  Sexton's  Hero,  scheint  nordenglisch. 

shandygaff,  ein  Getränk.  Cuthbert  Bede,  The  adventures  of 
Mr.  Verdaut  Green,  I,  chpt.  12. 

Sharp,  dur,  im  Gegersatz  zu  flat,  moll. 

sheet-lightning,  Wetterleuchten. 

shooting-gallery,  Schule  zu  Schiessübungen,  le  tir. 

Short  whist,  eine  Art  des  Whist,  wie  long  whist. 

to  show  fight,  Miene  machen,  sich  zu  widersetzen. 

the  shy,  der  Wurf.  Wilkie  Collins,  Hide  and  seek,  I,  p.  126 
Tchn.  I  feel  certain  that  I  should  enjoy  having  a  shy  at  Mr.  Jubber. 
Ferner  II,  163.     Siehe  the  smudge. 


Beitrüge  zur  englischen  Lexikographie.  29 

sight,  der  Alliteration  wegen  häuilg  zusammengestellt  mit  sound; 
every  sight  and  sound,  Alles,  was  zu  sehen  und  zu  hören  ist. 

to  sight,  zielen,  beim  Geschütz.  Cooper,  Jack  o'  the  Lantern, 
p.  405  Tchn.  Cpt.  Mayne  Reid.  The  hunter's  feast,  chpt.  23.  Scheint 
Amerikanism  zu  sein. 

sketching-stool,  Malerstuhl. 

skip.  Trinity  College  appellation  for  servant.  Charles  Lever, 
Harry  Lorroqucr,  I,  p.  19G  Tchn, 

skip  per,  oft  allgemein  und  scherzhaft  für  jedweden  captain  of 
a  ship. 

skirl,  the,  substantivisch,  das  Geschrei.  Gaskell,  Ruth,  p.  50  Tchn. 

slur,  to,  namentlich  häufig  in  Verbindung  mit  over  gebraucht,  was 
Lexika  nicht  angeben. 

smack,  to.  The  smack  heisst  der  Schlag,  Klaps;  to  smack  in 
der  Bedeutung  schlagen  hat  kein  Lexikon ;  es  kommt  bei  Wilkie  Colllns 
oft  vor,  unter  Anderem  in  liide  and  Seek,  II,  p.  1  Tchn.  The  butcher 
smacked  with  triumphant  band  the  fat  carcasses  that  hung  arround  him. 
Ferner  daselbst  II,  p.  208,  Tchn. 

the  smudge,  Substantiv,  der  Schmutz.  Marryat,  Valerie,  chpt.  7. 
Für  schmutzige  Zeichnung  kommt  es  vor  bei  Cuthbert  Bede,  the  ad- 
ventures  of  Mr.  Verdant  Green,  I,  chpt.  XII.  Ich  erwähne  hier  noch 
einmal,  was  unter  clamber  schon  oben  gesagt  ist,  dass  man  beinahe  als 
eine  Regel  aufstellen  kann:  Infinitive  deutscher  Abstammung  werden 
durch  den  vorgesetzten  Artikel  zu  Substantiven.  Es  beweist  die  hier 
mitgetheilte  Wörterliste,  wie  viele  Bereicherungen  die  Wörterbücher 
von  diesem  Grundsatze  aus  erfahren.  Vergleiche  unter  Anderem  :  read, 
shy,  skirl,  sj)in,  swindle,  wrap. 

a  s  n  u  ff-  m  u  11  =  a  mole. 

snug  to,  activ.  Oliver  Goldsmith.  You  must  know,  sir,  every 
woman  carries  in  her  band  a  stove,  which,  when  she  sits,  she  snugs 
under  her  petticoats. 

sod-corn  nennen  die  westlichen  Ansiedler  das  aus  dem  Urlande 
mit  blosser  Umpflügung  des  Rasens  gew()nnene  Korn.  Kohl,  p.  501 
(Rasenkorn). 

soddened  with  wet.  Dickens,  Litfle  Dorrit,  I,  chp.  XI,  ein 
sehr  kühn,  wie  von  einem  Verbum  sodden  gebildetes  Wort. 

to  soll  (vom  Wilde),  in's  Wasser  laufen.  Marryat,  The  children 
of  the  New  Forest,  p.  89  Tchn. 

sou  'wester,  eine  Art  Hut. 

a  spade  guinea  =  a  clippcd  guinea  bei  James.  The  stepmother, 
I,  p.  33G  Tchn.  Es  sollte  wohl  eigentlich  a  spaid  (spay-ed)  guinea 
heissen. 

spanish   merchant,    Gesellschaftsspiel.     Mrs.  Gaskell,    Com 
pany  Mannei'S,  the  end. 

Spanner,  Aufpasser  in  Spielliäusern. 


30  Beiträge  zur  englischen  Lexikographie. 

spar,  ein  an  der  Seite  amerikanischer  Flussdampfer  befindliches 
dickes  iSteuerholz.    Kohl. 

a  spin,  substantivisch  in  Thos.  Moore's  Summer  fete. 

to  split  legs,  mit  dem  im  Wagen  Gegenübersitzenden  die 
Beine  kreuzen ;  to  split  straws,  ein  Kleinigkeitskrämer  sein. 

spoffish?    Boz,  Sketches. 

spoiled  five,  ein  häufig  in  Lever's  Schriften  erwähntes,  wahr- 
scheinlich irisches  Kartenspiel. 

the  spoor,  aus  dem  Holländischen  entlehnter,  am  Cap  gebräuch- 
licher Ausdruck  für  track,  Spur.  Marryat,  The  mission  in  Afrika, 
p.  151  Tchn. 

squarring?  Wilkie  Collins,  Hide  and  Seek,  T,  p.  243  Tchn. 
Here  Zack  came  in  wilh  the  gloves  on,  „squarring''  on  the  most  ap- 
proved  prize-fighter  principles,  as  he  advanced. 

to  squash,    intransitiv  bei  Dickens,   Hard  Times,   p.  269  Tchn. 

squaw-corn,  nordamerikanisches  Beiwort  des  Mais,  gebildet 
nach  dem  indianischen  Worte  dafür.  Vermuthllch  nennen  es  die  In- 
dianer so,  weil  bei  ihnen  die  Maiscultur  ausschliesslich  ein  Geschäft 
der  Frauen  ist  und  im  Gegensatz  zu  ihrem  andern  Getreide,  dem 
„wilden  Reis." 

to  stag,  to  turn  stag,  to  peach.  James,  The  slepmother,  I, 
p.  336  Tchn. 

stage-direction,  Bemerkung  für  die  Schauspieler. 

stampeded,  Amerikanism.  The  hunter's  feast,  Cpt.  Mayne 
Eead.  Horses  on  their  first  few  days  journey  are  easily  „stampeded"' 
and  will  sometimes  stray  home  again. 

a  stick- fast,  ein  Mensch,  den  man  nicht  loswerden  kann. 

a  stick-out,  a  strike,  eine  Arbeitseinstellung.  DTsraeli,  Sybil, 
III,  1. 

stilly  wird  von  den  Lexikographen  nur  als  Adverbium  aufge- 
führt, ist  jedoch  auch  ein  ziemlich  häufig  vorkommendes  Adjectiv. 
Thos.  Moore,  Oft  in  the  stilly  night.  James,  Heidelberg,  p.  300  T;;^hn. 
Warburton,  Darien,  II,  p.  79  Tchn.  Mrs.  March,  RavensclifFe,  I, 
p.  324  Tchn. 

a  stitch  in  time  saves  nine,   Sprichwort. 

a  straddle-bug  (?)  figure.  Longfellow,  Hyperion.  Standard 
Americ.  Auth.,  p.  33. 

a  striker,  in  Amerika,  Derjenige,  welcher  einem  Candidaten 
durch  Drohungen  Geld  abpresst.    Atlantis,  II,  p.  621. 

Stroke,  ohne  Artikel,  in  boating  parlance  is  the  name  given  to 
liim  who  puUs  the  stern  oar.  Log  of  the  Water  Lily,  p.  3  Tchn. 
Dasselbe  ist 

stroke-oarsm  an.     Cooper,  Excursions  on  Italy,  Letter  16. 
s tum p -Candida te,    in   Amerika,   Candidat,    der   niclit  aus    pri- 


Beitrüge  zur  englischen  Lexikographie.  31 

marv  elections  hervorgeht,   sondern  sieh  selbst  empfiehlt.     Atlantis,  II, 
p.  620. 

the  stun,  ein  betäubender  Schlag,    Ruth,  p.   100  Tchn. 
sucker,  der  einem  Candidaten  Geld  abpresst,  amerikanisch.    At- 
lantis, II,  p.  621. 

sucking,  burlesk  gebraucht  vor  Substantiven,  a  sucking  Nelson, 
ein  angehender  Nelson;   sucking  saints  (Currer  Bell),   Heilige    in   spe. 
the  sun-burst   was  the  fanciful  name  given  by  the  ancient  Irish 
to  the  royal  banncr.     Thos.  Moore,  II,  p.  170  Tchn. 

the  Sunday  out,  der  freie  Sonntag  der  Dienstboten, 
the    Surround,     eine    amerikanische    Bülfeljagdmethode.      The 
Ilunter's  feast,   Cpt.  Mayne  Reid,  chpt.  18,  the  end. 

susurrus.  Longi'ellow,  Evangelina,  II,  4.  The  chant  of  their 
vespers  mingling  its  notes  with  the  soft  susurrus  and  sighs  of  the 
branches. 

the  sweep,  (aucli)  der  Strassenfeger, 

symphonetic,  zur  symphony,  dem  Zwischenspiel,  gehörig. 
James,  The  smuggler,  p.  344  Tchn. 

symphony,  die  über  den  Schluss  eines  Gesangs  hinaus  gespielte 
Instrumentalbegleitung.  Warren ,  Intriguing  and  madness.  Thos. 
Moore,  II,  p.  241  Tchn. 

s  windle,  the,  Substantiv.  AYilkie  Collins,  Hide  and  Seek,  I, 
p.  149. 

to  swirl.  The  crowd  (of  pigeons)  came  „swirling"  forward. 
Amerikanism.    The  Hunters  Feast,  Cpt.  Mayne  Reid,  chpt.  V. 

Tadpole,  Spitzname  der  Einwohner  von  ]Mississippi,  Atlantis, 
II,   p.  639. 

take.    to  take  the  chair,  den  Pi'äsidentenstuhl  einnehmen. 

to  take  wine   with  one,    nach  englischer   Sitte  bei  Tische 

einem  Andern  zutrinken, 
to  take  on,  vulgär,  sich  Etwas  sehr  zu  Herzen  nehmen, 
to  take  credit  to  one's  seif  for  a  thing,  sich  auf  eine  Sache 

Etwas  zu  Gute  thun. 
to  take  ist   der  technische,   fast  slangartige  Ausdruck  für 
Springen  eines  Pferdes.   The  horse  will  take  any  fence 
you'U  put  it  to. 
take  my  word  (for  it),  verlasse  dich  darauf,  häufig  drohend, 
to   take  a  second,    beim  Singen  die  zweite  Stimme  singen, 
taky,   Adjectiv,    Artist-cant.     "Wilkie  Collins,   Hide  and  Seek,  I, 
p.  187  Tchn. 

tarnation,  amerikanischer  Slang  für  damnation. 
Tar-boilers,   Spitzname   der  Einwohner  von   Carolina  wegen 
des  Theers,   der  aus  den  Ungeheuern  Führen wäldern  dieses  Staates  ge- 
zogen wird.     Atlantis,  II,  p.  035. 

teetotum  oder  totum.    Herrig,  Archiv,  IX,  p.  479.     Spiel  mit 


32  Beiträge  zur  englischen  Lexikographie. 

einem  Würfel,  dessen  vier  Seiten  mit  den  Buchstaben  T,  H,  N,  P  be- 
zeichnet sind.  Die  Deutung  der  Buchstaben  ist  offenbar:  T  =  Tötura, 
Total;  H  =  Half;  N=rNought;  P  =  Pay.  Fällt  T  nach  oben,  so 
erhalt  der  Spieler  den  ganzen  Aussatz,  bei  H  die  Hälfte,  bei  N  nichts, 
bei  P  muss  er  den  Einsatz  erneuern.  Teetotum  bezeichnet  also:  T  re- 
ceives  the  total.  Es  ist  also,  auf  die  teetotalists  angewendet,  ein  Wort- 
spiel mit  einem  den  Engländern  längst  vor  dem  Mathew'schen  Mässig- 
keitssystem  ganz  geläufiger  Begriff. 

telegram,  telegraphische  Depesche,  seit  1857  in  Gebrauch.  Die 
Buchhandlung  Mrss.  Longman  in  London  hat  beschlossen,  das  Wort  in 
die  von  ihr  publicirten  Wörterbücher  aufzunehmen.  Es  wird  dem- 
gemäss  in  dem  neuen  Johnson  sich  finden,  den  Dr.  Latham  herausgibt, 

to  tenant,  intransitiv  gebraucht  von  Warren,  The  Lily  and  the 
Bee,  p.  208  Tchn.    In  yonder  tree  he  tenanteth  alone. 

thank  you  for  nothing,  ironisch,  danke  schön,  ergebener  Diener. 
Thakeray,  Vanity  Fair,  I,  p.  334  Tchn.  Walter  Scott,  Ronan's  Well, 
I,  4.     Charles  Lever,  O'Malley,  III,  p.  232. 

that,  oft  pleonastisch  hinter  Conjunctionen,  if  that,  how  that, 
though  that,  for  that  (weil),  tili  that,  since  that,  when  that,  wheter 
that,  whilst  that,  gewiss  eine  Einwirkung  des  romanischen  que  in 
quoique,  jusqu'ä  ce  que  &c. 

thimble-rig,  eine  Person  bezeichnend  bei  Thos.  Moore,  V, 
p    124  Tchn. 

thrust,  to  be  thrust  on  bis  own  resources,  on  the  wide  world, 
auf  sich  selbst  angewiesen  sein. 

thwaite,  Endung  vieler  Ortsnamen  im  nördlichen  England, 
z.  B.  Est-thwaite,  Cross-thwaite,  Apple-thwaite  (Thwaite,  urbar  ge- 
machtes Stück  Waldland). 

tie,   Querholz  auf  Eisenbahnen. 

tiff.  In  den  Bleirainen  am  obern  Mississippi  Slangausdruck  für 
carbonate  of  lead  (Kohl,  p.  287). 

tiled.  Thakeray,  Book  of  Snobs,  p.  238  Tchn.  Come,  c^me, 
Snob,  my  boy,  we  are  all  tiled,  you  know.  Punch,  Nr.  819,  p.  117. 
All  tiled?  In  beiden  Stellen  bedeutet  es:  unter  einer  Decke  stecken, 
sich  einander  verstehen,  eigentlich  wohl  unter  einem  Hute  stecken,  von 
tile,  dem  Slangausdruck  für  Hut. 

Tilly  =  Mathilda. 

timber,  ganz  gewöhnlich  als  Wald,  fehlt  in  allen  Lexicis. 

time-tables,  der  Fahrplan  der  Eisenbahnen.  Wilkie  CoUins, 
Hyde  and  Seek,  II,  p.  222  Tchn. 

tingler,    a  very  smart  slap.     Colman,  Vol.  1,   63  u.  64. 

tintinnabulum,  der  Klang  der  Glocke,  angewendet  von  Co wper 
im  Table  talk:    The  clockwork  tintinnabulum  of  rhyme. 

tip,  the,  turfcant,  die  Prophezeiung,  welches  Pferd  gewinnen 
wird.  Solche  Wahrsagungen  werden  in  England  gewerbmässig  botrieben. 


Beiträge  zur  englischen  Lexikographie.  33 

a  tipsy  cake,  Thakeray,  Snobs,  chpt.  30,  Biscuitkuohcn  mit 
Siierry  begosson  nml  glaeirteii  Mandebi  gespickt  (aus  dem  Brief  einer 
in  England  lebenden  Danio). 

Tityrc  T  us  =  Rlohawk.  ]\Iacaulay,  Ilist.  of  Engl.,  I,  p.  355 
Tchn. 

to,  zu,  im  Gegensatz  zu  open,  offen,  dem  Verbum  nachgesetzt 
und  gewöhnlich  mit  demselben  durch  einen  Bindestrich  vereinigt. 
Buhvcr,  Lucretia.  The  loss  of  the  crossing.  With  ihat  Bill  clapped- 
to  the  door.  Shak.,  Coriolan,  I,  4.  Following  the  fliers  at  the  vory 
hcels,  with  them  he  enters;  when  upon  the  sudden,  (dapp'd  to  their 
gates.  Dickens,  Little  Dorrit,  Vol.  2,  p.  188  Tchn.  The  wind  has 
been  and  blown  the  door  to.  —  Gesprächsweise  bleibt  auch  ein  von 
selbst  verständlicher  Infinitif  nach  to  ganz  fort.  DTsraeli,  Tancred,  II,  1. 
Your  grandfather  would  never  let  me  travel;  I  wanted  to;  bat  he 
never  would.  Dickens,  Little  Dorrit,  Vol.  2,  p.  269  Tchn.  You  carry 
your  projects  about,  instead  of  leaving  them  in  the  city  or  seem- 
ing  to. 

toddler,  a,  ein  kleines  watschelndes  Kind.  Mrs.  Gaskell,  Mary 
Barton,  p.  3  Tchn. 

toe,  to  toe  a  linc,  naval  expression,  sich  in  eine  Reihe  stellen. 

Tom  Trots,  ein  Gebäck.    D'Israeli,  Coningsby,  I,  9. 

tom-long,  ein  in  den  australischen  Goldwäschereien  gebrauchtes 
Geräth. 

tommy  to,  als  Verbum  angewendet  in  D'Israeli,  Sybil,  III,  1. 
We  are  tommied  to  death. 

touch-and-go  (F.  A.  Flügel). 

town  and  gown,  academical  expression,  Studenten  und  Nicht- 
studenten. 

training  -  school.  Schule  zur  Ausbildung  junger  Lehrer,  den 
preussichen  Präparandenanstalten  entsprechend. 

t  r  a  p  ,  the,  Versenkung  im  Theater. 

trapesing  =  trai  psing.  Goldsmith,  She  staps  to  conquer,  I,  1. 

trapp  ers,  die  in  den  Minen  zum  Schliessen  der  Thüren  be- 
schäftigten Kinder. 

tremble,  Subst.,  John  Halifax,  Gentleman,  II,  267  Tchn.  Die 
unter  smudge  erwähnte  häufige  Substantivirung  von  deutschen  Infini- 
tiven ergreift  hier  einen  romanischen  Infinitiv. 

Triers,  the,  iiistor.,  die  von  Cromwell  ernannte  Commission,  die 
über  die  Vertheilung  von  Pfründen  an  die  geeigneten  Personen  wachte. 
Macaulay,  Hist.  of  Engl.,  I,  p.  156  Tchn. 

trifle,  ein  tipsy  cake  mit  Schlagsahne. 

tripos,  the,  academical  cant,  der  dreijährige  Cursus  an  englischen 
Universitäten. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXlIl.  3 


34  Beiträge  zur  englischen  Lexikographie. 

to  trot  out,  Geld  herausrücken.  Warren,  Ten  thousand  a  year, 
II,  9. 

tumble-down,  oft  als  attributives  Adjectiv  vorkommend,  ver- 
fallen. 

tune,  to  the  tune  of,  burlesk  von  Summen,  bis  zur  Summe  von. 
Cooper,  Excursions  on  Italy,  Letter  X.  He  reaped  the  advantage  of 
bis  intrigues  to  the  tune  of  about  two  hundred  francesconi,  beyond  bis 
wages.  Marryat,  The  privateer's-man,  p.  207  Tchn.  We  had  been  rob- 
bed  to  the  tune  of  about  four  hundred  pounds.  James,  The  stepmother, 
I,  p.  348  Tchn.  Oh,  ay,  answered  Bill  Maltby,  to  the  tune  of  two  or 
three  thousand  pounds. 

to  turn  the  turtle,  seemännischer  Ausdruck,  mit  dem  Bote  um- 
schlagen. Marryat,  Fercival  Keen,  p.  266  Tchn.  Der  Ausdruck  ist 
vom  Schildkrötenfange  hergenommen,  wie  aus  Marryat,  The  privateer's- 
man,  p.  198  Tchn.,  hervorgeht. 

to  turn  up,  plötzlich  zum  "Vorschein  kommen. 

twenty  questions,  Gesellschaftsspiel,  Mrs.  Gaskell,  Company 
Manners,  the  End. 

umstroke,  veraltet,  circumference.  Füller,  A  Pisgah  Sight  of 
Palestine  1650,  part.  1,  b.  1,  c.  14,  p.  46.  Such  towns  as  stand  (one 
may  say)  on  tiptoe  or  on  any  part  of  the  utmost  line  of  any  map  .  .  . 
are  not  to  be  presumed  placed  according  to  exactness,  but  only  signify 
thera  there  or  there  abouts. 

unattached,  militärisch,  keinem  Regimente  angehörig,  zur  Dis- 
position gestellt. 

under  God,  nicht  bloss,  wie  Flügel  sagt,  unter  Gottes  Schutz, 
sondern  auch:  nächst  Gott.  James,  Henry  Masterton,  chp.  8.  Under 
God,  the  success  of  to-day's  skirmish  is  mainly  attributable  to  you. 
Macaulay,  Hist.  I,  p.  54  Tchn.  That  the  king  was,  under  Christ,  sole 
head  of  the  church,  was  a  doctrine,  which  they  all  with  one  voice 
affirmed. 

undergrad,  verkürzt  für  undergraduate.  Cuthbert  Bede,  The 
adventures  of  Mr.  Verdaut  Green,  chpt.  7. 

to  underlie  a  challenge.  James,  Forest  days,  pp.  247,  361, 
366  Tchn. 

unease.  What  an  unease  it  was  to  be  troubled  with  the  humm- 
ing  of  so-  many  gnats.  Hacket,  Life  of  Williams,  part  2,  p.  88.  Es 
hat  sich  dies  Wort  also  noch  lange  nach  Chaucer  erhalten,  aus  dem 
Richardson  ein  Beispiel  anführt. 

unshelterable.    Bulwer,  Night  and  morning,  11,  10. 

unwhisperables  =  inexpressibles. 
'  vampoose.    Kingsley,  Two  years  ago,  I,  p.  16  Tchn.    Has  he 


Beitrage  zur  englischen  Lexikographie.  35 

vampooscd  with  the  confents  of  a  tili.  (NB.  Kingsley  liebt  nova  vcrba, 
seine  Erfindungen  sind  daher  genau  zu  prüfen.) 

vcal,  calf,  irisch.    Lcver,  O'Malley,  I,  p.  87  Tchn. 

verminer,  veraltet  für  terrier.  Ainsworth,  Lancashire  witches, 
II,  p.  192  Tchn. 

vista,  sehr  häufig  im  figürlichen  Sinn,  ein  Blick  in  die 
Zukunft. 

waker,  the,  in  Irland,  Jemand,  der  bei  einer  Leiche  AVaclie  hält. 
Thos.  Moore,  I,  p.  '2i  Tchn. 

Walker,  the,  der  Colporteur  einer  Gesellschaft.  James,  Tha 
stepniotlier,  I,  p.  ci04  Tchn. 

Walke  r  =  humbug,  eine  seltsame  Anwendung,  der  wohl  die 
Interjection  augh  zu  Gi'unde  liegt,  der  eine  Personalendung  scherzhaft 
zugefügt  ist.  Oder  entspringt  sie  aus  irgend  einem  historischen  Factum 
und  aus  welchem  ?  Die  Le>  ika  ignoriren  sie.  Gewiss  ist  sie  sehr 
vulgär;  doch  muss  sie  allgemein  verständlich  sein,  wie  die  folgenden 
Stellen  beweisen.  1)  Dickens,  A  Christmas  Carol,  the  End.  Scrooge 
hat  von  einem  Knaben  erfahren,  dass  ein  grosser  Truthahn  beim  Feder- 
vielihändler  noch  nicht  verkauft  ist.  Scrooge:  Go  and  buy  it.  Walk-er! 
(sie)  exclaimed  the  boy.  No,  no,  said  Scroge,  I  am  in  earnest.  — 
!2)  The  man  with   the  carpet  bag,  a  fai-ce.    Leipziger  Ausgabe,  p.  30. 

Wrangle: the   excuse  is  very  lame.    Boots:   Not  particularly 

lame,  neither,  sir;  for  it's  all  Walker.  Das  Wort  findet  sich  in  dieser 
mit  sonst  ganz  hübschen  erklärenden  Anmerkungen  von  A.  Diezmann 
herausgegebenen  Sammlung  nicht  erklärt.  Die  in  England  gewöhn- 
liche Form  ist :  Hookey-walker. 

a  Walking  gentleman,  ein  Statist. 

a  warrantable  stag,  ein  fünfjähriger  Hirsch,  Marryat,  The 
Children  of  the  New  Forest,  p.  3G  Tchn. 

way.     Where  there  is  a  will,  there  is  a  way.     Proverb. 

Weasel,  Spitzname  der  Einwohner  von  Südcarolina.  Atlantis, 
n,  p.  637. 

weazen,  schmalbäckig.  Dickens,  Master  Humphrey's  clock,  I, 
9 ;  gewöhnlich  ist  es  verbunden  mit  face  und  foatures.  Die  Orthographie 
ist  verschieden.  Man  liest  weasan-faced.  Flügel  und  Lukas  geben  nur 
weasel-faced.  Warren  in  Now  and  Then,  I,  schreibt  wizened  face. 
James,  Beauchamp,  p.  13  Tchn.,  schreibt  wizen-faced  und  gebraucht 
wizened  ganz  alleinstehend  in  Arrah  Neil,  p.  181  Tchn.,  so  auch 
Thackeray,  Snobs,  XXII.  Wizened  scheint  wohl  die  richtige  Form  zu 
sein  als  Participium  von  dem  schottischen  wizen  =  to  wither;  wizen 
für  wizened  hat  Willie  Collius,  After  dark,  p.  271  Tchn.,  auch  II, 
226  u.  227. 

3* 


36  Beiträge  zur  englischen  Lexikographie. 

wed  =  wedded,  zweimal  bei  Longfellow,  An  April  day.  Sweet 
j^pril !  —  many  a  thougt  is  wedded  unf o  tliee,  as  hearts  are  wed.  — 
Hyperion.  In  cities  there  is  danger  of  the  soul's  becoming  wed  to 
pleasure  and  forgetful  of  its  high  vocation. 

westernism,  im  Westen  der  Vereinigten  Staaten  gebräuchlicher 
idiomatischer  Ausdruck. 

whereaway?    Nach  welcher  Richtung? 
whetstone-leasings,  unverschämte  Lügen.    Joseph  Hall. 
white-nancy,     der    populäre   Name   einer  Blume.     Welcher? 
John  Halifax,  gentleman,  I,  308  Tchn. 
the  wide-awake,  eine  Art  Hut. 

a  widow's  cap,  eine  Wittwenhaube.  Eine  nonnenhaft  aussehende 
Haube  mit  doppelt  gerollten  Mullstreifen. 

wild-cat-bank,  Freibank  in  Indiana.    Atlantis,  II,  p.  551. 
winded    statt    wound    von    to    wind,     sehr   häufig    bei    Walter 
Scott. 

■winkey,  Uke  winkey  (as  swift  as  the  vs^ink  of  an  eye).  James, 
The  stepmother,  II,  p.  180  Tchn. 

w  int  er.  Winter  never  rots  in  the  sky,  der  Winter  bleibt  nie 
aus;  nach  Longfellow,  Hyperion  Standard  Araer.  Auth.  ,  p.  34,  an 
cid  english  saying. 

wiry,  vom  Körper,  stark,  gedrungen, 
wisdom-tooth,  Weisheitszahn. 

wit.  Nach  Mrs.  Gaskell,  Company,  Manners,  the  end,  ein  be- 
kanntes Gesellschaftsspiel. 

w  i  t  h  o  u  t ,  elliptisch  für  without  sugar  bei  Bestellungen  in  Wirths- 
häusern. 

wolf.  So  wird  nach  Marryat,  a  Mission  in  Africa,  p.  152  Tchn., 
dort  die  gefleckte  Hyäne  genannt,  shard-wolf  die  gestreifte ;  eine  andere 
Gattung  heisst  bay-wolf. 

Wolfland.  Macaulay,  Histor.  of  Engl.,  IV,  p.  136  Tchn.  In 
William  the  Third's  reign  Ireland  was  sometimes  called  by  the  nick- 
name  of  Wolfiand.  Thus  in  a  poem  on  the  battle  of  La  Hogue,  called 
Advice  to  a  Painter,  the  terror  of  the  Irish  army  is  thus  des- 
cribed : 

A  chilling  damp 
And  Wolfland  howl  runs  thro'  the  rising  camp. 

Word,  militärisch,  das  Commando  (-wort). 

workings,  Bulwer,  Lucretia,  I,  7.  As  she  spoke,  ehe  read 
the  Avorkings  of  her  sisters'  iace.    Lever,    O'Malley,   HI,  l'envoi.     In 


Beiträge  zur  englischen  Lexikographie.  37 

the  fictitious  garb  of  bis  narrative,  he  lias  clothed  the  inmost  workings 
of  bis  beart. 

"wrap,  the,  unmittelbar  vom  Verbum  gebildetes  Substantiv  in 
Ravensclifle,  I,  p.  83,  busy  in  relieving  Miss  WharnclifTe  from  one  of 
the  heavy  wraps,  —  John  Halifax,  gentleman,  I,  p.  89  Tcbn.,  niany 
wraps. 

y  e  1 1  o  w  j  a  c  k ,  so  nennen  die  Älatrosen  scherzweise  das  gelbe 
Fieber. 


Zur  Förderung  der  englischen  Lexikographie  würde  es 
gereichen,  Monographien  über  einzelne  Lexika  zu  verfassen, 
Avie  sie  in  der  Vorrede  zu  J.  G.  Flügel's  Lexikon  und  in  dem 
Aufsatz  A.  F.  Flügel's  über  englische  Lexikographie  im  Archiv 
enthalten  sind.  Wer  die  sauere  Pflicht  gehabt  hat,  Lexika  be- 
sprechen zu  müssen,  weiss,  wie  oft  er  in  Gefahr  steht,  statt 
einer  Eecension  dasjenige  zu  liefern,  wofür  wir  im  Deutschen 
glücklicherweise  kein  Wort  haben,  eine  Reclame.  Es  liegt 
daran,  dass  es  wirklich  erst  nach  jährigem  oder  mehrjährigem 
Gebrauche  möglich  wird,  den  Werth  eines  Lexikons  richtig  zu 
schätzen.  Sehr  selten  jedoch  ist  die  sogenannte  Recension 
mehr  als  eine  Anzeige;  gewölinlich  ist  sie  ein  kaufmännischer 
Puff.  Es  treten  nun  aber  auch  Lexika  kleinern  Formats  mit 
dem  Anspruch  auf,  dem  einen  oder  dem  andern  Zweige  der 
Wörterbuchkunde  eine  besondere  Aufmerksamkeit  geschenkt  zu 
haben,  den  technischen  AVissenschaften,  dem  Handel,  den  mo- 
dernen Schriftstellern,  den  Amerikanismen  u.  s.  w.  Es  wäre 
nun  sehr  wünschenswerth,  dass  durch  eingehende  Besprechungen 
einzelner  dieser  15ücher  festgesetzt  würde,  in  wie  weit  sie  wirk- 
lich der  Wissenschaft  der  Lexikographie  in  ihrer  bescheidenen 
Sphäre  gedient  haben,  und  wie  weit  sie  über  den  im  besten 
Lexikon  vorhandenen  StoflT  hinsichtlich  der  Anordnung,  der  Ent- 
wickelung  der  Begriffe,  der  Orthoepie,  des  Wortmaterials,  der 
Etvmologie  hinausgegano;en  sind.  Selbst  Vocabularien  sind  zu 
diesem  Zwecke  nicht  aus  der  Acht  zu  lassen.  (Siehe  unter 
rhine.)    Es  ist  dem  Einzelnen  unmöglich,  solche  Untersuchungen 


38  Beiträge  zur  englischen  Lexikographie. 

anzustellen;  es  ist  dies  nur  einem  wirklich  bestehenden  oder 
abstract  gedachten  Vereine  für  engliche  Lexikographie  möglich. 
Hinsichtlich  des  Wortvorraths  ist  warm  zu  befürworten,  dass 
Lukas  als  massgebend  angenommen  werde,  da  sich  ohne  solchen 
realen  Ausgangspunkt  solche  Arbeiten  leicht  in's  Blaue  ver- 
lieren könnten. 

G.  Büchmann. 


S  p  e  n  s  e  r 
und    seine    Fairy    Queen. 


AVenn  ein  Mensch  sein  Leben  an  die  Verwirklichung  eines 
Gedankens  setzt,  wenn  sie  das  Wachen  seiner  Tage,  die  Träume 
seiner  Näclite  ausfüllt,  so  ist  ein  solcher  Ernst  des  Strebens, 
ganz  abgesehen  von  Erfolgen,  achtunggebietend.  Wenn,  wie 
auf  diese  Weise  fast  unausbleiblich,  Erfolge  erzielt  werden,  so 
sind  dieselben,  sogar  im  ungünstigsten  Falle  ihrer  Vollendung, 
Denkmäler  der  Ausdauer,  an  denen  ein  verständiger  Mensch 
mit  Eespect  vorübergeht.  Er  thut  das  auch  instinktmässig  und 
in  jedem  Falle,  selbst  bei  dem  blossen  Gedächtniss  eines  solchen 
Schaffens  in  den  Jahrbüchern  der  Geschichte,  und  sein  Gefühl 
der  Ehrerbietung  bleibt  im  Wesentlichen  dasselbe  bei  dem  aus 
einem  ^lenschengehirn  hervorgewachsenen  Reiche,  Bauwerke, 
Gedichte.  Kommt  zur  Ausdauer  noch  massenhafte  oder  ge- 
schickte oder  gar  kunstvolle  Ausführung  hinzu,  so  gesellt  sich 
unwillkürlich  und  unwiderstehlich  zur  Achtung  die  Bewunderung 
des  ausnahmsweisen  Kraftbesitzes  eines  solchen  Urhebers;  wir 
belegen  ihn  ohne  Rückhalt  mit  den  höchsten  Erdentiteln  des 
„Talents"  und  „Genies"  und  sind  stolz  auf  unsere  Geschlechts- 
verwandtschaft mit  ihm. 

Solcher  Grosswürdenträger  sind  wenige  wie  der  Bergriesen, 
die  über  Welt  und  Wolken  schauen;  aber  schliesslich  doch 
immer  noch  einige  mehr,  als  es  auf  den  ersten  Blick  geschienen. 
Bei  jenen  wie  bei  diesen ,  um  den  Vergleich  noch  weiter  zu 
führen,  hängt  die  wahre  Würdigung  von  der  Genauigkeit  der 
Messinstrumente,  der  Schärfe  der  Rechnung  ab.  Die  erste 
Schätzung  hat  oft  getäuscht  und  zwar   meistens  ungerecht  ver- 


40  Spenser  und  seine  Fairy  Queen. 

kleinert.  Dazu  hat  das  Auge  des  fremden  Beobachters  meistens 
richtiger  gesehen  als  das  des  Nachbars  in  Zeit  und  Ort.  Men- 
sehen,  deren  Lebensthaten  Geisteserzeugnisse  waren,  sind  oft 
da  erstanden,  wo  die  Mitwelt  nicht  fähig  war,  sie  zu  begreifen 
und  zu  würdigen;  ihre  Würdigung  fiel  darum  fremden  Nationen 
zu,  und  die  Posaune  ihres  Ruhmes  ertönte  erst  über  ihrem 
eingesunkenen  Grabe. 

Beispiele  zeitgenössischer  Vernachlässigung  liefert  nament- 
lich die  englische  Literatur  und  Kunst.  Die  grössten  Namen 
derselben  bedurften  Jahrhunderte  zur  Enthüllung  ihres  vollen 
Glanzes.  Ein  Chaucer  war  allbekannter  Weise  bei  seinen  Leb- 
zeiten nur  darum  ein  achtungswerther  Herr  (respectable  gentle- 
man),  weil  er  eine  Anstellung  in  den  Londoner  Docks  bekleidete, 
mit  verschiedenen  diplomatischen  Missionen  betraut  wurde  und 
Schwager  eines  Edelmannes  war.  Ein  Milton  dankte  die  zeit- 
genössische Erwähnung  seines  Namens  seiner  lebhaften  Theil- 
nahme  an  Parteikämpfen,  musste  aber  sein  Paradise  lost  für 
armselige  L.  5  per  Auflage  von  1300  Exemplaren  verschachern. 
Shakspeare  war  seinen  Zeitgenossen  im  Ganzen  und  Grossen 
nur  als  ein  behäbiger  Schauspieler  bekannt,  der  Actien  (shares) 
in  zwei  Theatern  und  ein  bequemes  Landhäuschen  (comfortable 
cottage)  zu  Stratford-on-Avon  besitze.  Howard  endlich  (volle 
200  Jahre  später)  sah  sich  genöthigt,  seine  Oelgemälde  wie 
Kattun  den  Käufern  mit  der  Elle  vorzumessen  und  seine  Kupfer- 
platten behufs  des  Absatzes  nach  der  Stadtwage  zu  schaflfen. 

Wie  sehr  auch  gegenwärtig  das  gebildete  England  sich  der 
Thatsache  schämt,  dass  fremde  Kritik  ihm  erst  die  Augen  über 
die  strahlendsten  Juwele  seiner  Literatur  öflTnen  musste,  wie 
sehr  es  jetzt  durch  Uebermass  und  ungeschickte  Vertheilung 
der  Bewunderung  bei  allem  Neuen  in  seiner  Literatur  die  Aus- 
länder überzeugen  möchte,  dass  es  stets  Kenner  und  Verehrer 
der  Kunst  gewesen,  immer  steht  ihm  starr  und  höhnisch  das 
Factum  entgegen,  dass  es  von  der  Lebensgeschichte  seiner  alten 
grossen  Schriftsteller  nichts  weiss,  ausser  dem,  was  es  in  seiner 
Beschämung  ganz  nachträglich  noch  rasch  aus  wurmzerfressenen 
Kirchenbüchern  und  Mutterrollen,  aus  staubigen  Amtsarchiven 
und  dürftigen  Familienlegenden    zusammengestoppelt  hat.     Und 


Spenscr  und  seine  Fairy  (^»ueen.  41 

für  diese  kärgliche  Ehrenrettung  selbst  -wieder  schuldet  es  fast 
allen  Dank  einem  einzigen  Manne,  Dr.  Samuel  Johnson,  der 
seine  Ohnmacht  mit  Kücksicht  auf  Chaucer,  Shakspeare,  Spenser 
dadurch  bekennt,  dass  er  sie  ganz  übergeht. 

Der  letzterwähnte  grosse  Name  steht  zweifelsohne  als  das 
schla2:endste  Beispiel  zeitgenössischer  Gleichtjültiffkeit  c:c2fen 
Kunst  und  Literatur  da,  die  sogar  bei  ihm  einen  Anstrich  von 
Lächerlichkeit  erhält  dadurch,  dass  Mitlebende  auf  seinem  Grab- 
steine sein  Geburtsjahr  um  fast  ein  halbes  Jahrhundert  zu  früh 
angaben  und  so  seine  Liebesgedichte,  seine  grosse  Allegorie, 
seine  Heirath  etc.  in  sein  angebliches  Greisenalter  verlegten. 

Einem  Chaucer,  Shakspeare  und  Älilton  ist  nachgrade 
volles  Recht  geworden ,  auch  von  den  Landsleuten ,  denn  hier 
waren  die  fremden  Stimmen  aus  Frankreich  und  Deutschland 
her  zu  laut  und  gewichtig,  um  nicht  nach  und  nach  einen  be- 
wussten  Wetteifer  in  gerechtem  Lobe  bei  den  Insulanern  zu 
erzeugen;  in  Betreff  Spenser's  hingegen,  der  keine  so  frühe 
und  noch  nie  eine  hinreichende  Befürwortung;  von  aussen  her 
fand,  ist,  unsrer  Ansicht  nach,  noch  immer  nicht  genug  ge- 
schehen, um  seine  grossen  Gaben  und  sein  glänzendes  Lebens- 
werk in  das  gehörige  Licht  zu  setzen;  namentlich  ist  das  Letztere 
noch  von  keiner  Seite  her  so  studirt  worden,  wie  es  demselben 
gebülirt.  Man  begnügt  sich  in  der  Regel  damit,  Spenser  den 
Nachfolger  Chaucer's  zu  nennen ,  obschon  er  sich  zu  diesem 
etwa  verhält,  wie  Alexander  zu  Philipp,  Avie  Karl  zu  Pipin, 
Columbus  zu  Gama.  Man  erwähnt  ihn  nur  so  zwischen  Shak- 
speare und  Milton,  wie  einen  Knappen  zwischen  Rittern,  wohin- 
gegen er  doch  selbst  ein  edler  Kämpe  in  blitzender  Rüstung 
luid  mit  rulmireichen  Schwerte,  dem  ein  ganzer  Tross  von 
namhaften  IMitbewerbern  nicht  werth  ist,  den  Schild  zu  trasren. 

In  Wahrheit,  bei  Spenser  vermissen  Avir  nichts  von  dem, 
was  man  vom  Genie  fordert.  Hier  ist  die  Ursprünglichkeit  in 
Stoff  und  Form;  hier  ist  der  grossartige  Plan  mit  strotzender 
Raumerfüllung  durch  Glanz  und  Schönheit ;  hier  ist  die  Unwill- 
kürlichkeit der  Wirkung;  hier  ist  die  Ausdauer  des  Schaffens 
und  der  ungeschwächte  Strahl  des  echt  dichterischen  Spring- 
quells;   hier  ist  endlich   die   unaufhörliche    Lebensfähigkeit    des 


42  Spenser  und  seine  Fairy  Queen. 

Geschaffenen.  Ein  Dichter  —  und  das  ist  Im  neunzehnten 
Jahrhundert  der  schlagendste  Beweisgrund  —  dessen  Werke 
noch  nach  fast  300  Jahren  mit  den  Lieblingsdichtern  der  Neuzeit 
in  der  Zahl  der  Auflagen  sich  messen  können ,  ist  ein  Meister 
gewesen,  ein  Heros  in  der  Welt  der  Dichtung,  ein  Liebling 
unter  den  Lieblingen  der  Musen. 

Traurig,  schmerzlich  ist  es,  wenn  man,  nach  einer  schwel- 
gerischen Fahrt  durch  die  wunderbaren  Gefilde  seines  Feenlandes, 
des  lebhaftesten  Wunsches  voll,  diesen  Mann  in  seinem  Altags- 
leben,  in  seinem  Arbeitszimmer,  seiner  Dichterclause  aufzu- 
suchen, seine  Gestalt  zu  sehen,  so  zu  sagen,  seine  Menschen- 
stimme zu  hören,  auf  dieselbe  Dürftigkeit  der  Berichte  stösst, 
wie  bei  Chaucer  und  Shakspeare,  und  nur  eines  Schattens 
habhaft  wird,  der  keine  bestimmte  Form  annehmen  will.  Aus 
den  trümmerhaften  Notizen  eine  Lebensgeschiehte  herzustellen 
ist  eben  so  unmöglich,  als  die  Keconstruction  des  alten  Ninive 
aus  den  Mauerfüssen  zu  Nimroud  und  Kouyöndschik,  oder  aus 
den  verstreuten  Säulensockeln  und  leeren  Piedestalen  die  der 
Pracht  der  campanischen  Städte.  Wenn  man  dabei  bedenkt, 
dass  wir  über  den  anderthalbtausend  Jahre  früheren  Horaz  oder 
Virgil  fast  mehr  wissen  als  über  Spenser  und  Shakspeare,  so 
folgt  daraus  mit  handgreiflicher  Augenscheinlichkeit,  was  von 
der  sogenannten  Blüthezeit  der  englischen  Literatur  unter  Eli- 
sabeth  eigentlich  zu  halten  sei,  oder,  deuthcher  gesagt,  wie 
wenig  Letztere  sammt  ihren  Unterthanen  mit  dieser  Blüthezeit 
zu  thun  hatte.  ) 

Gleich  beim  Beginn  einer  biographischen  Skizze  Edmund 
Spenser's  stösst  man  auf  die  Armseligkeit  des  Materials.  Von 
ihm  selbst  nur  erfährt  man.  In  einer  Zeile  des  Prothalamion, 
dass  er  in  London  geboren  sei  und  seine  Kindheit  dort  verlebt 
habe ;  über  das  genaue  Datum  seiner  Geburt  und  über  seine 
Familie  Ist  nichts  Stichhaltiges  anzugeben.  Man  legt  das  Erstere 
so  um  1553  herum,  und  versucht,  wieder  bloss  auf  Andeutungen 
des  Dichters  selbst  hin ,  seinen  Zusammenhang  mit  dem  alten 
Hause  Spenser  festzustellen.  „Wenigstens,"  sagt  einer  seiner 
Lebensbeschreiber  in  seinem  echt-englischen  Bestreben ,  einem 
unerlässlichen  Erfordernisse  zu  genügen,    „wenigstens   können 


Spenser  und  seine  Fairy  Queen.  43 

vir  annehmen ,  dass  er  von  anständiger  Herkunft  (respectably 
connected)  war.  Älit  dem  Vermögen  und  der  Stellung  der 
Spenser'schen  Familie  kann  es  aber  nicht  so  -weit  her  gewesen 
sein,  denn  sie  brachte  ihn  um  sein  16.  Lebensjahr  herum  (Mai 
1569)  nach  Pembroke  College  zu  Cambridge  in  der  Eigenschaft 
eines  sizer,  d.  i.  eines  der  armen  Studenten,  die  bei  ihren  rei- 
cheren Genossen  die  Stiefelputzer  und  Stubenkehrer  zu  machen 
hatten  und  dafür  dann  die  übrigen  Brocken  verzehren  und  an 
den  verschiedenen  Curbcn  Theil  nehmen  durften.  Aus  diesem 
Studium  mit  Plindernisscn  erklärt  es  sich  denn  auch  wohl,  dass 
Spenser  volle  sieben  Jahre  brauchte,  um  zu  seinem  zweiten 
Grade,  M.  A.  zu  gelangen,  so  wie  aus  seiner  Zahlungsunfähig- 
keit seine  verfehlte  Bemühung  um  eine  fellowship  sich  begreifen 
lassen  wird.  Andrewes,  der  nachherige  Bischof  von  Winchester, 
siegte  trotz  aller  Tüchtigkeit  doch  Avahrscheinlich  mehr  durch 
seine  Jacobuses  als  durch  seine  wissenschaftliche  Ueberlegcnheit. 
Welcher  Art  Spenser's  Leben  und  Studien  zu  Cambridge  ge- 
wesen seien,  wissen  wir  nicht.  Es  ist  aus  dieser  Zeit  seines 
Lebens  nur  bekannt,  dass  er  wenigstens  eine,  vermuthlich  aber 
zwei  Bekanntschaften  anknüpfte ,  die  für  seine  spätere  Lauf- 
bahn von  Bedeutung  waren.  Die  eine  sicher  festgestellte  war 
die  mit  dem  wissensdurstigen  aber  phantastischen  Harvey,  der 
sich  später  der  Astrologie  zuwandte,  die  andere  zweifelhafte  die 
mit  dem  ritterlichen  und  sehr  begabten  Sir  Philip  Sidney,  dem 
lebenslangen  Gönner  Spenser's.  Der  so  frühen  Bekanntschaft 
mit  Sidney  steht  nur  eine,  wenig  glaubhafte  Erzähhmg  ent- 
gegen, die  wir  sogleich  anführen  werden.  In  ziemlicher  Miss- 
stimmung über  die  Vereitelung  seines  Wunsches,  seinem  erwachten 
poetischen  Drange  in  einem  behaglichen  Universitätsstübchen 
und  in  Sorgenfreiheit  Luft  machen  zu  können,  ging  Spenser 
von  Cambridge  fort  zu  Verwandten  im  Norden  Englands,  wahr- 
scheinlich zu  einer  Familie  seines  Namens  zu  Hurstwood,  bei 
Burnley,  Lancashire,  aus  welcher  sein  Vater  gestammt  haben 
soll.  Dort  mag  er  sich  immer  ein  Jahr,  vielleicht  auch  länger 
aufgehalten  haben;  nur  nicht  drei  Jahre,  da  wir  ihn  1579  schon 
in  London  mit  der  Herausgabe  seiner  ersten  Gedichte  beschäf- 
tigt, und  bald  darauf  durch  den  Earl  of  Leicester,  den  Oheim 
Sidney's,  mit  einer  nicht  weiter  bezeichneten  Gesandtschaft  nach 


44  Spenser  und  seine  Fairy  Queen. 

dem  Continente  betraut  sehen,  welcher  letztere  Umstand  immerhin 
einen  längeren  vorhergegangenen  Aufenthalt  in  London  voraus- 
setzt. In  seiner  ländlichen  Zurückgezogenheit  schrieb  Spenser 
'die  eben  erwähnte  Gedichtsammlung  oder  den  Kranz  von  Hirten- 
liedern, Avelchen  er  den  Shepherd's  Calendar  (Schäferkalender) 
nannte.  Das  Ganze  stellt  seine  eigene  erste  Liebe  dar  in  ihren 
verschiedenen  und  wechselnden  Bewegungen,  freud-  und  leid- 
vollen ,  die  er  zum  Theil  den  mannigfachen  Eindrücken  des 
wandelnden  und  sich  wandelnden  Jahres  beimisst  und  darum 
nach  den  Monaten  abtheilt.  Die  Schäferin  des  Dichters,  deren 
eigentlicher  Name  uns  nicht  weiter  bekannt  geworden  ist,  führt 
den  Namen  Rosalind,  der  in  der  Folge  auch  bei  Shakspeare 
und  Andern  figurirt.  Der  Schäferkalender,  dessen  Vorzüge  in 
dichterischer  Hinsicht  zwar  nicht  grade  sehr  gross  sind,  ist 
immerhin  schon  ein  Zeichen  von  poetischem  Berufe  und  zeichnet 
sich  namentlich,  wie  alles  Spätere,  durch  eine  lieblich  dahin- 
gleitende, klangvolle  Sprache  aus.  Er  war  Sidney  gewidmet.  — 
Spenser's  augenscheinlich  erfblgloses  Minnen,  sein  Mangel  an 
bestimmter  Beschäftigung,  die  Furcht,  seinen  Verwandten  lästig 
zu  werden,  seine  Sehnsucht  nach  dem  bewegteren  und  glänzen- 
deren Leben  der  Hauptstadt,  der  mit  dem  Dichterbewusstsein 
erwachte  Ehrgeiz  und  zu  allem  diesem  noch  besonders  der 
Rath  seines  Studienfreundes  Harvey  bewogen  ihn,  sich  zu  der 
angedeuteten  Zeit  (um  1578)  nach  London  „der  grossen  Babel" 
zu  begeben  und  sich  dort  durch  Empfehlungsbriefe  eben  des- 
selben Plarvey  zunächst  bei  Sidney  einzuführen.  Bei  Gelegen- 
heit dieser  Einführung  wird  die  oben  berührte  Erzählung  von 
mehreren  Biographen  Spenser's  eingeflickt,  die  zugleich  das  erste 
Buch  seiner  Fairy  Queen  als  damals  schon  fertig  voraussetzt. 
Er  soll  nämlich,  nach  Leicester  House,  der  Wohnung  Sidney's, 
gehend,  den  neunten  Gesang  des  ersten  Buches  hinaufgeschickt 
und  gewünscht  haben ,  man  möge  gefälligst  lesen.  Da  soll 
Sidney,  nach  Durchlaufung  einiger  Stanzen,  voller  Begeisterung 
seinem  Haushalter  befohlen  haben,  dem  unbekannten  Ueber- 
bringer  Lst.  50  auszuzahlen,  nach  einer  Stanze  mehr  die  Summe 
vordoppelt  und  ebenso  bald  vervierfacht  haben,  mit  dem  Be- 
deuten, dieses  Geld  rasch  auszuzahlen,  damit  er  nicht  in  den 
nächsten  Augenblicken  versucht    werde,    sein   ganzes  Vermögen 


Spenser  und  seine  Fair y  Queen.  45 

an  den  draussen  harrenden  Dichter  wegzugeben.  Was  inuner 
in  dieser  Geschichte  AVahrheit  oder  Dichtung  sein  mag,  so  viel 
ist  gewiss,  dass  Sidney  der  wärmste  Freund  und  Gönner  des 
jungen  Dichters  wurde  und  ihn  bei  den  einflussreichsten  Per- 
sonen des  Hofes,  seinem  Onkel  Leicester,  dem  Grafen  Essex, 
so  wie  (was  als  fiist  sicher  anzunehmen)  bei  der  glänzenden 
und  o-elehrten  Königin  Elisabeth  selbst  einführte.  Die  hohen 
Bekanntschaften  müssen  sich  ziemlich  rasch  gefolgt  sein,  da, 
Avie  bemerkt,  Spenser  schon  im  Jahre  1579  einen,  wenn  auch 
vermutldich  untergeordneten,  Gesandtschaftsauftrag  erhielt;  und 
es  ist  eben  so  wahrscheinlich,  dass  sich  der  junge  Dichter,  dem 
bald  nach  Veröffeutlichunj?  seines  Schäferkalenders  die  Aus- 
Zeichnung  des  Lorbeerkranzes  zufiel,  während  der  ersten  Jahre 
seines  Londoner  Aufenthaltes  in  seinein  jungen  Kuhme  recht 
behaglich  fühlte ,  welchem  Ruhme  auch  die  goldene  Handgreif- 
lichkeit nicht  ganz  fehlen  mochte.  Auf  seiner  Studirstube,  an 
seiner  einsamen  fireside,  avo  er  die  prächtigen  Gemälde  seiner 
Phantasie  in  den  pomphaft-edlen  Rahmen  seiner  Stanzen  ein- 
fiisste,  mochte  er  seine  beste  Begeisterung  schöpfen  in  der 
Erinnerung  an  und  der  Hofifnung  auf  die  huldreichen  und  koket- 
vielsagenden  Blicke  und  AVorte  der  Herrscherin,  deren  Feste 
in  St.  James's  oder  zu  Windsor  er  wohl  nicht  selten  durch 
seine  schöne  Figur  und  reichen  Gelstesgabeu  zierte;  und  es 
würde  fast  nicht  zu  kühn  sein ,  anzunehmen ,  dass  sich  grade 
in  der  ^^'ahl  des  schmeichlerischen  Titels  zu  seinem  grossen 
Gedichte  eine  mehr  als  gewöhnliche  Huldigung  gegen  die  noch 
immer  ziemlich  jugendliche  und  frische  Jungfrau-Königin  aus- 
spräche. Dass  sie  es  verstand  und  selbst  noch  im  Alter  suchte, 
ihren  jungen  Hofleuten  die  Köpfe  zu  verdrehen,  ist  nur  zu 
bekannt.*)  Wie  erfrischend  und  hebend  daneben  der  Umgang 
mit  dem  glänzend-ritterlichen  und  geistreichen  Sidney  auf  Spenser 
wirken  musste,  lässt  sich  leicht  denken.  Wie  genau  und  welcher 
Art  derselbe  gewesen ,  geht  aus  dem  zwischen  beiden  Schrift- 
stellern gemeinschafthch   mit  Harvey    verabredeten  Plan  hervor, 


*)  Die  Annahme,  dass  Spenser  der  Königin  vor  1590  nicht  persönlich 
bekannt  gewesen ,  ist  ganz  unwahrscheinlich ,  da  er  durch  sie  gekrönter 
Dichter  (poet  laurcate  =  iiofüichterj  und  Gesandter  geworden  war. 


46  Spenser  und  seine  F.iiry  Queen. 

die  alten  Metra  in  der  englischen  Poesie  einzubürgern  und 
dafür  den  Reim  aus  derselben  zu  verbannen.  Wir  können 
nämlich  hier  entschieden  annehmen,  dass  Spenser  bloss  aus 
Freundschaft  dem  Freunde  nachgab,  da  er  selbst  mit  so  sicht- 
barer Liebe  der  naturwüchsigen  Maasse  und  des  Reimes  pflegte. 
—  Dass  Spenser  gewiss  einen  bewegten  und  vielseitigen  Um- 
Q-anrr  auch  mit  andern  verwandten  Geistern  unterhielt  und  unter 
diesen  in  grossem  Ansehen  stand,  wird  sattsam  durch  den  Um- 
stand bewiesen,  dass  eine  grosse  Anzahl  Dichter  ihm  zum  Grabe 
folgten  und  seinen  Sarg  mit  Trauergedichten  bestreuten.  Wir 
können  auch  ziemlich  sicher  annehmen,  dass  zwischen  ihm  und 
Shakspeare  ein  näheres  Verhältniss  stattgefunden  habe,  obschon 
eigentliche  Beweise  eines  solchen  fehlen;  eine  auf  Shakspeare 
gedeutete  Stelle  in  Spenser's  „Colin  Clout's  come  home  again" 
würde  höchstens  als  ein  vom  blossen  Dichter  ausgehender  Tribut 
zu  betrachten  sein.  —  So  gross  und  angenehm  nun  auch  an- 
fänglich der  Contrast  zwischen  Spenser's  gedrückter  Studienzeit, 
seinem  einsamen  Aufenthalte  im  halbwilden  Lancashire  und  dem 
glänzenden  Dichter-  und  Hofleben  in  der  Hauptstadt  sein  mochte, 
so  wurde  derselbe  doch  sehr  bald  zum  Nachtheile  gemildert 
durch  die  Täuschungen,  Launen  und  Wechsel,  die  von  der  Ab- 
hängigkeit überhaupt,  zumeist  aber  von  derjenigen  von  den 
Grossen  unzertrennlich  sind.  Spenser  bekam  sehr  bald  bei 
Hofe  einen  Feind  und  zwar  einen  solchen ,  der  ihm  grade  am 
empfindlichsten  schaden  konnte,  weil  er  den  Seckel  führte;  es 
war  der  Grossschatzmeister  Lord  Burleigh.  Wie  sich  der  junge 
Dichter  diesen  Widersacher  geschaflfen,  ist  unbekannt.  War 
es  des  Hofmanns  Eifersucht  auf  Spenser's  wachsende  persön- 
liche Gunst  bei  Hofe;  war  es  bloss  der  Hass  gegen  Robert 
Devereux  (Graf  Essex),  mit  dem  er  Spenser,  den  Freund,  zu- 
sammenwarf; waren,  wie  man  ebenfalls  annimmt,  einige  Anspie- 
lungen im  Schäferkalender  auf  Erzbischof  Grindal  und  Bischof 
Aylmer,  Freunde  Burleigh's,  die  Ursache;  kurz,  er  fügte  Spenser 
einmal  namhaften  materiellen  Schaden  zu,  indem  er  ihm  an- 
sehnliche Geschenke  der  Königin  entweder  ganz  vorenthielt, 
oder  sie  nur  spät  und  stark  verkürzt  an  ihn  gelangen  Hess,  und 
verbitterte  ihm  zum  andern  Ruhm  und  Freude  auf  allerlei  ge- 
hässige Weise.    Zu  diesen  Widerwärtigkelten  kamen  schliesslich 


S  p  c  n  s  e  r  u  n  d  s  e  i  n  e  F  a  i  r  y  Q  u  e  e  n.  47 

nocli  die  Jiäufige  Abwesenheit  des  gewichtigen  Freundes  Sidney, 
den  Krieg  und  Gesandtschaftsposten  in  den  Nicdcrhinden  fest- 
hielten, und  die  nachträgliche  schmerzliche  Entdeckung  hinzu, 
dass  es  mit  der  Avaliren  Achtung  vor  dem  Genie  eben 
nicht  Aveit  her  sei.  Sein  Gefühl  bei  der  letzteren  spricht 
Spenser  deutlich  genug  aus  in  seinen  „Tears  of  Calliopc", 
wo  er  sagt: 

Their  great  revenues  all  in  sumptuous  pride 

They  spend,  that  nought  to  learning  tliey  may  spare; 

And  the  rieh  fee  which  Poets  wont  divido, 

Now  Parasites  and  Sycopliants  do  share. 

Seine  Stimmung  in  jener  Zeit,  wo  er  tiefer  in  das  grosse  Leben 
und  in  die  wirkliche  Stellung  eines  damaligen  Dichters  hatte 
blicken  lernen,  schildert  er  aber  ganz  besonders  graphisch  und 
lebhaft  in  der  folgenden  Stelle  aus  „Mother  Hubbard's  Tale": 

Füll  little  knowest  thou  tbat  hast  not  try'd, 

"What  hell  it  is,  in  misery  long  to  bide, 

To  lose  good  days,  that  might  be  better  spent, 

To  waste  long  nights  in  pensive  discontent; 

To  speed  to-day,  to  be  put  hack  to-morrow; 

To  feed  on  Hope,  to  pine  with  Fear  and  Sorrow; 

To  have  thy  prince's  grace,  yet  want  her  peer's; 

To  have  thy  asking,  yet  wait  many  years; 

To  fret  thy  soul  with  crosses  and  with  cares; 

To-  eat  thy  lieart  thro'  comfortless  despairs ; 

To  fawn,  to  croucb,  to  wait,  to  ride,  to  run, 

To  spend,  to  want,  to  give,  to  be  undone. 

Doch  unser  Dichter  gab  den  Muth  nicht  auf.  Aus  der  schil- 
lernden aber  für  ihn  hohlen  und  undankbaren  Wirklichkeit 
flüchtete  er  sich  in  die  Gefilde  seines  Feenlandes  und  schöpfte 
dort  im  Anschaun  der  seiner  Phantasie  entrollenden  Zauberbilder 
neue  Kraft  und  Hoffnung  auf  bessere  Tage,  welche  Iloffiiung 
ihn  denn  auch  nicht  im  Stiche  liess.  Nachdem  er  noch  vorher 
bei  mehreren,  dem  Dato  nach  nicht  weiter  nachzuweisenden  Ge- 
sandtschaften war  beschäftigt  worden  (was,  beiläufig  gesagt, 
in  jenen  Tagen  eben  noch  keine  so  grosse  Auszeichnung  Avar, 
als  heute),  erhielt  er  zuletzt,  gegen  1.583,  den  ehrenvollen  Posten 
eines  Secretairs  bei  dem   neuen  Überstatthalter  in  Irland,    Lord 


48  SpenserundseineFairyQueen. 

Grey  of  Wilton.  Das  war  jedenfalls  eine  in  jeder  Hinsicht 
wohlthätige  Wendung  im  Schicksalsgange  Spenser's.  Sein  ge- 
kränktes und  gedrücktes  Gefühl  wurde  neu  erfrischt  und  ge- 
hoben ;  seine  äussere  Lage  wurde  ansehnlich  verbessert ;  die 
Einseitigkeit  seines  bisherigen  Dichterschaffens  erhielt  ein  starkes 
und  zweckmässiges  Gegengewicht  durch  den  vielfach  bewegten 
Verkehr  im  prosaischen  Amte  und  unter  Menschen  von  Fleisch 
und  Blut.  Er  blieb  in  dieser  Thätigkeit  Mährend  zweier  Jahre, 
bis  zur  Kückberufung  seines  Vorgesetzten  nach  London,  wohin 
Spenser  ebenfalls  zurückkehrte.  Eine  von  soliden  Kenntnissen 
im  Gebiete  der  Staatskunst  zeugende ,  aber  erst  lange  nachher, 
unter  Karl  I.  veröffentlichte  Abhandlung,  ..Discourse  on  the 
State  of  Ireland",  war  höchst  wahrscheinlich  während  seiner 
Amtsfülu'unff  oreschrieben  worden.  Die  .Bedeutsamkeit  dieser 
Letzteren,  seine  Empfehlung  durch  und  Verbindung  mit  Lord 
Grey  brachten  die  alten  Bekannten  und  Freunde  zurück,  mit 
ihnen  viele  neue,  und  unter  diesen  Einen,  der  Spenser  eine 
grosse  Anzahl  anderer  aufwog  und  ihm  den  fast  gleichzeitigen 
Verlust  Sidney's  ersetzte;  es  war  der  ritterliche,  kühne  und 
auch  geistig  ausgezeichnete  Sir  Walter  Raleigh.  Gleichzeitige 
Thätigkeit  unter  Lord  Grey  hatte  wohl  die  erste  Annäherung, 
Geistesverwandtschaft  den  engeren  Anschluss  Beider  herbei- 
geführt. Schliesslich  setzte  die  Königin  den  wiederkehrenden 
Huldbezeugungen  Fortuna's  die  Krone  auf  dux'ch  Uebermachung 
eines  schönen  Geschenkes  an  Spenser.  Sie  gab  ihm  nämlich 
(im  Juni  1586)  3028  Acker  (acres)  Landes  nebst  dem  Schlosse 
Kilcolman  bei  Doneraile  in  der  Grafschaft  Cork  in  Irland  (das 
Gut  gehörte  mit  zu  dem  confiscirten  Grundbesitz  des  Earl  of 
Desmond);  Raleigh  hatte  dort  kurz  zuvor  ebenfalls  ein  Besitz- 
thum  von  12,000  Ackern  (gleicherweise  Desmond'sches  Eigen- 
thum)  als  Anerkennung  seiner  militärischen  Verdienste  erhalten, 
und  so  wurden  die  Freunde  nachbarliche  Grundherren.  Dass 
es  Spenser  zur  Pflicht  gemacht  wurde,  auf  seinem  Gute  zu 
wohnen,  war  wieder  ein  günstiger  Umstand,  dem  wir  vornehmlich 
die  glückliche  Weiterentwickelung  seines  unterbrochenen  Lebens- 
Averkes  zu  danken  haben  werden.  Heitere  Tage  gingen  dem 
Dichter  dort  auf  in  seinem  stillen  Schlosse  am  blauen  See,  und 
wie    ihn    die     daselbst    mit    ihm    einziehende    liebliche    Braut, 


Spenser  und  seine  Fairv  Queen.  49 

die  gefeierte  Elisabeth  seiner  Sonette,  zu  seinem  schönen  und 
sangvollcn  Ilochzcitsliedc  (Epithahimion)  begeisterte,  so  stimmten 
die  puipurbhiLien  Höhen  des  Horizonts,  die  murmehiden  Wellen 
des  Mulla,  die  saftgrünen  Farben  seiner  Felder  und  Weiden 
den  Sänger  zur  glänzenden  Fortcntfaltung  seiner  Fairy  Queen. 
Er  wirkte  rasch  -weiter  an  ihrem  luftigen  Gewebe,  und  nach 
vier  Jahren  (im  Januar  1590)  erschienen  die  ersten  drei  Bücher, 
welche  der  Dichter  selbst  nach  London  brachte  und  der  Königin 
in  sehr  beliebter  und  gebräuchlicher  Weise  als  „einen  geringen 
Beweis  seiner  bewundernden  Ehrerbietung-'  zu  Füssen  legte. 
Zu  der  vorläufiscen  theilweiscn  Veröffentlichuno^  des  Werkes 
war  Spenser  durch  Ralcigh  bewogen  worden,  der  ihn  in  Irland 
in  seiner  AVerkstätte  besucht,  dort  mit  ihm  in  der  Stille  der 
Natur  in  ])oetischen  Genüssen  geschwelgt  und  ihn  überredet 
hatte,  zum  Zwecke  einer  vollständigeren  Begründung  seines 
Ruhmes  mit  ihm  nach  London  zu  reisen.  Bei  dieser  Gelegen- 
heit fand  denn  auch  ganz  sicher  eine  Einführung  Spenser's  bei 
Elisabeth  durch  Raleigh  statt  (eine  frühere  durch  Sidney  oder 
Devereux  wird,  wie  angedeutet,  in  Zweifel  gezogen).  Die  Kö- 
nigin liess  es  an  Gnade  abermals  nicht  fehlen  und  bekundete 
namentlich  ihre  Anerkennung  durch  Aussetzung  eines  Jahr- 
orehaltes  von  Lst.  50,  dem  heutigen  Wertlie  von  Lst.  200  min- 
destens  gleichkommend.  —  Der  neue  Lorbeer  um  die  Schläfe, 
das  klingende  Gold  in  der  Tasche  und  vor  Allem  sicher  die 
lohnenden  eigenen  Worte  der  in  ihrer  Eitelkeit  gekitzelten  Herr- 
schei'in  stachelten  denn  auch  den  Dichter  zu  neuem  Schaffen 
sowohl,  als  zur  Veröffentlichung  von  längst  Fertigem  an.  Im 
Jahre  1591  erschienen  seine  „Tears  of  the  illuses"  und  „Mother 
Hubbard's  Tale";  die  „Daphnaida"  wurden  1592,  die  „Amoretti" 
und  das  ..Epithalamion"  1595  gedruckt  und  mit  ihnen  das 
schöne  Klagelied  auf  den  Tod  Sidney's,  die  ,,Elegy  of  Astro- 
phel".  Neben  der  Redaction  dieser  älteren  Gedichte  ging,  wie 
gesagt,  die  Weiterführung  der  Fairy  Queen  rasch  von  Statten, 
und  schon  im  Jahre  1596  finden  wir  Spenser  Avieder  in  London, 
mit  der  Herausgabe  des  vierten,  fünften  und  sechsten  Buches 
beschäftigt.  Ob  diesmal  eine  Erhöhung  seines  Jahrgehaltes 
durch  die  Königin  stattgefunden,  ist  nicht  bekannt;  dafür  aber 
wissen  wir,    dass    sie   kurz   nachher    ihm   die   Ehrenstelle   eines 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  X.XIII.  4 


50  Spenser  und  seine  Fairy  Queen. 

SherifFs  der  County  of  Cork  zudachte.  (Spenser  war  nämlich 
schon  bisher  öecretair  bei  dem  Council  of  Munster  gewesen, 
und  verrauthlicli  der  Königin  auch  als  Beamter  lieb,  wegen 
seiner  entschiedenen  Anhänglichkeit  an  Grundsätze  unumschränkter 
Königsmacht.)  Die  Aussicht  auf  diese  neue  Würde  aber,  wenn 
sie  Sjoenser  vielleicht  noch  mehr  in  seiner  den  Irländern  ge- 
hässigen Richtung  bestärkte ,  trug  in  diesem  Falle  für  ihn  wie 
für  seine  Leser  traurige  Früchte:  sie  brachte  ihn  in  der  Blüthe 
seiner  Kraft  um  Eigenthum,  Glück  und  —  Leben,  und  seine 
Bewunderer  um  die  Hälfte  seiner  Kunstschöpfung.*)  Im  Oc- 
tober  1598  brach  in  Munster  plötzlich  der  Aufruhr  aus,  welchen 
Tyrone  schon  seit  einiger  Zeit  im  Norden  angeschürt  hatte.  Alle 
englischen  Colonisten,  ganz  besonders  aber  diejenigen,  welche 
durch  Stolz  und  Härte  den  Hass  der  Eingebornen  sich  zuge- 
zogen hatten,  waren  die  nächsten  Ziele  für  die  Volks wuth. 
Spenser  soll  zu  den  vorzugsweise  als  Opfer  Ausersehenen  ge- 
hört haben.  Sein  Besitzthum  wurde  von  einem  bi'üUenden 
Haufen  Aufrührer  überfluthet  und  verheert,  sein  Schloss  ihm 
über  dem  Kopfe  augezündet.  Er  sammt  seinem  Weibe  und 
zwei  Söhnen  entkam  mit  genauer  Noth,  seine  Wohnung  brannte 
aber  nieder  und  in  den  Gluten  endete  sein  kleinstes  Kind  (ein 
Säugling),  das  entweder  in  der  Angst  vergessen,  oder  dessen 
Kettung  unmöglich  geworden  war.  Gebrochenen  Herzens,  ein 
Gegenstand  des  Jammers,  erreichte  Spenser  London,  wo  er  drei 
JVJonate  später  (16.  Januar  1599)  in  seinem  46.  Lebensjahre 
starb.  Er  wurde  in  würdiger  Weise  neben  Chaucer  begraben. 
—  Wie  oben  erwähnt,  setzte  ihm  der  Graf  Essex  ein  Denkmal. 
Wahrscheinlicher  ist  aber  eine  andere  Angabe,  nach  welcher  Anna, 
Gräfin  von  Dorset,  30  Jahre  später  seinen  Manen  diese  Ehre 
erwies,  wahrscheinlicher  schon  deshalb,  dass  sowohl  Geburts- 
ais Todesjahr  auf  der  Gedenktafel  falsch  angegeben  sind,  ersteres 
um  43,  letzteres  um  3  Jahre  zu  früh. 

Um  nach  diesem  flüchtigen  Lebensabriss  nun  zunächst  ein 
allgemeines  Urtheil  über  Spenser  auszusprechen,    so  kann  man 


•)  Dass  die  fehlenden  6  BücLer  der  Fairy  Queen  auch  fertig  gewesen 
und  durch  die  Fahrlässigkeit  eines  Dieners  zur  See  verloren  gegangen 
seien,  ist  blosse  Fabel. 


Spenser  und  seine  Fairy  Queen.  51 

unbeschadet  des  Ruhmes  aller  seiner  seit  je  ausgezeichneten 
Landsleute  sas^en:  Er  ist  entschieden  der  erste  enolische  be- 
schreibende  Dichter;  er  ist  der  beste  englische  Versbauer  und 
vollendetste  Sprachkünstlcr;  er  steht  Shakspeare  gleich  in  Betreff 
der  Ausdehnung  und  FiUlc  schüpierischer  Kraft;  er  ist  König 
und  Meister  in  den  Regionen  der  Phantasie.  Spenser  malt, 
um  vcrgleichungs weise  zu  reden,  mit  der  Farbcnfiille  zugleich 
und  dem  Formcnreichthum  eines  Rubens,  mit  der  "Weichheit 
eines  Murillo,  mit  der  Grazie  und  dem  hohen  Ernste  eines 
Raphael,  mit  der  Kühnheit  eines  Leonardo,  der  Klarheit  und 
Durchsichtigkeit  eines  Reni,  der  Tife  eines  Dürer,  dessen  L^eber- 
ladung  er  auch  freilich  manchmal  theilt. 

L^nter  den  oben  erwähnten  kleineren  Werken  Spcnser's 
nimmt  die  erste  Stelle  unstreitig  das  Epithalamion  ein.  Die 
Idee  des  Gedichtes  trägt  zwar  nichts  Ungewöhnliches  und 
Ueberraschendes  an  sich;  es  beschreibt  bloss  sein  Hochzeitsfest 
und  dessen  strahlenden  Mittelpunkt ,  die  schöne  Braut ;  aber 
die  Sprache  ist  wirklieh  vollendet  melodisch  und  liefert  namentlich 
den  Beweis  dass  Spenser  auch  ausser  der  ihm  eigenen  neunzeiligen 
Strophe  musikalisch  zu  schreiben  Avusste.  Der  Schluss-Alexan- 
drlner  ist  zwar  auch  hier,  aber  doch  in  neuer  Form,  nämlich 
als  Refrain.  Als  kleine  Probe  wollen  wir  eine  der  schönen 
Strophen  mittheilen,  diejenige ,  in  welcher  der  Dichter  die  per- 
sönliche Erscheinung  der  Braut  am  Hochzeitmorgen  hinmalt: 

Loe !  where  she  comes  along  with  portly  pace, 

Like  Phoebe,  from  her  Chamber  of  the  east, 

Arysing  forth  to  run  her  mighty  race, 

Clad  all  in  white,  that  seems  a  virgin  best. 

So  well  it  her  beseems,  that  ye  would  weene 

Some  angell  she  had  beene. 

Her  long  loose  yellow  locks  lyke  golden  wyre, 

Sprinckled  with  perle,  and  perling  flowres  atwecne, 

Doe  like  a  golden  mantle  her  attyre; 

And  being  crowned  with  a  girland  greene, 

Seem  lyke  some  mayden  queene. 

Her  modest  eyes,  abashed  to  behold 

So  many  gazers  as  on  her  do  stare, 

Upon  the  lowly  ground  affixed  are; 

Ne  dare  lift  up  her  countenance  too  bold. 


52  Spenser  unil  seine  Fairy  Queen. 

But  blusli  to  heare  her  prayses  sung  so  loud, 

So  farre  from  being  proud. 

Nathlesse  doe  ye  still  loud  her  prayses  sing, 

That  all  the  woods  may  answer,  and  your  eccho  ring. 

Die  kleineren  Sachen  dürften  aber  alle  entweder  gar  nicht  da 
oder  nur  mittelmässig  sein,  so  würde  Spenser's  Euhm  keines- 
weges  dadurch  beeinträchtigt  werden:  Er  ruht  sicher  genug  auf 
der  Fairy  Queen. 

Dieses  Gedicht  steht  nach  Stoff  und  Form  einzig  da  unter 
Allem,  was  je  in  irgend  welcher  Literatur  der  Art  nach  Aehn- 
liches  geschaffen  worden,  denn  der  Vergleichungspunkte  zwischen 
ihm  und  andern  Dichtungen  verwandter  Natur  sind  immer  nicht 
viele.  Mag  auch  Spenser  in  seinem  Comraentar  für  Raleigh 
immerhin  gestehen,  dass  er  Ariosto  und  Tasso  zu  Vorbildern 
genommen,  so  räumt  er  doch  wieder  nicht  ein,  mehr  von  ihnen 
gelernt  zu  haben,  als  von  Homer  und  Virgil,  die  ihm,  wie  er 
sagt,  ebenso  gezeigt  hätten,  wie  man  Charaktere  sinnbildlich 
darstellen  solle.  Er  will  nur  eine  Kunst  von  diesen  Schrift- 
stellern gelernt  haben,  die  der  allegorischen  Charakterzeichnung, 
eine  Kunst  also,  welche  offenbar  von  seinen  angeblichen  Meistern 
nicht  ausgeübt  worden  ist,  oder  wenn,  wenigstens  nicht  so  ab- 
sichtlich wie  von  ihm.  Die  Anklänge  der  Fairy  Queen  an  den 
Orlando  und  an  die  Gerusalemme  sind  darum  wenig  zahlreich 
ausser  der  nothwendigen  allgemeinen  Aehnlichkeit  romantischer 
Heldenpoesie.  Andere  wirklich  allegorische  Dichtungen,  die 
Spenser  gar  nicht  anführt  und  nicht  gekannt  zu  haben  scheint, 
wie  die  Divina  Commedia,  der  Roman  de  la  Rose  von  Guillaume 
de  Lorrls,  der  Roman  du  Renard  von  P.  de  St.  Cloud  und 
Rutebeuf,  die  Compositioncn  der  Spanier  Juan  Ruiz  und  Juan 
de  Mena,  endlich  unser  deutscher  T  heuer  dank  stehen  der 
Fairy  Queen  eben  so  fern  rücksichtlich  des  allgemeinen  Planes, 
des  Gegenstandes,  der  Sprache.  Wollte  man  Unbekanntes 
durch  Bekanntes  erklären,  so  könnte  man  allenfalls  Wieland's 
Oberon  ein  verwandtes  Gedicht  nennen.  Er  würde  zwar  nicht 
mii  der  ganzen  Fairy  Queen,  sondern  nur  mit  einem  Buche 
derselben  zu  vergleichen  sein,  da  jedes,  obschon  im  Zusammen- 
hange mit  allen  andern,    einen  eigenen   Kreis   von   Abenteuern 


Spcnscr  und  «oino  Fa iry  Queen.  53 

in  sich  abschlicsst.  Dem  Obcron  fehlt  aber  wieder  die  Alle- 
gorie, und  als  solche'  namenthch  will  Spenser  sein  AVerk  auf- 
gefasst  haben. 

Zum  allgemeinen  Yerstandniss  derselben  genügt  sein  (schon 
angeführter)  Commentar,  ein  Brief  an  Raleigh,  den  er  den  drei 
ersten  Büchern  beidrucken  Hess.  Nach  demselben  war  es  des 
Dichters  Absicht,  einen  vollkommenen  Ixltter,  d.  h.  einen  in 
allen  Tugenden  ausgezeichneten  Mann  darzustellen.  Als  den 
Eepräsentanten  eines  solchen  Musters  dachte  er  sich  Prinz 
Arthur  vor  seiner  Thronbesteigung.  Weiter  wollte  er  in  zwölf 
Eittern,  von  denen  jeder  für  sich  mit  seinen  Abenteuern  ein 
Buch  füllen  sollte,  die  zwölf  Cardinaltugenden ,  wie  sie  Aristo- 
teles feststellt,  personificiren,  in  den  Nebenpersonen  geschicht- 
liche Persönlichkeiten,  und  in  den  Abenteuern  selbst  geschicht- 
liche Ereignisse  und  Verhältnisse  des  Lebens  schildern.  Die 
dem  Ganzen  Einheit  und  Mittelpunkt  verleihende  Figur  endlich, 
die  Feenkönigin,  sollte  Elisabeth,  das  Ideal  aller  Vollkommen- 
heit, allegorisiren.  Erst  im  zwölften  Buche,  sagt  Spenser,  solle 
der  Zusammenhang  nachgewiesen  und  die  Feenkönigin  Glo- 
riane  eingeführt  'werden,  wie  sie  an  einem  zwölftägigen  Jahres- 
feste den  zwölf  Rittern  (an  jedem  Tage  Einem)  ihre  Aufgaben 
zuweise;  und  er  entschuldigt  diese  vorenthaltene  Verknüpfung 
und  Erklärung  dem  Leser  gegenüber  mit  der  Freiheit  des 
Dichters,  der,  ungleich  dem  Geschichtschreiber,  gleich  mitten 
in  seinen  Gegenstand  springen  und  von  dort  aus  nach  allen 
Seiten  hin  entwickeln  dürfe.  Mit  den  sechs  letzten  Büchern 
fehlt  aber  nun  auch  der  erklärende  Schluss,  über  den  man  sich 
darum  keine  rechte  Idee  bilden  kann.  Der  Brief  an  Raleiffh 
spricht  sich  leider  auch  wieder  zu  allgemein  aus ,  als  dass  sich 
eine  jede  der  dargestellten  geschichtlichen  Persönlichkeiten, 
namentlich  jetzt  noch,  nachweisen  Hesse,  und  es  muss  bei  den 
meisten  darum  bei  der  blossen  Vermuthung  bleiben.  Ueber  die 
personificirten  Tugenden  sprechen  sich  die  Ucberschriften  der 
Bücher  aus. 

Der    Reihe    nach    allegorisirt    die    vorhandene    Hälfte    der 
Fairy  Queen 

im  -1.    Buche:    die    Heiligkeit    im   Rothkreuzritter;    die 
englische    Kirche    in    L"na,    den   Irr- 


54  Spenser  und  seine  Fairy  Queen. 

glauben  in  Duessa,  König  Heinrich  IV. 
im  unolücklichen  Ritter,  die  Schotten- 
königin  Maria  Stuart  in  Envy,  die 
Hochherzigkeit  oder  den  Inbegriff  aller 
Tugenden  in  Prinz  Arthur,  den  Anti- 
christ im  Drachen ; 

im  2.  Buche:  die  Mässigung  in  Sir  Guyon ,  die  Kö- 
nisfin  Elisabeth  in  der  Jägerin  Bei- 
phoebe  (Diana); 

im   3.    Buche:    die  Keuschheit  in  Britomantis; 

im  4.  Buche:  die  Freundschaft  in  Cambel  und  Tria- 
mond ; 

im  5.  Buche:  die  Gerechtigkeit  und  zugleich  Lord 
Grey  in  Artegal; 

im  6.  Buche:  die  Dienstfertigkeit  (Huld)  in  Sir 
Calidore. 
So  wenig  hat  indessen  die  Darstellung  mit  der  Allegorie  zu 
thun,  oder  vielmehr,  so  wenig  wird  die  erstere  durch  die  letz- 
tere bedingt,  dass  man  gar  nichts  von  dieser  zu  wissen  braucht. 
Man  möchte  fast  sagen,  der  Genuss  wäre  reiner  und  vollkom- 
mener, wenn  man  eben  blind  und  gedankenlos  dem  Dichter 
folgen  und  sich  gar  nicht  um  seine  geheimen  Bedeutungen,  seine 
„dark  conceits"  kümmern  wollte.  Der  ganze  Verlauf  der  ver- 
schiedenen Abenteuer  entwickelt  sich  so  leicht  und  ungezwungen, 
die  verschiedenen  Figuren  treten  so  natürlich  in  den  Kreis  der 
Geschichte  ein  und  sind  dabei  alle  so  echte  Spenser'sche  Ideale, 
des  Guten  wie  des  Bösen,  dass  man  sich  nie  veranlasst  sieht, 
zu  frao;en:  Was  soll  der?  wozu  Jener?  was  bedeutet  dieses 
Mongtrum  und  jene  Oertlichkeit?  Vom  leicht  hinflies  senden 
Strome  der  Erzählung  dahingetragen,  gibt  man  sich  den  Launen 
des  phantastischen  Führers  ganz  anheim,  in  der  Ueberzeugung 
und  Voraussicht,  dass  er  uns  stets  angenehm  unterhalten  und 
unzählio;e  Male  noch  angenehmer  überraschen  wolle.  Man  rechtet 
mit  Spenser  eben  so  ungern,  als  man  mit  dem  Zauberer  thun 
würde,  der  uns  zu  einer  Weltschau  durch  die  Lüfte  trüge,  oder 
mit  dem  Künstler  thut,  der  vor  unsern  ergötzten  Blicken  ein 
wandelndes  Panorama  sich  entrollen  lässt. 


Sp ens Cr  und  seine  Fairy  Queen.  55 

Was  die  schon  berührte  stoffliehe  Aehnlichkcit  der  Fairy 
Queen  mit  dem  Orlando  mid  der  Gerusalcmme  betrifft,  und  die 
Entlehnung  und  Nachahmung,  die  man,  auf  Spenser's  eigener 
allgemeinen  Aeusserung  fussend,  ihm  hat  aufbürden  wollen,  so 
ist  es  damit  nicht  anders  als  mit  derjenigen  jeglicher  anderer 
Kunstwerke  von  verschiedenen  Meistern  und  aus  demselben 
Material.  Der  eine  Künstler  mag  dem  andern  bloss  diesen  oder 
jenen  guten  Griff",  diesen  oder  jenen  wirkungsvollen  Zug,  diese 
oder  jene  gefällige  Form  einer  unbedeutenden  Einzelheit  abge- 
sehen, dabei  aber  immer  rücksichtlich  des  Ensemble  ganz 
selbständig  gearbeitet  haben,  und  die  allgemeine  Gleichfarbig- 
keit  oder  Gleichform  der  Aussenseite  wird  uns  schon  verleiten, 
ausgedehntere  Nachahmuno;  zu  vermuthen.  Der  Heldendichter 
ist  imumschränkter  Gebieter  im  Reiche  der  Phantasie.  Er  bricht 
ein  in  die  Magazine  und  Schatzkammern  dessen,  was  von  je 
die  Einbildungskraft  hervorgezaubert  und  niedergelegt  hat. 
Himmel,  Hölle,  Luft,  Erde  und  Meer,  alle  Districte  des  gren- 
zenlosen Zauberstaates  liefern  ihm  die  Personen ,  die  er  ent- 
weder feierlich  und  verständig  vor  uns  handeln,  oder  aber 
Fratzen  schneiden  und  Bocksprünge  machen  lassen  w^ill.  Er 
zimmert  aus  demselben  luftigen  und  vielgestaltigen  Material  der 
AVunderwelt  wie  sein  Bruder-Heldendichter:  was  Wunder,  dass 
sein  Gebäude  in  tausend  Dingen  an  das  des  Andern  erinnert! 
]\Ian  wird  doch  in  unserm  Falle  nicht  etwa  auch  noch  sagen 
Avollen,  Spenser  habe  des  Ariosto  verworrenen  Plan,  lockeren 
Zusammenhang  und  edle  Sprache,  des  Tasso  Ernst  und  from- 
men Ton  nachgebildet,  denn  das  wären  am  Ende  die  einzigen 
wirklich  gemeinsamen  Züge.  Selbst  aber  angenommen,  Spenser 
habe  nachgeahmt,  so  hätte  er  es  wenigstens  in  derselben  Weise 
gethan,  wie  Chaucer  bei  Lorris,  wie  Torquato  bei  dem  eigenen 
Vater  Leonardo,  wie  Fielding  bei  Scarron,  Walter  Scott  bei 
Ann  Radcliff^e;  der  Jünger  wäre  besser  als  der  Meister.  Spenser 
ist  viel  reicher  als  Maler,  viel  fruchtbarer  und  kühner  als  Er- 
finder, freilich  zuweilen  auch  viel  ermüdender  (diu'ch  crasse 
Zusammenstellungen)  und  manchmal  weniger  ästhetisch  (in  sei- 
nem übergroesen  Hange  zur  Plastik)  als  sowohl  Ariosto  Avie 
Tasso.  Was  schliesslich  auch  die  argwöhnischste  Kritik  auf 
alle  Fälle   Spenser   als   unantastbares   Eigenthum    lassen  muss, 


56  Spenser  und  seine  Fairy  Queen. 

ist  seine  Parallel- Allegorie,  die  er  auf  das  geschickteste  durch- 
führt und  in  welcher  er  wieder  Lehrer  geworden  ist  für  John 
Bunyan,  der  in  seinem  „Pilgrim's  Progress"  dem  Meister  mit 
Glück  nacharbeitet. 

Alle  oder  nur  die  meisten  Schönheiten  und  Prachtpartien 
der  Fairy  Queen  aufzuzählen,  würde  ein  endloses  Bemühen 
sein,  denn  ihrer  ist  eine  Legion.  Die  beiden  ersten  Bücher 
vorzugsweise  sind  Speicher  von  Poesie  und  stehen  der  Vollen- 
dung in  demselben  Masse  nahe,  wie  die  ersten  Gesänge  des 
Paradise  lost ,  wie  der  Merchant  of  Venice ,  Macbeth ,  Hamlet 
und  Lear.  Wir  Avollen  nur  einige  Strophen  als  Stilproben  mit- 
theilen, und  zwar  solche,  die  daneben  am  meisten  geeignet 
scheinen,  Spenser  in  seinen  dichterischen  Vorzügen  wie  Mängeln 
dem  Leser  andeutungsweise  vorzuführen. 

Als  Beispiel  für  einfach  schöne  Beschreibung  wählen  Avir 
die  Einführung  Una's,  I.  Buch,  1.   Gesang: 

A  lovely  ladie  rode  him  faire  beside, 

Upoa  a  lowly  asse  more  white  than  snow; 

Yet  she  mucb  whiter;  but  the  same  did  bide 

Under  a  vele,  that  wimpled  was  füll  low; 

And  over  all  a  blacke  stole  sbe  did  tbrow, 

As  one  tbat  inly  mournd;  so  was  sbe  sad, 

And  heavie  säte  upon  ber  palfrey  slow; 

Seemed  in  beart  more  bidden  care  sbe  bad; 

And  by  her  in  a  line  a  railke-white  lambe  she  lad. 

So  poor  and  innocent,  as  tbat  same  lambe, 

She  was  in  life  and  every  vertuous  love, 

And  by  descent  from  royall  lynage  came 

Of  ancient  kinges  and  queenes,  tbat  bad  of  yore 

Their  scepters  strecht  from  east  to  westerne  shore, 

And  all  the  world  in  their  subjection  beld; 

Till  that  infernal  feend  with  foule  uprore 

Forwasted  all  their  land,  and  them  expeld; 

Wbom  to  avenge,  sbe  bad  this  knight  from  far  compeld. 

Die  prächtig-zierliche  Beschreibung  veranschaulichen  unter  vielen 
andern  einige  Stanzen  aus  der  Schilderune:  des  Glücksgartens 
(bower  of  bliss),  IL  Buch,  12.  Gesang: 

There  the  most  daintie  paradise  on  ground 
Itselfe  dotb  offer  to  bis  sober  eye, 


Spenser  und  seine  Fairy  Queen. 

In  which  all  pleasures  plcntiousLy  abownd, 

And  none  does  otliers  happlnesse  envye; 

The  paintcd  llowres ;  the  trees  upshootiiig  liye ; 

The  dales  for  shade;  the  hilles  for  breathing  space ; 

The  trembling  groves;  the  christall  running  by; 

And,  that  which  all  faire  workes  doth  most  aggrace, 

The  art,  which  all  that  wrought,  appcared  in  no  place. 

One  would  have  tbought,   (so  cunningly  the  rüde 

And  scorned  partes  were  niingled  witli  the  üne,) 

That  Nature  had  for  wantonesse  ensude 

Art,  and  that  Art  at  Nature  did  repine; 

So  striving  each  th'other  to  undermine,  , 

Eacb  did  the  others  worke  more  beautify; 

So  difT'ring  both  in  willes  agreed  in  üne : 

So  all  agreed,  through  sweote  diversity, 

This  gardin  to  adorne  with  all  variety. 

And  in  the  midst  of  all  a  fountaine  stood, 

Of  riebest  substance  that  on  earth  niight  bee, 

So  pure  and  shiny  that  the  silver  flood 

Through  every  channell  running  one  might  see; 

Most  goodly  it  with  curious  ymageree 

A\'as  over-wrought,  and  shapes  of  naked  boyes, 

Of  which  some  seemd  with  llvely  iollitee 

To  fly  about,  playing  their  wanton  toyes, 

Whylest  others  did  themselves  embay  in  liquid  ioyes. 

And  over  all  of  purest  gold  was  spred 

A  trayle  of  yvie  in  his  native  hew; 

For  the  rieh  metall  was  so  coloured, 

That  wight,  who  did  not  well  avis'd  it  vew, 

Would  surely  deeme  it  to  bee  yvie  trew ; 

Low  his  lascivious  armes  adown  did  creepe, 

That  themselves  dipping  in  the  silver  dew 

Their  fleecy  flowres  they  fearfully  did  steepe, 

\Vhich  drops  of  christall  seemd  for  wantones  to  weep. 

Infinit  streames  continually  did  well 

Out  of  this  fountaine,  sweete  and  faire  to  see, 

The  which  into  an  ample  iaver  feil, 

And  shortly  grew  to  so  great  quantitie, 

That  like  a  little  lake  it  seemd  to  bee ; 

Whose  depth  exceeded  not  three  cubits  hight, 

That  through  the  waves  one  might  the  bottom  see, 


57 


5S  Spenser  und  seine  Fiiiry  Queen, 

All  paved  beneath  with  jaspar  shining  bright, 

That  seemd  the  fountaine  in  that  sea  did  sayle  upright. 

And  all  the  margent  round  about  was  sett 
With  sliady  laurell  trees,  thence  to  defond 
The  sunny  beames  which  on  the  billowes  bett, 
And  those  which  therein  bathed  niote  offend. 


Als  Probe  pomphafter  Schilderung  diene  die  folgende  Stanze 
aus  dem  Drachenkampfe,  I.  Buch,  11.  Gesang: 

He  cryde,  as  ragiqg  seas  are  wont  to  rore, 

"NVhen  wintry  storme  his  wrathful  wrcck  does  threat; 

The  roUing  billowes  beate  the  ragged  shore, 

As  tliey  the  earth  would  Shoulder  from  her  seat; 

Aud  greedy  gulfe  does  gape,  as  he  would  cat 

His  neighbour  dement  in  his  revenge : 

Then  gin  the  blustring  brethren  boldly  threat 

To  move  the  world  from  oiF  his  stedfast  henge, 

And  boistrous  battaile  make  each  other  to  avenge. 

Fast  alle  Beschreibungen  von  Kämpfen  sind  so  rasch,  so  pla- 
stisch-geräuschvoll, dass  man  den  Schall  der  Waffen,  den 
Kampfschrei  zu  hören  glaubt.  Wie  Spenser  die  blosse  Schnel- 
ligkeit malt,  zeigt  die  folgende  Strophe  aus  dem  11.  Gesang 
des  m.  Buches: 

Far  as  the  winged  wind  his  tigre  fled, 

That  vew  of  eye  could  scarce  him  overtake,  _ 

Ne  scarce  his  feet  on  ground  were  seen  to  tred;  ■ 

Through  hils  and  dales  he  speedy  way  did  make, 

Ne  hedge  ne  ditch  his  readie  jjassage  brake ; 

And  in  his  fiight  the  villeine  turn'd  his  face, 

(As  wonts  the  Tartar  by  the  Caspian  lake, 

Whenas  the  Russian  him  in  fight  does  chace,) 

Unto  his  tygres  taile,  and  shot  at  him  apace. 

Schliesslich  noch  zwei  Belege  für  die  Spenser  zuweilen  zur 
Last  fallende  Ueberladuno; ,  die  lanorweili";  und  so^-ar  widerlich 
werden  kann;  beide  sind  aus  dem  1.  Gesänge  des  I.  Buches. 
Der  Rothkreuzritter  und  Una  ziehen  in  einen  W^ald,  der  fol- 
geadermassen  beschrieben  wird: 


S  p  e  n  s  e  r  u  n  (1  s  e  i  n  e  F  a  i  r  y  Q  u  e  e  n.  59 


Much  can  they  pralse  the  trees  so  straight  and  hy, 
The  sayling  pinc;  the  ccdar  proud  and  tall; 
The  vine-propp  ehne;  the  pojihir  nevcr  dry; 
The  builder  sake,  sole  king  of  forrests  all; 
The  aspine  good  for  staves;  the  cypresse  funerall; 

The  laurell,  meed  of  niightie  conquerours 

And  poets  sage;  the  firre  that  weepeth  still; 

The  willow,  worne  of  for  lorne  paraniours; 

The  eugh,  obedient  to  the  benders  will; 

The  birch  for  shaftes;  the  sallow  for  the  mill; 

The  mirrhe  sweete-bleeding  in  the  bitter  wound; 

The  warlike  beech;  the  ash  for  nothing  ill; 

The  fruitful  olive;  and  the  platane  round; 

The  carver  holme;  the  maple,  seldom  inward  sound. 

Der  Kothkreuzritter  fasst  in  seinem  Kampfe  mit  dem  Un- 
geheuer (dem  Irrthum)  dasselbe  dermassen  an  der  Gurgel,  dass 
es  den  Inhalt  seiner  Eingeweide  von  sich  speit.  Derselbe  wird 
so  dargestellt: 

Therewith  she  spewd  out  of  her  filthie  maw 

A  flood  of  poison  horrible  and  blacke, 

Füll  of-great  lumps  of  flesh  and  gobbets  raw, 

Which  Stunk  so  vildly,  that  it  forst  him  slacke 

His  grasping  hold,  and  from  her  turne  him  backe: 

Her  vomit  füll  of  bookes  and  papers  was, 

"With  loathly  frog  and  toades,  which  eyes  dit  lacke, 

And  creeping  sought  way  in  the  weedy  gras: 

Her  filthie  parbreake  all  the  place  defiled  has. 

Gegen  das  fünfte  und  sechste  Buch  hin  lässt  sich  allerdings 
eine  Abnahme  der  poetischen  Intensität  (so  zu  sagen)  kaum 
verkennen ,  und  man  hat  sogar  gesagt ,  dass  es  am  Ende  kein 
so  grosser  Verlust  für  den  Ruhm  Spenser's  w^äre,  die  Fairy 
Queen  nicht  haben  zum  Schlüsse  führen  zu  können ;  allein  es 
mag  bei  jener  Abnahme  auch  die  eigene  Abspannung  des  Le- 
sers ihren  Antheil  an  der  P^rscheinunfj  haben.  Es  geht  ihm 
zweifelsohne  hier  eben  so,  wie  dem  Beschauer  von  Bilderga- 
lerien, welcher,  nachdem  er  die  Augen  erst  gesättigt,  mit  Kälte 
und  sogar  Ueberdruss  an  Triumphstücken  der  Kunst  vorüber- 
eilen kann. 


GO  Spenser  und  seine  Fair}'  Queen. 

Wie  es  immer  mit  der  dichterischen  Fülle  stehen  möge, 
ob  sie  gegen  die  letzten  Bücher  hin  abnehme  oder  nicht,  die 
Hülle  ist  dieselbe,  die  Sprache  und  Form  bleiben  dieselben 
reichen,  schönen  und  edlen.  Auch  der  Ton  bleibt  stets  würdig 
und  getragen  wie  der,Tasso's,  und  steigt  nie  zur  breiten  Ge- 
schwätzigkeit oder  sogar  Komik  herunter,  wie  der  Wieland's 
im  Oberon.  Um  sich  den  eigenthümlich  malerischen  Reiz  der 
Spenser'schen  Sprache  zur  lebendigen  Anschauung  zu  bringen, 
braucht  man  nur,  was  fi-eihch  nicht  allzu  leicht  ist,  an  beUe- 
biger  Stelle  eine  Uebertragung  in  gewöhnliche  englische  Prosa 
vorzunehmen.  Man  findet  dann  durch  Subtraction,  wieviel  die 
blosse  Form  von  der  Summe  der  Schönheit  beansprucht.  Man 
behält  die  Gestalten  ohne  Colorit,  den  Carton,  den  man  nun 
zur  Vergleichung  den  farbenglühenden  Frescobildern  gegenüber- 
stellen kann.  Man  zerleo;t  den  Mosaik  und  beo-reift  erst  nun 
die  sinnvolle  Geschicklichkeit  des  Meisters,  der  aus  feinen  und 
unfeinen  Stückchen  eine  malerisch  nüancirte  Fläche  zusammen- 
zusetzen wusste.  —  Spenser's  eigene  Strophe  ist  ein  glänzendes 
Zeugniss  für  seine  Versbaukunst.  Sie  vereinigt  Rundung  und 
Grazie  mit  Kraft  und  Pomp.  Die  Rundung  liegt  im  fünf- 
füssigen  lambus,  die  Grazie  im  halben  Reimwechsel  der  zweiten 
Hälfte,  die  Kraft  im  männlichen  Reim,  der  Pomp  im  Schluss- 
alexandriner. Man  hält  mit  Unrecht  die  Spenser'sche  Strophe 
für  eine  blosse,  leichte  Modification  der  ottave  rime  der  Italiener. 
Ein  Vergleich  zeigt  sofort  die  bedeutende  Verschiedenheit. 
Die  ottave  rime  haben  bloss  weibliche  Reime;  dieselben  kehren 
in  drei  Wechselpaaren  wieder  und  machen  erst  in  den  beiden 
Schlussversen  einem  ganz  neuen  Parallelpaare  Platz ;  der  krö- 
nende Alexandriner  fehlt. 

Wir  möchten  diese  flüchtige  Darstellung  gern  mit  einem 
Vorschlage  und  Wunsche  schliessen.  Der  Vorschlag  Aväre, 
die  beiden  'ersten  Bücher  der  Fairy  Queen  zu  einem  Gegen- 
stande der  Leetüre  und  des  Studiums  in  der  obersten  Classe 
einer  vollständigen  Realschule  zu  machen;  der  Wunsch,  dass 
sich  Jemand  finden  möge,  der  diese  beiden  Bücher  zu  einem 
solchen  Zwecke  bearbeite.  Man  sage  ja  nicht,  dass  der  Stoff 
der  Gegenwart  zu  fern  liege.  Er  liegt  der  Jugend  stets  nahe 
und  in  der  That  jedem   Alter,    das  jugendfrisch   geblieben   und 


Si)Gns er  und  seine  Fairy  Queen.  Cl 

niclit  verkümmert  ist.  Dass  grade  lieute,  im  materiellen  und 
(wie  man  meint)  prosaischen  England,  Spcnscr's  Dichtung  mit 
zeitgenössischen  Dichterwerken  in  Auflagen  wetteifert,  spricht 
am  entschiedensten  gegen  die  angebliche  Entfremdung  der 
Jetztzeit  von  romantischer  Poesie.  Man  fürchte  auch  nicht, 
der  Jugend  ein  Buch  in  die  Hände  zu  geben,  das  in  England, 
dem  Lande  der  ängstlichsten  Aloralität ,  der  strengbewachten 
Jungfrau  unbedenklich  anvertraut  wird  und  Avcrden  kann.  Bei 
unserm  Vorschlage  leitete  uns  aber  namentlich  die  Idee ,  dass 
ein  etymologischer  Cursus  der  englischen  Sprache  einen  wür- 
digen und  nothwendigen  Schluss  des  ausgedehnteren  Studiums 
derselben  bilde,  und  dass  sich  zur  Basis  eines  solchen  Cursus 
die  Fairj  Queen  besonders  eigne.  Sie  würde,  in  einer  zweck- 
mässig bearbeiteten  Schulausgabe,  herrlich  dazu  dienen,  einmal 
die  enge  Verwandtschaft  des  Englischen  mit  dem  Deutschen 
nachzuweisen,  durch  Vergleichung  beider  (da  die  Spenser'sche 
Sprache  noch  eine  Masse  echt-angelsächsischer  AVörter  enthält, 
die  seitdem  verschwunden);  zum  andern,  die  französische  Bei- 
mischung in  einem  Stadium  zu  zeigen ,  W'O  sie  noch  nicht  so 
sehr  den  Blicken  sich  entzog  als  jetzt;  schliesslich  drittens,  die 
Entwickelung  der  englischen  Sprache  als  solcher  zu  veran- 
schaulichen ,  durch  Vergleichung  der  Spenser'schen  Formen 
mit  denen  von  heutzutage.  Bei  Spenser,  der,  seine  Sprache 
seinem  gothischen  Vorwurfe  anpassend,  noch  eine  Unzahl  von 
Wendungen  und  Wörtern  gebraucht,  die  schon  zu  seiner  Zeit 
veraltet  Avaren  und  bei  dem  gleichzeitigen  Shakspeare  z.  B. 
nicht  zu  finden  sind,  thun  wir  einen  Blick  in  die  Entwicke- 
lungszeit  zwischen  ihm  und  Chaucer,  also  in  ein  ganzes  ihm 
vorangehendes  Jahrhundert.  Bei  Spenser  haben  wir  noch  die 
vollständigsten  Schwankungen  in  der  Orthographie ,  die  Oscil- 
lationen,  so  zu  sagen,  um  den  Kern  und  Ruhepunkt,  den  die 
heutige  Orthographie  darstellt. 

Eine  Bearbeitung  der  Fairy  Queen  zu  unserm  Zwecke 
würde  namentlich  darin  bestehen,  ihr  stellenweise  den  moder- 
nen Text  zu  unterlegen,  um  das  Alte  dadurch  in  Relief  zu 
setzen,  dann  aber,  ihr  ein  erschöpfendes  Wörterbuch  beizu- 
geben, das,  ausser  Sinneiklärung,  das  Nacheinander  imd  Ne- 
beneinander der  I^ntwickeluncrsformcn  kurz  andeute. 


62  Spensei-  und  seine  Fairy  Queen. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  bei  der  vorgeschhigenen 
Benutzung  der  Fairy  Queen  wir  nur  an  solche  Schüler  denken, 
bei  denen  die  gegenwärtigen  englischen  Formen  sich  gehörig 
festgesetzt  haben. 

Görlitz. 

H.   Schmick. 


Das   Urteil   des  Herrn  von  Schack  über  Moliere's 
femmes   savantes. 


Es  wird  wohl  Wenigen  von  denen,  die  sich  etwas  näher 
mit  der  Literatur  und  der  Literaturgeschichte  der  neuern  Völker 
Europas  beschäftigt  haben,  unbekannt  geblieben  sein,  dass  die 
überaus  reiche  dramatische  Literatur  der  Spanier  vielfach  von 
andern  Nationen  benutzt  worden  ist,  besonders  von  den  Italienern 
und  Franzosen.  Das  erste  der  dramatischen  Meisterwerke  Cor- 
neille's  war  die  Bearbeitung  eines  spanischen  Originals.  Vor 
ihm  hatte  ßotrou,  nach  ihm  haben  noch  manche  Andi'e  sich 
nach  spanischen  Mustern  umgesehen.  Wenn  sie  sich  meist  auch 
in  der  Bearbeitung  des  Ganzen  von  den  Spaniern  unterschieden, 
wie  es  ja  schon  die  Verschiedenheit  in  den  dramatischen  Sy- 
stemen der  zAvei  Völker  mit  sich  bringen  musste,  für  den  Stoff 
und  manche  Einzelnheiten,  waren  sie  ihnen  verpflichtet. 

Nicht  weniger  war  dies  mit  dem  französischen  Lustspiel 
der  Fall.  Schon  manche  Titel  der  Komödien  des  P.  Corneille 
weisen  auf  spanische  Originale  hin.  Es  war  daher  ganz  natür- 
lich, dass  man  diese  Sache  etwas  mehr  zu  beleuchten  suchte; 
und  Nachforschungen  über  das  Verhältniss  französischer  Ko- 
mödien zu  spanischen  Originalien  konnten  dem  Freund  der 
AVahrheit  nur  angenehm  sein,  mochten  sie  die  französischen 
Arbeiten  nun  in  einem  <xuten  oder  schlechten  Lichte  erscheinen 
lassen.  Solche  in  treuem  Sinn  unternommene  Vergleich ungen 
in  Beziehung  auf  Moliere  haben  wir  z.  B.  in  den  Werken  eini- 
ger Italiener  und  des  Franzosen  Puibusque  vor  uns.  Je  nütz- 
licher solche  Forschungen  in  diesem  Falle  sein  müssen,  tun  so 
verderblicher  werden  sie  jedoch,  wenn  sie,  nur  vom  Partei- 
standpunkt aus  angestellt,  dazu  dienen  sollen,  den  einen  Dichter 


64  Das  Urteil  dos  Herrn  von   Schack 

auf  Kosten  des  andern  zu  erheben.  Dann  wird  die  wahre  Sach- 
lage nur  dadurch  verhüllt;  und  Avenn  nun  gar  das  auf  Kosten 
des  französischen  Dichters  herausgestrichene  Original  oder  viel- 
mehr seinsollende  Original  dem  Publicum  in  keiner  Uebersetzun«; 
zugänglich  ist^  und  selbst  Manche,  die  wohl  fähig  wären,  es  in 
der  Ursprache  zu  lesen,  es  unterlassen,  selbst  einen  Vergleich 
anzustellen,  so  kann  ein  Kritiker,  der  sich  eine  solche  Unge- 
rechtigkeit hat  zu  Schulden  kommen  lassen,  sicher  erwarten, 
dass  sein  Verfahren  eine  Zeit  lano-  uno;eahndet  bleiben  wird  und 
dass  sein  Urteil  manchen  Wiederhall  hervorruft,  besonders  wenn 
ihn  weder  die  dem  Menschen  inwohnende  Scheu  vor  der  Wahr- 
heit, noch  die  jedem  Gebildeten  eigene  Ehrfurcht  vor  dem 
Grossen  im  Reiche  des  Geistes  zurückhällt  von  dem  Versuche, 
die  Wahrheit  zu  entstellen  und  den  Mangel  an  Wahrhaftiokeit 
durch  äusserliche  Sicherheit,  durch  apodiktisches  Aburteilen  und 
durch  die  rücksichtslose  Besudelung  eines  grossen  Mannes  zu 
ersetzen.  Da  man  nicht  gerne  einem  ordentlichen  Menschen  so 
Etwas  zutrauen,  und  einem  Kritiker,  den  man  nicht  von  der 
entgegengesetzten  Seite  kennt,  jenes  Prädikat  nicht  von  vorn 
herein  streitig  machen  Avird,  so  muss  man  solchen  dreist  aus- 
gesprochenen Behauptungen  wohl  Glauben  schenken. 

In  Deutschland  hat,  so  viel  ich  weiss,  zuerst  A.  W.  von 
Schlegel  diese  Behandlung  dem  Moliere  widerfahren  lassen,  oder 
vielmehr  Neigung  zu  einem  solchen  Verfahren  gezeigt,  denn  er 
kannte  die  spanische  Literatur  zu  wenig,  um  solche  Verglei- 
chungen  anzustellen.  Er,  der  den  Shakspeare  wegen  seiner 
Entlehnungen  pries,  suchte  Moliere  zu  verdächtigen  durch  die 
blosse  Vermutung,  dass  er  die  Spanier  bestohlen  hätte,  und  der 
Ausspruch  Moliere's :  Je  prends  mon  bien  partout  oü  je  le 
trouve,  den  man  übermässig  bewundert  haben  würde,  wenn  er 
von  Shakspeare  oder  Calderon  herrührte,  er  musste  gar  bewei- 
sen, dass  jener  grosse  Dichter  ein  eigentlicher  Dieb  gewesen; 
hatte  er  doch  nach  desselben  Kritikers  Ansicht  seine  diebische 
Gesinnuns:  dadurch  an  den  Tas;  «'eleo-t,  dass  er  sog-ar  einen 
fremden  Namen  angenommen,  eine  bei  Schauspielern  damals 
ganz  gewöhnliche  Sitte.  Dieselbe  Bahn  verfolgt  der  Herr  von 
Eichendorff,  der  in  seiner  Geschichte  des  Dramas  bemerkt,  Mo- 
liere habe  es  verstanden,  gestohlene  Sachen  schlecht  zuzurichten. 


üb  er  Moliere's   femmes   savantes.  65 

Solche  Ausdrücke  einem  Manne  wie  Moli6re  gegenüber,  scheinen 
doch  einer  Begründung  zu  bedürfen.  A\';u-cn  die  Herren  Schlegel 
und  von  EichendorfF  im  Stande ,  sie  zu  rechtfertigen ,  so  waren 
sie  verpllichtet,  dem  Publicum  auch  den  ]5eweis  nicht  vorzuent- 
halten, waren  sie  dazu  nicht  fällig,  und  dies  ist  wohl  das 
AVahrschcinlichste ,  so  zeugt  jene  Kritik  von  einer  Gesinnung, 
die  ich  nicht  näher  charakterisiren  will,  da  einem  Jeden  die  be- 
zeichnenden Ausdrücke  wohl  von  selbst  beifallen  werden.  Sollte 
jedoch  Jemand  in  den  gehörigen  Ausdrücken  nicht  genug  be- 
wandert sein,  so  mag  er  in  der  Geschichte  des  spanischen 
Dramas  des  Herrn  von  Schack  nachsuchen.  Wo  dieses  Buch 
auf  die  Franzosen  zu  sprechen  kommt,  leistet  es  in  der  Hinsicht 
denselben  Dienst,  wie  die  Geheimnisse  von  Paris  für  die  Diebes- 
sprache. 

Dieser  Herr  von  Schack  hat  dem  äussern  Umfange  nach 
jedenfalls  das  Bedeutendste  über  den  uns  vorliegenden  Punkt 
zu  Tage  gefördert.  Seine  Hauptforce  besteht,  wie  man  gleich 
beim  ersten  Blick  erkennt,  im  apodiktischen  Urtheilen  und  in  der 
Kraft  des  Ausdrucks.  Dazu  hat  er  den  Vorzug  vor  seinen 
Vorgängern,  dass  er  sich  nicht  an  Allgeraeinheiten  hält,  sondern 
die  Werke  nennt,  an  denen  Mohere  seine  Plagiate  verübt  haben 
soll.  Da  sich  also  dieser  Kritiker  bei  seiner  wirklich  grandiosen 
Geringschätzung  französischer  Schauspieldichtcr  und  Moliere's 
insbesondere,  auf  wirkliche  Thatsachen  beruft,  so  ist  es  wohl 
der  ]\[ühe  werth,  an  einem  der  von  ihm  genannten  Beispiele  die 
Wahrheit  seiner  Behauptungen  zu  prüfen.  Hierzu  haben  Avir 
das  Lustspiel  Calderon's  ausersehen:  No  haj  burlas  con  el 
amor,  ..Man  darf  nicht  mit  der  Liebe  scherzen,"  das  Molierc 
in  seinen  femmes  sayantes  nachgeahmt  haben  soll.  Schon  der 
Franzose  Viardot  hatte  bemerkt,  die  erste  Idee  zu  seinem  Stücke 
scheine  Moliere  durch  jenes  Schauspiel  gekommen  zu  sein.  Ob 
der  Herr  von  Schack  zuerst  durch  diesen  Ausspruch  zu  seiner 
Ansicht  gekommen,  können  wir  nicht  beurteilen,  es  kommt  auch 
wenig  darauf  an,  denn  das,  was  in  der  Art,  wie  es  Viardot 
ausgesprochen,  eine  gute  Bemerkung  genannt  werden  kann, 
deren  Kichtigkeit  aber  auch  mit  allem  Kecht  bezweifelt  werden 
darf,  das  wird  unter  den  Händen  des  Herrn  von  Schack  zu 
etwas  ganz  Werthloscm  und  Verkehitcm,  well  er  einerseits  jene 

Arcliiv  f.  n.  Sprachen.  XXIII.  5 


66  Das  Urteil  des  Herrn  von  Schack 

Vermutung  als  eine  Gewissheit  ausspricht,  und  andrerseits, 
vorausgesetzt,  dass  es  mit  jener  Bemerkung  auch  seine  Richtig- 
keit hätte,  sein  Mangel  an  allem  Gefühl  für  komische  Poesie 
oder  seine  Vorliebe  für  sein  Fachstudium  ihn  so  weit  getrieben, 
das  Werk  Calderon's  in  den  Himmel  zu  erheben  und  die  fem- 
mes  savantes  als  ein  wahres  Machwerk  zu  brandmai'ken.  Ist  er 
also  selbst  auf  die  Idee  gekommen,  so  kann  man  ihm  diesen 
Ruhm  gern  gönnen,  hat  er  sie  aus  dem  Viardot,  so  müsste  man 
ihm  dieselbe  Fähigkeit  zusprechen,  die  er  und  der  Herr  von 
EichendorfF  dem  Moliere  zuerkannt  haben,  gestohlene  Sachen 
schlecht  zuzurichten. 

Da  wir  uns  vorgenommen  haben,  im  Gegensatze  zu  dem 
Herrn  von  Schack,  jede  unsrer  Aussagen  mit  Gründen  zu  be- 
legen, so  haben  wir,  bevor  Avir  an  die  Betrachtung  der  genannten 
Stücke  herangehen,  zu  zeigen,  dass  der  besagte 'Kritiker  nicht 
bloss  von  einer  Aehnlichkeit  der  fenunes  savantes  mit  dem  No 
hay  burlas  con  el  amor  spricht,  sondern  in  Wahrheit  behauptet, 
Moliere  habe  den  Calderon  hier  bestohlen;  ob  etwas  Wahres  an 
der  Sache  sei,  werden  wir  erst  untersuchen,  nachdem  wir  dem 
Leser  den  Inhalt  des  spanischen  Lustspiels  vorgelegt  haben. 

Im  lU.  Bd.  S.  448  sagt  er  nur,  neben  zwei  andern  spani- 
schen Stücken  habe  auch  das  genannte  von  Calderon  dem  Mo- 
liere als  Vorbild  gedient.  Dieser  Ausdi-uck  -  ist  ziemlich  gelinde, 
und  könnte  an  sich  eine  der  Ansicht  Viardot's  nahekommende 
Deutung  zulassen,  wenn  nicht  der  verächtliche  Ton,  in  dem  er 
auf  der  folgenden  Seite  von  allen  den  genannten  „französischen 
Copien"  redet,  auch  jede  mildere  Deutung  dieses  Ausdrucks 
unmöglich  machte.  An  einer  andern  Stelle  jedoch,  avo  er  die 
Chronologie  der  Calderon'schen  Dramen  näher  zu  bestimmen 
sucht,  S.  293  sagt  er,  es  lasse  sich  aus  äusseren  Umständen 
beweisen,  dass  obiges  Lustspiel  vor  1672  entstanden  sei,  in 
diesem  Jahre  seien  nämlich  die  femmes  savantes  auf  die  Bühne 
gekommen.  Wenn  die  Aehnlichkeit  dieser  Stücke  ihn  ermäch- 
tigt, Folgerungen  über  die  Zeit  der  Entstehung  des  einen  daraus 
zu  schliessen,  so  muss  nach  seiner  Ansicht  wohl  nicht  von  einer 
allgemeinen  Aehnlichkeit,  sondern  von  offenbarer  Nachahmung 
die  Rede  sein.  Wir  thun  dem  Herrn  daher  gar  nicht  unrecht, 
wenn  wir  annehmen,  er  habe  dem  Moliere  directe  Nachahmung 


üb  Gl"  Molicre's  femmes  s.'ivantes.  07 

vorgeworfen.      Ein   Urteil   hierüber   möglicli   zu   maciieii,    diene 
folgende  Inhaltsangabe  des  Calderon'schen  Stücks. 

Act  I. 


Alonzo  tadelt  seinen  Diener  Moscatel,  dass  er  nie  zur  rech- 
ten Zeit  erscheine,  aber  wohl,  wenn  man  ihn  nicht  gerufen,  und 
wundert  sich,  ihn  seufzen  zu  sehen.  Dieser  meint,  letztei-es  sei 
ihm  wohl  erlaubt,  da  er  eine  Seele  habe.  Alonzo  behauptet 
dagegen,  seinesgleichen  hätten  keine  Seele,  um  zu  seufzen,  son- 
dern nur  imi  auf  grobe  Manier  ihren  Schmerz  auszusprechen. 
Seufzen  sei  aber  eine  Handlung,  einer  edlen  Leidenschaft  wür- 
dig. Da  kommt  nun  endlich  der  Diener  damit  heraus,  dass 
grade  eine  solche,  die  Liebe  nämlich,  über  ihn  gekommen  sei. 
Alonzo,  der  von  einem  wahren  Geist  des  Widerspruchs  beseelt 
zu  sein  scheint,  zweifelt,  wie  früher  an  des  Dieners  seufzender 
Stele,  so  jetzt  an  dessen  Liebe.  Dieser  wirft  dem  Herrn  vor, 
dass  er  mit  der  Liebe  überhaupt  seinen  Spott  treibe.  Alonzo 
will  jedoch  den  Diener,  der  es  wagt,  verliebt  zu  sein,  verab- 
schieden, obgleich  dieser  sich  weiterhin  sehr  geistreich  mit  dem 
Schicksal  entschuldigt.  Dieses  habe  sich  vergriffen,  da  doch 
gewöhnlich  auf  dem  Theater  der  Herr  und  nicht  der  Diener 
verhebt  sei.  Der  Neuheit  halber  solle  er  ihn  doch  behalten, 
damit  die  Welt  doch  einmal  einen  verliebten  Diener  und  einen 
nicht  verliebten  Herrn  sehe.  Dieses  geistreiche  Gespräch  wird 
durch  Juan,  einen  Freund  Alonzo's,  unterbrochen. 

2. 

Er  fragt,  was  es  gäbe.  Alonzo  erzählt  ihm,  der  Diener 
habe  die  schändlichste,  niedrigste  und  e;emeinste  That  beo;ane:en, 
die  man  sich  denken  könne,  und  bemerkt  noch  dazu,  mit  Hecht 
gebe  er  ihm  diese  verächtHchen  Bezeichnungen,  denn  Nichts  sei 
gemeiner  für  den  Menschen,  als  sich  zu  verlieben.  Juan  meint 
freiUch ,  die  Liebe  mache  muthig  etc. ,  doch  Alonzo  fährt  von 
Neuem  so  dagegen  los,  dass  dieser,  der  ihn  eigentlich  in  Liebes- 
sachen um  Rath  fragen  wollte,  gar  nicht  mehr  damit  heraus 
darf,    denn   den   Freund   werde  Alonzo   doch   noch  mehr  tadeln 


C8  Das  Urteil   des  Herrn  von  Schack 

als  den  Diener.  Nach  Alonzo's  Ansicht  ist's  aber  umgekehrt, 
ein  Eitter  dürfe  sich  wohl  verlieben,  nur  nicht  der  Pöbel.  Nun 
erzählt  ihm  D.  Juan,  was  er  ja  schon  wisse,  dass  er  nämlich 
in  Leonor  Enriquez,  Tochter  des  Pedro  Enriquez,  verliebt  sei. 
Er  dürfe  nicht  um  deren  Hand  anhalten,  weil  der  Vater,  da  er 
die  ältere  Tochter  Beatrix  doch  erst  verheirathen  wolle,  ihm 
dann  sein  Haus  ganz  verbieten  möchte.  Die  Beatrix  sei  sehr 
schön  und  klug,  aber  eitel  auf  Beides,  treibe  Latein  und  mache 
castiHanische  Verse,  nehme  alle  neuen  Moden  an  und  spreche 
so,  dass  man  sie  nicht  ohne  Commentar  verstehen  könne.  Seit 
einiger  Zeit  sei  sie  immer  um  die  Leonor;  so  habe  sie  ihn  mit 
dieser  im  Gespräch  überrascht  und  gedroht,  es  dem  Vater  zu 
sagen.  Ob  sie  ihn  erkannt,  weiss  er  nicht.  Er  wagt  nicht, 
hinzusehen,  fürchtet  aber  auch  Gefahr  für  Leonor,  wenn  er  sie 
nicht  unterstützen  könne.  Er  will  deshalb  durch  Moscatel  der 
Dienerin  Leonor's ,  Ines ,  einen  Brief  bringen  lassen ;  natürhch 
ist  grade  diese  Moscatel's  Geliebte.     D.  Alonzo  willigt  ein. 

3. 

Sie  sehen  zwei  Edelleute,  D.  Luis  und  Diego,  herankom- 
men, die  nach  Leonor's  Hause  sehen.  Juan  ist  dem  Luis  schon 
oft  daselbst  begegnet  und  spricht  seinen  Aerger  darüber  aus. 
Juan  und  Alonzo  gehen  ab  und  Moscatel  geht  zur  Ines. 

4. 

D.  Luis  spricht  in  hyperbolischen  Ausdrücken  von  seiner 
Gehebten  Beatrix.     Sie  gehen. 

5. 

Leonor  erklärt  der  Ines  ihre  Furcht,  Beatrix  möchte  dem 
Vater  vom  Gespräch  mit  D.  Juan  erzählen,  beschliesst  jedoch. 
Nichts  zu  gestehen. 

6. 

Beatrix  tritt  auf,  sich  im  Spiegel  betrachtend,  und  fordert, 
dass  ihre  Handschuhe  von  ihr  genommen  werden.  Ines  soll 
den  Ovid  holen,  nicht  die  Metamorphosen,  nicht  Ars  amandi, 
sondern  remedium  amoris;    sie  kann  aber  nicht  lesen,    worüber 


über  Möllere' s   femnies  savantes.  69 

sich  Beatrix  ■wundert,  da  Ines  doch  ihren  Unisransr  creniessc. 
Wie  Leonor  von  ihrer  näclitlichen  Unterredung  anfängt,  wird 
Beatrix  zornig,  sie  sei  eine  Viper  etc.  Den  Mann  hat  sie  nicht 
erkannt,  Avill  auch  den  Namen  gar  nicht  von  Leonor  erfahren, 
imd  flieht,  wie  diese  ihn  nennen  wilL 


Moscatel  bringt  der  Ines  den  Brief  und   spricht  von  seiner 
Liebe.     Sie  flieht,  da  sie  Pedro  kommen  sieht. 


Pedro  fragt  Moscatel,  was  er  sei,  und  Moscatel  erwidert, 
er  sei  ein  geachteter  oder  achtungswürdiger  Diener,  wenn  es 
deren  jetzt  gebe.  Durch  seine  dummen  Witze  erregt  er  ver- 
dientermassen  den  Zorn  des  Pedro.  Zuletzt  sagt  er  doch,  er 
sei  Alonzo's  Diener. 

9. 

Alonzo  und  Juan  sehen  den  Zwist  und  dieser  nähert  sich. 
Moscatel  findet  zuletzt  eine  Entschuldigung  für  seine  Anwesen- 
heit im  Hause,  und  Pedro  stellt  sich  zufrieden,  da  er  vor  D. 
Juan  keinen  Verdacht  zeigen  will. 

10. 

Ines  vertraut  der  Leonor  ihre  Sorgen  wegen  Moscatel,  und 
erzählt,  was  wir  gesehen,  sie  gibt  ihr  den  Brief.    Da  kommt 

11. 

Beatrix,  die  den  Brief  sehen  will.     Sie  reissen  sich  darum  und 
zerreissen  ihn  in  zwei  Hälften. 

12. 

Pedro  überrascht  sie  dabei  und  nimmt  die  Stücke:  Beatrix 
sagt,  das  Papier  werde  seiner  Ehre  wehe  thun,  und  Leonor 
meint,  wenn  sie  das  wisse,  so  müsse  es  wohl  ihr  Papier  sein, 
denn  sie  selbst  kenne  nicht  den  Inhalt;  sie  erzählt  nun,  dass 
sie  das  Papier  in  Beatrix  Händen  gesehen  und  es  habe  nehmen 
wollen.  Diese  weiss  sich  nicht  zu  vertheidigen.  Er  lässt  Alle 
abgehen  ausser  Ines. 


70  Das  Urteil  des  Herrn  von  Schack 

13. 

Letztere  sagt,  sie  sei  erst  gekommen,  als  der  Streit  schon 
ausgebrochen,  wisse  also  Nichts  davon. 

14. 

Der  Brief  gibt  ihm  auch  keine  Auskunft.  Doch  hat  er 
Verdacht  auf  Alonzo,  und  beschliesst,  ihn  zu  beobachten. 

Act   II. 
1. 

Gespräch  ohne  Bedeutung  zwischen  Juan,  Alonzo  imd 
Moscatel. 

2. 

Ines  bringt  dem  Don  Juan  eine  Antwort.  Moscatel  stellt 
sich  so,  dass  Alonzo  die  Ines  nicht  sehe.  Wie  der  sie  doch 
bemerkt,  meint  Moscatel,  er  gebe  keinen  Dreier  mehr  für  seine 
Ehre.  Alonzo  findet,  dass  Moscatel's  Liebe  zu  entschuldigen 
sei,  da  seine  Geliebte  für  eine  Magd  ganz  hübsch  sei.  Mos- 
catel gibt  in  einigen  Apartes  seine  Eifersucht  zu  erkennen. 
Juan,  der  aus  dem  Brief  ersehen,  dass  er  ohne  Gefahr  hinein- 
gehen dürfe,  verschwindet. 

3. 

Wie  Alonzo  mit  der  Ines  bekannt  zu  werden  sucht,  kommen 


Don  Luis  und  Diego  wieder.  Luis  hat  natürlich  Verdacht,  dass 
Alonzo  die  Beatrix  liebe,  weil  er  oft  in  der  Gegend  sei  und 
mit  der  Magd  Ines  spreche,  doch  beschliesst  er,  nicht  zu  fech- 
ten, weil  er  ein  unglücklicher  Liebhaber  sei.  Nachdem  er  noch 
mit  Diego  gestritten,  ob  die  Eifersucht  edel  sei,  Wahrheit  rede, 
gehen  Beide  ab. 

5. 

Alonzo  geht  auch.  Moscatel  soll  die  Ines  begleiten.  Im 
Auftrage  seines  Herrn  sagt  er  ihr,  indem  er  deuthch  seine  Eifer- 
sucht zu  erkennen  gibt,  wenn  sie  des  Morgens  zu  seinem  Herrn 


über  Moliere's   ferames   savantes.  71 

gehe,  werde  sie  ein  Frühstück,  des  Abends  ein  Vesperbrot  be- 
kommen. Erzürnt  sagt  Ines,  sie  lasse  sich  nicht  bezahlen,  und 
Moscatel  befiehlt  ganz  betrübt  seinen  Augen,  zu  weinen. 

G. 

Juan  erfälu-t   von  Lconor,    wie  es   ihr   mit   dem  Brief  er- 
gangen, und  dass  der  Vater  Nichts  wisse. 


Beatrix  reflectirt  darüber,    dass   sie   der  Lüge  Leonor's  ihr 
Unslück  verdanke,  den  Flecken  an  ihrer  Ehre. 


Leonor  kommt  zu  ihr,    und   imter  vier  Augen  bekennt  sie, 
dass  der  Brief  für  sie  war. 


Don  Pedro  hat  sie  grade  belauscht,  wie  sie  sagt:  ich  liebe  etc. 
Sie  sieht  ihn  aber  kommen  und  thut,  als  tadle  sie  die  Beatrix. 
Wie?  sagt  sie,  „ich  liebe"  wagst  Du  mir  in's  Angesicht  zu 
sagen?  Das  rauss  der  Vater  wissen  etc.  Sie  thut  ganz  erzürnt 
und  macht  sich  fort. 

10. 

Die  arme  Beatrix,  ganz  erstaunt,  fragt,  w^er  Avohl  je  so 
Etwas  gesehen?  Auf  diese  nur  rhetorisch  gemeinte  Frage  er- 
scheint der  Vater  mit  der  Antwort:  Er  habe  Alles  gehört. 
Ihre  vermeintlichen  Irrungen  schreibt  er  ihrer  Beschäftigimg  mit 
den  "Wissenschaften  zu.  Frauen  sollten  den  Männern  diese 
überlassen,  von  Latein  Nichts  wissen,  ein  Gebetbuch  wäre 
genug  füi"  sie;  sie  müsstcn  sich  bloss  mit  Arbeiten  abgeben. 
Beatrix  verspricht  gleich,  gehorsam  dies  zu  befolgen. 

11. 

Alonzo  erfährt  von  Moscatel,  dass  Ines  Nichts  mit  ihm  zu 
thun  haben  will.  Es  folgen  weitere  Verhandlungen  über  Liebes- 
anffelcerenheiten ,  die  hätten  wegbleiben  können,  mit  einzelnen 
Anreden  des  Moscatel  an  seine  Eifersucht  gemischt. 


72  Das  Urteil  des  Herrn  von  Schack 

12. 
Um  den  Verdacht  Pedro's  auf  Beatrix  zu  stärken,  wünscht 
Don  Juan ,  dass  Alonzo  sich  in  diese  verliebt  stelle.     Erst  em- 
pört, willigt  er  doch  ein,  da  Alles  nur  Spass  sei. 

13. 

Beatrix  beschreibt  der  Ines  ihren  Schmerz  über  den  unver- 
dienten Verdacht,  und  freut  sich  zuletzt,  in  so  einfacher  Sprache 
es  gethan  zu  haben.  Der  Vater  würde  sie  loben,  wenn  er  es 
gehört.  Da  Ines  immer  noch  einige  Ausdrücke  daran  zu  tadeln 
findet,  wünscht  Beatrix,  jedesmal,  wenn  sie  fehle,  von  ihr  am 
Kleid  gezupft  zu  werden. 

14. 

Alonzo  und  Moscatel  werden  von  Leonor  hereingeführt. 
Diese  geht  wieder  ab,  um  mit  Juan  zu  sprechen  und  "W^ache 
zu  halten.  Beatrix  ist  empört,  einen  Mann  in  ihr  Schlafzimmer 
treten  zu  sehen.  Da  sie  wieder  ein  italienisches  Wort  gebraucht, 
wird  sie  am  Kleid  gezupft.  Alonzo  erzählt  ihr,  das  durch  den 
Moscatel  gebrachte  Papier  sei  von  ihm  und  für  sie  bestimmt 
gewesen.  Sie  glaubt  AUes,  wünscht  aber,  er  möge  sich  ent- 
fernen. Da  sie  von  Neuem  wegen  eines  lateinischen  Ausdrucks 
gezupft  wird,  verlangt  sie,  Ines  soUe  es  sein  lassen,  sie  scheine 
sie  ganz  stumm  machen  zu  Avollen.  Sie  hören  Pedro,  Leonor 
und  Juan  kommen.    Alonzo  muss  sich  mit  Moscatel  verbergen. 

15. 

Pedro  fragt  Juan,  wann  er  nach  Hause  gehen  wolle.  Die- 
ser versteht  die  Bedeutung,  sagt:  früh,  und  geht,  obgleich  be- 
sorgt für  Alonzo. 

16. 

Pedro  geht  auf  sein  Zimmer  mit  Leonor  und  Beatrix.  Diese 
flüstert  Ines  zu ,  die  Männer  solle  sie  entfernen ,  damit  Leonor 
Nichts  davon  merke. 

17. 

Ines  lässt  Beide  hervorkommen,  und  sie  entfernen  sich, 
nachdem  Alonzo  sie  erst  umarmt  und  Moscatel  wueder  seine 
Eifersucht  ausgesprochen  hat. 


über  Moliere's  femnies   savantes.  73 

Act  IIl. 
1. 

Als  Beatrix  vernimmt ,  dass  Alonzo  beim  Fortgehen  von 
Jemand  angefallen  und  verwundet  Avordcn,  will  sie  ihm  durch 
Ines  eine  kleine  Erinnerung  zuschicken,  eine  Schärpe.  Sie 
geht,  dieselbe  zu  holen.  I^eonor  darf  es  aber  nicht  wissen  und 
Alonzo  soll  auch  nicht  erfahren,  dass  sie  ihm  die  Schärpe  zu- 
schickt. 

2. 

Leonor  erfährt  es  von  Ines,  und  Ines  geht,  die  Schärpe 
in  Empfang  zu  nehmen. 

3. 

Don  Juan  hat  gesehen ,  Avie  zwei  jMänner  den  Alonzo  an- 
griffen; da  Beatrix  keine  wirkliche  Liebschaft  hat,  weil  Leonor 
ihr  ja  eine  unterschieben  muss ,  so  glaubt  er ,  es  stecke  eine 
Untreue  der  Leonor  dahinter. 


Alonzo,  der  sich  urplötzlich  in  die  Beatrix  verliebt  hat, 
glaubt  natürhch  seinerseits,    dass  es  der  Beatrix  gegolten  habe. 

5. 

Ines  kommt  von  der  Beatrix  zurück  und  gibt  in  einem 
Aparte  den  Entschluss  zu  erkennen,  ein  Wenig  die  Eifersucht 
des  Moscatel  zu  erregen.  Zwischen  ihr  und  Alonzo  geht's 
gleich  an  ein  Umarmen.  Sie  -wünscht  sogar,  mit  Alonzo  allein 
zu  sein.  oVIoscatel  soll  die  Thür  bewachen ;  da  er  nicht  fort 
will,  wird  er  mit  Gewalt  weggeschafft. 

6. 

Nun,  meint  Alonzo,  solle  sie  ihn  erst  recht  umarmen.  Da 
sie  aber  jetzt  erklärt,  sie  sei  nicht  aus  eignem  Antrieb  zu  ihm 
gekommen,  ist  der  feurige  Liebliaber,  der  nebenbei  freihch  auch 
in  die  Beatrix  verliebt  ist,  gleich  wieder  beruhigt.  Er  ist  ganz 
erstaunt,  dass  Beatrix  ihm  eine  Schärpe  zuschicke. 


74  Das  Urteil   des  Herrn  von  Schack 

7. 

Moscatel  kommt  zurück,  weil  es  nicht  so  schrecklich  sei, 
sein  Unglück  selbst  zu  sehen,  als  es  sich  auszumalen,  und 
Alonzo  entfernt  sich  auf  einen  Augenblick,  um  ein  ßillet  an  die 
Beatrix  zu  schreiben.  Der  erzürnte  Moscatel  beruhigt  sich,  da 
Ines  sagt,  es  sei  Alles  nur  Scherz  gewesen. 


Sie  tritt  ab,  nachdem  Alonzo  ihr  den  Brief  überreicht,  und 
Moscatel  belustigt  sich  jetzt  über  seinen  verhebten  Herrn ,  er 
wolle  ihn  verlassen,  Aveil  er  nicht  auf  seinen  Diener  höre,  die 
niedrigste  und  gemeinste  That  begangen  etc. 

9. 

Damit  Alles  dem  Anfang  entspreche,  erscheint  auch  hier 
Don  Juan,  und  der  Diener  spricht  gegen  ihn  von  seinem  Herrn, 
wie  im  Anfang  der  Herr  vom  Diener.  Zwischen  den  Herren 
hat  sich  auch  das  Verhältniss  umgekehrt.  Juan  will  Nichts 
mehr  von  Leonor  hören,  sie  weder  sehen,  noch  sprechen,  er  sei 
A'on  seiner  Liebe  curirt.  Da  Alonzo  ihn  nun  nicht  bewegen 
kann,  mit  ihm  zu  Beatrix  und  Leonor  zu  gehen,  gesteht  er  ihm, 
er  müsse  zur  Beatrix,  und  jetzt  solle  Juan  nebst  Leonor  seinen 
Rücken  decken.     Da  willigt  denn  Juan  ein,  wie  früher  Alonzo. 

10. 

Don  Diego  und  Don  Luis  treten  Avieder  auf;  später  kommt 
Pedro  und  bietet  Don  Diego  die  Hand  seiner  Tochter  an.  Diego 
Aveist  es  jetzt  mit  einem  Scheingrund  von  sich. 

11. 

Beatrix  fragt  die  Ines,  wie  Alonzo  dazu  gekommen,  ihr 
einen  Zettel  an  sie  zu  übergeben.  Sie  fürchtet,  Ines  möchte 
dem  Alonzo  entdeckt  haben,  dass  sie  von  ihr  beauftragt  gewe- 
sen, ihm  die  Schärpe  zu  überbringen.  Ines  leugnet  es,  Beatrix 
belauscht  sie  aber  gleich  darauf  in  einem  Gespräch  mit  Leonor, 
wo  sie  sich  rühmt,  es  gethan  zu  haben. 


über  Moliere's    fenimes    savantes.  75 

12. 
Juan    erscheint   mit   Alonzo   und   Moscatel,    erklärt   jedoch 
gleich  der  Leonor,    dass    er  nicht  um  ihretwillen  hergekommen. 
Er  geht  und  sie  folgt  ihm. 

13. 

Beatrix  tritt  auf,  und  Alonzo  sucht,  sich  bei  ihr  zu  recht- 
fertigen. 

14. 

Leonor  unterbricht  sie  mit  der  Nachricht,  dass  der  Vater 
komme.     Alonzo  und  Moscatel   müssen   sich  wieder  verstecken. 

15. 

Don  Pedro  beklagt  sich  bei  Beatrix,  dass  Luis  sie  nicht 
mehr  habe  zur  Frau  nehmen  wollen. 

16. 

Don  Juan  bittet  Pedro  um  Schutz  und  Beistand  gegen 
einige  Leute,  die  ihn  bei  des  Letztern  Hause  angefallen  hätten, 
und  sagt  der  Leonor  leise,  sie  solle  indess  die  Andern  ent- 
fliehen lassen. 

17. 

Wie  Pedro  sich  mit  Juan  entfernen  will ,  hört  er  Lärm 
und  Gepolter  nebenan ,  und  Alonzo  und  Moscatel  lassen  sich 
sehen.  Nun  verlangt  Pedi*o,  dass  Juan  ihn  gleichfalls  gegen 
diese  unterstütze.  Da  aber  Alonzo  die  Beatrix  zu  heiraten 
bereit  ist,  und  Juan,  den  inzwischen  Leonor  von  seiner  Eifer- 
sucht curirt  hat,  die  Leonor,  so  endet  Alles  zu  allgemeiner 
Zufriedenheit. 

Da  wir  weder  unsre,  noch  unsers  Lesers  Zeit  durch  un- 
nütze Auszüge  verschwenden  wollen,  und  voraussetzen  können, 
dass  Jeder,  den  diese  Frage  interessirt,  Moliere  und  seine  fem- 
raes  savantes  kennen  Averde,  so  wollen  wir  es  bei  diesem  einen 
Auszuge  bewenden  lassen. 

Der  L^nterschied  der  zMci  Stücke  springt  bei  der  ober- 
flächlichsten   Betrachtung:    klar    in    die    Augen.      Die   Komödie 


76  Das  Urteil  des   Herrn   von   Schack 

Moliere's  ist  eine  Charakterkomödie,  die  einzig  und  allein  den 
Zweck  hat,  die  Blaustrümpfe  in  den  verschiedensten  Abstufungen 
der  Lächerlichkeit  preiszugeben.  Schon  der  Titel  deutet  es  hin- 
liinglich  an.  Das  Caldcroii'sche  Stück  ist  eine  reine  Intriguen- 
komödie.  Der  Titel:  „Man  darf  nicht  mit  der  Liebe  scherzen" 
zeigt  allein  schon,  dass  dem  Dichter  nicht  die  Schilderung  der 
Blaustrümpfe  als  Hauptgegenstand  vorschwebte.  Der  Inhalt 
des  Stücks  zeigt  klar,  dass  hier  überhaupt  nicht  von  Charak- 
teren die  Eede  sein  kann.  Die  beiden  Liebhaber  unterscheiden 
sich  nur  dadurch  von  einander,  dass  der  eine  anfangs  mit  der 
Liebe  seinen  Spott  treibt;  am  Schluss,  wo  beide  verliebt  sind, 
hört  aller  Unterschied  auf.  Don  Pedro  unterscheidet  sich  von 
Beiden  nur  durch  seine  Stellung  als  Vater.  Als  Liebhaber 
würde  er  sich  ebenso  benehmen  wie  sie,  und  als  Väter  würden 
jene  sich  gar  nicht  von  ihm  unterscheiden.  Der  Don  Luis  und 
Don  Diego  sind  erst  recht  ohne  alle  Farbe.  Sie  dienen  nur 
dazu,  die  beiden  Liebhaber  eifersüchtig  zu  machen  und  dadm'ch 
die  Sache  zum  Schluss  etwas  mehr  zu  verwickeln.  Welchen 
Werth  das  Stück  als  Intriguenlustspiel  beanspruchen  dürfe, 
wollen  wir  hier  nicht  näher  untersuchen.  Wir  haben  es  zwei- 
mal durchgelesen  und  selbst  beim  zweiten  Lesen  ward  es  uns 
sehr  schwel-,  die  verschiedenen  Personen  auseinander  zu  halten; 
obgleich  die  Intrigue  im  Grunde  höchst  einfach  ist,  wird  sie 
doch  unklar  durch  das  Farblose  der  Charaktere.  Da  das  Stück 
uns  von  Anfang  bis  zum  Ende  gelangweilt  hat,  und  da  wir 
es  dem  Leser  durch  die  Inhaltsangabe  möglich  gemacht  haben, 
sich  selbst  ein  Urteil  zu  bilden,  so  wird  er  uns  hoffentlich  der 
Mühe  gern  überheben,  ein  solches  Werk  noch  ausführlich  zu 
kritisiren.  Wie  hoch  es  hinsichtlich  der  eigentlichen  Komik  zu 
stellen  sei,  Avas  es  an  wahrer  Komik  biete,  ist  wieder  eine 
andre  Frage.  Wie  in  den  meisten  andern  Calderon' sehen 
Stücken  beschränkt  sich  die  Komik  ganz  auf  die  Dienstboten. 
Alle  schlechten  Witze  des  Moscatel  konnten  wir  nicht  wieder- 
geben. Damit  der  Leser  aber  einen  "Vorgeschmack  davon  be- 
kommen könnte,  haben  wir  ims  in  der  ersten  Scene  und  an 
einigen  andern  Stellen  etwas  dabei  aufgehalten.  Sie  sind  nicht 
besser  und  nicht  schlechter  als  die  Bedientenwitze  in  der  von 
Schlegel  übersetzten  und  vielgepriesenen  „Andacht  zum  Kreuze." 


über   Moliere's   femmcs   savantes.  77 

Sie  sind  Avirklicli  geeignet,  ein  Gciiilil  des  Mitleids  für  die 
ai-men  Bedienten  oder  vielmehr  für  den  Dichter  zu  erreo-en, 
denn  man  merkt  gleich,  dass  ein  Avirkhcher  Dienstbote  nie 
solche  Witze  machen  Avürde.  Sollte  Jemand  jedoch  die  von 
uns  gegebene  Probe  gefallen  haben,  so  steht  es  ihm  immer  frei, 
auch  die  übrigen  Witze  an  der  Quelle  aufzusuchen. 

So  viel  über  das  Stück  im  Allgemeinen.  Herr  von  Schack 
nennt  es  III.  S.  24(3  eine  Posse,  zählt  es  also  auch  nicht  ohne 
Weiteres  zu  den  Charakterkomödien,  bemerkt  jedoch,  dass  das 
Bild  einer  gezierten  und  mit  ihrer  höheren  Bildung  prahlenden 
Dame  mit  unvergleichlicher  Kraft  der  Komik  ausgeführt  sei. 
Da  nun  Moliere's  Komödie  im  Ganzen  mit  der  Calderon's  gar 
keine  Aehnlichkeit  hat ,  so  muss  sich  die  ISachahmung  auch 
nach  der  Ansicht  des  Herrn  von  Schack  wohl  ganz  auf  diesen 
Einen  Charakter  bcscin-änkcn.  Wir  wollen  daher  diesen  Ciia- 
rakter  in  den  einzelnen  Scenen  näher  betrachten.  Vorher  erlaube 
man  uns  nur  noch  die  Bemerkung,  dass  der  Herr  von  Schack, 
obgleich  er  nur  acht  Zeilen  auf  die  Beurteilung  des  Calderon'- 
schen  Stücks  verwandt  hat,  in  diesen  acht  Zeilen  sich  eines 
Irrthums  schuldig  gemacht  hat,  der  die  Vermutung  ei-weckerr 
möchte,  er  habe  das  Stück  gar  nicht  ordentlich  gelesen.  Er 
behauptet  nämlich,  Don  Juan,  der,  in  die  Leonor  verliebt,  die 
Gegenbemühungen  der  Beatrix  zu  fürchten  habe,  stelle  sich  in 
letztere  verliebt  und  fördere  so  seine  wahre  Neigung  zum  er- 
wünschten Ziele.  Aus  der  Inhaltsangabe  wird  der  Leser  er- 
sehen haben,  dass  nicht  Don  Juan  sich  in  die  Beatrix  verliebt 
stellt,  sondern  dass  Alonzo  Liebe  gegen  sie  heuchelt,  um  sie 
von  der  Beobachtung  der  Leonor  abzuhalten,  und  dass  sich 
Alonzo  dabei  wirklich  in  sie  verliebt,  woher  denn  auch  der 
Titel  des  Stücks  herrührt,  man  solle  nicht  mit  der  Liebe  scher- 
zen. Der  Herr  hat  also  die  beiden  Personen  Juan  und  Alonzo 
vollständig  mit  einander  verwechselt,  er  hat  sie  nur  für  eine 
einzige  Person  angesehen,  Alonzo  scheint  für  ihn  gar  nicht  da- 
gcAvesen  zu  sein.  Das  ist  einerseits  ein  klarer  Beweis  von  der 
Charakterlosigkeit  beider  Charaktere ,  die  wir  so  eben  gerügt 
haben,  andrerseits  zeigt  es  auch  den  Charakter  des  Kritikers 
in  einem  nicht  grade  vorthcilhaften  Lichte,  da  er  zugleich  von 
der  Intrigue  behauptet,  sie  sei  mit  einer  unvergleichlichen  Kraft 


78  Das  Urteil   des  Herrn  von  Schack 

der  Komik  durchgeführt.  Er  hat  sich  nicht  einmal  von  dem 
Inhah  des  Stücks  eine  klare  Anschauung  verschafft  und  erlaubt 
sich,  ein  Urteil  darüber  auszusprechen,  es  über  alle  Gebühr  zu 
preisen,  und  die  femmes  savantes  von  Moliere,  die  er  vielleicht 
gar  nicht  einmal  gelesen  hat,  als  eine  schlechte  Nachahmung 
dieses  Stücks  zu  brandmarken. 

Doch  jetzt  zu  dem  Charakter  der  Beatrix.  In  der  zAvei- 
ten  Scene  des  ersten  Acts  erfahren  wir  durch  Don  Juan, 
dass  sie  schön  und  klug,  aber  auf  Beides  eitel  sei,  dass  sie 
Latein  treibe  und  castilianische  Verse  mache,  alle  neuen  Moden 
annehme,  und  so  spreche ,  dass  man  sie  nicht  ohne  Commentar 
verstehen  könne.  Daraus,  dass  sie  die  Leonor  zu  bewachen 
sucht,  lässt  sich  auch  etwas  auf  ihren  Charakter  schliessen; 
wir  erfahren  freilich  weder  durch  die  andern  Personen,  weshalb 
sie  es  thue,  Don  Juan  sagt,  er  wisse  es  selbst  nicht  (yo  no 
se  Si  es  necia  envidia ,  6  si  zelo) ,  noch  direct  von  ihr  selbst. 
Aus  den  Vorwürfen,  die  sie  ihrer  Schwester  macht  (I.  6),  lässt 
sich  jedoch  schliessen,  dass  das  Ehrgefühl  sie  treibt.  Ihre 
Eitelkeit  geht  aber,  wie  Don  Juan  sagt,  so  weit,  dass  sie  nie- 
mals einem  Mann  in's  Gesicht  sieht,  weil  sie  fürchtet,  der,  den 
sie  ansehe,  würde  gleich  vor  Liebe  todt  hinfallen. 

I.  6.  Wahrscheinlich  um  zu  zeigen,  dass  der  Dichter 
Recht  gehabt  hat,  sie  eitel  zu  nennen,  erscheint  sie  gleich  bei 
ihrem  ersten  Auftreten  mit  einem  Spiegel  in  der  Hand,  in  dem 
sie  sich  betrachtet.  Länger  sich  darin  besehen  will  sie  doch 
nicht.  Dieselbe  Absicht  scheint  bei  den  Handschuhen  zu  Grunde 
zu  liegen,  denn  diese  will  sie  auch  nicht  länger  behalten.  Man 
könnte  freilich  annehmen,  sie  wäre  draussen  gewesen  und  hätte 
deshalb  Handschuhe  angezogen  gehabt,  die  sie  jetzt  zu  Hause 
Avieder  ausziehen  wolle.  Aber  woher  dann  der  Spiegel?  Den 
würde  sie  doch  nicht  mit  auf  die  Strasse  genommen  haben. 
Sie  scheint  daher  von  ihrem  Zimmer  zu  kommen  und  hat  ohne 
Zweifel  dem  Dichter  zu  Gefallen  Handschuhe  angezogen,  den 
Spiegel  mitgenommen,  um  sie  gleich  wieder  an  die  Dienerin 
abzugeben.  Das  thut  sie  dann  in  ihrer  gesuchten  Eedeweise: 
„Nimm  von  meiner  freigebigen  Rechten  diese  Handbedeckungen 
und  das  Fabricat  oder  Zaubermittel  von  Glas."  Ihre  Gelehr- 
samkeit und  ihren  Stolz  im  Punkt  der  Liebe  zeigt  sie  dadurch, 


über  Moliere"s  feinmcs  savantes.  79 

dass  sie  grade  nicht  die  ars  amandi,  sondern  remedium  anioris 
lesen  will,  Heilmittel  gegen  die  Liebe.  Doch  auch  dies  scheint 
sie  nur  dem  Dichter  zu  Gefjdlen  zu  thun;  dadurch,  dass  sie 
ausdrücklich  verlangt,  die  Ines  solle  ihr  nicht  „die  Kunst  ^u 
lieben,"  sondern  die  „Heilmittel  gegen  die  Liebe"  holen,  will 
sie  oder  will  vielmehr  der  Dichter  uns  glauben  machen,  dass 
sie  in  diesem  Punkte  sehr  strenge  sei.  Die  Beatrix  scheint 
aber  trotz  ihrer  grossen  Gelehrsamkeit  das  Buch  nur  dem  Titel 
nach  gekannt  zu  haben ,  denn  im  Grunde  ist  das  letztere  Buch 
ebenso  wenig  erbaulich  wie  das  erste.  Will  man  daher  nicht 
an  ihrer  Gelehrsamkeit  oder  gar  an  ihrer  Sittsamkeit  zweifeln, 
so  muss  man  annehmen,  auch  dies  habe  sie  nur  auf  ausdrück- 
liches Geheiss  des  Dichters  und  nicht  aus  eigenem  Antrieb  ge- 
than.  Sie  scheint  selbs^t  auch  weiter  wenig  Gewicht  darauf  zu 
legen;  denn  wie  sie  hört,  dass  die  Ines  nicht  lesen  und  das 
Buch  ihr  daher  nicht  aussuchen  kann,  redet  sie  nicht  weiter 
davon.  Obgleich  sie  an  der  Leetüre  Ovid's  Gefallen  zu  finden 
scheint,  geht  sie,  ihrer  Schwester  gegenüber,  in  ihrer  Sittsam- 
keit so  weit,  dass  sie  von  ihr  nicht  einmal  den  Namen  des 
Liebhabers  hören  will  und  sich  erzürnt  davon  macht.  Selbst 
dies  scheint  ihr  der  Dichter  in's  Ohr  geraunt  zu  haben,  denn, 
damit  in  der  folgenden  Scene  der  Diener  Moscatel  der  Ines  den 
Brief  für  Leonor  übergeben  konnte,  musste  erst  freies  Feld 
gemacht  werden.  Aus  freien  Stücken  würde  sie  es  sicherlich 
gethan  haben;  denn  sie  drohte  einen  Augenblick  vorher  der 
Ines,  sie  wolle  dem  Vater  die  Sache  offenbaren,  damit  der 
Schande  vorgebeugt  werde,  und  dazu  konnte  es  ihr  docli  von 
grossem  Nutzen  sein ,  wenn  sie  den  Namen  des  Liebhabers 
ei-führe. 

I.  11.  Dieselbe  Beatrix,  die  früher  nicht  einmal  den  Na- 
men des  Liebhabers  wissen  wollte,  überrascht  jetzt  Leonor,  Avie 
letztere  im  Begriif  ist,  den  Brief  Don  Juan's  zu  lesen,  und  Avill 
durchaus  diesen  Brief  sehen.  Da  sie  ihn  niclit  durch  Güte  er- 
halten kann,  versucht  sie  es  mit  Gewalt,  und  eine  jede  bekommt 
ein  Stück  davon. 

I.  12.  In  dieser  Scene  benimmt  sich  die  Beatrix  bei  aller 
ihrer  Gelehrsamkeit  sehr  einfältig.  Die  schuldige  Schwester 
weiss  alle  Schuld  auf  sie  zu  wälzen,  und  sie,  Avelche  die  nacht- 


80  Das   Urteil   des   Herrn  von  Schack 

liehe  Zusammenkunft  ihrer  Schwester  mit  Don  Juan  behauscht 
hat,  denkt  gar  nicht  daran,  ihrem  Vater  jetzt  das  Gesehene  zu 
entdecken.  Freilich  mag  der  Herr  v.  Schack  einwenden,  dass 
Gelehrsamkeit  und  Belesenheit  nicht  immer  mit  gesundem  Men- 
schenverstand gepaart  geht,  und  leider  möchte  es  ihm  leichter 
werden,  diese  Behauptung,  als  manche  andere,  mit  Beispielen 
zu  belegen;  doch  eine  solche  Einfsilt  geht  doch  etwas  zu  weit. 
Führt  sie  uns  der  Komiker  vor,  so  darf  er  es  nur  im  Lichte 
der  Komik  thun,  daran  hat  aber  Calderon  am  allerwenigsten 
gedacht. 

II.  7  —  10.  Auch  hier  erscheint  der  Verstand  der  Beatrix 
wiederum  nicht  im  vorteilhaftesten  Lichte.  Einen  Augenblick 
scheint  es ,  als  werde  der  Vater  jetzt  den  wahren  Stand  der 
Dinge  erkennen,  aber  auch  das  diente  nur  dazu,  seinen  Ver- 
dacht gegen  sie  zu  stärken.  Wiederum  steht  die  Beatrix  stumm 
und  verwirrt  da ;  komisch  wird  sie  aber  auch  hier  nicht.  Unsre 
I.  6  ausgesprochene  Vermutung,  dass  es  auch  mit  der  Gelehr- 
samkeit der  Beatrix  nicht  besonders  aussehen  müsse,  findet  hier 
noch  neue  Nahrung.  Der  Vater  verbietet  ihr,  sich  mit  den 
Wissenschaften  zu  beschäftigen,  und  sie  ist  gleich  bereit,  seinem 
Gebot  Folge  zu  leisten.  Ihre  Begeisterung  für  Literatur  und 
Kunst  muss  nicht  weit  her  sein,  sie  weiss  wenigstens  den 
Worten  des  Vaters,  dass  Frauen  sich  um  solche  Sachen  nicht 
kümmern  müssten.  Nichts  zu  erwidern.  Man  könnte  vielleicht 
glauben,  dies  sei  nur  eine  Folge  ihrer  augenblicklichen  Verwirrung. 

II.  13  zeigt  sich  jedoch,  dass  es  ihr  wirklich  damit  Ernst 
ist.  Sie  spricht ,  in  Gegenwart  der  Ines ,  ihre  Freude  darüber 
aus",  dass  es  ihr  gelungen,  in  einfacher  Sprache  ihren  Schmerz 
über  den  unverdienten  Verdacht  ausgesprochen  zu  haben.  W^ir 
wollen  3veiter  kein  Gewicht  darauf  legen,  dass  ihr  Schmerz 
doch  nicht  sehr  tief  sein  muss,  wenn  er  ihr  Zeit  lässt,  solche 
Betrachtungen  darüber  anzustellen.  Da  es  ihr  aber  natürlich 
doch  schwer  wird,  auf  einmal  ihrer  gesuchten  Eedeweise  zu 
entsagen,  so  bittet  sie  die  Ines,  sie  jedesmal,  wo  sie  sich  ver- 
gehen sollte,  am  Kleide  zu  zupfen,  eine  ganz  eigenthümliche 
Art,  sich  zu  curiren.     Das  geschieht  nun  auch  mehrmals  in  der 

IL  14  folgenden  Scene,  wo  sie  denn  schliesslich  der  Ines 
gebietet,  es  sein  zu  lassen.     Hier    scheint   nun   gleichfalls,    wie 


über  RIoliöre's  femmes  savantes.  81 

wir  anfangs  vermutheten,  ihre  sti-enge  Sittsamkeit  mit  ihrer 
Gelehrsamkeit  gleichen  Schritt  zu  halten.  Anstatt  ihrem  Vater 
zu  sagen,  dass  ein  Fremder  in's  Haus  eingedrungen,  sucht  sie 
es  ihm  zu  verbergen;  furchtet  sie  vielleicht,  der  Vater  Avürde 
sich  nur  dadurch  in  seinem  Verdacht  bestärkt  fühlen  ?  Das  wäre 
doch  sehr  sonderbar.  Sie  fühlt  ohne  Zweifel,  dass  der  Dichter 
erst  beim  zweiten  Act  ist,  dass  der  Knoten  also  noch  niclit  ge- 
löst werden  darf,  und  dass  Alonzo  sie  heiraten  soll,  um  den 
Titel  zu  rechtfertigen :  ..J\lan  darf  nicht  mit  der  Liebe  scherzen." 
Sie  kann  vielleicht  auch  so  gehandelt  haben,  um  Blutvergiessen 
zu  vermeiden,  oder  weil  sie  sich  urplötzlich  in  Alonzo  ver- 
liebt hat.  Sicher  aber  ist,  dass  ihr  äusserliches  Benehmen  nicht 
die  Strenge  zeigt,  die  sie  früher  gegen  ihre  Schwester  an  den 
Tag  gelegt  hat,  und  dass  man,  bei  dem  Mangel  an  aller  festen 
Charakteristik,  nicht  weiss,  zu  welcher  der  genannten  Erklä- 
rungen man  sich  hinneigen  soll. 

III.  1.  Ob  Beatrix  den  Alonzo  liebt,  erfahren  .wir  auch 
hier  noch  nicht  ganz  bestimmt.  Sie  reflectirt  ein  Langes  dar- 
über, ob  sie  sich  über  den  ihrer  Ehre  angethanen  Schimpf  ärgern, 
oder  ihm  für  seine  Liebe  Dank  wissen  soll.  Sie  entschliesst 
sich  zu  letzterem,  und  schickt  daher  die  Schärpe. 

III.  11.  Diese  Scene  gibt  weder  einen  neuen  Beitrag  zur 
Charakteristik  der  Beatrix,  noch  ist  etwas  Komisches  darin 
enthalten. 

III.  13  —  15.  Dasselbe  gilt  von  diesen.  In  der  14,  erklärt 
sie  endlich  der  Leonor,  dass  sie  jetzt  Alles  dem  Vater  ent- 
decken wolle,  sie  gibt  aber  doch  nach;  weil  Leonor  droht,  allen 
Verdacht  wieder  auf  sie  zu  lenken,  glaubt  sie,  es  bliebe  ihr 
kein  Mittel,  sich  zu  retten;  also  auch  hier  scheint  Liebe  nicht 
der  Beweg-o-rund   zu  sein.     In   den   letzten   Scenen    des  Stücks 

OD 

bleibt  sie  auf  der  Bühne,  spielt  aber  weiter  keine  Rolle. 

So  viel  ist  aus  dieser  Betrachtung  klar  geworden,  dass  das 
Stück,  so  weit  es  sich  auf  den  Charakter  der  Beatrix  bezieht, 
in  zwei  Teile  geteilt  werden  kann.  Zuerst  erscheint  sie  als 
eine  Frau,  die  sich  besonders  mit  Wissenschaften  beschäftigt, 
und  durch  eine  gezierte  Sprache  absichtlich  diese  Gelehrsamkeit 
zur  Schau  trägt.     Das    geht   bis  zur    10.  Scene  des   II.  Actes, 

'Archiv  f.  n.  Sprachen.    XXIU.  6 


82  Das  Urteil   des   Herrn  von  Schack 

WO  der  Vater  sie  deswegen  tadelt.  Von  da  an  bemüht  sie 
sich,  diesen  Fehler  abzulegen. 

Der  letztere  Teil  kann  gar  nicht  bei  einer  Vergleichung 
mit  Moliere's  femmes  savantes  herbeigezogen  werden,  denn  da 
helfen  alle  Ermahnungen  des  gutmütigen  Chrysale  an  seine 
Frau  und  Familie  ^ar  nichts.  Keine  ist  von  ihrem  Irrtum  zu 
heilen.  Das,  was  sich  auf  die  Eitelkeit  der  Beatrix  bezieht, 
ebenso  wenio;  denn  die  g-elehrten  Frauen  Moliere's  halten  wirk- 
lieh  zu  viel  von  der  Wissenschaft,  um  einerseits  sich  von  der 
Beschäftio-ung  mit  derselben  abhalten  zu  lassen  oder  andererseits 
auf  ihre  körperliche  Schönheit  viel  Gewicht  zu  legen.  Dass 
Beides  bei  der  Calderon'schen  Beatrix  der  Fall  ist,  zeigt  allein 
schon,  dass  es  ihr  mit  ihrem  wissenschaftlichen  Treiben  nicht 
sehr  Ernst  ist,  dass  es  eigentlich  nicht  mit  ihrer  innerri  Natur 
so  fest  verwachsen,  sondern  höchstens  nur  eine  Spielerei  oder 
gar  etwas  ihr  vom  Dichter  Angeklebtes  ist. 

So,  hat  denn  auch  ihre  Beschäftig-unoj  mit  den  Wissen- 
Schäften  auf  ihr  Benehmen  in  Allem,  Avas  Bedeutendes  im  Stücke 
vorfällt,  nicht  den  geringsten  Einfluss;  oder  man  miisste  denn 
annehmen,  der  Dichter  habe  zeigen  wollen,  dass  die  Gelehr- 
samkeit die  Frauen  verdumme,  und  ihre  Unbehülflichkeit  und 
Verlegenheit  in  den  bedenklichen  Lagen,  in  .die  sie  hineingeräth, 
daher  schreiben  wollen.  Das  wird  man  dem  Calderon  doch 
nicht  zumuten.  Moliere  wirft  man  vor,  dass  er  durch  die  Ca- 
rikirung  de\'  gelehrten  Frauen  die  Wissenschaft  lächerlich  zu 
machen  gesucht  habe,  obgleich  er  sich  doch  sehr  gehütet  hat, 
so  etwas  zu  behaupten.  Man  müsste  daher  Calderon  erst  recht 
diesen  Vorwurf  machen.  Auch  kommt  Nichts  in  dem  Stück 
vor,  woraus  man  auf  jene  Absicht  des  Dichters  schliessen  könnte. 
Fast  überall  ist  ihr  Benehmen  durchaus  passiv.  Sie  hat  das 
Geheimniss  ihrer  Schwester  belauscht,  sagt  ihrem  Vater  aber 
gar  nichts  davon;  sie  entreisst  ihrer  Schwester  den  Brief,  doch 
ohne  Erfolg.  Dasselbe  Schweigen  beobachtet  sie,  als  Alonzo 
in  ihr  Gemach  eingedrungen.  Auf  Befehl  ihres  Vaters  beschliesst 
sie,  den  Wissenschaften  zu  entsagen  und  den  Alonzo  zu  hei- 
raten. In  alle  dem  zeigt  sich  Nichts  von  Charakter,  und  am 
wenigsten  der  Einfluss  ihrer  Bildung,  und  das  sind  doch  die 
einzigen  Handlungen  von  Bedeutung,  die  im  Stück  vorkommen. 


über  Moliöre's  l'emmes  savantes.  83 

Höchstens  köuntc  man  den  Streit  um  den  Brief  mit  ihrer 
Schwester  aus  sittlicher  Entrüstung  über  deren  Betragen  und 
diese  Entrüstung,  Avie  gesagt,  aus  ihrer  wissensehaitlichen  Bil- 
dung herleiten.  Dafür  spricht  aber  auch  Nichts;  denn  sie  liest 
den  Ovid,  und  durch  dessen  Leetüre  konnte  schwerlich  ihr 
sittlicher  Charakter  gestärkt  werden.  Der  Einfluss  ihrer  Bil- 
dung zeigt  sich  also  in  keiner  einzigen  bedeutenden  Handlung, 
sondern  nur  in  ihrer  Sprache,  darin,  dass  sie  den  Ovid  lesen 
will  und  doch  nicht  liest,  und  dass  sie  der  Magd  Vorwürfe 
macht,  weil  sie  nicht  lesen  könne.  Da  möchte  man  nun,  ohne 
selbst  dies  Stück  gelesen  -  zu  haben,  versucht  sein,  von  vorn 
herein  dem  Calderon  dies  Recht  und  die  Fähigkeit  abzusprechen, 
die  gezierte  Sprache  einer  gelehrten  Dame,  wie  Beatrix,  lächer- 
lich zu  machen,  da  er  selber  fast  in  allen  seinen  Stücken  das 
Grösste  in  diesem  Punkte  geleistet  hat.  Sein  Gongorismus 
wird  selbst  von  Herrn  v.  Schack  nicht  oeläuo-net.  Sollte  der- 
selbe  Dichter,  indem  er  sonst  von  Ausdrücken  wie  Schneevulkan 
imd  Flarameugletscher  wimmelt ,  der  die  Nachtigallen  befiederte 
Trompeten,  die  Trompeten  eherne  Nachtigallen,  der  das  Schiff 
einen  Fisch  ohne  Schuppen,  den  Fisch  ein  Schiff,  ohne  Segel 
nennt ,  sollte  der  Dichter  fähig  gewesen  sein ,  diesen  Fehler 
komisch  darzustellen;  sollte  er  nicht  in  den  andern  Personen 
des  Stücks,  die  er  nicht  tadeln  will,  dieselbe  Ziererei  und  Ge- 
suchtheit an  den  Tag  legen,  die  er  an  der  Beatrix  tadelt;  das 
war  mein  erster  Gedanke,  als  ich  die  rühmende  Kritik  des 
Herrn  v.  Schack  las,  und  meine  Erwartung  hat  mich  nicht  ge- 
täuscht. Diese  Gesuchtheit  und  Ziererei  tritt  uns  gleich  in  der 
ersten  Scene  in  den  Witzen  des  Alonzo  und  seines  Bedienten 
entgegen;  man  erkennt  gleich,  dass  man  es  nicht  mit  Menschen 
von  Herz,  Verstand  und  Charakter,  sondern  mit  reinen  Phan- 
tasten zu  thun  hat.  Selbst  der  Vater,  der  der  Beatrix  dt^ch 
über  ihr  gelehrtes  Treiben  Vorwürfe  macht,  befleissigt  sich 
nicht  sehr  einer  recht  natürlichen  Sprache.  ^Vir  wollen  nur 
einige  Beispiele  anführen,  da  die  Sache  eigentlich  für  Jeden, 
der  den  Calderon  aus  andern  von  Schlegel,  Schack  und  Dohrn 
übersetzten  Werken  kennt,  gar  keines  Beweises  mehr  bedarf. 
Als  D.  Pedro  1.  12  den  zerrissenen  Brief  in  den  Händen  hält, 
sagt   er,   er   wünsche    die  Teile   dieser  Viper,   dieser   Schlange, 

c 


84  Das  Urteil  des   Herrn   von  Schack 

die  das  Gift  in  zwei  Hälften  getrennt  enthalte,  wieder  zu  ver- 
einigen. Der  Liebende,  D.  Alonzo,  macht  es  III.  13  nicht 
besser.  Um  sich  bei  Beatrix  zu  entschuldigen,  sagt  er, 
freilich  habe  er  anfangs  nur  sich  in  sie  verliebt  gestellt,  sei 
aber  darüber  Avirklich  verliebt  geworden.  Er  vergleicht  da  sein 
Unternehmen  mit  dem  eines  Seefahrers,  der  sich  ohne  Scheu 
auf's  Meer  begebe,  das  ihm  erscheine  wie  ein  Garten  von 
Schaum,  wie  ein  Wald  von  Schnee,  weshalb  er  es  denn  auch 
nicht  für  gefährlich  halte.  Wie  aber  mit  dem  Meer,  so  solle 
man  auch  nicht  mit  der  Liebe  scherzen.  Zweitens  vergleicht 
er  sich  mit  einem,  der  sich  aus  Spass  oder  Lernbegierde  mit 
Brennstoff  und  Feuer  abgebe  und  dabei  umkomme,  wie  aber 
mit  dem  Feuer,  so  solle  man  auch  nicht  mit  der  Liebe  scherzen. 
Drittens  mit  einem,  der  zusammen  mit  einem  Freunde  sich  im 
Gebrauch  des  Degens  üben  will  und  ihn  tödtet,  als  wäre  er 
sein  Feind,  wie  aber  mit  dem  Degen,  so  solle  man  auch  nicht 
mit  der  Liebe  scherzen.  Viertens  mit  einem,  der,  ein  wildes 
Thier  für  gezähmt  haltend,  sich  in  dessen  Nähe  begebe.  Die 
Liebe  sei  aber  auch  ein  wildes  Thier,  und  wie  mit  einem  Avilden 
Thier,  so  solle  man  auch  nicht  mit  der  Liebe  scherzen.  So, 
schliesst  er  nun,  habe  er  sich  aus  Spass  auf's  Meer  begeben, 
Feuer  entzündet,  mit  einem  Degen  sich  geübt,  mit  einem  wilden 
Thiere  gespielt ;  und  so  sei  er  auch  im  Meere  ertrunken ,  habe 
sich  an  Feuergluth  verbrannt,  die  Wuth  des  Erzes  und  des 
Wildes  gefühlt ;  wenn  daher  wilde  Thiere ,  Erz ,  Feuer  und 
Meer  einem  das  Leben  nehmen  könnten,  solle  man  nicht  mit 
der  Liebe  scherzen.  , 

Don  Juan  bleibt  auch  nicht  zurück.  Er  sagt  III.  16  zu 
D.  Pedro,  er  wisse,  dass  D.  Pedro's  Brust  der  Aetna  sei,  der 
inwendig  glühe,  obgleich  er  von  aussen  mit  Schnee  bedeckt  sei. 
Diese  nach  der  Schablone  verfertigten  Redensarten,  von  denen 
Calderon's  Stücke  wimmeln,  sind  ebenso  gesucht  wie  die  Sprache 
der  Beatrix.  Komisch  ist  aber  das  eine  ebenso  wenig  wie 
das  andere. 

Herr  von  Schack,  der  behauptet,  dass  hier  das  Bild 
einer  gezierten  und  mit  ihrer  höheren  Bildung  prahlenden  Dame 
mit  unvergleichlicher  Kraft  der  Komik  ausgeführt  sei,  würde 
uns   daher   einen  grossen  Dienst  leisten,    wenn   er  nachweisen 


über  Moliere's  femmes  savantes.  85 

wollte,  wo  dies  ci^'entlich  o-eschelicn.  AYir  haben  im  ganzen 
Stück  keine  Spur  dieser  Komik  entdecken  können. 

Nun  soll  aber  das  Stück  Moliere's  gar  nur  eine  elende 
Nachahmung  dieses  herrlichen  AVerkes  sein.  Wir  halten  es  für 
eine  schwere  Aufgabe,  das  Calderon'sche  AVerk  zu  verschlech- 
tern, es  möchte  selbst  dem  Herrn  v.  Schack,  bei  all  seinem 
Sinn  fih'  die  Komik,  schwer  fallen,  sie  zu  lösen.  Wir  wollen 
uns  daher  nicht  bemühen  zu  zeigen,  dass  das  Werk  Moliere's 
besser  ist,  es  könnte  auch  dann  noch  sehr  schlecht  sein,  sondern 
wir  begnügen  uns,  die  Hauptpunkte  anzugeben,  wodurch  sich 
Moliere  gänzlich  von  seinem   angeblichen  Vorbild  unterscheidet. 

Wie  Aristophanes ,  sah  Moliere  ein,  dass  jeder  komische, 
wie  tragische  Charakter,  sich  durch  Handlungen  offenbaren, 
dass  er  daher  ein  Gebiet  haben  müsse,  auf  dem  er  sowohl  sel- 
ber frei  seine  innere  Natur  entfalten,  als  auch  die  aus  ihr  her- 
vorgehenden Lebensansichten  in  dem  Leben  Anderer  praktisch 
zu  verwirklichen  suchen  könne.  Bei  den  Athenern  durfte  Jeder 
im  öffentlichen  Leben  mitsprechen  und  ein  Jeder  machte  sich 
diese  Freiheit  im  vollsten  Masse  zu  Nutze.  Zu  Moliere's  Zeiten 
M'ar  das  anders.  Seit  Richelieu  war  es  nicht  bloss  gefährlich 
geworden,  sich  zu  sehr  um  die  öffentlichen  Angelegenheiten  zu 
kümmern,  sondern  man  spürte  auch  wenig  Neigung  dazu.  Nur 
die  Grossen,  deren  Macht  immer  mehr  geschwächt  wurde, 
suchten  von  Zeit  zu  Zeit  darauf  einzuwirken.  L^nter  Ludwig  XIV. 
waren  sie  aber  schon  zu  sehr  geschwächt,  um  es  mit  irgend 
einer  Aussicht  auf  Erfolg  zu  versuchen.  Der  Bürger  hingegen., 
der  von  den  frühern  innern  Streitigkeiten  so  viel  zu  leiden  ge- 
habt hatte,  freute  sich,  einen  tüchtigen,  kräftigen  Herrscher 
am  Ruder  zu  sehen,  der  die  Grossen  im  Zaume  zu  halten 
wusste.  Er  wusste  es  ihm  Dank,  dass  er  in  seinem  Privat- 
leben sich  einer  Ruhe  und  Sicherheit  erfreuen  konnte,  die  man 
früher  nicht  gekannt  hatte.  Die  glänzende  Stellung  des  Vater- 
landes dem  Auslande  gegenüber,  die  selbst  die  Grossen  mit 
ihrer  Lage  versöhnte,  musste  dem  Bürger  erst  recht  schmeicheln. 
Warf  er  bisweilen  einen  Blick  in  die  Politik,  so  war  es  sicher 
nicht,  um  Klagen  zu  führen.  Darum  stimmen  auch  die  ver- 
schiedenartigsten Schriftsteller  der  damaligen  Zeit  in  der  Be- 
wunderung des  Königs  überein,  selbst  seine  politischen  Gegner, 


86 


Das    LJrteil   des  Herrn    von   Sc  hack 


wie  z.  B.  St.  Simon  in  seinen  Memoiren.  Anstatt  Boilenu, 
Racine,  Moliere  u.  A.  wegen  ihrer  Begeisterung  für  den  König 
zu  tadeln,  hätte  man  diese  Begeisterung  sich  deshalb  lieber  aus 
den  Verhältnissen  erklären  sollen. 

Moliere  durfte  und  konnte  also  nicht  daran  denken ,  die 
Politik  rfiuf's  Theater  zu  bringen.  Der  Bürger  begnügte  sich, 
auf  seinem  Gebiet,  in  der  Familie,  dieselbe  Plerrschaft  auszu- 
üben, wie  der  König  auf  dem  seinigen;  und  da  fielen  denn 
auch  wohl  Kämpfe  vor,  die  für  ihn  nicht  weniger  Interesse 
haben  mochten,  als  die  seines  Königs  mit  den  fremden  Mächten. 
Auch  büsste  Moliere  Nichts  dadurch  ein,  denn  dieselben  gei- 
stigen ivlächte,  die  sich  zu  Aristophanes'  Zeit  um  die  Plerr- 
schaft  im  Staatsleben  stritten,  mussten  sich  auch  hier  wieder- 
finden. Daher  spielen  die  meisten  Charakterkomödien  Moliere's 
im  Familienleben,  der  TartufFe,  der  Avare,  der  Bourgeois  gen- 
tilhorame,  les  femmes  savantes,  le  malade  imaginaire,  also  seit 
1667  alle  ohne  Ausnahme,  die  frühern  l'ecole  des  maris,  l'ecole 
des  femmes,  le  misanthrope  wenigstens  in  Beziehung  darauf. 
Ausser  dem  vorliegenden  Stück  finden  M'ir  seit  1667  überall 
einen  Familienvater,  der,  nirgend  einer  Einseitigkeit  verfallen, 
nach  seinen  Ansichten  sein  Leben  und  das  der  Familienglieder 
zu  regeln  sucht.  Er  stösst  bei  ihnen  auf  Widerspruch,  und 
dadurch  entsteht  der  komische  Conflict. 

Dasselbe  finden  wir  in  den  femmes  savantes.  Da  hier 
aber  eine  Schwäche  der  Frauen  komisch  behandelt  werden 
sollte,  so  finden  wir  hier  eine  Hausfrau,  die  ihre  Ansichten  vom 
Leben  im  häuslichen  Kreise  zu  verwirklichen  sucht.  Da  ein 
Mann  von  energischem  Charakter  sie  aber  von  vorn  herein  an 
diesem  Versuche  gehindert  haben  würde ,  so  hat  Moliere  der 
gelehrten  Frau  einen  Mann  zur  Seite  gestellt,  dem  es  an  aller 
Willenskraft  mangelt.  Wie  in  den  frühern  Stücken  den  Mann, 
so  sehen  wir  also  hier  die  Frau  das  Regiment  führen.  Der 
Hausvater  sieht  wol  die  Thorheit  seiner  Frau  ein,  in  ihrer  Ab- 
wesenheit fas^t  er  den  Entschluss ,  ihr  kräftig  entgegenzu- 
treten; sobald  sie  erscheint,  stehen  ihm  nur  Worte  zu  Gebote. 
Hätte  er  den  Muth  der  That,  so  würde  er  es  nicht  einmal  so 
weit  haben  kommen  lassen.  Da  Calderon  sich  in  seiner  Ko- 
mödie  damit   begnügte,    die  Beatrix    in    gesuchten  Auedrücken 


über   I\I  o  li  e  r  tv  s   f  0  in  ni  es   s  a  v  a  n  t  e  s.  87 

reden  zu  lassen,  da  es  ihr  gar  nicht  einfällt,  ihre  Ansichten 
auch  im  Leben  Anderer  praktisch  durchzusetzen,  da  sie  nur, 
um  ihre  Phantasie  zu  ergötzen,  zum  Zeitvertreib  sich  mit  den 
alten  Schriftstellern  beschäftigt ;  das  Bewusstsein  von  dem  hohen 
Werth  der  Wissenschaften  geht  ihr  ganz  ab ,  daher  sie  auch 
auf  Befehl  des  Vaters,  gleich  davon  ablässt ;  da  es  ihr  mit  einem 
\^^orte  gänzlich  an  Verstand  und  Willenskraft  fehlt :  so  war  sie 
durchaus  nicht  geeignet:  die  Partei  der  gelehrten  Frauen  auf 
die  gehörige  AA'eise  zu  vertreten,  sie  gegen  etwaige  Angriffe  zu 
rechtfertigen  und  ihr  im  Leben  Geltung  zu  versehafien.  Der 
Philaminte  Moliere's  mangelt  es  hingegen  ebenso  wenig  an  Ver- 
stand wie  an  Willenskraft ;  sie  weiss  nicht  bloss  ihren  Willen 
durchzusetzen,  sie  versteht  es  auch,  ihre  Sache  mit  Gründen 
zu  verfechten.  Es  ist  daher  unbegreiflich,  wie  Herr  v.  Eichen- 
dorff  hat  behaupten  können,  Moliere  greife  in  diesem  Stücke 
die  wahre  Wissenschaft  an.  Wahrscheinlich  hat  es  den  Herrn 
irre  gemacht,  dass  Moliere  die  Philaminte  eine  durchaus  nicht 
verächtliche  Kolle  spielen  lässt,  und  dennoch  ihre  Schwächen 
angreift.  Er  hat  geglaubt,  in  ihr  eine  Vertreterin  der  Wissen- 
schaft überhaupt  zu  entdecken.  Bei  dem  Calderon'schen  Stück 
könnte  man  nicht  auf  den  Gedanken  kommen,  da  die  Beatrix 
eine  ^^ärrin  ist ,  in  der  sich  schwerlich  irgend  ein  Blaustrumpf, 
ge'schweige  denn  eine  Frau,  der  es  mit  der, Wissenschaft  ernst 
ist,  wieder  erkennen  wird.  Grade  hieraus  hätte  aber  der  Herr 
V.  Eichendorff  schliessen  sollen,  dass  Moliere  einen  viel  höhern 
Begriff  von  einer  gelehrten  Frau  hatte,  sie  besser  nach  ihrem 
wahren  ^^'erthe  zu  schätzen  wusste,  als  Cakleron,  dass  er  es 
also  am  wenigsten  auf  eine  Herabsetzung  der  Wissenschaft 
überhaupt  abgesehen  haben  konnte.  Zu  Moliere's  Zeit  fassten 
es  nicht  einmal  diejenigen,  die  sich  am  meisten  durch  dass  Stück 
hätten  getroffen  fühlen  können,  von  dieser  Seite  auf.  Menage, 
der  für  das  Urbild  des  Gelehrten  Vadius  gehahen  wurde,  sagte 
selbst:  J'ai  vu  la  piece,  on  n'y  peut  trouver  rien  ä  redire  ni  k 
critiquer,  und  Frau  de  Sevignd,  die  doch  selbst  für  eine  ge- 
lehrte Frau  galt,  urteilte  nicht  weniger  günstig  über  das  Stück. 
^loHere  hat  sich  selber  an  mehreren  Stellen  deutlich  genug 
darüber  ausgesprochen,  dass  er"  nicht  die  Wissenschaft  als  solche 
herabsetze,     auch    nicht    einmal    sie    den    Frauen    verschhessen 


88  Das   Urteil   des   Herrn   von  Schack 

wolle.     Clitandre,    ein  junger  Mann,    der  eine  Tochter  der  ge- 
lehrten Fi*au,  Henriette  heiraten  will,  sagt  dieser  1.  3: 
Je  consens  qu'  une  femme  ait  des  clartes  de  tout: 
Mais  je  ne  lui  veux  point  la  passion  choquante 
De  se.  rendre  savante  afin  d'etre  savante;  —  —  — 
De  son  etude  enfin  je  veux  qu'elle  se  Cache, 
Et  qu'elle  ait  du  savoir  sans  vouloir  qu'on  le  sache, 
Sans  citer  les  auteurs,  sans  dire  de  grands  mots, 
Et  clouer  de  l'esprit  h  ses  moindres  propos. 
Je  respecte  beaucoup  madame  votre  mere.  —  — 

Es  Hessen  sich  noch  andere  Stellen  ähnlichen  Inhalts  anführen, 
doch  diese  genügt  schon,  um  zu  zeigen,  dass  Moliere  die  Be- 
schäftigung der  Frauen  mit  den  Wissenschaften  nicht  durchaus 
tadelt.  Er  ist  hierin  viel  milder  als  Cald^ron,  der  den  Don 
Pedro  zu  Beatrix  sagen  lässt,  IL  10,  die  Frauen  sollten  nur  in 
einem  Gebetbuch  lesen,   das  Studium  den  Männern  überlassen. 

Moliere  hat  also  von  vorn  herein  das  Thema  ganz  anders 
aufgefasst  als  Calderon.  Er  tadelt  es  nicht,  dass  die  Frauen 
sich  in  ihren  Mussestunden  auch  mit  wissenschaftlichen  Sachen 
beschäftigen,  er  tadelt  es  aber,  dass  sie  sich  die  Wissenschaft 
zum  Hauptziel  ihres  Lebens  machen.  Er  sah  ein,  dass  das 
eigentliche  Gebiet  der  Frau  das  häusliche  Leben  ist,  dass  sie 
ihre  Freude  und  das  Glück  ihres  Lebens  darin  suchen  muss, 
in  diesem  engen  Kreise  durch  Arbeit  in  der  Haushaltung  und 
durch  Sorge  für  die  Ihrigen,  durch  gute  Erziehung  der  Kinder, 
das  geistige  und  leibliche  Wohl  ihrer  Angehörigen  zu  beför- 
dern, und  suchte  daher  in  den  femmes  savantes  zu  zeigen,  dass 
eine  Frau,  die  die  Wissenschaft  zur  Hauptbeschäftigung  ihres 
Lebens  macht,  ihre  wahre  Bestimmung  verfehlen  muss,  dass 
sie  die  eigentlich  weiblichen  Tugenden  einbüsst,  und  dass  das- 
jenige, was  sie  dafür  in  anderer  Hinsicht  gewinnt,  doch  nicht 
im  Stande  ist,  dafür  zu  entschädigen.  Wir  wollen  den  Cha- 
rakter der  Philaminte,  wie  ihn  der  Dichter  darstellt,  nach  beiden 
Seiten  durchgehen. 

Zuerst  betrachten  wir,  wie  sie  sich  der  eigentlichen  Be- 
stimmung des  Weibes  gegenüber  verhält.  Die  Frau  soll  für 
das  leibliche  Wohl  der  Familie  sorgen,  sie  soll,  Avenn  sie  auch 
nicht  selbst  in  der  Haushaltung  Hand  anlegt,  doch  wenigstens 
darauf  sehen,   dass  durch  Andere   gethan  Avird,   was  sie  selbst 


über  Moliere's   femmes  savantes.  89 

nicht  Avahrnehmcn  kann  oder  mag.  Selbst  denkt  sie  natürlich 
gar  nicht  an  die  Haushaltung.  j\Ian  höre  darüber  den  unglück- 
lichen Ehemann  I.  7 : 

Et  Ion  sait  tout  chez  moi,  hors  ce  qu'il  fout  savoir. 
On  y  sait  conime  vont  lune,  etoile  jiolaire  —   — 
Et  dans  ce  vain  savoir,  qiron  va  chercher  si  loin, 
On  nc  sait  comme  va  mon  pot,  dont  j'ai  besoin.  —  — 
L'un  me  briile  mon  rot,  en  lisant  quelque  histoire ; 
L'autre  reve  k  dos  vers,  quand  je  demande  ä  boire, 
Enfin  je  vois  par  eux  votre  exemple  suivi, 
Et  j'ai  des  serviteurs  et  ne  suis  point  servi. 

Hieraus  sieht  mau  zur  Genüge,  wie  sie  sich  ura's  Hauswesen 
kümmert;  selbst  verrichtet  sie  Nichts,  und  die  Dienstboten  ma- 
chen es  ihr  nach.  Nur  eine  alte  Magd  Avar  noch  nicht  von  dem 
Uebel  ergriffen ;  diese  suchte  gut  zu  machen ,  was  die  Andern 
versäumten.  Man  hätte  sie  also  zu  bewahren  suchen  müssen. 
Aber  unglücklicher  AVeise  hat  sie  keine  Grammatik  studirt,  und 
so  wird  sie  denn  von  der  Madam,  der  schwache  Ehemann  kann 
es  nicht  hindern,  aus  dem  Hause  getrieben ;  nicht,  Aveil  sie  viel- 
leicht Etwas  zerbrochen,  durch  Unachtsamkeit  Etwas  hat  ent- 
Av enden  lassen,  das  wäre  ja  nicht  so  schlimm  gewesen,  nicht, 
Aveil  sie  selber  etwas  entwendet  oder  sich  sonst  etAvas  zu  Schulden 
kommen  lassen;  nein,  ihr  Vergehen  ist  Aveit  ärger,  selbst  nach- 
dem man  ihr  30  Stunden  Unterricht  gegeben,  beleidigt  sie  noch 
das  Ohr  der  Madam  durch  niedrige  Ausdrücke,  die  von  den 
Grammatikern  verpönt  sind,  und  versündigt  sich  an  der  Gram- 
matik, der  selbst  Könige  gehorchen  müssen  (H.  G.).  So  AA^eit 
über  die  Beziehung,  in  der  Philaminte  zum  HausAvesen  steht. 
Nebenbei  bemerken  Avir,  dass  diese  beiden  Scenen  (H.  6.  7.) 
die  einzigen  sind,  die  mit  zAvei  andern  Stellen  in  Calderon  ent- 
fernte Aehnlichkeit  haben  (I.  6.  und  H.  10.).  Dass  Moliere 
diese  Stellen  vorgeschAvebt,  lässt  sich  gar  nicht  behaupten.  Beide 
Scenen  mussten  schon  ohne  AA'eiteres  aus  dem  Plan,  der  ihn 
leitete,  hervorgehen ;  aber  selbst  derjenige,  der,  Avie  ohne  Zweifel 
Herr  v.  Schack,  hier  Nachahmung  Avittern  Avollte,  Avird  gestehen 
müssen,  dass  er  den  Calderon  Aveit  hinter  sich  gelassen  hat. 
Die  Beatrix  begnügt  sich  ganz  einfach  damit,  ihr  Erstaunen 
darüber  auszusprechen,  dass  die  Ines  nicht  lesen  könne,  obgleich 
sie  ihren  Umgang  genossen,  nnd  Don  Pedro  sagt  seiner  Tochter 


90  Das  Urteil  des  Herrn  von  Schack 

nur,  dass  die  Frauen  die  Wissenschaften  den  Männern  überlas- 
sen müssten.  Von  der  Komik,  die  in  den  beiden  Scenen  Moliere's 
herrscht  und  die  aus  der  derben  Sprache  des  Ehemanns,  aus 
dem  Mangel'  an  Bildung  und  den  daraus  hervorgehenden  Miss- 
verständnissen bei  der  Magd,  so  wie  aus  der  übertriebenen 
"Wichtigkeit,  die  Philaminte  den  Studien  zuschreibt,  und  aus 
der  Schwäche  des  Ehemanns,  der  wider  seinen  Willen  doch 
die  Magd  fortschicken  muss,  hervorgeht,  wollen  wir  hier  gar 
nicht  weiter  reden. 

Um  das  innere  Wohl  ihrer  Familie  kümmei't  Philaminte 
sich  eben  so  wenig.  Ein  ehrenhafter  junger  Mann  bewirbt  sich 
um  die  Hand  ihrer  Tochter  Henriette.  Ungeachtet  der  Liebe, 
mit  der  sie  sich  gegenseitig  zugetan  sind,  verwirft  ihn  die  Phi- 
laminte, weil  er  nicht  mit  ihren  Ideen  über  Frauenbildung  übei'- 
einstimrat  und  unfähig  ist,  ihr  zu  schmeicheln.  Sie  hat  ihr 
hingegen,  einen  an  Jahren  schon  etwas  vorgerückten  Gelehrten 
aüsersehen,  den  die  Tochter  verabscheut.  Die  Sch^väche  des 
Plausvaters,  der  gern  seine  Tochter  glücklich  sehen  will,  und 
in  Abwesenheit  seiner  Frau  stets  fest  entschlossen  ist,  sich 
ihren  Absichten  zu  widersetzen,  aber,  sobald  sie  erscheint,  un- 
willkürlich sich  zurückzieht,  gibt  wieder  Stoff  zu  manchen  ko- 
mischen Scenen.  Zum  Schluss  sieht  sie  freilich  von  ihrem 
Plane  ab,  aber  nur,  weil  der  Gelehrte  sich  selber  zurückgezogen, 
da  er  vernimmt,  dass  die  Familie  ihr  Vermögen  verloren  hat. 

Sie  hat  also  über  ihrem  Studiren  das  wahre  äussere  und 
innere  Wohl  ihrer  Angehörigen  aus  dem  Auge  verloren.  Sie 
gibt  sich  aber  alle  mögliche  Mühe,  das  was  in  ihren  Augen 
für  das  einzig  wahre  Wohl  gilt,  in  ihrem  Kreise  zu  befördern, 
den  Ihrigen  dieselbe  Lust  zum  Studium  einzuflössen,  von  der 
sie  selbst  erfüllt  ist.  Bei  ihrer  ältesten  Tochter  ist  es  ihr  teil- 
weise gelungen,  bei  der  Henriette  stösst  sie  auf  unbeugsamen 
Widerstand.  Desshalb  wünscht"  sie,  dieselbe  auch  an  einen  Ge- 
lehrten zu  verheiraten.  Mit  der  ungebildeten  Magd  geht's  ihr 
noch  schlimmer,  obgleich  sie  sich  herabgelassen  hat,  sie  in 
Grammatik  etc.  zu  unterrichten.  Ihr  Mann  legt  gar  mehr  Ge- 
wicht auf  einen  guten  Braten,  als  auf  alle  Gelehrsamkeit.  Sie 
sucht  gelehrte  Leute  in  ihren  häuslichen  Kreis  hineinzuziehen, 
so  zuerst  den  Trissotin;    sie   und   die   gleichgesinnte  Schwester 


über  Molierc's  l'emmes  savantcs.  91 

und  Tochter  bewundern  die  von  diesem  Poeten  gemachten  Verse. 
Die  jüngere  Tochter,  Henriette,  findet  keinen  Gefallen  daran, 
diesen  Zusammenkünften  beizuwohnen,  Avird  aber  von  der  jMutter 
dazu  gezwungen.  Hier  zeigt  sich  nun,  wie  sich  die  gelehrte 
Frau  auf  dem  Felde  des  Geistes  zu  bewegen  w^eiss.  Schon 
früher  IL  7.  ha])en  wir  von  dem  Hausvater  gehört,  dass  es 
mit  der  wissenschaftlichen  Bildung  seiner  Frau  nicht  blosser 
Schein  sei;  ..man  weiss  Alles,"  sagt  er,  „nur  nicht  das,  was 
noth  thut;"  an  Kenntnissen  scheint  es  ihr  also  nicht  zu  fehlen, 
aber  über  alle  dem  Trachten  nach  Gelehrsamkeit  hat  sie  den 
natürlichen  einfachen  Sinn  eingebüsst.  Sic  findet  keine  Freude 
am  Einfachen,  sondern  was  ihr  gefallen  soll,  muss  den  Stempel 
der  Forschung,  der  Gelehrsamkeit,  des  Gesuchten  an  sich  tragen. 
Diese  Fehler  zeigen  sich  schon  in  ihrer  eigenen  Sprache,  aber 
vor  Allem  in  der  des  Gelehrten,  den  sie  begünstigt,  der  nur 
Ein  Ziel  im  Auge  hat,  geistreich  zu  sein.  Das  von  ihm  vor- 
gelesene Sonnet,  das  von  den  Damen  bewundert  wird,  trägt 
den  Stempel  der  Gesuchtheit  auf  der  Stirn.  Das  Epigramm 
ist  ein  inhaltsloses  Wortspiel.  Da  die  Frauen  aber  bei  ihrem 
Suchen  nach  Gelehrsamkeit  die  einfiiche  Ursprünglichkeit  der 
Aveiblichen  Natur  eingebüsst  haben,  sind  sie  auch  nicht  mehr 
im  Stande,  diese  Eigenschaften  in  der  Poesie  zu  schätzen.  Ihr 
Gemüt  ist  durch  den  Verstand  verdrängt;  sie  suchen  daher  auch 
wie  in  der  Poesie  nicht  die  Sprache  und  die  Gefühle  des  Herzens, 
sondern  nur  Combinationen  des  Verstandes.  Ueber  die  eigentlich 
geistige  Bildung  des  Trissotin  werden  wir  HI.  5.  aufgeklärt, 
wo  er  einen  grossen  Gelehrten,  Vaduis,  in  den  Kreis  der  Phi- 
laminte  einführt,  und  beide  j^ich  gegenseitig  auf  die  unverschäm- 
teste Weise  herausstreichen,  um  sich  zum  Schluss  der  Scene, 
eines  kleinen  Missverständnisses  wiegen,  Aveil  nämlich  der  Vaduis 
das  eben  besprochene  Sonnet,  dessen  Verfasser  er  nicht  kennt, 
getadelt  hat,  auf  eine  noch  w'cit  unverschämtere  Weise  herunter- 
zumachen. Doch  der  Bildung  ist  ja  Alles  erlaubt,  das  denkt 
Avenigstens  Philaminte,  die  gleich  nach  diesem  Vorfall  dem 
Trissotin  ihre  Tochter  anbietet.  -Zuletzt  stellt  sich  aber  heraus, 
dass  Trissotin  nur  das  Vermögen  der  Henriette  hat  heiraten 
Avollen,  und  da  verliert  sie  alle  Achtung  vor  seinem  Charakter. 
Sie  hat  ihn  aber  bis  dahin  Avegcn    seiner  sein  sollenden  Poesie, 


92  Das   Urteil  des  Herrn  von   Schack 

-wegen  seiner  prosaischen  und  poetischen  Werke,  in  denen  er 
sich  mit  den  Federn  des  Horaz,  Virgil,  Terenz  und  Catull  ge- 
schmückt hat,  ausserordentHch  bewundert  und  geschätzt. 

So  zeigt  sich  denn,  dass  Philaminte,  gemäss  dem  franzö- 
sischen Sprichwort 

Qui  n'a  pas  l'esprit  de  son  äge,  ^ 

De  son  äge  a  tous  les  malheurs, 

grade  deshalb,  weil  sie  sich  durch  das  Streben  nach  Gelehr- 
samkeit der  echten  Weiblichkeit  entäussert  hat,  auch  den  ein- 
fachen gesunden  Sinn  für  die  Leistungen  auf  dem  Felde  ver- 
loren hat,  auf  dem  sie  sich  vorzugsweise  bewegt.  Sie  sieht  die 
werthlosen  Leistungen  eines  trocknen  Pedanten,  eines  geistlosen 
Plagiators  für  reine  Poesie  an.  Ebenso  ist  es  zu  unsrer  Zeit 
der  G.  Sand  in  der  Politik  ergangen. 

Selber  hat  sie  in  der  Poesie  oder  vielmehr  in  Versen  sich 
noch  nicht  versucht,  doch  wol  in  der  Prosa  (111.  2.).  Entrüstet 
darüber,  dass  die  Männer  den  Frauen  die  Fähigkeit  absprechen, 
auf  Geistigem  Gebiet  Bedeutendes  zu  leisten,  wall  sie  eine 
Frauenakademie  stiften,  und  den  Plan  derselben  hat  sie  in  Prosa 
zu  Papier  gebracht.  In  dieser  Akademie  sollen  alle  möglichen 
Seiten  vertreten  sein  und  ihre  neuen  bedeutenden  Entdeckungen 
auf  wissenschaftlichem  Gebiete  besprochen  werden.  Philaminte 
hat  schon  eine  solche  Entdeckung  gemacht.  Sie  ist  fest  über- 
zeugt, Menschen  auf  dem  Monde  gesehen  zu  haben.  Dann 
will  sie  mit  ihren  Gesinnungsgenossen  die  Sprache  von  manchen 
unzarten,  zu  materiellen  Ausdrücken  reinigen ;  alle  neuern  Wex'ke 
sollen  vor  das  Forum  dieser  Akademie  gezogen  werden  und 
nur  die  gleichgesinnter  Freunde  sollen  Gnade  finden. 

So  artet  denn  das  Streben  nach  dem  Geistigen  in  einen 
auf  die  Spitze  getriebenen.  Hass  der  Materie  aus,  Avie  wir  be- 
sonders bei  ihrer  ältesten  Tochter  Armande  sehen  Averden.  Diese 
Verachtung  der  Materie  zeigte  sich  schon  in  der  Vernachlässi- 
gung alles  dessen,  AA^as  auf  das  HausAA^esen  Bezug  hat,  und 
zeigt  sich  zum  Schluss  auf  eine  für  den  Charakter  der  Phila- 
minte, so  Aveit  die  Sache  sie  allein  angeht,  ehrenvolle  Weise  in 
dem  Gleichmut,  Avomit  sie  die  Nachricht  von  dem  vöUigen 
Ruin  ihres  Vermögens  aufnimmt.  Aber  auch  hier  ist  ihr  Be- 
nehmen  als  Hausfrau   und    als    Mutter  nicht    ganz   zu    billigen. 


über  Moliere's  femmes  savantes.  93 

Wenn  sie  die  Gefühle  einer  Mutter  füi-  ihre  Kinder  beAvahrt 
hätte,  würde  sie  bei  der  Gelegenlieit  die  Ruhe  eines  Stoikers, 
für  deren  Moral  sie  eine  besondere  Vorliebe  hat ,  nicht  be- 
wahrt haben. 

Ungeachtet  ihrer  Verachtung  alles  dessen,  was  nur  irgend 
an  Materie  erinnert,  hatte  die  Philaniinte  sich  verheiratet  und 
da  sie  den  Herrn  im  Hause  spielt,  an  Nichts  Mangel  leidet, 
musste  sie  sich  äusserlich  glücklich  fühlen.  Wie  es  nun  we- 
sentlich leichter  ist,  bei  wolbesetzter  Tafel  als  mit  hungrigem 
Magen  und  vor  leeren  Schüsseln  eine  Lobrede  auf  die  Massig- 
keit zu  halten ,  wie  man  erst  durch  die  Entbehrung  etwas  recht 
schätzen  lernt,  so  musste  das  äusserliche,  materielle  Glück,  dessen 
sich  die  Pliilaminte  erfreute,  ihr  die  Verachtung  aller  Materie 
so  wie  das  Hinaufsteigen  zu  den  Ideen  Plato's  und  zu  den 
Dogmen  der  Stoiker  bedeutend  erleichtern. 

Anders  verhält  es  sich  mit  der  ältesten  Tochter  Armande. 
Auch  diese  hat  sich  lobenswerthe  Mülie  gegeben ,  dieselben 
Höhen  zu  erklimmen.  Sie  hat  es  aber  noch  nicht  vermocht, 
sich  zu  der  ruhigen  Verachtung  der  Materie  zu  erheben,  die 
ihre  Mutter  charakterisirt.  Sie  fühlt  unwillkürlich  ihre  Flügel 
im  Fluge  zu  dem  Reiche  der  Ideen  erlahmen.  Innerlich  ver- 
schmäht sie  durchaus  nicht  das  häusliche  Glück,  dessen  ihre 
IMutter  sich  erfreut,  in  der  Philosophie  hat  sie  sich  erst  zu  den 
Sätzen  des  Epikur  erhoben,  sie  merkt  zu  ihrem  Schrecken,  dass 
sie  nicht  reiner  Geist  ist,  sondern  dass  der  Geist  in  einem  ma- 
teriellen Körper  wohnt;  und  daher  ist  ihre  Verachtung  aller 
Materie  mit  einer  Bitterkeit  verknüpft,  die  erkennen  lässt,  dass 
sie  sich  noch  nicht  rühmen  kann,  mit  ruhigem  Siegesbewusst- 
sein  auf  den  Feind,  den  sie  verfolgt,  herabzusehen.  Wäre  ihr 
dasselbe  häusliche  Glück  beschieden,  wie  ihrer  Mutter,  so  würde 
sie  e&  mit  grösserer  Ruhe  geringschätzen  können  und  sich  ohne 
Zweifel  auch  zu  den  platonischen  Ideen  erheben.  Ihr  Charakter 
offenbart  sich  vorzüglich  in  ihrem  Verhältniss  zu  Clitandre,  der 
lange  Zeit  um  sie  geworben  hatte.  Sie  Avar  von  Natur  dem 
jungen  Mann  gar  nicht  abgeneigt.  Ueber  ihrem  gelehrten  Trei- 
ben, über  ihrem  Streben  nach  den  idealen  Regionen  hatte  sie 
jedoch  ihre  Weiblichkeit  eingebüsst.  Das  Familienleben  er- 
scheint ihr  nicht  mehr  als  die  eigentliche  Bestimmung  des  Weibes. 


94  Das   Urteil  des  Herrn  von   Scliack 

Das  blosse  Wort  „Heirat"  flösst  ihr  einen  wahren  Horror  ein. 
Das  eheliche  Leben  widert  ihre  nach  dem  Reinen,  dem  Idealen 
strebende  Seele  an.  Sie  fühlt  sich  zu  gross ,  mii  in  der  Lei- 
tung des  Hauswesens,  in  der  Liebe  eines  Gatten  und  gar  kleiner 
Meerkatzen,  wie  sie  die  Kinder  nennt,  ihre  Befriedigung  zu 
finden.  Das  sei  nur  etwas  für  materielle  Geister.  Sie  will 
nicht  als  Sclavin  einem  Manne  dienen,  sondern  sich  lieber  mit 
der  Philosophie  verbinden ,  um  durch  diese  die  Welt  und  die 
Materie  zu  beherrschen  (L  1.).  Es  war  ihr  nicht  unangenehm, 
sich  von  dem  jungen  jNIann  geliebt  zu  sehen;  seine  Liebe  war 
ihr  "aber  zu  materiell;  wenn  er  von  Heirat  sprach,  so  hielt  sie 
ihm  die  platonischen  Ideen  entgegen.  Dies  Verhältniss  dauerte 
einige  Jahre,  bis  sie  durch  ihr  wunderliches  Benehmen  die  Liebe 
Clitandre's  verscherzte,  der  sich  dann  der  liebenswürdigen,  echt 
w^eiblichen,  nicht  so  gelehrten  Schwester  Armande's,  Henriette 
zuwandte.  In  dieser  Lage  finden  wir  sie  im  Anfang  des  Stücks. 
Clitandre  will  die  Henriette,  welche  seine  Liebe  erwiedert,  hei- 
raten. Da  zeigt  sich  denn,  dass  es  der  Armande  doch  noch 
nicht  gelungen  ist,  sich  ganz  von  der  Materie  los  zu  inachen 
und  sich  zu  der  Höhe  der  Abstraction  zu  erheben,  auf  der  w^ir 
ihre  Mutter  erblickt  haben.  Sie  sucht  mit  aller  Macht  ihrer 
Beredtsamkeit  die  Schwester  von  der  Heirat  zurückzuhalten. 
Sie  ist  sogar  bereit,  selbst  auf  die  materiellen  Ideen  Clitandr'e's 
von  Heirat  einzugehen;  aber  jetzt  ist  es  zu  spät;  sie  hat  seine 
Liebe  unwiderruflich  verloren.  Da  sucht  sie  durch  ihre  Mutter 
die  Heirat  zu  hintertreiben;  und  diese,  die  ja  die  Henriette  für 
einen  Gelehrten  bestimmt  hat ,  geht  auf  ihre  Gedanken  ein 
(IV.  2.).  Ihre  Pläne  scheitern  aber  an  der  Treue  der  beiden 
Liebenden.  So  verscherzt  sie  durch  ihr  gelehrtes  Treiben  das 
häusliche  Glück,  das  sich  ihr  an  der  Seite  Clitandre's  darbot. 
Sie  verfehlt  ihre  Bestimmung  als  Weib,  und  zeigt  sich  doch 
auch  Avieder  unfähig,  auf  dem  Standpunkt  der  Ideen,  den  sie 
erreicht  zu  haben  stolz  ist,  zu  verharren,  da  sie  doch  ihre 
.menschliche  Natur  nicht  verleugnen  kann.  Die  Erklärung,  die 
sie  zuletzt  abzugeben  genöthigt  ist,  dass  sie  bereit  sei,  den 
Clitandre  zu  heiraten,  jetzt,  da  er  seine  Liebe  ihrer  Schwester 
zugewandt  hat;  die  Leidenschaft,  mit  der  sie  die  Heirat  zu 
verhindern  sucht,    zeigen,    dass  die   äusserlich   zurückgedrängte 


über  Moli ere  "s  femnios  savantes.  95 

Materie  weit  mehr  Gewalt  über  sie  liat,  als  über  die  bescheidene 
Henriette ,  da  dieselbe  sie  zwingt ,  aller  weiblichen  Sittsamkeit 
und  allem  Anstand  zu  entsagen.  Sie  hat  also  sowohl  das  Ziel 
verfehlt,  was  sie  sich  selbst ,  als  das  Avas  die  Natur  ihr  vorge- 
steckt hatte.  Sollte  sie  sich  späterhin  doch  noch  in's  häusliche 
Leben  begeben,  so  wird  sie  ohne  Zweifel  ganz  dem  Beispiel 
ihrer  Mutter  folgen,  wenn  es  ihr  die  Umstände  erlauben.  Dann 
wird  ihr  Geist  nicht  mehr  mit  der  Materie  zu  kämpfen  haben; 
sondern  von  hohem  philosophishen  Standpunkte  aus  auf  alles 
Niedrige  und  Materielle  herabsehen. 

iSollte  ihr  das  aber  nicht  geboten  werden,  so  wird  sie  wahr- 
scheinlich eine  solche  Närrin  werden,  w^ie  wir  sie  in  der  dritten 
Gelehrten,  Belise,  vor  uns  sehen.  Diese  mag  vielleicht  als  jun- 
ges Mädchen  in  derselben  Lage  gewesen  sein  und  durch  ein 
ähnliches  Benehmen  ihre  Bewerber  verscheucht  haben.  Wir 
finden  sie  jetzt  als  alte  Jungfer.  Man  sollte  denken,  sie  hätte 
nun  Müsse  gehabt,  ihren  Geist  von  allen^  Banden  der  Materie 
zu  befreien,  sie  würde  in  dieser  Beziehung  ihre  Schwiegerin 
Philaminte  weit  überbieten;  aber  grade  umgekehrt.  Letztere 
brauchte  sich  nicht  nach  dem  Glück  des  häuslichen  und  ehe- 
lichen Lebens  zu  sehnen,  konnte  es  daher  mit  Ruhe  verachten, 
die  Belise.  hingegen  fühlt  sich  unwillkürlich  unglücklich  in 
ihren  Yein  wissenschaftlichen  Beschäftigungen,  obgleich  sie  es 
nirgends  direct  ausspricht,  im  Gegenteil,  sie  raisonnirt  ebenso 
arg  wie  die  Andern;  aber  ihr  durch  diese  Gelehrsamkeit  nicht 
befriedigtes  Herz  spielt  ihr  einen  argen  Streich.  In  ihrer  Phan- 
tasie sucht  sie  sich  für  das  häusliche  Glück,  das  sie  entbehren 
muss,  zu  entschädigen.  Ihre  Phantasien  gehen  so  weit,  dass 
sie  ihren  Verstand,  der  doch  durch  die  Beschäftigung  mit  den 
Wissenschaften  gestärkt  sein  sollte,  gänzlich  umnebeln.  Wie 
Clitandre  ihr  seine  Liebe  zu  Henriette  bekennen  und  sie  um 
Fürsprache  bei  deren  Mutter  bitten  will,  glaubt  ihr  liebebedürf- 
tiges Herz,  sobald  er  von  Liebe  spricht,  er  wolle  ihr  selber 
eine  Erklärung  machen.  Da  sie  aber  nur  von  einer  rein  gei- 
stigen Liebe  etwas  wissen  will,  gebietet  sie  ihm,  im  Stillen  zu 
seufzen.  Er  beteuert  ihr,  dass  er  nur  an  die  Henriette  gedacht 
habe,  aber  Alles  umsonst,  sie  hält  es  nur  für  reine  Verstellung 
(L  4.).     Auch    späterhin ,    da    sich    Clitandre    wirklich    um    die 


9G  Das  Urteil  des  Herrn  von  Schack 

Hand  Henriettens  bewirbt,  glaubt  sie,  es  wäre  nur  eine  Folge 
seiner  Verzweiflung  (IL  3,  V.  3.)-  Von  dem  Gelehrten  Tris- 
sotin  glaubt  sie  dasselbe  (III.  G.).  Da  ihr  Streben  nur  dahin 
geht,  ihre  Liebhaber  still  für  sie  seufzen  zu  sehen,  so  vermutet 
sie  Liebe  selbst  bei  Solchen,  die  nie  von  Liebe  zu  ihr  geredet 
haben.  Ein  zufällig  auf  sie  geworfener  Blick  scheint  ihr  zu 
genügen  (IL  3.).  So  glaubt  sie  von  Damis,  Dorante,  Cleonte, 
Lycidas  geliebt  zu  sein.  Damis  kommt  freilich  fast  nie  in  ihr 
Haus.  Das  ist  aber  nur  ein  Beweis  grösserer  Achtung.  Do- 
rante macht  allerorten  seine  Witze  über  sie.  Das  ist  nur  eine 
Folge  der  Eifersucht.  Cleonte  und  Lycidas  haben  sich  verhei- 
ratet. Die  Verzweiflung  hat  sie  zu  diesem  Schritt  getrieben. 
In  ihren  wissenschafdichen  Entdeckungen  bleibt  sie  nicht  hinter 
der  Philaminte  zurück.  Sie  hat  freilich  keine  Menschen,  aber 
doch  Kirchthürme  auf  dem  Monde  s-esehen.  Kicht  wenio-er 
empört  als  jene  zeigt  sie  sich  über  die  Sprachfehler  der  Magd» 
(IL  6.).  Als  schliesslich  der  Notar  die  Aussteuer  der  Henriette 
in  französischem  Gelde  berechnet  hat,  und  Philaminte  sich  be- 
klagt, dass  der  Contract  in  so  ungebildeter  Sprache  abgefasst 
sei,  bittet  sie  ihn,  statt  Thaler,  Pfund,  Franken,  den  Ausdruck 
Minen  und  Talente  zu  gebrauchen,  und  statt  der  gewöhnlichen 
Ausdrücke  für  die  Zeitrechnung  nach  Iden  und  Kaienden  die 
Zeit  zu  bestimmen.  In  ihrer  Bewunderung  der  schlechten 
Verse  des  Trissotin  bleibt  sie  auch  nicht  hinter  ihrer  Schwie- 
gerin  zurück. 

So  hat  der  Dichter,  der  uns  nicht  nach  dem  System  Shak- 
speare's  ein-  ganzes  menschliches  Leben  in  einem  Lustspiel  auf- 
rollen wollte,  uns  an  drei  verschiedenen  Personen  gezeigt,  wohin 
die  einseitige  Beschäftigung  der  Frauen  mit  der  Wissenschaft 
führt.  Von  Natur  dazu  angewiesen,  im  häuslichen  Kreise  den 
Mann  und  die  Kinder  durch  ihre  Liebe  und  Fürsoro;e  zu  be- 
glücken,  suchen  sie  das  Glück  auf  einem  Wege,  wo  sie  es 
niemals  finden  werden.  Sie  suchen  in  ihrem  Dünkel  zu  ver- 
gessen, dass  der  Mensch  nicht  reiner  Geist  oder  Verstand  ist, 
nnd  bilden  sich  daher  von  ihrer  Bestimmung  und  ihren  Pflichten 
eine  ganz  falsche  Vorstellung.  Das  Gefühlsleben  suchen  sie 
ganz  in  sich  zurückzudrängen.  Anstatt  den  Körper  und  den 
Geist    in   inniger    Verbindung    zu    sehen    und   das    Körperliche 


über  Moliere's    femmes    savantes.  97 

durch  das  Geistige  zu  adeln,  reissen  sie  es  gewaltsam  ausein- 
ander. Den  kalten  Verstand  stellen  sie  überall  als  Richter  hin; 
was  nicht  reiner  Verstand  ist,  wird  als  Materie  verachtet;  daher 
die  Bewunderung  einer  rein  gekünstelten  Poesie;  daher  die  ganz 
falsche  Auffassung  der  Liebe  und  Ehe,  der  wir  bei  allen  drei 
Frauen  begegnen.  Als  rein  geistige  Wesen  dürfen  sie  sich  die 
Liebe  wol  gefallen  lassen,  sie  niuss  aber  selbst  rein  geistig  sein, 
darf  sich  nur  in  Seufzern  und  Sonetten  äussern ;  in  der  Ehe 
sehen  sie  nur  das  Materielle ;  daher  denn  die  Armande  von 
ihrem  Standjjunkt  aus  ganz  mit  Recht  einen  wahren  Abscheu 
davor  ausspricht.  Da  sie  aber  natürlich  nicht  aus  reinem  Ver- 
stand besteht,  reagirt  der  Körper  seinerseits  dagegen;  und  darin, 
dass  sie,  ungeachtet  ihrer  Ansicht  von  der  Ehe,  doch  sich  be- 
reit erklärt,  auf  eine  solche  Verbindung  einzugehen ,  zeigt  sich, 
dass  sie  bei  ihrem  vermeintlichen  Aufschwung  in  die  abstracten 
Regionen  des  Verstandes  erst  recht  der  eigentlichen  durch  kein 
Geistiges  geadelten  Materie  anheimgefallen  ist.  Sollte  sie  nun 
in  eine  solche  füi'  sie  rein  körperliche  Verbindung  treten,  und 
und  nicht  so  viel  geistige  Gesundheit  und  Gemüt  bewahrt  ha- 
ben, um  auf  den  richtigen  AVeg  wieder  zurückzukommen,  so 
wird  sie,  wie  die  Philaminte,  sowold.  ein  einseitig  materielles 
wie  ein  einseitig  geistiges  Dasein  fristen,  von  einer  auf  der 
engen  Verschmelzuno;  von  Leib  und  Seele  beruhenden  Liebe 
zu  ihrem  Manne  und  zu  den  Kindern  kann  nicht  die  Rede 
sein.  Für  das  körperliche  Wohlbefinden  ihres  Kreises  wird 
sie  keine  Sorge  tragen,  für  ihr  eigentlich  inneres  Wohl 
eben  so  wenig,  nur  die  Ausbildung  des  Verstandes  wird  sie 
einseitig  zu  befördern  suchen,  den  echt  weiblichen  Sinn,  wie 
wir  ihn  bei  der  Henriette  finden,  gar  nicht  zu  schätzen  wissen. 
Fehlt  es  ihr  dabei  nicht  an  Energie,  so  wird  sie,  wie  die  Phi- 
laminte, als  kalte  Despotin  in  ihrem  Hause  herrschen,  und  das 
Glück  ihres  Mannes  und  ihrer  Kinder  ihren  einseitigen  An- 
sichten vom  Leben  zum  Opfer  bringen.  Tritt  sie  hingegen 
nicht  in  den  heiligen  Stand  der  Ehe,  so  kann  es  ihr  eingehen 
wie  der  Belise.  Die  einseitige  Verstandesthätigkeit  rächt  sich 
an  dem  Verstand  selber.  Herz  und  Gemüt  finden  bei  der 
kalten  Beschäftigung  nichts,  woran  sie  sich  anklammern  können, 
sind  auch  schon  durch   die    Entwickelung  ihrer  Natur  zu   sehr 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    XXUI.  7 


98  Das  Urteil  des  Herrn  von  Schuck 

daran  gewöhnt,  sich  von  der  Materie,  d.  h.  von  der  Wirldichkeit 
abzuwenden,  um  sich  dort  an  einen  wirklichen  Gegenstand  lialten 
zu  können.  Da  bleibt  ihr  denn  nichts  übrig,  als  sich  durch 
erträumte  Liebschaften  zu  entschädigen,  und  diese  laufen  dann 
natürlich  auf  eine  blosse  Spielerei  der  Phantasie  hinaus.  Da 
ihre  ideellen  ganz  körperlosen  Vorstellungen  von  Liebe  aber 
von  dem  Liebhaber  vor  Allem  Achtung  und  rein  geistige  Hul- 
digung verlangen,  selbst  in  Worten  darf  er  nicht  einmal  seine 
Gefühle  vor  ihr  aussprechen,  nur  aus  der  Ferne  darf  er  für 
sie  seufzen,  so  wird  es  ihr  leicht  in  einem  Jeden,  der  sie  an- 
sieht oder  gar  mit  ihr  spricht,  einen  stummen  Liebhaber  zu 
erkennen,  und  so  zerstört  denn  die  einseitige  consequent  durch- 
gefürte  Verstandesbeschäftigung  nicht  bloss  Herz  und  Gemüt, 
sondern  auch  das  verständige,  von  der  Wirklichkeit  getragene 
Denken  und  endet  in  einem  halben  Wahnsinn.  Das  ungere- 
gelte Denken,  die  Phantasie,  hat  Alles  überwuchert  und  jede 
geistige  Gesundheit  untergraben. 

So  geben  uns  diese  drei  Frauencharaktere  ein  vollständiges 
zusammenhängendes  Bild  dieser  Krankheit.  Als  Mädchen  sind 
die  Philaminte  und  B(^lise  der  Armande  ähnlich  gewesen.  Als 
verheiratete  Frau  wird  die  Armande  es  ihrer  Mutter  gleich 
machen,  als  alte  Jungfer  bedroht  sie  dasselbe  Schicksal,  das 
über  die  Belise  hereingebrochen  ist.  So  kann  man,  dem  Aus- 
spruch unsers  Goethe  gemäss ,  aus  den  in  dem  Stück  selbst 
gegebenen  Andeutungen  die  Vorgeschichte  so  wie  die  weitere 
Entwickelung  der  einzelnen  Charaktere  in  der  Zukunft  verfolgen. 

Ob  dies  Stück  nun  in  irgend  welcher  Beziehung  eine  Nach- 
ahmung und  irgend  eine  Verschlechterung  des  Calderon'schen 
Machwerks  zu  nennen  sei,  hoffen  wir,  dem  gesunden  Urteil  des 
Lesers  überlassen  zu  können.  Das  Thema  ist  von  Moliere 
auf  eine  psychologische  Weise  aufgefasst  und  durchgeführt, 
von  der  Calderon's  gepriesener  Geist  nicht  einmal  eine  Ahnung 
gehabt  hat.  Da  wir  jetzt  den  Leser  mit  dem  Charakter  der 
BeHse  bekannt  gemacht  haben,  können  wir  schliesslich  noch 
auf  einen  Berührungspunkt  dieses  Charakters  mit  dem  der 
Beatrix  aufmerksam  machen.  Die  Beatrix  glaubt  auch,  dass 
Jedermann  sich  gleich  beim  ersten  Blick  in  sie  verlieben  müsse. 
Wir  wissen   das   aber   bloss   von   Hörensagen.     In  der  ganzen 


über  Moliere 's  f  emmes  savantes.  99 

Rolle  merken  wir  Nichts  dcavon.  Ausserdem  steht  diese  Eigen- 
schaft nicht  in  der  geringsten  Verbindung  mit  ihrem  gelehrten 
Treiben,  sie  geht  bloss  aus  ihrem  Bcwusstsein  von  ihrer  Schön- 
heit hervor,  das  mit  Eitelkeit  gepaart  ist.  Auf  ihre  Schönheit 
konnte  in  dem  Moliere'schen  Stück  höchstens  Armande  eitel 
sein,  da  sie  noch  jung  ist.  Bei  ihr  finden  wir  aber  keine  Spur 
davon.  Noch  weniger ,  avo  möglich ,  bei  der  Philaminte.  Die 
B^lise  hingegen  macht  unwillkürlich  den  Eindruck,  als  wenn 
sie  die  älteste  Person  im  Stück  wäre,  älter  selbst  als  die  Phi- 
laminte. An  Jahren  vorgerückt  ist  sie  sicher  und  hübsch  kei- 
neswegs. Man  sehe  nur  das  Erstaunen  ihrer  beiden  Brüder, 
des  Chrysale  und  xYriste,  wo  sie  ihnen  berichtet,  dass  Clitandre 
in  sie  verliebt  sei  (TL  o,  4.).  Sie  glauben  fast,  sie  wäre  ver- 
rückt geworden,  um  so  etwas  denken  zu  können.  Dass  bei  ihr 
nicht  von  Schönheit  die  Rede  sein  kann,  ist  also  klar.  Dass 
sie  von  Natur  eitel  sei,  davon  hören  wir  auch  Nichts.  Wir 
sehen  in  ihrer  Narrheit  einfach  die  letzte  Stufe  jener  einseitigen- 
Verstandesbildung. 

Wir  wollen  nicht  wieder  auf  eine  Würdi<Tuno-  der  v.  Schack- 

o       o 

sehen  Kiitik  zurückkommen,  wir  ersuchen  nur  den  Leser,  eine 
noch  hierher  gehörige  Stelle  aus  einem  frühern  Aufsatz  in  die- 
sem Blatt  (1845  oder  1846,  p.  95  etc.)  ansehen  zu  wollen,  und 
wenden  uns  schliesslich  an  den  Herrn  v.  Schack  mit  der  Bitte, 
uns  doch  seine  Weisheit  nicht  vorenthalten  zu  wollen.  Wir 
verlangen  von  ihm  keine  Kritik  beider  Werke,  d.  h.  keine 
neuen  Schimpfwörter  auf  Moliere  und  seine  Freunde,  darin  hat 
er  schon  das  Genügende  geleistet,  sondern  eine  poetische 
Uebersetzung  des  herrlichen  Calderon'schen  Werks.  Wir  haben 
es  über  uns  vermocht,  der  Wahrheit  und  Moliere  zu  Liebe, 
das  Stück  zweimal  durchzulesen,  um  einen  Auszug  daraus  ma- 
chen zu  können ,  es  von  Neuem  durchgelesen ,  um  es  näher  zu 
kritisiren,  obgleich  es  uns  viel  Ueberwindung  gekostet  hat,  für 
den  Herrn  wird  es  sicher  ein  poetischer  Genuss  sein  ohnegleichen, 
die  herrliche  Poesie  des  Spaniers  auch  dem  deutschen  V^olke 
gcniessbar  machen  zu  können,  und  dann  wird  man  auch  nicht 
mehr  über  den  Werth  des  Werkes  und  den  Geschmack  des 
Uebersetzera  streiten. 


7* 


100  Moli^re  und  der  Conventionelle 


n. 

Moliere  und   der   conventioneile  Standpunkt 
seiner  Zeit. 

a.    In  moralischer  Hinsicht. 

Die  Selbständigkeit,  die  Moliere  seinen  Vorgängern  gegen- 
über sich  zu  walu'en  wusste,  lässt  von  vornherein  erwarten, 
dass  er  auch  einen  über  die  moralischen  und  intellectuellen  Vor- 
urteile seiner  Zeitgenossen  erhabenen  Standpunkt  eingenommen 
habe.  Wenn  daher  echte  Originalität,  den  Vorgängern  wie  den 
Zeitgenossen  gegenüber,  das  Hauptkennzeichen  des  Genies  ist, 
so  scheint  es,  man  werde  ihm  diese  Eigenschaft  nicht  streitig 
machen  können.  Dennoch  wird  ihm  von  manchen  Seiten  das 
Genie  abgesprochen  durch  die  allgemein  gültige  deutsche  Kritik, 
und  zwar  nicht  bloss  wegen  seiner  vorgeblichen  sclavischen 
Nachahmung,  sondern  auch  wegen  seiner  Befangenheit  in  den 
moralischen  und  intellectuellen  Vorurteilen  seiner  Zeit.  Wie 
überall  sonst,  so  hat  auch  hier  zuerst  Schlegel  die  Bahn  ge- 
brochen, und  seine  Nachtreter  haben  nur  mit  andern  Worten 
seine  Gedanken  wiederholt.  In  Beziehung  auf  den  sittlichen 
Standpunkt  Moliere's,  den  wir  zuerst  näher  betrachten  werden, 
haben  wir  es  natürlich,  ausser  mit  Schlegel  und  Kreyssig,  be- 
sonders mit  der  katholischen  Richtung  des  Herrn  von  Eichen- 
dorff  zu  thun.  Am  redlichsten  ist  überall  Herr  Kreyssig  zu 
Werke  gegangen,  der  sein  Urteil  möglichst  mit  Gründen  zu 
belegen  sucht  und  dadurch  zeigt,  dass  er  die  von  ihm  beurteil- 
ten Sachen  auch  wirklich  gelesen  hat. 

In  der  allgemeinsten,  am  schwersten  verständlichen,  und 
deshalb  für  uns  Deutsche  am  meisten  imponirenden  Form  hat 
den  Vorwurf  auf  indirectem  Wege  Hr.  Prof.  Laun  ausgesprochen 
in  einem  Artikel  über  Komödie  in  einer  hannoverschen  Zeitung, 
wo  es  heisst,  es  sei  bloss  dem  Genie  Shakspeare's  gelungen, 
die  Komödie  zu  einem  Weltspiegel  zu  erheben.  Darin  liegt 
natürlich,    Moliere  habe   es   nicht  gekonnt.     Soli  dies  heissen, 


Standpunkt  seiner  Zeit.  101 

Shakspeare  habe  in  einer  Komödie  die  Welt  abgespiegelt,  so 
möchte  ihm  das  wohl  kaum  Herr  Dr.  Sievers  glauben ;  meint 
er  einen  Teil  der  Welt,  so  hat  das  Moliere  auch  getan.  Herr 
'  Laun  hat  aber  Avahrscheinlich  gemeint,  Molifere  gebe  im  Gegen- 
satz zu  Shakspeare  nur  einen  Spiegel  der  Gesellschaft,  und 
zwar  der  Gesellschaft  der  damaligen  Zeit.  Der  Vorwurf  scheint 
also  darauf  hinauszukommen,  als  habe  Moliere  nicht  die  allge- 
mein ewige  Natur  des  Menschen  geschildert,  sondern  nur  die 
Conventionelle  Seite  desselben.  Es  wäre  demnach  dasselbe,  was 
der  Herr  von  Eichendorf  meint,  wenn  er  sagt,  Moliere  habe  die 
Stoffe  hofmässig  zugerichtet;  und  wie  sich  später  zeigen  wird, 
hat  der  Angriff  der  Herren  Schlegel  nnd  Kreyssig  vom  Stand- 
punkt der  Moral  aus  denselben  Inhalt.  Da  jener  Ausspruch 
Laun's  möglicherweise  auf  zweierlei  Art  gedeutet  werden  kann, 
einerseits  so,  dass  Moliere  seine  Motive  grade  vorzugsweise  aus 
dem  Conventionellen,  nicht  aus  der  allgemeinen  menschlichen 
Natur  hergenommen,  andrerseits  dass  er  beliebige  Motive  vom 
Conventionellen  Standpunkt  aus  behandelt  habe ,  so  wollen  wir 
diese  Frage  nach  beiden  Seiten  betrachten,  und  zwar  zuerst 
von  der  w^ichtigsten:  ob  Moliere  die  Welt  vom  con- 
ventionellen  höfischen  Standpunkt  angesehen. 

Hier  Avird  iluu  nun  von  allen  drei  Kritikern,  den  Herren 
Schlegel,  von  Eichendorff  und  Kreyssig,  eine  gewisse  Kammer- 
dienermoral vorgeworfen.  Bei  Schlegel  enthält  dieser  Ausdruck 
eine  Anspielung  auf  MoHere's  Stellung  am  Hofe ;  diejenigen,  die 
nach  ihm  sich  dieses  Ausdrucks  bedient,  haben  ihn  wahrschein- 
lich in  aller  Unschuld  von  Schlegel  entlelint. 

Das  vom  Herrn  von  Eichendorff  hierüber  Gesagte  wollen 
wir  nicht  wörtlich  citiren,  da  es  dem  Leser  vielleicht  schwer 
werden  möchte,  Alles  gleich  zu  verstehen.  Uns  wenigstens  ist 
es  so  ergangen.  Nachdem  er  die  französische  Tragödie  abge- 
fertigt, fährt  er  Seite  87  fort:  „So  war  denn  aus  einer  ober- 
fläclilichen  Poesie  (ohne  Zweifel  unter  Ludwig  XIV.)  die  Ir- 
religiosität entstanden  (mit  Voltaire  u.  A.)  ;  aus  ihr  entstand  eine 
allgemeine  Sittenlosigkeit,  und  aus  ihr  das  französische  Lust- 
spiel." Das  Lustspiel  entstand  also  erst  nach  der  Zeit  Voltaire's. 
Die  Shakspeare'schen  Anachronismen  scheinen  auch  in  der  Kritik 
Mode  zu  werden.     Darauf  bemerkt  er,    dasselbe  lehne  sich  le- 


102  Moliere   und   der  conventioneile 

dio-lich   an    die   Corruption    der  höhern    Stände;    der  Inhalt  der 
darauf  folgenden   Auseinandersetzung    zeigt,    warum   die  untern 
Stände  nicht  dagegen  reagirt.    Er  gibt  zwei  Gründe  an :  erstens 
den  Mangel  aller  Franzosen  an  schaffender  Phantasie;  zweitens 
Nationaleitelkeit.     Dass  die  Franzosen  mehr  als  andre  Nationen 
an  diesen  Fehlern  leiden,   beweist  er  nicht.     Er  hat  es  seinen 
Vorgängern  geglaubt   und   darf  also  mit  Recht  verlangen,    dass 
man    es    ihm    wieder    glaube.      Wir  bemerken   nur,    dass  man 
dasselbe,   was  man  bei  den  Franzosen  als  Eitelkeit   tadelt,   bei 
den  Engländern  und  Spaniern  als  Nationalstolz  zu  rühmen  pflegt. 
Wie  der  Mangel  an  Phantasie  mitgewirkt,    zeigt  er  auch  nicht 
weiter;  jene  Eitelkeit  hatte  aber  nach  ihm  zur  Folge,    dass  die 
untern  Stände  sich  nach  dem  Adel,  dieser  nach  Paris  und  Paris 
nach  dem  Hofe  richtete,  also  Alle  nach  dem  Hofe,   weil  dieser 
die  Regeln  des  Anstands  gegeben  und  Niemand  habe  lächerlich 
erscheinen   wollen.     So    habe   das   Lustspiel   mit   eitler   Selbst- 
gefälligkeit  die   Verkehrtheit  des   Hofes   als  einzig  fashionable 
Welt  zur  Schau  getragen.     So  fühlt  er   denn  auch  bei  Moliere 
schon  den  fatalen  Druck   der  Hofatmosphäre.     Da  aber  damals 
die  Sittenlosigkeit  noch  durch  Scheinheiligkeit  notdürftig  gebun- 
den gewesen ,   habe  Moliere  den  Spass ,   was  hier  nur  die  Un- 
sittlichkeit   bedeuten  kann,   mit    Salbung  versetzen  müssen,    so 
im  Tartufe  und  dem  misanthrope.     Auf  diese  Weise  habe   sich 
bei  ihm   eine   Kammerdienermoral   entwickelt,   eine  beständige, 
verdeckte  Concession  an  die  Prätensionen  der  hochadligen  Ver- 
derbtheit.    So  nehme  er  in  den  femmes  savantes  Partei  für  die 
Unwissenheit.  —  Im  Tartufe,   glaubte   man   bis  jetzt,   sei  Mo- 
liere grade  jener  Scheinheiligkeit  oflTen  entgegengetreten.     Viel- 
leicht ist  aber  der  Tartufe   wirklich  ein  HeiUger,   und  Moliere, 
der  ihn  als  einen  Schuft  schildert,   ist  der  wahre  Scheinheilige. 
Er  hat  den  frommen  Mann  verleumdet  und  ihn  nur  so  geschil- 
dert, um  die  wahre  Frömmigkeit  gehässig  zu  machen;  und  das 
empört   natürlich  das    Gefühl   des  Kritikers,    der    den   Tartufe 
besser  gekannt  hat  als  der  Verfasser  des  Stücks  selbst.    Ueber 
diese  Schlauheit  unsrer  Kritiker  wird  nachher  bei  Herrn  Kreyssig's 
Urteil  über  den  Misanthrope  weiter  die  Rede  sein.    Ferner  sagt 
Herr  von  EichendorfF,  MoHere  feiere  im  Dandin  die  Vorrechte 
der  höhern  Stände   durch  den  Triumph   ihres   Uebermuts ;   und 


Standpunkt    seiner   Zeit.  103 

äo  seien  seine  meisten  Stücke  veraltet,  weil  sie  nnr  den  höfi- 
schen Schein  der  menschlichen  Natur  abspiegeln.  Dieser  letzten 
grundlosen  Behauptung  gegenüber,  dass  Moliere's  Stücke  ver- 
altet seien,  wollen  wir  nur  an  den  Ausspruch  Goethe's  erinnern, 
(Bd.  33  S.  106),  „dass  dem  INFoliere  schon  über  ein  Jahrhun- 
dert seine  Stücke  das  beste  Zeugniss  geben,  die  ja  noch,  seiner 
persönlichen  Darstellung  entbehrend,  die  geistreichsten  Künstler 
aufregen ,  ihnen  durch  frische  Lebendigkeit  genug  zu  thun." 
Der  gelelu'te  Herr  Kritiker,  der  dem  Moliere  vorwirft,  für  den 
Stolz  auf  eigne  Ungewissheit  Partei  zu  nehmen,  sollte  sich  doch 
so  Etwas  nicht  zu  Schulden  kommen  lassen.  Aus  dem  ersten 
besten  in  Frankreich  über  Moliere  erschienenen  Buch  hätte  er 
sehen  können,  dass  die  Achtung  vor  ihm  wo  möglich  noch  im- 
mer im  Wachsen  begriffen  ist.  Wenn  er  aber  keins  gesehen 
und  nur  dem  Scldegel  nachgebetet,  so  hätte  er  nicht  den  Schein 
annehmen  müssen,  als  spräche  er  aus  eigner  Erfahrung.  Me- 
liere gilt  in  Frankreich  so  wenig  für  veraltet,  dass  z.  B.  noch 
in  diesem  Jahre  innerhalb  vierzehn  Tagen  die  femmes  savantes, 
der  Tartufe,  der  avare,  der  malade  imaginaire,  jedes  zweimal 
bei  vollem  Hause  aufgeführt  worden  sind.  Herr  Kreyssig 
stimmt  im  Allo-emeinen  mit  dem  Herrn  von  Eichendorff  und 
Schlegel  überein,  nur  beurteilt  er  die  femmes  savantes  günstiger 
als  beide,  und  den  Tartufe  günstiger  als  Eichendorff,  denn  die- 
ser steht  in  seiner  Kritik  des  Tartufe  ganz  allein  da.  Kreyssig 
bemerkt,  dass  Moliere  die  „Gesellschaft"  richtig  beobachtet, 
aber  doch  von  Shakspeare  geschieden  sei  durch  die  Kluft,  die 
selbst  das  wunderbarste  Talent  vom  Genie  trenne;  denn  die 
Grundvorurteile  seiner  Zeit  habe  er  in  vollem  Masse  geteilt  und 
das  Lächerliche  nur  in  dem  Widerspruch  gegen  die  Meinung 
der  Mehrzahl  gefunden,  deren  Moralphilosophie  darauf  hinaus 
komme,  fremde  Vorurteile  zu  schonen  und  daraus  auf  verstän- 
dige Weise  so  viel  Vorteil  als  möglich  zu  ziehen.  Als  Beweis 
dafür  muss  auch  ihm  besonders  der  Misanthrope  dienen.  Mit 
einer  Selbstgefälligkeit ,  die  nicht  selten  aus  den  Löchern  der 
Diogenesmäntel  unsrer  Kritiker  hervorguckt,  bemerkt  er  S.  175, 
dass  das  ganze  Stück  zu  sehr  die  Versailler  Hofluft  atme,  als 
dass  wir  Deutsche  diese  philosophie  morale  nach  unserm  Ge- 
schmack  finden  könnten ;    und    mit    einem   Seitenblick   auf  die 


104  Molifere  und  der  conventionelle 

französische  Kritik  der  alten  Schule  setzt  er  hinzu,  es  verstehe 
sich  übrigens  von  selbst,  dass  jene  den  Misanthrope  allen  Stücken 
Moliere's  vorgezogen.  Bei  Dandin,  bemerkt  er,  könne  man 
sich  eines  peinlichen  Gefühls  nicht  erwehren,  wenn  man  be- 
denke, dass  es  einem  bourgeois  gut  genug  war,  ohne  den 
geringsten  Sarkasmus  die  bittern  Demütigungen  zu  schildern, 
zu  denen  die  Herrschaft  der  „Ehre"  seinen  eignen  Stand  ver- 
urteilte. 

In  diesen  Worten  von  EichendorfF's  und  Kreyssig's  liegen 
die  Hauptpunkte  der  Anklage  vor.  Da  der  Misanthrope  am 
meisten  hat  herhalten  müssen,  auch  bei  Schlegel,  so  erlaube 
man  uns,  um  so  vielen  Autoritäten  nicht  bloss  die  mitleidig  be- 
lächelte Kritik  Laharpe's  gegenüberzustellen,  wiederum  an 
Goethe  zu  erinnern,  der  doch  ein  Deutscher  war,  und  auf  eine 
seltsame  Weise,  ganz  im  Widerspruch  gegen  das  Urteil  des 
Herrn  Kreyssig,  jene  Sorte  von  pliilosophie  morale,  die  dem 
Misanthrope  zu  Grunde  liegt,  ganz  nach  seinem  Geschmack 
gefunden  zu  haben  scheint.  Dieser  Goethe  wagt  es ,  wo  mög- 
lich, in  seinem  Lob  noch  über  Laharpe  hinaus  zu  gehen. 
Er  sagt  33,  108:  „Ernstlich  beschaue  man  den  Misanthrope  und 
frage  sich,  ob  jemals  ein  Dichter  sein  Inneres  vollkommener 
und  liebenswürdiger  dargestellt  habe.  Wir  möchten  gern  Inhalt 
und  Behandlung  dieses  Stücks  tragisch  nennen;  einen  solchen 
Eindruck  hat  es  wenigstens  jederzeit  bei  uns  zurückgelassen, 
weil  dasjenige  vor  Blick  und  Geist  gebracht  wird,  was  uns  oft 
selbst  zur  Verzweiflung  bringt  und  wie  ihn  aus  der  Welt  jagen 
möchte.  Hier  stellt  sich  der  reine  Mensch  dar,  welcher  bei  ge- 
wonnener grosser  Bildung  doch  natürlich  geblieben  ist,  und  wie 
mit  sich,  so  auch  mit  andern,  nur  gar  zu  gern  wahr  und  gründ- 
lich sein  möchte;  wir  sehen  ilin  aber  im  Conflict  mit  der  so- 
cialen Welt,  in  der  man  ohne  Verstellung  und  Flachheit  nicht 
umhergehen  kann."  Er  meint,  im  Vergleich  mit  ihm  wäre  Ti- 
mon  ein  bloss  komisches  Sujet;  ein  Ausspruch,  gegen  den  sich 
Gervinus  natürlich  in  seinem  Shakspeare  sehr  nachdrücklich 
erhoben  hat.  Da  die  Herren  Kreyssig  und  von  Eichendorff 
hier  also  nicht  mit  einem  Franzosen,  den  sie  allerdings  gering- 
schätzen durften,  sondern  mit  einem  ebenbürtigen  Deutschen  in 
Conflict  geraten,    so   werden   sie   doch   notgedrungen  ihre  Aus- 


Standpunkt    seiner  Zeit.  105 

sage  begründen  müssen.  Herr  von  EiclicndorfF  hat  sich  wie 
gewöhnlich  nicht  auf  solche  Klcinigkeit(>n  eingelassen.  Herr 
Dr.  Kreyssig  hat  seine  Ansicht  mit  lieden  des  Philinte,  der 
im  Stück  die  Partei  der  Gesellschaft  vertritt,  belegt,  ebenso  Avie 
man  manche  seinsollende  Ansichten  Gocthe's  bald  mit  Aus- 
sprüchen des  Mephistopheles ,  bald  mit  solchen  des  Faust  zu 
belegen  gesucht  hat.  Da  verfällt  der  deutsche  Kritiker  wieder 
in  den  an  Franzosen  so  selir  gerügten  Fehler,  sich  an  Einzel- 
heiten anzuklammern,  anstatt  den  Eindruck  des  Ganzen  zum 
iNIassstab  zu  nehmen.  Mit  demselben  Rechte,  mit  dem  Herr 
Kreyssig  die  Reden  des  Philinte  als  Beweis  für  die  Richtigkeit 
seiner  Ansicht -anführt,  könnte  man  die  des  Misantlu'open  Al- 
ceste  als  Beweis  anfülu-en ,  dass  Moliere  grade  der  entgegen- 
gesetzten Ansicht  gewesen.  Es  kann  daher  nur  der  Eindruck 
des  Ganzen  entscheiden. 

Da  begründet  Herr  Kreyssig  nun  seine  Behauptung  damit, 
dass  der  jMisauthrope,  ein  rechtschaffener,  verständiger  Mann, 
die  lächerliche  Person  des  Stücks  vorstelle,  Aveil  er  sich  lieber 
auf  die  Gerechtigkeit  seiner  Sache  als  auf  heimliche  Ränke  ver- 
lasse, weil  er  nicht  schmeichle,  und  an  die  'freue  einer  coquet- 
ten,  sonst  aber  liebenswürdigen  Dame  glaube.  Wie  Herr 
Kreyssig  behaupten  kann,  der  Misanthrope  zeige  sich  als  einen 
verständigen  Mann,  können  wir  nicht  begreifen.  Rechtschaffen 
ist  er  durch  und  durch,  er  ist  sogar  zu  rechtschaffen,  um  in 
seinem  Umgange  mit  Menschen  verständig  zu  erscheinen,  da 
er  von  Allen  dieselbe  Rechtschaffenheit  und  Offenheit  erwartet, 
die  ihn  selber  auszeichnet.  Kreyssig  hat  übrigens  selbst  gut 
eingesehen,  dass  er  nicht  überall  verständig  handelt;  denn  er 
bemerkt,  dass  Alceste's  Charakterzeichnung,  wo  er  wirklich 
lächerlich  werde,  über  alle  Wahi-scheinlichkeit  hinaus  übertrieben 
sei.  Wenn  der  Dichter  einen  verständigen  Mann  hätte  dar- 
stellen wollen,  so  wäre  das  freilich  richtig,  dann  wäre  die  Schil- 
derung übertrieben,  grade  aus  dem  Grunde  hätte  aber  Herr 
Kreyssig  einsehen  sollen,  dass  es  hier  nicht  auf  einen  Verstän- 
digen abgesehen  Avar.  Dies  hatte  ja  Moliere  auch  schon  durch 
den  Titel  angedeutet;  denn  einen  INIisanthropen  wird  Niemand 
verständig  nennen.  Anstatt  also  den  Dichter  missverstehen  zu 
wollen  und  anzunehmen,  dass  er,  um  einen  verständigen  Mann 


lOG  Moliere  und  der  Conventionelle 

lächerlich  zu  machen,  aus  ihm  einen  Misanthrope  gemacht  hätte, 
durch  dessen  Schilderung  ja  nimmermehr  jener  Verständige 
lächerlich  werden  könnte,  der  sich  grade  durch  seine  Verstän- 
digkeit von  einem  Misanthropen  unterscheidet,  hätte  der  Herr 
Kritiker  lieber  dem  Moliere,  der  es  doch  wohl  am  besten  ge- 
wusst  hat,  was  er  wollte,  glauben  sollen,  dass  wir  es  mit  einem 
Misanthropen  zu  thun  haben.  Dann  wird  er  die  Charakter- 
zeichnung nicht  übertrieben  nennen,  und  der  hierher  für  seine 
Ansicht  genommene  Beweis  fällt  in  sein  Nichts  zusammen.  Mit 
grösserm  Rechte  könnte  man  Cervantes  vorwerfen,  er  habe  in 
seinem  Don  Quixote,  dessen  Irrtum  wohl  eine  reine  Unmög- 
lichkeit ist,  die  Charakterzeichnung  über  alle  Wahrscheinlichkeit 
hinaus  übertrieben,  um  die  Tugend  lächerlich  zu  machen,  denn 
der  Don  Quixote  ist  im  Grunde  auch  ein  ehi-licher  Charakter; 
verständig  ist  er  aber  noch  weniger  als  Alceste.  Dass  Moliere 
nicht  übertrieben,  ward  Jeder  einsehen,  der  den  Rousseau  kennt 
und  aus  Taschereau's  vie  de  Moliere  w^eiss ,  dass  ein  Herr  von 
Montausier,  der  für  einen  Misanthropen  galt,  sich  gefreut  haben 
soll,  für  das  Urbild  des  Alceste  gehalten  zu  werden,  und  wie 
er  es  erfuhr,  den  Moliere  vor  Freude  umarmte.  Nun  bleibt 
nur  noch  die  Frage  zu  beantworten,  ob  man  über  die  Tugend 
des  Misanthropen  lache,  wie  Herr  Kreyssig  behauptet.  Auch 
dies  können  wir  durch  seine  eigenen  Worte  widerlegen.  Indem 
er  in  dem  Alceste  durchaus  einen  verständigen  Mann  erkennen 
will,  sagt  er,  natürlich  um  Moliere  zu  tadeln,  überall,  wo  dieser 
Alceste  lächerlich  werde,  sei  sein  Charakter,  nämlich  der  des 
verständigen  Mannes,  übertrieben,  also  nicht  mehr  ver- 
ständig. Das  Stück  ist  daher  so  sehr  das  Gegenteil  von  dem, 
was  man  hat  daraus  machen  wollen,  dass  die  Worte  der  Tadler 
unwillkürlich  in  ihrem  eignen  Munde  sich  zu  einem  Lobe  ver- 
kehren. Man  lacht  also  nicht  über  ihn,  weil  er  gerecht  ist, 
nie  schmeichelt  u.  s.  w.,  sondern  weil  er  bei  seiner  Tugend 
nicht  verständig  ist.  Daher  kommt  die  Kritik  des  Herrn  Kreyssig 
zu  demselben  Resultat,  das  der  von  ihm  so  mitleidig  belächelte 
Laharpe  ausgesprochen :  que  la  sagesse  et  la  vertu  ont  besoin 
d'une  mesure.  Das  Gemüt  des  Alceste  ist  edel ,  er  will  das 
Rechte;  das  lässt  sich  aber  einmal  in  der  Gesellschaft,  wie  sie 
besteht,  nicht  durchführen.     Dies  meinte  ja  auch  Goethe,  wenn 


Standpunkt    seiner  Zeit.  107 

er  sagte ,    dasjenige   werde   hier   vor  Blick   und  Geist  gebracht, 
was  auch  ihn  oft  hätte  aus  der  AYelt  jagen  mögen. 

Man  lacht  also  nicht  über  die  Tugend  des  Alceste  an  sich, 
z.  B.  wird  er  nie  lächerlich,  wo  von  seiner  Liebe  zu  Celimcne 
die  Rede  ist,  wenigstens  hat  ihn  Moliere  da  nicht  lächerlich 
dargestellt,  iin  Gegenteil  lässt  er,  was  das  Verhältniss  zu 
C^limene  betrifft,  die  andern  männlichen  Personen  des  Stücks, 
Avelche  doch  die  Gesellschaft  repräsentiren,  die  Sache  ebenso 
ernst  nehmen,  wie  den  Misanthrope  selbst,  und  auch  sonst  lässt 
er  Alle  sich  um  die  Freundschaft  des  Alceste  bewerben  und 
ihm  Achtung  bezeigen.  Wir  müssen  überhaupt  ein  für  allemal 
bemerken,  dass  Moliere  nie  absichtlich  seine  Charaktere  lächer- 
lich erscheinen  lässt.  Wenn  sie  uns  so  erscheinen,  so  liegt  das 
an  uns  und  jenen  Charakteren  selbst.  Goethe  bemerkt  Wahr- 
heit und  Dichtung  III.  137,  „die  wahre  Darstellung  habe  keinen 
didaktischen  Zweck.  Sie  billigt  nicht,  sie  tadelt  nicht,  sondern 
sie  entwickelt  die  Gesinnungen  und  Handlungen  in  ihrer  Folge 
und  dadurch  erleuchtet  und  belehrt  sie."  ^^'^enn  also  der  Mi- 
santhrope dem  Herrn  Kreyssig  wie  auch  uns  an  einzelnen  Stellen 
Lachen  erregt,  so  kommt  das  nicht  daher,  dass  Moliere,  wie  er 
sagt ,  gemäss  „jener  eleganten,  aber  oberflächlichen  und  be- 
schränkten sociabilite  fran^aise  das  Lächerliche  nur  im  Wider- 
spruch gegen  die  Mehrzahl  fand;"  denn  in  dem  Falle  hätte  nur 
Moliere  allein  über  ihn  lachen  können,  sondern  weil  der  Alceste 
auch  uns  ein  Lachen  abnötigt,  obgleich  wir  ihm  in  der  Haupt- 
sache Recht  geben  müssen,  so  scheinen  auch  wir,  der  Herr 
Kreyssig  sowohl  wie  ich,  nicht  weniger  an  jener  leidigen,  für 
uns  Deutsche  so  oberflächlichen  sociabilite  fran(;aise  zu  leiden, 
für  die  das  Lächerliche  wesentlich  in  dem  Widerspruch  gegen 
die  Meinung  der  Mehrzahl  besteht.  Vom  absoluten  Standpunkt 
aus  wird  es  wohl  schwerlich  etwas  Lächerliches  geben. 

Dass  Moliere  nicht  gesucht  hat,  die  Tugend  lächerlich  zu 
machen,  sondern  selbst  da,  wo  sie  im  Conflict  mit  der  Welt 
Lachen  erregt,  ihre  Würde  zu  bewahren  gewusst  hat,  das  zeigt 
sich  nirgends  deutlicher  als  in  der  Vorliebe  der  Herren  Kritiker 
selbst  für  den  Charakter  des  Misanthropen.  Wenn  sie  es  Mo- 
liere zuschreiben,  dass  sie  über  ihn  lachen,  so  müssen  sie  es 
ihm  doch  wohl  auch  zuschreiben,  dass  sie  nichts  desto  weniger  die 


108  Moliere  und   der  conventioneile 

Achtung  vor  ihm  bewahren.  Sie  stehen  sich  freiHch  persönlich 
besser  dabei ,  wenn  sie  jenes  dem  Dichter  allein  zur  Schuld 
legen ,  und  dies  allein  von  ihrer  eignen  Tugendhaftigkeit  her- 
schreiben, die  sich  so  vorteilhaft  von  der  sociabilite  fran^aise 
Moliere's  unterscheidet.  Die  Anklage  der  Herren  enthält  also 
zugleich  die  Verteidigung  Moliere's  eingeschlossen.  Das  Lachen, 
das  der  Misanthrope  erweckt,  thut  seiner  Würde  keinen  Eintrag; 
es  ist  vielmehr  mit  einer  gewissen  Freude  und  einem  gewissen 
Wohlgefallen  an  seiner  moralischen  Natur  verbunden,  an  jener 
Offenheit,  mit  der  er  den  Hofmenschen  die  Wahrheit  grade  in's 
Angesicht  sagt,  so  dass  man  ihn  eigentlich  gar  nicht  im  ge- 
wöhnlichen Sinne  lächerlich  nennen  kann.  Ein  französischer 
Kritiker,  Namens  Aime  Martin,  hat  nicht  ohne  Grund  vermutet, 
Moliere  habe  in  dem  Alceste  sein  eignes  Innere  verkörpert, 
eine  Meinung,  die  der  jener  Kritiker  grade  entgegengesetzt 
wäre,  und  die  auch  Goethe  geteilt  zu  haben  scheint,  wenn  er 
sagt,  kein  Dichter  habe  sein  eignes  Innere  vollkommener  und 
liebenswürdiger  offenbart,  als  Moliere  in  seinem  Misanthrope. 
Diese  Ansicht  findet  keinen  geringen  Halt  an  dem,  was  Moliere 
1654  auf  die  Anfrage  des  Prinzen  Conti,  eine  Secretä,rstelle  bei 
ihm  anzunehmen^  erwiederte:  „Pensez-vous  qu'un  misanthrope 
comme  moi  soit  propre  aupres  d'un  grand?  Je  n'ai  pas  les  sen- 
timents  assez  flexibles  pour  la  domesticite."  Ich  bin  auch  stets 
der  Ansicht  gewesen,  selbst  bevor  ich  gesehen,  dass  jene  beiden 
Kritiker  dasselbe  ausgesprochen,  und  der  Umstand,  dass  Mo- 
liere zu  seiner  Frau  in  demselben  Verhältniss  stand,  wie  Alceste 
zur  C^limene,  muss  mich  hierin  bestärken. 

Es  scheint  also,  als  w^olle  der  Tadel,  den  man  ihm  wegen 
des  Misanthropen  gemacht,  grade  in  sein  Gegentheil  umschlagen. 
Da  Moliere  selber  sich  in  der  Hofluft  nicht  behaglich  fühlte, 
so  suchte  er,  ähnlich  unserm  Goethe,  sich  dieser  Gefülile  zu 
entledigen,  indem  er  sie  sich  verobjectivirte,  und  auf  diese  Weise 
seine  Gedanken,  denen  er  im  Leben  keinen  Ausdruck  geben 
durfte,  in  einem  Schauspiel  niederlegte.  Sollte  der  Dichter 
selbst  befangen  gewesen  sein  in  der  Schalheit  jener  geselligen 
Kreise  (die,  obgleich  unsre  Kritiker  es  nicht  zu  wissen  scheinen, 
in  Deutschland  nicht  weniger  zu  finden  ist  als  in  Frankreich), 
da    er    sie    doch   im   Munde   des  Alceste  mit   solcher  Kraft  in 


Standpunkt  seiner  Zeit.  109 

ihrer  Leere  aufgedeckt  hat?  Hätte  er  das  thun  können,  wenn 
er  selber  an  dem  Uebel  gcUtten?  Woher  hätte  er  jene  wahren 
kräftigen  Herzenslaute  der  Liebe  nehmen  sollen,  die  er  Alccste 
leiht,  gegenüber  der  Celimene,  Avcnn  er  sie  nicht  in  seinem 
Herzen  gefunden?  woher  jene  kernhafte  Sprache  in  der  Schil- 
derung der  Laster  seiner  Zeit?  und  welche  Thorhcit  wäre  es 
gewesen,  hiermit  einen  Charakter  auszustatten,  den  er  lächerlich 
hätte  machen  wollen  I  Wenn  wir  bedenken ,  mit  welcher  Frei- 
mütigkeit er  die  Verderbtheit  und  Nichtigkeit  des  Hoflebens 
schildert,  so  müssen  Avir  den  Menschen  achten,  der  es  wagte, 
einen  solchen  Spiegel  seiner  Zeit  vorzuhalten  und  das  Genie 
des  Dichters  bewundern,  der  mit  solcher  objectiven  Wahrheit 
seine  eignen  Gefülile  verkörperte,  imd  von  einem  Standpunkt 
aus,  auf  den  nicht  jene  Kritiker,  aber  wohl  der  gleichgeartete 
Geist  unsers  Goethe  ilim  folgen  konnte,  sine  ira  et  studio  die 
Tiefen  seines  eignen  Innern  und  die  Schäden  der  Gesellschaft 
offen  darzulegen  vermochte. 

Um  den  Dichter  vom  Standpunkte  des  Komischen  überhaupt 
zu  rechtfertigen,  diene  noch  Folgendes.  Die  ungerechten  Ur- 
teile über  den  Misanthrope  scheinen  mir  daherziu'ühren,  dass 
man  das  Wesen  und  die  Erscheinung  eines  Gegenstandes  mit 
einander  verwechselt.  Von  diesem  Standpunkt  aus  beurteilt, 
müsste  Moliere,  wenn  er  die  Tugend,  wie  man  behauptet,  im 
Misanthrope  Lachen  erwecken  lässt,  diese  Tugend  selbst  in 
ihrem  Wesen  lächerlich  gemacht  haben.  Jener  Standpunkt  ist 
aber  ganz  fälsch.  Kein  menschliches  Laster  und  ebenso  keine 
menschlichen  Tugend  kann  ihrem  Wesen  nach  lächerlich 
oder  komisch  sein,  jenes  wird  immer  verächtlich,  dieses  ehren- 
haft bleiben.  Das  Lächerliche  und  Komische  entsteht  erst, 
wenn  eine  solche  Eigenschaft  in  die  Erscheinungswelt  eintritt. 
Die  Art,  wie  sie  erscheint,  kann  komisch  sein,  und  es  ist  die 
Pflicht  des  komischen  Dichters ,  sie  auf  diese  Weise  erscheinen 
zu  lassen.  Wenn  das  Laster,  z.  B.  der  Geiz,  bloss  seinem 
Wesen  nach  ganz  rein  dargestellt  würde,  und  desgleichen  die 
Heuchelei,  so  würde  sie  nur  Widerwillen  erwecken,  in  diesen 
Gegenständen  liegt  an  sich  gar  nichts  Komisches.  Dieses 
Laster  muss  aber  der  Dichter  läutei'n ,  indem  er  es  in  das 
Reich  der  Kun^t  und  des  Scheines  erhebt.     Durch  den  Schein, 


110  Moliere  und  der  conventionelle 

durch  die  äussere  Erscheinung,  die  er  dem  Gegenstand  anhängt, 
muss  er  den  unangenehmen  Eindruck,  den  er  in  der  Wirklich- 
keit macht,  verwischen.  Die  komische  Form,  in  der  er  ihn 
zeigt,  als  solche,  darf  Nichts  mit  seinem  moralischen  Werth  zu 
thun  haben.  Die  Form,  in  der  ein  Dichter,  wie  Moliere,  uns 
den  Geiz  zeigt,  ergötzt,  erfreut  uns,  das  Laster  an  sich  stösst 
uns  nichts  desto  weniger  ab.  Diejenigen,  die  nun  diese  Form 
mit  dem  Wesen  verwechselten,  haben  geglaubt,  sie  lachten  über 
das  Wesen  des  Geizes ;  und  weil  der  Geiz  keine  Tugend  ist, 
haben  sie  Isichts  daran  auszusetzen  o-efunden.  Wie  aber  Mo- 
liere  auch  das  seinem  Wesen  nach  Tugendhafte  mit  jener  Form 
zu  umhängen  versuchte,  da  mussten  sie  aus  jenem  Grundirrtum 
glauben,  hier  lache  man  über  die  Tugend,  wie  sie  früher  über 
das  Laster  gelacht,  und  dies  wollte  ihnen  natürlich  nicht  be- 
hagen. Freilich,  wenn  sie  ihrem  natürlichen  Gefühle  gefolgt 
wären,  so  würden  sie  sich  selber  haben  sagen  müssen,  dass  der 
Misanthrope  Alceste  darum  nicht  weniger  liebenswürdig  und  ach- 
tungswürdig bleibe;  vor  ihrem  kritischen  Gewissen  konnten  sie 
es  aber  nicht  verantworten.  Wären  sie  jenem  Gefühle  gefolgt, 
und  hätten  nachgeforscht,  weshalb  sie  am  Misanthropen  Alceste 
als  einem  edeln  Mann  Freude  fänden,  und  dennoch  über  ihn 
lachten,  so  dass  Keines  dem  Andern  schadete,  so  wäirden  sie 
erkannt  haben,  dass  sie  sich  freuten  an  seinem  Innern  Wesen, 
lachten  über  die  äussere  Form,  in  der  es  sich  offenbart.  Sie 
w^ürden  dem  Dichter  nur  dann  Vorwürfe  gemacht  haben,  w^enn 
er,  um  durch  die  Form  Lachen  zu  erwecken,  das  Wesen  be- 
einträchtigt und  entstellt  hätte.  Aber  im  Gegenteil,  während 
Moliere  da,  wo  er  das  Laster  komisch  behandelte,  wenn  auch 
nie  das  Wesen  entstellte,  so  doch  mit  Recht,  um  den  unange- 
nehmen Eindruck  zu  vermeiden,  es  ganz  durch  die  komische 
Form  in  den  Hintergrund  zu  drängen  suchte,  hat  er  hier,  weil 
jene  edle  Natur  an  sich  Gefallen  erregen  muss ,  das  Wesen 
grade  hervortreten  lassen,  und,  wo  es  sich  bei  Alceste  um  wirk- 
lich ernste,  hohe  Interessen  handelte,  in  seiner  Liebe,  nichts 
Komisches  eingemischt;  nur  an  solchen  Stellen,  wo  es  sich 
mehr  um  gleichgültige  Dinge  handelte,  die  fiü-  sein  Lebensglück 
von  keiner  Bedeutung  sind,  da  lässt  der  Dichter  sein  Inneres 
in  komischer  Form  sich  entfalten ;  da  aber  auch  hier  hinter  die- 


Standpunkt  seine  iZeit.  Hl 

ser  Form  sich  immer  ein  edles  Wesen  zeigt,  ist  das  Lachen 
über  ihn  kein  solches ,  das  mit  Verachtung  verbunden  wäre ; 
ein  solches  Lachen  kennt  die  gute  Komödie,  daher  auch  Mo- 
litjre,  überhaupt  gar  nicht  (denn  auch  das  Unangenehme  des 
Lasters  soll  grade  durch  die  komische  Form  besiegt  werden); 
er  wird  daher  nie  lächerlich,  wie  Kreyssig  meint,  da  ja  mit 
dem  Lächerlichen  immer  etwas  Geringschätzendes  verknüpft  ist: 
sondern  er  wird  nur  komisch,  er  erregt  ein  Lachen,  das  von 
aller  moralischen  Verachtung  frei  bleibt;  und  nicht  einmal  das 
allein,  sondern  indem  die  Form,  in  der  sich  sein  Wesen  offen- 
bart, uns  erheitert,  zwingt  uns  das  AYesen,  das  dieser  Form 
zu  Grunde  liegt,  Liebe  und  Bewunderung  ab.  Vischer  sagt  in 
seiner  Aesthetik  I.  367:  „Je  wahrhafter  erhaben  der  Gegen- 
stand, desto  echter,  je  mehr  nur  scheinbar  erhaben,  desto  ge- 
ringer die  Komik.  Das  ist  nicht  Frivolität,  denn  durch  das 
wahre  Lachen  wird  der  verlachte  Gegenstand  in's  lachende  Sub- 
ject  gerettet  — ,  nicht  das  Erhabene  in  den  Staub  gezogen." 
Dasselbe  sagt  Herr  von  Eichendorff,  wenn  er  meint,  bei 
der  tiefsten  Komik  liege  der  Ernst  im  Hintergrunde.  Wenn 
auch  beide  hierbei  nicht  an  Moliere  gedacht  haben,  denn  Eichen- 
dorff ist  ja  ein  heftiger  Gegner  und  Vischer  wenigstens  kein 
grosser  Bewunderer  Moliere's,  da  er  ihn  in  seiner  ganzen 
Aesthetik  kein  einziges  Mal  erwähnt  hat,  während  Shakspeare 
und  Aristophanes  und  andre  weniger  bedeutende  Komiker  und 
Hmnoristen  öfter  vorkommen ;  wenn  sie  also  hierbei  auch  gar 
nicht  an  Moliere  gedacht  haben,  in  ihren  Worten,  die  auf  keinen 
komischen  Charakter  so  ihre  Anwendung  finden,  w^ie  auf  den 
IVIisanthropc,  liegt  klar  ausgesprochen,  dass  es  keine  echtere  Ko- 
mik geben  kann,  und  keine  tiefere  als  die  des  Misanthrope. 
Und  dies  stimmt  wieder  ganz  mit  dem  Ausspruch  Goethe's 
überein,  der  gerne  Inhalt  und  Behandlung  dieses  Stücks  tragisch 
nennen  mochte.  Sie  sind  freilich  nicht  tragisch  und  auch  nicht 
bloss  komisch ,  sondern  beides  zusammen ,  humoristisch.  An 
sich  ist  Alceste  wie  ein  wirklich  tragischer  Held  von  einem 
echten  Pathos  erfüllt.  Nun  liegt  in  allem  Pathos ,  selbst  be- 
wusstlos ,  der  Hochmut,  sich  allein  im  Rechte  zu  glauben. 
Daher  gehen  im  Tragischen  diese  vom  Pathos  erfüllten  Cha- 
raktere unter,  weil  sie  sich  gegen  andre  auch  berechtigte  Seiten 


112  Moliere   und  dpr  Conventionelle 

des  realen  Lebens  vergehen.  So  Antigene  und  Romeo  und 
Julie  und  die  idealen  Charaktere  in  den  Wahlverwandtschaften. 
Weil  sie  sich  nicht  mit  der  Wirklichkeit  vertragen  können,  ver- 
lieren sie  selbst  ihre  wirkliche  Ezistenz.  Creon  dagegen  und 
die  andern  Hauptcharaktere  stehen  mit  der  Wirklichkeit  im  Ein- 
klang und  bleiben  am  Leben.  Dasselbe  Verhältniss  haben  wir 
im  Tasso,  wo  dieser  selbst  unterliegt,  weil  er  sich  nicht  mit 
dem  Leben  ausser  ihm  in  Einklang  setzen  kann,  der  Weltmann 
Antonio  siegt.  Ebenso  wird  nun  auch  Alceste,  weil  er  in  sei- 
nem Pathos  das  äussere  Leben,  die  Sitten  und  die  geselligen 
Regeln  nicht  anerkennt,  diesen  Regeln  gegenüber  komisch,  wäh- 
rend Philinte,  weil  er  grade  dieselben  vertritt,  ohne  Alceste 
Unrecht  zu  thun,  unmöglich  komisch  werden  kann,  da  er  von 
keinem  einseitigen  Pathos  befangen  ist.  Denn  was  der  Tod  im 
Tragischen,  das  ist  das  Komischwerden  im  Komischen. 

Das  zweite  Stück,  in  dem  Moliere  sich  zum  Vertreter  der 
Vorurteile  seiner  Zeit  gemacht  haben  soll,  ist  der  Dandin.  Wie 
peinlich  es  dem  Herrn  Kreyssig  gewesen,  zu  sehen,  wie  ein 
bourgeois  da  ohne  den  geringsten  Sarkasmus  die  bittern  De- 
mütigungen schildern  konnte,  zu  denen  die  Herrschaft  der  Ehre 
seinen  eignen  Stand  verurteilte,  haben  wir  schon  gehört.  W^ie 
viel  peinlicher  würde  es  noch  für  ihn  sein,  wenn  er  wüsste, 
dass,  wie  Moliere  den  Dandin  schrieb,  seine  Frau  schon  lange 
mit  Andern  coquettirt  hatte.  Aehnliches  bemerkten  wir  schon 
beim  Misanthrope,  der  1666  erschienen,  während  Dandin  1668 
zuerst  aufgeführt  ward.  Hier  vermochte  er  also  ohne  den  ge- 
ringsten Sarkasmus  zu  schildern,  wie  eine  Frau  ihren  Mann 
zu  betrügen  sucht,  obgleich  er  sich  selbst  in  derselben  Lage 
befand.  Das  würde  dem  Herrn  Kreyssig  gewiss  das  Herz 
brechen.  Herrn  von  EichendorfF,  der  ja  bemerkt,  Moliere  feiere 
hier  den  Triumph  der  höhern  Stände,  würde  es  wahrscheinlich 
nicht  besser  ergehen.  Er  glaubt  also  wirklich,  dass  Moliere, 
der  selber  immer  von  dem  Hochmut  der  höhern  Stände  zu  lei- 
den hatte,  sowie  von  den  Liebschaften  seiner  Frau,  die  er 
leidenschaftlich  liebte,  dass  dieser  MoUere  fähig  gewesen  wäre, 
in  diesem  Punkt  die  Partei  jener  galanten  Marquise  und  Hof- 
leute zu  ergreifen,  die  er  in  andrer  Hinsicht  stets  den  Muth 
hatte,    der  Lächerlichkeit  preiszugeben.     Das  heisst   doch,    die 


8t  iin  (Ipuiik  t    seiner    Zeil.  113 

Alenschenkenntniss  auf  die  Spitze  treiben.  Schon  seit  der  ecok; 
des  femuies  hatte  Molierc  den  KrieLT  iceiicn  jene  vornehmen 
Herren  angeiangen ;  in  der  ersten  Scene  des  improniptu  de  ^'er- 
sailles  bemerkt-  er  ausdrücklich :  Le  marquis  est  aujourd'hui  le 
phüsant  (der  Hanswurst,'  Lächerliche)  de  la  comedie.  Er  sagt, 
wie  früher  der  valet  bouffun,  so  müsse  jetzt  ein  marquis  ridicule 
die  Gesellschaft  erheitern.  Er  schonte  die  Vornehmen  daher 
nicht  im  Geringsten  und  sollte  hier  ihre  Partei  ergriffen  haben? 
Woraus  erkennt  man,  dass  er  es  gcthan?  Weil  er  nicht  sar- 
kastisch wird?  Schlegel  hat  ihm  wohl  vorgeworfen,  er  morali- 
sire,  hier  wirft  man  ihm  vor,  dass  er  es  nicht  gethan.  Du 
nuiss  ich  Avieder  an  Goethe  erinnern  in  Wahrheit  und  Dichtung 
III.  173:  „Die  wahre  Darstellung  billigt  nicht,  tadelt  nicht  etc." 
(cfr.  oben).  Am  wenigsten  gar  darf  es  der  Komiker,  von  dem 
man  noch  ain  ehesten  erwarten  kann ,  dass  er  frei  über  seinem 
Gegenstand  schwebe.  Vertuscht  aber  Moliere  vielleicht  die  Un- 
sittlichkeit  der  Ilofleute?  Man  lese,  was  Dandin  selbst  1.  1 
und  sonst  darüber  aussagt.  AVir  sehen  hier  in  einem  durchaus 
objectiven  Bilde,  dass  es  für  einen  Bürger  nur  schlechte  Folgen 
haben  kann,  wenn  er  eine  vornehme  Dame  heiratet.  Moliere 
stellt  das  Leben  dar,  wie  es  ist;  für  den  einsichtigen  Leser 
ergibt  sich  die  Moral  von  selbst.  Anstatt  von  Befangenheiten 
in  Vorurteilen  zu  reden,  sollte  man  ihn  preisen,  dass  er  hiej- 
dem  Bürger  den  Uebermut  und  den  Egoismus  der  Hofleuti,' 
vorhält  und  seine  eigne  Thorheit,  nach  einer  Verbindung  mit 
ihnen  zu  streben.  Von  allen  Stücken  Moliere's  wird  wohl  keiiis 
mehr  genützt  haben  als  grade  dies;  denn  mancher  Bürger,  der 
es  gesehen,  mag  sich  vor  ähnlichen  Schritten  gehütet  liaben. 
Dass  Dandin  schlecht  wegkommt,  ist  dei"  natürliche  Lohn  für 
seine  Thorheit  und  für  seinen  iloclimut.  Den  Kekruten  in 
Heinrich  IV. ,  sowie  den  einfältigen  Figuren  im  ßeineke  geht 
es  Nichts  besser;  und  doch  hat  Keiner  dem  Shakspeare  vorge- 
worfen, dass  er  jene  lächerlich  mache,  man  hat  ihn  bewundert, 
dass  er  für  den  Falstaff  sich  interessire,  der  doch  ein  ebenso 
ausgemachter  Taugenichts  ist,  wie  Clitandre.  Shakspeare  Avirft 
man  da  keine  L'iunoralität  vor,  dem  iVIoliere  aber  wohl,  der 
doch  nicht  im  Geringsten  für  die  Liebschaften  der  Frau  Dan- 
din's  interessirtc.     Grade   in  dem    letzten    Punkt    zeigt    sich    (kr 

Arclijv  r  n    Sprachen.  XXni. 


114  ,  Äloliere   und   der   conventioneile 

i'eine  Sinn  Molieie's  zu  seinem  grossen  Vorteil,  wenn  man 
andre  ähnliche  AYerke  herbeizieht,  so  z.  B.  Macchiavelli's  ]\Ian- 
dragola,  den  Boccaccio  und  Ariosto,  wie  le  manage  de  Figaro, 
und  was  für  uns  Deutsche  am  meisten  Gewicht  in  die  Wag- 
schale legt,  Troilus  und  Cressida  von  Shakspeare.  In  Vergleich 
mit  diesen  erscheint  Moliere's  reine,  ganz  objective  Darstellung 
im  glänzendsten  Lichte.  Er  hat  sogar  streng  gemieden,  dem 
Clitandre  irgend  etwas  Geistreiches  und  Witziges  in  den  Mund 
zu  legen,  wodurch  man  öfter  in  England  für  Ehebrecher  zu 
interessiren  gesucht  hat.  Nirgends  ist  die  Heiligkeit  der  Ehe 
durch  witzi«e  Ansriffe  verhöhnt.  Xur  die  Thorheit  und  der 
Hochmut  Dandin's  erhalten  ihre  natürliche  Strafe.  Es  ist  kein 
Zweifel,  dass  Moliere's  eignes  Unglück  in  der  Ehe  ihn  zu  der 
Bearbeitung  dieses  Stoffes  getrieben,  dass  er,  ganz  wie  im  Mi- 
santhrope,  auf  diese  Weise  sich  über  seinen  tiefen  Schmerz  zu 
erheben  versuchte;  denn  nicht  genug,  dass  man  für  Dandin's 
Frau  sich  gar  nicht  interessirt,  dies  ganze  Verhältniss  ist  so 
vom  Dichter  dargestellt,  dass  man  gradezu  für  den  Dandin 
Partei  ergreift  und  ihn  von  Herzen  bedauert. 

Also  weit  entfernt  davon,  dass  Moliere  in  diesen  beiden 
Stücken  sich  als  einen  befangenen  Höfling  gezeigt  hätte,  erkemit 
man  grade  aus  ihnen,  dass  er  den  Zustand  seiner  Zeit  mit  einem 
freien,  offenen  Blick  betrachtete,  dass  er  ebenso  wenig  oder  viel- 
mehr noch  weniger  die  Fehler  der  Hof  leute  als  die  des  Bürgers 
verdeckte.  Anstatt  also  zu  zeigen,  welche  Kluft  sein  Talent 
von  Shakspeare's  Genie  trenne,  legen  sie  von  seiner  Unabhän- 
gigkeit das  glänzendste  Zeugniss  ab,  besonders  der  Misanthrope, 
indem  er  sein  eignes  Innere  mit  einer  sonst  von  Keinem  er- 
reichten Objectivität  darlegte,  so  dass  er  in  den  Stunden  poeti- 
schen Schafl^ns  derselben  Freiheit  und  Klarheit  in  Beziehung 
auf  sein  eignes  Innere  sich  erfreut  haben  muss,  wie  gegen  die 
Aussenwelt.  Moliere  zeigt  sich  hier  und  besonders  im  Misan- 
thrope als  einen  Humoristen,  mit  dem  sich  selbst  Shakspeare 
nicht  messen  kann.  In  dem  Alceste  schilderte  er  sich  selbst 
auf  eine  so  objective  Weise,  dass  es  unsern  Kritikern,  ausser 
Goethe,  gar  nicht  einfiel,  er  habe  sich  selber  geschildert,  so  dass 
sie  ihn  gegen  seine  eigne  Darstellung  verteidigten.  Sonst  legt 
nocii  der  bourgeois  gentilhomme  ein  Zeugniss  von  seinem  Humor 


Standpunkt    seiner  Zeit.  115 

ab.  Es  wundert  mich,  dass  selbst  Herr  Zeising  gar  keine  Ah- 
nung hiervon  geliabt  hat,  da  doch  der  INIisanthrope  ganz  seinem 
melancholischen  (S.  457),  der  bourgeois  seinem  barocken  Humor 
entspricht  (S.  451).  Man  vergleiche  seine  ganze  Darstellung 
des  Humors  in  seinen  ausofezeiclmeten  ästhetischen  Forschungen. 
Bei  einem  Franzosen  konnte  man  freilich  keinen  Humor  ver- 
nmten. 

Dieselbe  Kammerdienermoral,  dieselbe  höfische  Bildung  Avill 
Herr  von  EichendorfF  an  den  femmes  savantes  entdecken,  ob- 
gleich grade  das  Gegenteil  darin  liegt.  Da  wir  aber  nicht 
für  Quintaner  schreiben,  so  möge  uns  erlaubt  sein,  uns  nicht 
weiter  hierauf  einzulassen.  Andern  möchte  die  Sache  langweilig 
werden.  Damit  man  jedoch  erkenne ,  dass  er  so  ziemlich  wohl 
der  einzige  Anhänger  dieser  natürlich  Schlegel'schen  Ansicht 
ist,  rathen  wir  nur,  Herrn  Kreyssig  darüber  zu  lesen,  oder 
was  Herr  Laun  in  Herrig's  Archiv  darüber  geäussert. 

Auf  jener  falschen  Ansicht  des  Herrn  Kreyssig  über  Mo- 
liere's  Standpunkt  beruht  auch,  dass  es  eine  Folge  jener  ober- 
flächlichen sociabilite  francaise  sein  soll,  wenn  Moliere  das  Lä- 
cherliche nicht  in  der  Eitelkeit  an  sich,  sondern  in  der  Eitelkeit 
verbunden  mit  Pedanterie  finde,  und  dies  habe  Moliere  in  der 
ecole  des  maris  und  des  femmes  darstellen  wollen.  Ich  muss 
gestehen,  dass  ich,  obgleich  ich  diese  Stücke  manchmal  gelesen, 
nicht  scharfsichtig  genug  gewesen  bin,  um  die  geringste  Spur 
von  Eitelkeit  in  ihnen  zu  entdecken,  Pedanterie  ebenso  wenig; 
oder  man  müsste  sich  die  Eifersucht  als  eine  solche  deuten. 
Damit  verschwindet  also  auch  die  beschränkte  Weltansicht,  die 
sich  darin  zeigen  soll.  Wenn  es  sich  übrigens  mit  dem  Grund- 
satz ,  den  Herr  Kreyssig  hier  ausgesprochen ,  richtig  ver- 
hielte, so  würde  er  eher  daraus  schliessen  können,  dass  das 
Talent  Shakspeare's  durch  eine  weite  Kluft  von  Moliere's  Genie 
getrennt  sei;  denn  die  eiteln  Leute  in  Shakspeare's  Komödien 
sind,  so  weit  sie  mir  jetzt  gegenwärtig  sind,  alle  Pedanten ;  ich 
erinnere  nur  an  den  Malvolio ,  an  die  karrikirten  Figuren  von 
love's  labour's  lost.  Wenn  wir  also  Heri-n  Kreyssig  beim 
Wort  nehmen  wollten,  so  müssten  wir  annehmen,  er  werde  jetzt 
Moliere  über  Shakspeare  stellen.  Wir  sind  aber  nicht  so  grau- 
sam, da  wir  einerseits  erkennen,    dass    jene  Ansicht    nur  Mittel 


1 1 G  M  0 1  i  e  r  «   und   d  e  r  c  o  n  v  e  n  t  i  o  n  e  1 1  e 

zum  Zweck  gewesen,  und  daher  nicht  mehr  stichhaltig  sein  wird, 
sobaki  sie  Moliere  zum  Vorteil,  Shakspearc  zum  Nachteil  ge- 
reicht, andrerseits  selber  sie  nur  als  eine  Grille  betrachten  kön- 
nen. Es  dih^ftc  nämlich  nach  Herrn  Kreyssig's  Ansicht  kein 
KcMuikcr  mehr  einen  eiteln  Pedanten  darstellen ,  ohne  in  den 
V^erruf  zu  kommen ,  als  ob  er  in  den  uns  Deutschen  so  ober- 
Hächlich  erscheinenden  servilen,  höfischen  Grundsätzen  eines 
Franzosen  befimgen  Aväre.  Wie  sehr  Moliere  die  Hofleute  ver- 
hasst  waren,  zeigt  sich  besonders  noch  im  bourgeois  gentil- 
hommc.  Durch  den  eitlen  Glanz  derselben  verblendet,  sucht 
ein  sonst  ehrenhafter,  aber  nicht  grade  sehr  kluger  Bürger,  den 
Kdelmann  zu  spielen.  Das  benutzt  ein  Höfling,  um  ihn  imi 
sein  Geld  zu  prellen.  Auch  hier  .intcressirt  maii  sich  für  den 
Bürger,  obgleich  man  oft  über  ihn  lachen  muss.  Der  Höfling 
hingegen  hat  keine  einzige  Eigenschaft,  durch  die  er  unser 
Interesse  in  Anspruch  nehmen  könnte,  Aveder  Witz,  noch  List 
und  Schlaulicit,  ganz  wie  der  im  George  Dandin;  und  das  sind 
doch  die  Eigenschaften,  die  uns  in  andern  Werken,  so  im 
Heineke  Fuchs  zum  Beispiel  für  den  Betrüger  einnehmen.  Es 
scheint  demnach,  als  ob  es  mit  JNIoliere's  sogenannter  Kammer- 
dienernioral  gar  nicht  so  schlimm  aussähe ,  dass  es  aber  der 
Moi'al  seiner  Kritiker  nicht  schaden  könnte,  wenn  sie  die  be- 
kannten lettres  provinciales  von  Pascal  zur  Hand  nähmen,  oder 
sich  bescheiden  lernten,  wenigstens  nicht  über  Sachen  zu  ur- 
teilen ,  die  sie  nicht  verstehen ,  und  ihren  eignen  Mangel  an 
Einsicht  einem  Dichter  nicht  als  moralischen  Fehler  anzurechnen. 
Wer  einen  Dichter,  als  solchen  beurteilen  will,  sollte  erst  ge- 
wissenhaft ihn  zu  verstehen  suchen,  noch  mehr,  wenn  er  zugleich 
mit  dem  Dichter  den  Menschen  verdammt.  Wie  eine  solche 
Ilandlungeart  zu  beurteilen,  und  welche  Gesinnung  ihr  zu 
Grunde  liege,  hat  Lessing  in  Beziehung  auf  die  Verleumder 
des  Horaz  genügend  ausgesprochen.  Sein  Vade  mecum  für  den 
Herrn  Pastor  Lange  verdient  noch  jetzt  von  unsern  Kritikern 
beherzigt  zu  werden. 

Nachdem  ^y'n'  den  einen  Teil  der  Frage  erörtert,  ob  Moliere 
die  Welt  vom  höfischen  Standpunkt  aus  betrachtet,  kommen  wir 
auf  die  andre  Seite,  ob  er  seine  Motive  aus  der  allgemeinen 
ewägen  Menschennatur    genommen,    ob    er    die  Gesellschaft    ge- 


S  taii(l))unk  I    soinor    Zeit.  117 

zeichnet,  .^o  dass  sie  sich  immer  in  ihm  wieder  erkennen  wird, 
oder  ol)  er  nur  eine  vergün<i;liciie  Seite  derselben  geschildert, 
wie  sie  sich  d.unals  gestaltet.  Auch  auf  diesem  Punkte  basirt 
die  Beschuldi<iung  der  Herren  \ou  Eichendorff  und  Schlegel, 
dass  seine  Stücke  veraltet  seien.  Herr  Kreyssig  räumt  den 
Vordersatz  ein,  ohne  jedoch  die  daraus  notwendig  fliessende 
Folgerung  anerkennen  zu  wollen;  wenigstens  scheint  CvS  mir  so; 
deutlich  hat  er  sich  nicht  darüber  ausgesprochen.  Vielleicht  hat 
er  selber  nicht  recht  eingesehen,  wie  viel  es  zu  bedeuten  hatte, 
wenn  er  in  Moliere  nur  ein  Bild  der  „Gesellschaft"  fand. 
Ebenso  steht  es  vielleicht  mit  Herrn  Laun.  Schlegel  sagt, 
(yharaktörzeichnung  und  Anlage  des  Plans  seien  auf  Sitten 
Eines  Zeitalters  gebaut,  seine  Stücke  in  Ton  und  Sitten  veraltet, 
zu  seinen  Porträten  die  Urbilder  verschwunden.  Da  er  keine 
Gründe  angibt,  könnte  ich  einfach  erwidern,  dass  ich  in  meinem 
zwölften  Jahre  den  ganzen  Moliere  durchgelesen,  und  mich 
nichts  Derartiges  im  Genuss  störte,  obgleich  ich  doch  Nichts 
von  der  alten  Sprache  und  von  den  Sitten  der  damaligen  Zeit 
kannte,  luid  ausserdem  die  verschiedene  Nationalität  den  Ein- 
druck hätte  schwächen  können.  Das  scheint  jener  Behauptung 
sehr  zu  widersprechen.  Da  wir  es  aber  in  der  Kritik  nicht 
mit  Privateindrücken  zu  thvtn  haben,  mancher  mutwillige  Kritikei' 
mir  vielleicht  auch  keinen  Glauben  schenken  möchte,  so  wollen 
Avir  weder  hierauf,  noch  auf  den  schon  im  Anfang  angeführten 
Ausspruch  Goethe's  (Bd.  33  S.   lOü)  weiteres  Gewicht  legen. 

Einzelne  Ausdrücke  und  Wendimgen  in  Moliere's  Sprache 
sind  wii-klich  veraltet ,  sie  verhindern  al>er  nicht  das  Verständ- 
niss  für  den,  der  das  jetzige  Französich  versteht;  auch  sind 
deren  weit  \\'oniger  als  bei  Shakspeare.  Kann  man  aber  das 
dem  Schriftsteller  als  Fehler  anrechnen?  Ist  doch  die  Sprache 
des  Sophokles  und  Virgil  ausgestorben;  sind  sie  deshalb  weni- 
ger gross  in  sprachlicher  Beziehung?  Es  wäre  nach  Schlegel's 
Ansicht,  conscquent  durchgeführt,  nur  der  ein  grosser  Dichter, 
der  in  einer  Sprache  geschrieben ,  die  nie  veraltete ,  und  von 
allen  Nationen  in  allen  Zeiten  verstanden  winde.  Es  könnte 
daher  wohl  von  grossen  Musikern  imd  Malern ,  aber  nicht  von 
grossen  Dichtern  die  Rede  sein.  Grade  wahrhaft  volksmässigc 
Dichter  nehmen    ni:inchen    Ausdruck,   ni;uicho  ^W-nduno"  au*   dem 


118  Mo  Höre    und   der   ton  veiitio  nelle 

Volke,  mu]  das  gibt  ihnen  ein  frisches  Aussehen,  so  pflegt  man 
Tjü  Fontaine,  der  darin  noch  viel  weiter  gegangen  als  Moliere, 
deshalb  zu  rühmen;  und  wenn  unsre  Kritiker  Gefallen  daran 
gefunden  haben,  Racine  u.  A.  zu  tadeln,  weil  sie,  wie  es  heisst, 
sich  eine  eigne  hofmässige  Sprache  gebildet;  wenn  sie  sich  weit 
erhaben  fühlen  über  den  Franzosen,  der  seine  Sprache,  wie  sie 
meinen,  durch  die  Akademie  habe  knechten  lassen,  so  kann 
man  es  keineswegs  als  consequent  loben,  wenn  dieselben  Kritiker 
einen  Dichter,  der  am  meisten  aus  der  Quelle  schöpfte,  als  ver- 
altet tadeln.  Racine  und  Andre  Averden  getadelt,  weil  sie  hof- 
mässio;  greschrieben ,  Moliere  wird  getadelt,  weil  er  nicht  mit 
den  Regeln  der  jetzigen  Grammatik  übereinstimmt,  da  man  doch 
diesen  Regeln  vorwirft,  dass  sie  die  Sprache  hofmässig  schulen. 
Man  muss  des  Dichters  Sprache  vom  Standpunkt  seiner  Zeit 
beurteilen,  und  da  erinnere  ich  an  seine  Kritik  jener  gezierten 
bombastischen ,  aus  Spanien  und  Italien  herübergekommenen 
Conversation  in  den  precieuses  ridicules ,  soAvie  an  die  femmes 
savantes,  wo  er  jenen  feinen  höfischen  Sprachreinigern,  die  man 
in  Deutschland  sonst  lächerlich  macht,  offen  entgegentritt,  des- 
gleichen an  die  Scene  mit  dem  Sonett  im  Misanthrope.  Er  op- 
ponirte  stets  gegen  alle  Gesuchtheit  und  Ziererei ,  Avährend 
Shakspeare  nicht  selten  die  einfachsten,  alles  Inhalts  haaren 
Gedanken  auf  eine  selbst  Engländern  unverständliche  Weise 
ausdrückt,  und  das  sogar  da,  wo  er  noch  jetzt  gebräuchlicher 
Wörter  und  Wendungen  sich  bedient.  Moliere's  einfache,  volks- 
mässige  Natürlichkeit  hat,  wie  die  Sprache  Goethe's,  darin 
einen  grossen  Vorzug  vor  der  des  freien  Britten,  sowie  vor  dem 
des  freien  Spaniers  Calderon,  diesen  so  gepriesenen  Vertretern 
der  Unabhängigkeit  ihres  Volkes.  Uebrigens  ist  noch  zu  be- 
merken, dass  Schlegel  II.  245  das  Lob,  das  man  in  Frankreich 
Moliere's  Sprache  spende,  zurückweist,  Aveil  sie  in  einem  Schau- 
spiel nur  ein  untergeordnetes  Erforderniss  sei ;  er  tadelt  es  also 
als  ein  Kleben  der  Franzosen  an  Kleinigkeiten;  hier  macht  er 
sich  desselben  Fehlers  schuldig.  Vorher  sagt  er,  das  Urteil 
hierüber  müsse  er  einheimischen  Kennern  überlassen,  hier  er- 
kühnt er  sich,  im  Widerspruch  mit  der  Wahrheit  und  jenen 
Kennern,  Moliere's  Sprache  zu  verdammen. 

Dass  Moliere  ferner  die  Sitten   seiner  Zeit    schildert,    kann 


Standpunkt    .«einer    Zeit.  119 

man  ihm  nicht  übehiehmcn,  denn  die  jetzigen  konnte  er  wohl 
nicht  schildern,  ebenso  wenig  wie  Aristophanes  und  die  spani- 
schen Dramatiker,  denen  Schlegel  denselben  Vorwurf  in  weit 
höherm  Maasse  hätte  machen  müssen.  Solger  hat  das  wohl 
eingesehen  und  grade  das  -  Gegentheil  als  Princip  aufgestellt, 
mn  jene  zu  verteidigen,  und  zwar  mit  I\echt;  nur  drängen  im 
Spanischen  die  Sitten  die  allgemeine  menschliche  Natur  oft  in 
den  Hintergrund,  während  sie  selbst  nur  der  Plintergrund  sein 
müssen ,  auf  dem  diese  hervortritt.  Bei  den  Spaniern  haben 
wir  nur  ein  Bild  der  Sitten  und  mit  diesen  veraltet  auch  das 
Bild:  Moliere  gibt  uns  nicht  dies  äusserlich  durch  KationaHtät 
und  Zeit  an  den  Menschen  Angeklebte,  sondern  die  allgemeine 
menschliche  Natur,  wie  sie  sich  in  dieser  Hülle  bewegt;  er 
zeichnet  Charaktere. 

Aber  grade  diese  Charaktere  sollen  wieder  veraltet  sein, 
Aveil  sie  nur  aus  dem  damalioen  Leben  aufaeoriffen  sind.  Woher 
soll  denn  ein  Dichter  seine  Motive  nehmen?  Racine  und  Andre 
fädelt  man,  weil  sie  mit  Vorliebe  Römer  geschildert.  Wahr- 
scheinlich hätte  also  Moliere,  wie  unsre  Philosophen,  apriorisch 
verfahren  und  aus  seinem  eignen  Gehirn  eine  neue  Welt  fabri- 
ciren  sollen,  die  damals  nicht  existirte;  und  wenn  diese  aprio- 
rische Welt  nicht  mit  der  im  Gehirn  unsrer  Aesthetiker  ausge- 
breiteten übereinstimmte,  so  Avürde  er  auch  dann  vor, ihnen  nicht 
Gnade  ojefunden  haben.  Jede  Dichtung,  die  wahre  Lebenskraft 
enthalten  soll,  muss  in  der  Zeit  und  in  der  Nationalität  des 
Dichters  wurzeln,  weil  er  selbst  darin  lebt,  wirkt,  und  nur  sie 
aus  eigner  Anschauung  kennt,  nur  das,  was  sie  erfüllt,  selbst 
durchleben  kann.  Daher  ist  es  natürlich ,  dass  auch  Moliere, 
ganz  wie  Goethe,  seine  Stoffe  meist  aus  der  Gegenwart  und  der 
eignen  Erfahrung  nahm.  Im  Grunde  haben  das  alle  grossen 
Dichter  getan,  von  Homer  an  bis  jetzt;  Corneille  nicht  weniger 
als  Moliere.  selbst  da,  avo  er  Römer  schildert;  Racine  ebenso 
gut  wie  Calderon  und  Shakspeare,  wenn  auch  unsre  Kritiker 
beteuern,  die  Römer  des  letztern  seien  wirklich  die  alten  und 
Hamlet  sei  sogar  eine  Ahnung  des  jetzigen  Deutschlands.  — 
Wenn  der  Dichter  nur  nicht  die  Mängel  seiner  Nation  als  Ge- 
setz hinstellt,  wie  es  die  von  den  Tadlern  Moliere's,  den  Herren 
Schlegel,  Eichendorff,  Schack  so  gepriesenen  Spanier,  und  bo 


!  :'n  i\I()lier(!    und    (Kt    com  venlio  u  eile 

s(jn(lers  C'ak'ieron,  auf  eine  für  jeden  gesunden  Sinn  (iniusen 
(UTCgende  Weise  getan  haben ;  so  kann  man  ihm  nicht  einen 
Vorwurf  daraus  machen ,  dass  er  sich  in  seinen  Charakteren  an 
seine  Zeit  und  Nation  lehnt.  Stellt  er  diese  Mängel  mit  freiem 
Geist,  vom  allgemein  menschlichen  Standpunkt  aus  dar,  wie  es 
Cervantes  mit  der  phantastischen  Richtung  des  spanischen  Gei- 
stes getan,  so  werden  seine  Charaktere  nicht  veralten.  Ver- 
schiedene Zeiten  offenbaren  freilich  verschiedene  Seiten  der 
ujcnschlichen  Natur,  bald  herrschen  diese,  bald  jene  Fehler, 
aber  da  sie  alle  nur  verschiedene  Ausartungen,  Abweichungen 
der  Einen  allgemein  menschlichen  Natur  sind,  so  werden  sie 
jedenfalls  stets  vorständlich  bleiben,  einerlei,  welchen  Eindruck 
sie  auf  uns  machen  mögen,  sei  es  mm  den  der  Liebe,  oder  den 
der  Verachtung  oder  des  Grauens;  denn  grade  das  Gefühl,  das 
sie  in  uns  wecken ,  können  sie  nur  wecken  durch  ihr  inneres 
Wesen :  und  dass  w^ir  uns  von  diesem  Wesen  angezogen  oder 
abgestossen  fühlen,  ist  der  deutlichste  Beweis,  dass  wir  sie  zu 
beurteilen  wissen,  dass  sie  uns  verständlich  sind ;  so  können 
z.  B.  die  Andacht  zum  Kreuz  und  der  Arzt  seiner  Ehre  von 
Calderon,  jenes  einen  Katholiken,  dieses  einen  unruhigen,  mehr 
mit  Phantasie  als  mit  Verstand  begabten  Menschen  entzücken,' 
in  einem  Protestanten  und  besonnenen  Gemüt  Grauen  erregen; 
von  beiden  werden  sie  verstanden,  nur  von  jedem  in  seiner 
AVeise.  Der  ^ahre  Komil^er,  der  von  vorn  herein  einen  von 
<len  Fehlern,  die  er  darstellt,  freien  Standpunkt  inne  hat  (denn 
sonst  könnte  er  sie  nicht  komisch  behandeln),  wird  also  da- 
durch nicht  unverständlich,  dass  die  Fehler,  die  er  darstellt, 
seiner  Zeit  ynd  Nation  besonders  angehören.  Die  von  der  Kri- 
tik getadelten  Advocaten ,  Philosophen ,  Aerzte  und  Bedienten 
Moliere's  können  also  nicht  bloss  deshalb  veraltet,  d.  h.  mis 
unverständlich  geworden  sein,  weil  sie  jetzt  vielleicht  nicht  mehr 
so  existiren.  Wenn  Moliere  in  ihnen  nicht  bloss  die  Bedienten- 
livree, die_  Aeusscrlichkeiten  der  Advocaten  und  andre  Stände 
seiner  Zeit  geschildert  hat,  sondern  wirklich  ihre  Charaktere, 
nicht  bloss  ihre  äussern  Manieren,  sondern  das  Wesen,  das 
ihren)  Benehn)en  zu  Grunde  lag,  so  hat  er  nur  eine  besondere 
Alodification  der  allgemeinen  Menschennatur  geschildert;  und 
wenn   er  das   'Ani'  eine    wahrhait   koiiiisciie   Weise    getan  hat,    i-(^ 


St:in(l|>un  kl    .•^ciiht   Zeit.  121 

wenloii  sie  noch  jetzt  den  koinisjcheu  Kindnick  nicht  veHchlen. 
Anstatt  zu  beliauptcn,  sie  seien  venütet,  avcü  aus  dein  dainaliii;en 
Leben  gegriften,  hätte  also  die  Kritik  zeigen  müssen,  dass  Mö- 
llere nur  das  Aeusserliciic  des  Lebens,  nicht  das  Innere,  die 
Charaktere  geschildert  hat.  Die  Advocaten,  J*hilos(H)hen,  Aerzte, 
IJediente  etc.  nK)gcn  wohl  nicht  mehr  überall  so  zu  finden  sein, 
w  ie  jMoliere  sie  uns  vorführt ;  und  m  enu  der  Stand  dieser  Leute 
:!.llein  Gegenstand  seiner  Komik  gewesen,  so  wären  sie  vielleicht 
veraltet ;  aber  es  waren  ihre  Eigenschaften ,  die  er  komisch 
darstellte;  und  diese  sind  auch  jetzt  noch  da;  sind  sie  nicht 
mehr  als  Advocaten,  Aerzte  und  Philosophen  vorhanden,  so 
liaben  sie  sich  nur  eine  andre  Wohnung  ausgesucht,  sie  er- 
scheinen in  andrer  Kleidung,  sonst  sind  sie  dieselben  geblieben; 
die  Philosophen  Aloliere's  sehen  gar  manchen  unsrer  Philosophen 
und  Kritiker  noch  zum  Erschrecken  ähnlich.  Jene  räsonniren 
in's  Blaue  hinein,  reden  in  ihren  terminis  technicis  und  sjirechen 
dein  gesunden  Menschenverstand  Hohn.  Ebenso  Avenig  wie  jene 
kümmern  sich  manche  unsrer  Philosophen  um  die  wirkliche 
Welt :  sie  construiren  sich  eine  Welt  für  sich,  wie  sie  behaupten 
a  priori,  ohne  alle  Voraussetzungen,  während  sie  in  der  That 
von  beschränkten  Ansichten  ausgehen,  und  niemals  ihre  Vor- 
r.rteile  verleugnen.  Ebenso  unsre  Kritiker,  besonders  diejenigen, 
die  Meliere  tadeln;  sie  construiren  sich  eine  Aestlietik  a  priori, 
(1.  h.  in  der  Kritik  von  Shakspeare's  FalstafF  aus,  ohne  irgend- 
wie auf  Möllere  Rücksicht  zu  nehmen ;  und  wo  dieser  daher 
<las  Unglück  hat,  von  Shakspeare  abzuweichen,  wird  er  ohne 
Gnade  verurteilt:  weiterhin  construiren  sie  sich  einen  voll- 
kommenen Shakspeare  a  priori,  und  anstatt,  wie  Ger- 
vinus  sagt,  dem  Speererschütterer  seine  Küstung  abzuneh- 
nien,  legen  sie  ihm  eine  neue  an,  eine  ganz  philoso})hiscli  ge- 
bildete, so  dass  es  dem  armen  Shakspeare  oft  selbst  schwer 
werden  möchte,  sich  in  diesem  Anzüge  wieder  zu  erkennen. 
Jene  Philosophen  Moliere's,  die  auf  eine  ergötzliche  Weise  die 
Selbstüberhebung  der  Wissenschaft  personificiren,  sind  also  noch 
gar  nicht  ausgestorben,  und  grade  unsre  Kritiker,  die  Molierc 
jenen  Vorwurf  machen .  sind  der  lebendige  BcAveis ,  dass  die 
Philosophen  und  Aerzte  Moliere's  nie  aussterben  werden.  Ganz 
wie    sie   haben    die  Aerzte    Moliere's    sich    ein    System    l)creitet, 


122  Moliöre   und   der  con  v  entionelle 

wonach  sie  Alles  behandeln ;  kann  der  Kranke  nicht  danach  ge- 
nesen,  stirbt  er  gar  dadurch  eines  gewaltsamen  Todes,  nun,  so 
war  Nichts  an  ihm  verloren,  die  Würde  der  Wissenschaft  ist 
aber  aufrecht  erhalten  worden;  es  ist  besser  für  einen  Men- 
schen, dass  er  den  Gesetzen  der  Wissenschaft  gemäss  umkomme, 
als  dass  er  im  Widerspruch  mit  ihnen  sich  am  Leben  erhalte. 
Brüstet  sich  nicht  auch  in  Deutschland  mancher  Aesthetiker  mit 
einer  Unfehlbarkeit,  die  niemals  einem  Einzelnen  zu  Teil  wer- 
den kann ,  und  glaubt  sich  berechtigt  in  Folge  dessen ,  über 
Sachen  abzuui'teilen ,  um  die  er  sich  bloss  oberflächlich  geküm- 
mert; wagt  man  nicht,  einer  ganzen  grossen  Nation  alle  Phan- 
tasie abzusprechen,  sich  über  ihre  Sprache  und  ihre  Metrik 
lustig  zu  machen,  ohne  durch  einen  einzigen  Grund  für  diese 
Behauptungen  seine  Berechtigung  zu  einem  Urteil  darüber  nach- 
zuweisen, und  meist  wirklich  nur  aus  dem  Grunde,  Aveil  man 
die  besten  Sachen  nicht  gelesen  hat  und  die  Verse  selbst  nicht 
zu  lesen  versteht?  Dieselbe  Kritik  also,  die  behauptet,  jene 
Charaktere  seien  veraltet,  ist  ein  lebendiger  Beweis  dafür,  dass 
jene  von  Moliere  dargestellten  Fehler  nicht  aussterben  können, 
sondern  nur  in  etwas  veränderter  Gestalt  noch  jetzt  sich  breit 
machen.  Schaden  kann  also  jene  zeitliche  Hülle  der  allgemeinen 
Bedeutung  nicht,  wenn  nur  der  Dichter,  wie  Moliere  es  vor 
Allen  verstand ,  erstere  zu  einer  blossen  Hülle ,  durch  die  in 
jedem  Augenblick  das  Allgemeinmenschliche  hervorleuchtet,  zu 
verklären  vermag. 

Den  Gegenstand  seiner  Behandlung  aus  der  Gegenwart  zu 
entnehmen,  ist  aber  der  Dichter,  wie  wir  besonders  an  Goethe 
sehen,  nicht  bloss  durch  sein  Herz  getrieben,  sondern  weil  er 
nur  dies  Selbsterlebte  wirklich  sich  zu  Herzen  nehmen  kann, 
so  ist  er  auch  nur  fähig,  dies  in  seiner  vollen  Bedeutung  zu 
ergründen.  Man  denke  nur  an  Goethe's  Hauptwerke,  den  Götz 
und  Faust,  wie  an  Werther  und  Wilhelm  Meister,  desgleichen 
an  die  Iphigenie  und  Hermann  und  Dorothea.  Das  allgemeine 
Wesen  der  menschlichen  Natur  kann  er  daher  am  besten  grade 
in  der  individuellen  Form  darstellen,  die  er  selber  vorgefunden 
oder  selbst  erlebt  hat.  Wer  sich  dagegen  als  Dichter  ganz  von 
seiner  Nation  ablöst  und  eine  früher  dagewesene  Welt  oder  gar 
eine    phantastische    Märchenwelt    darzustellen    unternimmt,    der 


8  tan  (1  piink  f    seiner   Zeit.  123 

läult  (icfalir,  Menschon  zu  scluldern,  die  nie  existirt  haben  und 
auch  nie  existiren  Averden,  weil  sie  mit  der  all<^enieinen  niensch- 
Hchen  Xatur  im  ^^'iderspl•ueh  stehen.  Das  beste  Beispiel  hier- 
von liel'ern  die  dramatischen  Märchen  von  Platen.  Im  Schatz 
des  Khampsinit  z.  B.  heiratet  die  Königstochter  den  Dieb,  der 
des  Königs  Schatz  bestohlen.  Eine  solche  Handlungsweise,  die 
man  sich  in  einem  wirklichen  Kindermärc^hen ,  wo  man  der 
Phantasie  die  Zügel  schiessen  lässt,  wohl  gefallen  lassen  kann, 
muss  auf  den  Brettern,  welche  die  Welt  bedeuten,  wenn  der  Dichter 
sich  nicht  durch  komische  Behandlung  über  seinen  Gegenstand 
erhebt,  ganz  unnatürlich  erscheinen  und  den  Zuschauer  kalt  lassen. 
Die  dem  Shakspeare  nachgemachten  Vorspiele  in  diesen  Mär- 
chen sind  nun  sar  das  Frostiirste ,  was  man  sich  denken  kann. 
Das  deutsche  Volk  hat  daher  ganz  mit  Recht  diesen  Sachen 
keinen  Geschmack  abgewinnen  können.  Es  sind  Kunstwerke 
der  Zukunft,  die  nie  eine  ihnen  entsprechende  Gegenwart  finden 
werden.  Wenn  aber  Herr  von  Schack  diese  Stücke  wie 
]\Iustcr  für  unsre  Dichter  aufstellt,  während  er  die  französischen 
Stücke  als  elende  Machwerke  brandmarkt,  so  beweist  dies  nur, 
dass  seine  Vorliebe  für  die  phantastische  spanische  Katur  ihn 
gänzlich  unfähig  gemacht  hat,  Avahre  Komik  zu  geniessen.  — 
Geht  hingegen  der  Dichter  von  der  Gegenwart  und  dem  wirk- 
lich Nationalen  aus,  und  w^ejss  er  nur,  sich  über  den  einseitig 
nationalen  Standpunkt  zu  erheben,  so  dass  er  nicht  auch  die 
Schwächen  seiner  Nation  für  Tugenden  hält,  so  fällt  ihm  die 
allgemeine  Wahrheit  von  selbst  zu,  und  das  individuelle 
Leben,  das  diesen  aus  dem  Volksleben  hervorgewachsenen  Ge- 
stalten anklebt,  Avird  nur  dazu  dienen,  einerseits  jene  allgemeine 
Wahrheit  zu  erhöhen ,  andrerseits  dem  Zuschauer  den  Glauben 
einzuflössen,  als  habe  er  wirkliche  Gestalten  vor  sich.  Man 
denke  mu*  an  Kleist's  zerbrochenen  Krug.  Dass  jene  Charak- 
tere zu  Moliere's  Lebzeiten  wirklich  existirten  und  sich  auch 
im  gewöhnlichen  Leben  durch  Würde  in  der  Tracht  und  im 
ganzen  Benehmen  von  Andern  zu  unterscheiden  suchten,  das 
musste  das  Ergötzliche  dieser  Figuren  für  das  damalige  Publi- 
cum  bedeutend  erhöhen.  Da  aber  Moliere  sie  nicht  bloss 
äusserlich  copirte,  sondern  sie  zwang,  in  seinen  Komödien  ihr 
Inneres  in  jedem  Gedanken  und  jeder  Handlimg  noch   weit  voll- 


124  Miiliei-e   und  der  conveiiti  oiiclle 

ständiger  und  dazu  rbiner  komisch  darzulegen,  als  dies  im  ge- 
wöhnlichen Leben  zu  geschehen  pflegt,  so  braucht  man  sie  auch 
jetzt  gar  nicht  vorher  als  wirklich  gekannt  zu  haben,  uin  an 
ihrem  Bild  bei  Moliere  sich  zu  ergötzen.  Ein  wahres  Kunst- 
werk bedarf  wohl  eines  lebendigen  Volkslebens,  das  ihm  zur 
Basis  diene,  um  entstehen  zu  können,  und  grade  darum  musste 
Moliere  seiner  eigenen  Zeit  den  Spiegel  vorhalten,  wie  ja  auch 
Hamlet  zu  den  Schauspielern  sagt ;  aber  anstatt  von  demjenigen, 
der  es  gemessen  will,  zu  verlangen,  dass  ihm  die  Nation  und 
Zeit  des  Dichters  bekannt  seien,  gibt  es  selbst  ein  viel  reineres 
Bild  davon ,  Avie  es  der  Geist  eines  Dichters  auffasst ,  als  man 
sonst  durch  jahrelange  wirkliche  Anschauung  hätte  gewinnen 
können. 

Wh  glauben,  hiermit  gezeigt  zu  haben,  dass  jene  aus  dem 
damaligen  Leben  aufgegriffenen  Motive  nicht  veraltet  sind  und 
nicht  veralten  werden,  und  bemerken  schliesslich,  auf  das  zurück- 
kommend, wovon  wir  ausgingen,  dass  eine  solche  Behandlung 
zeitgemässer  StoflTe  nur  dadurch  eben  Moliere  möglich  war,  dass 
er  sich  über  jene  Vorurteile  und  Einseitigkeiten  seiner  Zeit  er- 
hoben, und  nicht  von  dem  conventioneilen  Standpunkt,  den  ihm 
seine  Kritiker  vorwerfen,  sondern  von  dem  rein  menschlichen 
Standpunkt  aus  die  Schwächen  seiner  Nation,  seiner  Zeit,  wie 
seine  eigenen,  dargestellt  hat.  Er  hat  die  allgemeine  CAvige 
Natur  abgesjDiegelt  in  der  Form,  die  ihm  sein  Jahrhundert  an 
die  Hand  aab. 


b.     In    künstlerischer    B e z i e h u n g. 

^  Indem  wir  Moliere  in  seinem  Verhäitniss  zu  ilen  moraii- 
jr^chen  Ansichten  seiner  Zeit  betrachteten,  ob  er  die  Welt  von 
dem  höfischen  Standpunkt  aus  dargestellt  oder  statt  der  Welt 
uns  in  seinen  Komödien  nur  einen  Spiegel  des  Hofes  oder  der 
damahgen  Gesellschaft  vorgehalten ,  haben  wir  uns  auch  schon 
etwas  aul'  seinen  Standpunkt  in  intellcctueller  Hinsicht  einlassen 


Standpunkt    seiner    Zeit.  125 

ii\üsseii ,  da  sirli  das  Moralische  und  Intcllcctuclle  unwillkürlich 
vermischt  und  Freiheit  von  moralischen  Vorurteilen  auch  eine 
grosse  Entwickcluno-  der  Intelliirenz  voraussetzt.  Im  Foly-enden 
jedoch  Averden  wir  uns  bloss  auf  das  Intellcctuelle  einlassen, 
indem  wir  jetzt  einen  andern  Vorwurf  zu  beseitigen  suchen 
müssen,  welcher  mit  allen  vorhergehenden  dasselbe  Ziel  gemein 
hat,  ihm  den  ursprünglichen  Trieb  zur  l*oesie,  das  Genie  strei- 
tig zu  machen,  diesmal  aber  nicht  von  Plagiat  moralischer  Be- 
fangenheit ausgeht,  sondern  davon,  dass  Moliere  in  den  künst- 
lerischen Vorurteilen  seiner  Zeit  befangen  gewesen  und  bloss, 
um  auch  unter  den  grossen  Dichtern  mitgerechnet  zu  werden, 
tun  correcten  Ruhm  zu  erlangen,  seine  feinern  Charakterkomödien 
gedichtet  haben  soll.  Der  letzte  Grund  nämlich,  durch  den 
Schlegel  Moliere's  Ansprüche  auf  Genialität  zurückzuweisen 
sucht,  ist,  dass  er  nicht  aus  wirklichem  innern  Antriebe  seine 
Charakterkomödien  gedichtet  habe,  sondern  aus  blossem  Ehr- 
geiz. Herr  von  Eichendorff  stimmt  natürlich  auch  in  diesem 
Piuikte  mit  seinem  Lehrer  überein,  denn  darin,  dass  Moliere 
ohne  Erfindungsgabe  befohlene  oder  gestohlene  Stoffe  hofmässig 
zugerichtet  haben  soll,  liegt  jene  Beschuldigung  deutlich  ausge- 
sprochen. Da  das  Genie  seine  Werke  mit  innerer  Notwendig- 
keit aus  sich  selbst  hervortreibt,  nicht  durch  eine  blosse  Ope- 
ration des  Verstandes,  so  würde  man,  Avenn  jener  Aussprucii 
wahr  wäre,  Moliere's  Komödien  nicht  als  Werke  eines  schöpfe- 
rischen Genius  betrachten  können.  Natürlich  müssen  wir  nach 
der  nähern  Begründung  dieses  Satzes  uns  nicht  bei  Herrn  von 
Eichendorff  umsehen,  der  sich  bekanntlich  mit  solchen  Kleinig- 
keiten wenig  abgil^t.  Um  diet-e  zu  finden,  müssen  wir  auf  die 
Quelle  zurückgehen ,  aus  der  jener  Herr  seine  Behauptung  ge- 
schöpft hat.  In  der  Posse,  gesteht  Schlegel,  habe  Moliere  aus 
wirklich  innerm  Antriebe  Ausgezeichnetes  geleistet.  Gegen  die 
unerschöpfiiche  gute  Laune,  die  er  da  bewährt  (IL  230),  konnte 
selbst  ein  Schlegel  sich  nicht  wehren.  '  Er  denkt  also  nur  an 
das,  was  man  feinere  Charakterkomödie  genannt  hat. 

Der  erste  Grund,  den  er  anführt,  ist  indirect:  Moliere  habe 
nämlich  in  seinen  letzten  Jahren  lose  Possen,  Zeichen  von  Mangel 
an  künstlerischer  Keife ,  leichtsinnig  hingeworfen ,  da  er  doch 
wohl  Müsse  gehabt  hätte,  die  Nachwelt  zu  bedenken  (\l.  244-  45). 


r2ti  Moliere   und   der  conventionelle 

Wir  könnten  diesen  Umstand  einfach  daraus  erklären,  dass  er 
wirklich  im  Gegenteil  keine  Müsse  gehabt  hätte,  an  die  Nach- 
welt zu  denken,  dass  sein  Geschäft  als  Thfeaterdirector ,  sein 
Leben  am  Hofe  ihn  sehr  in  Anspruch  genommen ,  und  dass  er 
ausserdem  auch  schon  um  das  Bestehen  seiner  Truppe  willen 
verpflichtet  war,  Possen  zu  verfertigen.  Er  würde  also  die 
losen  Possen  aus  dem  Grunde  haben  schreiben  können,  wie  ja 
auch  Lope  de  Vega  Manches  hingeworfen,  und,  seinem  eignen 
Geständniss  zufolge,  alle  seine  Schauspiele  ohne  Rücksicht  auf 
die  Regeln  geschrieben  hat,  bloss  um  des  leidigen  Geldes  willen. 
Daraus  würde  dann  aber  noch  keineswegs  folgen,  dass  die  feiner 
ausgearbeiteten  Charakterstücke  bloss  mit  dem  Verstand  erdacht 
wären,  aus  blosser  Sucht  nach  Correctheit.  Bei  Lope  u.  A. 
würden  weder  Herr  Schlegel  noch  sein  Schüler  diese  Logik 
gelten  lassen,  sie  M'ürden  den  Dichter,  wo  möglich,  noch  desto 
mehr  bewundern,  weil  er  inmitten  aller  äusserlichen  Nötigungen 
so  viel  Kunstsinn  bewahrt  hätte,  und  daraus,  dass  er  1672,  ein 
Jahr  vor  seinem  Tode ,  noch  eine  solche  Charakterkomödie  ge- 
dichtet, die  femmes  savantes,  würden  sie  schliessen,  dass  er  bis 
an  seinen  Tod  jenen  Kunstsinn  bewahrt ;  das  wüi-den  sie  thun, 
man  verstehe  mich  wohl,  wenn  Moliere  ein  Engländer  oder 
Spanier  wäre;  sein  Franzosentum  muss  er  büssen.  Diese  Ant- 
wort allein  würde  schon  genügen.  Aber  Moliere  bedarf  der- 
selben nicht,  wenn  Aehnliches  auch  bei  Lope  der  Fall  sein 
sollte.  Um  von  diesen  losen  Possen  einen  freilich  sonst  schon 
unlogischen  Schluss  auf  die  Charakterkomödien  schliessen  zu 
können,  müsste  man  erst  zeigen,  dass  jene  Possen,  die  er  in 
den  letzten  Jahren  dichtete,  Avirklich  lose  gearbeitet  sind.  Das 
hat  Herr  Schlegel  leider  zu  beweisen  vergessen.  Hält  er  viel- 
leicht die  Posse  überhaupt  für  eine  lose  Arbeit?  Nach  seinen 
Ausdrücken  scheint  es  fast  so.  Das  müsste  aber  auch  doch 
erst  bewiesen  werden.  Daran  hat  Schlegel  ebenso  Avenig  ge- 
dacht. Im  Gegenteil  scheint  er  der  Posse,  weil  mehr  Phantasie 
darin  herrsche,  vor  der  Charakterkomödie  den  Vorzug  zu  geben 
(natürlich  an  andern  Stellen,  vmd  auch  bloss  um  den  Charakter- 
stücken Moliere's  als  solchen  ihren  Werth  zu  schmälern),  und 
er  gibt  zu,  dass  Moliere  im  Possenhaften  ausgezeichnet  ge- 
wesen,   dass    grade    darin    seine    vorzügliche.  Stärke   bestanden 


Standpunkt   seiner   Zeit.  127 

(IL  230— ;^3).  Üa  er  also  den  Possen  vorzüglichen  poetischen 
AVerth  zuspricht  und  gar  Moliere  in  dieser  Hinsicht  sehr  preist, 
so  bleibt  nur  noch  der  Ausweg  übrig,  dass  die  von  ihm  in  den 
letzten  Jahren  gedichteten  besonders  schlecht  wären;  und  auch 
dann  wäre  nur  gezeigt,  dass  JMolicre  in  diesen  keinen  Kunst- 
sinn an  den  Tag  gejegt  habe.  Von  der  einen  damals  geschrie- 
benen Charakterkomödie  Aväre  noch  Nichts  bewiesen,  und  die 
vielen  andern  wären  doch  alle  früher  geschrieben  Avorden.  Hat 
Herr  Schlegel  sich  nun  die  Mühe  gegeben,  zu  zeigen,  dass 
jene  Possen  schlecht  und  lose  hingeworfen  sind?  In  den  fünf 
letzten  Jahren  schrieb  Moliere  deren  vier ,  den  Pourceaugnac 
16G9,  bourgeois  1670,  Scapin  lüTl,  Malade  imaginaire  1673. 
Vor  dem  bourgeois  scheint  Schlegel  grossen  Respect  zu  be- 
sitzen. Er,  der  sich  sonst  nicht  sehr  vor  apodiktischen  Be- 
hauptungen scheut,  wagt  es  nur  in  Form  einer  Frage,  ihm  den 
miles  gloriosus  gleichzustellen.  Von  den  übrigen  hat  er  Nichts 
bewiesen,  nur  dem  Malade  imaginaire  gibt  er  im  Vorbeigehen 
einen  Hieb,  indem  er  sagt,  dass  Moliere  hier  die  ekeln  Zustände 
eines  eingebildeten  Kranken  geschildert.  Kr  scheint  zu  ver- 
gessen, dass  es  nicht  auf  das  AVas,  sondern  das  Wie  ankommt, 
dass  der  Gegenstand  des  Tartufe  noch  viel  widerwärtiger  ist 
und  grade  bei  solchen  Gegenständen  die  Kraft  eines  komischen 
Genies  sich  am  besten  offenbaren  kann.  Körperliche  Zustände 
eignen  sich  freilich  an  sich  gar  nicht  für  die  Poesie,  die  es  nur 
mit  dem  Geiste  zu  thun  hat,  und  sind  diese  Zustände  gar  noch 
krankhaft,  so  machen  sie  einen  widerwärtigen  Eindruck,  wie 
z.  B.  in  dem  vielgepriesenen  ,.Armen  Heinrich.''  Körperliche 
Kränklichkeit  hat  aber  gewöhnlich  geistige  Krankheit  zur  Folge, 
und  die  letztere  eignet  sich  sehr  gut  zu  einer  komischen  Be- 
handlunj;.  In  seiner  Aesthetik  sagt  Vischer  I.  340  und  11.168: 
Krankheit  müsse  geistig  behandelt  werden.  Ich  erinnere  nur 
an  den  PhUoktet  und  den  Wahnsinn  des  Lear  und  der  Ophelia. 
Shakspeare  hat  Schlegel  aus  dem  Stoff  keinen  Vorwurf  ge- 
macht. An  sich  durfte  also  Schlegel  Moliere  deshalb  nicht  tadeln. 
Er  musste  beweisen,  dass  Moliere  die  Krankheit  bloss  körperlieh 
aufgefasst  hat.  Er  schildert  aber  nie  bloss  äusserliche  Zustände, 
sondern  das  Innere  des  Menschen  kehrt  er  heraus,  und  so  auch 
hier.      Ausführlicher    hat    er    sich    nur    über   die    fourberies    de 


128  Molierc   und    der  c  onvi;  ntionelle 

Scapin  ausgesprochen,  die  er  in  der  Kürze  mit  dem  lateinischen 
Original ,  dem  Phormio  des  Terenz ,  zusammenstellt.  Wir  be- 
halten uns  vor,  später  eine  genaue  Vergleichung  beider  Stücke 
anzustellen.  Derselbe  Schlegel,  der  bei  Shakspeare- jede  Un- 
wahrscheinlichkeit,  selbst  in  ernstern  Werken,  zu  verdammen 
vermochte,  der  den  Franzosen  sonst  Mangel  an  Phantasie  vor- 
wirft, wo  es  gilt,  die  spanischen  Intriguenstücke  mit  ihren  Un- 
wahrscheinlichkeiten  zu  verteidigen,  legt  hier  an  eine  Posse  den 
Massstab  der  Wahrscheinlichkeit  an.  Wo  er  von  Aristophanes 
spricht,  meint  er,  die  komische  Handlung  dürfe  sogar  unzu- 
sammenhängend und  widersinnig  sein,  wenn  sie  nur  komisch 
wäre.  Die  tölpelhaften  Handwerker  im  Sommernachtstraum  und 
in  andern  Werken  Shakspeare's ,  die  doch  anspruchsvoller  auf- 
treten als  eine  bk)sse  Posse,  finden  seinen  vollen  Beifall,  und 
doch  wird  es  sicherlich  weder  in  der  wirklichen  Welt,  noch  in 
der  Literatur  irgendwo  so  ganz  erbärmliche  Tölpel  gegeben 
haben  und  jemals  geben  als  sie.  Mit  diesen  verglichen  sind  die 
beiden  Alten  im  Scapin  wahre  Genies.  Uebrigens  ist  keine 
einzige  Posse  Moliere's  so  lose  hingeworfen,  wie  die  Merry 
wives  von  Shakspeare,  in  denen  dreimal  hintereinander  dieselbe 
Handlung  wiederkehrt.  Bei  diesem  Stück  weiss  aber  Schlegel 
natürlich  des  Lobes  kein  Ende.  Ueber  den  Scapin  bemerken 
wir  nur  noch,  dass  Schlegel  meint,  seine  Streiche  machten  ihn 
unliebenswürdiger,  als  der  Phormio  des  Terenz  sei;  diesem 
sähe  man  es  gern  nach ,  weil  er  ein  Sclave  wäre ,  zu  Moliere's 
Zeiten  wären- aber  die  Bedienten  besser  gestellt  gewesen.  Hier 
bringt  derselbe  Kritiker,  der  dem  Moliere  vorwirft,  sich  zu,  sehr 
an  die  prosaische  Wirkhchkeit  gehalten  zu  haben,  diese  Wirk- 
lichkeit selber  in  das  Stück  hinein,  während  Moliere  sich  ab- 
sichthch  davon  entfernt  und  die  Scene  nach  Italien  verlegt  hat. 
Seine  in  den  wirklichen  Verhältnissen  der  damaliaen  Zeit  im 
socialen  Leben  sich  bewegenden  Stücke,  wie  der  bourgeois, 
haben  auch  Diener,  die  diesem  Leben  angemessen  sind.  In 
den  reinen  Phantasiestücken,  wie  z.  B.  auch  im  medicin  malgre 
lui,  gilt  nur  das  Pecht  des  Stärkern.  So  droht  im  Scapin  der 
Herr  seinem  Diener,  ihn  zu  tödten ,  so  dass  der  arme  Scapin 
da  gar  Nichts  vor  dem  Phormio  voraus  hat.  Man  muss  übri- 
gens gestehen,  dass  diese  Beweisführung  des  Herrn  v.  Schleo-el 


S  tun  dp  unkt    sointir    Zeit.  1'2'J 

sehr  sehlau  eingerichtet  war ;  denn  er  tadelt  die  Possen ,  sie 
vom  Standpunkt  der  feinern  ("liarakterkoniüdie  aus  als  lose 
Arbeiten  behandelnd,  und  zugleich  verdächtigte  er  die  Charakter- 
stücke selbst,  indem  er  aus  der  den  Possen  eigentiunlichen  freiem 
Haltiuig  den  Schluss  zog  auf  Mangel  an  Kunstsinn  im  Allge- 
meinen. Auf  einige  Widersprüche  und  logische  Sprünge 
kam  es  ihm  nicht  an.  Die  directen  (iründe,  die  er  anführt, 
sind  durch  dieselbe  Taktik  erfunden,  nur  die  Anwenduno"  ist 
umgekehrt.  Er  wendet  hier  nämlich  auf  die  Charakterkomödic 
den  jNIassstab  der  Posse,  der  freien  Lustigkeit  an  (II.  253 — 54). 
Daher  rührt  erstens  Klage  über  Einzelheiten,  correcten  Spass, 
gravitätisches  Lächeln.  Schlegel  hat  aber  kein  Beispiel  citirt 
und  ich  glaube,  selbst  Herrn  Schack  und  Eichendorff  möchte 
es  schwer  werden,  welche  aufzufinden.  Calderon,  der  Liebling 
dieser  beiden  Herren  und  Schlegel's,  hat  solche  Spässe  in  Fülle, 
man  sollte  ihm  eigentlich  dafür  dankbar  sein ,  denn  man  sieht 
es  ihnen  an,  dass  sie  ihm  Mühe  gemacht  haben.  Die  Witze 
Calderou's  findet  Schlegel  zierlich,  ein  sehr  zweideutiges  Lob 
für  einen  Witz,  wofür  man  oft  geziert  sagen  könnte.  Gesun- 
dere Witze  hat  wohl  noch  nie  Einer  gemacht  als  Moliere,  kernifr 
und  derb,  ohne  aber,  wie  Shakspeare,  den  xVnstand  zu  über- 
schreiten ;  obgleich  er,  wo  die  künstlerische  Absicht  es  mit  sich 
brachte,  die  Grenze  zu  berühren  sich  nicht  scheute.  Dazu  sind, 
seine  Witze  stets  nach  den  Charakteren  verschieden. 

Der  zweite  Vorwurf  über  Vereinig-uno;  von  Würde  und 
Lustigkeit,  die  nach  Schlegel  unmöglich  sein  soll,  kann  mehr 
auf  das  Ganze  der  Stücke  gehen.  In  dem  Sinne,  wie  man  bei 
Shakspeare  Beides  in  einem  Stücke  vei:einigt  findet,  wird  er  es 
aber  nicht  verstanden  haben,  denn  dann  fiele  der  Tadel  auch 
auf  diesen.  Er  tadelt  daher  wohl  nur  die  Vereinigung  beider 
in  Einer  Person,  so  im  Misanthrope.  Aber  Napoleon  sagte  mit 
Recht:  du  sublime  au  ridicule  il  n'y  a  qu'un  pas;  und  wenn 
der  Misanthrope  auch  nicht  eigentlich  lächerlich  wird,  so  hat 
Moliere  doch  hier  Würde  und  Komik  vereinigt,  und  nach  Schle- 
gel's Ausdruck  das  Unmögliche  geleistet,  und  zwar  so  sehr 
Beides  verschmolzen  in  Einer  Persönlichkeit,  dass  Schlegel,  wie 
er  selbst  sagt,  niclit  die  Grenzlinie  hat  entdecken  können. 
Ueber  diese  Grenze    wie    über    die    Berechtigung  Moliere's.    im 

Arcliiv  f.  n.  Siira<licii.   XXUl.  !) 


130  Moliere   und  der  conventionelle 

Misanthrope  das  scheinbar  Widerstrebende  zu  vereinigen,  wozu 
ihn  sein  Thema  zwang,  siehe  das  schon  frülier  Gesagte.  Man 
erlaube  uns,  eine  Stelle  aus  Herrn  von  Eichendorff's  Geschichte 
des  Dramas  zur  Verteidigung  Moliere's  gegen  diesen  Herrn 
selbst  anzuführen.  „Das  Komische,'"  heisst  es  da  S.  24,  „ist 
überall  nur  da  von  Bedeutung,  wo  es  auf  einer  grossen  sitt- 
lichen Grundlage  beruht,  der  es  zur  Folie  dient,  wie  bei  Aristo- 
phanes,  bei  Shakspeare's  Narren,  bei  dem  wesentlich  tragischen 
Don  Quixote."  Im  Grunde  ist  der  Misanthrope  noch  viel  tra- 
gischer als  der  Don  Quixote,  der  eigentlich  so  gut  wie  verrückt 
und  somit  eines  eiirentlich  tramschen  p]indrucks  nicht  fähiff  ist. 
Dass  man  in  INIoliere's  meisten  Charnkterstücken  die  Lustigkeit 
nicht  findet ,  die  in  seinen  Possen  herrscht ,  ist  ein  Beweis  von 
dem  Kunstsinn,  mit  dem  er  Alles  am  gehörigen  Orte  anwandte, 
und,  verschieden  l;ierin  von  Shakspeare ,  bei  dem  die  Witze 
stets  derselben  Art  sind  und  oft  an  ungehöriger  Stelle  auftreten. 
Alles  dem  Charakter  des  Ganzen,  sowie  der  einzelnen  Personen 
imterordnete.  Die  Fähigkeit,  gute  Witze  zu  machen,  hat  er  in 
den  Possen  genugsam  offenbart.  Soll  ihm  nun  die  ausgelassene 
Heiterkeit  in  der  Posse  als  Mangel  an  Kunstsinn ,  die  Ein- 
schränkung darin  aus  künstlerischen  Gründen  in  den  Charakter- 
stücken als  Gesuchtheit  ausgelegt  werden?  Gehören  doch  seine 
ecole  des  femmes  und  der  avare  auch  zu  den  letztern,  und  wel- 
ches Stück  enthielte  wohl  herrlichere  Komik  als  diese  beiden? 
Hat  Moliere  doch  in  jenem  Charakter  der  Agnes ,  nach  Schle- 
gel's  eigner  Ansicht,  wieder  das  Unmögliche  geleistet,  Würde 
und  Lustigkeit  zu  voreinen.  Da  Herr  von  Eichendorff  den 
Vorwurf  SchlegeFs  nur  mit  andern  Worten  wiederholt  hat,  ohne 
irgend^  Etwas  zu  beweisen,  so  werden  seine  Ausstellungen  in 
dem  Gesagten  auch  ihre  Würdigung  finden. 

Zuletzt  tadelt  Schlegel  das  Zwanghafte  in  Anlage  und  Aus- 
führung. Da  auch  hier  keine  Beispiele  von  ihm  angeführt  wer- 
den, so  müssen  w'ir  suchen,  was  er  wohl  "-emeint  haben  mao-. 
Die  ecole  des  femmes  tadelt  er  bloss  wegen  der  etwas  willkür- 
lichen Auflösung  durch  Wiedererkennung.  Dasselbe  lässt  sich 
auf  den  avare  anwenden.  Das  sei  ein  fremder  Hebel  imd  zu- 
fällige Einmischung.  Ebenso  in  dem  Tartufe  und  den  femmes 
savantes.     Gewiss  versteht  es    kein  Dichter   besser  als  Moliere. 


Standpunkt    seiner   Zeit.  131 

Alles  iiiis  flon  Charakteren  dei-  Personen  herzuleiten.  Keiner 
hat  dem  blossen  Zuflill  so  wenig  zugeteilt  wie  er.  Wenn  die 
llerrsehaf't  des  Zufalls  zu  tadeln  wäre,  so  würde  hingegen  die 
spanische  Komödie  fast  ganz  /usannnenstürzen.  An  einem  an- 
dern Orte  sagt  aber  Schlegel  selbst,  in  der  Komödie  herrsche 
Durchkreuzung  der  Absichten  und  Zufalle  (I.  342).  Moliere 
scheint  mir  hier  grade  seinen  feinen  Kunstsinn  bewiesen  zu 
haben.  Durch  die  ganze  Länge  des  Stücks  hindurch  lässt  er 
hauptsächlich  die  C'hax'aktere  hervortreten,  Alles  dient  nur  die- 
sem Zweck.  Am  Schluss  war  der  Zweck  der  Charakteristik 
erreicht,  und  die  Personen  brauchten  sich  in  der  Benutzung  des 
Zufalls  nur  ihrem  Charakter  gemäss  zu  zeigen.  Letzteres  ist 
aber  stets  bei  ihm  der  Fall.  Der  Tadel  über  die  Wiedererken- 
nung löst  sich  auf  in  ein  Lob,  wenigstens  nach  Schlegel's  Sinn, 
wenn  man  liest,  was  er  S.  375  über  die  Griechen  und  Kömer 
sagt:  „Die  verflochtene  Intrigue  spielt  in  der  Gegenwart,  aber 
der  seltene,  unwahrscheinliche  Vorfall,  worauf  sich  ihre  Anlage 
gründet,  ist  in  die  Ferne  der  Zeiten  und  Oerter  gerückt,  und 
so  hat  oft  das  aus  dem  täglichen  Leben  aufgefasste  Lustspiel 
dennoch  einen  gewissermassen  wunderbaren,  romanhaften  Hinter- 
grund." Die  Auflösung  der  femmes  savantes  wird  übrigens 
nicht  durch  einen  Zufall  herbeigeführt.  Vom  Tartufe  wird 
später  die  Kede  sein.  Wir  bemerken  hier  nur,  dass  ein  Heuclder 
zu  widerwärtige  ist,  als  dass  man  sich  mit  einer  orelinden  Busse 
bei  ihm  hätte  begnüg-en  können.  Indem  Älolifere  ihn  durch  die 
Polizei  einstecken  lässt,  kommt  er  dem  Wunsch  des  Zuschauers 
entgegen.  So  sagt  denn  auch  Goethe  33,  109:  „Der  Tartufe 
des  Moliere  erregt  Hass,  es  ist  ein  verbrecherischer  Mensch, 
der  Frömmigkeit  und  Sitte  heuchelt,  um  eine  bürorerliche  Fa- 
milie  in  jedem  Sinn  zu  Grunde  zu  richten;  deshalb  uns  denn 
auch  der  jjolizciliche  Ausgang  willkommen  erscheinet." 

Vielleicht  hat  Schlegel  auch  an  die  satirische  und  didaktische 
Ader  gedacht,  die  der  komischen  Gattung  i'remd  sei,  von  der 
er  schon  in  den  Advocaten  und  Aerzten  der  prosaischen  Stücke 
Andeutungen  findet,  wo  Moliere  wirklich  rügen,  nicht  belustigen 
wolle.  Ich  muss  hier  wieder  die  Gewandtheit  bewundern,  mit 
der  Schlegel  einen  Vorzug  Molicrg's,  das  individuelle  Leben 
jener    Gestalten,    das    sie    grade    ihrem    Hervorgehen    aus    dem 

9* 


132  Moliere   und  der  c  onventionel  le 

wirklichen  Leben  verdanken,  zu  einem  Fehler  zu  verdrehen 
weiss.  Weil  jene  Figuren  wirklich  existirten ,  wittert  er  hier 
gleich  eine  satirische  Ader,  denn  da  er  gar  keine  andern  Gründe 
vorbringt,  so  können  wir  es  uns  nur  auf  diese  Weise  deuten. 
Durcii  das  Wesen ,  das  besonders  seinen  Aerzten  zu  Grunde 
liegt,  muss  Moliere  freilich  wohl  belehren  für  den,  der  über 
dieses  Wesen  nachdenkt,  ebenso  wie  beim  Geizhals,  dem  Mi- 
santhropen etc. ;  jede  Poesie ,  die  wirklich  Menschen  darstellt, 
und  nicht  blosse  Gestalten  der  Phantasie,  wie  manche  spanische 
Komödie  und  der  Sommernachtstraum ,  enthält  einen  ernsten 
Sinn,  und  das  ist  es  ja  auch  grade,  was  PleiT  von  Eichendorff 
gleichfalls  von  der  Komödie  fordert.  Dieser  hinter  dem  Spiel 
verborgene  Ernst  ist  also  nie  ein  Tadel,  wenn  die  ernsthafte 
Tendenz  nicht  in  der  Form  hervortritt;  thut  sie  das,  so  ist 
freiliclr  die  komische  ^Virkung  dahin.  Moliere's  Advocatcn  etc. 
bleiben  aber  stets  komisch ,  nie  tritt  die  satirische  Tendenz  als 
solche  hervor,  und  das  rührt  zwar  daher,  dass  er  nie  hinter 
seinen  Personen  steckt,  sondern  einen  Jeden  seiner  eignen  Natur 
nach  reden  lässt.  Am  meisten  ist  diese  reine  Komik,  die  alle 
Tendenz  überwindet,  in  dem  Medicin  malgre  lui  zu  bewundern, 
wo  leicht  etwas  Satirisclies  und  Sarkastisches  hätte  hineinkom- 
men können,  da  ja  der  iNledicin  da  nicht  selbst  auf  dem  Stand- 
punkte der  Aerzte  steht,  sondern  nur  den  Arzt  selbst  spielt. 
Dieser  hätte  leicht  in  Versuchung  kommen  können,  sich  Avie  ein 
selbstbewusster,  lustig  übertreibender  Komiker  zu  gebehrden. 
Im  Grunde  hat  er  natürlich  etwas  davon,  in  der  Form  weiss  er 
aber  so  die  angenommene  Rolle  durchzufülu-en ,  dass  auch  da 
von  dem  Selbstbewussten  Nichts  durchschimmert.  Da  bei' einer 
Satire,  wie  bei  einer  Komödie,  wenn  beide  sich  an  die  Wahr- 
heit halten  sollten,  das  Wesentliche  dasselbe  sein  musste,  z.  B. 
dass  die  Aerzte  ihre  Kranken  um's  Leben  bringen ,  so  kann 
sich  der  Unterschied  nur  in  der  Form  offenbaren.  Die  Satire 
macht  die  Aerzte  gehässig,  zeigt  sie  als  furchtbar,  Moliere  hin- 
gegen macht  sie  zu  Gegenständen  des  Wohlgefallens,  hüllt 
sogar  den  Gedanken,  dass  sie  morden,  in  ein  komisches  Ge- 
wand, so  im  Medicin  IIL  1  und  2,  woraus  wir  nur  citiren : 
,,I1  y  a  parmi  les  morts  une  honnetcte,  nne  discrction  la  plus 
grande  du  monde;    jamais    on  n'en  voit  sc  plaindre  du  mcdccin 


Stan(l[)unkt    seiner   Zeit.  133 

qui  l'a  tue.  —  II  est  vrai  que  les  luorts  sont  fort  honnetes  geiis? 
sur  cette  imitiere. '*  Ist  das  der  Ton  der  Satire  oder  nieht  viel- 
mehr Ernst  im  Hintergründe,  verhüllt  durch  komische  Form? 
Es  ist  ein  AVunder,  dass  unsre  so  moralisch  gesinnten  Kritikei 
Moliere  nicht  auch  hier  getadelt,  dass  er  über  solche  Sachen 
habe  spassen  können,  ebenso  Avie  beim  Älisanthrope  und  Dandin. 
Unsre  lieben  Kritiker  sind  grade  nun  einmal  seine  Komiker. 
Man  muss  hier  am  meisten  Molicrc's  komisches  Talent  bewun- 
dern; je  mehr  der  Gegenstand  aus  dem  Leben  gegriffen  war, 
um  so  schwerer  musste  es  sein ,  das  naheliegende  Tendenz- 
massige  des  Stoff's  von  allen  prosaischen  lleflectionen  rein  zu 
halten,  Alles  in  das  Reich  des^Schcins  und  der  komischen  Eorm 
hinüber  zu  spielen.  Moliere  hat  dieser  Forderung,  so  viel  ich 
weiss,  stets  genügt.  So  hat  er  z.  B.  die  Aerzte  nicht  so  gt^ 
hässig  dargestellt ,  w'ie  sie  in  der  Wirklichkeit  sind.  Die  mei- 
sten Pfuscher  unter  ihnen  treiben  doch  wohl  nur  ihr  Geschäft, 
um  Geld  zu  verdienen.  Damit  ist  aber  den  Aerzten  Moliere's 
ausser  im  medecin  malgre  lui ,  wo  es  übrigens  seinen  guten 
Grund  hat,  gar  nicht  gedient.  Er  legt  ihnen  bei  ihrer  Dumm- 
heit ein  edles  Pathos  bei,  nämlich  die  Begeisterung  für  die 
Wissenschaft,  der  sie  auch  ihr  eignes  Leben  opfern  würden. 
Dadurch  erwecken  sie  in  uns  gleich  die  Idee  der  wahren  Wis- 
senschaft und  erscheinen  als  die  ergötzlichsten  Karrikaturen. 
Moliere  hat  sich  also  hier  w^eit  über  das  Gehässige,  was  ihnen 
in  der  Wirklichkeit  anklebt,  erhoben ,  und  ebenso  hat  er  es  bei 
den  Advocaten  etc.  geniacht.  Wenn  aber  ein  Leser  nicht  so 
A-iel  ästhetisches  Gefühl  hat,  dass  er,  wo  der  Ernst  des  Lebens 
im  Hintergrunde  Hegt,  an  der  Form  sich  ergötzen  kann;  wenn 
er  sich  überall  durch  eigne  Reflection  und  prosaischen  Sinn  den 
poetischen  Genuss  stört,  so  fehlt  es  ihm  selbst  an  der  wahren 
Gesundheit  des  Geistes,  um  ein  komisches  Kunstwerk  ruhig  zu 
«leniessen.  Bei  Moliere  wird  es  einem  solchen  natürlich  leicht 
unbehaglich,  Aveil  da  überall  das  wahre  Leben  im  Hintergründe 
liegt;  da  wird  ihm  stets  die  Illusion  gestört  werden;  dagegen 
werden  leichte  Gebilde  der  Phantasie,  wo  keine  wirklich  aus 
dem  Leben  geariffenen  Menschen  ihn  an's  Leben  erinnern,  seine 

Do 

Bewunderunir  erregen.  Dadurch  ist  aber  ein  solcher  Romantiker 
nicht  berechtigt,    anzunehmen,    dass    deshalb   der   Dichter,    der 


134  Molieie    und    der  couventionelU- 

wahre  Menschen  schildert,  hinter  dem  phantastischen  zu- 
rückstehe; er  muss  erst  nachsehen,  i)b  die  verschiedene  Wirkung 
beider  Dichter  auf  ihn  nicht  viehiiehr  die  Folge  seiner  eignen 
Natur  sei,  ob  das  Prosaische,  Tendenzartige,  das  er  dem  einen 
vorwirft,  nicht  in  ihm  selber  lieg-e. 

Besonders  sind  es  die  feinern  Charakterkomödien,  in  denen 
Schlegel  absichtliche  Didaktik  und  Satire  wittert.  Die  ecole 
des  femmes  ging  natürlich  frei  aus,  Aveil  da  das  Ganze  sich 
um  die  naive  Agnes  dreht,  und  also  dort  die  Darstellung  eines 
moralischen  oder  intellectuellen  Fehlers  nur  nebenbei  im  Arnolpe 
direct  hervortritt.  Da  konnte  Moliere  weniger  in  den  Schein 
der  Didaktik  verfallen.  Im  avare  hätte  es  wohl  G:eschehen 
können,  wie  das  Beispiel  des  Plautus  zeigt;  es  herrscht  aber 
(^  eine  solche  Komik,  dass  Schlegel  sogar  auf  den  Einfall  ge- 
rathen  konnte,  das  Stück  eine  Posse  zu  nennen.  Dass  im  Mi- 
santhrope,  den  femmes  savantes  und  dem  Tartufe  nicht  so  sehr 
das  Komische  herrscht,  lag  im  vStoffe  begründet.  Das  Streben 
des  Alceste,  wie  das  der  femmes  savantes,  geht  nicht  auf  etwas 
Aeusserliches ,  sondern  auf  Intellectuelles;  daher  konnte  der 
Natur  des  Gegenstandes  nach  das  Komische  sich  nicht  direct 
als  Handlung  entwickeln,  sondern  in  Reden.  Die  Handlung  ist 
mehr  innerlich.  Dass  aber  Moliere  in  diesen  Keden  oder  viel- 
mehr Gesprächen  stets  wo  möglich  das  Komische  hat  vorherr- 
schen lassen,  spricht  ihn  auch  hier  von  aller  absichtlich  satiri- 
schen Tendenz  frei,  da  sich  diese  ja  nur  in  der  Behandlung 
des  Gegenstandes  zeigen  kann.  Wenn  er  seine  Tendenz  in  der 
Behandlung  zu  klar  hätte  hervortreten  lassen,  so  würden  die 
Ansichten  über  seine  Tendenz  in  beiden  Stücken  doch  nicht  so 
weit  haben  auseinandergehen  können,  dass  z.  B.  die  eine  Paitei 
behauptet,  er  habe  im  Misanthrope  die  Tugend  lächerlich  ge- 
macht, in  den  femmes  savantes  Partei  ergriffen  für  die  Dumm- 
heit, die  andre  beides  gradezu  leugnet  und  sogar  behauptet,  im 
Misanthrope  habe  er  sein  eignes  Innere  auf  die  liebenswürdigste 
Weise  offenbart.  Im  Tartufe  zeigt  sich  am  meisten  die  künst- 
lerische Kraft,  mit  der  er  dem  widerlichsten  Gegenstande  eine 
komische  Seite  abzugewinnen  vermochte;  man  vergleiche  ihn 
nur  mit  den  ekelhaften  Heuchlern  englischer  Humoristen,  so  in 
des     vielgepriesenen    Thackeray    vanity    fair^   und    Boz'    Martin 


StiiiKlpii  u  k  t    seiner    Zeit.  135 

Clmzzlewit;  dann  wird  man  die  Kunt<t  des  Dichters  bewundern 
lernen.  Auch  hier  sind  die  Urteile  der  Kritiker  das  beste  Zeug- 
niss  i'ür  die  Objectivität  und  i  endenzlosigkcit  der  Darstellung. 
Innige  haben  behauj)tet,  jNloliere  mache  die  Kcligiosität  und  die 
Frönnnigkeit  lächerlich,  zu  diesen  scheint  Herr  von  EichendorfF 
auch  zu  gehören.  Andre  haben  das  Gegenteil  behauptet.  So 
schrieb  Saint-Evremont  einem  Freunde:  „Si  je  me  sauve  je  lui 
dcvrai  mon  salut.  La  devotion  est  si  raisonnablc  dans  la  beuche 
de  Cleante,  qu'elle  me  fait  rcnoncer  a  toute  ma  philosophie  .  . . 
Sainte  piete  que  vous  allez  apporter  de  bien  au  monde!"  Eeue- 
lon  meinte  dasselbe  und  viele  Andre  nach  ihm.  Diese  wider- 
sprechenden Urteile  legen  für  Moliere's  (^bjectivität  die  besten 
Zeugnisse  ab.  lu)  Hintergrunde  liegt  freilich  die  Tendenz  oder 
Ansicht  des  Dichters  klar  zu  Tage  für  Jeden,  der  das  Ganze 
unparteiisch  betrachtet,  in  der  Form  tritt  sie  zurück.  Molierc 
ist  daher  ganz ,  was  Schlegel  II.  235  von  einem  Dichter  ver- 
langt, und  ebendaselbst  bei  Moliei*e  vcrmisst,  ^Moralist,  ohne  zu 
moralisiren.  Letzteres  werden  Ilerr  von  Eichendorff  und  Andre 
ohne  Zweifel  leugnen,  Schlegel  hat  schon  das  Gegenteil  durch 
einzelne  Stellen  zu  beweisen  gesucht,  und  so  sehen  wir  den 
deutschen  Kritiker,  der,  im  Widerspruch  gegen  die  Franzosen, 
nur    an    einem    Ganzen   Gefallen    finden   kann ,    sich    wieder    an 

Einzelheiten    heften.     Moralisirt    Goethe    nicht    auch  im    Faust? 

< 

Rcfiectii't  Shakspeare  nicht  im  Hamlet,  und  moralisiren  ist  doch 
wohl  weiter  Nichts  als  über  Moral  reflectiren?  Da  Shakspeare 
auch  reflectirt  hat,  wird  jeder  deutsche  Kritiker,  der  es  sonst 
nicht  eingesehen,  auf  der  Stelle  erkennen,  dass  es  nicht  überall 
zu  tadeln  sei,  dass  gs  auch  hier  eigentlich  auf  das  Wo  und  M'ie 
ankomme. 

Da  sind  nun  die  Erörterungen,  die  Schlegel  besonders  am 
Misanthropc  tadelt,  nicht  kalte  Abwägungen  des  Für  und  Wider, 
sondern  aus  den  Charakteren  und  Situationen  hervorgegangen. 
So  sind  die  im  Aniänge  des  ]\Iisanthro])e  hitzigen  Ausbrüche 
der  Leidenschaft,  die  in  der  Situation  bcgiündct,  uns  gleich 
seinen  Charakter  offenbaren  und  auf  den  L^rsprung  seiner  Mi- 
santhropie  deutlich  hinweisen,  nämlich  den  Zorn  eines  edlen, 
aber  leidenschaftlichen  Gemüts  über  die  Vcrwurlenheit  der  Zeit, 
so  das^  Heir  liaun   mit   I  iircclit    <lie   Motiviruni;    derselben   ver- 


I3ü  Moliere    und   der  convu  iitiuuelle 

inisst,  und  (jroethe's  Ansicht,  dass  man  ohne  Weiteres  die  Vor- 
geschichte der  Moliere'schen  Charaktere  aus  Andeutungen  in 
den  Stücken  selbst  entziffern  könnte,  sich  auch  hier  bewährt. 
Auch  ist  die  Kunst  zu  bewundern  in  der  Sprache  des  Misan- 
thrope,  die  durch  ilu'e  originelle  Kraft  ergötzt,  und  somit  den 
Widerwillen  besiegt,  den  die  dargestellten  Gegenstände  sonst 
erregen  möchten,  so  in  der  energischen,  unübertrefflichen  Schil- 
derung des  Heuchlers  in  dem :  Non,  eile  est  generale  etc.  Durch 
diese  Scene  werden  uns  gleich  der  Zustand  der  Gesellschaft, 
die  Natur  des  Misanthropen  und  seine  Verhältnisse,  in  denen  sie 
sich  nachher  vor  uns  entwickeln  wird,  vor  Ausen  gebracht. 
Für  einen  deutschen  Kritiker  auf  dem  Dreifuss  bleibt  freilich 
in  solchen  Erörterungen  Nichts  zu  erraten,  wie  Schlegel  selbst 
sagt  (II.  235),  denn  ein  solcher  thront  zu  hoch  und  sieht  am 
leichtesten,  was  nicht  dasteht,  wie  bei  Shakspeare;  was  dasteht, 
bleibt  ihm  verborgen;  für  den  aber,  der  an  der  Scholle  klebt, 
wie  Jene  sich  ausdrücken  würden,  der  auch  solche  Kleinigkeiten 
einer  nähern  Betrachtung  wiü-digt,  für  den  ist  auch  in  diesen 
Sachen  Etwas  zu  erraten.  Wenn  also  nach  Schlegel  die  grösstc 
Feinheit  darin  besteht,  „dass  sich  die  Charaktere  unbewusster 
Weise  kundgeben  durch  Züge,  die  ihnen  unwillkürlich  ent- 
schlüpfen," so  gehören  diese  Erörterungen,  wie  es  scheint,  zum 
AUerfeinsten,  denn  ihre  Bedeutung  ist  selbst  Schlegel  verborgen 
geblieben.  Wenn  er  ferner  tadelt,  dass  diese  Erörterungen  das 
Thema  nicht  erschöpfen,  so  widerspricht  er  sich  selbst,  denn 
darin  grade  zeigt  sich,  dass  Avir  hier  nicht  den  moralisirenden 
Dichter  sehen ,  der  ohne  Zweifel  zu  einem  Resultat  gekommen 
wäre,  sondern  zwei  lebende  Wesen,  die  uns  ihr  Inneres  ent- 
hüllen,  dass  es  keine  kalten  Erörterungen  des  Für  und  Wider 
sind.  Wenn  er  ferner  meint ,  es  fehle  die  dramatische  Bewe- 
gung, weil  kein  Resultat  herauskomme,  so  ist  da  nur  einzu- 
wenden, dass  die  dramatische  Bewegung  bei  solchen  Reden  in 
der  Leidenschaftlichkeit  der  Personen  liegt,  die  grade  jene  Ver- 
einigung zu  Einem  Resultat  für  sie  selbst  unmöglich  macht, 
selbst  am  Schlüsse  des  Stücks,  wo  der  Dichter,  wenn  er  wirk- 
liche Menschen  darstellt ,  das  Resultat  nur  den  Leser  erraten 
lassen  darf;  mau  denke  an  die  Antigonc  und  den  Tasso  im  Ganzen, 
wie  an  die  einzelnen  Gespräche  zwischen  Antigone  und  Ismene, 


8t autlj» unkt    seiner   Zeit.  137 

Kreon  und  Antigone,  Ilaenion  und  Kreon.  Wenn  sie  selbst 
zu  einem  Ivesultat  kämen,  so  müssten  sie  ihre  Natur  verleugnen, 
und  das  Aväve  nicht  dramatische  Bewegung,  sondern  die  logische 
Bewegung  eines  Aufsatzes.  Grade  dann  hätte  man  den  Fehlei- 
des  kalten  Abwägens,  den  Schlegel  an  INIoliere  rügt,  und  dass 
solche  Personen  nicht  dramatisch  wären ,  kann  man  daraus  er- 
kennen, dass  jeder  Conflict  unmöglich  und  mit  der  ersten  Scene 
Alles  zu  Ende  sein,  würde;  oder  Molicre  müsste  denn  ein  spa- 
nisches Intriguenspiel  haben  schreiben  wollen,  wo  Puppen  durch 
die  Intrigue  bewegt  werden ,  wie  Kegel  beim  Kegelschieben. 
Moliere  ist  also  glücklich  zu  schätzen,  dass  er  sich  besser  auf 
seine  Sachen  verstanden  hat  als  sein  Kritiker.  Alle  Gespräche 
in  den  Moliere'schen  Charakterkomödien  sind  der  Art ,  in  den 
Umständen  und  Charakteren  begründet ,  weshalb  sie  denn  auch 
nie  zu  Einem  Residtat  sich  vereinigen.  Daher  rührt  denn  auch, 
dass  jene  Kritiker  unfähig  gewesen  sind,  den  Dichter  zu  ver- 
stehen. Sie,  die  dem  Franzosen  prosaischen  Sinn  und  Mangel 
an  Phantasie  vorwerfen,  dringen  überall  auf  ein  Resiütat,  wie 
bei  einem  Rechenexempel,  ein  Resultat,  das  am  Schluss  jeder 
Scene  und  des  Ganzen  genau  ausgesprochen  würde.  Bei  Mö- 
llere und  allen  wahren  Dichtern  ist  es  jedoch  wie  in  einigen 
der  dramatischen  platonischen  Dialoge,  das  Residtat  ist  nirgends 
ausgesprochen,  und  ist  doch  überall  zu  entdecken.  So  haben 
die  Herren  von  Schlegel  und  von  Eichendorff,  weil  sie  diu'chaus 
das  Resultat  an  einzelnen  Stellen  ausgesprochen  finden  wollten, 
inid  unfähig  waren,  das  Kunstwerk  als  ein  Ganzes  zu  beur- 
teilen, aus  einzelnen  Stellen  des  Misanthrope  und  der  femraes 
savantes  geschlossen,  dass  dort  die  Tugend  lächerlich  gemaciit, 
hier  die  Dummheit  verteidigt  werde.  Aber  grade  durch  dies 
l  rteil  beweisen  sie,  dass  Moliere  ganz  dramatisch  zu  AYerke 
gegangen,  und,  statt  selbst  zu  moralisiren,  seine  Charaktere 
sich  hat  frei  vor  uns  entfalten  lassen. 

Somit  wären  auch  die  Vorwürfe  über  Tendenz,  Sucht  zu 
belehren  und  Streben  nach  correctem  Ruhm  zurückgewiesen, 
und  so  fällt  denn  auch  dieser  Grund  zusammen,  mit  dem  man 
hat  beweisen  wollen,  dass  Moliere  seine  Charakterstücke  nicht 
aus  innerm  Antriebe  gedichtet,  sondern  aus  blossem  Ehrgeiz. 

Als  positiven  Grund  dagegen  könnten  wir  selbst  den  von 


138  M o  1  i e r e   und   d e r  c o n  v e n  t i o  n e  1  lo 

Schlegel  ihm  gemachten  VorAvurf  der  Tendenz  gebrauchen; 
denn  wo  eine  Tendenz  war,  wird  der  innere  Antrieb  nicht  ge- 
fehlt haben.  Wenn  sich  auch  in  der  Form  das  Tendentiöse  nie 
bemerklich  macht,  so  lagen  doch  meistenteils  positive  Erfah- 
rungen, wie  Erscheinungen  des  Lebens,  seinen  Werken  zu 
Grunde.  Der  Gegenstand,  den  er  behandelte,  lag  ihm  am  Her- 
zen; daher  finden  wir  einige  zweimal  bearbeitet,  so  die  Blau- 
strümpfe und  die  Heuchelei.  Im  Misanthro})e  schildert  er  sein 
eignes  Innere.  Im"  bouroeois  III.  9  findet  man  eine  Schildc- 
runff  seiner  eisrnen  Frau  und  seiner  Liebe.  Seine  Kränklichkeit 
lässt  uns  glauben,  dass  er  im  malade  imaginaire  sich  über  seine 
eignen  Sorben  zu  erheben  suchte.  Dass  1670  eine  satirische 
Komödie  auf  ihn  erschienen  war,  Elomire  hypochondre,  bestärkt 
uns  in  dieser  Ansicht.  Hierher  gehört  auch,  dass  er,  wie 
Schlegel  ohne  Grund  tadelnd  bemerkt,  den  seinen  Stücken  wi- 
derfahreneu Tadel,  die  schlechten  Manieren  andi-er  Schauspieler, 
ja  die  Verlegenheit,  nicht  so  schnell,  als  es  der  König  verlangte, 
eine  theatralische  Vorstellung  herbeischaffen  zu  können,  dass  er 
das  Alles  als  Stoff  der  Belustigung  behandelte.  Den  Dandin 
rechnen  Avir  auch  hierher.  Dass  er  so  überall  die '""Stoffe  aus 
wirklichen  Ei-lebnissen  hernahm,  zeigt,  dass  die  Wahl  der  Stoffe 
aus  innerm  Antrieb  hervorging ;  dass  jeder  solche  Stoff  sich 
unter  seinen  Händen  zu  einem  Lustspiel  bildete,  zeigt,  dass  er 
auch  in  der  Wahl  der  Form  einem  Innern  Antriebe  Folge  lei- 
stete. Es  bliebe  also  bloss  noch  zu  erörtern,  ob  er  bloss  aus 
Willkür  den  einen  Stoff  als  Posse,  den  andern  als  feinere  Cha- 
rakterkomödie behandelte,  bloss  aus  falscher  Euhmsucht  diese 
Form  wählte,  oder  auch  seinem  innern  Genius  folgend.  Dies 
lässt  sich  eigentlich  zur  Genüge  nur  durch  eine  eigne  Betrach- 
tung seiner  Werke  darthun,  durch  eine  Auseinandersetzung  der 
Principien,  die  er  hierin  befolgte.  Das  Unbegründete  dieses 
Vorwurfs  können  wir  jedoch  gleich  hier  an  einigen  Beispielen 
zeigen,  die  auf  Einzelheiten  gehen,  aus  denen  man  erkennt, 
dass  Moliere  gar  nicht  nach  dem  Ruhm  einer  falschen  Correct- 
heit  strebte.  Ich  verweise  hier  erstens  auf  die  ecole  des  fcm- 
mes,  die  doch  eine  feinere  Charakterkomödie  ist,  wo  I.  1  das 
faire  les  enfants  par  les  oreilles,  I.  4  les  puces,  qui  m'ont  In 
nuit  inquietce,    IL  3    die    Definition   von  Jalousie,    IL  (>  das  il 


8  tiiiuli)  Uli  kt   «ciiiur    Zeit.  139 

in'a  i»ii,s,  Liiul  nachher  nocli  Andres,  gegen  (his,  was  mau  bei 
litis  unter  jener  französischen  Correctheit  und  falschem  Anstand 
verstellt ,  gradezu  Verstössen.  Dass  Mulierc  hier  stets  aus 
Kunstsinn  so  geschrieben ,  und  was  er  von  jenen  Regeln  des 
Aristoteles  gehalten,  kann,  wer  will,  aus  seiner  critique  kennen 
lernen.  Er  sagt  ausdrücklich  VII. :  „La  grande  regle  de  toutes 
les  reglos  est  de  plaire  ...  Je  regarde  seulemcnt  si  les  choses 
me  touchent  ...  et  je  ne  demande  point  si  les  regles  d'Aristote 
ine  dcfendaient  de  rire;"  und  darauf  führt  er  seine  Sache  mit 
Gründen.  In  den  femmes  savantes  kommen  einige  Charaktere 
vor,  die  eher  in  die  Posse  als  in  die  feinere  Charakterkomödie 
zu  gehören  scheinen ,  nämlich  die  alte  Jungfer  Belise  und  der 
Gemahl  der  Philaminte.  Daraus  sieht  man ,  dass  Moliere  niclit 
nach  jenen  Convention  eilen  Regeln  arbeitete,  die  Posse  und  Cha- 
rakterkomödie so  scharf  trennten.  '  Er  folgte  seinem  feinen 
Kunstsiim ,  und  der  hat  ihn  stets  sicher  geleitet.  In  dem  me- 
decin  malgi'e  lui  und  Don  Juan  verletzte  er  sowohl  die  Regeln 
des  Orts,  wie  die  der  Zeit ,  und  selbst  im  Misanthrope,  auf  den 
jener  Vorwurf  wohl  am  meisten  gemünzt  ist,  weigerte  er  sich, 
auf  den  Wunsch  von  jVIadame  die  Stelle  zu  streichen  vom  grand 
tlandrin  de  vicomte  qui  crachait  dans  un  puits  pour  faire  des 
ronds ,  weil  er  sich  um  die  falsche  Correctheit  nicht  kümmerte, 
obgleich  Jene  meinte,  diese  Stelle  verunziere  ein  so  schönes 
Werk.  Dieser  feine  Kunstsinn,  diese  (Geringschätzung  aller 
falschen  Reji'eln,  die  sich  selbst  in  solchen  Kleinio-keiteu  offen- 
harte,  ist  zugleich,  weil  in  einer  geringfügigen  Sache,  ein  Zei- 
chen von  Unabhängigkeit,  das  Schlegel  hätte  abhalten  sollen, 
von  ilmi  wie  einem  Lustigmacher  zu  reden,  und  das  Lob  des 
Königs  im  Tartufe  als  eine  untertänigste  Huldigimg  zu  bespöt- 
teln. Wenn  man  weiss,  wie  ihn  die  Frömmler  verfolgten,  selbst 
nach  seinem  Tode,  und  dass  der  König  nachher  selbst  ein 
Frömmler  ward  und  das  Edict  von  Nantes  widerrief,  wird 
man  diesen  Mann  nicht  servil  schelten ,  wie  es  Herr  Kreyssig 
und  Andre  getan,  sondern  den  Mut  bewundern ,  mit  dem  er  so 
der  Stimme  seines  Genius  zu  folgen  wagte  und  Werke  hervor- 
brachte, bei  denen  es  einer  solchen  Kmpfehlung  bedurfte.  Seine 
deutschen  Kritiker  werden  wohl  niemals  eine  solche  nötig  ge- 
habt haben.     Einen  thutsächlichen  Beweis  seiner  Unabhänuiu'kcit 


140  Moliere   und   Jer  conventioneile  etc. 

und  seiner  Begeisterung  für  die  Kunst  gab  er  grade  dadui'ch, 
dass  er  sich  auf  dem  Theater  selbst  Schläge  göfallen  Hess,  wie 
im  Scapin.  Boileau  that  es  weh,  ihn  in  solchen  Lagen  zu  sehen, 
ihn,  l'auteur  du  misanthrope,  und  Schlegel  würdigte  ihn  deshalb 
zu  einem  Lustigmacher  herab.  Moliere  fühlte  aber  zu  sehr 
seine  innere  Würde,  ganz  wie  unser  Lessing,  als  dass  er  sie 
dadurch  in  seinen  eignen  Augen  verloren  hätte.  Er,  dem  man 
vorwirft,  nach  correctem  Ruhm  gestrebt  zu  haben,  verschmähte 
es,  in.  die  Akademie  einzutreten,  weil  man  die  Bedingung  daran 
knüpfte,  er  solle  die  Bühne  verlassen.  Ob  seine  deutschen  Kri- 
tiker ,  die  sich  über  ihn  lustig  machen ,  diese  Probe  bestanden 
haben,  ob  sie  überhaupt  vorurteilsfrei  genug  gewesen  sein  wür- 
den, um  in  den  verachteten  Stand  eines  Schauspielers  einzu- 
treten, wie  er,  das  mögen  die  Herren  selber  entscheiden. 

Moliere  lernte  also  von  seinen  Vorgängern ,  ohne  seine 
Selbständigkeit  aufzugeben,  und  nicht  weniger  frei  zeigte  er 
sich  von  der  moralischen  und  künstlerischen  Befangenheit  seiner 
Zeit.  Die  Grösse  seines  Genies  bewährt  sich  also  überall  da 
am  glänzendsten,  wo  man  am  meisten  geglaubt  hat,  es  antasten 
zu  können. 

Elberfeld. 

Dr.  C.  Humbert. 


Bemerk  u  ii  g  e  n 

über    den    V  i  c  a  i*    o  f   W  a  k  e  f  i  c  I  cl. 


Der  Vicar  of  Wakefield,  mit  dem  man  die  englische  Leetüre 
früher  zu  beginnen  pflegte,  gehört  ohne  Zweifel  zu  den  schönsten 
Erzeuü'nissen  der  ganzen  englischen  Literatur  und  wird  vorzus's- 
weise  in  unsrem  Vaterlande  sicherlich  immer  viele  Freunde 
finden.  Scliönlieit  der  Form  und  Reichthum  des  Inhaltes  ver- 
einigen sich  hier  zu  einem  harmonischen  Ganzen  von  seltener 
Vollenduno;  und  Lieblichkeit.  Die  Darstelluno;  des  Buches  ist 
ruhig,  schlicht  und  schmucklos  und  doch  lebendig  und  von  be- 
zaubernder Anmuth ,  die  Sprache  überall  kraftvoll ,  kernig  und 
volksthümlich  und  doch  edel  und  keusch.  Was  uns  aber  das 
Buch  vor  Allem  werth  macht,  ist  der  edle  und  gesunde  Geist, 
der  das  Ganze  durchweht,  sowie  die  Wahrheit  und  Lieblichkeife 
des  Familiengemäldes ,  das  vor  unsern  Augen  entfaltet  wird. 
Unser  Wohlgefallen  an  den  dargestellten  Charakteren  trägt  sich 
hier  ganz  unwillkürlich  auf  das  Buch  selbst  über,  und  zwar 
um  so  entschiedener,  je  grösser  die  Meisterschaft  des  Verfassers 
in  der  Darstellung  jener  Charaktere  ist.  Um  dabei"  die  allge- 
mein verbreitete  Vorliebe  für  das  Buch  richtio-  würdigen  zu 
können,  haben  wir  unsern  Blick  zunächst  auf  die  dargestellten 
Charaktere  zu  richten,  vor  Allem  auf  den  Vicar  of  W.  selbst, 
der  den  Mittelpunkt  des  Gemäldes  bildet  und  in  welchem  der 
Geist  des  Ganzen  am  reinsten  und  klarsten  ausgeprägt  ist. 

Der  schiinste  Zug  in  dem  Charakter  des  Dr.  Primrosc, 
des  eifrigen  ^Nfonosra misten,  ist  wohl  die  treue  Liebe  zu  seine 
Familie,  die  er  überall  als  seinen  grössten  Schatz  bezeichnet. 
AVenn  er  nach  längerer  Trennun«;  sich  seiner  stillen  Wohnung 
wieder  nähert,  dann  ist  alles  Leid  imd  Unglück  vergessen,  und 
-sein  Herz  schwillt  von   unauss[)rechlicher  Glückseligkeit.     Wie 


142  Bemerkungen  über  den  Vicur  of  Wakefield. 

ein  Vogel ,  der  aus  seinem  Neste  aufgescheucht  worden  ist ,  so 
eilt  seine  Sehnsucht  seinem  Schritte  voraus  und  umschwärmt 
seinen  kleinen  Herd  mit  allem  Entzücken  der  Erwartung"  (S. 
800  fl.)-*)  J^"i  schönsten  Lichte  zeigt  sich  diese  I.(iebe  da,  wo 
er  nach  seiner  verlorenen  Tochter  auszieht  und  sie  endlich  in 
Elend  und  Schande  wiederfindet.  „Welcome,  any  way  welcome, 
my  dearest  lost  one,  my  treasure,  to  your  poor  old  father's  bosom," 
ruft  er  (S.  290)  der  Unglücklichen  entgegen,  indem  er  sie  aus 
den  Händen  der  unbarmherzigen  Schenkwirthin  befreit,  von  der 
sie  eben  an  den  Haaren  aus  dem  Hause  geschleift  wird  — 
„though  the  vicious  forsake  thee,  there  is  yet  one  in  the  world 
that  will  never  forsake  thee;  -  though  thou  hadst  ten  thousand 
crimes  to  answer  for,  he  will  forgive  them  all."  Und  als  bald 
darauf  während  der  Nacht  sein  Haus  mit  Hab'  und  Gut  in 
Flammen  aufgeht  und  er  seine  beiden  Kleinen  vermisst,  die, 
zu  spät  erwachend,  in  dem  brennenden  Hause  zurückgeblieben 
sind,  da  kann  nichts  ihn  von  dem  kühnsten  Rettungsversuche 
zurückschrecken.  „Where,  where  aremychildren?"ruft  er  (S.302), 
indem  er  sich  in  die  Flammen  stürzt  und  bis  zum  Schlafgemach 
der  Kinder  vordringt,  dessen  Thür  er  sprengt.  „Where  are  my 
little  ones?"  Schnell  reisst  er  sie  aus  dem  schon  brennenden 
Bette,  imd  kaum  hat  er  sie  durch  die  Flammen,  die  ihn  selbst 
bereits  erfasst  und  seinen  Arm  bis  zur  Schulter  hinauf  schreck- 
lich versengt  haben,  wohlbehalten  in's  Freie  gebracht,  als  auch 
das  Dach  des  Hauses  zusammenbricht.  Doch  nun  mag  Alles 
verbrennen,  da  sie  gerettet  sind.  „Now,  cried  I,  holding  up 
my  children,  now  let  the  flanies  burn  on  and  all  my  possessions 
perish;  - —  here  they  are,  I  have  saved  my  treasure"  cet.  Wahr- 
haft rührend  aber  i:<t  die  Langmuth  und  Selbstverleugnung, 
w^omit  er  die  Schwächen  und  Thorheiten  seines  Weibes  und 
seiner  Töchter  erträgt,  die  auch  in  der  Armuth  den  Schein 
einer  gewissen  Wohlhabenheit  retten  und  die  vornehmen  Ge- 
wohnheiten einer  besseren  Zeit  nicht  ganz  aufgeben  möchten. 
Zwar  thlit  Dr.  Pr.  Alles,  sie  von  dieser  lächerlichen  Sucht  zu 
heilen  und  hört  nicht  auf,  sie  zur  Einfachheit,  Demiith  und 
Genügsamkeit  zu  ermahnen  (S.  26.  48.  58.  60  etc.),  aber  wenn 


*)  Ausgabe  von  Dr.  C.  M.  Winterling,  Nürnberg  1833. 


BemorkungtMi  iiher  den  Vicnr  of  Wakofield  U.*? 

trotz  seiner  Lehren  und  W:irniingen  die  Familie  wieder  einmal 
in  den  alten  Fehler  zurückfallt ,  dann  macht  er  sich  stets  zum 
Mitt^chuldicjen  der  beoaniienen  Thorheiten  und  erzählt  dieselben 
stets  in  der  Art,  dass  er  sich  mit  einschliesst.*)  Die  Fa- 
milie (Primrose  nennt  sie  stets  the  family,  xhi'  i'^o/i]u,  nicht 
my  family),  die  Familie  erscheint  ihm  ül)erall  als  untrennbai'es 
Ganzes ,  wo  jeder  für  alle  einstehen  muss.  Wie  Pr,  überhaupt 
„an  admirer  of  happy  human  faces"  ist,  so  sieht  er  vor  Allem 
diejenigen  gern  glücklich,  die  ihm  am  nächsten  stehen,  und 
stört  daher  nie  die  harmlosen  Illusionen,  an  denen  sie  ihre 
Freude  finden  (S.  42).  „To  say  the  truth,  I  was  tired  of  being 
always  w'ise  and  could  not  help  gratifying  their  request,  because 
I  loved  to  see  them  happy,"  sagt  er,  als  seine  Töchter  von  ihm 
Geld  verlangen  zu  einem  Zwecke,  der  in  seinen  Augen  eigent- 
lich läciierlich  genug  war  (für  eine  Avahrsagende  Zigeunerin), 
doch  weiss  er  ihnen  gleich  darauf  das  Thörichte  in  ihrem  Thun 
mit  köstlichem  Humor  bemerklich  zu  machen.  Als  ihm  nämlich 
die  Mädchen  voll  Jubel  erzählen,  welches  hohe  Glück  ihnen 
die  Sibylle  verkündet  habe  und  dass  die  eine  von  Ihnen  einen 
Squire,  die  andere  gar  einen  Lord  zum  Mann  bekommen  soll, 
da  fragt  er  sie,  ob  das  Alles  sei,  was  sie  für  Ihre  zw^ei  Schil- 
linge bekommen  hätten.  „Only  a  lord  and  a  squire  for  two 
Shillings?  You  fools,  I  could  have  promlsed  you  a  princc  and 
a  nabob  for  half  themoney."  Manclmial  weiss  er  diesen  milden 
Spott  auf  sehr  wirksame  Welse  gegen  etwaige  thörichte  Ge- 
lüste seines  Weibes  oder  seiner  Töchter  In  Anwendung  zu 
bringen:  vgl.  S.  48  fl.  58.*)     Wo  es  ihm  nöthig  scheint,    setzt 


*)  We  now  began  to  think  ourselves  destined  by  the  stars  to  something 
exalted  —  we  now  endeavoured  to  cope  with  our  betters  —  we  looked 
upon  our  fortunes  as  once  niore  rising  —  the  family  resolved  to  hold  np 
their. heads  cet.  —  diese  mid  ähnliche  Wendungen  kehren  häufig  wieder. 

**)  Trotz  aller  seiner  sumptuary  edicts  erscheint  Deborah  mit  ihren 
Töchtern  doch  gleich  am  ersten  Sonntag  nach  der  Uebersiedlung  in  die 
neue  Pfarre  wieder  mit  all  dem  Flitter  aus  einer  bessern  Zeit,  mit  Schmink- 
pflästerchen,  langen  Schlt'ppkleidern  etc.  I  could  not  help  smiling  at  their 
vanity,  sagt  Pr.,  particularly  that  of  my  wife,  frora  whom  I  expected  more 
discretion.  In  this  e.xigence  therefore,  fährt  er  fort,  ray  only  resoiirce  was 
to  Order  my  son ,    with  an  important  air,    to    call   our   coach.     The  girls 


144  Bemerkungen  über  den  Vicar  of  Wakefield. 

er  aber  seinen  Willen  oft  auch  mit'  Ernst  und  Entschiedenheit 
durch,  ohne  sich  an  die  niissbilligenden  Seitenblicke  oder  Winke 
seines  Weibes  oder  an  die  Bitten  seiner  unerfahrenen  Töchter 
zu  kehren:  vgl.  S.  100.  104.  106.  108.  306.  326.  —  Eine  ähn- 
liclie  Gesinnung  wie  gegen  seine  Familie  zeigt  Dr.  Pr.  gegen 
seine  Gemeinde,  wie  gegen  alle,  mit  denen  er  in  Berührung 
kommt:  vgl.  S.  12.  32.  330.  344.  372.  Seine  Menschenfreund- 
lichkeit ist  stets  zur  Hilfe  bereit  und  sucht  auch  im  Kerker 
noch  Segen  zu  verbreiten.  In  my  opinion,  sagt  er  S.  354., 
the  heart  that  is  buried  in  a  dungeon,  is  as  precious 
as  that  seated  upon  a  throne.  Darum  lässt  es  ihm  keine 
Ruhe:  er  muss  sehen,  ob  er  vielleicht  eine  verirrte  Seele  vom 
Abgrunde  retten  kann.  Denn,  sagt  er,  gibt  es  wohl  ein  köst- 
licheres Kleinod  auf  der  Erde  als  die  menschliche  Seele?  Und 
S.  334  bezeichnet  er  es  als  a  constant  rule  in  his  life  never  to 
avoid  the  conversation  of  any  man,  who  seemed  to  desire  it; 
for  if  good ,  fährt  er  fort,  I  might  profit  by  his  instruction ,  if 
bad,  he  might  be  assisted  by  mine.  —  Ein  andrer  Grundzug 
in  dem  Charakter  des  Dr.  Pr.  ist  seine  kindliche  Frömmigkeit 
und    sein    unerschütterliches    Gottvertrauen,    das    ihn    auch    im 


were  amazed  at  the  command,  but  I  repeated  it  with  more  solemnity 
than  before.  Nun  merkt  Deborah  endlich  den  Spott.  Surely,  my  dear, 
you  jest,  cried  my  wife,  wc  can  walk  it  pcrfectly  well;  we  want  no  coach 
to  carry  us  now.  —  You  mistake,  child,\  returned  I,  we  do  want  a  coach; 
for  if  we  walk  to  church  in  this  trira ,  the  very  children  in  the  parish  will 
h'oot  after  us.  Deborah  wendet  ein,  sie  habe  geglaubt,  ihr  Mann  sähe  seine 
Kinder  immer  gern  reinlich  und  nett  um  sich.  You  may  be  as  neat  as  you 
please,  unterbricht  er  sie,  and  1  shall  love  you  the  better  for  it,  but  all 
this  is  not  neatness,  but  frippery  cet.  —  Schon  am  andern  Tage  ist  der 
Flitter  verschwunden,  und  die  Töchter  sind  damit  beschäftigt,  aus  den 
langen  Schleppen  Sonntags westen  für  Dick  und  Bill  zu  machen. 
— ■  An  den  andern  Stellen  hat  Deb.  wieder  Luftschlösser  für  die  Zukunft 
ihrer  Töchter  gebaut  und  spricht  dann  die  Ansicht  aus,  sie  sehe  keinen 
Grund,  warum  die  beiden  Miss  Wrinklers  reiche  Hciratlien  machen  sollten 
und  ihre  Töchter  nicht.  As  this  last  argument  was  directeil  to  me,  fährt 
der  Erzähler  fort,  I  protested  I  could  see  no  reason  for  it  neithcr,  nor 
why  Mrs.  Simpkins  got  the  ten  thousand  pound  prize  in  the 
lottery,  and  we  sat  down  with  a  blank.  Diese  Art  von  Beweisen  ist 
aber  der  guten  Deborah  sehr  zuwider  und  sie  beklagt  sich  bitter,  dass  ihr 
Mann  auf  solche  Weise  stets  ihren  und  ihrer  Töchter  Frohsinn  dämpfe. 


Bemerkungen  über  den  Viour  of  Wakefield.  14r> 

aussersten  Unglück  nicht  vorlässt.  „We  may  yct  bc  happy,  nuiy 
yet  see  happier  days"  —  das  hlciht  sein  Wahlaprucli,  wenn  Alles 
um  ihn  her  verzweifeln  will.  Uebrlgcns  vgl.  über  seine  Fröm- 
migkeit: S.  46.  74.  208-10.  340.  344.  354.  374.  386.  451. 
472  fl.*).  Im  innigsten  Zusannncnhangc  mit  seiner  Frömmig- 
keit steht  sein  Edelmuth  und  seine  Versöhnlichkeit,  die  selbst 
dem  bittersten  Feinde  zu  vergeben  bereit  ist:  S.  366.  372.  386. 
Nur  ein  oder  zwei  ^lal  überwältigt  ihn  auf  Augenblicke  der 
Zorn,  so  dass  ein  Fluch  seinen  Lippen  entschlüpft,  aber  schnell 
gewinnt  die  Versöhnlichkeit  in  seinem  Herzen  wieder  die  Ober- 
hand:  S.  210.  384.  Die  vorherrschende  Stimmung  seiner  Seele 
ist  der  Friede  einer  heitern  Sonntagsstille,  wie  er  nur  in  schuld- 
lösen und  reinen  Gemüthern  wohnen  kann.  Selbst  im  schwer- 
sten Unglück  milchte  er  deshalb  nicht  mit  dem  reichen,  mäch- 
tigen, aber  schuldbeladenen  Squlre,  seinem  Unterdrücker,  tauschen. 
„Observe  this  bed  of  straw  and  unsheltering  roof,  sagt  er  S.  316 
zu  seinem  Sohne,  those  mouldering  walls  and  humid  floor,  my 
wretched  body,  thus  disabled  by  fire  and  my  children  weeping 
round  me  for  bread  —  you  have  come  home,  my  child,  to  all 
this,  yet  here,  even  here  you  see  a  man  that  woidd  not  for  a 
thousand  worlds  exchange  sltuatlons  (sc.  mit  dem  Squlre).  O 
my  children,  fügt  er  dann  hinzu,  If  you  could  but  learn  to 
conmiune  with  your  own  hearts,  and  know  what  noble  Company 
you  cau  make  them ,  you  would  little  regard  -  the  elegance  and 
splendour  of  the  worthless."  —  "^^'ahrhaft  erhebend  ist  die  Art 
und  Weise,  wie  er  sich  und  seinen  Sohn  Georg  zum  nahen 
Tode  vorbereitet.  ,,I  am  no\v  raised  above  this  world  and  all 
the  pleasures  it  can  produce,  sagt  er  S.  386;  —  from  this  mo- 
ment  I  break  from  my  heart  all  the  ties  that  held  it  down  to 
earth ,  and  will  prepare  to  fit  us  both  for  eternity.  Yes ,  my 
son,  I  will  point  out  the  way,  and  my  soul  shall  guide  yours 
in  the  ascent;  for  we  will  take  our  flight  together"  cet.  —  Des 
Dr.  Primrose  ..weak  aide"  (S.  14)  ist  bekanntlich  seine  Schrift- 


*)  Sehr  bezeichnend  für  den  ernsten  Sinn,  mit  dem  er  ernste  Dinge 
bebandelt  wissen  will,  ist  die  Stelle,  wo  er  sich  darüber  ausspricht,  wie  sehr 
ihm  das  Gelächter  der  glücklichen  Brautpaare  vor  der  Trauung  missfallcn 
habe  (S.  352  fl.)  und  wie  er  sie  wiederholt  zu  einem  ernsten  und  würde- 
vollen Benehmen  habe  mahnen  müssen. 

Aflitv  f.  n    PprachPii.     XXill.  10 


146  Bemerkungen  über  den  Vicar  ol'  Wakefield. 

steller-EItelkeit ,  die  auch  von  dem  Gauner  Jenkinson  bei  dem 
Pferdehandel  mit  grosser  Schlauheit  benutzt  wird,  um  den 
armen  Pfarrer  zu  betrügen:  vgl.  S.  62.  158.  Mit  seiner  Schrift- 
steller-Eitelkeit hängt  wieder  zusammen  der  Stolz  auf  seine 
Ueberlegenheit  im  Disputiren.  In  diesem  Punkte  ist  der  Dr. 
Pr.  sehr  empfindlich:  vgl.  S.  62.*)  Aber  diese  seine  Schwäche 
macht  uns  den  Pfarrer  nur  um  so  liebenswürdiger,  wenn  wir 
zugleich  bemerken,  wie  er  für  seine  Ueberzeugung  alle  äusseren 
Vortheile  zu  opfern  bereit  ist:  vgl.  S,.  20 — 22. 

In  Primrose's  Weib,  Deborah,  sehen  wir  das  Urbild  einer 
treuen,  verständigen  Hausmutter,  die  nur  in  und  für  ihre  Fa- 
milie lebt.  Sie  ist  von  sehr  beschränkter  Bildung  (S.  1.),  be- 
sitzt Avenig  Erfahrung  und  Menschenkenntniss,  hält  sich  aber 
nichts  destoweniger  für  sehr  weltklug,  schlau  und  umsichtig 
und  sucht  diese  ihre  Eigenschaften  zum  Nutzen  der  Familie  bei 
verschiedenen  Gelegenheiten,  aber  in  der  Regel  mit  wenig  Glück, 
geltend  zu   machen:    vgl.    S.  114.  130.  182.  188  fl.**)     Sie  ist 


*)  Bless  me!  cried  my  wife,  here  comes  oiir  good  friend  Mr.  Burchell, 
that  saved  our  Sophia  and  that  run  you  down  fairly  in  the  argunient. 
Piese  in  aller  Unschuld  gesprochenen  Worte  werden  von  ihrem  Manne  sehr 
übel  aufgenommen.  Confute  me  in  argument,  child!  cried  I;  you  mis- 
take  thcre,  my  dear.  I  believe  there  are  but  few  that  can  do  that.  I 
never  dispute  your  abilities  at  making  a  goose-pie,  and  I  beg 
you  will  leave  argument  to  me. 

**.)  Sehr  ergötzlich  ist  besonders  die  letzte  Stelle,  wo  sie  es  übernimmt, 
den  Squire  Thornhill  hinsichtlich  seiner  Absichten  auf  Olivia  zu  sondiren. 
Sie  entwickelt  dabei  ihrer  Meinung  nach  eine  bewunderungswürdige  Schlau- 
heit und  ist  fest  überzeugt,  dass  kein  sterbliches  Auge  ihre  Absichten  zu 
durchschauen  im  Stande  sei.  —  Wenn  sie  ilir  Ziel  erreicht  zu  haben  und 
etwas  recht  Kluges  ausgeführt  zu  haben  glaubt,  dann  versäumt  sie  nie,  ihr 
Verdienst  gebührend  hervorzuheben  und  sich  dessen  gegen  ihren  Mann  zu 
rühmen:  vgl.  u.  A.  S.  132,  wo  sie  ihren  Töchtern  die  guten  Stellen  bei  den 
„vorm;hmen  Stadtdamen"  durch  ihre  Klugheit  und  Entschlossenheit  verschafft 
zu  haben  meint.  When  they  came  to  talk  of  places  in  town,  sagt  sie  zu 
ihrem  Manne,  you  saw  at  once  how  I  nailed  them.  Teil  me,  my  dear, 
fügt  sie  hinzu,  don't  you  think  I  did  for  my  childreu  thete?  —  In  ihrer 
ganzen  Glorie  aber  zeigt  sich  Deborah's  Schlauheit  S.  114  fl.,  wo  sie  im 
Einverstiiudniss  mit  ihren  Töchtei-n  gegen  ihren  Mann  selbst  zu  oi^eriren 
anfängt,  von  dem  sie  gern  „das  Füllen"  und  seinen  einäugigen  Geführten 
ßlackberry  zum  Ritt  nach  der  Kirche  geliehen  haben  möchten.  Mit  un- 
nachahmlichci-  Geschicklichkeit  weiss  der   gute  Pfarrer  den  wohlberechneten 


Bemerkungen  über  den  Viear  ol"  Wakelieh).  14V 

stets  voll  stolzer  lIofFiiungeii  und  IMäne  l'iir  die  Zukiuil't  Ihrer 
Töchter  und  liebt  es,  diesellxMi  durch  allerhand  unbestinuute 
und  iieheimnissvoll  klingende  Kedensarten  anzudeuten ,  die  uns 
zugleich  eine  hohe  Meinung  von  ihrem  prophetischen  Scharf- 
sinn beibringen  sollen.  „Who  knows  how  this  may  end?  AVho 
knows  wliat  niay  happen?  AA^lio  knows  Avhat  Olivia  may  be  able 
to  do?  Stranger  things  happen  every  day  und  andre  geistreiche 
Bemerkungen  hat  sie  stets  zur  Iland,  um  iiire  Hoffnungen  zu 
rechtfertigen.  Dr.  Pr.,  der  den  Sinn  jener  Bemerkungen  ge- 
wöhnlich wohl  durchschaut,  Aveiss  doch  in  der  Regel  nicht  recht, 
was  er  darauf  erwidern  soll  und  hilft  sich  manchmal  damit,  dass 
er  die  Worte  seines  Weibes  wiederholt,  aber  in  anderem  Sinne : 
,,Ay,  who  knows  tliat  indeed !  answered  I  with  agroan;  for  my 
part,  I  doii't  nmch  like  it"  cet.  cet.  ■ —  Zu  clen  charakteristischen 
Eigenthüinlie'likeiten  der  Deborah  gehört  l'erner  die  schon  oben 
erwähnte  Vorliebe  für  vornehme  Sitten  und  Lebensgewohhheiien, 
unter  denen  sie  «ern  die  Dürftigkeit  ihrer  Verhältnisse  verber- 
gen  möchte:  4b  fl.  58.  110.  114  und  i)fter.  Diese  Erhebung 
über  ihren  Stand,  dieses  Streben  nach  eitlem  Flitter  ist  es  aucli, 
was  dem  schlichten  Pfarrer  die  meiste  Xoth  macht  und  A\omIt 
er  am  häufigsten  in  seiner  Familie  zu  kämpfen  hat,  aber  weder 
Belehrung,  noch  Strenge  und  Spott  sind  im  Stande ,  das  Uebel 
ganz  zu  beseitigen:  50.  60.   108.  110.  112.   IIG  fl.  144.*)    Was 


Angriffen  seines. Weibes  auszuweichen  und  sie  dadurch  fast  zur  Verzweiflung 
zu  bringen.  Als  sie  sich  gar  nicht  mehr  zu  hellen  weiss ,  springt  sie  plötz- 
lich von  ilirem  bisherigen  Angriffs  -  Systeme  ab  und  geht  ohne  Umschweif 
auf  ihren  Gegner  los.  Plioo,  Charles,  interrupted  she,  all  that  is  very  true, 
but  not  what  I  would  be  at...  You  know,  the  church  is  two  niiles  off, 
and  I  protest  I  don't  like  to  see  niy  daughters  trudging  up  to  their  pew 
all  blowzecJ"  and  red  with  Walking  and  looking  for  all  the  world  as  if  they 
had  been  winners  at  a  smock-race.  Und  diesmal  setzt  Deb.  ihren  ^^'ilIen 
wirklich  durch. 

*)  Such  as  are  poor  and  will  associate  with  none  but  the  rieh,  are 
hated  by  those  they  avoid  and  despised  by  those  they  follow,  sagt  er  S.  144. 
Unequal  combinations  are  al>vays  disadvantageous  to  the  wcaker  siiie,  tlie 
rieh  having  the  ])leasure  and  the  iioor  the  inconveniencies  —  eine  Behaup- 
tung, die  little  Dick  durch  die  Fabel  von  dem  Riesen  und  dem  Zwerge,  die 
ei«  Bundniss  mit  einander  schliessen  und  zusamnuMi  auf  Abenteuer  ausgehen, 
näher  eriiiutern  niuss. 

]  i)  * 


148  Bemerkungen  über  den  Vicar  of  WakefioliI, 

uns  aber  mit  dieser  Schwäche  der  Deborah  aussöhnt,  das  is« 
ihre  treue  Liebe  zu  ihren  Kindern  und  zu  ihrem  Manne.  De- 
borah ist  stolz  auf  ihre  Söhne  wie  auf  ilire  Töchter.  Sie  ist 
glücklich,  wenn  jemand  dieselben  lobt  und  hat  ihre  Freude 
daran ,  die  Vorzüge  derselben  aufzuzählen  und  in's  günstigste 
Licht  zu  stellen;  82.  130.  182.*)  Wenn  es  gilt,  ihnen  irgend 
einen  Vortheil  zu  sichern,  da  ist  sie  schnell  zur  Hand  und  zeigt 
nicht  geringe  Beredtsamkeit :  128.  430.  lieber  Alles  aber  geht 
ihr  ihr  Mann:  wenn  sie  ihn  behält,  will  sie  gern  jeden  andern 
Verlust  verschmerzen,  selbst  den  ihrer  Kinder:  376.  —  Neben 
dieser  treuen  Liebe  aber  und  in  auffallendem  Gegensatze  dazu 
bemerken  wir  bei  Deborah  eine  gewisse  Härte  gegen  ihre  Kin- 
der, die  oft  sehr  plötzlich  zum  Ausbruch  kommt,  sobald  eins 
von  ihnen  sich  irgendwie  vergangen  oder  ihre  hohen  Erwar- 
tungen getäuscht  hat.  Wir  erinnern  hier  bloss  an  den  Empfang, 
der  dem  vom  Markte  zurückkehrenden  Moses  zu  Theil  wird, 
als  seine  Mutter  entdeckt,  dass  er  betrogen  ist:  S.  140  fl.  Der 
arme  Moses,  den  sie  eben  noch  als  den  verständigsten  und  ge- 
wandtesten Burschen  gerühmt  hat  (I'll  warant,  sagt  sie  von  ihm, 
we'll  never  see  him  seil  his  hen  on  a  rainy  day  cet.), 
der  erscheint  ihr  nun  auf  einmal  als  der  ärgste  Dummkopf  und 
Tölpel  und  muss  sich  die  gröbsten  Schimpfwörter  gefallen  lassen. 
Den  schönsten  Contrast  o:e2ren  die  leidenschaftlich  aufbrausende 
Mutter  bildet  in  solchen  Fällen  das  ruhige  und  besonnene  Be- 
nehmen des  Vaters.  So  auch  hier.  Deborah  will  in  ihrem 
Aerger  die  kupfernen  Brillen  sammt  den  Futteralen  ohne  Wei- 
teres in's  Feuer  werfen,  Dr.  Pr.  aber  bemerkt  ganz  trocken, 
auch  darin  habe  sie  nicht  Recht,  da  kupferne  Brillen  j  eden- 
falls  besser  seien  als  nichts.  —  Bei  einer  andern  Gele- 
genheit streift  das  Benehmen  der  Mutter  gegen  eins  ihrer  Kinder 


*)  They  can  read,  write,  and  cast  accounts,  they  understand  their 
needle,  broad  stitch,  cross-and-change  and  all  manner  of  piain  work,  they 
can  pink,  point  and  frill,  and  know  something  of  music,  they  can  do  up 
small  clothes  and  work  upon  catgut;  my  eklest  can  cut  paper,  and  my 
youngest  has  a  very  pretty  manner  of  telling  fortunes  upon  the  cards. 
Aehnlich  S.  182:  If  the  cakes.at  tea  ate  sbort  and  crisp,  they  were  made 
by  Olivia;  if  (he  gooseberry-wine  was  well  knit,  the  gooseberries  were  of  her 
gathering;  it  was  her  fingers  which  gave  the  pickles  their  peculiar  green  cet. 


Bemerkungen  über  den  Vicar  of  Wakefield.  149 

an  Grausamkeit.  Es  ist  da,  wo  die  tiefgebeugte,  kranke  Olivia 
im  IJewusstsein  ihrer  Schukl  bleich  und  zitternd  Vor  die  Mutter 
tritt  und  nicht  wagt,  ihr  Auge  zu  ihr  emporzuheben.  „Ah 
madam,  ruft  sie  ihr  spöttisch  entgegen  (S.  306),  this  is  but  a 
poor  pkice  you  are  conie  tu  after  so  much  finery.  My  daugliter 
Sophia  and  I  can  afFord  but  little  entertainment  to  persona  who 
have  kept  Company  only  with  people  of  distinction"  cet.  VgL 
S.  212.  „Never,  cricd  she,  shall  that  vilest  stain  of  our  faniily 
again  darken  these  hannless  doors.  I  will  never  call  her  dauohter 
more.  No ,  let  the  strumpet  live  with  her  vile  seducer"  cet. 
Man  würde  der  Deborah  aber  sehr  unrecht  thun,  wenn  man  ihr 
deswegen  die  Liebe  zu  ihren  Kindern  absprechen  wollte,  viel- 
mehr ist  auch  diese  leidenschaftliche  Härte  im  Grunde  nur  ein 
Ausfluss  der  Mutterliebe,  die  keinen  Makel  an  ihren  Kindern 
dulden  will.*) 

Die  bedeutendste  Rolle  neben  dem  Aelternpaar  spielen  in 
dem  Werke  die  beiden  Töchter  Olivia  und  Sophia.  Es  sind 
dies  zwei  einfaciie,  unschuldige,  unerfahrene,  in  jugendlichem 
Frohsinn  aufwachsende,  mit  Schönheit  des  Leibes  wie  mit  den 
edelsten  geistigen  Anlagen  ausgestattete  Landmädchen,  die 
fleissig  in  der  Wirthschaft  mit  angreifen  müssen  und  selbst 
härtere  Arbeiten  nicht  scheuen  dürfen  (S.  66).  Doch  haben 
auch  sie  grosse  Vorliebe  für  Putz  und  schöne  Kleider  und 
lassen  sich  leicht  durch  den  Schein  verblenden :  vgl.  S.  56  fl. 
124  fl.  Dabei  sind  sie  abergläubisch  und  legen  viel  Gewicht 
auf  Wahrsagereien  und  Träume:  vgl.  S.  110.  112.  114.  Ueber 
die  Verschiedenheit  in  der  Erscheinung  wie  im  Charakter  der 
beiden  Mädchen  gibt  uns  Dr.  Primrose  selbst  einige  Andeu- 
tungen (S.  10).  Olivia  ist  schön  und  üppig  gewachsen  wie  Hebe, 
lebhaft  und  für  alle  äusseren  Eindrücke  leicht  empfänglich. 
Sie  gewinnt  die  Herzen  wie  im  Sturm,  während  die  Vorzüge 
ihrer  stilleren  und  sanfteren  Schwester  erst  bei  genauerer  Be- 
kanntschaft nach  Verdienst  gewürdigt  werden.  Aber  trotz  ihrer 
Lebhaftigkeit  besitzt  Olivia  doch  auch   einen  grossen  Stolz  und 


♦)  Der  Erzähler  erklärt  sich  diese  Härte  aus  dem  Erfährungssatze,  dass 
Weiber  über  weibliche  Fehltritte  viel  strenger  zu  urtheilcn  pflegen  als 
Männer         eine  Erklärung,  die  hier  wohl  nicht  ganz  ausreichen  möchte. 


150  Bemor klingen  über  den  Viear  of  Wakefiel d. 

viel  Selbstbeherrschung  und  Aveiss  die  Eegungen  ihres  Innern, 
wo  es  ihr  nöthig  scheint,  sehr  geschickt  zu  verbergen.  Dies 
beweist  sie  namentlich  durch  ihr  Verhalten  gegen  den  Squire 
Thornhill  und  den  Pachter  Williams  (S.  194  fl.).  In  gradem 
Widerspi'uch  mit  ihrem  wahren  Gefühl  wendet  sie  alle  ihre 
Aufmerksamkeiten  dem  letzteren  zu  und  erscheint  heiter  und 
unbefangen,  während  ihr  Inneres  von  Sorge  und  Schmerz  zer- 
rissen ist.  Aber  die  Verstellung  wird  ihr  schwer ,  und  wenn 
die  beiden  Nebenbuhler  fort  sind,  dann  sucht  sie  die  Einsam- 
keit, und  bittere  Thränen  brechen  aus  den  eben  noch  lächelnden 
Augen  (S.  19G).  Ihre  jüngere  Schwester  ist  schon  von  Natur 
zurückhaltender,  und  ihre  Seele  ist  nicht  so  leicht  aus  dem  ru- 
higen Gleichgewicht,  zu  bringen,  doch  ist  ihre  Empfindung 
darum  nicht  weniger  lebhaft  und  tief:  vgl.  S.  70  und  be- 
sonders 448. 

Eine  sehr  liebenswürdige  Erscheinung,  obwohl  von  ganz 
andrer  Art,  ist  auch  ihr  zweiter  Bruder  Moses.  Moses  ist 
ernst,  altklug  und  gesetzt;  er  hat  eine  ganz  besondere  Vorliebe 
für  gelehrte  Gespräche  und  wissenschaftliche  Disputationen,  auf 
die  er  zu  jeder  Zeit  mit  grossem  Eifer  einzugehen  pflegt.  Er 
fühlt  sich  nicht  wenig  geehrt  und  geschmeichelt,  wenn  er  dabei 
Gelegenheit  findet,  seine  Kenntnisse  an  den  Mann  zu  bringen, 
aber  er  lässt  sich  leicht  aufs  Glatteis  führen  und  von  irgend 
einem  oberflächlichen  Schwätzer  zum  Besten  haben.  Wir  sehen 
dies  u.  A.  bei  der  höchst  ergötzlichen  Disputation ,  zu  welcher 
ihn  der  Squire  herausgefordert  hatte,  um  der  Gesellschaft  auf 
seine  Kosten  einen  Spass  zu  bereiten.  Im  stolzen  Bewusstsein 
seiner  Würde  und  der  ihm  Aviderfahrencn  Ehre  schaut  poor 
Moses  rings  im  Kreise  umher  und  geniesst  schon  Im  Voraus 
den  Triumph  seines  Sieges,  als  er  aber  endlich  bemerkt,  dass 
er  von  seinem  Gegner  auf  das  schmählichste  düpirt  worden  ist 
und  dass  dieser  die  Lacher  auf  seiner  Seite  hat,  da  geräth  er 
ganz  aus  der  Fassung,  und  pr,  der  sonst  so  gesprächig  ist, 
gibt  während  des  ganzen  Abends  keine  Silbe  mehr  von  sich 
und  spielt  In  dem  frohen  Kreise  der  Andern  eine  sehr  un- 
glückliche Figur,  üebrigens  hat  Moses  ein  sehr  lebhaftes  Ge- 
iÜhl  für  Recht  und  Unrecht,  und  es  wird  ihm  schwer  sein 
Ui'theil    zurückzuhalten.     Selbst   sein    Vater   muss    sich  manch- 


Bemerkungen  über  den  Vicar  of  Wakefield.  151 

mal  von  dem  strengen  Moralisten  zurechtweisen  lassen:  vgl. 
S.  68  fl.  208  fl. 

Der  älteste  Sohn  Georg,  der  früh  das  väterliche  Haus 
verlassen  hat,  um  selbständig  sein  Brot  zu  suchen,  greift  erst 
gegen  Ende  der  Erzählung  handelnd  in  den  Gang  der  Begeben- 
heiten mit  ein  und  ist  daher  für  das  Ganze  Aveniger  wichtig 
als  seine  Geschwister.  Er  zeigt  sich  uns  als  ein  offener,  edler 
und  ritterlicher  Charakter,  der  freudig  sein  Leben  für  die  Ehre 
der  lamilie  zu  opfern  bereit  ist:  S.  382  fl.  Die  Geschichte 
der  vielen  Widerwärtigkeiten,  mit  denen  er  auf  seinen  Wande- 
rungen zu  kämpfen  hatte,  erfahren  wir  durch  ihn  selbst  S. 
242  fl.,  und  dieser  Abschnitt  belehrt  uns  auch  am  besten  über 
seinen  Charakter. 

Damit  unsre  Bekanntschaft  mit  der  liebenswüi'digen  Fa- 
milie des  Landpredigers  zu  Wakefield  vollständig  sei,  dürfen 
wir  auch  die  beiden  Jüngsten ,  die  little  ones ,  nicht  ganz  mit 
Stillschwei";en  übero;ehnj  zumal  da  auch  sie  von  dem  Verfasser, 

De?  ^  ' 

selbst  in  den  unbedeutendsten  Kleinigkeiten,  mit  unverkenn- 
barer Vorliebe  gezeichnet  sind.  Dick  und  Bill,  die  Lieblinge 
ihres  Vaters  und  die  zärtlichen,  aber  zuweilen  etwas  zudring- 
lichen Freunde  des  gingerbread  spendenden  Mr.  Burchell,  wissen 
ihre  Stelle  in  der  Familie  durch  mancherlei  nützliche  Dienste 
auszufüllen,  z.  B.  als  Vorleser  am  Krankenbett  ihres  Vaters 
oder    als   Neuiofkeitsboten   und   Ankündin-er    nahender    Besuche: 

CS  O 

vgl.  S.  100.  172.  208.  Bei  dem  älteren,  Dick,  tritt  als 
charakteristisch  am  meisten  hervor  eine  gewisse  Dienstfertigkeit. 
Wenn  ein  Fremder  in's  Zimmer  tritt,  gleich  ist  der  artige  Dick 
mit  einem  Stuhl  zur  Hand  (S.  fi2);  auch  ist  er  erbötig,  sein 
Bett  abzutreten,  als  man  wegen  der  Unterbringung  eines  Gastes 
für  die  Nacht  in  Verlegenheit  ist  (S.  64).  Der  Kleinste,  Bill, 
ist  ebenfalls  artig  und  gefällig,  wartet  aber  mit  seinen  Artig- 
keiten gewönlich  erst  so  lange,  bis  Dick  das  Beispiel  dazu  ge- 
geben' hat.  Diesen  Unterschied  erkennt  auch  der  Vater  ge- 
bührend an,  wenn  er  bei  einer  solchen  Gelegenlieit  (S.  66) 
seinem  AVeibc  befiehlt,  jedem  der  beiden  Kleinen  als  Lohn  für 
ihre  Dienstfertigkeit  ein  Stück  Zucker  zu  verabreichen,  dem 
Dick  aber  das  grössere  zukommen  zu  lassen,  weil  er  ..zuerst 
gesprochen  habe''.     Wie  in  ihrer  Dienstfertigkeit  gegen  Fremde, 


152  licmerkungeu  über  den  Vicar  of  Wakefield. 

SO  wetteifern  Dick  und  Bill  auch  in  der  Liebe  zu  ihrem  Vater, 
die  feie  namentlich  während  seiner  Gefangenschaft  mehrmals  in 
kindlich  rührender  Weise  bewähren.  Sie  sind  mit  der  ganzen 
Familie  dem  Vater  in's  Gefängniss  gefolgt,  und  dieser  hat 
ihnen  in  einem  Winkel  seiner  Zelle  ein  dürftiges  Laijer  zurecht 
machen  lassen,  fürchtet  aber,  die  Kleinen  würden  sich  durch 
die  düstre  Umgebung  des  Kerkers  Avohl  allzusehr  schrecken 
lassen.  „Well,  cried  I,  my  good  boys,  how  do  you  like  your 
bed?  I  hope,  you  are  not  afraid  to  lie  in  this  room  dark  as  it 
appears?"  —  „Nopapa,"  antwortet  ihm  Dick,  ,,  1  am  not  a  fraidto 
lie  any  where  where  you  are.  And  I,  says  Bill,  who  was  yet 
but  four  years  old,  love  evexy  place  best  that  my  papa  is  in." 
Als  Dr.  Primrose  die  (allerdings  falsche)  Nachricht  von  dem 
Tode  seiner  geliebten  Livy  erhält,  trösten  ihn  die  Kleinen  in 
kindlicher  Frömmigkeit  (S.  370).  „And  is  not|  my  sister  an 
angel  now,  papa?  cried  the  eklest,  and  why  then  are  you  sorry 
for  her?  I  wish,  I  were  an  angel,  out  of  this  frightful  place, 
if  my  papa  were  with  me.  —  Yes,  added  my  youngest  darling, 
heaven,  where  my  sister  is,  is  a  finer  place  than  this,  and 
there  are  none  but  good  people  there,  and  the  people  here  are 
very  bad."  — 

Ein  näheres  Eingehen  auf  die  übrigen  (nicht  zur  Familie 
des  Landpredigers  gehörenden)  Persönlichkeiten  müssen  wir 
uns  versagen,  um  noch  einige  Worte  über  den  Gebrauch  des 
Vicar  of  W.  als  Schulbuch  hinzufügen  zu  können.  Wir  sind 
nämlich  der  Ansicht,  dass  der  Vicar  sich  zur  Lektüre  für 
jüngere  Schüler  durchaus  nicht  eignet,  und  zwar  aus  fol- 
genden  Gründen : 

1.  wird  man  mit  Anfängern  immer  nur  einen  kleineren 
Theil  des  Ganzen  lesen  können,  dies  ist  aber  bei  einem 
Kunstwerke  von  so  fein  berechneter  Gliederung 
wie  der  Vicar  of  W.  immer  ein  grosser  Uebelstand. 

2.  bewegt  sich  das  Werk  in  einer  Sphäre,  die 
eigentlich  nur  dem  Verständniss  von  Erwachsenen 
zugänlich  ist,  denen  eine  reiche  Lebenserfahrung  und  neben- 
bei auch  einige  Bekanntschaft  mit  manchen  Eigenthümlichkeiten 
der  enghschen  Nation  zu  Gebote  steht.  Das  Buch  ist  voll  von 
Beziehungen  auf  politische,   kirchliche  und  literarische  Verhält- 


B  üiiicikungen  über  den  Vi  cur  ot'  Wsikiifield.  153 

nisse,  die  gnn/  ausserhalb  des  Horizontes  von  Knaben  liegen: 
vgl.  S.  86.  220  f1.  22(1 -;^(k  248  fl.  356  fl.  360.  388.  Dasselbe 
gilt  von  vielen  der  hin  und  wieder  eingefiochtenen  Keflexionen 
und  Betrachtungen.  Abei*  auch  abgesehen  von  solchen  Ein- 
zeluheiten  ist  die  ganze  Kntwieklung  des  Romans  von  der  Art, 
dass  zu  einem  mehr  als  obertlächliehen  Verständniss  ein  tieferes 
Eindringen  in  psychologische  Vorgänge  und  in  die  innersten 
Regungen  des  menschlichen  Herzens  erforderlich  ist.  Jeden- 
falls werden  jüngeren  Schülern  gerade  die  eigenthünilichcn 
Schönheiten  des  Buchs  ganz  verloren  gehen.  Denn  nicht  der 
Verlauf  der  Begebenheiten  an  sich  ist  das  Interessanteste  am 
Vicar  of  W.,  sondern  die  Entfaltung  der  Charaktere  in  und 
mit  den  Begebenheiten  und  die  Wechselbeziehung,  in  welche 
die  verschiedenen  Charaktere  zu  einander  und  zur  Aussen- 
welt  treten. 

3.  kommt  auch  Vieles  in  dem  Buche  vor,  was  sich  aus 
sittlichen  G runden  zur  Lcctüre  für  Knaben  n  i  c h  t  r e  c  h  t  eignen 
will.  Dahin  gehört  u.  A.  das  Verhältniss  zwischen  Olivia  und 
dem  Squire  Thornhill,  welches  sich  durch  einen  grossen  Theil 
des  Buchs  hindurchzieht  und  zu  mancherlei  für  Knabenohren 
nicht  passenden  Bemerkungen  Veranlassung  gibt.     Endlich 

4.  ist  noch  aufmerksam  zu  machen  auf  eine  Eigenthüm- 
liehkeit  in  der  Darstellung  des  Vicar  of  W.,  die  einen  nicht 
ü'erinfren  Antheil  an  dem  zauberhaften  Reize  des  Buchs  hat, 
für  die  ein  Knabe  aber  noch  gar  keinen  Sinn  haben  kann. 
Wir  meinen  den  feinen  Humor,  der  einen  ganz  eigenthümlichen 
Duft  über  das  Gemälde  verbreitet,  etwa  wie  die  Abendbeleuch- 
tuuff  über  eine  Landschaft.  Durch  diesen  Humor  erhält  der 
Erzähler  sich  selbst  und  in  Folge  dessen  auch  seinen  Leser 
stets  über  den  Bef^ebenheiten  und  erzeugt  dadurch  in 
unsren  Seelen  jene  heitere  Stimmung,  die  uns  auch  da  nicht 
verlässt,  wo  Bilder  des  Elends  und  der  Leiden  an  uns  vor- 
überffef ührt  werden.  Eben  dieser  Humor  aber,  w^  i  e  das  V  e  r  - 
ständniss  desselben,  ist  immer  nur  das  Erzeugniss  rei- 
ferer Jahre,  wo  man  einerseits  die  Nichtigkeit  menschlicher 
ßesti'ebungen  durch  eigne  Erfahrung  kennen  gelernt,  andrerseits 
aber  auch  einen  Standpunkt  erreicht  hat,  der  hoch  und  fest 
genug  ist,  um  von  <lf)rt  aus  mit  Ruhe    in  dacj  wechselnde  Spiel 


154  Bemerkungen  über  den  Vicar  ol  Wakefielil. 

des  Lebens  hinabschauen  zu  können.  Wie  kann  man  aber 
Sinn  für  eine  solche  BetrachtungSAvcise  von  dem  erwarten, 
der  seine  Fahrt  auf  dem  Ocean  des  Lebens  kaum  noch  be- 
gonnen hat?  — 

Nacli  dem  Allen  lässt  sich  der  Vicar  of  W.  zur  Leetüre 
für  Anfänger  durchaus  nicht  empfehlen,  und  wir  würden  zu 
diesem  Zwecke   einer  guten    Chrestomathie    den  Vorzug  geben. 

Luckau. 

Ad.   Wähler. 


Sitzungen  der  Berliner  Gesellseliaft 

für  das  St  u  d  i  u  m  der  neueren  Sprache  n. 


,  Nach  Festsetzung  der  Statuten  und  Wahl  des  Vorstandes  hielten 
in  der  Sitzung  am  1.  December  1857  die  Herren  Sachs  und  Andresen 
Vorträge,  ersterer  über  eine  Encyklopädie  der  modernen  Sprachen, 
letzterer  über  ein  Verzeichniss  von  Wurzelwörtern  in  Becker's  Gram- 
matik.     Beide  Vorträge  sind    in   diesem  Hefte   des  Archivs  abgedruckt. 

Am  1.").  Deceinl)er  berichtete  Herr  Kleiber  über  die  auf  den  Unter- 
riebt im  Deutschen  bezüglichen  Bücher  des  Herrn  von  Thraemer.  — 
Herr  Herrig  besprach  die  Remarques  sur  la  langue  fran^aise  von  Vauge- 
las.  In  der  Einleitung  zeigte  er  die  Wichtigkeit,  welche  ein  eingehen- 
des Studium  der  bekannten  Remarques  für  jeden  Freund  der  französi- 
schen Sprache  überhaupt  haben  müsse,  eines  Werkes,  dessen  Verfasser 
gleichsam  die  Doctrin  derjenigen  Epoche  in  sich  zusammenfasst,  welche 
mehr  als  jede  andre  von  nachhaltigem  Einflüsse  auf  die  ganze  Enwicke- 
lung  der  französischen  Sprache  gewesen  sei.  Der  Vortrag  skizzirte 
hierauf  die  gesellschaftlichen  Verhältnisse ,  welche  zur  Zeit  des  V.  be- 
standen, und  schilderte  den  lebhaften  Antheil ,  welchen  damals  jeder 
Gebildete  an  grammatischen  Untersuchungen  genommen.  Hierauf 
wurden  die  beiden  Sammlungen  grammatischer  Bemerkungen  von  Vauge- 
las  näher  in's  Auge  gefasst  und  die  Echtheit  der  von  Aleman  im  Jahre 
IG 90  veröffentlichten  Remarques  nachgewiesen.  Es  ergab  sich,  dass 
der  Styl  und  die  ganze  Denk-  und  Ausdrucksweise  in  beiden  Arbeiten 
ganz  dieselbe  sei,  und  in  dem  untergeordneten  Interesse,  welches  der 
Inhalt  der  zweiten  Sammlung  hat,  wurde  der  Grund  gefunden,  wes- 
halb Vaugelas  diese  Bemerkungen   nicht  selbst  in  den  Druck  gegeben. 

Hierauf  fasste  der  Vortrag  die  eigentliche  Methode  des  V.  näher 
in's  Auge  und  analyslrte  die  Grundsätze,  nach  denen  er  bei  seinen 
grammatischen  Untersuchungen  verfahren.  Als  Cardinalpunkt  seiner 
ganzen  Methode  ergab  sich  die  Theorie  des  Gebrauchs,  einer  Auto- 
rität, welche  nach  V.  frühere  und  höhere  Geltung  hat  als  die  Gram- 
matik. In  seinem  Vorwort  schildert  V.  freilich  den  Gebrauch  als  ver- 
änderlich ,  aber  er  sei  doch  nicht  eigentlich  Modesache  und  treibe  nicht 
''twa  auf  der  Bahn  des  Zufalls;    er  ist,  sagt  er.  nicht  eigentlich  incon- 


156  Sitzungen   der   Berliner  Gesellschaft 

sequent,  und  wenn  gleich  man  nicht  immer  im  Stande  ist,  das  geheim- 
nissvolle Ziel  zu  erschauen ,  welchem  er  zustx-ebt ,  so  liegt  das  doch 
meistentlieils  an  der  Schwäche  unsrer  Einsicht.  „Die  Grammatik  hat, 
wie  die  Geschichte,  ihre  Philosophie,  durch  welche  sich  viele  Ereig- 
nisse vollständig  erklären  lassen,  welche  beim  ersten  Anblick  ganz  selt- 
sam erscheinen,  aber  doch  nur  Resultate  einer  instinctmässigen  Logik 
der  Sprache  sind."  Der  Vortrag  erläuterte  hierauf  ausführlich  die 
Mittel,  deren  sich  V.  bediente,  um  den  richtigen  Gebrauch  zu  consta- 
tiren,  wobei  er  stets  die  Werke  guter  Schriftsteller,  der  Sprachgelehrten 
seiner  Zeit  und  die  Ausdrucksweise  des  Hofes  sehr  gewissenhaft  zu 
Rathe  zog.  Sodann  ward,  die  Art  charakteinsirt ,  mit  welcher  V.  in 
Beziehung  auf  den  Gebrauch  neuer  Wörter  verfuhr.  Nach  der  eignen 
Angabe  des  Grammatikers  wird  ein  neues  Wort  nicht  improvisirt. 
„Es  kommt  nicht  in  voller  Rüstung  aus  dem  Haupte  des  Schriftstellers. 
Wäre  das  der  Fall,  so  würden  wir  bald  mit  gewagten  und  unbekannten 
Ausdrücken  ganz  überschwemmt  sein."  Eine  gewisse  Anzahl  von 
Wörtern,  welche  V.  aventuriers  nennt,  sind  in  der  Welt  in  Circulation, 
deren  man  sich  bedient,  „ohne  eigentlich  recht  zu  wissen,  wo  und  wann 
sie  querst  gebraucht  wurden."  Sie  sind  vorhanden  und  warten  auf 
Beschäftigung;  es  gibt  demnach  in  der  gewöhnlichen  Sprache  eine  lan- 
gue  expectante,  welche  in  Nothfällen  aushilft.  Einzelne  Wörter,  welche 
man  für  schlecht  oder  mittelmassig  erkennt,  lässt  man  vegetiren  und 
duldet  s'fk  vielleicht  höchstens  in  der  Sprache  des  gewöhnlichen  Lebens, 
aber  in  stylistischen  Arbeiten  dürfen  sie  nicht  vorkommen ;  andre  da- 
gegen nimmt  man  nach  und  nach  auf,  weil  man  ihre  Anwendung  für 
nützlich  häl,t.  Um  die  Probezeit  neugewagter  Wörter  abzuschliessen, 
müssen  sie  mehrere  Bedingungen  erfüllt  haben.  Sie  müssen  dem  Geiste 
der  französischen  .Sprache  angemessen  sein ,  sich  leicht  unter  eine  der 
grösseren  Wortfamilien  classificiren  lassen,  einen  präcisen  Sinn  haben 
und  das  Mittel  gewähren,  irgend  einen  Begriff  kurz  zu  bezeichnen,  wo- 
für früher  eine  Umschreibung  erforderlich  war.  Der  Vortrag  würdigte 
am  Schluss  das  Verdienst,  welches  sich  V.  um  die  französische  Spraclie 
erworben,  und  rechtfertigte  ihn  gegen  manche  Anschuldigungen,  welche 
einzelne  Granmiatiker  gegen  ihn  ausgesprochen.  —  Herr  Büchmann 
berichtete  über  den  Plan  der  philologischen  Gesellschaft  in  London,  ein 
Lexikon  der  englischen  Sprache  zu  veranstalten  und  üb"5r  die  Vor- 
arbeiten dazu.  —  Herr  Mahn  besprach  zwei  Bücher :  Brandes ,  das 
ethnographische  Verhältniss  der  Gelten  und  Germanen,  und  Holzmann, 
Gelten  und  Germanen. 

In  der  Sitzung  vom  12.  Januar  ward  von  Herrn  Saclis  noch  ein- 
mal das  Bedüi'fniss  einer  Encyklopädie  der  modernen  Philologie  in  Er- 
örterung gebracht.  —  Herr  Andresen  trug  Bemerkungen  über  die 
Benennungen  der  Spielkarten  vor.  —  Herr  Herrig  unterzog  das  Diction- 
naire  de  l'Academie  einer  scharfen  Kritik.  —  Herr  Mahn  theilte  dar- 
auf aus  seinem,   nur  in   zweihundert  Exemplaren   abgezogenen  Buche: 


für   (las   Studium   der   neuoren    Sprachen.  157 

Denkmäler  der  Baskiselicii  Sprache  mit  einer  Kiitlfifnn;r,  welehe  von 
dem  Stiidium  der  E^a.-^kischen  Sprache  Jiandelt  und  /n^^leich  ehie  Beschrei- 
bung und  Charakterititik  derselben  enthält ,  eine  Kritik  dieser  Sprache 
mit,  welche  selir  günstig  für  dieselbe  ausi'ällt  imd  sich  an  Steinthal's 
Eintheilung  der  Sprachen  anlehnt.  „Ihrer  intelleotuellen  Anlage  ent- 
spreche ein  angemessenes  morphologisches  Element ;  sie  scheide  StoH" 
und  Form;  Ncmen  und  Yerbum  trenne  sie  schärfer,  als  andere  hcrab- 
gekommene  Sprachen,  wie  das  Deutsche  und  Romanische;  die  in  iiir 
gehandhabte  Agglutination  komme  der  Flexion  im  weiteren  Sinne  fast 
gleich."  Im  Gegensatz  zu  Willielm  von  Humboldt  weist  er  darauf  vielfa- 
chen Einfluss  des  Baskischen  auf  das  Romanische  sowohl  in  lautlicher  als 
grammatischer  Beziehung  nach.  ,.Das  spanische  Verfahren,  in  gewissen 
Fällen  das  persönliche  Fürwort  pleonastisch  und  zwiefach  darzustellen, 
sei  dem  Baskischen  entlehnt;  ebenso  die  doppelte  Bezeichnung  des  Zeit- 
wortes sein  durch  ser  und  estar."  Endlich  setzt  er  die  baskische 
Sprache  mit  den  sanskritischen  Sprachen  in  Parallele.  Diese  hätten, 
so  weit  sie  analytisch  geworden,  durch  Abstreifung  der  Formen  immer 
mehr  Aehnlichkeit  mit  an  sich  und  von  vorn  herein  unvollkommeneren 
Sprachen  gewonnen.  Namentlich  erörtert  er,  wie  durch  solche  Fornien- 
veiluste  das  Englische  immer  mehr  zu  einer  Sprache  würde,  in  der  es 
unmöglich  sei,  den  Sinn  des  Satzes  ohne  Nachhülfe  der  Reflexion,  die 
sich  die  nöthigen  Beziehungen  aus  dem  Zusammenhan";  aufsuchen  muss, 
an  der  blossen  Form  zu  erkennen.  Wichtige  und  nothwendige  Rede- 
thcile.  wie  das  Relativum  und  die  Conjunction,  würden  launenhaft  und 
willkürlich  aufgegeben.  Wichtige  Verba  hätten  ihren  Infinitiv  verlo- 
ren; ein  Conjunctiv  existire  nur  in  zwei  Formen.  Das  Englische  wäre 
in  grammatischer  Beziehung  so  ziemlich  wieder  auf  dem  Standpunkte 
angekommen,  auf  dem  das  Chinesische  stets  blieb.  Natürlich  kann 
sich  der  Vortragende  nicht  mit  J.  Grimm's  Ansicht,  das  Pünglische  sei 
die  vorzüglichste  Sprache  zum  zweckmässigen  Ausdruck  des  mensch- 
lichen Gedankens,  einverstanden  erklären. 

Am  2.  Februar  hielt  Herr  Andresen  einen  Vortrag:  Zur  Logik 
der  deutschen  Sprache.  —  Herr  Sachse  las  darauf  über  Aufnahme 
und  Behandlung  fremder  Wörter,  vorzugsweise  der  Länder- 
und Völkern  amen  im  Deutschen.  Er  fand  sich  dazu  angeregt  durch 
die  Wahrnehmung,  dass  in  der  neiiesten  Zeit  manche  deutsche  Gelehrte 
ohne  Princip,  ohne  Beruf  und  Geschick  Fremdwörter  aufnahmen,  daher  zn 
den  vorhandenen  oft  mancherlei  Nebenformen  sich  einzuschleichen  such- 
ten, z.  B.  neben  Phönizier,  Perser  und  Araber:  Phönikier,  Phoinikior, 
Phoiniker,  Pliöniken ,  Persier,  Arabicr.  Unter  Berücksichtigung  von 
Angaben  J.  Grimra's  im  10.  Bande  der  Wiener  Jahrbücher  von  1835, 
gab  er  beispielsweise  eine  Uebersicht  über  die  Veränderungen  und 
Umwandln n ge n  des  Wortes  Roma  bei  den  deutschen  und  roma- 
nischen Völkern.  Dann  theilte  er  aus  einem  ihm  angehörenden  Glos- 
sarium,  einem  Manuscrii)t   dos    13.  oder    14.  Jahrhunderts, 


158  Sitzungen  der  Berliner  Gesellschal't 

eine  Uebersicht  über  die  verschiedenen  Arten  von  Länd(;rnainen  mit, 
z.  B.  Judenland,  WulclicnUmd  (Italia),  Wcliischland  (Gallia),  Pnllen- 
land  (Apnlia),  Deutschland  inid  Teutsland,  Liftland,  Morenland ;  neben 
Frankreich,  Osterreich,  Dannemark  auch  Franken  (Franconia),  Lam- 
parten, Payrun,  Durgen  (Thuringia),  Hessen,  Norwegen,  Durcken, 
Caldeen  (Chaldaea),  Egipten  und  ferner  Arragon,  Pigardia,  Portugal, 
Westval,  Praband  (Brabancia).  Endlich  besprach  er  noch  nach  Ab- 
weisung des  unhistorischen  und  geschmacklosen  Verfahrens  in  Leo's 
neuestem  geschichtlichen  Werke  eine  interessante  Behandlung 
des  Gegenstandes  von  A.  Seh  melier  aus  dem  Jahre  1846 
und  verlangte  möglichste  Consequenz  in  der  Aufnahme  fremder  Wör- 
ter, und  zwar  dergestalt,  dass,  abweichend  vom  Verfahren  der  Englän- 
der und  Franzosen ,  dem  Worte  sein  ursprünglich  nationales  Gepräge 
erhalten  bleibe ,  dass  aber  bei  Wörtern  ,  die  uns  durch  das  Griechische 
oder  Lateinische  überliefert  sind,  der  Umbildung  des  Wortes  durch  das 
eine  oder  andere  Volk  Rechnung  getragen  werde.  Namentlich  vei'langt 
er  die  Ausstossung  des  i  in  allen  Wörtern,  in  denen  es  sich  ursprüng- 
lich nicht  findet,  z.  B.  in  Galler,  Makedoner,  Phöniker  u.  a.  m.,  so  wie 
für  die  Beibehaltung  desselben  in  Aegyptier,  auch  wohl  in  Böotier 
u.  dgl,  m. 

Der  Vortrag  bezweckte  mehr  das  Interesse  für  den  Gegenstand 
zu  erregen,  als  denselben  auch  nur  übersichtlich  erschöpfend  zu  behandeln. 

Herr  Heller  sprach  darauf  über  den  griechischen  Metaf)hrasten 
der  Commentarien  des  Julius  Caesar.  Das  Resultat  seiner  Forschun- 
gen ist:  Der  Metaphrast  ist  eine  nach  der  Ausgabe  des  Robert  Stepha- 
nus  vom  Jahre  1544  angefertigte,  in  manchen  Stellen  gelungene,  häufig 
aber  fehlerhafte  griechische  Uebersetzung  eines  wahrscheinlich  in  Paris 
gebürtigen  Franzosen,  vielleicht  des  Parlamentspräsidenten  Paulus  Pe- 
tavius;  denn  aus  der  Bibliothek  des  letzteren  war  er  hervorgegangen. 
Jungermann,  der  denselben  1606  zu  Frankfurt  a.  M.  in  seiner  Aus-j 
gäbe  des  Caesar  zuerst  herausgab,  schreibt  ihn  mit  Scaliger  dem  Pla- 
nudes  zu,  luid  Casaubonus  nannte  die  LTebersetzung  eine  glückliche 
Nachbildung  der  einfachen  Schreibweise  Caesar's".  .  Der  Vortragende 
stellt  nun  das  allmälige  Sinken  der  Achtung  dar,  zu  der  dem  Metai- 
phrasten  das  glänzende  Unheil  jener  berühmten  Philologen  verholfen 
hatte.  Schneider  sprach  zuerst  aus,  dass  der  Metaphrast  nicht  nach 
Manuscripten,  sondern  gedruckten  Exemplaren  des  16.  Jahrhunderts 
verfertigt  ist.  Diese  Behauptung  erhebt  Herr  Heller  zu  wissenschaft- 
licher Gewissheit  durch  eine  genaue  Vergleichung  des  Jungermann- 
schen  Metaphrasten  mit  dem  Caesar  des  Robert  Stephan us.  Darauf 
weist  er  an  Sprachschnitzern  nach ,  dass  der  Verfasser  kein  Grieche 
gewesen  sein  kann.  Dass  er  ein  Franzose,  gewesen  sein  müsse,  wii'd 
darauf  aus  den  vielfach  zu  rügenden  Gallicismen ,  aus  der  Verwechse- 
lung des  französischen  Genus  mit  dem  griechischen  Genus,  aus  fehler- 
haften griechischen  Constructionen ,   denen   eine  richtige  französische  zu 


für  dus  Studium   der  neueren   Sprachen.  15(i 

Grunde,  liegt  und  aus  der  franz()sirenden  Sclircibung  der  Eigennamen 
augenfällig  bewiesen.  Derartige  Felder  sind:  al  innoi  (jumenta) 
wegen  la  junient,  ötqvti^  (deforniia)  wegen  dillornie,  oKiyrnv  s-ato-;  (per- 
paucis  vulneiatis)  Avegen  hors,  das  soAvoLl  dem  TiVi^t'  als  dem  ixrhf,'  ent- 
spricht, ev  lavTCü  fitivävroav  totio)  (qui  in  eodem  occiderint  castello)  we- 
gen rester  sur  la  place,  tavtov  iTreaü-ai  wegen  suivre  quelqu'un,  ij  m'va^ 
wegen  une  table,  iöslzo  avtov  wegen  "il  le  pria  u,  s.  w.  Der  Voi'trag, 
der  der  Auszug  einer  ausführlicheren  Abhandlung  im  1.  Helle  des 
Jahrgangs  1858  des  Göttinger  Fhilologus  ist,  beschränkte  sich  natür- 
lich auf  eine  geringere  Auslese  der  in  jener  Zeitschrift  aul'gef iihrtcn 
Belegstellen,  genügte  jedoch  vollständig,  die  Behauptung  des  Vortragen- 
den zu  rechti'ertigen ,  dass  hier  eine  Frage  der  classischen  Philologie 
durch  die  Beihülfe  einer  neueren  Sprache  zum  Abschluss  gebracht  wor- 
den ist.  —  Herr  Regierungsrath  Schulz  (San  Marte)  ,  den  die  Gesell- 
schaft die  Ehre  hatte ,  an  diesem  Abend  zu  ihren  Gästen  zu  zählen, 
ergriff  darauf  das  Wort ,  um  seine  Ansicht  der  Namen  im  Parzival  zu 
begründen.  Die  überwiegende  Mehrzahl  dieser  Namen  sei  französi- 
schen Ui'sprungs;  schon  dadurch  widerlege  sich  die  Annahme,  dass  der 
Inhalt  der  Dichtung  auf  Wales  zurückzuführen  sei ;  einige  Namen  seien 
allerdings  keltisch,  einige  deutsch.  Eine  streng  wissenschaftliche  Zurück- 
führung  dieser  Namen  auf  ihre  Grundform  nach  den  Gesetzen  der  Laut* 
Verschiebung  und  des  Umlauts  sei  kaum  räthlich ;  ihre  Deutung  wür- 
den sie  meistens  einem  glücklichen  Zufalle  der  Divination  zu  verdan- 
ken haben  ,  wobei  die  allegorische  Bedeutsamkeit  des  Namens  in  dem 
seinem  Wesen  nach  allegorischen  Gedichte  einen  Anhaltepunkt  gewähre. 

In  der  fünften  Sitzung  am  16.  Februar  stellt  Herr  Andresen  eih 
i-eichhaltiges  Yerzeichniss  von  Wortpaaren  zusammen,  die  aus  derselben 
AVurzel  einer  fremden  Sprache  fliessen ,  wie  Probst ,  Profoss  —  Papst, 
Pfatfe  —  Pact,  Pacht  —  Parole,  Parabel  —  Triumph,  Trumpf  — 
Tunica,  Tünche  u.  s.  w.  Herr  Sachs  referirt  1)  über  die  neueste 
Shakespearliteratur  (Dingelstedt ,  Kreissig,  Bodenstedt) ,  2)  über  die 
von  F.  Guessard,  Professor  an  der  Ecole  des  Chartes,  correspondiren- 
dem  Mitglied  unsrer  Gesellschaft,  herausgegebenen,  alten  provenzalischen 
Grammatiken :  Donatz  Proensals  des  Uc  Faydit  und  Las  rasos  de  tro- 
bar  von  R.  Vidal.  —  Herr  Heller  unterzieht,  mit  Anknüpfung  an 
Herrn  Herrig's  frühere  Vorträge  über  Vaugelas  und  die  Academie  beide 
Gegenstände  einer  nochmahgen  Untersuchung. 

Am  2,  März  trägt  Herr  Andresen  eine  Arbeit  über  die  Anleh- 
nung und  das  Anwachsen  des  Artikels  an  das  Substantiv  um  im  Roma- 
nischen und  Germanischen  vor.  —  Herr  Mahn  widerlegt  die  nament- 
lich von  Macaulay  behauptete  Herleitung  des  W^ortes  Kabale  aus  den 
Anfangsbuchstaben  des  englischen  Ministeriums  dadurch,  dass  er  das 
Vorkommen  des  Wortes  vor  1670  in  Racine  (11  laut  aliaiblir  la  ca- 
bale,  166U_)  und  in  Moliere  (Tout  marche  par  cabale,  Misanthrope) 
niu-hweist.   —  Herr   liiichrnann   rocrt   eine  Besprechung   des   Prüfungs- 


IGO  Sitzungen  der'Berlint'.r  Gesellschaft  etc.  ' 

reglements  für  das  Abiturientenexaraen  der  Realschulen,  so  weit  sieh 
dasselbe  auf  den  Nuchweis  von  Kenntnissen  in  der  französischen  und 
englischen  Literaturgeschichte  bezieht,  an.  Im  Anfange  dieser  Sitzung 
überreicht  der  Vorsitzende  das  erste  der  Gesellschaft  eingesendete  Buch, 
eine  Abhandlung  über  die  Namen  im  Parzival  von  dem  ordentlichen 
Mitgliede  dei-  Gesellschaft,  dem  Regierungsrath  Schulz. 

Am  16.  März  vortheidigt  Herr  Heller  von  ihm  gemachte  Emenda- 
tionen  zu  vier  Stellen  aus  Shakespear.  —  Herr  Pröhle,  stellvertreten- 
der Schriftführer  der  Gesellschaft,  spricht  über  seine  Sammlungen  nord- 
deutscher Volksüberlieferungen.  Nachdem  er  der  Thätigkeit  anderer 
Sammler  (-Sommer's,  Kuhn's  und  Schwartz's)  lobende  Eivvähnung  ge- 
than,  setzt  er  auseinander,  welches  Verfahren  er  selbst  einschlug,  um 
die  Sagenschätze  unmittelbar  aus  dem  Munde  des  Volks  zu  gewinnen, 
hebt  hervor,  dass  es  ihm  nicht  bloss  um  mythologische  Zwecke  zu  thun 
ist,  sondern  dtiss  er  bei  seiner  Thätigkeit  auf  diesem  Gebiete  zugleich 
die  Absicht  verfolgt,  Denkmäler  für  die  AufFassungsweise  und  die  Art 
,der  Gedankenentwicklung  unsers  heutigen  Volks  ^u  geben,  und  geht 
dann,  indem  er  ausdrücklich  betont,  dass  man  seine  Arbeiten 
ausser  der:  „Aus  dem  Harze,"  nicht  als  belletristische  betrach- 
ten möge,  zu  einer  Charakteristik  der  sieben  von  ihm  veröffentlichten 
grössern  Schriften  über.  Wir  erfahren  dabei  zu  unsrer  Freude,  dass 
schon  seit  einer  Reihe  von  Jahren  das  Ministerium  der  geistlichen 
Angelegenheiten  in  Folge  des  lebhaften  Antheils  des  Henn  Geheime- 
rath  Johannes  .*">chultze  an  denselben,  die  Sammlungen  auf  eine  dankenf?- 
werthe  Weise  immer  in  etwas  gefördert  und  von  Jahr  zu  Jahr  einen 
Bericht  über  das  Fortschreiten  derselben  erhalten  hat.  —  Herr  Andre- 
sen,  Stellvertreter  des  Vorsitzenden,  erörtert  darauf  an  einer  Reihe  von 
Beispielen  den  häufigen  Uebertritt  von  ft  im  Deutschen  in  cht.  —  Himt 
Mahn  theilt  eine  etymologische  Untersuchung  über  labarum  und  couard 
mit;  das  erstere  leitet  er  aus  dem  keltischen  lavar,  Wort,  Ausspruch. 
„Die  neben  dem  Kreuze  gesehene  Inschrift,  ja,  selbst  der  Befehl  dazu, 
diese  in  die  Fahne  zu  setzen,  war  ein  Ausspruch  Gottes,  und  so  nannte 
Constantia  nun  die  ganze  Fahne."  Er  nahm  die  Benennung  aus  der  ihm 
durch  langjährigen  Aufenthalt  bei  den  Kelten  in  Britannien  und  Kelten 
geläufigen  keltischen  Sprache,  weil  sein  Heer  aus  Kelten,  Britten  und 
Galliern  bestand.  Couard  sei  aus  der  Thierfabel  entlehnt,  wo  couard 
(Kurzschwanz)  Bezeichnung  des  Hasen  gewesen  sei,  so  dass  das  AVort 
eigentlich:  Hase  bedeute,  in  demselben  Sinne,  in  dem  wir  letzteres 
Wort  für  Feisline  anwenden. 


Beurthoilungen  nnd  kurze  Anzeigen. 


Parcival.  Rittergodicht  von  Wolfram  von  Eschenbach.  Aus 
dem  Mittelhochdeutschen  zum  ersten  Male  übersetzt  von 
San-Marte  (Albert  Schulz).  Zweite  verbesserte  Auflage. 
Leipzig  1858.     2  Bde. 

.Seit  (lern  ersten  Erscheinen  dieser  Uibersetzung,  welche  dem  c^^rösseren 
Publicum  den  Parcival  ^\'olfi•am's  zuerst  zugänglich  zu  machen  suchte,  sind 
mehr  als  zwanzig  Jalire  verflossen,  eine  Zeit,  welche  für  das  Stutiium  der 
mittelhochdeutschen  Literatur  nicht  ohne  wesentlichen  Einfluss  geblieben  ist, 
so  dass  auch  die  Ansprüche,  welche  man  an  eine  Uebersetzung  wie  die  eben 
genannte  jetzt  stellen  darf,  weit  höhere  sein  müssen,  als  die  waren,  mit 
welchen  man  die  erste  Ausgabe  der  vorliegenden  Arbeit  aufnahm.  Der  Herr 
Verfasser,  von  dessen  unablässigem  Studium  in  dem  einschlagenden  Gebiete 
noch  vor  kurzem  zwei  Aufsätze  in  Pfeiffer's  Germania  (II,  S,  84  und  S. 
286  ff.),  betreffend  das  richtige  Verständniss  einzelner  Stellen  im  Parcival 
und  die  Bedeutung  der  Eigennamen  in  demselben,  Zeugniss  ablegten,  hat 
sich  auf  das  sorgfältigste  bemüht,  diesen  Anforderungen  zu  entsprechen. 
Die  vorliegende  neue  Aullage  ist  von  dem  Verfasser  nur  als  eine  verbesserte 
bezeichnet  worden,  während  sie,  wie  schon  eine  oberflächliche  Vergleichung 
zeigt,  eine  gänzHch  umgearbeitete  ist,  freilich  mit  Ausnahme  der  Einleitung, 
welche  bis  auf  einige  Aenderungen,  die  jedoch  nur  den  Ausdruck,  nicht  die 
Sache  treffen,  beibehalten  worden  ist.  Neu  hinzugekommen  ist  eine  Ueber- 
sicht  des  Inhaltes,  sowie  die  Lachmann'sche  Verszählung  zur  Seite  des 
Gediclites. 

Die  Uebersetzung  selbst  hat  gegen  die  erste  Auflage  den  entschiedenen 
Vorzug  des  genaueren  Anschliessens  an  das  Original;  aus  dem  .sinngemässen 
üebertragen,  das  sich  niclit  bloss  sehr  grosse  Freiheit  in  der  Walil  des 
Ausdruckes,  sondern  sogar  Auslassungen  imd  Erweiterungen  gestattete,  ist 
jetzt  eine  Uebersetzung  geworden,  (1er  man  das  Streljen  nach  mötzlichster 
Treue  auch  im  Ausdruck  und  in  den  Worten  überall  deutlich  anmerkt. 
Freilich  beruht  dieses  Streben  auf  anderen  Grundsätzen  und  ist  auf  ein 
anderes  Ziel  gerichtet,  als  dasjenige  ist,  welches  sich  Simrock  in  seiner 
Uebersetzung  gesteckt  hat;  denn  während  Letzterer  die  eigenthümliche 
F'arbe  des  Originals  in  möglichster  Frische  dadurch  wiederzugeben  suchte, 
dass  er  die  dem  Mittelhoclideutschen  eigenen  Redewendungen,  ja  sogar 
Worte,  die  der  jetzigen  Sprache  fremd  geworden  sind,  beibehielt  und  auch 
im  Versmasse  dem  Urtexte  gleichzukommen  suchte,  hat  der  Verfasser  der 
vorliegenden  Uebersetzung  es  vorgezogen,  dem  jetzigen  Sprachgebrauche  so 
wenig  als  möglich  entgegenzutreten  und  in  fliessender  Sprache  und  nach 
den  jetzt  üblichen  Kegeln  der  Metrik  sein  Vorbild  zu  üb(>rt.ragen.  Dajs  er 
.•\r(liiv  f.  n.  Spiarhen.   XXIII.  ]] 


162  Beu  I  tlieilunge  n  und  kurze  Anzeigen. 

dennoch  bei  Simrock  vielfache  Belehrung  gefunden,  erkennt  er  in  der  Vor- 
rede selbst  an,  obgleich  er,  wie  er  sagt,  die  Grundsätze,  die  jenen  leiteten, 
nicht  zu  theilen  vermag.  Ich  glaube  auch,  er  tliut  recht  daran,  dass  er  es 
dem  Geschmacke  der  Leser  überliisst,  zwischen  beiden  Arbeiten  zu  wählen, 
da  doch  ein  unumstosslicher  Grundsatz,  in  welcher  Art  eine  solche  Ueher- 
tragung  anzufertigen  sei,  schwerlich  sich  wird  aufstellen  lassen.  Es  wird 
stets  Leser  geben,  denen  die  San-Marte'sche  Uebersetzung  auch  in  ihrer 
jetzigen  Form  zu  modern  ist,  während  Andern  die  Simrock'sche,  ich  will 
nicht  sagen  zu  alterthümlich,  sondern  wegen  der  eigenthiinilichen  Mischung 
von  altem  und  neuem  zu  fremdartig  sein  wird. 

Nun  ist  es  ein  grosses  Lob,  das  die  Simrock'sche  Uebersetzung  ver- 
dient, dass  sie  an  den  meisten  Stellen,  allerdings  in  der  ihr  eigenthiinilichen 
Weise,  mit  sicherem  Tacte  den  rechten  Ausdruck  gefunden  hat,  so  dass  es 
einem  Uebersetzer  nach  ihm,  auch  wenn  er  jene  alterthiimliche  Färbung  für 
seine  Arbeit  nicht  angemessen  erachtet,  an  vielen  Stellen  doch  nicht  leicht 
werden  wird,  einen  entsprechendem  Ausdruck  zu  treffen.  Es  ist  aber  längst 
auf  anderem  Gebiete  anerkannt  worden,  dass  es  ein  falsches  Streben  nach 
Originalität  sei,  wenn  ein  Uebersetzer,  nur  um  seinem  Vorgänger  keinen 
Ausdruck  zu  entlehnen,  einen  andern  wählt  als  den,  welchen  jener  gebraucht, 
selbst  wenn  er  sich  sagen  muss,  dass  der  seinige  kein  Fortschritt,  ja  viel- 
leicht ein  Rückschritt  ist.  In  richtiger  Erkenntniss  dieses  Satzes  hat  Herr 
A.  Schulz  öfter  die  von  Simrock  gegebene  Uebersetzung,  soweit  .«ie  seinem 
Principe  nicht  zuwiderlief,  unverändert  oder  mit  geringen  Abänderungen  auf- 
genommen; natürlich  kann,  eben  bei  der  Verschiedenheit  der  (irundsätze, 
diese  Uebereinstinimung  sich  nur  über  wenige  Zeilen,  öfter  kaum  über  eine 
Zeile,  ja  meistens  nur  auf  einen  einzelnen  Aufdruck  erstrecken.  Zuweilen 
gab  auch  der  Urtext  selbst,  wo  er  sich  mit  geringen  Abänderungen  in  unsre 
Ausdrucksweise  übertragen  Hess,  Veranlassung  zur  Gleichheit  beider  Ueber- 
setzungen. 

Die  Sprache  der  vorliegenden  Uebersetzung  ist  überall  angemessen 
und  fliessend ;  nur  selten  wird  man  den  Zwang  bemerken,  den  Versmass  und 
Reim  auf  dieselbe  ausgeübt  haben,  aber  bei  einer  so  schwierigen  und  um- 
fangreichen Arbeit,  wie  diese  Umarbeitung  der  ersten  Uebersetzung  war, 
konnte  wohl  Manches  der  sorgsamen  Aufmerksamkeit  des  Verfassers  ent- 
gehen. Ich  will  einige  Bei«piele  für  das  Gesagte  anführen.  Es  heisst  74,  2 
Lachm.  im  Text: 

waz  do  taeten  di  sin? 

die  beschütten  in  mit  swerten : 

die  beide  strites  gerten. 

Die  Uebersetzung  lautet: 

Was  thaten  die  Seinen?  Mit  Streitbegier 

Sie  deckten  ihn  .schirmend  mit  Schwertern  schier. 

So  auch  die  erste  Ausgabe,  nur  dass  dort  schützend  statt  schirmend  steht. 
Abgesehen  davon,  dass  der  lebhafte  Rhythmus  dem  einfachen  Gange  des 
Originals  nicht  entspricht,  bilden  die  Verba  deckten  und  schirmend  eine 
dem  Urtexte  fremde  Tautologie,  die  durch  das  offenbar  durch  den  Reim 
herbeigezogene  Wort  schier  noch  mehr  hervorgehoben  wird.  —  74,  19  heisst 
es  in  der  Uebersetzung : 

Ihn  schirmten  Die,  die  mit  ihm  stritten, 
Und  ward  manch'  heftiger  Gang  geritten. 

Im  letzten  Verse  verlangte  man  doch  entweder:  und  es  ward  manch' 
heftiger  Gang  geritten,  oder  und  mancher  heftige  Gang  ward 
geritten,  wenn  der  Uebersetzer  die  Partikel  da  des  Originals:  da  wart 
gröz  hurten  niht  vermiten  nicht  aufnehmen  wollte.     Solche  Umstellungen  der 


Beurthoilungen  und  kurze  Anzeigen.  103 

gewöhnliolien  Wortfolge,  die  allerdings  :iurh  in  unsrer  neueren  Original- 
diehtung  eine  grosse  KoUe  sjjiclen,  niaehen,  wenn  sie  nicht  besondere  Griinde 
haben,  gewtihnlieh  den  Kindruek,  als  habe  der  Dichter  im  Kampfe  mit  dem 
Versm;isse  (he  Worte  niclit  zu  bezwingen  verstamhm.  Ich  will  und  kann  dies 
nicht  gradezn  von  der  vorliegenden  Uebersetzung  behaupten,  da  ich  der- 
jileichen  untrewdhuliche  Wortstellun.^en  auch  zuweilen  gefunden  habe,  wo  der 
Vers  die  gewöhnlichere  ebensowohl  zuUess,  z.H.  118,  7:  Doch  schoss  er 
«'iivcn  ihrer  nieder,  und  ebenso  120,  28:  Der  Knabe  wähnte  sonder  Spott 
Ein  jeder  ihrer  sei  ein  Gott!  —   121,  10: 

Wer  sein  Geschick  in  diesen  beiden  Landen 

Zur  AVeit  mitbringt  —  ein  Wunder  ist  vorhanden. 

INIan  vermisst  in  diesen  Worten,  die  in  beiden  Auflagen  gleich  lauten,  durch- 
aus die  Construction,  so  dass  man  selbst  über  den  Sinn  im  Zweifel  sein 
kann,  während  das  Original  ganz  deutlich  sagt: 

swer  in  den  zwein  landen  wirt, 
gefuoge  ein  wunder  an  im  birt. 

Aehnlich  verhält  es  sich  122,  13: 

Aller  Rlännerschonheit  Blüthenkranz, 
Den  Knappen  fragt  Karnahkarnanz. 

Man  ist  ungewiss,  ob  die  Apposition  im  ersten  Verse  zum  Subject  oder  Ob- 
ject  des  Satzes  gehört;  im  Urle.xte  fehlt  das  Wort  Knappen,  und  indem 
dadurch  das  AVort  den  die  Bedeutung  des  Pronomen  demonstrativum  erhält, 
ist  jedes  Bedenken  über  die  Beziehung  des  ersten  Verses  umnöglich  gemacht. 
In  der  ersten  Auflage  stand  klarer,  freilich  dem  Sinne  des  Originals  unan- 
gemessen: „Bezwungen  von  der  Schönheit  Glanz  des  Knaben,  drauf  Karnah- 
karnanz." 

Ich  will  ohne  besondere  Auswahl   noch  ein  ähnliches  Beispiel  anführen : 
172,  8: 

AVenn  Gott  nun  Streit 

Zu  würd'gen  weis,  muss  ohne  AVahl 

Er  mich  ernennen,  und  beim  Gral 

Die  Schaar  wird  bald  bei  mir  entdecken, 

Dass  mich  kein  Kampf  zurück  kann  schrecken. 

Die  Ausdrücke  beim  Gral  und  bei  mir  sind  für  den  mit  dem  Original 
unbekannten  Leser  kaum  verständlich ;  vergleicht  man  das  Original,  so  findet 
man,  dass  dort  einerseits  das  ernennen  näher  bestimmt  ist,  andrerseits  das 
ohne  AVahl  fehlt,  die  Schaar  beim  Gral  nur  eben  angedeutet  ist,  und 
der  Sinn  der  letzten  A'erse  khir  und  deutUch  ist: 

ist  got  an  strite  wise, 

der  sol  mich  dar  benennen, 

daz  si  micli  da,  bekennen : 

min  hant  da  strites  niht  verbirt. 
Doch  es  ^n  genug  mit  den  Ausstellungen,  die  keineswegs  einen  Tadel 
oder  eine  A'^erkleinerung  des  höchst  verdienstlichen  AVerkes  bezwecken, 
sondern  nur  dazu  dienen  sollen ,  die  Schwierigkeiten  des  Unternehmens 
deutlicher  zu  zeigen,  die  selbst  ein  jahrelanges  eifriges  Studium  nicht  ganz 
überwältigen  konnte.  Der  höchsten  Anerkennung  werth  ist  das  Streben  des 
Verfassers,  mit  dem  er  zuerst  für  einen  grösseren  Leserkreis  Wolfram's 
Werk,  das  wir  unter  die  Perlen  deutscher  Dichtung  zählen  müssen,  zu- 
gänglich machte,  und  mit  dem  er  unablässig  gearbeitet  hat,  um  aus  jenem 
ersten  Versuche  ein  vollkomnmeres  und  lebendigeres  Abbild  jener  alten 
Dichtung  herzustellen. 

Ik-rliu.  B.  Büchsenschütz. 

11* 


J64  B  eurtliei  lungL' 11  and  kurze  Anzeigen. 

Der  Harfner  am  Heerd.  Ein  lyrischer  Cyclus  von  Ad.  Schuhs. 
Weimar,  Hermann  BoWau,   1858. 

Ein  neues  Bändchen  unsers  lieben  Ad.  Schults,  des  in  der  deut- 
selien  Lesewelt  rühmlich  bekannten  Dichters,  bedarf  keines  einführenden 
Wortes,  denn  es  findet  eine  bereite  Stelle  neben  den  früheren  Gedichten, 
von  denen  einzelne  in  mehreren  Auflagen  erschienen,  componirt  und  illustrirt 
sind  und  jetzt    in  schönem   Gewände   auf  dem  Schautische   zur  Hand  liegen. 

Der  „Harfner  am  Hoerd"  erscheint  im  bescheidenen  häuslichen  Ge- 
wände, dem  Titel  und  Inhalt  angemessen  und  schliesst  sich  an  des  Dichters 
frühere,  zur  Zeit  bei  ihrem  Erscheinen  und  auch  jetzt  als  Theil  der  dritten 
Auflage  seiner  Gedichte  sehr  günstig  aufgenommene,  unter  dem  Titel  „zu 
Hause"  bekannte  Samnilungan,  unterscheidet  sich  aber  von  jenen  und  zwar  nicht 
zu  ihrem  Nachtheil  durch  eine  weniger  melancholische  Färbung  und  durch  eine 
Stimmung ,  welche  mehr  die  Sonnenseite  des  Familienlebens  hervorkehrt.  An 
Wärme  der  Empfindung,  bescheidener  Weltanschauung,  durch  die  ein  sanfter 
Zug  der  Wehmuth  das  Gemüth  ergreift,  so  wie  an  klarer  Abrundung  des 
lyrischen  Gedankens  stehen  sie  ihnen  aber  völlig  gleich,  und  der  Ausdruck 
ist  so  frisch,  natürlich  und  kernig,  dass  die  Lieder,  welche  oft  wie  hinge- 
haucht scheinen,  sich  spielend  in  Herz  und  Kopf  des  Lesers  einschmeicheln, 
und  doch  so  durchaus  frei  von  aller  Absichtliclikeit  und  Gesuchtheit  sind, 
dass  man  von  ihnen  sagen  kann:  sie  gefallen  in  ihrer  Einfachheit,  Natür- 
lichkeit und  Innerlichkeit. 

Wir  schlagen ,  um  eine  Probe  zu  geben,  gleicli  die  erste  Seite  auf  und 
finden  das  Gedicht: 

Gottes   Segen,   siebenfach. 

Gottes  Segen,  siebenfach 
Ist  herabgekommen : 
AU'  mein  enges  Wohngemach 
Hat  er  eingenommen. 

Mägdlein  drei  und  Knaben  vier  — 
Sieben  blühende  Reiser! 
Schön'rer  Stammbaum  grünte  schier 
Selten  einem  Kaiser. 

Knaben  vier  und  Mägdlein  drei  — 
Sieben  schwellende  Hanken ! 
Und  sie  regen  sich  frisch  und  frei, 
Keine  siechen  und  kranken.^ 

Send',  o  Sonne,  den  hellsten  Schein 
Nieder  auf  die  Lieben, 
Dass  sie  wachsen  und  gedeih'n. 
Meine  blühenden  Sieben! 

Gönn',  o  Erde,  den  frelesten  Kaum 
Allen  zum  Entfalten, 
Dass  sie  reihen  sich,  Baum  an  Baum 
Um  den  Stamm,  den  alten! 

und  noch  siebenzehn  andere  herzliche  Familienlieder,  die  unter  dem  ersten 
Theil  „Siebenfacher  Segen"  zusammengefasst  sind  und  sich  im  letzten  ab- 
runden: „Sieben,  Sieben  galt  die  Zahl!"  Sie  sind  eigenthümlich,  diese  Lie- 
der, die  keine  andere  Ueberschrift  haben  und  brauchen,  als  die  erste  Zeile, 
und  die  das  Herz  des  Vaters  und  der  Mutter  seltsam  ergreifen.  Ein  frommer 
Sinn  von  echt  deutscher  imd  christlicher  Art  ist  in  wohlthuender  Durch- 
dringung in  dem  „Du  liebst  das  Händefalten"  gepaart  mit  reger  Thätigkeit 
im  Leben. 


15  eu  rtheilungfii  und  kurze  Anzeigen.  löS 

\ 

Die  Iliintle  sollst  Du  rcpen. 
Drum  liast  Du  sie  enipfiilin! 
Sie  falten,  bringt  erst  Segen, 
A\  enn  Du  Dein  Werk  gethiin. 

Die  zweite  Abtheilung  „Neue  Jugend"  ist  in  niihcster  poetischer  Be- 
ziehung zum  Sänger,  der  von  einer  langwierigen  Krankheit,  in  der  mehrere 
seiner  elegischen  Lieder  geschatlen  sind,  wir  wollen  von  Herzen  hofi'en,  so 
völlig  und  so  dauernd  hergestellt  ist,  wie  er  sich  in  Irischer  Jugendkraf't 
genesen  fühlt  in  den  Liedern  „O  und  sollt  ich  auch  nicht  jung."  Ü  dass 
\vieder  Sang  und  Klang  und  dass  dann  ihm  bliebe,  was  er  in  dem  schönen 
Liede  wünscht: 

Jugendmuth,  o,  bleib'  mir  treu. 

Jugendmuth.  o,  bleib'  mir  treu 

In  der  ^Yelt,  der  alten! 

Jugendgluth,  o,  steh  mir  bei 

In  der  Welt,  der  kalten! 

Jugendgluth !  und  mnss  ich  arm 
Auch  durch's  Leben  wandern, 
Halte  Du  das  Herz  mir  warm 
Für  das  Loos  der  Andern! 

Jugendmuth!  und  steh  ich  klein 
Vor  der  Gro.'^sen  Blicken, 
Lehre  Du  mich  stolz  zu  sein, 
Nicht  mich  feig  zu  bücken. 

Jugendgluth  1  o,  lasse  heiss 
Für  das  Schöne  glüh'n  mich! 
Jugendmuth,  des  ^^'ahrcn  Preis 
Lehre  laut  und  kühn  mich. 

Jugendgluth!  o,  gieb  mir  Muth, 
Dass  ich  steh  ftir's  Rechte. 
Jugendmuth !  o,  gib  mir  Gluth, 
Dass  ich  hass'  das  Schlechte. 

Jugendgluth,  o  steh  mir  bei 
In  der  Welt,  der  kalten! 
Jugendmuth,  o,  bleib  mir  treu 
In  der  Welt  der  alten  I 

In  der  dritten  Abtheilung  Leid  und  Lust  entrollt   sich  eine  ganze  Familien- 
Idylle  von  der  Krankheit  der  Gattin  bis  zum  Familienfest: 

Nun  nimm  aus  Deinem  Schrein 
Dein  bestes  Feierkleid, 
Und  hol'  den  Schlauch  mit  Wein 
Und  halt  ein  Wahl  bereit. 

Der  echt  deutsche  Sinn  für  den  Wertli  des  Familienlebens,  den  Ad. 
Schults  in  seinen  Irühern  Gedichten  ausspricht,  namentlich  in  seinen  Liedern 
aus  Wisconsin,  tritt  hier  in  seiner  eigensten  ^^'cisc  lebendig  hervor  und  diese 
ist  so  melodisch  wie  jedes  wahre  Lied,  das  nur  auf  den  rechten  Tonsetzer 
harrt,  um  sich  ihm  ganz  zu  ergeben.     Lieder  aber,  wie 

Treuer  Liebe  A\'erth  zu  preisen, 
Welche  Weisen  heb'  ich  an? 

werden   nicht   lange   zu  harren    bauchen,   die   Melodie    sihlununcrt   schon   im 
rieiste  des  Künstlers. 


166  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Gedichte  von  Carl  Stelter.    Leipzig,  Carl  Cnoblauch.    1858. 

Wir  können  zur  Einführung  dieser  schönen  Lieder  keine  bessern  Worte 
wählen ,  als  diejenigen ,  welche  der  Dichter  selbst  auf  der  ersten  Seite  aus- 
gesprochen hat,  indem  er  seines  „Herzens  Lieder,  welche  die  Blumenpfade 
den  Knaben  füln-ten.  dem  Jungling  die  Brust  schwellten,  den  Mann  bisher 
durchs  Leben  geleiteten"  nicht  mit  stolzem  Namen  und  in  prunkendem  Ge- 
wände, sondern  in  anspruchsloser,  aber  in  desto  mehr  ansprechender  Weise, 
zuversichtlich  in  die  Welt  führt,  und  ihnen  zuruft: 

Geht  euern  Weg  nur  einfach  und  bescheiden. 

Sucht  euch  die  stille  Welt  der  Herzen  auf 

Hort  theilt  die  Lust  —  dort  weint,  wenn  bitt're  Leiden 

Das  Leben  reicht  im  wechselvollen  Lauf. 

Ihr  kennt  ja  Beides,  habt  in  langen  Jahren 

Des  Herben  wie  des  Guten  viel  erfahren. 

Wir  führen  auch  unsern  Lesein  keinen  fremden,  sondern  einen  heimath- 
lichen  Sänger  vor,  wenn  auch  Manchem  vielleicht  unter  einem  neuen  Namen; 
aber  dieser  findet  Anklang,  wenn  wir  sagen,  dass  Oscar  Lester,  dessen  Ge- 
dichte hier  schon  Viele  erfreut,  wenigen  ganz  unbekannt  geblieben  sind,  der 
Pseudonym  Stelter's  ist ;  dass  in  dieser  Sammlung  daher  liebe  Remininis- 
cenzen  vorkommen  und  Stimmungen  angeregt  werden,  welche  das  Gemüth 
schon  in  poetische  Schwingungen  gesetzt  haben:  denn  die  Lieder  sind  der 
Brust  entstiegen  und  dringen  deshalb  auch  in  verwandte  Herzen. 

Wie  nachfolgende  Liedchen,  so  greifen  viele  in  die  Seele: 

Ein  grünes  Blatt. 

Am  Tage,  wo  ich  ungekannt 
Dich,  Blume  aller  Blumen  fand : 
Da  sprosst'  aus  meinem  Lebensbaum 
Ein  blatt-  und  blüthenreicher  Traum. 

Und  um  den  jungen  Stamm  sogleich 
Schlang  sich  ein  junger  Epheuzweig, 
Der  trug  zur  Lenz-  und  Winterzeit 
Sein  immergrünes  Hoff'nungskleid. 

Ein  welkes  Blatt. 

Das  war  der  Tag,  an  dem  ich  schied. 
Als  thränenschwer  mein  Augenlied, 
Als  stumm  ich  in  Dein  Aug'  geblickt 
Und  fortgewankt,  von  Schmerz  geknickt. 

Da  fiel  von  meinem  Lebensbaum 
Ein  grünes  Blatt  mit  rothem  Saum; 
Dies  Blatt,  seitdem  verwelkt  und  fahl, 
Birgt  ewig  der  Erinn'rung  Qual. 

Diese  erste  Sammlung  des  unter  uns  lebenden  Dichters  enthält  Lyrisches, 
Episches  und  Didaktisches,  wenn  wir  die  mitgetheilten  recht  artigen  Räthsel 
in  die  letzte  Gattung  rechnen  wollen,  aber  das  Lyrische  überwiegt,  wie  denn 
auch  Stelter  vorzugsweise  lyrischer  Dichter  ist  und  eine  einfache  reine  Em- 
pfindung in  sinniger  Anschaulichkeit  ausdrückt.  Aber  sein  Gefühl  ist  nir- 
gends überschwänglich,  seine  Auffassung  nie  überspannt,  ein  wohlthuendes 
Mass  tritt  in  jedem  Gedichte  entgegen  und  wirkt  um  so  lebhafter  auf  den 
gleichgestimmten  Leser,  je  seltener  in  unsern  Tagen  Gefühl  und  Phantasie 
der  lyrischen  Dichter  in  besonnener  Gedankenreihe  gehalten  werden  und  je 
häufiger  gerade  geniale  Naturen  sich  in  ihren  Leistungen  darin  gefallen,  für 


B  eurt  hei  lang  eil  und  kurze  Anzeigen.  167 

das  zu  gelten,  was  man  im  gewöhnlichen  Leben  ein  Genie  nennt.  Von 
dieser  Manie  ist  in  Stelter  keine  Spur,  wie  auch  schon  aus  den  Gedichten 
erkannt  wurde,  die  von  ü^kar  Lester  Beil'all  fanden:  ein  edles  treues  Ge- 
niüth,  ein  klarer  ollcner  Sinn  und  eine  znrte  cinplindende  Seele  spi'icht  sich 
in  feiner,  runder  und  gefalliger  Form  mit  keinem  andern  An.«pruch  aus,  als 
tk'u  aulrichtigen  Wohlwollens  und  reger  Theilnahme.  Daher  sind  seine 
Stoffe  solcher  Natur,  die  allenthalben  Anklang  linden,  wie  er  selbst  be- 
zeichnet : 

Lieder  Stoff. 

Mir  ist  so  manches  liebe  Lied 
Wie  über  Nacht  im  Traum  gekommen, 
So  manches  Lied,  ilas  nicht  verrieth, 
\Voher  es  seinen  Stoff  genonmien. 

Und  doch  ist  so  ein  sinnig  Lied, 
Das  aus  der  tiefsten  Brust  erklungen. 
In  manches  Herz,  sobald  es  schied, 
Mit  seinem  Zauber  eingedrungen. 

Lind  wieder  andre  Lieder  hab' 
Geschöpft  ich  aus  des  Denkens  Quelle  — 
Die  fanden  ein  vergessen  Grab, 
Gleich  wie  im  Strom  die  leichte  Welle. 

Das  echte  Lied  allein  erklingt 
^Vie  Harfenton  im  Waldesrauschen. 
Es  strömt  mit  Allgewalt  und  zwingt 
Die  Geister,  seinem  Ton  zu  lauschen. 

Doch  wie  es  geht  —  woher  es  stammt  — 
Willst  Du  des  Liedes  Heimath  kennen? 
Die  Herzen  frag",  die  es  entflammt. 
Ob  sie  Dir  ihr  Geheimniss  nennen. 

Ein  nicht  geringer  Vorzug  eines  lyrischen  Gedichtes  ist  seine  Kürze 
und  Anschaulichkeit.  Nur  eine  Empfindung  soll  geweckt ,  nur  ein  Gedanke 
erzeugt  werden.  Je  frischer  dies  geschiebt,  desto  tiefern  und  bleibendem 
Eindruck  macht  das  Gedicht,  je  anschaulicher,  desto  leichter  schmiegt  es 
.«ii.'h  an  Seelenzustände  an,  die  in  Tönen  und  in  Bildern  den  entsprechenden 
Ausdruck  finden.  Viele  Lieder  sind  wirklich  recht  sangbar  und  viele  Situa- 
tionen wahre  Genrebilder,  wie  in  dem  „Wahnsinn"  oder  dem  sinnigen  Sonnet: 
dem  Achtzigjährigen.  Die  schönsten  und  gelungensten  dieser  lyrischen  Er- 
güsse finden  sich  unter  den  Naturbildern  und  Blumen,  von  denen  wir  gleich 
die  ersten  als  Trüben  folgen  lassen: 

Regenbogen. 

Regenbogen,  Himmelsbogen, 
Deiner  Farben  Pracht 
Hast  den  Blumen  Du  entzogen. 
Heimlich  über  Nacht. 

Blumen,  wie  sie  auf  den  Fluren, 
In  den  Beeten  sind  — 
Aller  Blumen  Farbenspuren 
Trägst  Du  Ilimmelskind. 

Hast  sie  sorglich  schön  gestaltet. 
Künstlerisch  gewählt. 
Allen  Schmuck  und  Glanz  entfaltet, 
Der  Dein  Bild  beseelt, 


168  Bt'urthoiluugen  und  kurze  Anzeigen. 

Wenn  der  Sonne  Feuerstrahlen 
Sich  im  Tropfen  Thau 
Brechend,  Deniantbogen  malen 
Wie  der  Aether  blau. 

Blau  der  Himmel,  blau  die  Fluthen, 
^  Die  Dein  Spiegel  sind  — 

Deines  Glanzes  StrahUngluthen 
Löscht  kein  rauher  Wind. 

Regenbogen,  Himmelsbogen, 
Deiner  Farben  Macht 
Hat  um  mich  ein  Band  gezogen 
Märchenhafter  Pracht. 

Und  das  Land,   es  zieht  mich  nieder 
In  der  Blumen  Reich, 
Und  da  find'  ich  immer  wieder, 
Dass  die  Farben  gleich. 

Blumen  am  Wege. 

Mir  armen  Blum'  am  Wege, 
Mir  wird  kein  Freundschaftsgi-us^s, 
Wo  ich  das  Köpfchen  rege. 
Tritt  mich  des  Wandrers  Fuss. 

Ich  blühe  unbeachtet 

Die  kurze  Sommerzeit. 

Vor  Sonnengluth  verschmachtet, 

Im  staubbestreuten  Kleid. 

So  sinkt  mein  junges  Leben 
In's  ungeschmückte  Grab, 
So  sterb'  ich,  wenn  ich  eben 
Mich  erst  erschlossen  hab'. 

Wer  gleicht  der  Blum'  am  Wege, 
Wem  wird  ein  solches  Loos?  — 
Dem,  dessen  Herzensschläge 
Für  diese  Welt  zu  gross;  — 

Der  mit  der  reinen  Seele 
Möcht  Allen  Muster  sein  — 
Die  Seele  ohne  Fehle 
Schläft  unbeachtet  ein. 

Wenn  wir  oben  die  charakteristischen  Merkmale  Carl  Stelter's  in  seiner 
echt  lyrischen  Stimmung  erkannten,  so  müssen  wir  nicht  minder  treffliche 
Züge  aus  den  lyrisch  -  epischen  Gedichten  hervorheben,  die  der  zweiten  Ab- 
theilung der  Sammlung  der  Romanzen  und  Balladen  entlehnt  sind.  Den 
Uebergang  zu  denselben  bilden  die  sieben  Wanderlieder,  und  den  sinnigen 
Schluss  macht  „Spielmanns  Lebenslied",  welches  in  acht  Romanzen  die 
schlichten  Wanderklätige  in  Scene  setzt.  Dass  die  Gedichte  unserer  Zeit 
angehören,  spricht  unter  Andern  die  Romanze  „der  Zuave"  aus  und  dass  sie 
vom  Wupperthale  ihre  örtliche  Färbung  hergenommen,  ist  in  manchem  un- 
verkennbar, und  daher  für  den  von  besonderem  Reiz,  der  die  poetische 
Seite  unserer  Berglandschaft  —  im  wahren  Sinne  des  Worts  eine  Mannig- 
faltigkeit in  der  Einheit  —  auch  im  Vergleich  mit  weitern  und  grossartigern 
Gegenden  zu  würdigen  weiss.     So  heisst  die  erste  Strophe: 


Ii  iMirt  h  ei  1  iiu^i'ii   und   kurze   Anzeigen.  IGO 

Nebelscliichten  undureh(Irinj;lieli 
Deckend  das  geschiift'pe  Tlial, 
(ilauht  ihr  wohl  euoli  unbezwinglieh 
Selber  von  der  Sonne  Strahl '? 

nnd  die  letzte,  welche  von  den  Vorhergehenden  bedeutsam  entwickelt  wird: 

Sonnenstrahl  für  Nebcl?eliiehten  — 
Klarheit  für  des  Zweifels   Wahn  — 
Jedes  Dunkel  niuss  sich  lichten, 
Ebnen  jede  steile  Balni !  '' 

Spricht  eine  elegisclie  Stimmung  in  dem  Gedichte  „das  einzige  Kind" 
durch  die  rührende  Wehmuth  an,  die  der  Situation  entnommen,  so  (lurch 
den  ergreifenden  Gegensatz  in  dem  Abschiede,  den  wir  uns  nicht  enthalten 
können,  mitzutheilen: 

Abschied.  I. 

Es  war  ein  Abschied  wortch^er, 
Sie  konnten  nicht  mehr  sprechen. 
Die  Augen  nass,  das  Herz  so  schwer, 
Als  woUt's  der  Kummer  brechen. 

So  standen  sie  im  herben  Leid  — 
Ein  letztes  stummes  GVüssen, 
Ein  Händedruck,  noch  lange  Zeit 
Seh'  diese  Thrän'  ich  fliessen. 

Ob  die  im  Herzen  wohl  sich  lieb, 

Ob  Treue  sie  gehalten?  — 

AVo  sa  der  Schmerz  an's  Herz  sich  schrieb, 

Dann  kennt  man  kein  Erkalten. 

n. 

Es  war  ein  Abschied  wortereich 
Von  "NViederseh'n  und  Liebe, 
Ein  Herzen,  Küssen  und  zugleich, 
Dass  nicht  zu  lang  er  bliebe. 

Er  grüsste  lächelnd,  winkte  fern 
Noch  immer  Abschiedszeichen, 
Sie  ebenso,  und  möchte  gern 
Nochmals  die  Hand  ihm  reichen. 

Ob  die  im  Herzen  sich  so  lieb, 
Ob  sie  die  Treu  gehalten? 
Ich  hörte,  dass  er  lang'  nicht  schrieb, 
Es  sei  nicht  mehr  beim  Alten ! 

Nachdem  wir  nun  einzelne  Gedichte  selbst  mitgetheilt  haben,  hiesse  es 
dem  Urtheil  der  Leser  vorgreifen,  wollten  wir  uns  weiter  über  Sprache,  Vers- 
bau und  poetischen  Ausdruck  äussern,  die  wir  in  vollem  Einklang  mit  dem  In- 
halt finden.  Dagegen  wird  es  uns  gestattet  werden,  schliesslich  der  schönen 
Ausstattung  Erwähnung  zu  thun,  die  den  Gedichten  durch  den  rühmlich 
bekannten  Verlag  zu  Theil  geworden   ist. 

Elberfeld.  Dr.  C.  A.  W.  Kruse. 


170  Beur theilungen  und  kurze  Anzeigen. 

A.  Das  etlinographische  Verhältniss   der  Celten   und  Germauen 

nach  den  Ansichten  der  Alten  und  den  sprachlichen  Ueber- 
resten  dargelegt  von  Dr.  H.  B.  Chr.  Brandes.   Leipzig, 

1857. 

B.  Celten  und  Germanen.     Eine  historische  Untersuchung  von 
A.  Holtzmann.     Stuttgart  1855. 

Die  In  No.  B.  aufgestellte  Meinung,  dass  die  Celten  Germanen,  oder 
dass  Celten  und  Germanen  eins,  und  dass  die  für  Celten  gehaltenen  Britten 
und  Iren  keine  Celten,  sondern  etwas  anderes  Unbekanntes  seien,  wird  wohl 
hier  und  da,  durch  Holtzmanns  gewandte  und  bestechende  Sophistik  verführt, 
einige  einzelne  Anhänger  gewonnen  haben,  im  Allgemeinen  hat  sie  jedoch 
überall  mit  Kecht  lebhaften  und  motivirten  Widerspruch  hervorgerufen.  Zu 
den  Gegnern  der  Holtzmannschen  Ansicht  gehört  auch  der  Verfasser  von  No.  A. 
Schon  früher  hatte  sich  derselbe  in  einer  Recension  der  Holtzmannschen  Schrift 
gegen  ihn  erklärt.  In  dieser  neuen  Schrift  lässt  sich  der  Verfasser  sowohl 
auf  die  historischen  als  auf  die  sprachlichen  Beweismittel  für  seine  der  Holtz- 
mannschen entgegengesetzte  Ansicht  ein.  Er  liefert  hauptsächlich  eine  sehr 
gründliche  Kritik  aller  Stellen  der  Classiker,  die  für  die  Verschiedenheit  des 
Celten-  und  Germanenthums  sprechen.  Man  kann  wohl  sagen,  dass  er  in 
dieser  Beziehung  fasst  überall  den  Sieg  gegen  Holtzmann  davon  trägt  und 
dessen  paradoxe  Sophistik  aus  dem  Felde  schlägt.  Viel  schwächer  ist  aber 
der  linguistische  Beweiss,  auf  den  hier  das  meiste,  ja  alles  ankommt.  Hier 
stützt  er  sich  weder  auf  Zeuss  noch  Diez,  obgleich  er  sie  namhaft  macht, 
sondern  auf  die  unzuverlässigen  und  unkritischen  Arbeiten  eines  Edwards 
und  Chevallets  und  auf  eigene  Ergänzungen.  Man  wird  es  uns  ersparen,  dass 
wir  ihm  die  Fehler  seiner  Etymologien,  die  jedem  Kenner  sogleich  in  die  Augen 
springen,  nachweisen.  Denn  wer  wird  z.  B.  Wörter  wie  franz.  ambre,  bätard, 
changer,  chaque,  cogner,  coint,  conte,  couper,  debar,  delai,  derriere,  diner,  fal- 
loir,  gener,  gu^de,  nappe,  oignon,  parole,  payer,  perche,  perle,  quitte,  rage, 
rincer,  riz,  robe,  röder,  sac,  suie,  talent,  tiede  und  viele  andere  für  celtisch 
halten?  Im  Linguistischen,  d.  h.  hier  im  Celtischen,  ist  Brandes  also  schwä- 
cher als  Holtzmann.  Sehr  naiv  rückt  ihm  Holtzmann  dieses  auch  vor,  ob- 
gleich er  selbst  im  Celtischen  doch  auch  durchaus  nicht  stark  ist.  Holtzmann 
hat  auf  eine  gewiss  absichtliche  Weise  nicht  alle  von  den  Alten  flir  celtisch 
gehaltenen  Wörter  angeführt,  sondern  nur  solche,  die  sich  mit  Hülfe  einer 
gewaltsamen  Verrenkung  allenfalls  gezwungen  aus  dem  Deutschen  erklären 
liessen.  Eine  solche  Tendenz  findet  sich  leicht  ein,  wenn  man  in  einer  Sprache 
stark,  in  der  andern  aber  schwach  ist.  Im  Deutschen  ist  Holtzmann  olfenbar 
stärker  als  im  Celtischen,  das  sieht  man  gleich  auf  den  ersten  Blick.  Mit 
seinem  Verfahren  wäre  es  ihm  auch  gelungen,  eben  so  viele  dieser  Worte 
für  Slavisch  auszugeben,  wenn  er  des  Slavischen  eben  so  mächtig  als  des 
Deutschen  gewesen  wäre.  Wenn  jedoch  auch  sämmtliche  Stellen  der  Alten 
das  beweisen  sollten,  wie  sie  es  eben  nicht  thun,  was  Holtzmann  dadurch 
bewiesen  zu  haben  wünscht,  so  wird  der  vollständig  und  richtig  geführte 
linguistische  Beweiss  eben  sowohl  die  unrichtige  Ansicht  der  Alten  widerlegen 
als  auch  Holtzmanns  mühsam  errichtetes  Sophistengebäude  über  den  Haufen 
werfen,  und  ihn  selbst  für  immer  darunter  begraben.  Aber  einzelne  unter 
den  Alten  waren  viel  klüger  und  besser  unterrichtet  als  Holtzmann  glaubt. 
Im  Anfange  zwar  vor  Cäsar  konnte  man  Celten  und  Germanen  noch  nicht 
gut  unterscheiden;  damals  war  der  Ausdruck  Celten  noch  ein  grosser  Ge- 
sammtname  und  die  Germanen  steckten  mit  darin.  Später  aber,  nachdem 
man  diese  Celten  in  ihren  einzelnen  Bestand theilen  näher  kennen  lernte  und 
einsah ,  dass  man  einen  ganz  verschiedenen  Volksstamm  mit  einer  ganz  ver- 
schiedenen Sprache  mit  dazu  gerechnet  hatte,  so  schied  man  denselben  unter 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  171 

dem  Namen  der  Germanen,  der  ihnen  von  den  Gelten  selbst  gegeben  worden 
war  und  der  Nachbarn  bedeutet,  aus,  und  benannte  nur  den  Rest  noch  ('el- 
ten,  der  sich  durch  eine  verscliiedene  Sprache,  durch  Körperbau,  Haut-  und 
Gesichtsfarbe,  Religion,  Sitten  und  Gebräuche  von  den  Germanen  unterschied, 
tlie  grösser,  blonder  und  wilder  waren.  Obgleich  nun  aber  die  meisten  Alten 
die  zwei  grossen  Völkerschaften  fast  immer  gehörig  unterscheiden,  so  ver- 
wechseln doch  auch  einzelne  minder  unterrichtete  dieselben  wieder,  oder 
fassen  den  Unterschied  derselben  nicht  genau  und  allgemein  genug,  sondern 
nur  relativ  auf,  so  dass  sie  den  Gelten  oft  eine  hellere  Farbe  zuzuschreiben 
scheinen  als  ihnen  in  \Virklichkeit  zukommt.  Die  Gelten  zerfielen  in  zwej 
grosse  Stänune,  in  den  altern  gadhelischen,  der  auf  einer  geringeren  Bildungs- 
stufe stand ,  und  sirh  mehr  an  die  Römer  anschloss,  und  den  jüngeren  kym- 
rischen,  der  gebildeter  war  und  in  einem  gewissen  verwandtschaftlicheren 
Verhalt niss  zu  den  Griechen  stand.  Die  Theile  des  kymrischen  und  gadhe- 
lischen, die  in  Gallien  wohnten,  waren  wiederum  civilisirter  als  die  in  Bri- 
tannien, die  mehr  in  ihrem  iilteren  roheren  Zustande  verharrten.  Ganz  ver- 
kehrt ist  die  Ansicht,  dass  die  noch  heut  zu  Tage  übrigen  Gelten  in  der 
Basse  Bretagne  alle  aus  Britannien  erst  eingewandert  seien.  Eine  solche 
partielle  Einwanderung  fand  Statt,  als  ein  Theil  der  Britten  vor  der  barba- 
rischen Grausamkeit  Hengist's  seine  Zuflucht  in  Armorica  nahm,  dem  sie  aller- 
dings dadurch  den  Namen  Nieder- Britannien  mittheilten;  aber  es  war  nur 
ein  neuer  Zuzug  2)u  ihren  alten  Brüdern  und  nahen  Verwandten.  Eben  so 
unrichtig  und  verkehrt  ist  es,  wenn  Holtzmann  glaubt,  dass  alle  britischen 
Städte  erst  in  der  Zeit  der  Römerherrschaft  gegründet  wurden  und  ihren 
Namen  von  den  gallischen  Soldaten  des  römischen  Heeres  und  den  gallischen 
Ansiedlern  erhielten,  die  von  den  Römern  auf  britischen  Boden  verpflanzt 
wurden,  wie  es  z.  B.  mit  Gamulo  dunum  unter  Claudius  der  Fall  war.  Hier 
nimmt  eine  zügellose  Einbildungskraft  den  Theil  für  das  Ganze,  und  denkt 
sich,  das  einzelne  Spätere  muss  auch  das  frühere  Allgemeine  sein.  Wir  ver- 
stehen <laher,  im  Gegensatz  zu  Holtzmann,  unter  Gelten  diejenigen  Völker, 
welche  die  Alten,  so  oft  sie  klar  in  der  Sache  sahen,  so  nannten,  d.  h.  die- 
jenigen, die  im  Wesentlichen  und  Ganzen  die  unter  sich  eng  verwandten 
Sprachen  redeten,  deren  Ueberi'este  in  Niederbritannien,  Wales,  Hochschott- 
land und  Irland  noch  fortleben,  und  durch  deren  Sprache  sich  alles  was  da- 
von in  den  geographischen  Namen  der  für  celtisch  gehaltenen  Lander,  wozu 
Gallien,  Hispanien,  Oberitalien,  ein  Theil  der  Schweiz,  das  südliche  Deutsch- 
land und  Grossbritannien  und  Irland  gehören,  so  wie  in  den  Sprachen  ihrer 
Nachfolger,  der  Romanen,  Engländer  und  zum  Theil  auch  der  Deutschen, 
steckt,  ausschliesslich  und  einzig  regelrecht  und  befriedigend  erklären  lässt. 
In  Beziehung  auf  diesen  letzteren  Punkt  stimmt  Holtzmann  einen  Triumph- 
gesang an,  indem  er  zu  seiner  Unterstützung  anführt,  dass  eine  so  grosse 
Autorität  wie  Diez  aufs  entschiedenste  läugne,  dass  die  sogenannten  celtischen 
Sprachen  einen  erheblichen  Antheil  an  der  Bildung  der  romanischen  hätten, 
und  dass  derselbe  sich  in  der  neuen  Auflage  des  ersten  Bandes  seiner  Gram- 
matik sogar  der  Benennung  celtisch  für  die  britischen  Sprachen  enthalte, 
zum  deutlichen  Zeichen,  dass  er  die  Iren  und  Schotten,  die  Walliser  und 
Bretagner  nicht  für  Gelten  hält.  Es  ist  wahr,  in  seinem  etymologischen 
Wörterbuche  spricht  Diez  noch  vom  celtischen  Element  der  Romanischen 
Sprachen,  und  bringt  auch  eine  nicht  unerhebliche  Anzahl  von  Wörtern  her- 
bei, die  er  für  celtisch  hält;  aber  in  der  neuen  Auflage  seiner  Grammatik 
steht  nur  p.  134  die  Bemerkung,  dass  die  V)ritischen  (und  iberischen)  Be- 
standtheile  so  spärlich  sind,  dass  sie  nur  zu  einzelnen  Bemerkungen,  nic^ht  zu 
einer  systematischen  Darstellung  Stoff  gewähren  würden,  so  dass  es  allerdings 
scheint,  als  wenn  Diez  für  Holtzmaim's  Ansicht  gewonnen  wäre.  Schon  in 
der  ersten  Auflage  seiner  Granunatik  hat  Diez  dem  celtischen  und  iberischen 
Element  der  Romanischen  Sprachen  keine  grosse  Bedeutung  beigelegt,  indem 
er  es  bis  dahin  eigentlich  auch  noch  gar  nicht  untersucht  hatte.    Später  für 


172  L)  eurtheiluiige  II  und  kurze.  Anzeigen. 

sein  ^^'örte^buch  hat  derselbe  das  Celtische  bloss  nach  Zeuss  einer  Prüfung 
unterworfen,  und  doch  sclion  manches  gefunden,  was  nicht  ganz  unbeträchtlich 
genannt  werden  kann.  Aber  im  Ganzen  kann  man  jedoch  sagen,  dass  bis 
jetzt  weder  das  Celtische  noch  das  Iberische  von  Diez  so  vollständig  und 
umfassend  untersucht  worden  ist  wie  der  allerdings  beträchtlichere  deutsclie 
Bestandtheil  des  Romanischen,  und  dies  gibt  Diez  in  der  Vorrede  zu  seinem 
Wörterbuche  gewissermassen  selbst  an  und  zu.  Aber  Diez  führt  zugleich  auch 
selbst  an,  dass,  nach  Abzug  aller  Elemente,  die  den  grössten  Theil  des  ro- 
manischen SprachstoH'es  ausmachen,  immer  noch  ein  kleiner  Theil  üljrig  bleibe, 
der  sich  nicht  erklären  lasse.  Nun,  wohlan,  man  mache  sich  einmal  ernst- 
lich daran,  den  Gegenstand  ausreichend  zu  untersuchen,  und  man  wird  finden, 
dass  dieser  rebellisciie  Bestandtheil  sich  zum  Tlieil  nur  aus  dem  Celtischen  er- 
klären lässt.  Ich  will  zum  Beweis  aus  Mangel  an  Kaum  nur  ein  Beispiel  anführen : 
das  spanisclie  Wort  colmena,  der  Bienenkorb,  wurde  von  den  Etymologen  auf  die 
Tortur  gesjiaimt,  um  aus  ihm  etwas  herauszupressen,  und  nach  langer  Folterung 
gab  es  als  seinen  Vater  das  arabische  kuär  men  na'hal,  Bienenkörbe  von  Bie- 
nen, an.  Diesem  Worte  sieht  man  die  Foltenjualen  an,  um  das  zu  werden,  was 
es  soll,  und  obendrein  ist  es  nicht  einmal  recht  arabisch.  Im  Niederbri- 
tannischen dagegen  heisst  der  Bienenkorb  unter  anderen  kölöenwenan,  von 
köloen,  Korb,  und  gwenanen,  Biene,  pl.  gwenan,  dem  in  Zusammensetzungen 
sein  g  nach  einem  Gesetz  der  celtischen  Sprache  verloren  gehen  muss.  Zalil- 
reiche  Beispiele  sind  vorhanden,  dass  sich  ein  b,  p  und  v  im  Iberischen  und 
Celtiberischen  Munde  zu  m  gestaltet.  Ist  ein  solches  auf  natürlichem  Boden 
erwachsende  Product  wie  ein  Bienenkorb,  den  die  Araber  nicht  erst  in  Spa- 
nien eintühren  und  der  Bevölkerung  desselben  ihren  Namen  dafür  aufzwingen 
konnten,  abgesehen  von  der  Formschwierigkeit,  hier  nun  nicht  viel  natürlicher 
aus  einer  celtischen  Sprache  erklärt,  da  es  aus  der  Geschichte  bekannt  ist, 
dass  celtische  Völkerschaften  in  Spanien  in  Masse  waren,  und  dass  sich  einige 
derselben  so  mit  den  Iberern  mischten,  dass  neue  Völkerschaften,  die  Celti- 
berer  genannt  wurden,  daraus  entstanden?  Alle  Bomanisclien  Sprachen  und 
auch  das  Spanische  enthalten  viele  celtische  Ausdrücke,  d.  h.  Wörter,  die 
sich  imr  mit  den  für  celtisch  gehaltenen  Sprachen  in  Grossbritannien  und 
Frankreich  ei-klären  lassen ;  aber  natürlich  liegen  sie  versteckter  und  sind  in 
geringerer  Anzahl  vorhanden  als  die  deutschen  oder  gar  lateinischen.  Sie 
lassen  sich  daher  auch  nicht  gleich  wie  Kieselsteine  auf  der  Landstrasse  auf- 
lesen, sondern  wollen  wie  Diamanten,  die  roh  und  unscheinbar  im  Staube 
liegen,  scharf  angesehen  und  dann  hinterdrein  polirt  und  geschliffen  werden. 
Es  ist  auch  natürlich,  dass  je  älter  ein  Sprachbestandtheil  in  Sprachen,  die 
mehrere  Mischungen  und  Umwälzungen  erfahren  haben,  ist,  desto  geringer  ist 
er  vorhanden,  und  desto  mehr  ist  er  verändert  und  schwieriger  zu  entdecken. 
Aber  vom  Verstecktliegen  und  in  geringerer  Anzahl  Vorhandensein  ist  noch 
ein  weiter  Schritt  bis  zum  gar  nicht  Vorhandensein.  Es  wäre  zwar  eine  mühe- 
volle,  aber  dankbare  Aufgabe,  erst  negativ  alles  Regelwidrige,  Unhaltbare 
und  Ungenügende  in  den  linguistischen  Beweismitteln  von  Brandes  und  Holtz- 
mann  nachzuweisen  und  zu  entfernen,  und  dann  positiv  das  glänzende  und 
stattliche  Gebäude  des  untergegangenen  Celtenthunis  linguistisch  aufzuführen 
und  den  verwunderten  Augen  der  Ungläubigen  und  jetzt  in  der  Sache  nicht 
klar  Sehenden  darzulegen.  Denn  so  lange  der  vollständige  und  regelrechte 
linguistische  Beweis  nicht  geführt  ist,  wird  das  Zweifeln  und  Hin-  und  Her- 
rede auf  diesem  Gebiete  kein  Ende  nehmen;  denn  es  werden  sich  immer  Leute 
finden,  die  die  historischen  Zeugnisse  der  Griechen  und  Römer,  die  nach  den 
Zeitaltern  verschieden  und  nicht  alle  gleichen  Werth  haben,  indem  sie  nicht 
immer  auf  genügender  Sach-  und  Selbstkenntniss,  sondern  auf  bloss  äusserem 
Schein  und  Hörensagen  beruhn,  anzuzweifeln  und  nach  ihren  vorgefassten 
I\I einungen  auszulegen  verstehen.  Die  Linguistik  wird  noch  von  den  meisten 
Historikern,  die  sich  auf  primitivQ  Völkerverhältnisse  einlassen,  nur  mit 
schelem  und  halbem  Auge  angesehen  und  wie  die  sauren  Trauben  des  Futh- 


Ueu  it  heilun<ieii  und  kurze  Anzoigen.  173 

ses  behandelt,  indem  sicli  allerdings  auf  diesem  Felde  mit  dauerndem  Erfolg 
nicht  so  leicht  etwas  iniprovisiren  lässt,  als  auf  dem  eigentlichen  historisclien 
Felde,  wo  selbst  Tliatsaciien,  die  vor  unseren  Augen  geschehen,  von  deui 
einen  so  und  von  dem  amleren  so  aufgefasst  werden  kdnnnen.  Ilolfzniann 
nennt  schon  das  vortreflliche  und  meisterhafte  l'ucli  von  Zeuss,  woraus  er 
eine  grosso  wissenschaftliche  Kenntniss  der  Celtischen  Spruche  in  verhällniss- 
mässig  geringer  Zeit  schiipftn  konnte,  ein  dickes  und  trockenes  Buch.  Wie 
sollten  sich  also  Leute  wie  Iloltzmann  und  die  ihm  gleich  denken,  dj.zu  ent- 
schliessen,  ein  Dutzend  anderer  noch  dickerer  und  trocknerer  \^'erke  durcli- 
zugehen,  und  deren  Kern  und   Inhalt  in  sich  aufzunehmen  V 

Zum  Schluss  erlaube  ich  mir,  nur  an  einem  IJeispiel  unter  den  ^ielen  die 
Art  und  Weise  der  Iloltzniannschen  celtisclien  Sprachforschung  darzulegen, 
deren  Charakter  man  resuuiirend  und  kurz  so  bestimmen  kann:  a)  Iloitz- 
mann's  Kenntniss  des  Celtischen  ist  mangelhaft  und  ungenügend,  b)  Er  ver- 
schweigt eine  Menge  der  von  den  Alten  erwälinten  celtischen  Wörter,  weil 
er  sie  auch  mit  den  allergevvaltsamsten  Mitteln  nicht  in  germanische  hat  ver- 
wandeln können,  c)  Bei  denen,  die  er  auj-zuwähien  für  gut  findet,  verschweigt 
er  auch  oft  doch  die  ähnlichen  celtisclien  W^örter,  entweder  weil  er  sie  nicht 
kennt,  oder  absichtlich,  um  seinen  aus  dem  Germanischen  hergeholten  Zeugen 
keine  unbequeme  Gegenzeugen  gegeniiberzustellen.  Eine  solche  Beschaflen- 
heit  und  ein  solches  Verfahren  ist  aber  nicht  dazu  angethan,  der  bisherigen 
Ansicht  über  Gelten  und  Germanen  auf  die  Länge  getährlich  zu  werden: 
Holtzmann  hat  wohl  aufgeregt,  aber  niclits  erschüttert.  Die  Säulen  des 
("eltenthums  nach  der  Aorholzmannschen  Auffassung  stehen  fester  als  je. 
Jetzt  also  das  Beispiel.  Das  celtische  AVort  für  Meile  findet  sich  in  allen 
romanischen  Sprachen,  im  Englischen,  und  im  Spät-  und  Mittellateinisehen, 
franz.  Heue,  prov.  lega,  legua,  ital.  lega,  span.  legua,  port.  legoa,  engl,  lea- 
gue,  spät-  und  mittellat.  leuca,  leuga,  lega,  lewa,  levia.  Es  wird  als  galli- 
scdies  Wort  nn't  der  Bedeutung  eine  gallische  Meile  (leuga)  von  lüüO  Schrit- 
ten zuerst  von  Ammian  (im  4  Jahrh.  p.  Chr.)  erwähnt,  dann  von  Hieron^iuus 
(leuca),  von  Hesychius:  '/.ev-yr;  iiixQOv  t/  raXay.Tiy.6v.  Das  W^ort  findet  sich  In 
allen  celtischen  DIalecten,  den  Bretannischen  ausgenommen,  der  es  eingebüsst 
hat.  Es  bedeutet  ursj)rünglich  einen  platten  Stein.  Die  Meilen  wurden  wie 
bei  den  Römern  (lapis)  und  zum  Theil  auch  bei  uns  durch  Stein  (daher 
^Meilenstein)  bezeichnet  Irisch  heisst  das  Wort  leac,  gälisch  leac,  leachd, 
kymrisch  Uech.  Sogar  das  Geschlecht  stimmt:  überein;  denn  sie  sind  alle 
weiblichen  Geschlechts.  Verwandt  damit  sind  Irisch  leug,  leig,  ein  Edelstein, 
ein  Kieselstein.  Von  diesem  Worte  sagt  nun  Holtzmann  Folgendes  aus:  das 
Wort  leuca  ist  nicht  britisch ;  denn  Bretonisch  leo  Ist  doch  wohl  erst  aus 
lieue  entlehnt.  Man  hat  aber  auch  bis  jetzt  kein  deutsches  Wort  herbeizu- 
ziehen gewusst.  (Ganz  natürlich,  weil  noch  niemand  diesem  Irrwahn  huhh'gte, 
das  Celtlsche  und  (germanische  für  Identisch  zu  halten.)  Ich  glaube  das  Wort 
zu  finden  im  veralteten  deutschen  Wort  lachu,  divislo,  bei  Graff  2,  löO. 
Dazu  gehört  angels.  leove,  das  ich  übrigens  nur  aus  Graff"  unter  leuga  kenne. 
So  weit  Holtzmann.  Das  Wort  lleoune  steht  aber  nicht  bloss  bei  Graff,  son- 
dern auch  bei  Bosworth  und  In  jedem  angelsächsischen  W()rterbuche,  ist  aber 
weiter  nichts  als  die  germanisirte  Form  des  mittellateinischen  lewa.  Und 
damit  glaubt  Iloltzmann  nun,  indem  er  alles  oben  von  mir  Beigebrachte 
nicht  kennt  oder  mit  Fleiss  ignorirt,  den  celtischen  Ursprung  Im  frühereu 
Sinn  beseitigt  und  i.\<:\\  germanischen  fcstges^ilit  zu  haben.  Das  Bretonische 
leo,  lev,  leu,  ist  allerdings  entlehnt,  eben  weil  es  sciion  Mieie,  und  nicht 
Stein  bedeutet,  und  seine  Form  verdächtig  Ist,  Indem  sie  zu  dem- Fran- 
zösischen, aber  nicht  zu  den  übrigen  drei  celtischen  Sprachen  stimmt;  aber 
warum  erwähnt  Iloltzmann  das  irische,  gälische  und  kymrische  Wort  gar 
nicht?  Also,  um  seinem  seltenen  germanischen  lachu,  welches  nur  in  der 
mittellateinischen  Form  lachus  bekannt  ist,  und  welches  incisio  arborum,  divi- 
slo, seil,  ngroruin,  ([iii  hisce  incisionibus  t(!rniin;intur.  bedeutet,  und  wohl  als 


174  Beurtlieilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Greuzbestimmung ,  aber  nicht  als  Zeichen  einer  Entfernung,  eines  Masses 
diente ,  das  im  Milttellateinischen  und  den  Romanischen  Sprachen  mit  der 
Bedeutung  Meile  vorkommenden  Wort  zuzuweisen,  gibt  er  den  drei  Zeugnissen 
der  Alten,  die  ausdrücklich  sagen,  dass  es  ein  Gallisches  oder  Celtisches 
Wort  sei,  einen  anderen  Sinn,  und  kennt  die  Formen  des  Worts  in  den  drei 
celtischen  oder  doch  bei  Andern  für  celtisch  geltenden  Sprachen,  im  Irischen, 
Galischen  und  Kymrischen,  nicht  oder  ignorirt  sie  absichtlich.  Dagegen 
kennt  er  sonderbarer  Weise  die  niederbretannische  Form,  vielleicht  eben, 
weil  er  sie  mit  Recht  verwerfen  kann,  und  die  anderen  nicht. 

Dr.  C.  A.  F.  Mahn. 


Zur  Shakspeare-Literatur. 

Referent  braucht  sich  nicht  wie  Adolf  Stahr  in  einem  den  gleichen 
Gegenstand  behandelnden  Artikel  der  Nationalzeitung  vom  24.  December 
1857  gegen  den  bekannten  Goethe'schen  Vorwurf  „Shakspeare  und  kein 
Ende"  zu  vert heidigen ,  wenn  er  über  drei  verdienstvolle  Werke  berichtet, 
deren  zwei  sich  direct  mit  dem  grossen  Barden  beschäftigen,  während  das 
dritte  ihn  aus  seinen  Zeitgenossen  zu  erklären  bezweckt.  Ich  spreche  zu- 
nächst von  „Dingelstedt,  Studien  und  Copien  nach  Shakspeare. 
Pesth,  Wien,  Leipzig  185S,"  durch  welches  der  Verfasser  eine  innigere 
Aneignung  Shakspeare's  für  die  deutsche  Nation  anzubahnen  strebt,  als  dies 
bisher  geschehen,  und  zwar  auf  doppeltem  Wege:  1)  durch  eine  neue 
Reproduction  in  künstlerischer  üeberl ragung,  2)  durch  vollständige  ange- 
messene Vorführung  auf  der  Bühne.  Um  die  Nothwendigkeit  der  ersten  zu 
beweisen,  zählt  Dingelstedt  S.  6  die  bisherigen  zehn  Uebersetzungen  auf, 
von  denen  genau  genommen  die  von  Benda,  Mayer  und  Döring,  Körner, 
Böttger,  Ortlepp,  Keller  und  Rapp,  sowie  die  literarhistorische  Curiosität 
der  Wieland-Eschenburg'schen  Arbeit  nicht  mehr  mitzählen,  während  Voss 
einem  Holzschnitt,  Schlegel-Tiek  einem  Kupferstiche,  Kaufmann  aber  einem 
Lichtbilde  verglichen  wird,  das  jede  Warze  und  Sommersprosse  treulich 
wiedergibt.  Die  beste  der  genannten  Uebertragungen,  die  Schlegel-Tiek'sche, 
reicht  bei  dem  jetzigen  Stande  der  Wissenschaft  nicht  mehr  aus  und  kann 
bei  der  Fülle  neuer  Lesarten  und  Commentare  und  bei  der  vorgeschrittenen 
philologischen  Kenntniss  jetzt  sehr  wohl  übertroffen  werden.  Die  Lösung 
einer  solchen  Aufgabe  bezweckt  nun  Dingelstedt  im  Verein  mit  den  tüch- 
tigsten üebersetzern,  die  er  auffordert,  sich  unter  Gervinus  Fahne  zu  schaaren, 
recht  bald  in's  Werk  zu  setzen,  um  so  das  fünf  hundertjährige  Geburtsfest 
Shakspeare's  im  Jahre  l8r»4  mit  einem  würdigen  Geschenk  zu  begrüssen. 
Von  diesem  hofft  er  die  wesentlichste  Anregung  für  unsre  dramatische  Ori- 
ginalpoesie und  erbten  Durchbruch  und  Aufsc  hwung  zu  neuem  und  wahrem 
jLeben,  und  schlägt,  ein  solches  Unternehmen  zu  fördern,  einen  Shakspeare- 
Verein  und  ein  Shakspeare-Jahrbuch  vor,  welche  einen  mehr  poetischen 
Zweck  zu  verfolgen  haben  würden  als  die  Londoner  Shakspeare-Society, 
bemüht  für  Auffindung  und  Wiederzugänglichmachung  alter  Shakspeare- 
Quellen  und  ihn  erläuternder  Schriften.  —  In  Bezug  auf  seinen  zweiten 
Plan,  eine  Bearbeitung  Shakspeare's  für  die  deutsche  Bühne,  bespricht  er 
zunächst  frühere  Bearbeiter,  von  denen  Schröder  den  Dichter  originalisirt, 
Schiller  ihn  idealisirt,  Goethe  realisirt,  Schlegel-Tiek  ihn  nationalisirt  haben. 
Er  soll  nun  universalisirt  werden.  Wie  das  geschehen  und  dem  bei  den 
jetzigen  Shakspeare -Aufführungen  oft  noch  fühlbaren  Mangel  abgeholfen 
werden  könne,  darüber  gibt  der  kenntnissreiche  Theaterintendant  (19,  20) 
die  praktischsten  Winke  und  schliesst  daran  eine  eigene  Bearbeitung  des 
Macbeth  und  des  Sturmes  „nicht  als  Muster,  sondern  als  einseitige  Vor- 
läufer,   mundrecht,    bühnengei-echt,    praktisch."      Seite    146  — 165    enthalten 


Heurtheilungen  iinc]  kurze  Anzeigen.  175 

höchst  interessante  Noten  mit  dramaturgischen  Winken,  auch  eine  Kritik 
von  Schillers  Behandlung  des  Dramas,  1G5  — 254  folgt  der  Sturm,  der  in 
ähnlicher  ^Veise  für  die  Bühne  zurecht  gemacht  ist  und  durch  eine  bis  27G 
gehende  Geschichte  seiner  Aufführung  und  Inscenesetzun'g  abgeschlossen 
wird. 

Das  zweite  Werk  ist  das  auch  nach  Gervinus  noch  höchst  verdiensthche 
„Shakspeare,  seine  Zeit  und  seine  Werke;  Vorlesungen  von 
F.  Kreyssig.  Berlin,  Nicolai,  1858.  Erster  Band,  von  dem  Stahr  enthu- 
siastisch sagt,  es  sei  ein  würdiges  Gegengeschenk,  das  die  deutsche  Literatur 
der  englischen  für  J.,ewes'  vortreffliches  Werk  über  Goethe  entgegenbringe. 
Diese  Vorlesungen  rechnen  darauf  (VI),  der  Verurtheilung  als  Dilettanten- 
arbeit auch  vor  dem  Forum  billigdeiikender  Fachmänner  wohl  zu  entgehen 
—  sie  bekennen  aber  offen,  dass  sie  vorzugsweise  an  strebsame  und  gebildete 
Dilettanten  (im  guten  Sinne)  sich  wenden,  an  Männer  und  Frauen,  welche 
ihrem  Shakspeare,  ohne  die  Müsse  und  die  Hülfsmiltel  zu  langjährigen, 
strengen  Studien  zu  besitzen,  doch  einen  nachhaltigem  Genuss  verdanken 
möchten,  als  die  unvermittelte  und  unvorbereitete  Leetüre  ihn  gewähren 
kann.  Wie  das  hesin-ochene  Dingelstedt'sche  Werk  will  Kreyssig  das  ethische, 
echt  humane  Lebenselement  der  Shakspeareschen  Dichtungen  flüssig  machen 
für  die  Befruchtung  unsers  nationalen  Bewusstseins,  Shakspeare  in  möglichst 
ausgedehnte  Kreise  einführen  als  einen  Anreger  zu  männlichem  Denken  unj 
Wollen,  zu  klarer  und  scharfer  Beobachtung  der  wirklichen  Welt  nicht  we. 
niger  als  zu  einem  reinen  und  hohen  Cultus  des  Erhabenen  und  Schönen. 
Er  beginnt  zu  dem  Ende  in  seiner  ersten  Vorlesung  mit  einem  lebensvollen 
Bilde  von  Shakspeares  Zeitalter  und  Volk,  denn  Shakspeare  ist  (23)  keine 
Ausnahme  von  der  Kegel,  dass  man  Feigen  nicht  lesen  kann  von  den  Dornen, 
noch  Trauben  von  den  Disteln.  Wie  jedes  echte  Genie  war  er  erst  ein 
guter,  vollbürtiger  Sohn  seiner  Zeit,  ehe  ihm,  weniger  vielleicht  der  Ge- 
danke und  Plan,  als  die  Kraft  und  die  Nothwendigkeit  kam,  sich  kühnen 
Schwunges  über  sie  und  über  alle  Zeit  zu  erheben.  Seine  Kunst  steht  im 
iimigsten  Zusammenhange  mit  dem  Leben  und  der  Bildmig  seiner  Epoche. 
Er  war  kein  Revolutionär  auf  dem  Gebiete  des  Dramas,  sondern  vielmehr 
ein  Reformator  und  genialer  Schöpfer.  Dies  deutlicher  zu  zeigen,  gibt 
Kreyssig  in  der  zweiten  Vorlesung  eine  kurze  Geschichte  des  mittelalter- 
lichen Dramas,  seiner  Entwicklung  in  England  bis  auf  Shakspeare  und  einen 
Ueberblick  über  die  englische  Bühne  zu  seiner  Zeit,  ihre  sociale  Stellung, 
Technik,  Publicum  und  Hülfsmittel,  wesentlich  nach  Thomas  Nash's  von 
Sillig  (in  Shakspeare,  sein  Leben,  seine  Werke  und  seine  Zeit.  Leipzig  1855) 
benutzten  Werke:  Shakspeare  and  his  times.  Die  dritte  Vorlesung  stellt 
die  dürftigen  Nachrichten  von  Shakspeare's  Biographie  zusammen,  die 
vierte  behau'Ielt  Wiedererweckung,  Ausbreitung  und  Wirkungen  des  Shak- 
speare-Studinms  und  stellt  die  Grundzüge  zur  Würdigung  der  künstlerischen 
und  sittlichen  Bedeutung  des  Dichters  auf,  den  Kreyssig  (S.  127)  „als  den 
sittlichsten,  männlichsten  und  geistig  gesundesten  Dichter  verehrt,  wie  er 
als  der  phantasiereichste,  anziehendste,  lieblichste  und  erschütterndste  längst 
von  Beurtheilern  und  Lesern  aller  Bildungsstufen  und  Farben  aner- 
kannt und  genossen  wird."  Als  P^inleitung  zu  den  nun  folgenden  histn. 
Tischen  Stücken  (denn  Kreyssig  hat  nicht  die  doch  nur  unsichre  chrono- 
logische Ordnung  belölgt,  sondern  nach  imiern  Gründen  die  verschiedenen 
Stücke  zusammengestellt)  gibt  er  ein  Gesammtbild  des  in  ihnen  dargestellten 
Zeitraums  und  handelt  von  den  Quellen,  besonders  Holinshed  und  Sackvillcs 
Mirror,  denen  Skaks))eare  folüte,  ohne  wie  Schiller  handelnde  Hauptcharaktere 
zu  erfinden;  zum  Schluss  dieses  Abschnitts  weist  er  mit  Recht  die  Ansicht 
zurück,  Shakspeare  sei  kein  Engländer  gewesen,  wie  Christus  kein  Jude,  er 
arbeitete  und  dachte  vielmehr  für  sein  Vaterland.  Die  sechste  bis  zwölfte 
Vorlesung  behandeln  nun  in  präciser  und  dabei  kerniger  Sprache  die  sieben 
grossen  englischen  historischen  Dramen,   mit  Richard  IL  beginnend  und  ab- 


176  B  eurth  (Mlnngen  uiul  kurze  Anzeigen. 

schliessenc]  mit  dem  in  niehrfaeher  Beziehung  den  andern  fern  liegend-cn 
König  Joliann.  welches  Stück  besonders  geeignet  ist,  Shakspeares  histo- 
rischen Standpui  kt,  sowie  die  Methode  seiner  Schöpfungen  auf  diesem  Ge- 
biete zu  erkennen  und  resumirend  zusammenzufassen  AVir  wolU'n  nicht 
weiter  eingehen  in  das  mit  492  Seiten  abgeschlossene  Buch,  das  entschieden 
zu  dem  Bedeutendsten  zu  rechnen  ist,  was  die  Shakspeare-Literatur  aufzu- 
weisen hat,  und  wir  wollen  hoffen,  dass  die  Nicolai'sche  Verlagsbuchhand- 
lung, welche  durch  die  Veröffentlichung  von  Kaulbach's  herrlicher  Shak- 
speare-Galerie  und  Carrieres  Conmientar  dazu  sich  schon  so  grosses  Verdienst 
um  alle  Freunde  des  grossen  Dichtess  erworben  hat,  recht  bald  die  zwei 
übrigen  Bände  von  Kreyssig's  geistreichem  Werke  nachfolgen  lassen  werde. 
Wir  kommen  jetzt  drittens  zu  der  Besprechung  eines  ersten  Bandes 
von  einem  Werke,  dessen  Autor  dem  Publicum  als  Dichter  schon  länger 
bekannt  ist,  der  aber  bisher  wie  ein  flüchtiger  Schmetterling  an  den  duftigsten 
Blüthen  des  Orients  seine  Nahrung  gesogen  hatte,  wir  meinen  —  Shak- 
speare's  Zeitgenossen  und  ihre  Werke.  In  Charakteristiken 
und  Ueberset Zungen  von  Fr.  Bodenstedt.  (Erster  Band.  John 
Webster.  Berlin  1858.  8.  Oberhofbuchdruckerei.)  Das  Buch  ist  bestimmt, 
durch  vergleichende  Charakteristiken  der  hervorragendsten  Zeitgenossen 
Shakspeare's  und  Uebertragungen  ihrei*^  eigenthümlichsten  dramatischen 
Schöpfungen  neue  Beiträge  zur  Kennt niss  der  altenglischen  Bühne  zu  liefern, 
und  in  den  vier  ersten  Bänden  ausschliesslich  Uebersetzunpen  und  über- 
sichtliche Auszüge  der  vorzüglichsten  Dramen,  nebst  Nachrichten  über  das 
Leben  ihrer  Dichter  zu  bringen,  während  es  dem  fünften  Bande  vorbehalten 
l)Ieibt,  den  Zusammenhang  dieser  Dichter  mit  Shakspeare  und  seinen  Vor- 
läuferir  nachzuweisen,  endlich  in  grossen  Zügen  ein  anschauliches  Bild  der 
altenglischen  Bühne  zu  geben,  mit  Hinblick  auf  die  Ursachen  ihres  Auf- 
schwungs und  Verfalls.  Die  Stücke  sind  je  nach  ihrem  Werthe  mehr  oder 
weniger  vollständig  gegeben,  am  Ausfidirlichsten  aber  ein  Ueberblick  über 
das  Scenische.  Mit  Ausnahme  des  Faust  ven  Marlowe  ist  keins  der  ge- 
gebenen Stucke  bisher  vollständig  übertragen,  da  Tiek,  Baudissin,  Kanne- 
giesser,  Bülow  mit  wenigen  Ausnahmen  grade  die  besten  Dramen  weniger 
beachtet  haben ;  viel  verdankt  Bodenstedt  bei  seiner  Auswahl  dem  Urtheil 
des  in  altenglischer  wie  in  spanischer  Dramatik  überaus  bewanderten-Schack  ; 
dass  er  übrigens  sein  ^^'erk  grade  mit  Webster  eröffiiet,  hat  seinen  Grund 
darin,  dass  dieser  Mann  am  wenigsten  in  Deutschland  bekannt  ist  und  es 
doch  zu  sein  verdient.  In  der  Einleitung  gibt  Bodenstedt  über  Webster, 
dessen  Werke  er  nach  der  neuesten  Ausgabe  von  Dyce  zu  Grunde  legt,  die 
wenigen,  bei  ihm  wie  bei  den  meisten  Zeitgenossen  überaus  spärlich  aus- 
fallenden biographischen  Notizen;  es  folgt  dann  nach  genauer  Angabe  der 
älteren  Ausgaben  und  anderweitiger  Behandlung  desselben  Sujets,  nach  drei 
poetischen  zum  Lobe  des  Stückes  an  den  Autor  gerichteten  gleichzeitigen 
Zuschriften  und  \\'ebsters  Zueignung  seines  Dramas  an  den  Baron  Berkele\ 
S.  27  —  200  die  Herzogin  von  Amalfi  in  vollständiger,  theils  poetischer, 
theils  prosaischer  Uebersetzung,  die  sich  bis  auf  einige  (absichtlich?)  un- 
vollzählige Quinare  ganz  gut  liest  und  den  gewandten  Uebersetzer,  als  den 
sich  Bodenstedt  schon  so  vielfich  bethätigt  hat,  wieder  von  Neuem  be- 
kunde-t..  ^\'eshalb  Bodenstedt  grade  dieses  Stück  gewählt  hat,  erklärt  er 
S.  8  der  Einleitung,  avo  er  bemerkt,  Appius  und  Virginia  sei  unstreitig  die 
reinste  und  edelste  Schöpfung  Webster  s,  und  er  würde  dieses  Werk  statt 
der  Herzogin,  die  sich  in  Reinheit  des  Stils  und  Einfachheit  der  Compo- 
.sition  damit  nicht  messen  kann,  nicht  gewählt  haben,  wenn  es  sich  hier 
darum  gehandelt  hätte,  dem  regelrechtesten  und  nicht  vielmehr  dem  eigen- 
thümlichsten Stücke  des  Dichters  den  Vorzug  zu  geben.  Nach  22  exege- 
tischen, meist  auf  Parallelstellen  hinweisenden  Noten  folgt  S.  210  eine  aus- 
führliche Inhaltsangabe  nebst  längeren  Stücken  aus  .,Vitti)ria  Accorombona, 
der  weisse  Teufel,"  welche  wieder  durch  bibliogra'diische  Notizen  ('ingeleitet 


vu  !■  1  li  e  1 1 II  li  iii'  11   11  n( 


i   kiii/c  Anzcluen.  177 


wird;  wir  erfalutui,  diiss  das  Siück  von  den  lueisten  Literarhistorikern  ausser 
Büchner  mit  Unrecht  herabgesetzt  ist,  und  in  der  That  bcstiiti<ien  die  gut 
gewählten  Auszüge  des  Autors  Urtheil.  2i!5  —  285  f'olgl  eine  viel  abgerisse- 
nere Uebcrsicht  des  unbedeutenderen  Stückes:  Des  Teufels  Recht-handel, 
287  —  322  eine  mit  zerstreuten  Uebertragungen  ausgestattete  Inhaltsangabe 
von  Appius  und  Virginia,  „das  nicht  nur  zu  den  besten  Dramen  Webster's, 
sondern  überhaupt  zu  den  besten  Dramen  der  englischen  Bühne  gehört" 
(S.  290),  und  dessen  verhältnissmüssig  geringere  Behandlung  wir  daher  nur 
iiedanern  können.  323  folgt  Sir"  Thomas  Wyatt,  ein  nur  unvollständig  er- 
haltenes Stück,  das  aber  zu  Webster's  gelungensten  Schöpfungen  gehört; 
endlich  Westward  IIo.  eine  ideale  Koniödie,  die  es  mit  der  Wahrseheinlicli- 
keit  nicht  so  genau  iiiimiit  und  der  Phantasie  des  Zuschauers  weiten  Spiel- 
raum lässt,  und  Nortlnvard  Ho  (S.  3G1),  das  wie  jenes  fünfactig  und  in 
Prosa,  derselben  niedern  Sphäre  angehört,  aber  geringern  poetischen  \\'ertli 
hat.  Den  Schluss  machen  drei  Stücke,  welche  Webster  in  Gemeinschaft 
mit  Andern  schrieb:  S.  367  Eine  Kur  für  einen  Hahnrei,  von  Webster  und 
W.  Rowley,  ein  Stück,  dem  es  nicht  an  Witz  und  Laune  fehlt.  Der  Unzu- 
friedene, von  Webster  und  John  Marston  (S.  37  7—384)  und  endlich  Das 
thrazische  Wunder,  das  aber  höchst  wahrcheinlich  nur  in  Folge  eines  ISliss- 
verständnisses  John  Webster  zugeschrieben  ist,  da  William  VVebster  1617 
den  Ruwlev'schen  Lustspielstoff  poetisch  behandelte.  Das  an  lyrischen 
Schönheiten  reiche,  als  Drama  nur  unbedeutende  Werk  mit  höchst  mangel- 
hafter Charakteristik  und  mehr  epischer  als  dramatischer  Behandlung  des 
Stoffs  schliesst  die  Gesammtausgabe  von  Webster's  Werken  und  den  ersten 
interessanten  Band  von  Bodenstedt's  Arbeit.  r\      «^ 


Grammaires  proveneales  de  Hugiies  Faidit  et  de  Raymond 
Vidal  de  Besaudun  (Xllle  siecle).  Deuxieme  edition  revue, 
corrigee  et  considerablement  aiigmentee  par  F.  (niessard. 
Paris.     Frank.     1858. 

Es  ist  ein  auffallendes  Factum,  dass,  während  unsre  deutschen  Buch- 
händler hier  wie  in  Leipzig  einen  wahren  Horror  vor  der  Verlegung  eines 
provencalischen  Werkes  haben,  da  dergleichen  Sachen  nicht  gehen  und  die 
Kosten  nicht  heraus  bringen,  während  sie  glauben,  schon  als  Märtyrer  der 
AVissenschaft  aufzutreten,  wenn  sie  ein  derartiges  Werk,  ohne  Hoüorar  zu 
zahlen,  nur  drucken  —  es  ist  auffallend,  sage  ich,  dass  daneben  Guessard 
.-eine  Vorrede  mit  folgenden  Worten  des  Dankes  für  seinen  Verleger 
schliessen  musste,  der  sein  Werk  in  Braunschweig  bei  Westermann  drucken 
Hess:  II  faut  encore,  pour  m'acquitter  entieiement  (dies  bezieht  sich  auf  einige 
Worte  über  Galvani,  der  die  (Grammatiken  nach  Guessard  edirte,  ohne  ihn 
zu  erwähnen,  und  über  den  verstorbenen  Minister  Fortoul,  dessen  Andenken 
dieses  Bucii  gewidmet  ist),  que  j'adresse  des  remerciments  ä  mon  courageu.x 
editeur.  Ceux  des  libraires  mes  compatriotes  ä  qui  jai  demande  timidement 
s'ils  voulaieut  bien  consenür  k  se  charger  de  cette  publication,  se  sont  em- 
presses  de  me  repondre  non.  Le  premier  editeur  allemand  auquel  jai  eu 
recours  m'a  repondu  ja  wohl  avec  une  e.xtreme  courtoisie.  Gräces  lui  en 
soient  rendues,  ä  lui  et  ä  la  docte  Allemagn.e,  qui  etudie  plus  que  nous  et 
parfois  mieux  que  nous  les  origines  de  notre  langue  et  de  notre  litterature. 
Aehnliche  Gefühle  haben  den  .Autor  bewogen,  die  im  Jahre  1840  im  ersten 
Bande  der  Bibliotheque  de  l'ecole  des  chartes  nach  dem  unvollständigen 
Pariser  Manusc.ip'.e  (nlirtcn  Grammatiken  jetzt  nach  genauen  Collationen 
in  den  italienischen  BibHotheken  vi-rbesseit  und  dtn-ch  ein  Reimlexikon  ver- 
mehrt herauszugeben,  nach  einer  sehr  mühsamen  Arbeit  des  vielfältigsten 
CoUationirens,  von  dem  man  auch  gewöhnlich  in  Frankreich  behauptet,  que 
Aicliiv  r.  II.  S|.rii-li(U.   XXIII.  12 


178  Hpiirt  he  ilun  jj;eii  und  kurze   Anzeigen. 

e'est  au.x  Allemancis  que  revient  de  droit  cette  täche  penible  et  fastidieuse. 
Die  neuen  Forschungen  haben  in  Verbindung  mit  einer  Stelle  der  erst  nach 
1840  edirten  Leys  d'arnor  die  früher  von  Guessard  ausgesprocliene  Verniuthunu;, 
dass  Raymond  Vidal  de  Besäudun,  der  als  Lyriker  und  besonders  als  Autor 
von  Novellen  bekannte  Troubadour,  der  Verfasser  des  zweiten  Tractates  sei, 
zur  Gewissheit  erhoben.  Die  beiden  Grammatiken  vorangehende  ausfuhrliche 
Vorrede  ist  im  Wesentlichen  dieselbe  als  die  der  früheren  Ausgabe,  nur  mit 
Auslassung  einzelner  unwesentlicher  Punkte  und  Hinzufügung  neuer  wichtiger 
Notizen;  sie  legt  zuerst  die  leitenden  Grundsätze  des  Verfassers  vom  Donat 
proensal  dar  und  entwickelt  die  daraus  abzuleitenden  grammatischen  Regeln 
für  die  verschiedenen  Hauptbestandtheile  der  proven^alischen  Sprache;  auf 
S.  XLIII  geht  er  auf  die  Rasos  de  trobar  des  Vidal  über,  der  nicht  bloss 
Grammatiken  ist  wie  Faidit ,  sondern  Literator  und  Kritiker,  und  seine 
grammatischen  Lehren  mit  höheren  Vorschriften  über  Composition  und  Stil 
und  mit  Betrachtungen  üi^er  den  \\'erth  der  langue  lemosine  untermischt. 
Sehr  wichtig  ist  besonders  die  Stelle  (S.  71):  La  parladura  francesca  val 
mais  et  es  plus  avinenz  a  far  i-omanz  et  pasturellas,  mas  cella  de  Lemosin 
val  mais  per  far  vers  et  cansons  et  serventes.  Nach  einer  Nachweisung  der 
benutzten  Manuscripte  (LVII  —  LXIV)  folgt  S.  2  —  39  der  Donatz  proensals, 
links  der  provenyalische  Text,  rechts  die  lateinische  Uebersetzung,  unten 
wenige,  meist  kritische  Noten;  40  —  65  der  zum  Donat  gehörige  Abschnitt 
de  las  rimas,  ein  höchst  interessantes  Reimlexikon,  welches  den  Hauptwerth 
der  neuen  Ausgabe  bildet;  endlich  69  —  86  der  provencjalische  Text  der 
Rasos  de  trobar  mit  zahlreichen  Nachweisungen  der  Stellen  in  den  Trouba- 
dours, wo  sich  die  vielfach  citirten  Verse  hnden.  Möge  der  Herausgeber 
nicht  durch  seine  Betheiligung  an  der  Publication  der  Anciens  poetes  de  la 
France  verhindert  werden,  seine  weiteren  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  des 
Proven9alischen  zu  veröllentlichen,  und  Ihm  ein  gleich  freundliches  Jawohl 
in  diesem  Falle  zugerufen  werden.  ,-.      ^ 


Flowertj  of  poetry.  A  selection  of  english  poems  chiefly  modern  by 
Dr.  M.  Luedecking.      Wiesbaden,  Kreidel&  Wiedner  1857. 

Der  Herausgeber  führt  uns  in  chronologischer  Folge  eine  grosse  Anzahl 
Dichtei-  und  Dichterinnen  vor.  Auch  von  weniger  bekannten  Dichtern  gibt 
er  eine  oder  einige  Proben  ihres  Geistes.  In  Bezug  auf  den  Inhalt  ist  viel 
Mannichfaltigkeit.  Balladen,  wie  „John  Barleycorn,"  Nationallieder,  „Rule 
Britannia,"  the  mariners  of  England,  kraftig- fröhliche  Seemannslieder,  wie 
das  von  Allan  Cunningham  mit  dem  englischen  Haupt-Gedanken  „The  world 
of  waters  is  our  home  —  And  merry  men  are  we,"  sanft  melancholische 
Getühle  und  Melodien  von  Moore  und  Gedichte  mit  religiösem  Schwünge 
von  Mrs.  F.  Hemans,  sind  geeignet,  die  Seele  eines  empfänglichen  Schü- 
lers mannichfach  anzuregen.  Die  englische  Poesie  oder  die  englische 
Literatur  überhaupt  hat,  wie  die  der  beiden  grossen  Staaten  des  Alterthums 
etwas  sehr  Patriotisches.  Dem  Jünglinge  oder  schon  dem  Knaben  wird  dies 
durch  lyrische  Gedichte  iim  deutlichsten,  am  fühlbarsten. 

Die  vom  Herausgeber  gewählten  Gedichte  sind  aber  wegen  ihrer  Rein- 
heit ebenso  geeignet,  auch  gereifteren  Mädchen  eine  gesunde  Nahrung  zu 
geben.  Nur  ein  einziges  Gedicht  oder  die  im  Gedichte  ausgesprochene  An- 
sicht eines  Dichters  klingt  mir  wie  ein  Misston  ih  die  schöne  Harmonie. 
Davon  weiter  unten. 

Die  chronologische  Zusammenstellung  bringt  aber  bei  einem  Schulbuche, 
wie  vorliegendes,  einiges  Unangenehme  oder  etwas  Störendes  mit  sich.  Wenn 
auch  die  poetischen  Talente ,  welche  in  verschiedenen  Zeiten  aufstehen,  mit 
der  Rntwikeluug  und  Fortbildung   der  Jahrhunderte  Im  Allgemeinen  höhere 


Hi'iirt  li  i'i  1  u  11  jn' it   1111(1  kurze  Anzeigen.  17tf 

Autgalien  haben  liauptsae.hlieh  in  Bezug  auf  die  Erforschung  der  Seele,  mo 
musseil  doch  die  verschiedenen  Aufgaben,  welche  die  Einzelneu  sich  wählen, 
sehr  verschieden  behandelt  werden.  Der  eine  Dichter  unifasst  mehr,  was» 
die  höhern  Stände  bewegt,  ein  anderer  ergründet  das  Gemiith  des  Volkes. 
Der  letztere  muss  natürlich,  weil  er  wieder  zu  den  unteren  Ständen  sprechen 
will,  einfacher  sein  in  seiner  Darstellung  und  leichter  verständlich.  Ein 
Dichter  nun,  welcher  in  einer  früheren  Zeit  die  Tiefe  des  Menschen  auf  dein 
Tlirnne,  im  Felde,  im  Cahinet,  etc.  ergründet  hatte,  muss  in  einer  solchen 
(Tedicht-Sanniilung  mit  seinen  Schöpfungen  früher  aufgestellt  werden,  als 
<ler  spätere  Dichter,  welcher  nur  ein  kleines  Theilchen  des  Menschen  zn 
seiner  poetischen  Thätigkeit  sich  ausgewählt  und  weil  er  etwa  hauptsächlich 
das  Dorfleiien  schilderte,  einer  deutlicheren  Darstellung  sich  beHeissigon 
niusste.  weil  er  von  den  Dörflern  wollte  verstanden  werden.  Das  Schwerere 
muss  also  der  Chronologie  wegen  früher  in  diesem  Falle  mitgetheilt  werden, 
als  das  Leichtere,  für  Schüler  Verständlichere,  was  in  einer  späteren  Zeit 
erst  geschrieben  wurde. 

Unter  solche  leicht  verständliche  Gedichte  gehört  das  irisch- komische 
(lediclit  S.  1 83  „die  alte  Frau  und  ihre  Eier''.  Eine  Bäuerin ,  welche  wahr- 
scheinlich an  kalten  Tagen  ein  Schlückchen  nahm,  schlief  nach  einem  Jahr- 
markt auf  der  Chaussee  ein.  Ein  Spas.svogel  schneidet  ihr  ein  gutes  Stück 
von  ihrem  Kleide  ab.  Der  Frost  weckt  sie  auf  In  dieser  beschnittenen 
Ausgabe  ihres  Kleides  kommt  sie  sich  gar  nicht  mehr  als  dieselbe  vor.  Sie 
entdeckt  aber  mit  ihrem  Scharfsinne  ein  Mittel,  zu  ergründen,  ob  sie  wirk- 
lich dieselbe  Fer.-on  ist.  Sie  hat  ein  Hündchen  welches  knurrt,  wenn  eine 
fremde  Person  kommt,  aber  schmeichelt,  wenn  die  Besitzerin  selbst  kommt. 
In  ihrem  Eifer  Aisst  sie  das  Hümlchen  unsanft  an,  so  dass  es  knurrt.  „Nun 
sehe  ich,  dass  ich  es  nicht  bin,"  d.  h.  die  Beschnittene.  Ebenso  gehört  in  die 
für  Knaben  verständliche  Ahtheilung  der  Gedichte  „König  Johann  und  der 
Abt  von  Canterbury''.  Die  Pfiffigkeit  eines  Knechtes,  weh.'her  dem  Abt  aus 
seinen  Nöthen  hilft,  spielt  darin  die  Hauptrolle.  Unser  Volksdichter  Bürger  hat 
die  Hauptsache  beibehalten  und  nur  anstatt  Canterbury  St.  Gallen  gesetzt. 
Aber  wenige  Seiten  weiter  unten  werden  der  chronologischen  Folge  wegen 
zwei  Stellen  aus  Shakspeare   eingereiht. 

Die  erste  dieser  Stellen  ist  eine  Anrede  an  den  Schlaf.  Der  Ivnabe, 
welcher  bei  der  Pfiffigkeit  des  bischöflichen  Knechtes  ganz  Ohr  war.  wird  das 
^hakspearische  Gedicht  sehr  langweilig  finden  und  am  Ende  eher  dem  Schlafe 
in  die  Arme  sinken,  als  dass  er  mit  dem  Dichter  darüber  nachdenkt,  warum 
der  süsse  Schlaf  die  schwellenden  Polster  der  Vornehmen  vermeidet  und  da- 
für in  die  niedrigen  oft,  nicht  sehr  sauberen  Hütten  der  Dürftigkeit  sich 
desto  mehr  einzunisten  den  Eigensinn  hat.  Um  Shakspeare  bei  seinem 
Forschen  des  menschlichen  Geinüthes  folgen  zu  können,  muss  der  Leser 
selbst  schon  mehr  beobachtet  haben.  Der  Leser  oder  Hörer  von  Shakspeare 
muss  wissen,  wie  manche  Vornehme  geistig  und  leiblich  leben,  um  des 
natürlichen  Geschenkes  des  Schlafes  verlustig  zu  gehen.  Einem  Knaben 
kann  aber  der  Lehrer  In  der  Schulstube  die  Gründe  nicht  erklären.  Ich 
vermuthe  nämlich  aus  dem  Inhalt  mehrerer  Gedichte,  dass  diese  Sammlung 
schon  Knaben  von  dreizehn  Jahren  in  die  Hände  gegeben  werden  soll. 

Was  wir  von  den  Betrachtungen  über  den  Schlaf  sagten,  gilt  auch  von 
einem  andern  aus  Shakspeare  gewählten  Stücke,  Polonius  ertheilt  seinem 
nach  Frankreich  reisenden  Sohne  Verhaltungsmassregeln,  welche  aber  für 
ein  schon  reiferes  AI 'er  berechnet  sind.  Eine  gewisse  vornehme  Zurück- 
haltung, welche  der  abreisende  .Sohn  sieh  als  Norm  vorhalten  soll  in  dem 
Zusanmientrefi'en  mit  Menschen,  wird  von  dem  gemüthlichen  Knaben  nicht 
verstanden  und  wenn  sie  verstanden  werden  könnten,  würde  sie  verabscheut 
werden.  Denn  bei  einem  ki'äftigen  Knaben  will  das  volle  Gemüth  rück- 
sichtslos durchbrechen  in  Liebe  und  Ilass. 

Der   abreisende   ."^olln   des    Polonius    (etwa    sechsundzwanzfg  Jahre   ali) 

12* 


ISO  H(Miit  lici  luii  tien  iiiui    kur/i'  Anzeioen. 

wiirJe  sich  an  der  Pfiffigkeit  des  bischöfliciien  Knechtes  nicht  so  sehr  ergötzt 
haben  als  ein  dreizehnjähriger  Knabe.  Und  der  Knabe  wird  an  den  väter- 
lichen Ermahnungen  des  Folonius  kein  Interresse  finden,  weil  er  sie  nicht 
versteht.  Die  nahe  an  einander  stehenden  Gedichte  sind  also  nicht  für  die- 
selben Leser,  nicht  für  dieselben  Jahre  geeignet. 

Eben  so  verschieden  ist  z.  ß.  „der  wandernde  Knabe"  ^Vhite's  von 
Byron's  „Childe  HaroMs  Abschied  von  England".  Der  wandernde  Knabe, 
der  seine  Eltern  verloren,  von  Allen,  denen  er  begegnet,  hart  beh;tndelt 
wird,  dem,  mitten  im  Winter,  der  harte  Hüttenbewohner  die  Thüre  ver- 
schliefst, und  der,  weil  er  nirgends  Mitleid  ßndet,  sich  nach  dem  Grabe 
sehnt,  wo  seine  Eltern  liegen,  dieser  verlassene,  wandernde  Knabe  ist  sicher, 
dass  er  die  Sympathie  eines  Lesers  von  dreizehn  Jahren  erregt  und  sehr 
lebhaft  erregt. 

Auf  der  folgenden  Seite  lesen  wir  Byron's  AVorte  „Mit  dir,  meine 
Barke,  will  schnell  uih  gehen  durch  die  schäumende  Fluth,  unbekümmert, 
zu  welchem  Lande  du  mich  bringst ,  wenn  es  nur  nicht  zur  Heimath  ist  " 
Die  Liebe,  die  Anhänglichkeit  an  den  heimischen  Boden,  wo  wir  „die  erste 
Lust,  den  ersten  Schmerz  empfanden,"  ist  Allen  angeboren  und  es  ist  höchst 
aulFallind  und  schwer  zu  hegreifen,  wie  ein  Byron  mit  solchem  Hasse  von 
seinem  Vaterlan<le  sprechen  kann.  Einem  Schüler,  welcher  an  dem  Geschick 
des_  „wandernden  Knaben"  der  keine  Heimath  hat,  aber  eine  sucht,  den 
innigsten  Antheil  nimmt,  ist  die  Stimmung  des  stolzen,  sein  Vaterland  ver- 
Hcliteiiden  oder  hassenden  Britten  g,mz  unverständlich.  Was  hilft  das  Ueber- 
se'.zen  (1er  Wörter,  wenn  der  Sinn  nicht  erfasst  wird!  Ich  bin  überhaupt 
der  Ansicht,  dass  niciits  dem  Schüler  geboten  werden  darf,  wozu  er  nicht 
reif  ist  und  was  er  nicht  nach  allen  Seiten  hin  durchdringen  oder  durcii- 
tühlen  kann.  Ich  finde  bei  zu  schweren  Aufgaben  der  Leetüre  dieselbe 
Ungerechtigkeit  ausgeübt,  deren  man  sich  so  oft  schuldig  macht,  wenn  man 
etwa  serhzi-hnjährigen  Schillern  Aufgaben  zu  deutschen  Aufsätzen  gibt,  welche, 
wenn  sie  gut  behandelt  v,-erden  sollen,  die  Erfthrung  und  den  erweiterten 
geistigen  Kreis  eines  Fünfnndzwanzigjährigen  erfordern. 

Ein  Jüngling  von  siebzehn  oder  achtzehn  Jahren  muss  mit  der  engli- 
schen Geschichte  schon  vertrauter  sein,  er  muss  die  Vorzüge,  aber  auch  die 
Schattenseiten  dieser  Inselbewohner  kennen  gelernt  haben.  Einem  solchen 
wird  es  begreifliih  werden,  wie  Byron,  fast  identisch  mit  seinem  Helden 
Childe  Harold,  ein  Vaterland,  dessen  Bürger  zu  sein  Viele  für  ein  Gliick 
halten  würden,  hassen  konnte,  weil  seine  Landsleute  neben  vielen  guten 
Eigensi'haften  auch  grosse  Neigung  besitzen,  bei  grösseren  Unternehmungen, 
wie  in  den  letzten  Napoleonischen  Kriegen,  mehr  ihren  materiellen  Vortheil. 
als  die  Humanität,  die  Menschenrechte  oder  das  rein  Menschliche  zu  berück- 
siolitigen.  Ausserdem  belieibergen  die  englischen  Gemüther,  was  dem  frei- 
smnigen  Byron  besonders  widerlich  sein  musste,  ein  ziemlich  grosses  Quan- 
tum von  Pedanrismus,  namentlich  in  religiösen  Dingen.  Der  Buchstabe  gilt  ihnen 
mehr,  als  der  Geist,  eine  Beobachtung,  die  man  eben  so  in  der  Handhabung 
der  engiisciien  Justiz  nur  zu  oft  machen  kann.  Seiner  Ansichten  wegen  war 
Byron  von  pedantischen  Landsleuten  vielfach  angefeindet  worden.  In  Bezug 
auf  seine  Person ,  seine  Herzensneigungen  hatte  unser  Dichter  ebenfalls 
Bitteres  in  seinem  Vaterlande  erlebt.  Tn  seiner  ersten  Liebe  war  er  spröde 
zurückgewiesen  worden.  Die  zweite  Geliebte  wurde  zwar  ehelich  mit  ihm 
verbunden ,  aber  ein  rechter  ICinklang  der  Seelen  wollte  sich  nicht  zeigen. 
Dazu  kam  noch  eine  bitterböse  Sieben  von  Scliwiegermutter. 

Dergleichen  Gründe  der  Abneigung  gegen  sein  Vaterland,  von  der 
Handlungsweise  des  Volkes,  von  der  engherzigen  Beurtheilung  in  Religions- 
sachen und  zuletzt  von  persönlichen  Begegnissen  hergenommen,  können  wohl 
einem  achtzehnjährigen  Jünglinge  deutlich  gemacht  werd;>n;  ein  Knab(!  von 
dreizehn  Jahren  wird  aber  die  Gründe  nicht  verstehn,  und  also  auch  das 
Gedicht   selbst    nicht.     Die    beiden  Gedichte    „der    wandernde    Knabe"    von 


B«iirt  lieilungeu  und  kurze  Anzeigen.  181 

White  und  „der  Abschied  an  England"  stehen  in  der  Sanindung  unmittelbar 
neben  einander,  aber  in  Bezug  auf  das  Verständniss  derselben  liegt  in  der 
Seele  des  Sohiders  ein  Unterschied  von  wenigsten  vier  Jaliren. 

Indessen  wird  dieses  durch  die  Beachtung  der  Chronologie  herbei- 
geführte Veriiältnlss,  dass  sehr  kindliche  und  sehr  männliche  Gedanken 
neben  einander  stehen,  dem  Gebrauche  des  Buches  keinen  Eintrag  tliun. 
Der  Lehrer  wird  dem  Bedürfnisse  gemäss  für  jüngere  Schüler  die  leich- 
teren Gedichte  auslesen  und  die  schwereren,  grosserer  Reife  des  Urtheils 
zum  Verständniss  erheischenden,  den  reiferen  Schülern  aufheben. 

Der  IJerausgeber  hat  den  Gedichten  das  Geburts-  und  Sterbejahr  der 
Dichter,  soweit  solches  bekannt,  beigefügt.  Das  scheint  mir  nii'ht  zweck- 
mässig, weil  es  zu  mager  ist.  Wäre  es  nicht  zweckdienlicher  gewesen,  wenn 
der  Herausgeber  noch  einige  Seiten  dazu  anuewendet  hätte,  eine  kurze 
Biographie  oder  einige  Notizen  aus  dem  Leben  oder  von  den  ^^  erken  (\er 
Dichter  zu  geben?  P^ine  solche  gelegentliihe  Angabe  nach  dem  Vorausgang 
einiger  Gedichte  bleibt  besser  im  Gedächtnisse,  als  wenn  in  einer  besonders 
angeordneten  Stunde  die  Literaturgeschichte  im  Zusammenliange  gelehrt  wird. 
Die  Literaturgeschichte  hat  überhaupt  für  Schüler,  die  noch  nicht  das  sieb- 
zehnte Jahr  eri-eicht  haben ,  und  die  niciit  leicht  dahin  geführt  werden 
können,  den  grossen  Entwickelungsgang  in  den  fortschreitenden  Jahrhunderten 
zu  verfolgen,  etwas  Langweiliges.  Ein  Grund  dieser  Langweiligkeit  für 
Knaben  liegt  mit  darin,  dass  während  ein  Dichterleben  sehr  reich  sein  kann 
an  Freuden  und  Genuss,  aber  ebenso  auch  gequält  durch  herben  Schmerz 
und  nicht  bloss  wegen  der  eigenen  Person,  dass  doch  in  Bezug  auf  das 
äussere  Leben  oft  sehr  wenig  Interessantes  angegeben  werden  kann.  Des- 
wegen ist  es  wohl  zweckmässig,  dem  Schüler,  wenn  er  einige  Gedichte  gelesen 
und  durch  die  ausgesprochenen  Gedanken ,  Ansicliten  und  Gefühle  etwas 
mit  dt>m  Dichter  btkannt  geworden  ist,  nun  demselben  einige  Notizen  über 
des  Dichters  Leben  und  \\  irken  mitzutheilen.  Diese  Mittheilung  würde  am 
zweckmässigsten  nach  dem  letzten  Gedichte  gegeben.  Denn  je  mehr  wir  die 
Ansichten  einer  Person  kennen  gelernt  haben ,  desto  mehr  interessiren  wir 
uns  für  ihre  Lebensverhältnisse.  (Der  Herausgeber  hat  nämlich  das  Geburts- 
und Sterbejahr  immer  nach  dem  ersten  Gedichte  angegeben.)  Werden  in 
<ien  unteren  Classen  auf  diese  Weise  einzelne  Notizen  über  Dichter  oder 
Schriltsteller  überhaupt  mitgetheilt  und  dem  Gedäciitnisse  einverleiijt,  so  ist 
es  dann  in  der  obersten  Classe  ein  Leichtes,  eine  Uebersicht  über  die 
Entwickelung  der  ganzen  Literatur  zu  gewin*nen. 

Ich  weiss  nicht,  ob  Andere  in  dieser  Hinsicht  mit  mir  übereinstimmen, 
vielleicht  ist  es  nur  eine  Liebhaberei  von  mir,  literarische  Notizen  den  gele- 
senen Stücken  beizufügen,  wie  ich  es  in  einem  Schulbüchelchen  (Anecdotes, 
Jena,  Frommann  57)  gethan  habe.  In  demselben  hatte  ich  noch  die  Neben- 
absicht, durch  die  deutsch  beigefügten  Notizen  im  Uebersetzen  ins  Eng- 
lisc-he  zu  üben.  —  Wenn  Andere  auch  anders  urtheilen.  eins  wird  sich  nicht 
abstreiten  lassen ,  dass  Knaben  und  angehende  Jünglinge  so  auf  eine  an- 
genehme, weniger  auf  ermüdende  Weise  zu  einiger  Kenntiss  di*r  fremden 
Literatur  geführt  werden  können. 

Das  Gedicht,  von  welchem  wir  oben  sagten,  es  sei  wie  ein  Misston  in 
der  allgemeinen  Harmonie,  ist  von  Cowper,  Seite  3.3.  Die  Ueberschrift 
..Mitleid  füi'  die  armen  Africaner"  ist  von  dem,  wie  mir  scheint,  ziu'  Unzeit 
spasshaften  Dichter  fast  spöttisch  angewenrlet.  „Ich  bemitleide  sie  liöchlich, 
aber  doidi  muss  ich  scliweigen:  demi  was  sollten  wir  thun  ohne  Zucker  und 
Rum?  Besonders  ohne  Zucker,  der  so  nöthig  uns  ist.  Wie  sollten  wir  missen 
den  Nachtisch,  den  Kaffe  und  Thee!" 

„Wenn  andere  Nationen,"  singt  der  erhabene  Dichter  in  eimr  anderen 

Strophe   „wenn  Andere    Reichthümer    sich    sammeln    durch    den  Handel    mit 

Schwarzen,    warum    sollten    denn    wir    nicht   unser  Theilchen    uns    nehmen?" 

Dieses   Gedicht   ist    nacli   meiner   Ansicht    aus   einer   solchen   Sannnltmg 


1S2  B(Mi  rtliel!  niig(!n  iiml  kurz(>  Anz(>i  gen. 

Hiis  zwei  GriiiiriiMi  zu  verbannen,  er.sten.s,  weil  es  einen  Handel  vertheiditrf, 
welt'her  jeden  nnver<iorbenen  Menschen  mit  Ingrimm  erfüllt,  und  zweiten?;, 
M-eil  der  Dichter  (hiiiiber  noch  scherzen  kann,  dass  die  Menschenrechte  der 
Africaner  mit  Füssen  getreten  werden.  Man  weiss,  dass  moralische  Bedenk- 
lichkeiten  auf  eine  spasshafte  ."Weise  bei  Seite  gelegt,  auf  muntere,  mitunter 
ubermiithige  Knaben  oder  Jünglinge  eine  sehr  üble  Wirkung  äussern.  Zu- 
erst werden  solche  Ansichten  von  ihnen  nur  bei  Scherzen  angewendet,  aber 
unvermerkt  gehen  sie  ins  Leben  über;  für  Knaben  ist  namentlich  der  im 
Gedichte  gebrauchte  Vergleich  besonders  schädlich.  Der  nicht  edele  Dichter 
sagt :  Es  waren  einmal  Knaben,  welche  in  einem  Obstgarten  stellen  wollten, 
Sie  forderten  einen  Kameraden  auf,  bei  der  Unternehnmng  sie  zu  begleiten 
und  Theil  am  Raube  zu  nehmen.  Dieser,  gewissenhafter,  als  die  Ein- 
ladenden, stellt  jenen  vor,  dass  der  Garten  einem  armen  Manne  gehöre  und 
dass  jener  die  Früciile  für  seine  Familie  sehr  nothwendig  brauche.  „AVenn 
du  nicht  mitgehen  willst,  so  thun  wir  es  allein."  Der  Gewissenhaftere  denkt, 
einmal  wird  doch  gestohlen,  also  ist  es  am  besten,  du  ninmist  auch  einen 
Theil.  Die  stehlenden  Knaben  werden  mit  den  anderen  Staaten,  welche 
Sklavenhandel  treiben,  vergliclien ,  der  gewissenhaftere,  aber  doch  nach- 
gebende Kamerad,  mit  den  Engländern.  Passt  ein  solches  Gedicht,  mit  einer 
solchen  Moral  für  SchiUer? 

Aber  nicht  hlos  der  Schulmann  muss  mit  der  Wahl  eines  solchen  Ge- 
dichtes unzufrieden  sein,  ein  Engländer  aus  unseren  Tagen  wird  es  ebenso 
sein,  die  Grundsätze,  welche  Cowper  predigt,  sind  ja  nach  den  napoleonischen 
Kriegen  geradezu  verpönt  worden.  Ob  nur  Humanität  die  Inselbewohner 
bewogen,  den  Sklavenhandel  zu  verbieten,  oder  ob  das  Ahnen  einer  Gefahr 
mit  dazu  gewirkt  hat,  wollen  wir  hier  nicht  untersuchen,  aber  verboten  ist 
der  Sklavenhandel  und  zwar  hauptsächlich  durch  die  Engländer. 

Wenn  die  spanische  Regierung  sagt,  der  Sklavenhandel  könne  nicht 
aufgegeben  werden ,  weil  er  dem  Staate  ein  gewisses  Einkommen  sichere, 
so  ist  ein  Land  und  ein  Volk  zu  bedauern ,  das  durch  politische  und  kirch- 
liche Verhältnisse  gehemmt  wird,  durch  regere  Benutzung  einer  ergiebigen 
Natur  auf  andere  Weise  Wohlhabenheit  zu  erzeugen,  und  die  Finanzminister 
mögen  diess  mit  ihrem  Gewissen  abmachen,  immer  aber  bleibt  der  Sklaven- 
handel ein  schreckliches,  an  der  Menschheit  geübtes  Unrecht.  Daher  meine 
Meinung,  dass  bei  einer  zweiten  Auflage  das  Gedicht  über  den  entschuldigten 
Sklaverihaildel  zu  vernichten  sei!  Besser  wäre  es,  die  Gesinnungen  eines 
Ministers,  wie  Canning  zu  schildern,  als  die  Gefühle  und  Ansichten  eines 
solchen  Dichters. 

Bei  der  schönen  Schilderung  unseres  Rheinthaies  sagt  Byron  :  „Und  Hügel 
reich  mit  blühenden  Bäumen,  und  Felder  versprechend  Korn  und  Wein, 
zerstreute  Städte  die  Felder  begrenzend,  deren  Mauern  fernhin  erglänzen 
gewähren  ein  Schauspiel,  das  mit  doppelter  Freude  ich  sähe,  wärest  du  bei 
mir."  Der  Herausgeber  gibt  in  einer  Note  an,  die  vertraute  Seele,  deren 
Gegenwart  dem  Dichter  den  Genuss  an  dem  schönen  Rheinthale  verdoppeln 
würde,  sei  dessen  Tochter  Ada.  Gewinnt  diese  Behauptung  Wahrscheinlich- 
keit, wenn  wir  erwägen,  was  das  sich  sehnende  Herz  des  Dichters  verlangt? 
Er  verlangt  nach  einer  Seele,  welche  ihm  gleichsteht,  welche  Erfahrung  ger, 
macht  hat,  wie  er  selber,  welche  über  den  Werth  des  Lebens  fest- 
erworbene Ansichten  hat,  welche  oft  unzufrieden  mit  den  Menschen,  zu  einea 
höheren  Vvelt  sich  erhebt  und  in  der  Schöpfung  den  Schöpfer  ahnet,  kurz, 
der  Dichter  selint  sich  nach  einer  Seele ,  welche  entwickelt  ist  und  als  eine 
selbstbewusste  Welt  ihm  entgegentritt.  Kann  diess  die  Tochter  sein?  Das 
Verhältniss  des  Vaters  zur  Tochter  bleibt  immer  das  des  Beschützers  zur 
Beschützten.  Der  Vater  würde  wohl  dazu  beitragen,  dem  edleren  (iefühle 
der  Tochter  Nahrung  zu  geben.  Er  würde  auch  Freude  empfinden ,  wenn 
er  die  Seele  der  Tochter  sich  heben  sähe  durch  Eindrücke,  welche  auch 
auf  ihn  mächtig  gewirkt  haben.  Aber  gleichsam  in  Eins  zusammenfliessen, 
wie    es    7;wisclKn    zwei  vertrauten  Seelen ,    welche  zusammen  jung   gewesen, 


Beul  iheil  ungen  iiiul  kuizr  An  zeij^f  ii.  183 

möglich  und,  gewölinlkh  ist,  kann  bei  dem  Verhältniss  des  V;itcrs  zur  Toch- 
ter nicht  angeuonuaen  werden.  Dazu  kommt,  dass  Byrons  Tochter  oder 
richtiger  Töchterchen  zu  der  Zeit,  als  er  unser  Rheinthal  besuchte, 
noch  ein  Kind  war.  Da  wäre  das  Sympathisiren  vollends  unmöglich  (ge- 
wesen. 

Diess  sind  die  inneren  Gründe,  welche  gegen  (He  Behauptung  des  Heraus- 
gebers sprechen.  \\'ir  wissen  aber  auch  aus  Byrons  Briefen  selbt^t  und 
durch  das  Zeugniss  eines  Freundes  des  Dichters ,  dass  das  Gedicht  „Der 
DraclienfcL-"  nicht  an  sein  Töchterchen,  sondern  an  seine  Schwester  gerich- 
tet ist.  Es  ist  bekannt ,  das.s  ein  sehr  inniges  Band  die  beiden  Geschwister 
unischhing. 

I^ebel  habe  ich  es  dem  Herausgeber  genommen,  dass  er  dem  Americancr 
Longf'ellow  siebenzehn  Seiten  in  der  Samndung  eingeräumt  hat,  während  rler 
durch  ein  volles  G'emüth  und  eleganten  Styl  anziehende  Goldsmith  mit  einer 
halben  Seite  abgespeist  wird.  Der  Herausgeber  hat  freilich  hauptsäcldich 
die  neuesten  Dichter  berücksichtigen  wollen,  aber,  was  gediegen  ist,  wird 
nie  alt.  'Wenn  ich  von  Longfellows  „urkräftiger  poetischer  Fülle"  auch  nicht 
hingerissen,  freilich  aucli  noch  nicht  überzeugt  bin,  so  leugne  ich  doch  nicht, 
dass  einzelne  seiner  Schöpfungen  schön  sind,  z.  B.  das  hier  aufgenommene 
Gedicht  „das  offene  Fenster",  aber  manchmal  ist  seine  Poesie  langweilig,  wie 
eine  ohne  Hügel  und  Berge  sich  gleichgültig  hinziehende,  americanische 
Ebene.  Langweilig  finde  ich  es ,  wenn  er  in  seinem  „Dorfschmied"  singt : 
.„Am  Sonntag  geht  er  in  die  Kirche  und  sitzt  unter  seinen  Knaben;  er  hört 
den  Pfarrer  beten  und  predigen  etc."  Ist  denn  das  so  etwas  Ausserordent- 
liches, dass  man  am  Sonntag  einen  Pfarrer  predigen  hört!  Sehr  geschmack- 
voll scheint  mir  auch  folgende  Stelle  nicht:  „Man  kann  ihn  hören  schwingen 
den  schweren  Schmiedehammer  mit  abgemessnem  Schlag,  wie  der  Küster 
läutet  des  Dorfes  Glocke,  wenn  die  Abendsonne  versank!"  Das  Läuten  der 
Abendglocke,  welches  auf  das  Geraüth  des  am  Tage  angegrirtenen  Erden- 
bewohners einen  so  wohlthätigen,  beruhigenden  Einfluss  hat,  wird  verglichen 
mit  dem  einförmigen  mechanischen  Gepoch  eines  Schmiedes !  So  etwas  Un- 
passendes, Geschmackloses  schreibt  Mrs.  F.  Hemans  nicht.  Unpassend,  ich 
möchte  fast  sagen,  läppisch  finde  ich  folgenden  Vergleich  des  Americaners: 
,,Der  Tag  ist  vorbei  und  die  Dunkelheit  fällt  von  den  Flügeln  der  Nacht 
wie  ein'e  Feder  nieilergeweht  wird  von  einem  Adler  in  seinem 
Flug."  Die  Nacht  wird  sonst  als  Göttin  vorgestellt,  welche  den  Schleier 
sinken  lässt  oder  über  die  Erde  breitet,  welchen  sie  am  Morgen  wieder  auf- 
hebt ,  aber  die  Feder ,  die  niedergeweht  wird,  —  bleibt  doch  auf  der  Erde. 
Also  müsste  ewii:e  Nacht  herrschen  nach  dem  Falle  der  i*eder !  In  solchen 
Gleichnissen  kann  ich  nichts  Geniales  finden.  Wenn  ich  nicht  befürchtete, 
als  Abtrünniger  von  unserem  Geschlechte  angesehen  zu  werden,  so  würde 
ich  dem  Herausgeber  vorschlagen ,  bei  der  zweiten  Auflage  den  Damen 
Hemans,  Cook  und  Norton  mehr  Platz  einzuräumen  und  dem  Aniericaner 
etwas  wegzunehmen.  Der  Herausgeber  hat  bei  seltener  vorkommenden 
Wörtern  die  Bedeutung  beigefügt.  Er  hätte  damit  noch  etwas  freigebiger 
sein  dürfen.  Manchmal  übersieht  er  es  aber,  wenn  ein  seltenes  Wort  zum 
erstenmal  vorkommt,  die  Bedeutung  beizufügen  und  thut  diess  erst,  wenn 
das  AVort  das  zweite  oder  drittemal  vorkommt.  Diess  ist  aber  ein  Verschen, 
<lergleichen  bei  ersten  Auflagen  häufig  vorkommen  und  welche  bei  zweiten 
Auflagen  wegt:dlen,  auch  wenn  die  Herausgeber  nicljt  vorher  darauf  auf- 
merksam gemacht  worden  sind. 

Das  Einzige  also,  was  wir  aus  pädagogischen  Gründen  tadeln  zu  müssen 
glaubten  (das  Andere  betrifft  Kleinigkeiten) ,  war  das  Gedicht  über  den 
.Sklavenhandel.  Die  Blüthensammlun^  al)er  hat  im  Ganzen  auf  uns  einen 
sehr  wohlthuenden  Eindruck  gemacht  und  wir  können  aus  voller  1,'ebei- 
zeugung  das  Buch  dem  Englisoli-Lernenden,  liauptsäi-ldicli  höheren  Töchter- 


184  15 tnirtlieilungon  im li  kurze  Anzeigen. 

schulen  ciiiptVliliMi.  Der  Verleger  selbst  muss  von  dem  Dufte  dieser  Bliithen 
an,i,'enolHn  affieirt  worden  sein,  denn  er  hat  das  Buch  sehr  geschmiickvoll 
ausgestattet. 

Meiningen.  Dr.  Oswald. 


Die  Schauspiele  Calderon's,  dargestellt  und  erläutert  ^on  Friedr. 
Wilh.  V^al.  Schmidt.  Aus  gedruckten  und  ungedruckten 
Papieren  des  Verfassers  zusammengesetzt,  ergänzt  und  her- 
auf-gegeben  von  Leopold  Schmidt.  Elberfeld.  1857.  Verlag 
von  K.  L.  Friderichs. 

Am  12.  October  1831  starb  Valentin  Schmidt,  einer  der  gründlichsten 
Kenner  Calderon's,  der  sein  schon  im  Jahre  I8i9  in  dem  Büchlein:  „üeber 
die  Kirchenirenuung  von  England,  Schauspiel  des  D.  Pedro  Calderon  de  la 
Barca"  gegebenes  und  später  mehrfach  erneuertes  Versprechen,  eine  Schrift 
über  Calneron's  sämmtliche  Werke  herauszugeben,  zu  lösen  durch  seinen  für 
die  ^^'iss(■^schaft  viel  zu  früh  erfolgten  Tdd  verhindert  worden  ist.  Wir 
verdanken  seiner  Feder  eine  1820  erschienene  Untersuchung:  Ueber  die 
italienischen  Heldengedichte  aus  dem  Sagenkreise  Karl's  des  Grossen,  womit 
er  in  Form  eines  Zusatzes  eine  Darstellung  des  letzten  Erzeugnisses  Cal- 
deron's, Hado  y  divisa  de  Leonida  y  Marfiso,  verband,  einen  1822  im  An- 
zeigeblitt  der  A\'iener  Jahrbücher  erschienenen  Aufsatz:  Kritische  Uebersicht 
luid  Anordnung  der  Dramen  des  Calderon  de  la  Barca,  eine  1828  Bd.  XLIII, 
8.  84  ff.  veröffentlichte  Recension  der  grossen  Keil'schen  Ausgabe  des  spa- 
nischen Dichters  und  manche  wichtige  Aufklarung  in  dem  Gebiete  der  roma- 
nischen Literatur  (siehe  u.  A.  Diez,  Poesie  der  Troubadours,  S.  2121.  Glück- 
licherweise ist  es  seinem  Sohne,  Leopold  Schmidt,  möglich  geworden,  durch 
eine  kritische  und  geistvolle  Sichtung  der  hinterlassenen  Papiere  des  Vaters 
diesem  ein  schönes,  unvergängliches  Denkmal  in  dem  hier  besprochenen 
Buche  zu  setzen.  So  weit  es  thunlich  war,  hat  er  des  Vaters  ursprüngliche 
Rediction  benutzt,  und  wo,  wie  und  warum  er  davon  abgewichen  ist,  dar- 
über erstattet  er  in  der  Vorrede  die  eingeliendste  Rechenschaft  Die  meisten 
Bemerkungen  jedoch,  mit  denen  er  in  Hinblick  auf  den  seitdem  fortge- 
schrittenen S:au(l  der  Wissenschaft  das  von  dem  Verfasser  in  den  zwanziger 
Jahren  Geschriebene  zu  begleiten  für  zweckmässig  erachtete,  hat  er  als 
Zusätze  am  Schlüsse  folgen  lassen.  Leider  Hessen  ihn  die  Manuscripte  des 
Vaters,  wo  es  sich  um  eine  Einleitung  zu  der  Classe  der  geistlichen  Dramen 
handelte,  g;inz  im  Stich.  Dafür  entschädigt  uns  jedoch  der  Herausgeber  mit 
einem  von  ihm  herrüiu'enden,  S.  XXV  der  Vorrede  beginnenden  eingehenden 
Aufsatz  über  diese  Dichtungen,  aus  dem  wir  leider  nur  den  Anfang  citiren 
können:  „Diese  Classe  pflegt  man  in  neuerer  Zeit  als  die  tür  Calderon  vor- 
zugsweise charakteristische  anzusehen,  und  wer  unter  uns  nicht  näher  über 
ihn  unterrichtet  ist,  pflegt  bei  seinem  Namen  den  sorgfältigen  dramatischen 
Techniker  der  Intriguenstücke,  den  in  die  Vergangenheit  seines  Landes  ver- 
tieften Patrioten  der  historischen  Schauspiele,  den  sinnigen  Nachbildner 
antiker  Mythen  beinahe  zu  vergessen  über  dem  strenggläubigen  Katholiken 
des  siebenzehnten  Jahrhunderts,  den  man  dann  je  nach  der  verschiedenen 
Ansicht  preist,  verurtheilt  oder  mit  der  allgemeinen  Tendenz  seiner  gleich- 
zeitigen Volksgenossen  entschuldigt.  Und  gewiss  würde  zum  Verständniss 
Calderon's  ein  sehr  ^^'esentliches  fehlen,  wenn  man  seine  religiöse  Stellimg 
ausser  Acht  lassen  wollte ;  allein  damit  ist  es  noch  keineswegs  gerechtfertigt, 
die  in  dieser  unmittelbar  wurzelnden  Werke,  bei  deren  Gesammtbetrachtung 
man  die  hier  als  Comedias  divinas  zusammengefassten  nicht  wohl  von  den 
Heiligenkomödien    und    den    Autos    trennen    kann,    ohne    Weiteres    als    den 


Beur tlieilungc  11  und  kurze  Anzeigen.  185 

Mittelpunkt  seiner  Poesie  zu  betrachten,  noch  viel  weniger  aber  ihn  für 
den  Repräsentanten  des  eigenthümlich  excentrischen  Glaubensgeistes  der 
damaligen  Spanier  zn  halten,  wie  so  hiinfig  aus  l'nkiuide  geschieht.  Eine 
Geschichte  der  reiigid;<en  Dichtung  der  Siianier  wäre  eine  Aufgabe  von 
hohem,  culturhistorischeni  Interesse,  zu  der  es  fast  noch  an  jeder  Vorarbeit 
fehlt,  aber  von  welchen  Voraussetzungen  dieselbe  auch  unternommen  werden 
und  welche  Resultate  sie  sonst  ergeben  möge,  sich(!rlich  wird  sie  in  Calderon 
nicht  den  Brennpunkt  sehen  können,  in  dem  alle  Strahlen  der  gesaminten 
!•  ntwickelung  zusammenlaufen.  Soweit  sich  nach  einer  ganz  allgemeinen  Kennt- 
niss  des  (iegenstandes  urtheilen  lässt,  scheint  vielmelir  L(i])c;  de  Vega  an  diesen 
Platz  gestellt  werden  zu  müssen,  wenigstens  tinden  sich  bei  ihm  kindliche 
Glauben.snaivetät,  träumerische  iM\stik,  zugespitzte  Dialektik  in  der  Pudiand- 
lung  dos  Dogmas  und  finstere  Verfolgungssucht  in  gleich  hohem  Grade." 
Es  wird  dann  ausgeführt,  wie  Calderon  sich,  liess  er  Engel  und  Teufel 
zahlreich  erscheinen,  nur  der  stehenden  Gewohniieit  seiner  Zeitgenossen  ge- 
fügig gezeigt  habe,  wie  er  viel  zu  verständiger  Natur  fiir  die  Mystik  sei,  wie 
er  häufig  liebevolle  Vertiefung  in  andre  Religionsformen  zeigt,  wie  ihm  stets 
Religiosität,  Sehnen  unil  Suclien  nach  dem  Erlöser  weit  über  dem  Dogma  steht. 

Das  Werk  des  Herausgebers  ist  von  mancher  Seite  her  theilnelimend 
gefördert  worden.  So  hatte  \'al.  Schmidt  die  Parallelstellen,  welche  er  zur 
Erklärung  einzelner  Verse  oder  ^\'orte  Calderon"s  anführen  wollte,  häutig 
am  Rande  eines  ihm  zum  Handgebrauch  dienenden  Exemplars  der  Apontes- 
schen  Ausgabe  der  Comedias  notirt,  und  dieses  war  mit  dem  grössten  Tlieil 
seiner  Bibliothek  verkauft  worden.  Der  gegenwärtige  Besitzer,  Herr  Ge- 
heimeratb  Johannes  Schulze,  ein  in  dem  Dichter  bewanderter  Freund  der 
spanischen  Literatur,  vertraute  dem  Herausgeber  mit  der  humansten  Bereit- 
willigkeit das  erwähnte  Buch  für  seine  Zwecke  an  Auch  N.  Delins  ist  mit 
manchem  Rath  und  Wink  an  dem  A\'erke  betheiligt.  Die  königliche  l)iblio- 
thek  zu  Berlin  und  die  Universitätsbibliothek  zu  Ciöttingen  haben  ebenfalls 
dem  Herausgeber  anerkennungswerthe  Unterstützung  geleistet;  nur  Zu- 
sendung von  Büchern  aus  der  kaiserlichen  Hofbibliothek  zu 
Wien  wurde  nicht  gewährt,  obwohl  sich  die  preussische  Regierung  auf 
das  Liberalste  dafür  verwandte.  Der  Abschnitt:  Einleitendes,  enthält:  Zeit 
der  Abfassung  und  Sprache,  Calderon  und  Shakspeare,  Ueber  den  Scherz, 
Ausgaben,  Literatoren.  Dann  folgt  die  Erläuterung  der  108  unzweifelhaft 
echten  Schauspiele  Calderon's  mit  der  Eintheilung  nach  den  Stoffen  in  zehn 
Classen  (S.  1—44  7),  dann  als  Anhang:  Nachtrag  zur  kritischen  Uebersicht 
dir  Dramen  des  Calderon,  die  Bemerkungen  des  Herausgebers  und  Register. 

Das  für  das  Studium  des  spanischen  Dich  ers  hinfort  wohl  unerlässliche 
Buch,  das  wir  als  eine  der  hervorragendsten  Fublicationen  auf  dem  Gebiete 
der  romanischen  Literatur  empfehlen  miissen,  zeichnet  sich  ausserdem  durch 
treffliche  Ausstattung  aus. 


.\nleitung,  dichterische  Meisterwerke  auf  eine  geist-  und  herz- 
bildende Weise  zu  lesen  und  sich  dauernd  anzueignen. 
Der  Schule  und  dem  Hause  gewidmet  von  Dr.  Ludwig 
Eckardt.     Jena  1857. 

Nach  einer  etwas  stürmischen  Vorrede  über  die  Tendenz  der  Schrift, 
welche  weit  über  die  friedliche  Sphäre  eines  harmlosen  Gelehrten  hinaus- 
greift, die  Generation  der  Zukunft  im  Auge  liat  und  die  Schranken  zwisrhen 
Gelehrtenstand  und  Volk  nicdeneissen  will,  die  die  Literaturgeschichte  oder 
die  historische  Entwicklung  der  Dichtung  (?)  aus  mehreren  Gründen  aus 
allen  .Schulen,  die  nicht  Universitäten  he.issen,  verbannt  wissen  will,  geht  der 


18G  Beiii-t Heilungen  Ulli!  kurze  An/tigcii.' 

Verfasser  zur  eigentlichen  Aufgabe  seines  Büchleins  über.  Er  gibt  ziiers 
8.  14  allgemeine  Andeutungen  über  das  Lesen  und  fordert  nach  kurzer  Be- 
trachtung über  die  Wichtigkeit  guter,  besonders  dichterischer  Leetüre: 
«1.  Lies  täglich  etwas  Poetisches,  wenn  auch  nur  wenig,  aber  Gediegenes; 
2.  je  beseligender  die  Poesie  und  je  tiefgreifender  die  Wirkung  sein  soll, 
desto  wühlerischer  und  sparsamer  geniesse  sie;  3.  fliehe  frühzeitig  jedes 
Lesen,  das  bloss  der  Zerstreuung  wegen  getrieben  wird." 

Nach  einigen  speciellen  Vorschriften  darüber,  wie  man  lesen  solle,  die 
ebenso  wie  die  vorige  Forderung  nichts  Neues  bieten,  aber  sich  wohl  nie 
allgemein  praktisch  bewähren  werden,  sucht  er  an  Beispielen  seine  Theorie 
näher  darzulegen.  Von  S.  27  —  49  bespricht  er  kurz  die  lyrische  Poesie 
und  wählt  Schillers  Ideale,  durch  Fragen  und  erläuternde  Antworten  den 
Inhalt  des  Gedichts  von  allen  Seiten  zu  erfassen.  Von  S.-.5Ü  —  72  stellt  er 
die  „Fragen,  welche  beim  Lesen  einer  epischen  Dichtung  (schriftlich!)  zu 
beantworten  sind."  Er  bezieht  sich  hauptsächlich  auf  Goethe's  Hermann 
und  Dorothea  und  würdigt  auch  noch  von  S.  72 — 77  als  Beispiel  einer  di- 
daktisch-epischen Schiller's  Mädchen  aus  der  Fremde  einer  eingehenden 
Behandlung.  Auf  S.  78—134  wird  die  dramatische  Poesie  behandelt. 
Wohl  wegen  der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  werden  mehrere  Dramen 
mit  einzelnen  Bemerkungen  bedacht.  Der  Verfasser  schliesst  mit  einem 
auch  jetzt  noch  bei  richtigem  Vers  ändniss  sehr  beherzigenswerthen  W'orte 
,Fr.  Schlegel's:  „Wenn  wir  nur  recht  viele  classisclie  Leser  hätten,  einige 
classische  Schriftsteller  fänden  sich  wohl  noch."  Ein  Verzeichniss  der  in 
dem  Buche  besprochenen  Dichter  und  Dichtungen  ist  recht  zweckmässig  am 
Schlüsse  beigefügt. 

Was  Gebrauch  und  Werth  des  Buches  betrifft,  so  glaube  ich,  dasselbe 
wird  Anfängern  einer  ernsten  gediegenen  Leetüre  oder  angehenden  Lehrern 
des  deutschen  Unterrichts  in  den  mittleren  und  oberen  Classen  der  höheren 
Schulen  von  Nutzen  sein.  Diesen  darf  man  es  zur  Anregung  und  Belehrung 
mit  gutem  Gewissen  empfehlen. 

Berlin.  Dr.  Sachse. 


Bibliothek  gediegener  und  interessanter  französischer  Werke, 
zum  Gebrauche  höherer  Bildungsanstalten  ausgewählt  und 
mit  den  Biographien  der  betreffenden  Classiker  ausgestattet 
von  Dr.  A.  Goebel,  Studiendirector  an  der  rheinischen 
Ritter-Akademie  zu  Bedburg.  Münster,  im  Verlage  der 
Theissing'schen  Buchhandlung. 

Es  ist  eine  von  den  meisten  Lehrern  der  französischen  Sprache  aner- 
kannte W^ahrheit,  dass  nur  wenige  Chrestomathien  den  Bedürfnissen  höherer 
Lehranstalten  vollständig  entsprechen  und  man  bei  der  Wahl  einer  passenden 
französischen  Schullectüre  in  grosse  Verlegenheit  geräth.  Besonders  schlimm 
ist  man  aber  daran,  wenn  man  gern  ganze  Werke  mit  vorgerückten  Schülern 
lesen  möchte.  Letzteren  muss  eine  Leetüre  geboten  werden,  wodurch  eine 
gesunde  deutsche  Erziehung,  wahre  Bildung  des  Geistes  und  des  Herzens 
gefördert  wird,  zugleich  eine  Leetüre,  zu  der  sich  die  Jugend  hingezogen 
fühlt.  Nur  gediegene,  dabei  interessante  Werke  von  anerkannt  grossen 
Classikern  können  diesen  Anforderungen  entsprechen.  Welche  Werke  dieser 
Art  aber,  4ie  aus  sprachlichen,  ästhetischen  und  pädagogischen  Gründen  zu 
empfehlen  sind,  stehen  uns  in  correcten,  schön  ausgestatteten  und 
billigen  Schulausgaben  zu  Gebote?  Diesem  Mangel  will  der  Heraus- 
{«eber  obiger  Bibliothek    abhelfen.     Sie   wird  .zunächst   eine  Reihe  von  zwölf 


Bf  ur  t  heilun  gen   und  kurze  Anzeigen.  187 

Haudchen   umfassen,    von    denen   vier   historischen,   vier  belletristischen    und 
vier  oratorischen  Inhalts  sind.     Bereits  erschienen  sind: 

1.  llistoire    de    Theodoso    le    Grand    par    Flechier.     2.  Histoire   de 
Charleniagne  par   Capefigue.     3.  Histoire   de   iTi   premifere  Croisade   par 
Michand.     4.     iVIort   de  Louis  XVI.   par  Lamartine.     .5.   Choix   de  Nou- 
velles  du  XIX.  siecle  (contenant :  L'Ours  de  la  Maledetta  par  Legouve; 
Kartlieleniy    et    lEtoile    polaire    par    Bouilly;    Le    Lepreux    de    la    citd 
d'Aoste    par    X.    de    Maistre;     Le    Grand    Saint-Bernard    par    TöpfTer). 
6.  Histoire  d'Aladdin.     Conte  arabe  trachiit  par  Ant.  Galland.    7.  Choix 
de  Contes  et  de  Recits  (contenant:    Dasaratlia  par  De  Chczy;  Morman 
par  Thierry;    Blanche   et  Isabelle  par  Legouve;    La    torabe  de    riiomme 
uiort  par  Is^odier,  Le  Cure  de  Saint-Lyphar  par  de  Walsh;   L'Apprentl 
par  Souvestre). 
Jedes  Bändchen   bringt   eine   kurze,   gediegene  Biographie   des   betrefT'enden 
Classikers;  die  historischen  Werke  enthalten  ausserdem  historische  und  geo- 
graphische Erläuterungen  in  alphabetischer  Ordnung.     Die  oratorischen  sind 
mit  kurzen  Erklärungen  in  französischer  Sprache  ausgestattet. 

Wir  enthalten  uns  einer  Kritik  der  genannten  Schriften;  denn  jeder 
Lehrer  der  französischen  Sprache  kennt  sie  als  Pex-len  der  französischen 
Literatur;  wir  lügen  nur  hinzu,  dass  der  Herausgeber  mit  ängstlicher  Sorg- 
falt Alles  ausgeschieden  hat,  das  irgendwie  lieligion,  Sitte  oder  deutschen 
Sinn  verletzen  kömite.  Dr.  Weeg. 


\'ollständiger  Lehrgang  zur  leichten,  schnellen  und  gründlichen 
Erlernung  der  englischen  Sprache,  von  11,  Plate ,  ordent- 
lichem Lehrer  an  der  Bürgerschule  in  Bremen.  Hannover, 
bei  Louis   Ehlerniann.     1858, 

Das  Archiv  hat  schon  früher,  im  nennten  Bande,  S.  245,  des  obigen 
Buches  lobende  Erwähnung  gethan  und  damals  kurz  die  Vorzüge  desselben 
hervorgehoben.  Seine  schnelle  Verbreitung,  die  seit  seinem  Erscheinen  viele 
neue  Auflagen  erforderlich  machte,  liefert  den  Beweis,  dass  eine  grosse  An- 
zahl von  Schulmännern  diesem  Werke  den  thätigsten  Beifall  zollte.  Wir 
haben  in  diesem  Augenblicke  nur  die  Elementar-  und  Mittelstufe  vor  uns,^ 
da  die  Schlussstufe  kaum  die  Presse  verlassen  haben  wird.  Bei  Vergleichung 
dieser  beiden  Curse  in  ihrer  jetzigen  Gestalt  mit  den  früheren  Auflagen 
wird  man  sich  sehr  balil  überzeugen,  dass  der  Verfasser  mit  umsichtiger 
Sorgfalt  gearbeitet  hat.  Der  organische  Zusammenhang  ist  durch  passende 
Auslassungen  hier,  durch  neu  Hinzugebrachtes  dort,  durch  Umstellung  an 
einer  dritten  Stelle  möglichst  vollkommen  hergestellt.  Die  der  Elementar- 
schule neu  vorgesetzte  Leseschule,  das  derselben  angehängte  Wörtcbuch, 
sowie  die  in  der  Miitclstufe  getroffene  Anordnung  des  Stoffes  zum  Zwecke 
des  Gebrauchs  in  Anstalten  mit  sechsmonatlicher  Aufnahme  von  Zöglingen 
sind  sehr  gute  und  dankenswerthe  Zusätze  und  Neuerungen.  Bei  der  Lese- 
.schule  jedoch  möchten  wir  eine  Ausstellung  machen.  Der  Verfasser 
würde  nämlich  bes.ser  gethan  haben,  die  von  den  deutschen  abweichenden 
englischen  Vocallaute  durch  beigesetzte  deutsche  oder  französische  Wörter 
oder  Silben  mit  möglichst  entsprechenden  oder  ähnlichen  Lauten  zu  ver- 
sinnlichen, anstatt  einfach  durch  <leutsche  Vocale.  die  doch  nun  einmal  nicht 
die  englischen  sind:  ä  ist  kein  a,  ö  ist  kein  u,  o  ist  kein  o.  Stellt  man 
dem  Schüler  nun  etwas  Derartiges  ein  für  allemal  gedruckt  vor  Augen,  so 
inhrt  man  ihn  von  vornherein  auf  etwas  P'alsches,  das  durch  kein  Kaisonne- 
inent   wieder  wegzubringen,  oder  wenn,  wenigstens  nutzlos  ist. 

(jörlilz.  H.  Schmick. 


188  Beurt  helluiigon  und  kurze  Anzeigen. 

Elementarbiich  der  französischen  Sprache  für  die  erste  Stufe 
des  Unterrichts  von  Dr.  C.  A.  Wittenhank,  Rektor  der 
hölieren  Bürgerschule  in  Rheydt.  In  zwei  Abtheilungen. 
Erfurt,   1857.     Verlag  von  Karl  Villaret. 

Vielleicht^  erinnern  sich  die  Leser  flieser  Zeifsclirift  noch  fies  Artikels, 
in  wek'heni  wir  ihnen,  vor  einem  Jahre  etwa,  die  für  die  zweite  Stufe  fies 
Unterrichts  bestimmten  Theile  des  vorliegen  Elementarbuches  empfahlen. 
Wir  sprachen  damals  den  Wunsch  aus,  dass  der  Verf  die  in  Aussicht  ge- 
stellte erste  Abtheilung  seines  Werkes  recht  bald  veröffentlichen,  imd  damit 
der  zweiten  die  nothwendige  Grundlage  geben  möge.  Diese  Ergänzung  isr, 
nun  erschienen,  und  freut  es  uns,  sie  als  eine  treifliche,  ihrem  Zwecke  in 
hohem  Grade  entsprechende  Arbeit  bezeichnen  zu  können. 

Das  Buch  zerfallt,  wie  schon  der  Titel  sagt,  in  zwei  Abtheilungen,  die 
indess  nicht  nur  äusserlich  verbunden  sind,  sondern  in  einem  inneren  Zu- 
sammenhange stehen.  Was  den  Verf.  zu  dieser  Anordnung  bestimmt  hat, 
hören  wir  am  Besten  von  ihm  selbst.  Er  sagt  darüber  (im  Vorworte):  „Da 
die  zweite  Stufe  des  Unterrichts,  wenn  von  einer  sechsklassigen  Schule  aus- 
gegangen wird,  für  die  Quarta  bestimmt  ist,  so  niusste  die  erste  Stufe  das 
Pensum  für  Sexta  und  Quinta  enthalten  Das  vorliegende  Buch  besteht  daher  aus 
zwei  Abtheilungen,  von  welcher  die  erste  die  leichteren  Abschnitte  der 
Formenlehre  und  durchweg  nur  das  behandelt,  was  im  Deutschen  ebenso  vor- 
handen ist;  die  zweite  aber,  unter  steter  Zurückweisung  auf  die  erste  Ab- 
theilung, die  schwierigeren  Abschnitte  hinzufügt.  Doch  werde  in  Schulen,  wo 
der  fninzösische  Unterricht  erst  in  Quinta  beginnt,  und  in  solchen,  welche 
aus  weniger  Classen  bestehen,  beide  Abtheilungen,  bei  grösserer  Reife  der 
Schüler,  in  einem  Jahre  durchgenommen  werden  können." 

Man  sieht,  die  beiden  Abtheilungen  stehen  keineswegs  unvermittelt  neben- 
einander. Die  zweite  f^ingt  nicht  einfach  fla  an,  wo  die  erste  aufhört;  sie 
setzt  einerseits  den  Inhahlt  derselben  voraus,  während  sie  ihn  andrerseits  er- 
weitert und  vervollstänfligt.  Eine  solche  Theilung  des  Stoffes  ktmn,  scheint 
uns,  nur  gebilligt  werden.  Der  stufenweisse  Fortschritt  ist  für  den  sprach- 
lichen Unterricht,  namentlich  in  seinen  Anfängen,  von  der  grössten  Wichtig- 
keit, wir  möchten  sagen  eine  conditio  sine  qua  non  seines  Erfolges.  Der 
Geist  des  Kindes  ist  nicht  so  schwach,  wie'  Manche  glauben,  die  sich  deshalb 
bemühen,  ihm  möglichst  wenig  zu  bieten.  Man  kann  ihm  recht  viel  zumuthen : 
es  darf  nur  keinen  Augenblick  ausser  Acht  gehissen  werden,  dass  die  Ent- 
wif^klung  des  Geistes  an  das  Gesetz  des  allinäligen  Fortschritts  vom  Ein- 
fachen zum  Coinplizirten  gebunden  ist.  Allerdings  gibt  es  gegenwärtig  nicht 
wenige  Lehrbücher  auch  für  den  sprachlichen  LTnterricht,  die  nach  diesem 
Principe  ausgearbeitet  wurden.  Die  Durchfülirung  indess  lässt  noch  Vieles 
zu  wünschen  übrig.  Unseres  Erachtens  hat  dies  besonders  darin  seinen  Grund, 
dass  die  Gliederung  des  Unterrichtsstoffes  noch  nicht  hinlänglich  durchgeführt 
ist.  Man  vertheilt  ihn  zwar  an  eine  Mehrheit  von  Stufen  oder  Cursen,  doch 
ist  die  Zahl  derselben  nicht  gross  genug,  was  zur  Folge  hat,  dass  der  ihnen 
zugewiesene  Stoff'  nicht  bloss  zu  vielschichtig  und  zu  mannigfaltig,  sondern 
auch,  und  das  ist  viel  schlimmer,  bald  mehr,  und  bald  weniger  verständlich 
wird.  Die  Gleichartigkeit  in  Bezug  auf  das  Verständniss  ist  aber  nur  durch 
Besf:hränkung  zu  erreichen.  Es  muss,  wie  der  Verf  dies  versucht  hat,  der 
für  jeden  Cursus  bestimmte  Stoff'  mit  steter  Rücksicht  auf  das  vorhin  er- 
wähnte Gesetz  in.  mehrere  Abtheilungen  gebracht  werden. 

P'reilich  wird  eine  solche  Forderung  immer  ihre  grossen  Schwierigkeiten 
haben.  Was  einfach  und  fnsslich,  und  was  nicht,  ist  oft  nicht  leicht  zu  unter- 
scheiden: man  hat  es  hier  eben  mit  relativen  Begriffen  zu  thun.  Der  Verf. 
hat  in  dieser  Beziehung  einen  Gesichtspunkt  geltend  gemacht,  der  soviel 
wir  wissen,    bisher  wenig  beachtet  wurde,  aber  jedenfalls  ganz  am  Orte  ist. 


lU'urthe  i  liiiiui'ii  und  Icurzo   Anzeij^iMi.  18!) 

wir  im-iiuiii  die  grüssero  oder  geringjei-e  Uebereiiistiininung  der  fremdftii  mit 
der  Muttorspnn'he.  Es  verstellt  sich  von  selbst,  dass  der  Schüler  si  h  das 
am  Leiclitesten  aneignet,  was  von  dem  ihm  liekaniiten  am  Wenigsten  abweicht, 
und  ist  es  daher  ganz  zweckgemäss.  dass  namentlich  im  Beginne  des  Spracii- 
unterrichts  das  Verwandte  vorzugsweise  l)etunt  und  das  Fremde  möglichst 
ferngehalten  wird.  Selbst  auf  lien  hohem  Stufen  dürfte  der  in  Rede  stehende 
Unterschied  eine  grössere  Beachtung  verdienen,  wie  ihm  gewöhnlich  geschenkt 
wird.  Es  wäre  ohne  Zweifel  sehr  wünsehenswerth ,  dass  auch  in  den  syn- 
taktischen Lehrbüchei-n  diejenigen  sprachlichen  Erscheinungen,  welche  dem 
fremden  Idiome  eigenthümlich  sind,  sowohl  bei  der  Erkläi-ung  wie  in  den 
zugehörigen  Uebungen  ganz  entschieden  in  den    Vordergrund  träten. 

■Was  die  Methode  in  der  Behandlung  des  Einzelnen  betrifft,  so  stimmt 
diese  im  Wesentlichen  mit  der  überein,  welche  der  Verf.  in  dem  früher  er- 
schienenen zweiten  Cursus  befolgt  hat.  Nun  ist  er,  und  ganz  mit  Recht, 
bestrebt  gewesen,  den  leitenden  (inindsatz  „soviel  Material  als  möglich,  von 
llegehi  aber  nur  das  Unentbehrlichste  zu  geben,,,  hier  noch  consequenter 
(Unchzufuhren.  So  beginnt  denn  jeder  Abschnitt  mit  einer  Reihe  französischer 
Sätze,  welche  die  in  Rede  stehende  sprachliche  Erscheinung  dem  Schüler  zur 
Anschauung  bringen.  Ihueji  folgt  die  Erklärung  oder  die  Regel,  und  dieser 
die  deutschen  Uebungen.  Die  Zahl  der  letzteren  i.st  sehr  beträchtlich;  auch 
kann  die  Auswahl  der  Sätze  im  Ganzen  als  eine  gelungene  bezeichnet  werden. 
Dass  der  Verf.  ..den  deutschen  Sätzen  der  französischen  Construktion  zu 
iJebe  nirgends  Gewalt  augethan  hat,"  verdient  alle  Anerkennunir;  der  ab- 
geschmackte Galimathias,  den  manche  übrigens  recht  werthvolle  Elementar- 
bücher darbieten,  ist  in  der  That  unerträglich.  Die  Regeln  wurden  dies  Mal 
In  deutscher  Sprache  abgefasst,  womit  wir  uns  nach  dem,  was  wir  früher  über 
diesen  Punkt  sagten,  nur  eiuveKStanden  erklären  können.  Wichtiger  ist,  dass 
sie  fast  durchgängig  kurz,  präzis  und  leicht  verständlich  sind  —  Eigen- 
schaften, die  man  in  andern  Werken  dieser  Art  nur  zu  oft  vermisst.  Auch 
wird  ihre  Anzahl  dem  nicht  zu  gross  ersiheinen,  der  die  Aufstellung  von 
Regeln  auf  den  ersten  Unterrichtsstufen  überhaupt  billigt.  Wir  unsererseits 
glauben  nicht,  dass  sie  gut  zu  entbehren  sind.  Gäbe  es  nur  tüchtige  Lehrer 
und  begabte  Schüler,  so  möchten  sie  vielleicht  dem  mündlichen  Unterrichte 
ausschliesslich  überlassen  bleiben  können.  Da  sich  aber  die  einen  nicht  ge- 
rade häufig  und  die  andern  nur  selten  finden,  halten  wir  es  für  unbedinüt 
besser,  dass  sie  den  Beispielen,  in  welchen  sie  zur  Anwendung  kommen, 
hinzugefügt  werden.  Koch  wollen  wir  bemerken ,  dass  der  Verf. ,  sobald  es 
sich  eben  thun  lä'sst,  zusammenhängende  französische  Lesestücke  einflicht,  auch 
deren  einige  am  Schlüsse  der  zweiten  Abtheilung  angehängt  hat.  Es  sind  Anek- 
doten und  kleine  Erzählungen,  die  sich  durch  ihren  interessanten  Inhalt  der 
hier  in  Fi-age  konnnenden  Altersstufe  empfehlen,  auch,  da  der  Verfasser  alle 
schwierigem  Constructionen  entfernt  oder  durch  einfachere  Wendungen  er- 
setzt hat,  idv  sie  leicht  verständlich  sein  werden.  Wir  würden  dies  nicht 
besonders  hervorgehoben  haben,  hätten  wir  uns  nicht  der  läppischen  Geschichten 
erinnert,  mit  welchen  selbst  die  gangbarsten  Elementarbücher  die  liebe  Ju- 
gend langweilen. 

Wir  wollen  nun  den  Inhalt  des  vorliegenden  Werkes  etwas  genauer  (iureh- 
gehen;  man  wird  sich  so  am  Besten  über  seinen  Werth  ein  Urtheil  bilden 
küinien.  —  Die  ersten  fünf  (}.  der  ersten  Abtheilung  beschäftigen  sich  mit 
der  Aussprache,  die  der  Verf  mit  allem  Rechte  in  dan  Kreis  der  „metho- 
disclien"  Behandlung  gezogen  hat.  Allerdings  wird  für  sie  der  mündliche 
Unterricht  immer  das  Beste  thun  müssen.  Aber  daraus  folgt  keineswegs, 
dass  man  sie  in  den  Lehrbüchern  übergehen  oder  nur  nebenbei,  etwa  in 
einem  Aniiange,  abfertigen  darf.  Auch  ist  die  Art  und  Weise,  in  welcher 
sie  gewöhnlich  behandelt  wird,  durchaus  nicht  zu  billigen.  Der  Regeln  sind 
meist  zu  viele,  der  Beispiele  zu  wenig;  überdem  stellt  man  die  ersteren  in 
ununterbrochener  Folge  zusammen,  ohne  sich  um  den  Unterschied  des  Leich- 


190  H  e  urthpil  nngeii  und  kurze  Anzeijjen. 

teren  und  Schwierigeren  sonderlich  zu  kümmern.  —  Dcir  Verf.  verfahrt  in 
anderer  Weise.  Er  stellt  zunächst  eine  beträclitliciie  Anzahl  von  Woltern 
auf,  an  welchen  die  Aussprache  der  zu  bestimmenden  Laute  praktisch  ein- 
geübt werden  kann ,  und  fügt  dann  die  nothwendige  Erklärung  hinzu.  Die 
NVörter  sind  so  gewählt,  dass  sie  nur  solche  Laute  enthalten,  die  entweder 
schon  bekannt  sind  oder  es  durch  die  betreffende  Uebung  werden  sollen. 
Wir  müssen  es  überhaupt  als  einen  wesentlichen  Vorzug  unserer  Schrift  be- 
zeichnen, dass  der  Verf.  durchgängig  bestrebt  gewesen,  erst  dann  zu  etwas 
Neuem  überzugehen,  wenn  die  Voraussetzungen  desselben  vollständig  gegjehen 
sind.  /Uebrigens  beginnt  er  mit  denjenigen  Lauten  und  Lautverbindungen, 
welche  den  Si'hülern  die  wenigsten  Schwierigkeiten  darbieten  und  kommt 
dem  Ueberdrusse,  den  Uebungen  dieser  Art,  zu  lange  fortgesetzt,  stets  erregen, 
dadurch  zuvor,  dass  er  sie  möglichst  bald  unterbricht. 

Schon  §.  6  enthält  das  Present  der  ersten  Conjugation  und  zwar  wird 
hier  der  einfachen  Aussage  sogleich  die  Frageform  zur  Seite  gestellt.  Dass 
es  zweckmässig  sei.  das  Verb  sobald  schon  einzuführen,  kann  nicht  füglich 
bestritten  werden.  Nur  mit  seiner  Hilfe  ist  es  möglich,  die  wünschenswerthen 
Uebungssätze  zu  bilden.  Doch  hat  der  Verf  mit  Recht  zunächst  nur  die 
einfachen  Zeitformen  aufgestellt  und  eben  darum  die  Hilfsverben  erst  später 
behandelt.  —  Aber  auch  mit  dem  Verb  lässt  sich  nicht  viel  anfangen,  so 
lange  die  substantivischen  Subjekte  und  Objekte  fehlen.  Der  Verf.  lässt 
diese  daher  alsbald  folgen,  was  um  so  eher  geschehen  konnte,  da  ihre  For- 
men im  Singulier  wie  im  Pluriel  dieselben  sind.  Ueber  die  Bildung  des  Plu- 
riel  werden  natürlich  nur  die  einfachsten  Grundlehren  mitgetheilt;  die  Aas- 
nahmen kommen  in  diesem  wie  in  allen  andern  Fällen  erst  in  der  zweiten 
Abtheilung  und  auch  hier  in  beschränktem  LTmfange  zur  Sprache.  —  §.  12 
gibt  die  Formen  des  Imparfait  und  Defini,  die  ganz  zweckmässig,  wie  uns 
scheinen  will,  nebeneinandergestellt  werden.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass 
der  Gebrauch  dieser  Zeitformen  hier  nicht  erörtert  wird ;  der  Verf  gibt  in 
den  Uebungsstücken  jedes  Mal  an,  wo  das  Imparfait  angewandt  werden  soll. 
—  §.16  wird  eine  Reihe  von  Präpositionen  aufgeführt,  die  vielleicht  Manchen 
nicht  an  ihrer  Stelle  zu  sein  scheinen.  Man  kann  nicht  verkennen,  dass  der 
Verf.  hier  seinem  Principe  in  Etwas  untreu  wird,  sofern  der  an  sich  sehr  ein- 
fache Gebrauch  der  tran^ösischen  Präpositionen  doch  dadurch  für  den  Schü- 
ler sehr  schwierig  M'ird,  dass  die  entsprechenden  deutschen  mit  anderen,  oft 
sogar  mit  mehreren  Casus  'construirt  werden.  Andrerseits  ist  freilich  zuzu- 
geben, dass  die  gleichartige  Construktion  der  französischen  Präposition,  wenn 
man  sich  einmal  bis  zu  einem  gewissen  Grade  an  sie  gewöhnt  hat  —  und  das  ist  hier 
um  so  eher  möglich,  da  die  Bildung  des  Genitiv  und  Dativ  noch  nicht  be- 
kannt ist  —  ihre  Anwendung  überaus  leicht  nuiclit.  Auch  wird  durch  ihre  Ein- 
fuhrung der  Weg  zum  Verständnisse  der  Casuspräpositionen  du  und  ä  gebahnt, 
die  der  Verf  mit  Recht  zunächst  in  ihrer  präpositionellen  Bedeutung  kennen  lehrt. 

In  den  folgenden  §.  werden,  wie  bisher  in  stetem  Wechsel,  die  noch 
übrigen  Sprachlaute,  Plural-  un<l  Verbalformen  erörtert.  Zugleich  wird  für 
eine  weitere  Vermehrung  des  Wortvorrathes  Sorge  getragen.  Es  ist  sehr 
möglich,  dass  der  Eine  oder  Andel-e  an  dieser  gleichzeitigen  Behandlung 
verschiedener  Gegenstände  Anstoss  nimmt.  Uns  scheint  sie,  namentlich  auf 
ilen  untersten  Stufen  des  Unterrichts,  wo  die  wechselnde  Stimmung  des 
Kindes  die  längere  Beschäftigung  mit  ein  und  demselben  Gegenstande  nur 
gezwungen  erträgt,  ganz  am  Orte  zu  sein.  Es  konmit  nur  darauf  an'  dass 
die  einzelnen  Objekte  nicht  willkürlich  zusammengestellt,  sondern  in  eine 
nähere,  auch  äusserlich  erkennbare  Verbindung  gebracht  werden.  Und  das 
ist  in  dem  vorliegenden  Buche  überall  versucht  und  meist  auch  erreicht  worden. 
Auch  so  freilich  wird  es  eines  Lehrers  bedürfen ,  der  mit  einer  gewissen 
lebendigen  Frische  des  Geistes  eine  genaue  Kenntniss  und  sichere  Beherr- 
schung des  Stoffes  verbindet.  Wo  diese  Eigenschaften  fehlen,  nmss  nv.ai 
eben  sehen,  wie  man  ohne  sie  fertig  wird. 


Kr  u  1  t  lie  i  1  n  iigtMi   unii   kürzt'  An/eigeili  191 

§.  3  2  bringt  das  prononi  possesif,  §.  4G  das  ddinonstratif,  doch  werden 
beide  nur  in  den  einlachen  Casus  vorgeführt.  Dann  folgen  die  Formen  des 
Hilfsverbs  avoir  (§.  52  fgg.),  die  durch  ein  vollständiges  Paradigma  abge- 
schlossen werden.  Der  Verfasser  hat  unseres  Erachtens  sehr  Recht,  wenn  er 
hier  wie  später,  nachdem  die  einzelnen  Zeitformen  eingeülit  sind,  sie  zum 
Schlüsse  nochmals  in  geordneter  Folge  zusammenstellt.  Der  Schüler  kann 
solcher  Paradigmen  nicht  wohl  entbehren.  Abgesehen  davon,  dass  er  ohne 
sie  mit  dem  Nachschhigen  viel  Mühe  und  Zeit  verliert,  hat  auch  die  Totalan- 
schauung einer  durchgeführten  Conjugation  einen  selbständigen  Werth.  Nach- 
dem das  Zeitwort  avoir  bekannt  ist,  können  nun  auch  die  zusammengesetzten 
Zeiten  des  regelmässigen  Verbs  zur  Sprache  gebracht  werden.  Verf  be- 
handelt sie  §.  60  fgg.  und  zwar  mit  steter  Herücksichtignng  der  Frageform. 
§.79  kommt  das  Verb  etre  an  die  Reihe,  zunächst  in  den  einfachen  Zeiten. 
Daran  schliesst  sich  die  vollständige  Deklination  zunächst  des  Possesiv-  und 
Demonstrativpronomens,  dann  des  unbestimmten  und  bestimmten  Artikels  — 
eine  Aufeinanderfolge,  die  ohne  Zweifel  sehr  geeignet  ist,  das  Verständniss 
zu  erleichtern.  —  Den  zusammengesetzten  Zeitformen  von  etre  folgen  die 
Verba  der  zweiten  und  dritten  Conjugation  (123  fgg.),  zwischen  welche 
(§.  140)  die  Cardinalzahlen  eingeschoben  sind.  —  Aus  der  Lehre  vom  Ad- 
iectif,  zu  welrhem  der  Verf  nun  übergeht  (§.  iGl  fgs:),  wird  hier  mit  Recht 
nur  das  Einfiichste,  die  (Trumlregeln  über  Stellung,  Bildung  der  weiblichen 
Form  und  Comparation,  angeführt  Nachdem  dann  noch  die  Negation,  auch 
in  Fragesätzen,  erörtert  worden,  womit  zugleich  ein  natürlicher  Anlass  zur 
wiederholten  Einübung  sämmtlicher  Zeit-  und  Verbalformen  gegeben  war, 
schüesst  die  erste  Abtheilung  mit  einer  Reihe  von  Uebungsstücken,  in  wel- 
dieu  die  bis  dahin  vorgekommenen  sprachlichen  Erscheinungen  nochmals  In 
mannigfach  wechselnden  Verbindungen  vorgeführt  werden. 

Repetitio  est  mater  studiorum  —  das  ist  ein  alter,  ewig  wahrer  Grund- 
satz. Nur  muss  dafür  gesorgt  werden,  dass  die  Wiederholung  nicht  lang- 
weilig wird.  Und  das  geschieht  gar  leicht,  wenn  sie  so  schlechthui,  ohne 
Hinzufügung  eines  Neuen,  das  immer  am  Besten  in  der  weiteren  Ausführung 
des  schon  Bekannten  bestehen  diu-fte,  vorgenommen  wird.  Indem  der  Verf. 
seinen  .Stoff'  in  zwei  Abtheilungen  brachte,  hat  er  die  zweite  so  eingerichtet, 
dass  sie  einerseits  eine  beständige  Gelegenheit  zur  Repetition  darbietet, 
während  sie  andrerseits  die  nothwendigen  Ergänzungen  des  ersten  Theils 
liefert.  Sie  beginnt  mit  einer  Anzahl  von  Hebungen  über  die  drei  Conjuga- 
tionen  und  gibt  dann  die  Formen  der  pronoms  pei-sonnels.  Was  den  Gebrauch 
derselben  angeht,  so  hat  sich  der  Verfasser  auf  das  Nothwendigste  beschränkt. 
Er  gibt  einige  wenige  leicht  verständliche  Regeln  über  die  Anwendung  der  pr. 
disjoints,  während  er  das  Uebrige,  namentlich  die  sciiwierige  Lehre  von  der 
Stellung  und  Folge  der  pr.  conjoints,  dem  zweiten  Cursus  vorbehält.  —  Folgt 
§.  231  die  „Bildung  der  Formen  des  Verb",  die  allerdings  bekannt  sein  muss, 
wenn  die  Conjugation  der  nun  sich  anschliessenden  „gebräuchlichsten  Verbes 
irreguliers",  von  welchen  der  \'erf.  nur  die  unregelniässigen  Zeitformen  in  der 
ersten  Person  angibt,  vom  Schüler  selbstthätig  durchgeführt  werden  soll. 
$.  270  handelt  vom  Participe  passe,  welches  einen  natürhchen  Uebergang  zu 
den  Formen  des  Passivs  bildet.  Der  noch  übrige  Theil  des  Buches  hat  vor- 
wiegend den  Charakter  der  Ergänzung.  Es  kommen  hier  die  unregelmässigen 
Pluralbildungen,  die  Theilungsdeklination,  die  unregelmässige  Comparation, 
das  Adverb,  sowie  die  l)is  dahin  übergangenen  Pronomialformen  zur  Sprache. 
Ohne  auf"  das  Detail  näher  einzugehen,  bemerken  wir  nur  im  Allgemeinen, 
liass  der  Verf  auch  in  diesen  Abschnitten  nicht  über  das  wünschenswerihe 
Mass  hinausgegangen  ist.  —  Von  den  französischen  Uebungsstücken,  welche 
diese  zweite  Abtheilung  enthält,  war  schon  oben  die  Rede.  AVir  schliessen 
daher  mit  der  Notiz,  dass  die  zu  ihr  gehörigen  Vokabeln,  nach  §.  geordnet, 

am  Schlüsse  des  (ianzen  iingehängt  .sind.  i>    o         i       i      n- 

>-         >^  1-,  Brockerhoff. 


192  I»  eil  rt  li  eilungen  und  kurze  Anzeigen. 


Iland-  und  Hülfsbuch  der  Spanischen  Sprache  und  Literatur 
im  19.  Jahrhundert,  Mit  wort-  und  sachgemässen  Erläu- 
terungen so  wie  einer  kritisch-literarischen  Einleitung  her- 
ausgegeben von  Friedrich  Booch-Arkossy.  Leipzig.  Brock- 
haus 1857. 

Es  möge  mit  Bezug  auf  später  zu  besprechende  wie  auch  in  diesen 
Heften  bereits  besprochene  spanische  Hülfsbücher  die  allgemeine  Bemeikung 
vergönnt  sein,  dass  sich  die  Verfasser  derselben  in  einer  einerseits  erfreu- 
lichen, andrerseits  misslichen  Stellung  befinden.  Erfreulich,  weil  sich  die- 
selben auf  einem  noch  wenig  bebauten  Felde  bewegen  und  so  genöthigt 
sind  bei  dem  Mangel  an  ausreiclienden  Vorarbeiten  sich  auf  eigne  Beobach- 
tung der  grammatischen  Gesetze  und  auf  eigene  Tbätigkeit  im  Sanuneln  der 
literarischen  Musterstiicke  einzulassen.  Es  ist  auf  diesem  Gebiete  kaum 
möglich,  dass,  wie  es  im  Französichen  so  häufig  der  Fall  ist  oder  \var  — 
(denn  jetzt  scheint  bereits  auch  hier  die  »Scheu  vor  der  in  früheren  Zeiten  ja 
kaum,  wenigstens  in  einem  eigens  dazu  bestimmten  Organe,  vorhandenen 
Kritik  heilsam  gewirkt  zu  haben)  —  aus  vier  mittelmässigen  Grammatiken 
oder  Anthologien  eine  fünfte  noch  mittelmässigere  Grammatik  oder  Antholo- 
gie gemacht  werden  kann,  und  daher  kommt  es  denn  auch,  dass  die  Lei- 
stungen auf  dem  Gebiete  des  Spanischen  fast  nur  Erfreuliches  bieten.  Miss- 
lich ist  die  Stellung  der  Verfasser  aus  einem  andern  Grunde.  Wie  immer 
die  Einfuhrung  einer  Sprache  in  die  Schulen  eines  Volkes  nicht  aus  dem 
Innern  Charakter  jener  Sprache,  sondern  aus  einem  historischen  in  der 
Entwicklung  des  Volkes  wurzelnden  Grunde  hervorgegangen  ist,  so  auch 
hier.  Es  gehört  das  Spanische  zu  jenem  Kranze  von  modernen  Sprachen, 
der  ganz  Deutschland  umgibt,  von  Sprachen,  die  nur  an  den  Glänzen  Deutsch- 
lands schulmässig  gelernt  und  gelehrt  werden ,  wie  polnisch ,  italienisch, 
holländisch,  dänisch.  Eine  allgemein  und  allenthalben  in  Deutschland  in 
Schulen  eingeführte  neuere  Sprache  ist  nur  die  französische.  Das  Englische 
wird  auf  österreichischen  Schulen  kaum  gelehrt,  und  es  tritt  das  Italienische 
an  seine  Stelle.  Neben  dieser  allgemein  gelehrten  neueren  Sprache,  dem 
Französischen,  gibt  es  fast  allenthalben  eine  moderne  Nebenspraehe,  deren 
Aufnahme  in  die  Schullehrpläne  dem  praktischen  Bedürfnisse  des  entsprechen- 
den Landstriches  genügen  will.  So  ist  denn  das  Spanische  die  moderne 
Nebensprache  des  nordwestlichen  Randes  von  Deutschland  geworden,  nament- 
lich aber  die  moderne  Nebensprache  von  Hamburg  und  Bremen.  Die  über- 
wiegend commercielle  Richtung  des  genannten  Landstriches  begünstigt  nun 
auch  in  geistigen  Dingen  alles  dasjenige,  was  sich  durch  die  Art  seiner  Be- 
handlung als  praktisch  anwendbar  und  verwerthbar  empfiehlt.  Während  man 
auf  preussischen  Schulen  darüber  einig  ist ,  dass  die  rein  praktische  Fertig- 
keit in  der  Handhabung  der  modernen  Sprache  weder  erzielt  werden  soll 
noch  kann,  schaden  die  kenntnissreichen  Verfasser  spanischer  Lehrbücher 
gerade  dadurch  ihren  Büchern,  dass  .sie  sie  stets  mit  der  grösstmöglichen 
Rücksicht  auf  ihre  sogenannte  praktische  Brauchbarkeit  anlegen.  Schon 
irüher  ist  in  diesen  Blättern  erwähnt  worden,  wie  selbst  ein  so  geistvoller 
(jrrammatiker ,  wie  Kotzenberg,  es  doch  nicht  vermocht  hat,  die  spanisclie 
Sprache  als  etwas  mehr  als  eine  blosse  Verkehrsprache  anzusehen.  Dass  der 
kenntnissreiche  Verfasser  der  vorliegenden  Schrift  ebenfalls  durch  die  Rück- 
sicht auf  das  Praktisclie  verhindert  worden  ist,  seinem  Buche  ein  einheit- 
licheres Ansehen  zu  geben,  wird  in  Folgendem  ersichtlich  werden. 

Zuerst  gebührt  jedoch  dem  Verfasser  der  lebhafteste  Dank  für  seineu 
Sammlerfleiss,  mit  dem  er  Geschmack  und  Sorgfalt  in  der  Auswahl  verbindet. 
Er   ist   der   erste,   der   eine  Anthologie   der   spanischen  Schriftsteller  unsres 


U(Mir  t  hei  luii  ^e  i\  und  kui/.e  Anzeigen.  J9.> 

.liilirluiiuk'i  ts  fiir  Deutselihiiul  zu.s;unnien<;estelU  hat,  in  der  er  nicht  nur  dem 
Bedürfnisse  des  wissenschailhelien  Lesers  genii<:;t ,  sondern  aueh  der  Schule 
^'in  reichhaltiges  und  interessantes  Material  liefert.  Wenn  in  neuerer  Zeit 
f'iir  Chrestoniatliien  der  Grundsatz  ausjjcspi'ochen  worden  ist,  sie  iniissten 
nicht  nur  allgemein  Richtiges  und  allgemein  Interessantes  zur  Anschaimng 
bringen,  sondern  zugleich  ein  Bild  des  Lehens  und  Treibens  der  Nation 
geben,  so  hat  der  Verfasser  auch  diesen  Grundsatz  gewissenhaft  betolgi . 
Kndlich  hat  sein  Bucli  auch  insofern  eine  grosse  \Vichtigkeit,  als  es  uns  in 
vielen  Artikeln  ein  lebendiges  Bild  der  heutigen  Umgangssprache  und  fiimi- 
lieren  Ausdrucksweise  liefert  und  uns  gewissermassen  den  moralischen  Ton 
der  heutigen  spanisciien  (4ese]lschaft  reproducirt:  leider  müssen  wir  bekennen, 
dass  dieser  Ton  im  (lanzen  ein  selir  laxer  und  frivoler  zu  sein  scheint,  und 
dass  aus  diesem  Grunde  das  Buch  als  Schulbuch  mit  nicht  geringer  Vorsicht 
gebraucht  werden  nmss. 

Wir  sind  ferner  dem  Verfasser  für  die  biographisch -kritischen  Notizen, 
«He  er  den  einzelnen  Stütken  voraussendet,  und  die  von  nicht  geringer 
Wichtigkeit  sind,  da  sie  viel  Unbekanntes  aufhellen,  sehr  dankl)ai-. 

Möge  uns  nach  diesem  aufrichtigen  Lobe  der  Verfasser  gestatten,  zu 
«len  Mangeln  seines  Werkes  überzugehen,  die  nicht  geringe  sind.  Zuerst  hat 
der  Verfasser  dem  oben  gerüjiten  Drange,  ein  recht  praktisches  Buch  zu 
liefern,  nicht  widerstehend,  sein  Buch  zu  einer  Öammiunfr  allerlei  sehr  hete- 
rogener Dinge  gemacht.  WMr  finden  nach  einem  Vorworte  und  einer  kri- 
tisch-literarischen Einleitung  in  einem  ersten  Abschnitte  Anekdoten  und 
(deutsche)  Lesestücke,  in  efnein  zweiten  namentlicih  dem  Gil  Blas  von 
Sentillana  entlehnte  grössere  Uebungstücke,  darunter  wiederum  deutsche, 
in  einem  dritten  Schilderungen  und  Skizzen  aus  dem  heutigen  Spanien,  eine 
sehr  dankenswerthe  Zusammenstellung.  Der  vierte  Abschnitt:  Muster- 
stücke aus  den  ^\'  e r k  e n  spanischer  Schriftsteller  in  der  ersten 
Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  ist  der  wahre  Kern  des  Buches, 
die  „nata"  desselben.  Dann  finden  wir  noch  in  einem  Anhange  die  Syn- 
onyme von  Don  Juan  Mari'h,  syntaktische  Bemerkungen,  Prosodie  und  Accen- 
tuation  und  eine  Notiz  über  spanische  Orthographie 

Die  beiden  letzten  Abschnitte  des  Anhanges:  Prosodie  und  .Vccentuation, 
und  Orthographie  sind  uns  sehr  willkonnnen.  liecensent  hatte  Archiv  XX, 
p.  451  bei  Besprechung  der  Grammatik  von  Kotzenberg  sein  Bedauern  dar- 
über geäussert,  dass  in  keiner  spanischen  Grammatik  von  Länge  und  Kürze, 
die  Rede  sei.  Booch-Arkossy  stellt  hier  folgende  Kegel  auf:  Die  lange  Silbe 
eines  \Vortes  hat  zugleich  den  Redeton,  alle  übrigen  sind  kurz,  mit  andern 
W'orten :  die  betonte  Silbe  allein  ist  lang.  Ueber  die  Richtigkeit  der  kurzen, 
prägnanten  Regel  vermag  ich  nicht  zu  rechten;  jedenfalls  ist  doch  endlich 
eine  Regel  aufgestellt,  die  die  Grammatiken  von  nun  an  aufzunehmen  Ofier 
zu  bestreiten  und  zu  berichtigen  haben.  —  Ebenso  ist  dankenswerth  anzu- 
erkennen, was  der  Verfasser  über  das  Vermeiden  der  schwanken<len  Fälle 
in  der  Orthographie,  namentlich  das  g  (j)  und  des  x  (s)  seit  der  Feststellung 
der  Rechtschreibung  durch  die  Akademie  von  isi.^  sagt.  In  vorliegendem 
Buche  hat  er  bereits  den  Fortschritt  in  der  Vereinfachung  derselben  zur 
Anwendung  gebracht.  Eigentlich  hätte  dieser  beiden  Notizen  oben  Erwäh- 
nung gethan  werden  müssen ,  wo  es  sich  um  die  löblichen  Eigenschaften 
unseres  Buches  handelte. 

W^ir  gehen  jetzt  auf  die  einzelnen  Abschnitte  ein.  Die  kritisch-litera- 
rische Einleitung,  die  den  ungebührlichen  Raum  von  76  Seiten  einnimmt,  ist 
wenig  mehr  als  eine  uimiiize  Paraphrase  und  Amplification  der  gegebenen 
Musterstücke  und  trägt  kaum  irgend  etwas  zu  dem  Verständiüss  der  letzteren 
bei.  Was  hin  und  wieder  daselbst  über  das  Lesben  der  Schriftsteller  gesngi 
wird,  könnte  füglich  in  den  Hauptabschnitt  des  Buches  gestellt  sein.  Dt'r 
Abschnitt:  Anekiloten  und  Lesestucke,  ^.t  Seiten,  mcichte  ans  einem  weiter 
unten  zu  entwickelnden  (»runde  gleich  ub(,-rfhissig  sein.    ^\  ir  benn'rken  hin. 

Anliiv  t.  11.  Spia.  li,n.    XXIII.  1  ;i 


194  B  euF  theiilungen  und  kurze  Anzeiij;c'ü. 

dagg  die  in  diesem  und'  im'  folgenden  Abschnitte  enthaltenen  zwölf  deutschen 
Lesestücke  doch  auch  nur  aws  dem  Wunsche,  das  Buch  möj;lichst  nach  jodei' 
Richtuii<f  liin  brauchbar  zu  machen,  entstanden  sind,  und  dass  sie,  von  iler 
liberwiegenden  Masse  spanischen  Lehrstoffes  wie  zerdrückt  und  zerquetscht» 
die  Buntscheckigkeit  des  Buches  nur  vermehren  helfen. 

Damit  aber  diese  noch  in  ein  grelleres  Licht  trete,  werden  nach  jetzt 
beliebter  Mode  den  einzelnen  Uebungsstücken  Fragen  beigefügt,  durcli  die 
die  Uebung  im  mündlichen  Gebrauche  erzielt  wird.  M^n  überlässt  wohl 
schon  der  Raumersparniss  halber  solche  Fragestellungen  am  Besten  dem 
Lehrer.  Es  folgen  endlich  die  Grössern  ücbungsstücke,  die  dadurch, 
dass  sie  älteren  Schriftstellern  entlehnt  sind,  im  schreienden  Gegensätze  zu 
dem  ausgesprochenen  Zwecke  des  Buches  stehen,  ein  Hand-  und  Ilillsbuch' 
der  spanischen  Sprache  und  Literatur  im  neunzehnten  Jahrhundert  zu  sein. 
Dieser  Abschnitt  nimmt  alsdann  wiedernm  48  Seiten  ein,  deren  Weglassung 
wiederum  ein  nicht  unwesentliches  Raumersparniss  geliefert  haben  würde. 
Referent  hat  seinen  guten  Grund,  dem  Verfasser  dergleichen  Weg- 
lassungen dringend  anzurathen.  Es  würde  nämlich  die  also  frei  werdende  Sei- 
tenanzahl, gepaart  mit  weiser  typographischer  Benutzung  des  nachbleibenden 
Lehrstoffes  dein  Verfasser  Raum  genug  zu  einer  andern  Arbeit  lassen,  deren 
Ausführung  ein  BedUrfniss  ist,  und  die  nach  der  Meinung  des  Referenten 
nicht  leicht  in  dazu  tauglichere  Hände,  als  die  des  Verfassers,  gelegt  werden 
kann.  Es  sind  jetzt  Vorarbeiten  genug  da,  und  dabei  gedenke  ich  vor- 
aus des  Ticknorschen  Buches,  die  es  möglich  machen,  auch  für  das  Spanisciie 
in  der  Weise  der  französischen  Herrig- Burguy'schen  Chrestomathie  ein  Buch 
zu  liefern,  das  zugleich  mit  gewählten  Musterstücken  ein  zusammenhängeniies 
Bild  von  der  geschichtlichen  Entwicklung  der  gesammten  spanisclien  Lite- 
ratur gibt.  Möge  der  Verfasser  sich  hiemit  für  öffentlich  aufgefordert  an- 
sehen, seinem  Buche  bei  einer  zweiten  Auflage,  die  man  ihm  wohl  mit  Zu- 
versicht voraussagen  darf,  diese  wesentliche  Umgestaltung  zu  geben.  Viel- 
leicht dürfte  sich  alsdiinn  auch  der  Abschnitt  III,  dessen  Reichhaltigkeit  und 
Nutzen  in  die  Augen  springt,  etwas  methodischer  in  Abschnitt  IV  verweben 
lassen.  Es  folgt  endlich  die  ausgezeichnete  Sammlung  der  Musterstücke  aus 
den  Schriftstellern  dieses  Jahrhunderts,  vertreten  durch  mehr  als  30  Namen, 
von  denen  wir  nur  Breton,  Hartzenbusch,  Ochoa,  Larra.  Marfinez  de  la  Rosa 
und  Zorilla  anzuführen  brauchen,  um  die  Aufmerksamkeit  auf  diesen  Abschnitt 
zu  lenken.  Nicht  klar  ist  uns  jedoch,  warum  der  Verfasser  diesen  Theil  mit 
einem  im  hohlsten  Pathos  geschriebenen  Zeitungsartikel  zu  schliessen  beliebt. 
Dass  dieser  Artikel  ausserdem  ununterzeichnet  ist,  lässt  eine  Vermuthung 
über  seinen  Ursprung  aufkommen  ,^  die  wir  lieber  verschweigen.  In  einer 
spanisch  geschriebenen  Anmerkung  äussert  sich  alsdann  unser  Autor  selbst 
über  Spaniens  Zukunft.  Besser  hätte  er  wohl  diesen  Schlusssatz,  indem  er 
wie  einer  der  jüngsten  spanischen  Schriftsteller  nach  so  vielen  glorreichen 
Namen  auftritt,  ganz  fortgelassen. 

Gehen  wir  jetzt  zu  den  erläuternden  Anmerkungen  und  zum  Texte  selbst 
über.  Auf  die  Correctur  desselben  ist  sehr  wenig  Sorgfalt  verwendet  worden. 
Nur  wenige  Bogen,  eigentlich  nur  die  ersten  und  letzten,  sind  von  sinnent- 
stellenden Druckfehlern  frei.  Selbst  den  erläuternden  Noten  ist  oft  so  wenig 
Aufmerksamkeit  geschenkt  worden,  dass  durch  sie  der  Text  oft  eher  unklar 
als^  klar  wird.  Ueberhaupt  vermag  man  nicht  zu  ermessen,  nach  welchem 
Princip  der  Autor  seine  lexikalischen  Anmerkungen  (und  es  sind  nur  wenige 
andre  vorhanden)  unten  an  der  Seite  angebracht  hat.  Dieses  Princip  war 
doch  durch  den  dermaligen  Stand  der  spanisch-deutschen  Lexikographie  von 
vornherein  gegeben,  so  dass  nur  solche  Wörter  aufzunehmen  waren,  die  der 
deutsche  Leser  vermittelst  der  vorhandenen  Wörterbücher  nicht  zu  entziffern 
vermochte.  Umgekehrt  finden  wir  dagegen  manche  von  diesen  nicht  erklärt, 
viele  leicht  zu  lösende  Schwierigkeiten  jedoch  erklärt.  Wir  lassen  Beispiels 
halber  einige  Berichtigungen  folgen;    dieselben  um  mehrere  hundert  zu  vcr- 


lU'iirtlipi  I  an  «roii  und  kurze  Anzeigen.  195 

mehren,  würde  eine  geringe  Mülie  sein,  die  wir  (Jem  Verfasser  selbst  überlnssen. 
j).  175  ist  las  f'ajas  y  entorehailas  para  los  militares  durch  Bimlen  statt 
Schärpen  übersetzt.  1  79  ist  poor  pa  iiianeja  durch  poncr  para  manejar  statt 
poder  para  manejar  erklärt.  '.88  niuss  die  Note  '24  iüid' Zeilen  tiefer  stehen. 
208  wird  zu  aino  y  jaca,  der  Herr  und  sein  Pferd  durch  „(Panzerlienid), 
Schutz,  Sicherheit"  erläutert.  319  libelo,  Bittschrift  statt  Schmähschrift.  '^:<> 
nuestra  statt  nuiestra.  388  caudal  statt  raudal;  eben  da  reboso  Ueberlaufen 
statt  überlaufen.  340  atice  hetzen  statt  schüren.  341  la  viril  caterva  un- 
ordentlicher Haufe  Menschen  statt  männlicher  Pöbel.  342  bicn  für  cien, 
dcrro  char  statt  dorrochar,  351  lea  statt  tea.  '359  wird  sogar  el  solano 
durch  schwarzer  Nachtschatten  statt  „Ostwind"  erklärt!  Ein  schlagender  Be- 
weis, wie  wenig  der  Verfasser  den  Zusammenhang  der  betreffenden  Stelle 
im  Sinne  hatte.  533  cuantiosos  pechos  muthvoUe  Herzen  statt  ungeheure 
Auflagen.  Es  folgt  nun  noch,  nach  dem  Principe  der  praktischen  Brauchbar- 
keit, unter  dem  Titel:  Einige  syntaktische  Bemerktmgen  über  die  richtige 
Anwendung  des  spanischen  Zeitwortes,  eine  Anmerkung  über  das  presente, 
preterito  absolute  und  imperfecto,  wie  der  Verfasser  sagt,  nach  Salva's  Lehr- 
buch. Wie  es  der  Verfasser  sagt,  ist  es  weder  neu,  noch  überhaupt  klar. 
Eine  Aeusserung  wie:  „Das  Presente  zeigt  an,  dass  das,  wovon  eben  ge- 
sprochen wird,  im  Begriffe  steht  gethan  zu  werden  oder  überhaupt  zu  ge- 
schehen, vorzufallen"  wird  diu-ch  fast  jedes  15eispiel,  das  man  beibringen  könnte, 
widerlegt.  Eben  so  unklar  ist:  Wenn  man  das  preterito  anwendet,  darf  nie 
von  einer  Gegenwart  mehr  die  Rede  sein,  und  die  Handlung  muss  bestimmt 
in  der  entschieden  der  Vergangenheit  angchörigen  Epoche,  nicht  früher  und 
niclit  später,  vorgefallen  und  beendigt  sein.  Eine  Epoche,  die  früher  ist  als 
die  Vergangenheit?  Man  hat  eine  dunkle  Ahnung  von  dem,  was  der  Verfaser 
meint.  Dass  er  aber  irgendwie  mit  seinen  Worten  die  Sache  aufkläre,  wird 
niemand  behaupten.  Und  was  soll  dieses  Bruchstück  aus  der  Grammatik? 
Die  spanischen  Grammatiken  bietfen  doch  der  Schwierigkeiten  so  viele  dar, 
und  ausserdem  ist  gerade  jene  Schwierigkeit  von  deutschen  Grammatikein  so 
lichtvoll  behandelt  worden. 

Dann  endlich  ist  noch  der  Märchschen  Synonymik  zu  erwähnen.  Dass  diese 
sich  durch  Schärfe  auszeichne,  wird  auch  niemand,  der  sie  kennt,  zu  ver- 
theidigen  unternehmen,  obwohl  sie  fasslich  und  hübsch  geschrieben  ist.  Auch 
der  Raum,  den  sie  einnimmt,  möge  sich  der  Verfasser  für  jene  nützlichere 
und  verdienstvollere  Arbeit  ersparen,  die  Referent  sich  ihm  oben  zu  bezeich- 
nen erlaubt  hat,  zu  der  er  berufen  zu  sein  scheint,  und  für  die  man  ihm 
grossen  Dank  wissen  wird.  0^_  Büchmann. 


Neuer  Lelirgang  der  spanischen  Sprache  nach  der  Robertsonschen 
Methode  von  Dr.  August  ßöltz.  Erste  Abtheilung. 
Berlin.  Peters.  1857. 
Der  Verfasser,  bekanntlich  einer  der  eifrigsten  und  glücklichsten  Ver- 
fechter der  Robertsonsclien  Methode,  versichert  uns  in  der  Vorrede  ausdrück- 
lich, dass  er  es  „an  emsigem  Fleisse,  eiserner  Beharrlichkeit  und  der  bedächtig 
stcn  Verwendung  jeder  seiner  freien  Stunden"  nicht  fehlen  lasse,  tmi  seinen 
Lehrbüchern  die  grösstmiigliche  Vollkommenheit  zu  geben.  F2s  bedarf  wirk- 
lich solcher  Aeusserungcn  nicht.  Auch  ohne  dieselben  räumt  man  gern  ein, 
dass  es  wohl  kaum  ein  nach  Robertsons  Methode  verfasstes  Buch  geben 
möge,  das  den  durch  diese  eingeschlagenen  Weg  mit  solcher  IJebe  zur  Sache 
und  mit  solcher  fast  unerbittlichen  Consequcnz  verfolge.  Es  wird  in  den 
Raum  von  140  Seiten  eine  solch»'  EüUe  des  Lehrstoffes,  dem  das  Lustsjiiel 
von  Hartzenbusch:  La  coja  y  el  encogido  zu  Grunile  Hegt,  in  le.Nikalischer 
pl)raseologi-8cher,  etymologischer  und  syntaktischer  Hinsicht  zusammengepresst, 

1 3  * 


196  r>  eurthtMl  nngen  irnd  kurze  Anzeigen. 

dass ,  wer  sich  denselben  in  der  im  Buche  seihst  mit  pädagogischer  Kinsk-ht 
vorgeschriebenen  Weise  angeeignet  hat,  eine  nicht  unverächtliche  Kenntniss 
des  SpanivAien  besitzen  nuiss,  die  er  durch  die  zu  erwartende  zweite  Abthei- 
lung zu  vertiefen  begierig  sein  wird.  Der  innere  Werth  des  Buches  wird 
durchdie  in  solchen  Lehrbüchern  unerlässliche  Correctheit  des  spanischen  Textes 
bedeutend  erhöht. 

Erlaube  uns  der  Verfasser  folgende  Anmerkungen.  Ist  er  der  Meinung, 
dass  es  von  wirklichem  Nutzen  sein  könne,  wenn  er  zur  Aufklarung  der  Wurzel 
eines  Wortes  die  entsprechende  irländische,  rus-sische  oder  sanskritische  Be- 
zeichnung des  Wortes  bringt?  Ist  es  wirklich  ganz  correct  ausgeilrückt,  wenn 
er  Seite  19  die  Präposition  in  ä  la  derecha,  junto  ä  ^1,  de  frente  für  adverbialisch 
gebraucht  erklärt?  Die  ganze  Phrase  d  la  derecha,  etc.  ist  allerdings  adverbia- 
lisch; schwerlich  lässt  sich  das  aber  von  der  in  derselben  figurirenden  Präposition 
behaupten.  Meint  der  Verfasser  wirkh'ch :  que  sei  ein  Demonstrativum  in  el  que, 
la  que?  Eben  so  gut  nuisste  es  doch  Demonstrativum  sein  in  el  hijo  que. 
Er  wird  wohl  que  hier  ein  Relativiim  sein  lassen  müssen.  Mitunter  versucht 
der  Verfasser  neue  Etymologien.  Das  spanische  dejar  leitet  er  ohne  Weiteres 
von  descrere  ab  und  erwähnt  noch  die  Diezsche  Ableitung  von  desinere.  Je- 
doch verfährt  Diez  etwas  überlegter;  er  leitet  dejar  nicht  von  desinere,  son- 
dern von  einem  desitare,  gebildet  aus  desitus,  dem  part.  perf.  von  desinere 
ab  Aus  desitare  wird  destare,  st  geht  aber  mitunter  in  spanisches  x  (mo- 
dernes j)  über,  vorüber  Diez  Beispiele  beibringt.  Letzteres  scheint 
doch  sehr  wesentlich.  Der  Verfasser  geht  dagegen  über  das  etymologische 
Herumrathen  nicht  hinaus.  Eben  so  leitet  er  wo  anders  izquierdo  ohne  irgend 
welchen  Beleg  von  scaevus  ab  Selbst  die  Richtigkeit  der  Vermuthung  ein- 
mal zugegeben,  wie  soll  der  Lernende  irgend  das  Entstehen  des  spanischen 
aus  dem  lateinischen  Worte  begreifen?  Abermals  leitet  er  trabajo  V(nn  slavi- 
schen  AVorte  rab  ab.  Daraus  wird  aber  das  t  vor  r  in  dem  romanischen 
Worte  nicht  erklärlich.  „Die  kritische  Methode  der  Etymologie  unterwirft 
sich  schlechthin  den  von  der  Lautlehre  aufgefundenen  Principien  und  Regeln, 
ohne  einen  Fusshreit  davon  abzugehen."     Also  Diez. 

Dr.  Büchmann. 


Spanisch  -  Deutsches  Lesebuch  zum  Schulgebrauch.  Gesaramelt 
von  Guillermo  de  Duve  y  Huebener.  Leipzig. 
Brockhaus.     1857. 

Man  ersieht  aus  dem  Titel,  dass  der  Verfasser,  ein  seit  langer  Zeit  in 
Malaga  lebender  Deutscher  mit  sehr  hispanisirtem  Namen,  sein  Buch  sowohl 
für  Deutsche  wie  für  Spanier  geschrieben  hat.  Möchte  eine  solche  Zwitter- 
gestaltung nicht  von  vornherein  ein  Fehler  sein?  Das  Buch  zerfällt  in  drei 
Theile.  Der  erste  besteht  aus  abwechselnd  deutschen  und  spanischen  Anek- 
doten, von  denen  viele  herzlich  abgeschmackt  sind,  und  wie  deren  seit  lan- 
gen Jahren  die  Lehrbücher  für  neuere  Sprache  veralteten  Schlages  füllen; 
man  findet  sie  in  italienischen,  englischen,  polnischen,  französischen  u.  s.  w. 
Grammatiken  wieder,  und  sie  bilden  gewissermassen  eine  eigene,  nicht  sehr 
geistbildende  Literatur  für  sich.  Eben  so  alterniren  im  zweiten  Theile,  der 
längere  Auszüge  aus  Classikern  enthält,  deutsche  und  spanische  Stücke. 
\\  älirend  im  ersten  Theile  die  Vokabeln  einem  jeden  Stücke  beigefügt  sind, 
leiden  sie  bei  dem  zweiten  Theile  ganz.  Wenn  nun  auch  der  Verfasser  hier 
den  Gebrauch  eines  \\  örterbuchs  voraussetzen  mag,  so  wird  es  dem  über- 
haupt besser  bedachten  spanischen  Schüler  kaum  möglich  sein,  nachdem  er 
sich  durcii  die  Anekdoten  hindurch  gearbeitet  hat,  selbst  mit  Hilfe  eines 
W  (»rtcibuchs  ohnt-   weitere  Anweisung  Fragmente  aus  Götz  von  Berliclüiigen 


Beurthciliingeii  und  kurze  Anzeigen.  197 

Zriny  und  den  Regulus  von  CoUin  zu  übersetzen.  Der  dritte  Theil  enthält 
nur  Proben  deutscher  Lyrik,  ebenfalls  ohne  jegliche  Anweisung  zu  rich- 
tiger üebersetzung.  Der  Verfasser  scheint  ein  Bewusstsein  über  die  Plan- 
losigkeit des  Buches  darin  zu  äussern,  dass  er  uns  dasselbe  ohne  jegliche  Vor- 
rede in  die  Hände  gibt.  Doch  lässt  sich  allenfalls  ob  der  anerkennenswerthen 
Correctbeit  des  deutschen  und  spanischen  Textes  dem  Verfasser  sein  Buch 
vergeben,  da  man  schliesslich  aus  jedwedem  correct  gedruckten  Lesebuche 
in  sprachlicher  Hinsicht  zu  lernen  vermag.  j^      Büchmann 


Deutsche  Studien.  Methodisch  geordneter  Lehrgang  zur  schnel- 
len und  leichten  Erlernung  der  deutschen  Sprache.  Bear- 
beitet und  der  spanischen  Jugend  gewidmet  von  H.  Plate. 
Bremen.     Heyse.     1857. 

Obwohl  dies  Buch  den  deutschen  Unterrichtskreis  eigentlich  nichts  an- 
geht, so  möge  dennoch  hier  erwähnt  werden,  dass  es  nach  demselben  ver- 
ständigen Plane  entworfen  ist,  wie  die  bekannte  englische  Grammatik  des- 
selben Verfossers,  dem  es  hauptsächlich  darum  zu  thun  ist,  durch  anschauliche 
und  leichte  Sätze  von  vornherein  den  Schüler  in  den  sichern  Besitz  der 
Formen  zu  setzen  und  ihn  zur  Reproduction  kleiner  und  leichter  Sätze  zu 
veranlassen,  daneben  ihm  aber  zugleich  einen  kleinen  Schatz  unentbehrlicher 
Wörter  methodisch  zuzuführen.  Dieser  erste  Theil  enthält  die  gesammte 
Formenlehre.  Dr.  Büchmann. 


Programmenschau. 


Schiller'e  Walleßstein ,  für  den  Unterricht  behandelt.  Vom 
Oberlehrer  W.  Winter  stein.  Programm  der  Realschule 
zu  Burg.    1858. 

Die  oben  benannte  Abhandlung  ist  nach  Angabe  des  Verfassers  haupt- 
sächlich dazu  bestimmt,  den  Collegen  desselben  eine  Mittheilung  zu  machen 
über  die  Art  und  Weise,  wie  einzelne  Stücke  unsrer  deutschen  Classiker 
in  der  Schule,  an  welcher  er  unterrichtet,  behandelt  werden,  um  einen  Bei- 
trag zu  geben  für  die  Beantwortung  der  Fragt:  Wie  soll  der  Lehrer  bei 
der  vollständigen  Leetüre  eines  Drama's  in  dem  Unterrichte  verfahren? 

Der  Verfasser  legt  mit  Recht  den  grössten  Nachdruck  auf  die  Einsicht 
m  den  Zusammenbang  der  einzelnen  Auftritte  eines  Drama  und  in  deren 
Bedeutung  für  das  Ganze;  den  Gang,  welchen  er  nimmt,  um  die  Schüler  zu 
einem  solchen  Verständniss  zu  führen,  gibt  er  in  folgender  Weise  an:  ge- 
schichtliche Einleitung  (Vortrag  eines  Schülers);  Vorlesen  der  einzelnen 
Aufzüge  von  Seiten  des  Lehrers  (nänilicii  inmier  nur  ein  Aufzug  und  dann 
erst  die  vollständige  Besprechung  desselben) ;  sprachliche  und  sachliche 
Erläuterungen  von  Auftritt  zu  Auftritt;  Auffassen  des  In'  altes  der  einzelnen 
Auftritte  und  dabei  besondere  Berücksichtigung  des  Zusammenhanges  des 
Einzelnen ;  Hervorhebung  der  Bedeutung  jedes  Auftrittes  für  das  Ganze ; 
Zusammenfassung  von  dem  Hauptinhalt  eines  ganzen  Aufzuges;  Lesen  der 
so  durchgearbeiteten  Acte  von  der  ganzen  Classe  nnt  Kollenvertheilung; 
^V  iederholung  des  Hauptinhaltes  sämmtlicher  Acte;  Zusammenfassung  der 
llaupthandlung  des  Ganzen;  nochmalige  Betrachtung  des  Ganzen  nach  sei- 
nen Hauptm(;menten  (Act  für  Act)  zum  Behuf  der  Auffassung  der  innern 
Entwicklung  der  Handlung;  und  zum  Schluss  Besprechung  des  Gehaltes. 

Nach  dieser  Methode  hat  nun  der  Verfasser  mit  Uebergehung  der 
sprachlichen  und  sachlichen  Erklärungen  Schiller's  Wallenstein  bearbeitet, 
und  zwar  so,  dass  er  den  Inhalt  jedes  einzelnen  Auftrittes  in  kurzen  VVorr 
ten  angibt,  dann  hinter  einem  jeden  Auftritt  die  Bedeutung  des  Einzelnen 
für  das  Ganze,  am  Schlüsse  jedes  Aufzuges  dessen  Bedeutung  für  das 
Ganze  darstellt;  nach  der  ganzen  Trilogie  folgt  die  Andeutung  der  ganzen 
Handlung;  nachdem  noch  eine  Uebersicht  der  Aufzüge  gegeben  ist,  dann 
die  Entwicklung  der  Handlung  und  schliesslich  noch  eine  Zusammenfassung 
derselben. 

Von  dem  letzteren  Tbeile  des  Aufsatzes,  der  übrigens  der  bei  weitem 
•grössere  ist,  können  wir  gänzlich  absehen,  da  er  eben  nur  die  wirkliche 
Ausführung  des  vorgezeiclineten  Ganges  enthält,  und  für  den  Lehrer  nicht 
von  besonderer  Bedeutung  sein  kann.  Denn  wenn  er  die  hier  empfohlene 
Metlioiie  befolgen  will,  so  kann  er  sich  ohne  grosse  Mühe  aus  dem  Drama 
selbst  den  Inbiilt  der  einzelnen  Aultrittt^  ausziehen,  ohne  des  hier  gebotenen 
Wegwiisers   zu  bedürfen;    soll   die  Ausführung  als   eine  Probe   dienen,   wie 


Pro  gram nicn  s  chau.  19!) 

der  Verfasser  selbst  beim  Unterricht  damit  verfahrt,  so  ist  diesel"be  nicht  ganz 
jiusreichend,  (Icnn  die  mit  wenigen  Worten  gegebenen  Inhaltsverzeichnisse  kön- 
nen doch  in  dieser  Weise  den  Schülern  unmöglich  vorgetragen  werden.  Von 
grösserem  Interesse  ist  nun  die  Methode  seihst,  und  ülx^r  diese  wollen  wir 
einige  Hemerkungen  machen. 

Ich  setze  natürlich  voraus,  dass  die  Schüler  nn't  dem  zu  erklärenden 
Drama,  wenigstens  zum  Theil,  unbekannt  sind,  eine  Voraussetzung,  deren 
Richtigkeit  j^elbst  für  Schiller's  Drama  die  tiigliche  Erfahrung  bestätigt. 
Zuerst  soll  nun  ein  Schüler  in  einem  Vortrage  eine  gesdiiclitliclie  Einle  - 
tung  geben.  Dazu  nniss  man  schon  einen  Schüler  wählen,  der  den  Inhalt  des 
Stückes  genauer  kennt,  damit  er  die  historischen  Grundlagen  desselben  ange- 
ben kann;  aber  doch  bleibt  es  sehr  zweifelhaft,  ob  er  den  Zweck,  den  eine 
solche  Einleitung  haben  soll,  erreicht  und  erreichen  kann,  zumal  wenn  man 
bedenkt,  dass  der  betreffende  geschichtliche  Zeitraum  den  übrigen  Schülern 
vielleicht  ganz  fremd  ist.  Will  aber  der  Lehrer  überall  ergänzend  nach- 
helfen, so  wird  durch  die  zahlreichen  Unterbrechungen  weder  die  klare  Ein- 
sicht der  übrigen  Schüler  gefördert,  noch  die  Uebung  des  Vortragenden 
von  erheblichem  Nutzen  sein.  Ich  glaube,  am  zweckmässigsten  gibt  der 
Lehrer  selbst,  so  gedrängt  als  möglich,  eine  solche  Einleitung.  Nun  soll 
*ler  Lehrer  je  einen  Aufzug  vorlesen,  dann  sachliche  und  sprachliche  Erläu- 
terungen nreben,  die  nach  der  verständigen  Ansicht  des  Verfassers  nicht 
über  das  Nothwendige  hinausgehen  dürfen,  dann  soll  der  Inhalt  der  einzel- 
nen Auftritte  aufgefasst  werden.  Die  Schüler  werden  aber,  wie  ich  fürclite, 
nicht  im  Stande  sein,  nach  der  einmaligen  Vorlesung  eines  ganzen  Aufzuges 
den  Inhalt  der  einzelnen  Auftritte  im  Gedächtniss  zu  behalten  und  zu  ent- 
wickeln: zweckmässiger  möchte  es  sein,  nach  jedem  einzelnen  Auftritte  den 
Inhalt  entwickeln  zu  lassen,  und  zwar  nachdem  die  Schiller  selb.st  den  Te.xt 
gelesen  haben,  nicht  mit  verteilten  Rollen  ,  um  die  (lefahr  zu  vermeiden, 
dass  nur  ein  Theil  der  Schüler  mit  voller  Aufmerksamkeit  den  Worten 
folgt.  Wer  die  Schwierigkeiten  kennt ,  welche  vielen  Schülern  das  genaue 
Auffassen  des  Inhalts  selbst  bei  Absclmitten  von  geringem  Umfange  macht, 
wird  die  Richtigkeit  dieser  Bemerkung  nicht  bestreiten.  Höchst  misslich 
scheint  mir  nun  die  folgende  Hervorhebung  der  Bedeutung  jedes  Auftritte« 
für  das  (janze  zu  sein,  da  die  Schüler  eben  das  G.mze  noch  nicht  kennen  ; 
nach  der  Ausführung,  die  der  Verfasser  gegeben  hat,  scheint  er  jedoch 
iiuch  nichts  weiter  damit  zu  bizwecken  als  eine  kurze  Zusammenfassung  des 
Inhaltes  wobei  dann  freilich  noch  grösseres  (jcwicht  auf  den  Zusammenhang 
«ler  einzelnen  Auftritte  und  die  fortschreitende  Entwicklung  der  Handlung 
zu  legen  wäre  \\':is  endlich  die  zum  Scliluss  des  Ganzen  gegebene  Uebei- 
.'^icht  der  Aufzüge,  die  Anga-be  der  Handlung,  die  Entwicklung  der  Hand- 
lung, die  Zusammenfassung  betrifft,  so  möchte  wohl  die  Vereinigung  aller 
<Iicser  Betrachtungen  in  eine  einzige  zweckmässiger  sein,  <ia  ja  im  (Trunde 
in  jedem  dieser  Abschnitte  immer  wieder  dasselbe  gesagt  werden  inuss. 

Fragen  wir  nun,  was  ist  am  Ende  einer  solchen  liehandlung  des  Dra- 
nia's  erreicht,  so  ergibt  sich  als  Resultat  nur  eine  genaue  Keimtniss  des  In- 
haltes und  des  Ganges  der  Ilandlun;:,.  Die  ganze  Entwicklung  des  Ver- 
fassers ergibt  nichts  weiter,  als  eine  Disposition.  Es  lässt  sich  nicht  leug- 
nen, dass  dadur(rh  die  \'erslandesthätigkeiL  des  Schülers  gebihlet  und  seine 
AufTassungskrafi  gcschurCt  wiid,  aber  warum  zu  einer  solclien  Uebung  gerade 
<'in  Dichterwork  wählen?  Viel  aniieme.ssener  dürfte  es  sein,  zu  solchen 
l'eljungen  prosaist-he  Schriften  zu  wählen,  die  zum  Zwek  allein  die  Beschäf- 
tigung des  Vei-stanrles  haben  und  deren  Inhalt  auf  Belehrung  gerichtet  ist. 
Die  \\'erke  unsrer  grossen  Dichter  sollen  von  d(>r  Jugend  mit  der  Phantasie, 
crfasst  werden  und  h;iiipts:ichlich  Eindruck  auf  die  jungen  (li^niiither  machen, 
nicht  .aber  einen  Gegi'nsland  bilden,  der  mit  dem  Mess(>r  dei-  Analyse  in 
Stücke  /erschnittcu  \\ir<l.  Weit  entfernt,  ilas  entgegengesetzte  Extrem  dei' 
für  Schüler  unversiandliehen   und   unnützen  ästhetischen   Behandhm'i    erslrc- 


200  P  ro  gram  lue  11  seh  au. 

zu  wollen,  verlangen  wir  dennoch,  dass  eine  Dichtung  hauptsächlich  auf  das 
Gemüth  und  das  sittliche  Gefühl  der  Jugend  wirke,  und  diese  Seite  bleibt 
bei  der  besprochenen  Behandlung  unberücksichtigt. 

Berlin  Dr.  Büchsenschütz. 


Des  reformcs  littcraires  operees  par  Malherbe,  von  Prof.  Borel. 
Programm  des  Gymnasiums  in  Stuttgart,  1857. 

Der  Verfasser  dieser  Abhandlung,  welcher  sich  durch  seine  trefflichen 
Arbeiten  in  weiteren  Kreisen  vortheilhaft  bekannt  gemacht  hat,  liefert  hier 
eine  geistvolle,  sehr  gut  geschriebene  Darstellung  jener  bedeutungsvollen 
Uebergangsepoche  der  französischen  Literaturgeschichte,  welche  in  Malherbe 
iln-en  Absciiluss  fand.  Wir  empfangen  zuvörderst  eine  scharf  charakterisirte 
Darstellung  jener  neuen  antinationalen  poetischen  Schule,  die  es  sich  zur  Aufgabe 
gemacht  hatte,  neue  Wörter  und  Wendungen  in  unendlicher  Menge  aus  den 
alten  Sprachen  zu  entlehnen  und  ganz  unpassend  sie  dem  Französischen 
aufzupfropfen,  —  ein  Bestreben,  welchem  merkwürdiger  Weise  der  allge- 
meinste Beifall  zu  Theil  ward.  Die  Abhandlung  motivirt  hierdurch,  wes- 
halb der  versiändige  und  kräftige  Malherbe  mit  dem  falschen  Geschmack 
seines  Jahrhunderts  brechen  und  den  abscheulichen  Missbräuchen  mit  fester 
Stirn  entgegentreten  musste.  Die  ausführliche  Darstellung  der  verschiedenen 
Veränderungen ,  welche  durch  Malherbe's  Bemühung  in  der  französischen 
Poesie  festen  Fuss  fassten,  gibt  zwar  nichts  Neues,  aber  sie  empfiehlt  sich 
durch  Klarheit  und  gibt  dem  Leser  ein  sehr  anschauliches  Bild  der  frühern 
Zustände.  Eeferent  bpgnügt  sich  damit,  statt  aller  weiteren  Auslassungen 
das  Resume  der  von  Herrn  Borel  gemachten  Bemerkungen  hierherzusetzen, 
welches  gleichsam  als  Ergehniss  des  Ganzen  Alles  in  folgenden  Sätzen  zu- 
sammenfasst:  „Sans  etre  un  grand  poete,  car  limagination  et  surtout  le  seii- 
timent  lui  faisaient  defaut,  il  a,  le  premier,  par  Tinstinct  du  bon  sens  et 
par  la  r^flexion,  trouve  dans  ses  vers  les  formis  de  langage  dont  It  s 
grands  poetes  qui  allaient  paraitre,  devaient  revetir  Icurs  inspirations  sub- 
limes; prosateur  mediocre,  il  opöra  dans  le  style,  par  la  seule  puissancc 
d'une  critique  inflexible  autant  qu'eclairee,  une  revolution  bienfaisante  et 
durable;  enfin,  si  par  l'usage  d'une  doctrine  qui  procedait  surtout  negative- 
ment,  il  a  peut-etre  appauvri  le  langage,  il  l'a  du  moins  epur^,  en  elaguant 
les  Clements  antipathiques  au  caractere  national,  que  la  manie  de  l'imitatioM 
^trangere  avait  fausse  si  long-temps.  Apres  le  succes  decisif  obtenu  par 
Malherbe,  une  surprise  de  cette  nature  ne  pouvait  plus  inspirer  de  craintes 
sdiieuses,  et  si  l'esprit  versatile  de  la  nation  semble,  un  moment  encore, 
imiter  l'emphase  espagnole  apres  l'affeterie  italienne,  rette  phase  de  servi- 
lisme  litteraire  glisse  plus  rapidement  encore,  pour  faire  definitivement  place 
ä  la  littcrature  franchement  nationale,  qu'allaient  inaugurer  Corneille  et 
Pascal." 


Französische  Etymologien  vom  Oberlehrer  Langensiepen.  Pro- 
gramm der  höheren  Bürger-  und  Realschule  zu  Siegen, 
Ostern  1858. 

Antr.  Dem  Verfasser  ist  ainsi  antesio  lal-so),  aise  antesium  (vo;I. 
fl  n  c  1  e  ri  =  antes-ianus),  und  er  erklärt  m  a  u  v  a  i  s  für  malabantesius,  syncopirt 
riialbansius,  unser;  unvortheilhatl. 


rrof^ramineiischau.  201 

Aprious.  Gegen  Diez'  Behauptung:  „Was  die  Sonne  bescheint,  ist 
und  bleibt  unbedeckt,"  bemerkt  der  Verfasser,  dass  die  Bedeutung  von 
Abri,  „Obdach,"  erst  fiir  eine  abgeleitete  gelten  könne:  eigentlich  s(!i 
abri  das  Sonnige,  Freie,  Trockene,  und  etvv.  a  l'abri  sei  ganz  unser:  „im 
Trocknen  sein.*'  Das  ^\'ort  abricot,  lugt  er  hinzu,  sei,  wie  orange, 
auranea  auf  aurum,  so  auf  aprious  zuriickgeführt  worden,  wenn  auch  alber- 
cocco  von  praecox  zu  Grunde  liege. 

Aptus.  Von  diesem  Worte  wird  atteler,  aptulare,  und  deteler,  de- 
aptnlare,  hergeleitet,  wie  der  Verfasser  schon  in  seinem  lateinisch-deutsclieii 
Vocabularinm  :  Originationis  latinae  liber  memorialis  (Leipzig,  Teubner,  1857), 
dem  eine  französische  VVörtersamnilung  in  etymologischer  Ordnung  bei- 
gegeben ist,  vorgeschlagen. 

Arire.  Dies  ist  dem  Verfasser  das  Primitiv  von  Ap-erire  und  op-erire. 
Die  Herleitung  des  Verbums  ouvrir  von  deoperire  als  addeoperire,  welche 
Diez  behauptet,  wird  in  Frage  gestellt  inid  vielmehr  adaperire,  dissimilirt 
und  nach  platter  Aussprache  aduperire,  für  das  Stammwort  gehalten. 

Articulus  Unter  Vergleichung  von  orteil,  articulus,  prov.  arteil, 
Festungswerk,  altfranz.  artillier,  befestigen,  wird  artillerie  als  machina 
(ars,  cohors)  articularia  genommen,  eigintlich  eine  gegliederte  Wurf- 
maschine. 

Augur  iura.  II  n'y  a  quheur  et  malheur  dans  ce  monde  —  nn't 
diesem  Sprichworte  beginnt  der  Verfasser,  um  auguriuni  als  das  Stammwort 
von  heureux  einzuführen  (augurium  corvo,  laeva  cornici  omina  Phaedr. 
.?,  18,  12),  welche  Ableitung  der  von  hora  weichen  musste.  Er  selljst  er- 
klart orgneil  für  auguri-olum,  etwa:  Glückhaftigkeit,  d.  i.  hohe  Art, 
ilofiarth 

Bajulare.  Dem  Verfasser  ist  travailler  trahajulare;  er  vergleicht 
bailli,  Landvogt  u.  s.  w. 

Bulla.  Boulanger,  bullanearius.  erklärt  der  Verfasser  als  ,.Teig- 
verarheiter.  Teiger,"  mit  Vergleichung  des  Verbums  boulanger,  Teig 
kneten,  so  dass  das  unvorhandene  ho  u lange  eigentlich  la  päte  levante  sei. 

Cernere.  Dem  Verfasser  ist  craindre  crinere  =  cernere ,  y.oiieii; 
wie  moindre,  niin'r,  tendre,  ten'r:  er  vergleicht  „scheuen"  yon  „schauen" 
und  hält  cernuus  auch  für  eigentlich  „scheuend." 

Fragium.  Frais  wird  als  fragia,  unser  „Brüchte"  =  Geldstrafe,  ge- 
deutet;   fraise  als  fragasia  statt  fragaria,  wie  chaise  für  chaire  steht. 

Iste.  Tot  ist  dem  Verfasser  toto  isto  sc.  tempore,  tout-k-Fheure, 
vite  ab  Ista  sc.  hora. 

Lixus.  Von  li.\us  ist  prolixus,  lixus  vielleicht  Part,  zu  liqui  =  lique- 
fieri,  also  lisse  wäre  lixus  i.  e.  litjuidus,  Inbricus,  levis,  glisser,  collixare, 
mit  dem  Glatten  zusammenkommen. 

Luscus.  Von  luscinus  wird  luscinare  gebildet,  dies  in  lurcnare, 
lorgner,  euphonisch  umgewandelt  und  orfraie,  berlue  u.  s.  w.  verglichen. 

Migrare  scheint  dem  Verfasser  das  Primitiv  von  marchrir,  das  man 
nicht  als  mercari  zu  nehmen  bniuche.  Er  fügt  als  leicrhtere  Vermuthungen 
hinzu:  chagrin,  Adj.,  carricinus,  charge  de  depit;  crapaud,  cara- 
baldus,  krebsartig  schleichend;  ecrevisse  scarabissa;  envelnpper,  invol- 
vere,  woraus  involpere,  invloperc,  invelopare  (vgl.  flacon  aus  vasculum). 

Nodus,  nicht  odium,  erklärt  der  Referent  für  das  Stammwort  von 
ennui,  das  also  innodium  oder  Annoflium,  Gebundenheit,  sei;  das  passendste 
Bild  für  die  Langeweile,  die  sich  nicht  zu  helfen  wisse. 

Parcus.  Aehnlich  wie  lorgner  aus  lascinare,  wird  epargne  aus 
exparcina  gedeutet,  parc  aber  nicht  „Schonendes,"  „Schützendes,"  sondern 
..Zusammenhaltendes"  übersetzt,  indt'm  comperccre,  compescere  zu  ver- 
gleichen ist. 

Pntare  heisst  eigentlich  schneiden:  daher  ist  amputarc,  „beschneiden," 
auch  wohl  Primitiv  von  cntur,  da  das  Pfropfen  ja  ein  „Beschneiden,"  nicht 


202  l'rograiuuieiischau. 

bloss  ein  „Einschneiden"  ist.  Putus  ist  „beschnitten,"  daher  petit,  pii- 
tettus,  pii'ce,  putiuni  (put-amen,  prae-putium). 

liapere.  Regretter  ist  recorreptare,  immer  wieder  in  Gedanken 
vornehmen  (vgl.  exempter  von  exemptus  u.  s.  vv.) 

Seeundare.  Von  diesem  Worte  soigner,  sonder  und  seconder: 
esoin  ist  gewiss  mit  bis  zusammengesetzt:  „Bedürfniss"  ist,  (juod  bis  se- 
quitur,  was  einem  doppelt  nahe  geht.  Wegen  sonder,  das  kein  subundare 
sein  könne,  wird  sondeur,  secundator  navis  (kein  subundator),  besonders 
angeführt.  (Wegen  besoin  vgl.  noch  ital.  bistentare  zu  stentare  von  ab- 
stentum.) 

JSenior.  Concierge  steht  wohl  für  consieurge,  consenioreus ,  der 
Mitherrliche,  Mitherrschaftliche. 

Serenus.  Suzerain  ist  vielleicht  sus-serein,  superserenus ,  Serenis- 
simus, oberlandesherrlich. 

Subitus,  nicht  das  rabbinische  schotteh,  scheint  das  Primitiv  von  sot. 

Tutare.  Nicht  „abwehren"  ist  die  Bedeutung,  aus  der  „tödten"  für 
tuer  gewonnen  wird,  sondern  „sicher,  still,  unschädlich  machen." 

Vadari.  Gage  könnte  auch  vadaticum  sein,  wiewohl  vadium  nicht 
grade  abgewiesen  wird.  Guider  scheint  dem  Verfasser,  indem  er  gu  auch 
für  andere  als  deutsche  Wörter  anlautend  gelten  lassen  will,  coadjutare, 
also:  coaider,  cu'ider;  beiläufig  nimmt  er  jambe  für  genua  pl.,  genba; 
gueux  ist  vielleicht  aus  votosus,  plein  de  voeux,  contrahirt.  —  Auch 
aspirirtes  h  ist  durchaus  nicht  bloss  ileutsch;  heurter  könnte  hurtari  in 
ursprünglicher  Bedeutung  sein,  wie  dem  Verfasser  auch  couper,  culpare 
(alapare,  clap-are,  niederschlagen)  und  galoper  dasselbe,  versetzt,  clupare, 
clopare,  ca-lopare,  vom  Klopfen  der  Pferdelmle,  zu  sein  scheint;  hanneton 
ist  vielleicht  hinnetto,  von  hinnus,  wiehernd  =  schwirrend,  summend.  — 
Endlich  wird  brave  als  ravus  gedeutet,  indem  die  Ileimath  des  Wortes  der 
Südwesten  sei,  wo  man  die  guten  Kampfstiere  so  benannt  habe  und  braviar 
ja  „brüllen"  heisse:  braver,  rabrouer,  s'ebrouer,  enrouer  sind  zu 
vergleichen. 


Beiträge  zur  Lexikographie  des  Altfianzösischen,  Abhundluiig 
vom  Lehrer  Dr.  Jensch.  Piogranun  der  höheren  Gewerb- 
und  Handelsschule  zu  Magdeburg,   1858. 

Wenn  wir  auch  vollständig  das  vom  Verfasser  citirte  Wort  Mätzners 
über  den  noch  sehr  niedrigen  Standpunkt  der  altfranzösischen  Lexikographie 
billigen,  so  scheint  uns  doch  eine  derartige  Beschränkung,  wie  Jensch  sie 
in  seiner  Arheit  vorgenommen,  wenig  geeignet,  diesem  MiUigel  abzuhelfen, 
und  eine  derartige  Arbeit,  die  unter  ihren  vorzüglicheren  Hülfsmitteln  nicht 
einmal  Raynouard  angibt,  während  sie  fast  nur  aus  zwei  Romanen  den  \\\)rt- 
vorrath  entlehnt  und  gelegentlich  statt  der  Quellen  sellist  Ideler's  schlechte 
Sprachproben  cilirt,  kann  nicht  recht  befriedigen.  Die  P^rklärung  der  ^^  orte 
•■strument,  escargaite,  geste,  muer,  paile,  wankerans  z.  B.  winde  durch 
Proben  grösserer  Belesenheit  in  der  altfranzösischen  Literatur  gewonnen 
haben:  emblar  (aus  involare  von  vola,  altlateinisch  =:  paunie,  cf.  Jubinal  23 
manieres  und  schon  Diez,  eskin,  <las  als  eissil,  essil  oft  mit  mort  zusanmieji 
steht  und  mit  ocas  confundirt  scheint  (cf.  (luill.'unne  dorange,  .S,  119,'),  de 
fi  (18),  (bis  nicht  fidcs,  sondern  fin  ist,  tristor,  das  nicht  nach  Analogie  der 
Substantive  auf  tor,  sondern  wie  amor,  baudor,  gebildet  ist,  u.  A.  würden 
so  leichter  und  richtiger  gedeutet  worden  sein.  NVährend  manche  sehr  be- 
kannte Sachen  erklärt  werden,  sind  andrerseits  eine  Anzahl  Worte  ganz  ohne 


rrograuimcn  schau.  203 

Auslegung  geblieben.  Recht  lobenswerth  sind  die  Zusammenstellungen  (wie 
17  von  den  Anwendungen  des  Verbs  faire,  2.'5  niettre,  15  Zusammensetzungen 
mit  entrc',  obwi^hl  auch  hier  noch  keine  Vollständigkeit  erreicht  zu  sein 
scheint. 


Henry    Wadsworth    Longfcllow   von    G.   ßüchmann,   Programm 
der  städtischen  Gewerbeschule  in  Berlin,  1858. 

Es  kann  nicht  Wunder  nehmen,  dass  ein  so  liebenswürdiger  Schrift- 
steller wie  Longfcllow,  den  man  am  Rhein  und  an  der  Elbe  eben  so  genau 
keimt,  wie  am  Mississippi  und  am  Ohio,  und  der  mit  unsrer  Literatur  so 
bekannt  ist  wie  mit  der  seiner  Ueiniath,  bereits  hundert  deutsche  Federn  in 
Bewegung  ge.'^etzt  hat,  um  ihn  zu  übersetzen  und  zu  commentlren,  und  dass 
sich  zu  diesen  hundert  Federn  noch  eine  fügt,  um  eine  an  Longfcllow  wenig 
beachtete  Seite  seines  dichterischen  Wirkens  in's  rechte  Licht  zu  setzen. 
Der  Verfasser  hätte  über  sein  Programm  „Ethnographische  Dichtungen  Long- 
fellow's  setzen  sollen,  und  er  würde  uns  von  vornherein  gezeigt  haben,  dass 
es  ihm  nicht  bloss  auf  eine  möglichst  eingehende  Schilderung  des  Privat- 
lebens des  Dichters  ankam,  sondern  dass  er  dessen  Dichtungen:  Die  goldene 
Legende,  der  spanische  Student,  Hyperion  und  Outre-mer  gegen  die  Ver- 
unglimplüngen  solclier  lUurtlieiler  scliützen  wollte,  die  mit  den  hergebrachten 
Ansichten  über  das  \\  esen  des  Dramas  und  des  Romans  an  diese  Werke 
treten  und  sie  nach  dem  Schema  der  überkommenen  Poetik  zu  lesen  bestrebt 
sind.  Zweitens  wollte  er  aus  der  absichtlich  dürrer  beliandelten  Lyrik  des 
Dichters  wiederum  diejenigen  Gedichte  hervorheben,  in  denen  Longfellow's 
Meisterschaft  weder  von  ihm  selbst  noch  von  der  Kritik  hervorgehoben  wird, 
jene  beschreibenden  Geschichten,  ,.jene  Stillleben,  die  das  flüchtige  Bild 
einer  lieblichen  Naturscene  festzuhalten  suchen,"  und  die  eine  der  duftigsten 
Blüthen  am  Lorbeerkranze  unsers  amerikanischen  Amtsbruders  sind.  Da 
der  Verfasser  im  Besitze  des  hier  seltenen  Buches:  the  Poets  and  Poetry 
of  Europe  ist,  so  vermochte  er  auch  einige  nähere  Data  über  dies  Buch  niit- 
zutheilen.  Am  Schluss  fasst  er  die  vorhergegangenen  Analysen  zusammen, 
um  so  ein  Urtheil  über  Longfellow's  Wrdicnste  abgeben  zu  können.  Ueber- 
schwängliches  Lob  ist  dem  amerikanischen  Dichter  hinlänglich  gezollt 
worden,  andrerseits  ist  er  absprechenden  und  wegwerfenden  Beurtheilungeu 
nicht  entgangen.  Der  Verfasser  sucht  diese  Erscheinung  durch  die  ver- 
schiedenartigen Neigungen  des  Dichters,  die  lyrische,  epische,  dramatische 
und  die  gelehrte  zu  erklären,  die  ein  Ineinanderspielen  der  Gattungen  her^ 
vorrufen,  das  dem  Sänger  des  Gesangs  des  Hiawatha  manchen  herben  Tadel 
zugezogen  hat,  während  ihm  Niemand  einen  Mangel  an  Reinheit  und  Adel 
der  Seele  jemals  vorgeworfen  hat.  Man  wird  wohl  mit  dem  Verfasser  (hm 
europäischen  Patriotismus,  wenn  wir  uns  des  seltsam  zusanmiengefiiglen 
Ausdrucks  betlienen  dürfen,  so  weit  treilien  köiuien,  auszurufen:  Longfcllow 
hat  grade  deswegen  die  Rolle,  die  er  sich  (wie  eine  Stelle  im  Hyperion  be- 
deutungsvoll andeutet)  auf  der  Bühne  des  Lebens  zu  spielen  vorgenommen 
liatie,  ein  Erzieher  seines  V^olkes  zu  sein,  glücklich  zu  Ende  gefuhrt,  weil 
er  der  eiu-opäißchste  unter  den  amerikanischen  Schriftstellern  ist. 

IL 


204  Progra  111  nie  lisch  au. 

The  English  Prepositions  Compared  In  their  use  with  those 
of  other  languages.  By  Dr.  E.  Thieler.  Programm  der 
höheren  Bürgerschule  zu  Leunep,   1858. 

Das  etwas  nachlässig  gedruckte  Programm,  auf  dessen  15  Seiten  eine 
grosse  Menge  Druckfehler  stehen  geblieben  sind  (wie  happend  3,  Js.  statt 
ilacob  Grimm,  8  neminit  l'ür  meminit,  oly.trcov  statt  oikctojv,  9  a^'SQcönon, 
10  ad,  thy  statt  and,  they,  le^coo,  11  ye'vesdru,  12  arest  statt  arrest,  crinch 
statt  cringe,  13  accross  neben  across  zwei  Mal,  lenght,  15  elipsis,  16  exits 
für  exists,  pero  de  las  mas  curiosas  für  los  mas  curiosos,  17  sind  zwei  ganze 
ISätze  doppelt  gedruckt),  gibt  in  einem  Styl,  von  dem  wir  annehmen,  dass 
er  gleichfalls  in  Unachtsamkeit' des  Druckers  seinen  Grund  habe  (4  tili  to 
(iay,  and  that  the  less,  as .  . .  ,  5  and  this  in  a  double  regard,  der  Schluss 
der  Seite  ist  kein  Satz,  6  at  least  it  is  explicable . . .  ,  8  the  idea  lies  at  the 
basis,  12  with  respect  to  that,  what  follow,  14  in  as  much  it  executes  etc.), 
einige  Notizen  nicht  über  englische  Präpositionen,  sondern  über  die  Bedeu- 
tung der  Casus  zunächst  in  den  alten  Sprachen,  wie  sie  freilich  eine  jede 
einigermassen  rationelle  Grammatik  auch  bringt;  alsdann  werden  mit  je  in 
der  fremden  Sprache  und  in  der  englischen  Uebersetzung  gegebenen  Bei- 
spielen aus  der  griechischen,  lateinischen,  deutschen,  französischen,  italie- 
nischen und  spanischen  Syntax  einige  der  hauptsächlichsten  Präpositionen 
aus  diesen  Sprachen  durchgenommen  und  in  recht  eingehender  Weise  ge- 
zeigt, wie  die  eine  Sprache  ein  bestimmtes  Verhältniss  anders  auffasst  als 
die  englische  bei  ihrem  doch  nur  eben  ohngefähr  entsprechenden  Ausdrucke : 
S.  10  it  would  far  exceed  the  limits  of  this  dissertation,  if  I  would  investi- 
gate  the  particular  use  of  every  preposotion  in  different  languages;  I  can 
only  notice  some  peculiarities  in  their  use  in  general,  and  principally  with 
respect  to  thcir  fundamental  signification.  Manche  der  dabei  ausgesprochenen 
Ansichten  haben  uns  nicht  befriedigen  können,  so  die  etwas  schiefe  Defini- 
tion von  en  und  dans  (14),  wo  die  zwei  Beispiele  bestimmt  nichts  erläutern; 
die  Ansicht  ebendaselbst  über  den  Einfluss  des  Wohllautes  auf  die  Bildung 
der  italienischen  Präpositionen,  als  ob  fra,  tra  etc.  ein  Wort  wären;  die 
Verurtheilung  der  Constructionen  mit  da  als  Barbarismen  (S.  15),  cf.  Diez 
Gram.  III,  148;  die  Erklärung  von  api-ende  de  carpintero,  S.  16  cf.  Diez 
III,  152,  und  die  ziemlich  ausführliche  Auseinandersetzung  über  por  und 
para  gehörte  nicht  recht  hierher.  Was  der  Verfasser  noch  zu  geben  beab- 
sichtigte, sagt  er  in  den  Schlussworten,  mit  denen  wir  auch  unsre  Anzeige 
beschhessen  wollen:  After  having  thus  examined  the  chief  peculiarities  in  the 
use  of  the  prepositions  of  the  principal  languages,  it  would  be  perhaps  (?) 
not  without  interest  to  say  something  about  their  capability  offorming  com- 
pounded  words ;  of  their  different  force,  of  enriching  the  language  with  new 
ideas;  in  what  degree  formal  thinking  is  promoted  by  it,  and  what  advan- 
tages  result  from  it  for  poetry,  philosophy  and  thinking  in  general,  but  it 
is  time  to  finish  this  dissertation. 

C.  Sachs.        , 


M  i  s  c  e  1  j  0  11. 


(xoethe  in  Ilmenau  im  Anfange  des  Septembers  1783. 

Haben  wir  auch  Grund  genug,  alle  Angaben  über  <lie  Abfassung  Goe- 
t bescher  Gedichte  einer  genauen  Prüfung  zu  unterwerfen,  so  müssen  wir 
»ms  doch  vor  allem  hüten,  solche  ohne  Nöthigung  durch  kühne  An- 
nahme zu  verwerfen,  und  immer  ilen  Thatbestand  auf's  schärfste  im  Auge 
halten. 

Das  bekannte  Lied  „\\'anderers  Nachtlied",  das  mit  den  Worten  be- 
ginnt „Ueber  allen  Gipfeln  ist  Ruh",  schrieb  Goethe  auf  dem  Gickelhahn 
bei  Ilmenau  am  7.  ISei)tenibc'r  178;^  nach  der  gleichzeitigen  Inschrift,  deren 
undeutlich  gewordene  Zuge  der  Dichter  selbst  am  29.  August  1813  mit  Blei- 
stift von  neuem  überzog.*)  Das  herrliciie  Gedicht  auf  des  Herzogs  Geburts- 
tag „Ilmenau  den  3.  September  178:^",  muss  an  diesem  Tage  zu  Ilmenau 
gedichtet  sein.  Nun  hat  aber  Gödeke**)  neuerlich  behauptet,  das  letztere 
Gedicht  sei  zu  Weimar  gedichtet,  das  erstere  gehöre  dem  6.  September  1  780 
an,  was  voraussetzen  würde,  der  Dichter  habe  später  die  Zahl  1780  als  1783 
verlesen.  Der  Grund,  den  Gödeke  anführt,  ist  einzig  der,  dass  Goethe  im 
ganzen  Monat  ."^cptember  1/83  nicht  in  Ilmenau  gewesen.  Allein  dies  ist 
eine  durchaus  haltlose  Vennut huug,  wenn  wir  auch  unbedenklich  zugeben, 
dass  der  Dichter  am  7.  September  1783  nicht  auf  dem  Gickelhahn  sich 
befunden,  da  er  am  6.  Sept.  in  \\'eiinar  war,  am  9.  Sept.  in  Langenstein 
zwischen  Blankenburg  und  IJalberstadt  bei  der  Branconi.  Am  30.  August 
schreibt  Goethe  an  Frau  von  Stein:  „Ich  bin  noch  nicht  weg,  und  sehne 
mich  schon  wie'ier  zu  Dir.  Wie  wird  es  erst  weiter  gehn!  Lebe  wohl,  Du 
süsse  Freundin  und  Gehebte.  deren  Umgang  mich  allein  glücklich  macht. 
Wenn  es  möglich  ist,  sclireibe  ich  dem  Herzog  ein  Gedicht  auf  seinen 
Geburtstag.  Nochmals  Adieu.  Ewig  der  Deine."  Diese  Worte  kann  dei- 
Dichter  offenbar  nur  kurz  vor  der  Abreise  an  die  Freundin  gerichtet  haben, 
und  wenn  er  am  tj.  September  derselben  schreibt:  „Nun  Adieu,  liebe  Lotte, 
und  Dank  für  Deinen  lieben  Abschied,  der  mir  unvergesslich  i.st.  —  Lebe 
wohl,  ich  bin  der  Deitiige  u.  s.  w.".  so  kann  dies  unmöglich  dieselbe  Heise 
sein.  Die  ."^ache  klärt  sich  ganz  einfach  so  auf.  Am  30.  August  oder  am 
folgenden  Tage  reiste  Goethe  nach  Ilmenau,  da  der  Herzog  seinen  Geburts- 
tag diesmal  zu  Gotiia  zubrachte.  Wie  vor  drei  Jahren  verblieb  er  hier  die 
Nacht  in  dem  zweistöckigen  Jagdhause  auf  dem  (iickelhahn;  hier  schrieb 
er  in  der  Nacht  vom  "2.  auf  den  3.  Sept.  „Wanderers  Nachtlied"  und  am 
folgenden  Tage  das  Gedicht  auf  des   Herzogs  Geburtstag,   wenn  er  dasselb 

*)   Vgl.    das    Jahrbuch    der    Berliner   (iesellschaft    für   deutsche   Sprache 
\',  '^€>  f   Riemers  Mittheilungeii  über  Goethe  II,   173. 

**)   Gi-undriss   zni-  (icschicbtc  der   Deutschen   Dichtung  S.    7.57,   7fi5. 


206  Miscellen. 

nicht  bereits  um  1.  oder  2.  Sept.  begonnen.  Hiernach  würde  Goethe  im 
Jahre  1813  nur  in  der  Tagesanjcfabe  7  statt  2  verlesen  haben,  alles  übrige 
als  richtig  bestehn  bleiben.  Der  'I'hatbestand  dürfte  sich  jetzt  vielleicht  noch 
urkundlich  an  jener  geweihten  Stätte  nachweisen  lassen.  Gödeke  muss  so- 
wohl in  der  Tags-  wie  in  der  Jahrszahl  ein  Verlesen  Goethe's  annehmen 
Am  4.  oder  5.  September  1783  war  Goethe  von  Ilmenau  in  Weimar  zurück, 
von  wo  er  am  6.  oder  7.  Sept.  mit  dem  jungen  Fritz  Stein  die  Reise  nach 
•  lern  Harz  antrat.  Dass  er  in  dem  Briefe  an  Knebel  vom  29.  August  der 
kleinen  Reise  nach  Ilmenau  nicht  gedenkt,  ist  gar  nicht  auffallend.  Ilmenau 
war  damals  der  Ort,  wo  ihn  die  Muse  freundlich  anwehte,  wie  später  Jena. 

H.  Düntzer. 


Neapolitanische    Spruch w orte r. 

1.  Male  e  bene  a  fine  vene. ') 

2.  Pietto^)  forte  vence  mala  sciorta. ^) 

3.  Chi  s'auza')  mattino,  guadagna  no  carrino.^) 

4.  A  ppazze  e  ppeccerilleß)  Dio  l'ajuta. 

5.  Passa  crapa')  zoppa 

Se  non  trova,  chi  la  'ntoppa.») 
G.    Che  se  propone  Tommo,  Dio  despone. 

7.  A  barca  storta  lo  puorto  deritto.  ^ 

8.  Ammaro^)  chi  a  soje  spese'")  se  castica.") 

9.  N'ora'^)  de  buon  puorto  fa  scordaro  cient'  anne  de  fortuna. 

10.  Bella  zita  'nchiazza'')  se  marita. 

11.  Dio  te  guarda  de  riceo  'mpoveruto '^)    et  de  pezzente,  quanno  e 
rresagliuto.  's) 

12.  Chi  fa  bene,  sempre  aspetta  bene. 

13.  Chi  'ntroppeca  "^)  e  non  cade,  avanza  de  cammino. 

14.  Quanno  l'onmio  manco  se  lo  ppenza,  le  grazie  soje  chiovelleca '"') 
lo   cielo. 

15.  Non   ha  lo   doce'»)   a   ccaro,   chi   provato   non   ha   'mpriramo  "») 
l'ammaro. 

IG.    Quanno    lo  malanno  vö  venire,  trase^i)  pe   le   spaccazze^')  de 
la  porta. 

17.  Vene  cchiü-'-)  'ntra  n'ora,  che'n  cient'  anne. 

18.  La    pena    de    n'ommo    tristo    assaje    tricare^s)    pote.^i)    m^    „on 
manca  maje. 

19.  Dio  manna^s)  le  vescotte'-«)  a  chi  n'  ha  diente.^v) 

20.  Sempre    co    lo    tiempo    e    co    la    paglia    vide    che    s'ammaturano   le 
nnespole. 

21.  Chi  Sputa  'n  cielo,  le  retorna  'n  faccie. 

22.  Jova^s)  sempre  l'essere  cortese. 

23.  Cane,  ch'  e  scottato^s)  d'acqua  cauda.^o)  ha  paura  perzi*')  de 
l'acqua  fredda. 

24.  Chi   striglia   lo   cavallo    sujo,   non   se  p6   chiammare  muzzo'-)    de 
stalia. 


•)  viene.  ^)  petto.  ^)  sorte.  ^)  s'alza.  ■'■)  carlino.  «'•)  picciolelli,  fan- 
ciulli.  7)  capra.  s)  intoppa.  ")  amaro.  '")  a  sue  spese.  ")  castiga.  '•^)  una 
ora.  13)  in  piazza.  •')  impoverito.  's)  risalito.  '")  intoppa.  ")  piove. 
'")  dolce.  '9)  in  primo.  ^o)  von  trasire  =r  transire.  -')  spa'catura.  22)  pjü. 
2*)  tardare.  ^s)  pu5.  25)  manda.  s")  biscotti.  27)  denti  -«)  giova.  29)  cotto. 
^^)  calda.     3')  pursi,  pure.     ^-)  mozzo. 


Miscolloii.  207 

25.  Chi  ped'')  autro  lavora,  pe  se  mannuca.  '') 

26.  ('hi  sparagna,  giiaiiairna. 

2  7.  A  cavallo^"')  h  mvallo  se  fa  lo  tornese. 

2S.  Chi  stipa,  trov;u 

29.  Stipare  che  pappe,  non  fare  che  s  faccie. '■""•) 

30.  Buöne  so^')  ranimice   e   le   pariente,   trista   la  ca.sa,   dove   nun   c'ö 
niente. 

31.  Coiiime  a  j  e  Tentrata,  cossi  fa  le  spese. 

32.  Comine  te  sient«,^**)  cossi  niena  le  diente. 

33.  La  oucina  ])iccola  fa  la  casa  granne. 

34.  La  lengua  non  ave^'-*)  uosso  '")  e  rompe  lo  duosso. 

35.  Aude/'H  vide  e  tace,  se  vuoje  vivere  'n  pace. 

36.  Chi  troppo  parla,  spisso  falla. 

37.  IMüglio    soiio  le   iTave,    che   durano,    che   le   confiette,   che   fenis- 
c  o  n  o.  ■'-) 

38.  Meglio  de  lo  pooo  gandere,  che  de  l'assaje  trivolare. 
;?0.    Chi  non  pö  avere  la  carne,  veva")  lo  bruodo. 

•10.  Chi  non  pö  avere  la  porpa,''*)  .s'attacea  all'  uosso. 

41.  Dimme  con  clii  vage,'^)  ca  te  dico  chello  che  faje. 

42.  Chi  jiratteca  co  lo  zuoppo,  'n  capo  dell'  anno  zoppeca. 

43.  Clii  doniie  co  ccane,  non  se  n'  anza  senza  pulece. 
4.x  La  inniahi  compagnia  porta  l'ommo  alla  forca. 

l.^.    l'enzate  e  po  fatite,  th'  e  mmala  cosa  chiudere  la  stalla,  quanno  nne 

so  sciute''"')  le  vuoje.'") 
40.    Quanno  la  votte'*)   e  cchiena,'-*)   appila,"'")    appila;   quanno  e 
bacante,'')  non  aje  eh'  appilare. 

47.  Mazzeca-'-)  'npriiumo   e  po  gliutte ,  "'3)    ca  la  gatta   pe  la  pressa 
i'eoe  le  figlie  cecate. 

48.  Chi  camniina  adaso,^*)  fa  bona  Jörn  ata. ''5) 

40.    Cavallo  caueetaro,''''')  chiu  nne  leva  ca  nne  dace.  ^") 

50.  Chi  de  greffio  fere,  de  cortellaccio'"*)  more. 

51.  Taiito  va  la  lani'ella   a   lo  puzzo   pe   nfi   ches»)  nee  lassa   la  lua- 
neca."") 

52.  La  forca  e  fatta  pe  lo  sb  entorato.^') 

53.  Maji  fü  bona  la  casa  che  fece  fumnio. 
ö4.    Chi  se  'nipace-ia,  resta  'mpacciato. 

55.  Amore   de   signure,   vino   de  fiasco:   la  mattina  e  buono,   la  sera   c 
gguasto. 

56.  Chi  ave"-)  arte,  ha  parte. 

57.  A  buon  cavallo  non  le  manca  la  sella. 

öS.  Non  e  possibele  ad  avere  grieco'"-')   e  ccappuccie. 

59.  Non  e  j'ossihele  ad  avere   la  votte  chiena  e  la  chiava  mbriaca.'") 

GG.  Lo  fare  bene  non  se  perde  maje. 

fil.  A  la  barca  desperata  Dio  le  retrova  puorto. 

62.  Chi  fa  piacere,  ne  trova. 

63.  Sempre  che  ]iuoje,  fa  bene,  e  scordatenne. 

64.  Chi  troppo  lira,  spezza. 

65.  Figlia  de  la  soperbia  c  la  roina. 


3S)  per.  ^'•)  manduca.  ^')  keine  Kupfermünze.  ■'"'')  ti  vcrgogni.  •''")  sono. 
■'-)  senti.  30j  ha.  '•")  osso.  '')  audi.  ■'-)  finiscono.  '•^)  bea,  trinke.  '')  polpa. 
'■)  vai.  '")  sono  usciti.  '")  bovi.  '«)  botte.  ''>>)  piona.  •'>")  oppila.  •'•')  va- 
cante.  ■•->  mastica.  ■■*)  ingiiiotti.  S')  adagio.  ^•')  giornata.  '•'''')  chi  tira 
calci.  '"')  da.  '•'»)  coltellacci ).  ■'")  (per)  infinclie.  '")  il  nianico.  •"'■)  sven- 
turato.  "-)  ha.  ''^)  d.  h.  wo  jener  Wein  wächst,  den  man  grieco  (greco) 
nennt,  wäch.st  kein  Salat.     '■')   ubbriacta. 


SOS  MiscelliMi. 

C6.  Ogii'  impiedeco"-')  e  spisso  jovaiuionto. 

67.  Chi  gabba,  non  se  doglia,  s'  e  gabbato. 

08.  A  clii  Ventura  teue,  quanno  dorme,  perzl  cbiove'")   lo  bono. 

69.  Fra  cluje  litecante,  sempre  lo  tierzo  gaude. 

70.  Non  dire,  quanto  saje,  ne  fare  quanto  puoje. 

71.  Non  vaga")   scauzo,''«)  chi  semmena  spiiie. 

72.  Chi  se  coverna'''3)  da  pazzo,  da  sapio'")  se  dole. 

73.  A  commannamiento")  di  feie  non  se  pö  obedire  de  zuccaro. 

74.  E  mala  cosa  de  cercare  meglio  pane  che  de  grano. 

75.  Non  lassa  la  via  vecchia  pe  la  nova;  che  saje  chello'^j  che  las.se, 
e  non  saje  chello  che  truove. 

76.  Abbesogna  'ngrassä,'^)  lo  puorco,  p'  ave  bbona  'nzogna. '') 

77.  Perde  lo  tempo  e  lo  sapone,  chi  lava  capo  all'  aseno. 

78.  La  votte  te  da  de  chello  vino,  che  d'ha. 

79.  Lo  cucchiajo  non  sa  le  facenne^')  de  la  pignata. ^") 

80.  Tre  cose  non  de  veno  niancare  a  Napole:  farina,  feste  e  forche. 

81.  No  cunto  fa  lo  gliutto'")  e  n'autro  lo  tavernaro. 

82.  N'  avinimo  n'autro  aseno  alla  stalla?^**) 

83.  Non  nee  meglio  misso  de  te  stisso.  ' 

84.  Lavare  lo  capo  senza  sapone. 

85.  Cunte^-')  spisse  e  amicizia  longa. 

86.  Ommo  avisato  e  miezzo  sarvato.*") 

87.  Laudo  lo  mmaro^')  e  tienete  a  terra. 

88.  Meglio  e  mniarito  porciello  ch'  annnico  "mparatore. 

89.  Chi  ha  paura,  se  fiiccia  sbirro, 

90.  Jo  ne  faccio  cliillo  cunto,  che  fa  lo  Todi.sco**-)  de  l'acqua  fresca. 

91.  La  lengua  va  lä,  dove  lo  diente  dole 

92.  Chi  ha  mamma,  non  chiagne.  **^) 

93.  Lo  sopierchio'*')  i-ompe  lo  copierchio. 

Wittenberg.  Dr.  Wentrup. 


Lexicalische  Pläne  der  Londoner  Philologischen  Gesellschaft. 

In  einer  im  Laufe  des  Jahres  1857  gejialtenen  Sitzung  dieser  Gesell- 
schaft wurde  die  Unzulänglichkeit  selbst  der  besten  englichen  Lexika  — 
als  solche  wurden  die  von  Richardson  und  (Todd's)  Johnson  ausdrücklicli 
bezeichnet  —  besprochen,  und  es  wurde  anerkannt,  das  bisher  kein  Lexi- 
kon der  Alt  vorhanden  sei,  das  man  als  ein  Lexikon  „totius  Anglicitatis"* 
anzusehen  vermöge.  Es  wurde  darauf  der  höchst  wichtige  und  folgenschwere 
Beschluss  gefasst,  gemeinschaftlich  zu  der  Anfertigung  eines  solchen  Wörter- 
buchs zuschreiten  und  ölfcntlich  zu  der  Betlieiligung  an  dem  grossen  Werke 
aufzufordern.  Schliesslich  wurde  ein  Comite,  bestehend  aus  drei  Mitgliedern, 
den  Herren  Ti'ench  (bekannt  durch  sein  Werk:  Study  of  words  und  viele 
andre  Schriften),  Furnivall  und  Coleridge,  ernannt  und  mit  den  Vorarbeiten 
zu  dem  grossen  Plane,  dem  wir  das  erfreulichste  Gedeihen  wünschen, 
beauftragt. 

Dies  Comite   hat  folgende,   hier   in    aller  Kürze  mitgetheilte ,   vorläufige 

65)  impedimento.  '^''■)  piove.  ''■■)  vada.  ""'S)  scalzo.  •"»)  governa.  "o)  saggio. 
'I)  comando.  "-)  quello.  '^)  ingrassare.  ''')  lardo.  ''.■.)  le  facenda.  ■""')  pig- 
natta.  ''')  ghiotto.  ^»)  d.  h.  gibt  es  nicht  noch  andere  Dinge  der  Art? 
■'S)  conti.  «Ol  mezzo  salvato.  ^')  il  mare.  «-)  Tedcsco.  "'■<)  piange.  '^^)  so- 
verchin. 


M  1  s  0  e  1 1  e  u.  209 

Beschlüsse 'gefasst  und  veröffentlicht:  Erstens.  Das  Aufsuchen  unverzeich- 
neter  Wörter  soll  für's  Erste  namentlich  auf  die  weniger  gelesenen  Schrift- 
steller des  IC.  und  17.  Jahrhunderts  gerichtet  werden,  indem  die  Ueber- 
setzungen  von  Philemon  Holland,  Henry  More's  Werke,  Hacket's  Life  af 
Williams  u.  s.  w.,  eine  unglaublich  grosse  und  mit  verhältnissmässig  geringer 
Mühe  herbeizuför^lernde  Menge  Stoff  bieten.  Zweitens.  Ist  ein  Schrift- 
steller oder  das  Wort  eines  solchen  zu  dem  Range  einer  lexikalischen  Auto- 
rität einmal  zugelassen,  so  sind  ohne  Ausnahme  alle  in  demselben  enhalte- 
nen,  bisher  unverzeichneten  Wörter  nachzutragen.  Drittens  wird  Jedweder 
zu  Beiträgen  aufgefordert.  Viertens  wird  jeder  Mitarbeiter  ersucht,  sich 
den  nachfolgenden  Bestimmungen  des  Comite's  fügen  zu  wollen. 

Aufgenommen  sollen  werden  a.  Wörter,  die  in  den  neuesten  Ausgaben 
von  Todd's  Johnson  oder  im  Richardson  nicht  zu  finden  sind.  Wir  erlauben 
uns,  hier  immer  die  vom  Comite  gegebenen ,  als  Richtschnur  des  einzuschla- 
genden Verfahrens  dienenden,  höchst  interessanten  Beispiele  folgen  zu  lassen. 

Umstroke  =  circuniference.  ,Such  towns  as  stand  (one  may  say)  on 
tiptoe,  on  the  very  umstroke,  or  on  any  part  of  the  utmost  line  of  any  map 
.  .  .  are  not  to  be  presumed  placed  according  to  exactness,  but  only  signify 
them  there  or  thereabouts."  (Füller,  A  Pisgah  Sight  of  Palestine  1C50, 
part  I,  b.  1,  c.   14,  p.  4G. 

b.  Wörter,  die  in  den  genannten  Lexicis  allerdings  enthalten  sind,  bei 
denen  aber  eine  Angabe  der  Quelle  fehlt,  wie  das  Wort  fashionist,  in  Rieh, 
und  Johns,  ohne  Quelle,  zu  finden  in  Füller,  A  Pisgah  Sight  part  H,  p.   133. 

c.  Wörter,  zu  denen  sich  ältere  Quellen  als  die  angegebenen  citiren 
lassen.  Als  Beispiel  dient  hier  yacht,  das  in  Johns,  und  Rieh,  mit  einem 
Citat  aus  Cooks  Reisen  belegt  wird.  In  folgendem  Citat  aus  Evelin's  Diary, 
Oct.  I,  IGCl  wird  fast  das  Datum  der  Einführung  dieses  holländischen  Wor- 
tes in's  Englische  angegeben.  I  sailed  this  morning  with  his  Majesty  in  one 
of  his  Yachts  (or  pleasure-boats),  vessels  not  known  araong  us  tili  the  Dutch 
East  India  Company  presented  that  curious  piece  to  the  king,  being  very 
excellent  sailing  vessels. 

d.  Wörter,  die  noch  in  einem  andern  Sinne  vorkommeü  als  die  Lexika 
angeben,  wie  baby  =  Bild  in  einem  Buche.  Diese  Bedeutung  wird  von 
Halliwell  allerdings,  aber  ohne  Quelle  angegeben.  Iri  Sylvester's  Dubartas, 
ed.  London  1C21,  fol.  p.  5  heisst  es: 

We  gaze  but  on  the  babies  and  the  cover, 

The  gaudy  and  flowers  edges  painted  over,  , 

And  never  further  for  our  lesson  look 

Within  the  volunie  of  this  various  book. 

(Es  ist  aus  dieser  Bedeutung  auch  das  bekannte  to  loök  babies  verständ- 
licher geworden.) 

e.  Jetzt  veraltete  Wörter,  für  welche  spätere  Quellen  angegeben  wer- 
den können,  als  in  Johns,  oder  Rieh.  So  citirt  Rieh,  das  Wort  unease  als 
bei  Chaucer  vorkommend,  während  es  viel  später  in  Hacket  Life  of  Williams, 
part  2,  p.  88  gebraucht  wird. 

f.  Wortformen,  die  andeuten,  dass  ein  (romanisches)  Wort  noch  nicht 
Heimathsrecht  erlangt  liat,  wie  extasis,  spectrum  für  extasy  und  spectre  bei 
Burton,  interstitium  für  interstice  in  Füller. 

g.  Unverzeichnete  Phrasen  und  Constnictionen,  wie  at  the  next  grass 
für  next  sumraer,  in  Nordengland  nocli  heute  gebräuchlich  und  zu  finden  in 
Sylvester's  Dubartas,  p.  228.  Es  kommt  später  bei  Swift  vor.  To  satisfy 
in  statt  of  bei  Füller.  Good  Thoughts,  Pickering  18n,  p.  221. 

h.   Citate,   die   die   Etymologie   eines  Wortes   erhellen   oder   seine   erste 

Einführung   in   die   Srhriftsprache.     So   leitet   Füller   fanatlc    von    fanuni   in 

Mixt  Contemplations    in  Better  Times,    I,  p.  •.'12,  ed.    1841.  —  Es    heisst  in 

Mandelsho,  Travels  into  the  Indies,  London  10(j9,  p.  .'>  also:  They  wen-  well 

Archiv  f.  n.  Sprarhen.   XXUI.  11 


210  Miscellen. 

provided  with  that  kind  of  Spanish  wine  which  is  called  ,sack'  though  the 
true  name  of  it  be  Xeqtie  from  the  province  whence  it  comes.  Diese  Ety- 
mologie klingt  nach  etwas.  Aber  wo  in  aller  Welt  ist  die  spanische  Provinz 
Xeque  zu  finden?? 

Alle  Mittheilungen  der  geehrten  Mitarbeiter  sind  an  den  Schriftführer 
des  Comite's,  Herrn  Herbert  Coleridge,  N.  10,  Chester  Place,  Regents  Park, 
London  zu  richten. 

Eine  Mittheilung  über  die  Sitzung  des  5.  November,  an  welchem  das 
Comite  der  philologischen  Gesellschaft  einen  Bericht  über  die  von  ihm  in 
dieser  Angelegenheit  entwickelte  Thätigkeit  und  deren  Erfolge  abzustatten 
hatte,  behalte  ich  mir  für  ein  späteres  Heft  des  Archivs  vor  und  bemerke 
hier  nur,  dass  Coleridge  in  dieser  Sitzung  einen  Aufsatz;  On  some  deficien- 
cies  in  our  English  dictionaries  vorlas,  der  bei  John  W.  Parker  and  Son 
im  Druck  erscheinen  wird. 

Dr.  Büchmann. 


\ 


Peire  Vidal's  Lieder  ed.  Dr.  Bartsch. 

Unter  obigem  Titel  hat  der  schon  durch  mehrere  recht  sorgsame  Arbei- 
ten auf  dem  Gebiete  der  provenzalischen  Literatur  (Lesebuch  1855  und  die 
leider  seltene  Publication  des  Stuttgarter  Vereins  1857)  bekannte  Conser- 
vator  der  Bibliothek  des  Germanischen  Museums  zum  ersten  Male  versucht, 
einen  der  interessantesten  Dichter  aus  der  Reihe  der  Troubadours  selbständig 
zu  behandeln  and  eine  recht  verdienstli  che  Monographie  geliefert.  Auf  eine 
gut  geschriebene,  nach  DIez'  Manier  reich  mit  Ueberselziingen  von  des 
Dichters  Versen  durchstrente  Biographie  (LXV  Seiten)  folgt  eine  Bespre- 
chung des  Formellen,  in  dem,  wie  Bartsch  mit  Recht  sagt,  ein  Hauptreiz 
der  provenzalischen  Poesie  liegt,  wenn  wir  auch  ihm  vollständig  in  seinem 
gegen  Thaies  Bernard  im  Vorworte  ausgesprochenen  Urtheile  beistimmen 
müssen  und  durchaus  nicht  der  noch  allzu  oft  hingeworfenen  Ansicht  hul- 
digen können,  die  provenzalische  Poesie  sei  vom  ästhetischen  Standpunkte 
aus  null.  Auf  Seite  LXXXVI  etc.  folgt  der  Nachweis  der  Manuscripte,  in 
denen  sich  \'idars  Lieder  finden;  es  sind  dies  die  bedeutendsten  provenzali- 
schen Manuscripte  Frankreichs,  Italiens  und  Englands,  doch  fehlen  noch 
einige  in  der  Zahl,  welche,  wie  es  scheint,  dem  Verfasser  unt)ekannt  sind 
und  in  dem  nächstens  von  Guessard  erscheinenden  vollständigen  Verzeich- 
nisse aller  provenzalischen  Lieder  benutzt  werden  sollen ;  es  sind  dies  ausser 
einem  noch  in  Frankreich  befindlichen,  früher  H.  Giraud  gehörigen  1)  Manu- 
scriptum  Saibante  in  Verona,  Copie  von  Vatic.  5232.  2)  Manuscript  von 
Bologna  1290,  3)  Florenz  Laurent.  XLL  43,  4)  id.  XC.  inf.  no.  2.^.  5)  Bibl. 
Riccardi,  die  übrigens  in  Florenz,  nicht  wie  Bartsch  sagt,  in  Rom  ist, 
2981  und  G)  id.  2814.  7)  VaMc  3205.  8)  Barberini  27V7.  !))  Venedig 
Marc.  XL  CIV.  7.  Das  Manuscript  F.  der  Bibliothek  Chigi  soll  wohl  LIV, 
100  sein?  Als  unecht  werden  vierzehn  Lieder  angemerkt,  deren  Anfänge 
allein  hier  erwähnt  werden,  während  acht  andre  zweifelhafte  am  Schlüsse 
der  Anmerkungen  Aufnahme  gefunden  haben.  Nach  der  XCVT  langen  Ein- 
leitung beginnt  die  provenzalische  vida  d'En  Peire  Vidal,  auf  welche  die 
sechsundvierzig  echten  Lieder  mit  (87  —  1-28)  reichlichem  kritischen  Apparate 
folgen.  Ein  zum  leichteren  Auffinden  der  Lieder  angefertigtes  Verzeichniss 
der  Strophenanfänge  und  ein  sämmtliche  Eigennamen,  sowie  die  im  Glossar  zum 
Lesebuche  noch  nicht  aufgenommenen  Worte  enthaltendos  Glossar  schliessen 
das  empfehlenswerthe  Buch,  das  hoffentlich  von  Neuem  beitragen  wird,  der 
provenzalischen  Literatur  Freunde  zu  erwerben,  deren  sie  noch  sehr  bedarf 
und  so  würdig  ist. 


Misoelleii.  211 

Berichtigung. 

In  der  Mittlieilung  „Friedrich  Ferdinand  Adolf  Sack"  (Archiv 
1857,  22.  Band,  1.  und  2.  Heft,  S.  131  —  141  heisst  es  S.  131  von 
F.  A.  Sack: 

„Er  nahm  am  Befreiungskriege  Theil." 

F.  A.  Sack,  der  Dicliter  des  Gedichts  „An  meine  Mitbürger.  Für  den 
l.Febr.  1S14,"  nahm  jedoch  am  Befreiungskriege  nicht  Theil.  Die  S.  141  aus 
B.  G.  Nicbuhr  angetührten  Worte  beziehen  .^iich  auf  K.  II.  Sack,  welcher 
am  Befreiungskriege  'Theil  nalnn.  Mit  F.  F.  A.  Sack  wie  mit  K.  II.  Sack  war 
B.  G.  Nicbuhr  von  Berlin  aus  übrigens  schon  vor  dem  Befreiungskriege 
bekannt. 

Mühlheim.  Dr.  H.  Pröhle. 


Die  Gattin  des  Asan-Aga. 

(Serbisch.) 

Dieses  zarte  Serbenlied  mag  als  Ergänzung  meiner  unter  dem  Titel 
„Wila"  gegebenen  Sammlung  serbischer  Gedichte  gelten.  Es  blieb  damals 
weg,  weil  Goethe  uns  schon  in  seinem  „Trauergesang  der  Frauen  des  Asan- 
Aga"  eine  treftliche  Verdeutschung  davon  gegeben.  Er  fand  den  Stofl'  in 
Forti's  Reisen  nach  Dalmatien.  Wer  seine  Uebertragung  nach  dem  italieni- 
schen Texte  mit  der  hier  mitgetheilten  vergleicht,  wird  erstaunen,  wie  der 
grosse  Meister  auch  hier  in  Form  und  Ausilruck  das  Originelle  der  zu  jener 
Zeit  noch  wenig   gekannten   serbischen  Heldenlieder  herauszufühlen    wusste. 

Was  ist  Weisses  dort  auf  grünen  Hügeln? 
Sollt'  es  Schnee  sein,  oder  sind  es  Schwäne? 
Schnee^  der  wäre  schon  hinweggeschmolzen ; 
Schwäne?  fortgeflogen  wären  Schwäne. 
Schnee  nicht  ist  es,  keine  Schwäne  sind  es: 
'S  sind  des  Aga,  Asan-Aga  Zelte; 
Jammernd  liegt  er  dort  an  schweren  Wunden. 
Seine  Mutter,  seine  Schwester  kamen: 
Doch,  von  Schüchternheit  zurückgehalten, 
Kam  nicht,  ihn  zu  pflegen,  seine  Gattin. 

Als  der  schweren  Wunden  Schmerz  gestillet, 
Lässt  er  seiner  treuen  Gattin  sagen : 
„Sieh  nicht  wieder  mich  in  meinem  Hofe, 
Nicht  im  Hofe  mich  noch  bei  den  Meinen!" 

Als  die  Aermste  diese  ^^'orte  höret, 
Da  verschliesst  sie  still  sich  in  ihr  Zimmer 
Traurig  und  vom  Kummer  tief  gebeuget. 
Plötzlich  schallen  draussen  Pferdetritte, 
Und  da  läuft  das  Weib  des  Asan-Aga, 
In  der  Meinung,  dass  ihr  Gatte  komme. 
Auf  den  Tschardak,  sich  herabzustürzen. 
Doch  ihr  folgen  nach  die  beiden  Töciiter: 
,.Halt,  o  halt  doch!   unsre  liebe  Mutter! 
Nicht  der  Vater  Asan-Aga  ist  es, 
Sondern  Pintorowitsch-Bey,  der  Oheim!" 

Und  da  hält  sie  ein,  die  Ungliickserge, 
Drückt  den  theuern  Bruder  in  die  Arme: 
..Welche  Schmach,  o  Bruder!    Er  v«Tsfösst  mich, 
Mich,  die  iloch  fünf  Kinder  ihm  geschenket!" 

14* 


?lw  Miscelleii. 

Finster  schwelgend  hört  er  diese  ^^'orte; 
Aus  dem  Beutel  drauf  von  rother  Seide 
Zieht  der  Bey  hervor  den  Brief  der  Scheidung. 
Wenn'  sie  wieder  kehrt  zum  Väterhause 
Kiinn  sie  sich  mit  neuem  Brautkranz  schmücken 

Als  sie  drauf  den  Scheidebrief  gelesen, 
Küsst  sie  beide  Knaben  auf  die  Stirne, 
Auf  die  pothen  Lippen  beide  Mädchen, 
Aber  von  dem  Jüngsten  in  der  Wiege, 
Von  dem  Jüngsten  kann  sie  sich  nicht  trennen. 

Ohne  Mitleid  reisst  sie  weg  ihr  Bruder, 
Reisst  mit  Mühe  sie  vom  theuern  Kinde, 
Setzet  sie  auf  seines  Pferdes  Rücken, 
Kehrt  mit  ihr  zurück  zum  Vaterhause.  — 
Lange  blieb  sie  nicht  im  Vaterhause; 
Reich  an  Schönheit  und  von  hoher  Abkunft, 
Suchten  sie  die  Edelsten  des  Landes ; 
Und  der  Edelste  von  allen  Freiern 
War  der  mächt'ge  Kadi  von  Imoski. 

Und  da  fleht  das  Weib  den  lieben  Bruder; 
„Bruder!   —  möcht'  ich  dich  nicht  überleben!  — 
Ich  beschwöre  dich,  o  gib  mich  Keinem ! 
Kummer  würde  mir  das  Herze  brechen; 
Sah'  ich  meine  Kinderchen  verWaiset."^ 

Doch  es  hört  sie  nicht  der  Ali-Bejo, 
Gibt  sie  an  den  Kadi  von  Imoski.  — 

Und  da  that  sie  noch  die  letzte  Bitte; 
Mindestens  ein  Briefeben  möcht"  er  senden, 
J)as  dem  Kadi  von  Imoski  sage: 
„Herr,  die  Neuverlobte  lässt  Dich  grüssen. 
Bittet  dich  durch  dieses  weisse  Briefchen : 
Wenn  du  kommen  wirst  mit  Deinen  Swateny 
Einen  Schleier  Deiner  Braut  zu  bringen, 
Lang  genug  um  ganz  sie  zu  bedecken, 
Dass  nicht  ihre  Waisen  sie  erblicke, 
U'enn  vorbei  sie  zieht  am  Haus  des  Aga." 

Als  der  Kadi  diesen  Brief  gelesen, 
Da  versammelt  er  die  edlen  Swaten, 
Zog  mit  ihnen  aus  die  Braut  zu  holen, 
Kehrten  dann  mit  ihr  von  ihrem  Hofe 
Nach  dem  seinen  unter  lautem  Jubel. 

Ging  der  Zug  vorbei  am  Hof  des  Aga; 
Beide  Töchter  standen  auf  dem  Tschardak. 
Und  erkannten  ihre  liebe  Mutter; 
Beide  Knaben  kamen  ihr  entgegen, 
Riefen  also  ihrer  lieben  Mutter: 
„Halt,  o  halt  doch,  unsre  liebe  Mutter! 
Komm  herein  und  iss  mit  deinen  Kindern.'^  — 

Und  zum  Stariswaten  rief  die  Arme: 
„Stariswat!  o  du  in  Gott  mir  Bruder! 
Lass  vor  diesem  Hof  die  Rosse  halten, 
Dass  Ich  meinen  Waisen  etwas  schenke!" 


Miscellen.  313 


Bei  dem  Hofe  hielten  an  die  Rosse, 
tJnd  Geschenke  gab  sie  ihren  Kindern, 
Gab  den  Knaben  goldgestickte  Schuhe, 
Beiden  ]M;i(1chen  gab  sie  bunte  Kh^ider, 
Und  dem  Kleinsten,  dass  noch  in  der  Wiege, 
Sandte  sie  hinein  ein  schönes  Hemdlein. 

Seitwärts  schaute  diess  der  Asan-Aga, 
Schaute  Alles,  rief  bewegt  den  Knaben : 
„Kommt  zu  mir,  ihr  Waisen!  lasst  die  Mutter! 
Denn  sie  hat  kein  Herz,  die  euch  verlassen !"  - 

Siehe!  da  erbleicht  die  arme  Mutter, 
Sinkt  zu  Boden,  höret  auf  zu  athmen. 
Denn  zu  heftig  drückte  sie  der  Kummer, 
Ihre  Kinderchen  verwaist  zu  sehen.  — 


V\  .  Gerhard. 


Lied   eines    alten    Seemanns. 

"(Siehe  Collection    of  British    Authors,  Vol.  383,   j>.  273.) 

Schwerern  Sturm  hab'  ich  gesehen, 
StärkVe  AVindsbraut  traf  mein  Ohr. 
Schjft'bruch  litt  ich  nah  bei  Algier, 
Sechsunddreissig  Jahr  zuvor. 
Jung  war  ich,  doch  alte  Seeleut' 
Nicht,  wie  ich,  in  fester  Ruh'. 
Einen  Schatz  ja  bot  das  Leben, 
Der  das  Sterben  nicht  liess  zu. 

Kämpft'  um's  Leben,  auch  es  rettend, 
Leben  nur,  nichts  And'res  mehr. 
Wund,  halbtodt,  allein  und  bülflos. 
Trieb  ich  an  das  Ufer  her. 
Harte  Meeresfelsen  schaut'  ich 
Bei  so  hohem  Wellenschlag; 
Wie  aus  Freundesschoos  wai-f  Fluth  mich, 
Hart  an  Menschenbrust  ich  lag. 

Starr  und  öde  zog  die  Bergkett' 
Schwarz  von  Schluchten  durch  das  Land, 
Bis  dahin,  wo  öde  Wüste 
Breitet   aus  den  glühn'den  Sand. 
In  den  Schluchten  dieser  Berge, 
Nahe  an  des  Meeres  Rand, 
"Wohnten  Ilorr'u  mir,  hart  und  grausam, 
I  Schwarze  Mohr'n  am  Berbernstrand. 

Zehn  der  Jahr'  litt  dort  ich  Mühsal, 
Hoffnungslos,  so  sagt'  ich  dort. 
Doch  nun  weiss  ich's,  Hoffnung  flammte 
Jeder  neue  Tag  sofort. 
Jene  Zeit  der  Muh'  und  Schmerzen 
War  ein  TrMum,   den  Nacht  gebar. 
Nur  ein  Tag  des  bangen  Warten.s, 
Nun  ist  jeder  Tag  ein  Jahr 

Wie  ich  flucht',  dem  Land,  dem  Kerker, 
Und  dem  schlangenful.-chen  Meer, 


214  MisccIIcn.    ' 

Und  ilem  Dämon  Schicksal,  giessend 
Alle  Schrecken  :iuf  mich  her! 
Rasend  war  ich,  Gott  verzeihe 
Reden,  schrecklich  und  voll  Siind'. 
Dies  sollt'  sein  die  letzte  Reise, 
Liess  ich  dort  ja  Weib  und  Kind. 

Nimmer  schwand  das  holde  Bildniss, 
Nimmer  weg  von  meinem  Blick ; 
Keinmal,  selbst  im  Sclavenstande, 
Blieb's  bei  Tag,  bei  Nacht  Zurück. 
Labend  in  der  Seele,  wehrt  es 
Der  Verzweiflung  düst'rer  Macht; 
Nicht  war  ganz  mein  Herz  gebrochen, 
Da  ihr  Leben  Heil  mir  bracht'. 

"Wenn  zur  Nacht  mein  Werk  gethan  war, 
Eilt'  ich  an  des  Meeres  Strand; 
AHes  war  so  fremd,  so  fern  dort, 
Nichts,  wie  ich's  vorher  gekannt. 
Seltsam  blickten  öde  Gipfel, 
Rothe  Tag'sgluth,  schwarze  Nacht, 
Und  die  Oleander,  winkend 
Zum  Geräusch,  vom  Quell  gebracht. 

Auf  die  Fhith  dann  blickt'  ich  starrend,' 
Und  mir  ward  zum  Freunde  sie; 
Da  sie  ja  Altengland  netzte, 
Air  mein  Leid  ich  ihr  verzieh'. 
Droben  mahnte  Himmelswölbung 
Mit  der  weissen  W'olkchen  Flaum, 
Und  die  Sterne,  hier  nur  heller, 
An  der  Heimath  Zeit  und  Raum. 

Und  es  überkam  mich  Stille, 
War  auch  wohl  erschöpft  und  matt. 
Wilde  Sehnsuchtsqual  verliess  mich, 
Ruhe  ti'at  an  ihre  Statt. 
Auf  des  W'assers  Silber  blickt'  ich. 
Zu  des  Himmels  fernem  Blau, 
Und  daneben  fluthet'  schmerzlich 
Traum  von  Lieb'  und  Heimathsau. 

Ein  Gesicht,  so  schön,  doch  traurig, 
Augen  blau,  von  Thränen  schwer, 
Zarte  rothe  Lippen,  zitternd, 
Lächelnd  als  ob  Furcht  nicht  war'. 
Meinem  Arm  das  Kindlein  bietend  — 
Blickt  auf  mich  von  Himmelshöhn, 
So  wie  ich,  zu  Schiffe  gehend, 
Sie  zum  letztenmal  gesehn. 

Manchmal  —  dann  befiel  mich  Wehmuth 
Ob  der  Jahre  schnellem  Fliehn  - 
Älalte  ich'sie  mir  verändert, 
Und  des  Kindleins  Jugend  hin. 
Sie,  nicht  mädchenhaft  mehr  blühend, 
llatt'  das  Kindlein  neben  sich, 
Ihr  Gesicht  nun  blass  und  trübe 
Durch  des  Kummers  Qual  um  mich. 


Misccllen.  215 

Sah'  sie  dann,  wie  nu-lir  es  dunkelt, 
Zeigend  ihm,  wif's  beton  soll, 
Seine  zarten  1  Linde  faltend, 
Für  des  fernen  Vaters  AVohl; 
Fühlte  stärker  ihren  Kummer, 
Als  ich  meinen  je  empfand, 
Ihren  kurzen  Lc-bensfrijliling, 
Und  wie  schnell  ihr  Glück  entschwand, 

Bis  auf  meine  Hände,  hart  nun 
Von  der  Arbeit  jahrelang, 
Aus  dem  Traum"  mich  schmerzlich  weckend, 
Bitt're  Thrän'  vom  Auge  drang; 
Dann  erwacht'  ich,   ein  Verstossner, 
Von  der  lleimath  fern,  ein  Sclav', 
Ein  von  Mecrestief  Umschlungner; 
^^' einend  sank  ich  dann  in  Schlaf. 

Jahre  flössen  so!    Mein  Kummer, 
Kuhiger,  doch  wachsend  noch. 
War  mein  Schild  für  alle  Schmerzen, 
Schwächer,  als  die  ihren,  doch. 
Meines  Herrn  grausame  Härte 
War  vergebens  angethan. 
Doch  die  Kunde  uns'rer  Leiden 
Ueberschritt  den  Ocean. 

Ihr  vernahmt  aus  ferner  Gegend 
\'ou  freiwilligem  Verband," 
Loszukaufen  Christensclaven, 
Leidend  in  Barbaren-Land. 
Diese  mildgesinnteu  Fremden, 
Jährlich  gehn  von  Rom  sie  aus, 
Tragend  schwer  erworb'ne  Lösung, 
Die  Verbannte  brächt'  nach  Haus. 

Ich  ward  frei.     Sie  brachten   frcundhch 
Mir  die  frohe  Kunde  hin  — 
Stund'  verfloss  um  Stund',  ich  wiisst'  nicht, 
Was  da  sei  der  Rede  Sinn. 
Besser  noch  ist's  wohl,  wenn  Sorge, 
Die  dem  Ird'schen  näher  liegt. 
Anstrengt  alle  Herzensfasern, 
Als  wenn  Freude  ganz  sie  bricht.  x 

Endlich  hatt'  ich  es  bcgnifen ; 
Schnell  uiul  stark  schlug  mir  das  Herz. 
Was  war  nun  die  Zeit  des  Wartens, 
Was  all'  der  vergang'ne  Schmerz, 
Gegen  das  gewalt'ge  Sehnen, 
Das  nun  iiber's  Meer  mich  trieb, 
Gegen  dieses  Zeitraums  Länge, 
Der  mir  bis  zur  Heimalh  bheb? 

A\'ic,  die  Reise  ging,  nicht  weiss  ich's ; 
Seltsam  war's,  so  da/.ustehn. 
Um  mich   lier  die  Lamlsgenosscm, 
Mich  an  ICnglamls  Hand  zu  sehn. 
Doch  mein  Herz  war  inmier  träumend 


216  Miscellen. 

Von  des  ersten  Wortes  Klang, 
Jener  süssen  Stimme  Nachhall, 
Die  zum  Herzen  einst  mir  drang. 

Würd'  ich  sie  verändert  finden, 
Plötzlich  fassend,  was  geschehn, 
Schau'n  der  Wang  erröthend  Leuchten 
Ihres  Auges  Glanz  •erhöh'n? 
Würd'  belauschen  Furcht  und  Zweifel, 
Regen  dann  das  tiefe  Weh 
Und  den  Wogenschlag  der  Freude, 
Bis  in  Fried'  es  übergeh'? 

Und  das  Kind!    Doch  was  erwäh'n  ich, 
Wie  Gedanke  war  ein  Thor! 
Jeder  Baum  trat,  jede  Hecke, 
Aus  Vergangenheit  hervor. 
Meine  liebe  Hütte  malt'  ich. 
Flamme  strahlend  drin  umher, 
Und  die  zwei,  daneben  sitzend, 
Harrend  meiner  Wiederkehr. 

Endlich  kamen  wir  zum  Hafen. 
Nichts  weiss  ich,  bis  dort  ich  stand 
In  des  wunden  Herzens  Weinen, 
Auf  dem  Thürschloss  ruht'  die  Hand. 
Ein  nun  hielt  ich,  hört'  sie  sprechen, 
Leise  sprechen  murmelnd  Wort; 
Jetzt  begriff  ich  erst  den  Schrecken, 
Dacht'  ich  tof^t  sie  mir  noch  dort. 

Abend  war's  im  späten  Herbste, 
Rauher  Wind  durchblies  das  Thal, 
Um  mich  fielen  welke  Blätter, 
Roth  der  Hügel  war  vom  Strahl. 
Sechsundzwanzig  Jahr  seitdem  sind's, 
Alt  bin  ich  und  grau  zur  Zeit  — 
Doch  verrieth  ich  Menschenohre 
Niemals,  was  ich  sah',  bis  heut. 

An  des  Heerdes  Flamme  sass  sie, 
Ihr  im  Arm  ein  Kind  sich  schmiegt*, 
Schweichelworte  sprach  sie  flüsternd 
Sah'  dann  lächelnd  auf  vergnügt. 
Lächelnd  dem,  der  nah  dabei  stand     - 
Ach!  die  Wahrheit  Ing  enthüllt  — 
Mit  des  Auges  trauter  Milde, 
Die  mir  sonst  das  Herz  gefüllt. 

Auf  stand  sie,  zu  nur  sich  wendend, 
Wartend  stand  ich,  stumm  und  kalt  — 
Mit  des  Schreckens  Schrei,  erblassend 
Von  Verzweifelungsgewalt. 
Er,  ein  alter  Schiffsgenosse  — 
Keiner  gab  ein  Wort  von  sich, 
Wie  wir  aufeinander  blickten; 
Er  war  lebend,  todt  war  ich. 

Näher  trat  ich,  zu  ihr  näher, 
Fasst  der  Zitternden  die  Hand, 


Miscellen.  217 

Sah'  ihr  in's  Gesicht,  in's  blasse, 

Bis  ilir  Herz  das  ganz  verstand, 

NVas  von  Liebe,  was  von  Mitleid 

Nicht  die  Lippe  sprechen  mag. 

Doch  Gott  Dank!    Nur  Schmerzempfindung 

Kam  uns  an,  bis  diesen  Tag. 

Bitt're  Thriiiicn  dann  wir  weinten, 
Wir  gebroch'ner  Herzen  drei. 
In  des  Augenblicks  Bedrängniss; 
Lächelnd  schlief  das  Kind  dabei. 
Tliränen  nur,  und  keine  Rede, 
Bis  mir  kündeten  die  Zwei, 
Dass  mein  Knabe  —  fast  vergessen 
Hatt'  ich  ihn  —  dahin  schon  sei.  — 

Endlich  stand  ich  auf,  mich  wendend, 
Drückt'  die  Hand  ihm  ohne  Wort, 
Sie  doch  küsst'  ich  auf  die  Stirne, 
Als  ob  mein  sie  sei  noch  fort. 
Keine  Sylb'  sagt'  ich  von  Abschied; 
Nur  gebrochen  sprach  ich's  aus, 
Dass  der  Gott  der  Lieb'  sie  segne  ~~ 
Dann  verliess  ich  still  das  Haus. 

Sechsundzwanzig  Jahr  durchschwimm'  ich 
Nun  der  Meere  weiten  Schrein. 
Air  die  alten  Zeitgefahrten 
Nahm  zum  Tod'  die  Heimath  ein. 
Heimath  I    Ja,  ich  werd'  sie  finden, 
Einst  find'  ich  der  Ruhe  Lust, 
Sie  dort  treff"  ich,  meiner  wartend. 
Unser  Kind  ihr  an  der  Brust. 
Crefeld.  Risler. 


Pat  ois. 

Man  hat  bisher  drei  'Versuche  gemacht,  dies  Wort  zu  erklären.  Man 
behauptet  erstens,  es  sei  entstanden  aus  dem  altfranzösischen  pai's  thiois, 
wörtlich:  deutsches  Land.  1)  ist  dabei  nicht  recht  einzusehen,  warum  man 
eine  Sprache  ein  Land  genannt  haben  solle,  oder  warum  man  nicht  kür- 
zer tiois,  deutsch  im  Gegensatze  zu  französisch  gesagt  habe.  2)  begreift 
man  auch  nicht,  warum  die  Bezeichnung  patois  gerade  nur  sich  auf  das 
Deutsche  beziehen  solle,  da  es  doch  jeden  provinciellen  Dialect  gegenüber 
der  gemeingültigen  Sprache  bezeichnet,  obgleich  das  specielle  Wort  aller- 
dings ein  generelles  geworden  sein  könnte,  wie  ja  baragouin  ursprüng- 
lich von  der  breton.  Hennung  bara  Brot  und  gwyn  Wein  nur  bretonisches 
Kauderwälsch,  jetzt  Kauderwelsch  überhaupt  bedeutet.  3)  ist  es  eine  starke 
Zumuthung  sich  das  viersylbige  pais  thiois  in  ein  zweisylbiges  patois  zu- 
sammengezogen denken  zu  sollen,  so  dass  die  betonte  Sylbe  i  in  pais  gänz- 
lichen Wegfall  erleide,  und  tiois  in  toi  zusammenlaufe.  (Sonst  fällt  im 
Roman,  zur  Vermeidung  des  Hiatus  der  2.  Vokal  aus.)  Diese  drei  Gründe 
haben  Diez  auch  wohl  bewogen,  dieser  Etymologie  in  seinem  Wörterbuche 
auch  nicht  einmal  die  Ehre  der  Erwähnung  angedeihen  zu  lassen.  Ebenso 
geht  er  mit  Stillschweigen  über  die  AVjleitung  des  Wortes  patois  von  pa- 
trius  seil,  sermo,  also  Sprache  des  väterlichen  Hauses,  oder  vielmehr,  wenn 
wir  patrius  von  patria  herleiten,  Sprache  des  \'aterlandes,  hinfort.  II  parle 
I)atois,    wäre   alsdann,    er    spricht    vaterländisch.     Diese  Etymologie   vergisst 


218  Miscellen. 

nur,  dass  das  Französische  wie  das  Provenyalische  vor  der  Endung  ms  und 
eus  Scheu  haben,  ferner,  dass  gar  kein  Grund  vorhanden  ist,  warum  r  in 
patrius  ausgefallen  sein  sollte,  da  sonst  in  tr  vielmehr  t  ausfüllt,  nourrir 
(nutrire),  pierre  (petra),  arriere  (adretro),  verre  (vitrum) ,  dann  dass  es  ge- 
wagt ist,  aus  dem  proparoxytonon  patrius  ein  auf  der  letzten  betontes 
patois  zu  machen.  Ich  weiss  wold,  dass  es  in  dem  Charakter  einer  roma- 
nichen  Endung  liegt,  syllabisch  zu  sein  und  den  Ton  zu  haben  und  dass 
deswegen  romanische  Sprachen  gar  nicht  anstehen,  ein  kurzes  i  in  Inus  in 
cristallino  zu  einem  langen,  oder  aus  der  Endung  lolus,  iölo,  filiolus,  figliuölo, 
also  aus  pätria,  patrie  zu  machen;  aber  gerade  in  der  Endung  ius  scheint 
das  Romanische  von  dieser  Sitte  keinen  Gebrauch  gemacht  zu  haben ;  aus 
ebrius,  proprius,  sapius,  nescius  (und  damit  wird  sich  der  Vorrath  derer  auf 
ius  wohl  erschöpft  haben),  ivre,  propre,  sage,  nice,  prov.  ivre,  nesci,  sage, 
so  dass  man  also  kein  ebrius,  nescius  gebildet  hat,  und  doch  sollte  man 
patrius  gebildet  haben,  bevor  daraus  patroie,  dann  patois  hervorgehen  konnte, 
wie  aus  via,  voie.  Aber  wäre  dem  auch  so,  so  steht  uns  hier  noch  im  Wege, 
dass  sich  die  französische  Adjectivendung  ois  oder  ais  niemals  auf  latei- 
nisches ius  zurückführen  lässt,  sondern  nur  auf  die  Endungen  iscusund  ensis. 
So  stehen  wir  denn  rathlos  vor  diesem  Worte,  und  selbst  unser  hoch- 
geschätzter Altmeister  Diez  weiss  kein  Auskunftmittel  als,  wie  er  in  seinem 
^Vü^terbuche  thut,  das  hennegauische  pati-pata,  Geschnatter  anzuführen,  um 
auf  Grund  dieses  Wortes  von  patois  zu  sagen ,  es  sei  also  wohl  ein  Natur- 
ausdruck. Dies  „also  wohl"  ladet  ein  auch  nach  Diez  noch  zu  versuchen, 
ob  sich  nicht  für  patois  eine  einfachere  Ableitung  auffinden  lasse,  um  so- 
mehr  als  er  selbst  in  der  Vorrede  zu  seinem  Wörterbuche  sagt:  dem  Natur- 
ausdruck als  Bildungsmittel  der  neuen  Sjn-achen  ist  kein  zu  weites  Feld  ein- 
zuräumen ;  manches  Wort,  das  man  auf  diesem  A\'cge  entstanden  wähnt,  kann 
sich  noch  als  Sprössling  eines  alten  Stammes  ausweisen.  Bekanntlich  ist 
,pays,  früher  pais  von  pagense  herzuleiten.  Der  Uebergang  fand  nach  all- 
gemeinen Lautgesetzen  also  statt:  n  vor  s  erleidet  Syncope,  wie  schon, 
ich  citire  Diez,  im  Lateinischen  passus  für  pansus,  tusus  für  tunsus  steht 
und  wie  es  in  maison  für  mansio,  coüter  für  constare,  metier  für  ministe- 
rium,  mois  für  mensis  geschieht;  wir  hätten  also  pagese ,  g  fällt  aus  und 
lang  e  geht  in  i  über,  wie  in  cire  aus  cera,  raisin  aus  racemus,  venin  aus  ■ 
venenum.  Ebenso  gut,  oder  vielmehr  nach  eigentlicher  Regel  geht  langes  e 
in  oi  über,  wie  in  avoine  aus  avena,  moi  aus  me,  soir  aus  sera,  holr  aus 
herus,  avoir  aus  habere.  Es  steht  also  gar  nichts  entgegen ,  dass  wie  man 
sich  carthaginois  aus  carthaginiensis ,  bordelols  aus  burdegalensis ,  orlenois 
(altfranzösiscli)  aus  aurelianensis,  hervurgequollen  zu  denken  hat,  man  sich 
aus  pagense  die  Doppelformen  pais  unil  paoi's  ableitet,  und  diesem  letzteren 
ein  im  französischen  nicht  ungewöhnliches  euphonisches  t  zusetzt,  wie  (ich 
citire  Diezj  abriter  für  abrier,  cafetier  für  cateier,  caillouteux  für  cail- 
loueux  steht.  Lautlich  und  begrifflich  lässt  sich  diese  Ableitung  also  recht- 
fertigen, denn  patois  würde  demnach  wörtlich  ländliche,  provincielle  Sprache 
bedeuten.  Als  fernere  Unterstützung  dieser  Herleitung  möge  noch  erwähnt 
werden,  dass  die  Endung  ois  öfter  zur  Bezeichnung  einer  Ausspracheweise 
dient;  so  heisst  im  altfranzösischen  clenjunis  gelehrte  Sprache  oder  Latein 
und  von  narquois,  das  Diez  mit  Friscli  von  dem  in  den  Isidor'schen  Glossen 
enthaltenen  nario,  Naserampfen  ableitet,  sagt  die  Akademie :  Parier  narquois, 
parier  un  certain  jargon,  un  cortain  langage  qui  n'est  entendu  que  de  ceux 
qui  sont  d'intelligence  ensemble  pour  tromiier  quelqu'un  und  in  demselben 
Sinn,  wie  man  von  einem  ungehobelten  und  sich  in  einer  neuen  gesellschaft- 
lichen Stellung  nicht  zurechtfindenden  Menschen  sagt:  II  sent  son  pays,  citirt 
Bescherelle  aus  Brantonie  in  demselben  Sinn:  II  sent  son  patois,  so  dass 
also  in  beiden  Redensarten  pays  und  patois  so  identisch  gebraucht  werden, 
wie  sie  es  etymologisch  sind.  (^j_  Büchmann. 


Bibliographischer  Anzeiger. 


Allgemeines. 

I.  G.  Th.  Gracssc,  Tresor  des   livres  rares   et  prdcieux   ou  nouveau  dio- 
tionnaire  bibliographique.     Livr.  I.     (Dresden,  Kuutze.)  2  Thlr- 


Literatur. 


Ulfila  oder  die  uns  erhaltenen  Denkmäler  der  gothischen  Sprache.  Text, 
Grammatik,  Wörterbuch.  Bearbeitet  von  F.  L.  Stamm.  (Paderborn, 
Schoeningh.)  l^/.,  Thlr. 

Th.  G.  V.  Karajan,  zwei  bisher  unbekannte  deutsche  Sprachdenkmale  aus 
heidnischer  Zeit.     (Wien,  Gerold.)  8  Sgr. 

J.  Mutz  eil.  Geistliche  Lieder  der  evangelischen  Kirche  aus  dem  17.  und 
der  ersten  Hiilfte  des  18.  Jahrhunderts,  von  Dichtern  aus  Schlesien  und 
den  umliegenden  Landschaften  verfasst.  LBd.  (Braunschw.,  Schwetschke 
und  Sohn.)  22/3  Thlr. 

Goethe's  Lyrische  Gedichte.  Für  gebildete  Leser  erläutert  von  H.  Düntzer. 
(Elberfeld,  Friedrichs.)  T'/a  •''gr. 

Fr.  V.  Schiller,  Die  Künstler.  Ein  didaktisches  Gedicht  von  F.  Friedemann. 
(Leipzig,  Fleischer.) 

B.  Gerlinger,  die  griechischen  Elemente  in  Schillers  Braut  von  Messina. 
(Augsburg,  Kollmann.)  15  Sgr. 

Geist  deutscher  Classiker.  Hrsg.  von  E.  v.  Feuchtersieben.  7.  Klinger, 
8.  Lessing,  9.  Hippel,  10.  Lichtenberg.  (Wien,  Hartleben.)     U  10  Sgr. 

G.  n.  Lewes,  The  lite  and  works  of  Goethe.  2.  Edition.  (Leipzig,  Brock- 
haus.     Vol.  L  21/,  Thlr. 

W.  Menzel,  Deutsche  Dichtung  von  der  ältesten  bis  auf  die  neueste  Zelt. 
1.  Lieferung.     (Stuttgart,  Krabbe.)  7V2  Sgr. 

Proben  neuerer  deutscher  Lyrik.     (Goettingen,  Wigand.)  18  Sgr. 

Jahrbuch  deutscher  Dichtung,  hrsg.  von  K.  Weller.  (Augsburg,  Koll- 
mann.) l.")  Sgr. 

E.  Fiedler,  Geschichte  der  volksthümlichen  schottischen  Lieder-Dichtung. 
2  Bde.     2.  Aufl.     (Leipzig,  Violet.)  2  Thlr. 

E.  Ling,  Aus  der  Edda.     Deutsche  Nachklänge   in  neuen  Liedern.     (Nord- 

hausen, Forste  mann.)  ^U  Thlr. 

F.  Dörr,  Griechischer  Liederschatz.    In  deutscher  Nachdichtung.    (Leipzig, 

Voigt  u.  Günther.)  1   Thlr. 

Keinhold  Dezeimbris,   Notice   sur  Pierre   de  Brach,   poete  bordelais  du 

XVI.  .'^iecle.     (Paris,  Aubry.)  G  Fr 


220  Bibliographischer  Anzeiger. 

G  r  a  m  111  a  t  i  k. 

R.  Bechstein,  Die  Aussprache  des  Mittelhochdeutschen.   (Halle,  Pfeffer.) 

16  Sgr. 

J.  Kudelka,    Ueber   Herrn    Dr.  Brücke's   Lautsystem.     (Wien,    Gerold.) 

10  Sgr. 

inchauspe,  Le  Verbe  basque,  Ouvrage  publie  p.  le  prince  Louis-Lucien 
Bonaparte.     (Paris,  Duprat.)  20  Fr. 

G.  ß.  Bolza,  Grammatica  della  lingua  italiana.    (Wien,  Gerold.)     12  Sgr. 


Lexikographie. 

A  complete  Dictionarjv   English,    German,  French,  on  an  entirely  new  plan. 

(London,  Trübner.)  10  S.  6  d. 

J.  Krimmel,    Taschenwörterbuch    der   englischen    und    deutschen   Sprache. 

(Reutlingen,  Fleischhauer.)  18  Sgi^. 

J.  Lyrage,   Taschenwörterbuch   der  französischen  und  deutschen  Sprache. 

(Reutlingen,  Fleischhauer.)  16  Sgr. 

Diccionario  trilingue,    Castellano,  Bascuense  y  Latin,  por  el  P.  M.  de  Lar- 

ramendi.     2  Bde.     (San  Sebastian.)  2  L. 

Vocabulaire  de  mots  basques  bas-navarrais  traduits   en  langue  fran9aise  par 

M.  Salaberri.  6  S. 


H  i  1  f  s  b  ü  c  h  e  r. 

B.  Vogt,    Deutsche   Sprach-    nnd   Aufsatzlehre    mit    300   Uebungsaufgaben. 

(Augsburg,  Kollmann.)  C  Sgr. 

Das  Nibelungenlied  in  der  älteren  Gestalt  mit  Wörterbuch  versehen  von 
A.  Holtzmann.    Schulausgabe.    (Stuttgart,  Metzier.)      1  Thlr.  5  Sgr. 

A.  Bacmeister,  Das  Nibelungenlied,  für  die  Jugend  bearbeitet.  (Stutt- 
gart, Bode.)  18  Sgr. 

Brentano,  Deutsche  Grammatik  und  Stilübungen  für  Realschulen.  (Nürn- 
berg, Schmid.)  8  Sgr. 

A.  Baal,  Die  deutsche  Rechtschreibung,  für  Volksschulen.  (Wiesensteig, 
Schmid.;  12  Sgr. 

(t.  H.  Högg,  Deutsche  Rechtschreibung  nach  R.  v.  Raumer's  Regeln.  (Ell- 
wangen,  Hess.)  4  Sgr. 

J.  E.  Rieder,  Lehrbuch  der  Redekunst.  2.  Ausg.  (Gratz,  Hesse.)     -3  Thlr. 

H.  T.  Traut,  Deutsches  Spz-achbuch  für  deutsche  Schulen.  (Leipzig, 
Brockhaus.)  1.5  Sgr. 

G.  Möhl,  Theoretisch-praktischer  Lehrgang  zur  Erlernung  der  französischen 
Sprache.     (Leipzig,  Brockhaus.)  1.5  Sgr. 

G.  H.  F.  de  Castres,  Elementarbuch  zur  Erlernung  der  französischen 
Sprache.     2.  Aufl.     (Altena,  Verlagsbureau.)  7'/o  Sgr. 

C.  Ploetz,    Conjugaison   fran9aise.     Franz.   Vorschule.     2.  Stufe.      (Berlin, 

Herbig)  9  Sgr. 

Gr.  Kennedy,  Anna  Ross.     Traduit  de  l'Anglais.     Mit  Wörterbuch  von  A. 

Bauer.     (Celle,  Schnitze.)  10  Sgr. 

S.  D.  Wadely,    The  English   echo:    a   practical  guide  to   the  conversation 

and  customs  of  every-day  life  in  Great-Britain.  25  Sgr. 

H.  Plate,      Guide  de   la  conversation   franc^aise    et  allemande.     (Hannover, 

EhlernKinii  )  '•i/,  Thlr. 


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Was   spricht    die    Sprache? 


„Die  Sprache  ist  der  Ausdruck  des  Gedankens."  —  Die- 
sem Satze  begegnen  wir  in  vielen  Büchern  unsrer  Zeit,  und 
er  hat  sicli  die  Gehung  eines  Spruches  erworben  ;  doch  ist  er 
unzulänghch.  Ist  die  Sprache  der  Ausdruck  des  Gedankens, 
so  Hegt  in  dieser  Behauptung,  dass  ausser  ihr  nichts  den  Ge- 
danken auszudrücken  fähig  sei.  Doch  auch  der  Bildner  drückt 
seine  Gedanken  in  einem  Stoffe  aus ,  der  der  Sprache  unzu- 
gänglich ist ;  viele  andere  menschliche  Thätigkeiten,  vor  Allem 
die  eigentlich  sogenannte  Handlung,  die  freie  sittliche  That,  sind 
Ausdrücke  des  Gedankens. 

Aber  der  Begriff  des  Gedankens  soll  ein  höherer  sein, 
sagt  man.  Das  Wort  Gedanke,  heisst  es,  bedeute  eben  nur 
die  höchste  Entwicklung  aller  Geistesfähigkeit,  nämlich  die 
freie  selbstbewusste,  und  für  diese  sei  kein  Mittel  adäquat,  als 
die  Sprache.  —  Es  mag  Avohl  der  Zwiespalt  des  gemeinen  und 
wissenschaftlichen  Sprachgebrauchs  Schuld  sein,  dass  man  sich 
über  den  Begriff  des  Wortes  Gedanken  selbst  nicht  einigen 
kann.  Das  Denken,  so  sagt  die  neuere  Philosophie,  ist  das 
Wesentlich-Menschliche,  die  allein  wahre  Thätigkeit  des  Geistes; 
der  Gedanke  ist  bald  ein  Act  des  Denkens,  bald  der  Com- 
plex  alles  Gedachten  zusammen.  Wie  sich  Gedanke  von  Be- 
griff und  Idee  scheiden,  bleibe  hier  noch  unberührt. 

Wir  finden  dagegen  Veranlassung,  unbeschadet  der  Rechte 
philosophischer  Synonymik,  dem  gemeinen  Sprachgebrauche  uns 
anschliessend  in  den  Worten:  „Gedanke,  Denken"  die  allge- 
meinste Thätigkeit  des  Geistes  zu  erkennen,  diejenige,  welche 
alle     übrigen    Gestalten     und    Entfaltungen    begleitend     sowohl 

Archiv  f.  n.  Sviraclien.  XXUI.  '  j5 


222  Was  spricht  die  Sprache? 

Quelle  als  Ziel  der  Geistesarbeit  sei,  also  die  niederste  wie 
die  höchste  seiner  Thätigkeiten  bezeichne.  Damit  sind  wir 
einstweilen  der  weitern  Unterscheidung  überhoben  von  Ver- 
nunft, Geist,  Gedanken,  Begriff  etc.,  deren  logische  Bedeutung 
dem  Streite  der  Schulen  angehört.  Vernunft  und  Selbstbewusst- 
sein,  heisst  es,  sei  des  Menschen  Vorzug  vor  dem  Thiere;  des- 
gleichen die  Religion  etc.  Diese  syncretistischen  Behauptungen 
haben  uns  so  lange  beunruhigt,  bis  wir  erkannten,  dass  der 
specifische  Standpunkt  des  Sprachlebens ,  der  archimedische 
Angelpunk't  der  Sprachphilosophie,  durch  jene  Gemeinplätze 
noch  nicht  berührt,  kaum  geahnt  sei.  Denn  wenn  alle  jene 
Dinge  des  Menschen  Vorzus^  sind  und  alle  auch  ihrerseits 
Geist  und  Gedanken  in  sich  tragen:  was  ist  denn  nun  das 
Sonderreich  der  Sprache? 

Die  Sprache  ist  nicht  einziger  Ausdruck  des  Gedankens. 
Es  fragt  sich  weiter,  ob  sie  ausser  dem  Gedanken  etwas 
auszudrücken  fähig  sei.  Es  könnte  so  scheinen,  wenn  man  die 
Region  des  Gefühles  und  den  Gebrauch  des  täglichen  Lebens 
als  solche  Gebiete  ausserhalb  des  Gedankens  betrachten  wollte. 
Hiergegen  ist  freilich  zu  erwiedern,  dass  das  bloss  in  thierischen 
Tönen  offenbarte  Gefühl  noch  nicht  zur  Sprache  geworden,  so- 
bald aber  dieses  Gefühl  oder  jene  Bedürftigkeit  in's  Bewusst- 
sein  trete,  so  beginne  die  acht  menschliche  Ausdrucks  weise, 
indem  die  freie  Geistesthätigkeit,  der  Gedanke,  zu  wirken  sich 
entschliesse,  in  Wirklichkeit  ausbreche:  und  dieses  eben  sei  die 
Sprache. 

Doch  ist  hiermit  wenig  gewonnen.  Zugegeben  nämlich, 
dass  alles  Gespi-ochene  Gedachtes  enthalte:  so  tritt  eine  zweite 
Frage  hinter  jener  ersten  auf:  drückt  die  Sprache  den  Gedan- 
ken ganz,  drückt  sie  den  ganzen  Gedanken  aus?  Es  braucht 
nicht  erinnert  zu  Averden,  wie  viele  Gedanken  unausgespi-ochen 
bleiben ;  wenn  man  auch  gewohnt  ist ,  in  Worten  zu  denken, 
so  ist  doch  allezeit  ein  Ueberschuss,  der  nicht  in  Worte  auf- 
geht, und  dieser  nicht  gedankenlos,  sondern  oft  ein  bestes 
Theil  des  Gedachten.  '  Auch  die  gewaltigsten  Denker  und 
Meister  des  Wortes  haben  nicht  Alles  ffesao-t ,  was  sie  dachten 
und  konnten  es  nicht.  Oft  vernehmen  wir  Klagen  selbst  jener 
Gewaltigsten,  von  der  Unzulänglichkeit  des  Wortes,  von  Miss- 


Was  spricht  die  Sprache?  223 

deutung,  Missverstancl  und  I  lalbver stand,  *j  wo  wenn  das  Wort 
den  Gedanken  erfüllte,  kein  Zweifel,  keine  Klage  zu  erwar- 
ten wäre.  Es  hilft  niclits,  sich  mit  der  Ausrede  zu  trösten,  nur 
die  unvollendeten  Gedanken  hätten  unvollkommenes  Wort,  und 
der  werdende  Gedanke  suche  sein  Wort,  und  erst  das  gelun- 
gene deutliche  Wort  sei  ein  abgeschlossener  wahrer 
Gedanke,  liiero-eo-cn  aber  ist  zu  erwiedern ,  dass  die  Unzu- 
länglichkeit,  die  Nicht-Congrucnz  von  Wort  und  Gedanke 
dennoch  überall,  sogar  bis  in  die  Bezirke  des  absoluten  Ge- 
dankens hinein,  sich  erstreckt.  Wenn  z.  B.  der  Philosoph  die 
Idee  des  Schönen,  des  Rechtes  etc.  entwickelt,  so  setzt  er 
nicht  nur  für  das  Verständniss  voraus ,  dass  theilnehmende 
Hörer  sich  ihm  geifetig  hingeben  mit  imispannender  Aufmerk- 
samkeit, die  Späteres  und  Früheres  im  Ein  verstand  mit  dem 
Sprecher  zu  verknüpfen  wisse:  er  erwartet  noch  ein  Grösseres, 
damit  die  Sprache  Sprache  werde,  nämlich  selbstthätiges 
Erleben  des  Hörers,  Mitleben  im  begonnenen  Gedankenkreise, 
überhaupt  einen  U  e  b  e  r  s  c  h  u  s  s  geistiger  MitAvirkung  als 
Antwort  auf  seine  eigene  Anwirkung  —  was  Alles  das  ge- 
sprochene AYort  allein,  das  heisst,  die  Sprache  an  sich,  nicht 
hat,  nicht  geben  kann.  Es  ist  immer  ein  An-  und  Gegen- 
wirken wie  Freiheit  und  Nothwendigkeit ,  Avas  aller  Sprach- 
wirkung vorher-,  mit-  und  nachgeht,  und  ohne  welches  die 
Sprache  eine  tönende  Schelle  ist. 

Die  Sprache  gibt  tönende  Abbilder  des  Inneren,  des 
Geisteslebens.  —  Der  Ton  ist  ein  Verschwindendes,  Werdend- 
Vernichtctes ;  wie  dieses  ihr  Grundelement,  so  ist  die  Sprache 
ebenfalls  nur  als  geschehende,  thätige,  verfliessende  zu  denken. 
Auch  der  Gedanke  zwar  hat  thätig  fliessende  Theile  oder 
Aeusserungen  in  sich.  Aber  dies  ist  nicht  sein  Ganzes,  nicht 
er  selbst  im  Ganzen ;  er  hat  auch  fixirte  Anfangs  -  und  End- 
punkte, die  ausserhalb  der  Bewegung  stehen,  nicht  als  be- 
wegte gedacht  werden.  Dieser  Art  sind  alle  Abstractionen, 
alle  reine   Ideen ,    das   ganze  transcendente   Jenseits ,    die   Idee 


*)  Dass  auch  die  Lüge ,  das  Stottern  und  Stanunchi  zum  Gebiet  der 
Sprache  gehören,  ja  Sprache  sind,  sei  hier  nur  gelegenthch  erwähnt,  viel- 
leicht anderswo  auszuführen. 

15* 


224  Was  spricht  die  Sprache? 

Gottes  selbst  und  der  Glaube  an  alles  Fertige,  Seiende  im  Be- 
wusstsein. 

Will  nun  die  Logik  nicht  zugestehen  ein  ruhendes  Denken 
so  Avenig  als  eine  ruhende  Thätigkeit:  so  ist  doch  dieses  deut- 
lich, dass  Vorstellung  und  Gedanken  von  Kuh en dem  im 
Geiste  sind.  Obgleich  Gedanke  vuid  Tliat  des  Lebendigen  nie- 
mals in  reiner  stillstehender  Ruhe  ist,  so  unterscheidet  doch  das 
Bewuastsein  zwischen  Ruhe  und  Bewesuno;,  Ruhendem  und 
Bewegtem,  Seiendem  und  Werdendem;  es  hat  von  beiden 
Gliedern  der  Existenz  Vorstellungen,  es  gebraucht  sie  beide 
abwechselnd  als  wesentliche  Factoren  seiner  ganzen  Thätigkeit; 
und  so  sind  Ruhe  und  Bewegung  in  ihm.  Auch  ist  klar,  dass 
der  menschliche  Geist  Coexistirendes  denken,  aber  die 
menschliche  Rede  niemals  Coexistirendes  vollkommen  aus- 
drücken kann,  eben  weil  sie  wesentlich  Succession,  Bewe- 
gung ist. 

Von  dem  Ruhenden  kann  das  Bewegte  kein  vollkom- 
menes Abbild  geben.  Jene  Anfangs-  und  Endpunkte  des 
Gedankens,  Angelpunkte  aller  geistigen  Bewegung,  —  keine 
Sprache  ist  fähig,  sie  vollkommen  auszusprechen.  Alle  Sub- 
jectbegriffe  sind  unsagbar.  Die  Sprache  sagt  nicht  das 
Subject,  nicht  was  es  selber  ist,  sie  bildet  nicht  ab,  was  vor 
der  Thätigkeit  als  Seiendes  beruht:  sie  sagt  nur,  was  an  dem 
Subjecte  ist,  -^was  es  thut,  was  von  ihm  ausgeht;  sie  sagt  die 
Folge  des  Subjects,  nicht  sein  Wesen,  nicht  es  selbst.  In 
Hegel's  Phänomenologie  (S.  18)  sind  unfreiwillige  Zeugnisse  für 
diese  Unsagbarkeit;  das  schlagendste  von  Allen  ist  die  Un- 
möglichkeit der  vollkommenen  Definition.  —  Denn 
jede  Definition  kann  nur  sein  entweder  LTmschreibung,  Wieder- 
holung, Anderssagen  {uXh]yoQiu)  des  Subjectes,  und  dann  ist 
sie  identisch,  tautologisch ,  indem  einem  unverstandenen  Seien- 
den ein  anderes  verstandenes  Seiendes  vergleichend,  nicht  er- 
füllend ,  unterlegt  wird ;  oder  sie  gibt  von  dem  Subjecte  eine 
Reihe  Thätigkeiten  an,  die,  wie  vollzählig  sie  auch  seien,  doch 
niemals  das  ganze  Subject  wiederholen,  sondern  nur  eine  mög- 
lichst vollständige  Reihe  von  Erscheinungen  am  Subject,  Prä- 
dicate.  So  wenig  der  Philosophie  die  adäquate  Umdenkung 
der  Welt  gelingt,  so  wenig  gelingt  auch  der  bewegten  Sprache 


'\^'as  spricilt  die  Sprache;?  2"25 

die  vollkommene  Deckung  dos  Kulienden  und  Seienden.  — 
Diese  Unzulänglichkeit  aller  Definition  ist  das  erste  Beispiel 
einer  Reihe  von  Unsiiglichkcitcn ,  die  der  kühne  Denker  (Phil- 
nomenoiogie  S.  88)  mit  grossem  Unrecht  in  das  Gebiet  der 
Unvernunft  verdanunt  hat.  Neben,  in  und  über  allem  Gesag- 
ten Avaltet  überall  und  uiuibcrwindlich  das  Unsagbare,  was 
eben  Quelle  und  Ausgang  alles  Sagbaren  ist. 

Die  Unzulänglichkeit  aller  Definition  erweist  sich  vorzüg- 
lich an  folgenden  Erscheinungen.  Derselbe  Begriff  —  richtiger 
wohl:  dasselbe  Wort  —  wird  nicht  nur  bei  verschiedenen  Den- 
kern, sondern  auch  in  verschiedenen  Gebieten  des  Wissens 
anders  definirt;  die  Worte:  .,Gott,  Geist,  Salz,  Leib"  erfordern 
verschiedene  Besclu'cibungen,  je  nachdem  sie  in  der  Logik,  der 
Etymologie,  der  Synonymik,  Physik  etc.  vorkommen.  Wenn 
nun  dasselbe  Wort  in  verschiedenen  Wisscnsgel)ieten  ungleiche 
Geltung  hat,  so  mag  man  zwar  erwiedcrn ,  dass  jede  Auf- 
fassung einen  Thcll  der  Wahrheit  entfalte  und  der  andei'n  doch 
nicht  wesentlich  widerspreche :  aber  eben  hier  beweist  sichs, 
wie  das  Wort  den  Gedanken  nicht  erfüllt,  nicht  voll- 
kommen deckt,  und  eben  darum  ist  eine  absolute  Definition 
an  sich  selbst  unmöglich.  —  Keine  Definition  kann  dem  L^n- 
bekannten  Unbekanntes  darstellen;  die  scheinbar  festeste  Form 
des  Gedankens  verlangt  unendliche  Voraussetzungen  ausser  dem 
Worte.  ..Schmerz,  Ton,  Thier,  Himmel"  —  wer  sie  nie  ge- 
sehen und  empfunden ,  dem  macht  das  W^ort  sie  nicht  begreif- 
lich. Sagt  man  etwa:  „Der  Schmerz  ist  die  Empfindung  des 
Widerwärtigen,  die  negative  Empfindung  des  Natürlichen,"  so 
sind  das  Alles  Prädicate,  nicht  Avirklich  deckende  Ausdrücke 
des  Gedankens.  (Wer  kann  dem  Blindgeborenen  die  Farbe 
durch  Sprache  d.  h.  Reden,  Definition,  Demonstration  —  be- 
greiflich machen,  den  „Gedanken  der  Farbe  ausdrücken?-) 

Die  Sprache  ist  also  weder  der  einzige  Ausdruck  des  Ge- 
dankens noch  drückt  sie  den  ganzen  Gedanken  aus ;  was  sie 
abbildet  ist  die  Beweffunof  des  Gedankens.  Diesen  Le- 
benspunkt  hat  Lessing  im  Laocoon  angedeutet,  und  von  hier 
aus  den  Gegensatz  zwischen  bildenden  und  redenden  Künsten 
entwickelt.  Im  Bilde  ist  der  ruhende,  im  Tone  der  bewegte 
Gedanke    (oder   sage   man   Geist,   Idee,    Vernunft  etc.)   ausge- 


^^'as  spricht  die  Sprache? 

sprochen.  Keines  von  Beiden  spricht  den  Gedanken  ganz  aus : 
sie  ergänzen  einander.  Deshalb  fehlt  dem  Blinden  wie  dem 
Tauben  ursprünglich  ein  Mittel  der  Gedankcnäusserung;  AA'enn 
beide  dennoch  denken  lernen,  so  geschielit  es  nur,  indem  sie 
aus  der  äusseren  Welt  Ersatzmittel  hinzubringen ,  der  Blinde 
das  Tasten  ruhender  Gestalten,  der  Taube  die  bewegte  Ge- 
berde ;  beide  haben  dazu  als  inneren  Ersatz  die  menschliche 
Anlage  des  Denkens ,  und  zwar  der  Taube  die  ruhende  wort- 
lose Seite  desselben.  Weil  aber,  wie  alle  Thätigkeit,  so  be- 
sonders die  Arbeit  des  Gedankens  ursprünglich  BcAvegung  ist, 
so  hat  der  hörende  Blinde  den  unermesslichen  Vortheil  vor  dem 
Tauben,  dass  ihm  die  innere  Bewegung  lebendiger  erkenn- 
bar ist. 

AYas  ist  es  nun,  was  die  Bewegung  des  Gedankens  an  den 
Dingen  bewegt?  Wir  gehen  einen  Augenblick  zurück,  um  die 
Grundthätigkeiten  der  Seele  an  eines  Kindes  Entwicklung  zu 
beobachten.  Die  erste  Thätigkeit  der  Seele  ist  Empfindung. 
Diese  leidet  und  freuet,  scheut  und  suchet  bis  sie  die  erste 
Stufe  des  Geistes  gefunden,  die  Anschauung.  Diese  ist 
von  der  ersten  Empfindung  geschieden  durch  die  Doppelthätig- 
keit  des  Empfangens  und  Schaffens;  indem  sie  leidend  empfängt, 
wirkt  sie  zugleich  nährend,  befestigend,  wählend:  sie  erschafft 
die  Unterschiede  von  Ruhe  und  Bewegung,  P^ntstehen  und 
Schwinden ,  Grösse  und  Grenze.  Die  Reihe  der  Thätigkeiten 
wiederholt  sich:  sie  Avird  hiemit  Gewohnheit,  Einprägung,  Er- 
innerung. Die  Erinnerung,  eine  eingeprägte  und  verkürzte 
Anschauung,  erneut  sich  in  willkürlicher  Bewegung  als  Vor- 
stellung. Hier  wiegt  die  schaffende  Thätigkeit  über  der 
empfangenden;  Grösse  und  Grenze  werden  zu  Gestalt  und 
Maass.  Die  Reihe  der  Vorstellungen  verdichtet  sich  zu  be- 
stimmten bewussten  teleologischen  Aeusserungen  der  Geistes- 
thätigkeit.  Die  angeschaute,  erinnerte  Vorstellung  arbeitet  in 
sich  und  den  Gegenständen,  um  das  Ich  und  die  Dinge  in  Be- 
ziehung zu  setzen.  So  den  Dingen  nehmend  und  gebend  vom 
Ich,  in  sich  selbst  verdichtet,  wird  sie  Gedanke.  Der  Ge- 
danke schliesst  die  niederen  Thätigkeiten  des  Anschauens  und 
Vorstellens  in  sich,  um  aus  ihnen  die  bewusste  Selbstthätigkeit 
des  Bindens  und  Trennens  zu  bilden.     Indem  er  die  erinnerten 


^     AVas  siiricht  die  Sprache?  227 

Vorstellungen  mit  fi'eier  Willkür  fasst,  begreift  er  sie  als  Eigen- 
heit, Eigenschaft  der  Dinge ,  bezieht  sie  wechselseitig.  Dieses 
Avillkürliche  Ziehen  und  J^eziehen  der  Dinge  und  ihrer  Eigen- 
schaften, grammatisch  prädiciren  genannt,  geht  zu  seinem 
Gegensätze,  dem  "Wegnehmen  des  Priidicates,  mit  der- 
selben freien  A^'iIlkür  hinüber  und  iierüber;  das  ist  die  erste 
Bewegung  des  Gedankens  an  luid  wider  die  Dinge:  Affir- 
mation und  Negation,  welche  den  Kategorien  der  Logik: 
Sein  und  Nichts,  entsprechen. 

Jene  ersten  Gegensätze,  die  Avir  als  polare  Thätigkeiten 
von  Empfangen  und  Schaffen ,  Bejahen  und  Verneinen ,  Sein 
und  Nichts,  erkannt  haben,  fliesscn  aus  dem  geheimnissvollen 
Vorgange  des  AVerdens,  der  eine  ewige  Voraussetzung  ist 
gleich  der  ewigen  Vernunft.  Das  Werden  selbst  wird  nicht 
begriffen,  kann  nicht  logisch  dargestellt  werden:  so  auch  die 
Glieder  des  Werdens,  mögen  sie  nun  natürlich  erscheinen  als 
Empfangen  und  Schafl'en,  oder  geistig  als  Erinnern  und  Vor- 
stellen. Werden,  Bewegen,  Verändern  sind  ebenso  Ur- 
begriffe  wie  Sein  und  Nichts:  Werden  ist  das  Erste  und 
Dritte  zu  den  Gegensätzen:  die  ganze  Kette  des  sogenannten 
Causalnexus  schwebt  immer  zwischen  diesen  Beiden:  entweder 
schauen  wir  ein  AVerdendes  an,  dessen  Glieder  Sein  und  Nichts 
sind,  oder  wir  schauen  die  beiden  Glieder,  die  in  dem  Einen, 
dem  Werden ,  zusammengehen.  So  kehren  wir  unbewusst 
jeden  Augenblick  zu  dem  Urquell  alles  Denkens  und  Seins  zu- 
rück, rufen  ihn  zu  Hülfe,  benutzen  ihn  auch  widerstrebend, 
selbst  wenn  wir  ihn  undankbar  läugnen,  d.  h.  zu  läugnen  ver- 
suchen. 

Schon  in  dem  ersten  Leben  des  Kindes,  das  sich  der 
Thierheit  entringt,  offenbart  sich  derselbe  Gang.  Dem  Kinde 
ist  eine  Welt  von  Gegenständen  ringsum  gebreitet,  ruhenden 
und  bewegten.  Es  rührt  sie  an,  wird  von  ihnen  berührt.  Die 
lebendige  Seele  wirkt  aus  unbekanntem  Triebe.  Sie  ist  nicht 
begnügt  mit  anschauendem  Empfangniss;  sie  wirkt  gegen, 
störend  und  schaffend.  Dieses  Gegenwirken,  die  erste  Ver- 
neinung des  Lebenden,  noch  unentschieden  zwischen  sinn- 
lieber  und  geistiger  Thätigkeit  schwebend,  entschliesst  sich,  be- 
wegt und   ändert   die   Dinge.     Das  erste  Spiel   des  Kindes   ist 


228  Was  bedeuten  die  Töne? 

Bewegung,  Veränderung  beweglicher  Dinge.  Nicht  lange  ist 
es  mit  der  bloss  tastenden  Bewegung  begnügt;  da  tritt  der 
Ton  hinzu,  seelenbcAvegend ,  wirkend  und  gegenwirkend,  in 
sinnlicher  Lust  geistiges  Bedürfniss  verhüllt  andeutend.  Der 
Ton  will  vernommen  sein,  wiederklingen,  beantwortet  werden. 
Die  seinesgleichen  sind,  die  ihn  umgeben,  will  der  Wollend- 
Tönende  anwirken.  Was  in  Geselligkeit  lebt  und  mit  munter 
Avallender  Seele  begabt  ist,  gibt  und  vcrninmit  gegenseits  Ton 
und  "Widerton;  diese  sind  Bild  und  Abbild,  Spiegelbild  der  wir- 
kenden Seele.  —  Das  thierisch  kindliche  Leben  sucht  mit  Tönen 
die  Dinge  zu  bewegen ,  zu  berühren :  dies  ist  der  Anfang  der 
Sprache.  Und  das  specifische  Leben,  das  Sonder  reich  der 
Sprache  ist:  Succession  und  Negation  aus  dem  Seelen- 
grunde kund  zu  geben,  Bewegung  und  Verneinung  der  Dinge 
und  Gedanken  auszudrücken.  Dies  ist  das  deutlich  umzirkelte 
Gebiet  der  Sprache  gegenüber  allen  andern  bild-  und  tonhaften 
Ausdrücken  des  menschlichen  Seelenlebens.  Denn  die  Bildkunst 
hat  Ruhendes  ohne  Bewegtes,  die  Tonkunst  Bewegtes  ohne 
Ruhendes  darzustellen :  Beiden  fehlt  die  Negation,  der  An- 
fang des  Denkens. 


IL 

Was    bedeuten    die    Töne? 


Auch  das  Thier  hat  eine  Ausdrucksweise  in  Tönen,  die 
sich  von  der  menschlichen  zwar  geistig  und  sinnlich  unter- 
scheidet, aber  als  Vorläufer  und  Schattenbild  bewusster  Sprache 
eine  Betrachtung  verdient.  Die  Thierspraphe  hat  Töne,  die 
nach  Stärke  und  Schwäche,  Höhe  und  Tiefe,  Klang  und  Arti- 
culation  unterschieden  sind.  In  diesem  sinnlichen  Element  ist 
sie    dem    menschlichen   Tone    verwandt;    auch    in    der   Zweck- 


Was  bedoiiton  die  Töno?  229 

niässigkeit  ihrer  Wirkung,  indem  das  Thier  seine  Seelenbedürf- 
nisse in  Lust  und  ►Schniorz:  zunäclist  für  seinesgleichen  kund 
gibt.  Hohe  reine  Töne  deuten  gehobene,  dumpfe  unreine  deuten 
gedrückte  Stimmungen  an,  so  dass  sich  hier  schon  die  Sym- 
bolik des  Tones  offenbart,  Abbild  der  S  eelonbe  w  egung 
zu  sein. 

Unterschieden  sind  die  thierischen  Töne  von  den  mensch- 
lichen auf  der  leiblichen  Seite  darin,  dass  sie  erstlich  Aveniger 
Klarheit  besitzen,  zweitens  einzelne  Töne  und  Tonreihen  ihnen 
fehlen,  die  der  Mensch  hat.  Die  Klarheit  der  Vocale  zu- 
nächst, d.  h.  die  bewnsste  Scheidung  von  Höhe  und  Tiefe  der 
Articulation,  das  a,  i,  u  fehlt  allen  Thieren.  Die  Vogclstimmen, 
fälschlich  oft  für  eine  höhere  Stufe  geachtet,  erweisen  sich  dar- 
in als  niedere,  dass  sie  auch  nicht  den  Versuch,  den  Ansatz 
zu  geschiedenen  Vocalcn  haben,  wie  auch  musicalisch  ihre  Töne 
so  schwer  zu  fixircn  sind,  weil  sie  bald  in  sich  regellos  schwei- 
fen, bald  für  alle  menschliche  Commensurabilität  zu  hoch  cr- 
Iclingen :  denn  die  meisten  Yogeltöne  befinden  sich  über  der 
vierwestrichenen  Octave.  Die  Stimmen  der  edleren  Säuo-cthiere 
nehmen  eine  höhere  Stufe  ein ;  ein  Ansatz  zu  festen  Vocalen 
findet  sich  bei  Kindern  und  Hunden;  deutlich  articulirt  sind  sie 
zwar  nicht,  aber  das  mu  und  wau  tritt  doch  soweit  hervor, 
dass  der  Mensch  es  verständlich  nachahmend  auffassen ,  auch 
wohl  die  Tonhöhe  bezeichnen  kann.  Undeutlicher  noch  ist  die 
Stimme  des  Rosses ,  doch  ist  das  hi  ziemlich  vernehmbar,  und 
in  vielen  Sprachen  onomatopoetisch  zu  Grunde  gelegt.  —  Diese 
drei  Stimmen:  mu,  wau,  hi  sind  wohl  die  deutlichsten  aller 
Thierstimmen;  sie  zeigen  sich  auch  hieiin  als  die  ältesten  Ge- 
nossen des  Menschen ,  die  mit  ihm  aus  dem  Paradiese  ausge- 
zogen sind  luid  am  meisten  und  klarsten  einen  bestimmten 
Seelendi-ang  aussprechen  vor  allen  andern  Thieren.  Die  Kinder 
sind  die  minder  begabten,  leiblich  träge,  langsamer  Seele:  sie 
sprechen  fast  nur  Hunger  und  Sättigung  mit  Tönen  aus ,  die 
Mutter  auch  wohl  Sehnsucht  nach  dem  Kinde.  Des  Hundes 
Natur  ist  lebhafter,  lieftiger,  beweglicher:  sein  Bellen  bedeutet 
den  Angriff,  die  Stimme  geht  nicht  wie  beim  Kinde  im  lang- 
samen Crescendo  von  imten  berauf,  sondern  in  schnellem  Zucken 
von   oben  herab.     Das  edle   Ross    bezeugt  ganz  klärlich  seinen 


230  Was  bedeuten  die  Töne? 

Adel  darin,  dass  es  nur  vor  Freude  wiehert,  im  Schmerz  stumm 
ist,  einem  Dichter  gleich,  der  die  höchste  Lebenslust  in  Tönen 
aushallt,  AvUhrend  kränkhche,  passive  Menschen  nur  stille  Lust 
haben  und  lauten  Schmerz  gleich  den  Schweinen.  —  Die  be- 
sonderen Töne  des  Todesschmerzes,  die  allen,  auch  den  stum- 
men Thieren,  eigen  sein  sollen,  sind  zwar  vernehmlich  durch 
ihre  Wildheit  und  höchste  Ueberspannung  der  Lebenskraft,  aber 
im  Seelenausdruck  doch  unverständlicher,  da  ihnen  die  plastische 
Kraft  des  verweilenden  bildkräftigen  Lebens  fehlt.  Sie  erlauben 
daher,  eben  so  Avie  die  Schmerzenstöne  des  Menschen,  keine 
deutliche  Betrachtung  und  sind  ein  Räthsel  wie  Geburt  und  Tod. 

Aus  den  lebenden  Tönen  gesunder  Thiere  können  wir  aber 
manches  Bedeutsame  lernen  über  die  Elemente  der  Articulation. 
Der  Vocal  ist  beim  Rinde  am  deutlichsten,  der  Consonant  beim 
Hunde,  der  Lebensausdruck  überhaupt,  doch  ohne  schärfere 
Articulation,  beim  Rosse.  Das  Rind  ist  ein  Bild  bequemer, 
stillvergnügter  Sinnlichkeit,  der  Hund  hat  feine  geistige  Unter- 
scheidungsgaben, das  Ross  ist  vorzüglich  mit  Muth  und  Lust 
begabt.  Dem  Rinde  mangelt  die  leichte  Beweglichkeit,  dem 
Rosse  die  geistige  Feinheit,  dem  Hunde  die  stille  Genügsamkeit. 
—  Diese  drei  Punkte:  der  Ton,  die  Begabung  und  der  Mangel, 
die  sich  der  Beobachtung  ergeben  haben,  leiten  uns  in  die 
Elemente  der  Symbolik  des  Tones. 

Der  tiefe  Ton  des  Rindes,  meist  eintönig  und  feststehend 
in  gemessener  Höhe,  ist  von  einem  geringen,  doch  vernehm- 
baren Lippenlaute  begleitet;  die  geistige  Eigenthümlichkeit  des 
Rindes  ist  abgeschlossene,  gleichsam  ruhende  Sinnlichkeit.  Der 
von  oben  herabstürzende  und  schlagende  Ton  des  Hundes  ist 
nicht  vom  geschlossenen,  sondern  vom  hauchenden  und  schnau- 
fenden Lippenlaute  begleitet;  aber  der  Hund  hat  mannigfaltigere 
Töne,  bellt  nicht  immer  in  gleicher  Höhe,  winselt  und  heult 
undeutlicher,  fast  rein  vocalisch,  aus  Schmerz  oder  Freude,  In 
der  Freude  hohlstimmiger  als  im  Schmerze,  und  knurrt,  fast 
rein  consonantisch,  wenn  er  die  Ueberlegung  des  Angriffs, 
einen  überlegten  Zorn  fasst.  Ihm  ist  von  allen  Thieren  die 
schärfste  Unterscheidungsgabe  gegeben:  er  kann  überlegen  mit 
einem  Schein  von  Verstand,  träumen  mit  einem  Schein  von 
Phantasie.     Dieser    geistigen    Mannigfaltigkeit    dienen  mannig- 


Was  bedeuten  die  Tone?  231 

faltigere  Töne.  Das  Koss  hat  heftige  brausende  Töne  tief  aus 
der  Brust  mit  einem  Ansatz  zum  hauchenden  Consonantcn,  der 
sich  doch  nicht  ganz  zum  Gaumenlaut  verdichtet;  seine  Ton- 
stufen sind  mannigfaltiger  als  die  des  Kindes,  ärmer  als  des 
Hundes. 

Bei  einigen  Thiercn  treten  die  Gaumenlaute  deutlicher 
hervor:  die  Henne  sagt  ga,  gä,  gö,  der  Bär  och,  uch.  Andere 
Anklänge  von  Consonanten  kommen  bei  Thieren  nicht  vor,  als 
diese  des  Gaumens  und  der  Lippe;  denn  das  Zischen  der 
Schlange  ist  ein  völlig  unbestiuunter,  mehr  vogelartigcr  Ton. 
Allen  Thieren  fehlt  der  klare  Zungenlaut,  alle 
Menschen  liaben  ihn. 

Im  Zungenlaut  (dental  und  lingual)  spricht  sich  vorzüglich 
das  Menschliclie  aus,  nämlich  die  bewusste  Scheidung. 
Die  Zunge  vermittelt  und  scheidet  Gaumen  und  Lippe,  sie  ist 
ein  Symbol  der  Diremtion,  Avelche  die  geistige  L^ntcrscheidung, 
das  Bewusstsein  des  Gegensatzes  ist.  Bedeutsame  Zeugnisse 
für  diesen  ersten  Satz  der  Symbolik  sind  zweie:  erstlich  dass 
der  überwiegende  Theil  der  grammatischen  Flexionen  —  also 
des  geistigen  Sprachgebildes  —  in  allen  Sprachen  dental  vmd 
lingual  gebildet  ist  (durch  d,  t,  tli,  s,  n,  (m)  u.  s.  w.) ;  zwei- 
tens dass  manchen  Völkern,  z.  B.  der  Südsee,  eine  Lautreihe 
zu  fehlen  scheint,  etwa  die  labiale  oder  gutturale,  aber  niemals 
die  lingual-dentale. 

A^'a3  bedeuten  aber  die  Laute  des  Gaumens  und  der  Lippe, 
die  erst  mit  der  Zunge  zusammen  die  volle  Articulation  aus- 
machen? Gaumen  und  Kehle  sind  die  Pforten  des  Leibes, 
durch  welche  das  Aeussere  in  das  Innere  aufgenommen  wird; 
der  Athem  zieht  hindurch  auf  und  nieder,  der  höchste  Sinnen- 
reiz des  Geschmackes  ruhet  dort ;  AVeinen  und  Lachen  rührt 
vorzüglich  an  diese  Pforte,  die  sogar  von  heftigen  Thränen  und 
Gelächter  wund  und  krampfhaft  werden  kann.  So  ist  dieses 
die  Stelle,  wo  das  Innerliche  äusserlich  wird,  das  Aeussere  vom 
Innern  empfangen,  berührt  imd  bekämpft.  Diese  Eräusserung, 
das  Hervorquellen  der  Subjectivität,  zeigen  die  uralten  Wvu-zeln 
ich,  ego,  anochi  (hebr.),  ach,  ja.     (Quelle.) 

Auch  die  Lippe  ist  eine  Mauer  von  Innen  nach  Aussen, 
aber  milderer  Art,  ein  Vorhof  des  Vorhofes ;  da  sie  die  Mund- 


232  Was  bedeuten  die  Töne? 

höhle  verschliesst,  so  umfasst  sie  das  bereits  Eingenommene. 
Wie  sie  leiblich  bestimmt  ist,  inne  zu  halten,  was  der  Mund 
ergriffen,  Luft  und  Wasser,  Flüssiges  und  Festes:  so  bedeutet 
sie  auch  in  ihrem  Seelentone  Erhaltung,  Umfassung,  Sicherung, 
Hemmung;  sie  hemmt  den  wallenden  Strom,  der  aus  der  Tiefe 
des  Schlundes  hervorbricht ;  während  die  Kehllaute  das  Ent- 
äussern der  Tiefe  abbilden,  so  deuten  die  Lippenlaute  das 
ruhend  Erhaltende,  dem  Brunnen  gleich,  der  die  Wasser  der 
Tiefe  fasst  und  schirmt.  Die  Kehle  jauchzt  in  Schmerz  und 
Lust,  ist  reicher  an  Nerven,  Bändern  und  lebendig  wirkenden 
Werkzeugen;  die  Lippe  ist  Aveniger  erregbar,  mehr  ruhend 
empfangender  Art  —  und  so  sprechen  alle  edelsten  Sprachen 
den  süssen  Namen  der  Mutter  mit  dem  Tone  der  Lippe;  das 
kühne,  trotzige  Ich  dagegen,  das  sich  von  der  Mutter  losreisst, 
nimmt  seinen  Anlauf  aus  der  Kehle.     (Brunnen.) 

Beide  Organe  stehen  so  in  einem  Natur- Gegensatze,  das 
heisst  einer  Doppelexistenz,  welche  nicht  feindlich  nicht  freund- 
lich, ohne  geistige  Scheidung  und  Fixirung  des  Unterschiedes, 
ohne  Frage  und  Antwort  mit  einander  bestehen :  sie  können 
einander  aufheben,  aber  nicht  auflösen;  sie  können  einander 
zerstören,  aber  nicht  deuten  und  verstehen.  Dieses  neue  Leben, 
die  eigentlich  menschliche  Scheidung  des  Lebendigen  und 
Todten,  das  Bewusstsein  des  Gegensatzes  deuten  die  mittleren 
Organe  an:  Zunge  und  Zähne  sind  die  scheidenden,  schnei- 
denden, vermittelnden  und  lösenden,  der  Ausdruck  des  Geistes, 
der  die  Natur  versteht.  Die  Trennung  von  Quelle  und 
Brunnen,  der  Scheidepunkt  zwischen  Ichheit  und  Hingebung 
liegt  vorbedeutet  in  dem  scharfen  kalten  Zugwinde ,  der  durch 
die  Zähne  hindurchschiesst:  er  ist  das  Messer  zum  Schneiden, 
die  "  Spitze  zum  Scheiden ;  darum  sind  die  Negationen  und 
Flexionen  vorzüglich  an  dieses  Organ  geknüpft.     (Scheide.) 

Fassen  wir  diese  drei  Grundwirkungen  zusammen,  so  er- 
scheint als  Grundlage  der  Symbolik,  dass  Kehle,  Lippe  und 
Zunge  aussprechen:  die  thätige,  die  leidende,  die  ver- 
neinende Seite  der  Sprache  —  Subject,  Object,  LidifFerenz 
(Copula)  —  oder:  Activ,  Passiv,  Neutralität  (Negation). 


Was  bedeuten  die  Tiine?  233 

Ein  anschauliches  symbolisches  Tonspiel  ist  dieses ,  dass 
in  vielen  Sprachen  die  urspriingliclion  S ach- Gegensätze  in  den 
Wurzeln  durch  verwandte,  nah  anklingende  Laute 
bezeichnet  werden,  meist  nur  in  Einem  Laute  verschieden, 
womit  schon  die  Ursprache  die  Gegensätze  bezeichnet  als  polai'e 
Glieder  einer  höhern  Einheit,  z.  B. : 

ßQudvg   —    0()a(7t^g  —   (st.   d^^uÖvg"^.). 

dtd'og  —   dfllog  —    (lebendig,   herrlich  —   und:    feig,    zum 

Tode  reif). 
tQfin(o  —  igtidco  —  (wie  das  deutsche:  stützen  und  stürzen). 
(Q(og   —   tQis    —    i^-Q'^   vorzüglich   Blutsfeindschaft,    daher 

fQiüo,    fon'vg.   —    tQiog  vorzüglich 
Bluts-  und  Geschlechtsliebe). 
r^/iieQog  —  t^tj/nog  —    (mild,    reif,    menschlich  —  gegenüber 

dem   verlassenen,    leblosen.      Mit 
tQ-Tjfiog  gleichstammig  TjOiau). 
))/vg  —  i]övg  —   {^i/vg  Stamm  zu  aiaypg,  daher  der  compar. 

d-uf(i)  —  xTuuo)  —   (passiv  und  activ). 

xuy.og  —  xc'los  —  (nicht   logische,   aber  natürliche  Gegen- 
■   sätze). 

"kMßuü}  —  hoffuiü  —  (wie  das  Vorige,    kein   logischer  Ge- 
gensatz). 

fiuy.Qog  —  /iuxQog. 

ufi^(oy   —  [.liioyv. 

ntKug  —  niqa  —  (nah  und  fern,  jenseitig:    sonderbar  ver- 
mittelt in  7iXaLoj.iu.i). 

ntriTco  —   Qtnjto  —   (Wurzel  eigentlich:    ntro)   —  ^tnto;   — 

schnell  und  langsam  bewegen;  — 
activ  und  passiv,  mx.  neiuftui. 
neruyy.). 

(ftyyog  —    (fd^ty/o/iiui    —    (Licht   und    Ton,    wie   Auge   und 

Ohr  im  Goth.  entgegengesetzt). 

/uQuTTd)  —  uQuTTio  —  (ruhigc  und  unruhige  Bewegung  an 

den  Dingen). 
Unter  den  altdeutschen  sind  mehrere,  die  den  logischen  Ge- 
gensatz   stärker  zeigen   als  die  griechischen;   auch  scheinen  sie 
meist  ursprünglicher;  die  mir  bekannten  sind  folgende: 


234  Was  bedeuten  die  Töne? 

Augo  —  auso  —  (Auge  und  Ohr,  die  höchsten  Sinne,  als 

reale,  fast  logische  Gegensätze), 
eile  —  weile. 

fiant  —  friant  —  (alte  Participien:  feind,  freund,  letzteres 

noch  in  dem  Verbum  freyen  ent- 
halten.    Holld.  fyant). 
fliessen  —    friezen   —   (fliessen    und   frieren,    flüchtig   und 

starr  werden), 
menic  —  wenic   —  (manche  —  wenige,  kein  logischer  Ge- 
gensatz;   auch    nicht    ganz    dem 
Gothischen  entsprechend), 
mild  —  wild.     (ij/iiiQog  —  (Qtjjnog?) 
Schiff  —  fisch, 
sende    —    saelde    —    (Sehnsucht,    Schmerz    —    Seligkeit, 

Genuss). 
stützen  —  stürzen,     {i^eidco  —  i^einco.^ 
wage  —  zage. 
Andere    theils  verbildete ,   theils    spätere  Wurzeln   sprechen  den 
Gegensatz  mehr  spielend  und  witzig  aus,  als:  black —  blank 
(von    blicken   und  blinken;  jenes  erste   ist  gebildet  wie  blind, 
gleich  dem  lucus  a  non  lucendo,  oder  welk  (S.   Grimm's  Gr.); 
p rasser  —  p racher  (von  unbekannter  Herkunft?);  sick  — 
quick. 

Aus    dem   Lateinischen    sind   mir    nur   bekannt:    divus    — 
dirus ;  (hostis  —  hospes).    Codes,  Poples.  —  (Codex,  Podex.) 


Die  Erkenntniss  der  Wurzeln  muss  sich  gründen  auf  die 
Symbolik  des  Tones  und  die  Topik  des  Gedankens.  Hier 
haben  wir  es  mit  dem  ersteren  noch  zu  thun,  und  gehen  nun 
von  der  Quelle  weiter  zu  den  Bächlein  und  Rinnen,  zur  weiteren 
Bestimmtheit  der  Articulati.on.  Die  Thätigkeit  der  Organe 
ist  Stark  oder  schwach,  rein  oder  gemischt;  hiernach  unter- 
scheiden sich  die  bekannten  Stufen  der  Articulation; 
deren  sind  drei,  die  stumpfe,  gehauchte  und  die  näselnde, 
jede  wiederum  getheilt  in  starke  und  milde  Art  oder  hart  und 
Aveich ;  diese  mit  den  unentschiedenen  Mischtönen  zeigt  fol- 
gende Tafel  im  Verhältniss : 


Stumpf 

(einfach,  ur- 
sprünglich'.'' 
trocken  ?> 

Gehaucht 


Nasal 

Ilalbvocale 

(schmelzende) 


Was  bedeuten  die  Töne? 

Gutturales         Labiales 


235 


Dentales 


hart                          k 

V 

t 

Aveich                       g 

b 

d 

hart                 eh  (h,  hh) 

f  (ph) 

sz  (z,  ss) 

weich                  j  (gh) 

w 

8  (s.  holl.  z) 

hart                        nk 

nt 

mp 

weich            57  (gg,  ng) 

n 

m 

r                               1 

Die  Bedeutung  der  Articulationstufen  scheint  zunächst 
diese,  dass  mit  dem  weichen  Laute  angehoben,  mit  dem  harten 
geschlossen  wird.  Der  stumpfe  und  gehauchte  Ton  scheidet 
sich  vornämlich  in  Mundarten,  in  räumlicher  und  zeitlicher 
Entfaltung. 

Die  Bedeutung  der  Organe  ist,  in  sinnlichen  Tönen  die 
Be\ve2:uno:en  der  Seelenbilder  nachzubilden:  sie  sind  das  kör- 
perliche  jNIaterial,  daraus  die  Seelcnbilder  in  Worte  sich  fügen. 
Nach  der  oben  versuchten  Erklärung  thierischcr  Töne  lassen 
sich  die  Aeusserungen  der  drei  Hauptorgane  etwa  so  aus- 
sprechen : 

Die  Reihe  der  Kehllaute  (gutturales,  palatinae)  bedeutet 
Affirmation,  Position,  Aeusserung  hervorbrechenden  Lebens, 
Sturm  und  Drang,  subjective  Spannung  und  Ueberspannung.  Die 
Lippenlaute  (labiales)  deuten  Abschluss ,  Rückkehr,  Umfas- 
sung, Milde.  Die  Zungenlaute  (dentales,  linguales)  deuten 
schneidende  Trennung,  Bewegung,  Schärfe,  Verneinung.  — 
Diese  Symbolik  sprechen,  soweit  sie  bekannt  sind,  die  ältesten 
Wurzeln  aus. 

Wenio-er  klar,  d.  h.  minder  in  loo;ische  Bestimmung  fass- 
bar,  sind  die  (Grundbedeutungen  der  Vocale,  weil  in  dmen 
das  Leben  und  AA'erden  mehr  hervortritt,  wälu-end  die  Con- 
sonanten  Erstarrtes,  Gewordenes  darstellen,  daher  sich  der 
ruhigen  Betrachtung  williger  erweisen.  In  allen  Sprachen  findet 
sich,  dass  die  Wandlung  der  Wortformen  mehr  die  Vocale  er- 
greift, als  die  Consonantcu;  weshalb  die  Meinung  entstehen 
konnte,   dass   die  Vocale  mehr  Formen,  die  Consonanten  mehr 


236  Was  bedeuten  die  Töne? 

Inhalt  aussprächen.  Diese  Meinung  geht  weiter  in's  Logische 
hinein,  als  wir  der  organischen  Betrachtung  der  Sprache  er- 
spriesshch  halten;  doch  sagt  sie  Aehnliches,  wie  wenn  wir  die 
beiden  Lautreihen  als  Werdendes  und  Gewordenes  bezeichnen. 
Im  wirklichen  Leben  sind  sie  untrennbar,  wie  Form  und  Inhalt 
auch  in  keinem  Wesen  getrennte  Dinge  sind.  Deutlich  zeigt 
sich  die  Nähe  des  Werdenden  und  Gewordenen  in  dem  U eber- 
gange von  u  in  av  ,  von  i  in  j ,  eh.  Und  so  erkennen  wir  die 
drei  reinen  Vocale  innig  verwandt  mit  den  drei  (consonan- 
tischen)  Articulationen,  indem 

a  guttural,  u  labial,  i  dental 
sich  erAveist.    Aelteste  Wurzeln  bezeugen  diese  Nähe,  wie:  ach 
(«/o?),_uf  (up),  js  (ist). 

Die  drei  reinen  Vocale  treten  beim  lallenden  Kinde  wie  in 
der  Thiersprache  nicht  kkar  hervor,  sondern  trübe  Mischungen 
bilden  den  Anfang,  fast  in  der  Mitte  aller  Vocale  schwebend  in 
unbestimmtem  ae  =  oe.  Die  reinen  Vocale  sind  wie  die  reinen 
Consonanten  menschliches  Erwerbniss,  helleres  Bewusstsein 
in  Tonen  abbildend ,  in  deutlicher  Scheidung  deutliche  Umrisse 
gestaltend.  Wie  aber  die  Consonanten  sich  uiiter  einander 
nähern,  indem  die  Articulationsstufen  nicht  allein  weich  und 
hart,  stumpf  und  gehaucht  in  einander  übergehen,  sondern  sogar 
verschiedene  Organe  in  einander  verschmelzen  (mn,  pt  griech., 
seh  romanisch):  so  ist  auch  in  die  bereits  geschiedenen,  scharf- 
gestaltigen  Urvocale  eine  Milderung  getreten,  die  sich  theils  in 
Mischtönen,  theils  in  Doppeltönen  offenbart:  daher 

zwischen  u  und  a  das  o  schwebt, 

zwischen  i  und  a  das  e  schwebt, 
wie  es  auch  einige  Sprachen  schriftlich  durch  au  Und  ai  be- 
zeichnen. Grimm  findet,  wie  in  den  Consonanten  so  in  den 
Vocalen,  je  drei  mal  drei  Gestaltungen;  für  uns  nicht  ganz 
genügend,  und  mehr  als  wir  an  Grimm  gewohnt  sind,  in's  Lo- 
gisch-rhythmische hinüberstreifend,  während  folgende  Keihe 
naturgemäss  sich  darstellt  und  allen  Sprachen  genügt;  die  Vo- 
cale sind : 

1.  a.  ursprüngliche  a  —  i  —  u, 
b.  abgeleitete  e  —  o. 

2.  a.  getrübt,  eintönig  ä  —  ö   —  ü, 

b.  gefärbt,  doppeltönig  au  —  ei   —  eu  (ul  —  oi). 

3.  a.  hochklingend  e  (ä)   —  i  —  ei  (ai),j 
b.  tiefklingend         ö   —  ü  —  eu. 

Der  Gegensatz  Nro.  3  wichtig  wegen  der  deutschen  Mund- 
arten. 

Aurich.  Krüoer. 


Charakterbilder 


Lessing's    Emilia    Galotti.*) 


I.  Oraina. 
Die  Gräfin  Orsina,  eine  durch  Schönheit,  Geburt  und 
Geist  ausgezeichnete  Dame,  hatte  den  Prinzen  von  Guastalla 
zum  Anbeter,  den  sie  mit  aller  Gluth  der  Leidenschaft  liebte. 
Doch  bald  wurde  ihr  Ilerz  auf  das  Empfindlichste  von  ihrem 
fürstlichen  Liebhaber  betrogen.  Noch  in  der  Wärme  des  En- 
thusiasmus hatte  er  ihr  Bild  bei  dem  grossen  Maler  Conti 
bestellt,  aber  kaum  waren  zehn  Wochen  seitdem  verstrichen, 
als  Orsina  die  quälende  Bemerkung  machte,  dass  sie  von  dem 
Prinzen  mit  immer  zunehmender  Zurücksetzung  behandelt 
wurde.  Diese  schreckliche  Entdeckung  kränkte  ihr  liebendes 
Herz  tief  und  beleidigte  zugleich  ihren  Stolz  höchlich.  Mari- 
nelli,  der  Kammerherr  des  Fürsten,  wollte  ihr  zwar  einreden, 
dass  der  Prinz  wegen  seiner  bevorstehenden  Vermählung  mit 
der  Piinzessin  von  Massa  den  Liebeshandel  mit  ihr  abbrechen 
müsse.  Aber  Orsina  durchschauete  gleich,  dass  dies  bloss  eine 
elende  Ausflucht  war,  denn  da  dem  Prinzen  die  Gemahlin  nicht 
die  Liebe,  sondern  die  PoUtik  zuführte,  so  glaubte  sie,  ihr 
Herz  nicht  zurücknehmen  zu  müssen,  weil  neben  einer  Gemah- 
lin die  Geliebte  immer  noch  ihren  Platz  sähe.  Nicht  so  einer 
Gemahlin  also  fürchtete  sie  aufgeopfert  zu  werden,  sondern 
einer  neuen  Geliebten.     Dass  Emilia  Galotti   die  neue  Geliebte 


*)  Vgl.  „Untersuchungen  über  Lessing's  Emilia  Galotti"  Archiv  XII, 
309  —  384.  Vgl.  das  Charakterbild  Appiani's  in  Körner's  „Höhere  Bürger- 
schule" Jahrgang  1856,  S.  257— 2C1;  Angelo's  ebendaselbst  Jahrgang  1857, 
S.  201—204. 

Archiv  f.  n.  Sinachcn.  XXIII.  1(5 


238  Charakterbilder  aus 

des  Prinzen  war,  wusste  sie  noch  nicht ;  ihr  Verdacht  schweifte 
auf  einer  ganz  andern  Fährte. 

Nicht  lange  konnte  Orsina  diesen  qualvollen  Zustand  aus- 
halten :  sie  kam  eines  Tages  von  ihrer  Villa  in  die  Residenz, 
um  ihr  Schicksal  zur  Entscheidung  zu  bringen.  Marinelli  er- 
schien bei  ihr,  doch  ihr  Stolz  litt  nicht,  dass  sie  ihm  ihre  bren- 
nende Liebe  zu  dem  Prinzen,  aus  der  die  Flamme  der  Eifer- 
sucht emporschlug,  verrathen  mochte.  Sie  wollte  also  mit  dem 
Kammerherrn  über  ihre  Angelegenheit  mit  dem  Prinzen  gar 
nicht  sprechen;  sie  wollte  sich  ganz  gelassen,  ganz  kalt  stellen; 
sie  schien  weit  entfernt,  dem  Fürsten  jemals  wieder  unter  die 
Augen  zu  kommen.  Aber  mitten  in  dem  gleichgültigsten  Ge- 
spräche entfuhr  ihr  eine  Wendung,  eine  Beziehung  über  die 
andere,  die  ihr  gefoltertes  Herz  verrieth.  Mit  dem  lustigsten 
Wesen  sagte  sie  die  melancholischsten  Dinge  und  wiederum  die 
lächerlichsten  Possen  mit  der  allertrauriosten  Miene.  Die  Treu- 
losigkeit  des  von  ihr  mit  aller  Kraft  ihrer  tiefen  Empfindung 
geliebten  Prinzen  hatte  den  Schwerpunkt  ihres  Lebens  verrückt, 
sie  war  beinahe  närrisch  geworden  und  nahm  in  ihrer  melan- 
cholischen Gemüthsverfassung  Avieder  Zuflucht  zu  den  Büchern. 

Während  der  Nacht  war  ihr  Entschluss  gefasst:  sie  schickte 
am  andern  Morgen  ihren  Läufer  mit  einem  Briefe  an  den  Für- 
sten, worin  sie  ihn  um  eine  Zusammenkunft  auf  seinem  Lust- 
schlosse Dosalo  ersuchte.  Ihr  Bote  wartet  auf  Antwort,  aber 
der  Prinz  lässt  den  Brief  hinlegen  und  dem  Läufer  durch  den 
Kammerdiener  sagen ,  er  werde  die  Antwort  senden ,  wenn-  es 
einer  bedürfe,  und  da  die  Gräfin  in  der  Stadt  selbst  sei,  so 
brauche  der  Läufer  um  so  weniger  zu  Avarten. 

Mit  diesem  zweideutigen  Bescheide  kehrt  der  Diener  zu 
seiner  angstvoll  harrenden  Gebieterin  zurück.  Sie  weiss  nicht, 
dass  der  Prinz  ihren  Brief  nicht  einmal  liest;  dass  er  ihr  Por- 
trait, welches  ihm  Conti  bringt,  nachdem  Orsina  während  dreier 
Monate  grade  einmal  sich  hatte  entschliessen  können,  zu  sitzen, 
mit  der  grössten  Gleichgültigkeit  aufnimmt;  ja  dass  er  die  Be- 
stellung ihres  Gemäldes  überhaupt  vergessen  hat.  Bei  weitem 
verletzender  als  durch  die  Aufnahme  jenes  Briefes  wird  nun- 
mehr ihr  Herz  getroffen,  als  sie  durch  ihre  Kundschafter  er- 
fährt ,    dass  der  Prinz  wenige  Minuten  darauf  in  der  Halle  bei 


Lessing's  Eiiüliu  (Jiilotti.  239 

den  Dominicanern  ein  Langes  und  Breites  mit  einer  Emilia 
Galotti,  ihrer  Nebenbuhlerin,  deren  Namen  sie  jetzt  erst  kennen 
lernte,  gesprochen  und  was  er  gesprochen  hatte. 

Sie  war  nun  fest  entschlossen,  der  ganzen  Angelegenheit 
eine  entscheidende  Wendung  zu  geben  und  da  sie  hörte,  dass 
der  Fürst,  obgleich  er  ihr  keine  Antwort  ertheilt  hatte,  kurz 
nachher  wirklich  nach  Dosalo  abgefahren  war,  so  bewaffnete 
sie  sich  mit  Gift  und  Dolch  und  fuhr  ebendahin  ab,  um  sich 
im  äussersten  Falle  an  dem  verhassten  Verräther  mit  dem 
Dolche  zu  rächen  und  sich  dann  selbst  durch  Gift  aus  einer 
Welt  zu  schaffen,  welche  für  sie  keinen  Werth  melir  hatte, 
wenn  der  von  ihr  trotz  der  schmählichsten  Ti-eulosigkcit  heiss 
Geliebte  nicht  mehr  lebte.  Orsina  war  nicht  sobald  aus  der 
Stadt  heraus,  als  sie  dem  Wagen  begegnete,  auf  welchem  der 
Leichnam  des  Grafen  Appiani  lag,  welcher  von  Räubern  er- 
schossen sein  sollte;  aber  sie  ahnte  noch  nicht,  welchen  Zu- 
sammenhang diese  Katastrophe  hatte,  und  war  zu  sehr  mit  sich 
selbst  beschäftigt,  um  der  Sache  eine  grössere  Aufmerksamkeit 
zu  widmen. 

Die  Gräfin  kommt  zu  Dosalo  an,  aber  an  dem  Orte,  wo 
ihr  sonst  ein  ganzes  Heer  o-eschäftio-er  Auo-endiener  entgegen- 
stürzte,  wo  sie  sonst  Liebe  und  Entzücken  erwartete,  musste 
ihr  Stolz  jetzt  die  empfindliche  Erfahrung  machen,  dass  sie 
eine  gefallene  Grösse  war,  da  die  Sonne  der  fürstlichen  Gunst 
ihr  nicht  mehr  lächelte.  Niemand  kommt  ihr  entgegen  ausser 
dem  Bedienten  Marinelli's ,  Battista,  welcher  dem  Befehle  des 
durch  ihre  unerwartete  Ankunft  überraschten  Prinzen  gemäss 
ihr  lieber  gar  den  Eintritt  verweigert  hätte.  Sie  will  in  das 
Zimmer,  wo  sie  ein  weibliches  Kreischen  hört  und  wo  sie  den 
Prinzen  vermuthet,  aber  der  Bediente  tritt  hindernd  in  den 
Wesf.  Jetzt  wird  sie  auf  dem  Vorsaale  den  Kammerherrn 
gewahr.  Zuerst  ist  sie  zufrieden,  dass  der  Fürst  ihn  mit- 
genommen hat ,  denn  der  Gedanke  fährt  ihr  durch  den  Kopf, 
dass  sie  durch  jNIarinelli ,  der  ein  Vertrauter  des  Prinzen  war 
und  der  ihre  Partei  zu  nehmen  schien,  weil  er  nicht  wusste, 
ob  nicht  sein  Avankehnüthiger  Herr  zu  der  verlassenen  Ge- 
liebten zurückkehren  würde,  ihren  Zweck  fördern  könne.  Aber 
bald    verwarf  ihr   Stolz    das    unwürdige  Mittel,   sich  der  Hülfe 

IG* 


240  Charakterbilder  aus 

eines  Höflings  zu  bedienen,  den  sie  ohnehin  wie  das  ganze 
elende  Hofgeschmeiss  gründhch  verachtete.  Denn  was  sie  mit 
dem  Prinzen  auszumachen  hatte,  glaubte  sie  nur  mit  ihm  aus- 
machen zu  müssen.  Sie  will  hastig  in  das  Zimmer,  wo  sie 
ihn  vermuthet,  denn  sie  hält  es  nicht  für  schicklich,  mit  dem 
Kammerherrn  hier  in  dem  Vorgemaöhe  einen  elenden  Schnick- 
schnack zu  halten,  während  der  Prinz  in  dem  Gemache  auf  sie 
warte.  Wie  schrecklich  enttäuscht  wird  sie  aber,  als  sie  von 
Marinelli  erfährt ,  dass  der  Fürst  nicht  auf  ihren  Brief  zu 
Dosalo  sei,  da  er  ihn  nicht  gelesen  habe!  Die  Heftigkeit,  mit 
welcher  sie  zuerst  diese  Nachricht  aufnimmt,  löst  sich  allmälig 
in  Wehmuth  auf  und  der  Schmerz  über  diese  lieblose  Behand- 
lung presst  ihr  eine  Thräne  und  die  Worte  aus:  „Nicht"  ein- 
mal gelesen?"  Hatte  Orsina  schon  vorher  durch  ihre  uner- 
wartete Ankunft,  welche  als  ein  sonderbarer  Zufall  erschien, 
den  Kammerherrn  verblüfft,  so  brachte  ihre  Gemüths Verfassung 
den  Höfling  immer  mehr  aus  dem  Gleichgewicht.  Als  Marinelli 
versichert,  dass  sein  Herr  nicht  aus  Verachtung  die  Lesung  des 
Briefes  unterlassen  habe,  weist  die  Gräfin  die  MögHchkeit  einer 
Verachtung  mit  stolzem  Selbstgefühl  zurück  und  straft  den 
unverschämten  Tröster  mit  gebührendem  Nachdruck.  Aber  so- 
gleich wird  sie  wieder  ein  Raub  der  schwermüthigen  Empfin- 
dung, dass  der  Prinz  sie  offenbar  nicht  mehr  liebe,  welche  sie 
durch  den  Gedanken  zu  beschwichtigen  sucht,  dass  es  ja  nur 
Gleichgültigkeit  zu  sein  brauche,  was  bei  ihm  an  die  Stelle  der 
Liebe  getreten  sei.  Doch  bald  hat  ihr  dialectischer  Geist  aus- 
geklügelt, dass  Gleichgültigkeit  ein  leeres  Wort  ist,  dem  nichts 
entspricht.  Freilich  bereuete  sie  nun,  dass  sie  den  Kammer- 
herrn in  einer  Art  von  Geistesabwesenheit  wie  eine  Philosophin 
über  das  Wesen  der  Gleich gültigkeit  belehrt  hatte.  Auch  kam 
es  ihr  zum  Bewusstsein,  dass  sie  die  Verachtung  des  Prinzen 
wohl  mit  verschuldete,  weil  sie  öfters  den  weltlustigen  Genuss- 
menschen die  Ueberlegenheit  ihres  denkenden  Geistes  hatte 
fühlen  lassen.  Sie  hätte  nichts  als  lachen  sollen,  um  immerdar 
ihren  Herrn  bei  guter  Laune  zu  erhalten,  und  während  der 
Blüthezeit  des  Liebesverhältnisses  hatte  sie  dies  auch  vermocht, 
denn  sie  machte  den  Prinzen,  wie  er  selbst  sagt,  leicht,  fröh- 
lich, ausgelassen;  aber  sobald  sie  sich  ihre  Gelehrsamkeit  hatte 


Lessing's  Emilia  Galotti.  241 

merken  lassen,  sah  der  Liebhaber  darin  eine  Narrheit,  welche 
ihn  der  büelicrlcsenden  Schwärmerin  mit  entfremdete.  Diese 
tragische  Entdcckmig,  dass  sie  nicht  genug  gelacht  habe,  regt 
in  der  verlassenen  GeHebten  die  Sucht  auf,  das  Lachen  se- 
Wissermassen  nachzuholen,  und  nun  zwingt  sie  sich  zu  einem 
krampfhaften  Gelächter  über  den  sehr  sonderbaren,  sehr  närri- 
schen Zufall,  dass  sie  dem  Prinzen  schreibt,  er  solle  nach  Do- 
salo  kommen,  dass  der  Prinz  ihren  Brief  nicht  Hest  und  dass 
er  doch  nach  Dosalo  kommt.  Doch  indem  sie  nachdenkt  bis 
zur  Rührung,  findet  sie,  dass  das,  worüber  sie  sich  zum  Lachen 
zwingt,  wie  Alles  in  der  Welt,  auch  seine  sehr  ernsthafte  Seite 
habe.  Ihr  ahnungsvoller  Geist  sagt  ihr,  dass  hier  kein  Zufall 
obwalten  könne.  Das  Wort  Zufall  sei  Gotteslästerung.  Nichts 
unter  der  Sonne  sei  Zufall,  am  wenigsten  das,  wovon  die  Ab- 
sicht so  klar  in  die  Augen  leuchte.  In  der  frommen  Reüuna: 
ihres  Gemüths  bittet  sie  die  allmächtio-e,  allgütio-e  Vorsicht,  ihr 
zu  vergeben,  dass  sie  mit  dem  albernen  iSiinder  Marinelli  einen 
Zufall  genannt  habe,  was  so  offenbar  das  Werk,  wohl  gar  das 
unmittelbare  Werk  derselben  sei.  Der  Glaube  an  das  Walten 
der  Vorsehung  ist  so  lebhaft  in  ihr,  dass  sie  den  Höfling  hart 
anlässt,  weil  er  sie  zu  dem  Fehltritt  verleitet  habe,  von  einem 
Zufall  zu  sprechen. 

Die  Gräfin  erlag  beinahe  unter  der  Gewalt  dieser  mannig- 
fach sich  durchkreuzenden  Gefühle  und  durch  die  dauernde 
Aufregung  ihres  Geistes  war  ihr  Kopf  so  angegriffen,  dass  sie 
sich  init  der  Hand  die  Stirn  halten  musste  und  den  Kammer- 
herrn bat,  sie  bald  den  Prinzen  sprechen  zu  lassen,  Aveil  sie 
es  sonst  wohl  gar  nicht  im  Stande  sei.  Denn  sie  ist  überzeugt 
richtig  zu  deuten,  dass  sie  sich  sprechen  sollen  und  müssen. 
In  diesem  Augenblicke  tritt  der  Prinz  aus  dem  Cabinette. 
Die  Gräfin  wird  überrascht,  als  sie  ihn  erblickt,  und  ist  un- 
entschlossen, ob  sie  auf  ihn  zugehen  soll.  Doch  bald  soll  sie 
merken,  dass  ihre  Erscheinimg  den  Fürsten  nicht  mehr  fesselt. 
Sie  muss  nun  aus  dem  Munde  ihres  treulosen  Anbeters  selbst 
hören ,  was  sie  dem  Kammerherrn  nicht  glauben  wollte :  dass 
er  sich  die  Ehre  ihres  Besuchs  heute  nicht  zu  Nutze  machen 
kann;  dass  er  beschäftigt,  dass  er  nicht  allein  ist;  dass  sie  sich 
ja  nicht  aufhalten  soll. 


242  Charakterbilder  aus 

Orsina  ist  iiocli  ganz  betäubt,  als  sich  der  Prinz  schon 
wieder  entfernt  hat,  und  traut  ihren  Ohren  nicht,  denn  eine 
so  schnöde  Zurücksetzung  hatte  sie  nicht  für  möglich  gehalten. 
Mit  einer  Kührung,  welche  unser  Mitleid  mit  der  Unglücklichen 
in  hohem  Maasse  steigert,  fragt  sie,  ob  sie  solche  elenden  Ent- 
schuldigungen verdiene,  mit  denen  man  jeden  Ueberlästigen, 
jeden  Bettler  abweise.  Sie,  die  frühere  Geliebte  eines  Prinzen, 
könne  doch  wohl  trotz  der  Resignation,  zu  welcher  sie  verur- 
theilt  sei,  erwarten,  dass  man  um  ihretwillen  eine  einzige  kleine 
Lüge  mehr  als  Entschuldigung  vorbringe.  Aus  Barmherzigkeit 
soll  ihr  Marinelli  nur  auf  eigene  Rechnung  eins  vorlügen,  dann 
will  sie  ja  gern  gehen.  Unter  dieser  Bedingung  sagt  ihr  der 
dienstbeflissene  Günstling  des  Fürsten  nun  wirklich  die  Wahr- 
heit, dass  die  Braut  des  erschossenen  Appiani  und  die  Mutter 
der  Braut,  mit  welchen  der  Graf  nach  Sabionetta  zu  seiner 
feierlichen  Verbindung  fahren  wollen,  sich  nach  Dosalo  gerettet 
haben  und  bei  dem  Prinzen  befinden.  In  aufkeimendem  Arg- 
wohn wirft  Orsina  die  Frage  auf,  ob  die  Braut  schön  sei, 
welche  Marinelli  durch  die  Aeusserung,  dem  Prinzen  gehe  ihr 
Unfall  ungemein  nahe,  zu  bejahen  scheint.  Einen  Augenblick 
versetzt  sie  sich  in  die  unglückliche "  Lage  der  Braut ,  mit 
welcher  sie  die  ihrige  im  Gedanken  vergleicht.  Aber  dann  setzt 
sie  hastig  ihre  Nachforschungen  fort  und  fragt  nach  dem  Namen 
der  Braut,  da  sie  so  lange  aus  der  Stadt  sei,  dass  sie  von  gar 
nichts  wisse.  Marinelli  spricht  den  verhängnissvollen  Namen 
„Emilia  Galotti"  aus  —  und  sofoi-t  hatte  Orsina  mit  ihrem 
durchdringenden  Verstände,  gleichsam  als  ob  eine  höhere  Macht 
sie  inspirirt  hätte,  das  Bubenstück  des  Fürstendieners  durch- 
schaut. Der  Bräutigam  ist  erschossen,  Emilia  Galotti  hat  der 
Prinz  heute  Morgen  in  der  Kirche  mit  grosser  Vertraulichkeit 
und  Inbrunst  angeredet,  jetzt  ist  die  Braut  bei  dem  Prinzen  — 
dies  Alles  reimt  Orsina  mit  einer  Verstandesoperation  von 
räthselhafter  Geschwindigkeit  zusammen  und  im  Nu  ist  das 
fein  gesponnene  Netz  Marinelli's  zerrissen,  die  verbrecherische 
Absicht  des  Prinzen  entdeckt.  Schrecklich  ist  die  teuflische 
Freude,  welche  die  betrogene  Geliebte  darüber  empfindet:  sie 
klatscht  triumphirend  in  die  Hände  und  ruft  einmal  über  das 
andere  Bravo !  Sie  sagt  dem  Kammerherrn  grade  heraus ,   dass 


Lessing's  Emilia  Galottl.  243 

er  der  Teufel  sei,  der  den  rrinzen  dazu  verleitet  habe,  und 
schreit  ihm  laut  in's  Ohr,  dass  sein  Herr  ein  Mörder  sei. 
Vergebens  wendet  der  ganz  aus  der  Fassung  gebrachte  Schurke 
ein,  sie  sei  nicht  bei  Sinnen,  denn  ßle  ist  selten  oder  nie  mit 
ihrem  Verstände  so  wohl  zufrieden  gewesen,  als  eben  jetzt  und 
sie  bleibt  dabei,  den  Appiani  haben  nicht  Räuber,  den  haben 
Helfershelfer  des  Prinzen,  den  habe  der  Prinz  umo-ebracht. 
Furchtlos  will  sie  dies  morgen  auf  dem  Markte  ausrufen  und 
wenn  sie  sich  dadiurh  um  den  Hals  reden  sollte. 

Eben  will  Orsina  fort,  da  kommt  der  alte  Odoardo.  Er 
ist  sehr  willkommen,  da  sie  hört,  dass  er  der  Vater  Emilia's 
ist,  denn  in  ihm  sieht  sie  sofort  das  Werkzeug,  das  ihrer 
Rache  dienen  kann.  Es  hilft  nichts,  dass  Marinelli,  welcher 
die  Gefahr  dieses  Zusammentreffens  gleich  überschauete ,  die 
Gräfin  zu  entfernen  sucht :  sie  bleibt.  Nach  dem  Abnanae  des 
Kammerherrn,  der  den  Obersten  melden  will,  betrachtet  sie  mit 
dem  innigsten  Mitleid  den  unglücklichen  Vater,  den  lieben  outen 
Mann,  den  sie  sich  selbst  zum  Vater  wünscht,  und  will  treu- 
Hch  Schmerz  und  Wuth  mit  ihm  theilen.  Sie  hatte  nicht  so- 
bald angefangen,  ihm  sein  Unglück  anzudeuten,  als  er  auch 
schon  merkte,  dass  er  es  mit  keiner  Wahnwitzigen  zu  thun 
hatte,  wie  ihm  Marinelli  beim  Weggehen  hatte  einreden  wollen, 
damit  Odoardo  den  Reden  Orsina's  keinen  Glauben  schenke. 
Und  doch  fühlte  sie  so  was  von  Wahnwitz,  denn  wer  über 
gewisse  Dinge  den  Verstand  nicht  verliert,  der  hat  keinen  zu 
verlieren.  Tropfenweise  reicht  sie  dem  Alten  das  Gift  ihrer 
Entdeckungen  dar:  sie  entdeckt  ihm  allmälig,  dass  Appiani 
todt  und  Emilia  auf  des  Prinzen  Lust-Lustschlosse  ist,  bis  der 
alte  Vater  vor  Wuth  schäumt  und  nur  bedauert,  ohne  Gewehr 
gegen  den  Mörder  zu  sein.  Da  reicht  sie  ihm  ihren  Dolch,  ja 
sie  dringt  ihm  denselben  auf  und  ermahnt  ihn,  er  solle  die 
erste  beste  Gelegenheit  ergreifen,  um  von  ihm  Gebrauch  zu 
machen.  Jetzt  wird  Orsina  noch  einmal  von  Schmerz  ,  Hass, 
Wuth,  Rachedurst  und  Verzweiflung  ergriffen.  Diese  dämo- 
nischen Mächte  steigen  unwiderstehlich  aus  ihrem  Gemüthe  auf 
und  machen  sie  zu  einer  von  bösen  Geistern  Besessenen ,  zu 
einer  Furie.  Denn  unaussprechlich ,  überschwänglich  und  un- 
begreiflich ist    und  wird    sie  von  dem  Prinzen  beleidigt,   sie  is 


244  Charakterbilder  aus 

die  betrogene,  verlassene  Orsina,  und  mit  bacchantischem  Jubel 
sieht  sie  voraus,  vs^ie  auch  Emilia,  so  wie  alle  Uebrigen,  von 
dem  Prinzen  verlassen  werden  wird.  Welch'  eine  dämonische 
Freude  empfindet  sie  darüber,  wenn  sie  in  visionärer  Ent- 
zückung das  ganze  Heer  der  Verlassenen  als  Furien  das  Herz 
des  Verräthers  zerfleischen  sieht! 

Nach  dieser  Scene  ist  die  Gemüthskraft  der  Unglücklichen 
gebrochen,  der  Vulcan  ist  ausgebrannt  und  sprüht  nur  noch 
wenige  Funken.  Wir  erfahren  bloss  noch,  dass  sie  auf  Bitten 
Odoardo's  die  unterdessen  herausgetretene  Mutter  Emilia's  in 
ihrem  Wagen  mit  nach  Guastalla  nimmt.  Aber  sollte  es  Avohl 
zweifelhaft  sein ,  dass  wir  uns  die  Gräfin  nach  solchen  Erfah- 
rungen in  Wahnsinn  verfallen  denken  müssen,  besonders  da  sie 
schon  von  Natur  einen  Ansatz  zu  trübsinniger  Schwermuth 
hatte? 


n.     Odoardo. 

Odoardo  Galotti,  Oberster,  von  bürgerlicher  Herkunft,  ist, 
wie  sein  Feind  der  Prinz  ihn  richtig  charakterisirt ,  ein  alter 
Degen,  stolz  und  rauh,  sonst  bieder  und  gut.  Man  kann 
denken,  dass  jene  Feindschaft  auf  dem  unbeugsamen  Rigorismus 
des  Biedermannes  beruhte,  welcher  dem  Fürsten  unbequem  war, 
zudem  war  es  Odoardo,  welcher  sich  seinen  Ansprüchen  auf 
Sabionetta  am  meisten  widersetzte.  Odoardo  also  M'ar  nicht  der 
Mann,  um  die  Rolle  eines  Höflings  zu  spielen  und  sich  als 
gehorsamer  Diener  vor  dem  Fürsten  zu  bücken:  er  hatte  sich, 
ohne  sich  den  Hass  des  Prinzen  anfechten  zu  lassen,  %ielmehr 
ganz  auf  sein  Landgut  bei  Sabionetta  zurückgezogen,  während 
seine  Gemahlin  mit  der  Tochter  in  Guastalla  lebte.  Aber  heute 
freilich,  wo  sein  Liebling  Appiani  mit  seiner  Tochter  getraut 
werden  soll,  hält  es  ihn  auf  seinem  Landsitze,  wo  erst  am 
Abend  die  Hochzeit  stattfinden  wird,  nicht  zurück:  er  kommt 
plötzhch  in  den  Hof  seines  Hauses  in  Guastalla  gesprengt  und 


Lessing's  Emilia  Galotti.  245 

überrascht  seine  Gattin  auf  die  angenehmste  Art.  Das  Glück 
des  heutigen  Tages  hatte  ihn  so  früh  geweckt ;  der  Morgen  war 
so  schön ,  der  Weg  so  kurz ;  er  vermuthete  seine  Familie  so 
geschäftig;  er  dachte,  sie  könnten  leicht  etwas  vergessen.  Mit 
einem  Worte :  er  will  nur  sehen,  um  alsbald  wieder  zurückzu- 
kehren. 

Die  glückliche  Stimmung  des  Alten  wird  aber  sogleich 
getrübt,  als  er  erfährt,  dass  Emilia  ganz  allein  nach  der  Messe 
gegangen  ist ;  denn  obgleich  es  nur  wenige  Schritte  sind ,  so 
hält  doch  der  besorgte  Vater  Einen  genug  zu  einem  Fehltritt 
und  macht  seiner  Gemahlin  deshalb  ein  sti-enges  Gesicht. 
Claudia  sucht  zwar  seinen  Unmuth  zu  beschwichtigen  und  ihn 
durch  eine  Einladung  in  ihr  Cabinet,  wo  er  ein  wenig  ausruhen 
und  eine  Erfrischung  nehmen  könne ,  auf  andere  Gedanken  zu 
bringen,  aber  Odoardo  brütet  noch  immer  über  den  Gegenstand 
und  wiederholt  den  Avarnenden  Vorwurf,  Emilia  sollte  nicht 
allein  o^eo-angen  sein,  aus  welchem  wir  den  sittlichen  Ernst  des 
Mannes  erkennen  und  seine  Reizbarkeit  ahnen. 

Nach  einer  Weile  sehen  wir  den  Obersten  mit  Claudia 
aus  dem  Zimmer,  wohin  er  ihr  gefolgt  war,  wieder  in  den 
Saal  treten.  Vergebens  hat  er  bis  jetzt  auf  seine  Tochter  ge- 
wartet, die  er  gern  gesehen  hätte;  aber  sie  bleibt  ihm  zu  lange 
aus  und  nur  wenige  Augenblicke  lässt  er  sich  noch  zurück- 
halten. Denn  er  fühlt  sich  gedrungen,  auch  bei  dem  Grafen 
Appiani  noch  vorzusprechen.  Kaum  kann  er  es  erwarten,  diesen 
würdigen  jungen  Mann  seinen  Sohn  zu  nennen,  an  dem  ihn 
Alles  entzückt,  besonders  der  Entschluss,  in  seinen  väterlichen 
Thälern  sich  selbst  zu  leben.  Wie  ganz  fand  sich  Odoardo 
in  dieser  Denkungsart  Appiani's  wieder,  da  er  selbst  die  länd- 
liche Zurückgezogenheit  fern  von  dem  Getümmel  der  argen 
Welt  liebte !  Es  ist  ihm ,  dem  uneigennützigen  Vater ,  ganz 
unbegreiflich ,  dass  seine  Frau  ihr  Vergnügen  an  Emilia  mit 
dem  Glücke  ihrer  Tochter  verwechselt  und  dieselbe  zu  ver- 
lieren fürchtet,  wenn  sie  sie  doch  in  den  Armen  der  Liebe 
weiss.  So  steigt  in  ihm  der  alte  Argwohn  wieder  auf,  dass 
es  mehr  das  Geräusch  und  die  Zerstreuung  der  Welt ,  mehr 
die  Nähe  des  Hofes  war,   als  die  Nothwendigkeit ,   der  Tochter 


246  Charakterbilder  aus 

eine  anständige  Erziehung  zu  geben ,  was  Claudia  bewog ,  in 
der  Stadt  fern  von  einem  liebevollen  Gatten  und  Vater  zu 
bleiben.  Freilich  musste  er  einräumen,  dass  nur  in  der  Nähe 
des  seiner  strengen  Tugend  so  vorhassten  Hofes  Appiani  und 
Emilia  sich  finden  konnten,  aber  grundsätzlich  hielt  er  doch 
die  Ueberzeugung  von  den  Gefahren  des  Stadt-  und  Hoflebens 
fest  und  wollte  durchaus  nicht  zugeben ,  dass  seine  Gemahlin 
E,echt  hatte,  weil  ihr  der  Ausgang  Recht  gab.  Er  ist  froh, 
dass  es  mit  dieser  Stadterziehung  so  abgelaufen ,  und  wünscht, 
dass  Claudia  die  Brautleute  ziehen  lässt.  Mit  beredten  Wor- 
ten, die  ihm  aus  der  Seele  strömen,  vertheidigt  er  nun  Appiani's 
Entschluss,  in  seinem  Heimathlande  sich  selbst  zu  leben.  Wie 
betroffen,  ja  erschreckt  ist  er  aber,  als  er  von  seiner  Gattin 
erfährt,  dass  der  Prinz  sich  in  der  letzten  Vegghia  (Abend- 
gesellschaft) bei  dem  Kanzler  Grimaldi  sehr  gnädig  gegen 
Emilia  bezeigt ,  sich  sehr  lange  mit  ihr  unterhalten ,  von  ihrem 
Witze  und  ihrer  Munterkeit  sehr  bezaubert  geschienen  und  von 
ihrer  Schönheit  mit  sehr  vielen  Lobeserhebungen  gesprochen 
habe!  Der  Ton  der  Entzückung,  mit  dem  Claudia  dies  Alles 
erzählt,  ist  ihm  ganz  unbegreiflich,  sein  Blut  geräth  in  Wallung 
und  er  kann  sich  nicht  enthalten,  der  eitlen,  thörichten  Mutter 
strenge  Vorwürfe  zu  machen.  Ein  Stein  fällt  ihm  vom  Herzen, 
dass  auch  dies  so  abgelaufen.  Aber,  wenn  er  sich  einbildet, 
dass  dies  Folgen  haben  könnte  —  (der  Unglückliche  ahnte 
nicht,  was  unterdessen  geschehen  war),  so  geräth  er  ausser 
Fassung,  denn  das  ist  grade  der  Ort,  wo  er  am  tödtlichsten 
zu  verwunden  wäi*e.  Ein  Wollüstling,  der  bewundert,  begehrt 
—  dör  blosse  Gedanke  setzt  ihn  in  Wuth.  Er  macht  seiner 
Gemahlin  ernste  Vorwürfe,  dass  sie  es  nicht  sogleich  gemeldet 
hatte.  Doch  möchte  er  ihr  heute  nicht  gern  etwas  Unangeneh- 
mes sagen,  aber  er  würde  es  unfehlbar,  wenn  er  länger  bliebe. 
Darum  reisst  er  sich  von  ihr  los ,  empfiehlt  sie  dem  Schutze 
Gottes  und  scheidet  mit  dem  Wunsche,  der  nicht  in  Erfüllung 
gehen  sollte,  dass  alle  drei  Glieder  der  Familie  glücklich  nach- 
kommen mögen. 

Odoardo    geht    nunmehr    zu    Fuss    zu   Appiani,    denn    sein 
Pferd  hatte  er  schon  vorher  durch  Pirro,  seinem  Bedienten,  vor 


Lessing's  Emilia  Galotti.  247 

des  Grafen  Haua  bringen  lassen.  Unterdessen  hat  sich  das 
von  dem  Vater  besorgte  Unglück  verwirklicht  und  der  beglei- 
tungslose Kirchgang  Eniilia's  als  ein  vcrliängnissvoller  erwiesen: 
Emilia  ist  dabei  von  dem  Prinzen  mit  Liebesversicherungen 
bestürmt  und  verfolgt  worden.  Wenn  das  ihr  Vater  jetzt  von 
der  in  höchster  Verwirrung  zurückgekehrten  Tochter  erfahren 
hätte,  wie  es  ihre  Älutter  erfuhr,  er  hätte  sich  selbst  niclit  ge- 
kannt vor  Wuth ,  er  hätte  in  seinem  besinnungslosen  Zorne 
Emilia,  den  unschuldigen  Gegenstand  des  Verbrechens,  mit  dem 
Verbrecher  selbst  verwechselt ,  und  auch  Claudia  hätte  ihm  in 
seiner  blinden  Hitze  geschienen,  das  veranlasst  zu  haben,  was 
sie  weder  verhindern  noch  vorhersehen  konnte. 

Aber  zum  Glück  erfährt  Odoardo  nichts :  schon  hatte  er 
sich  aus  den  Umarmungen  seines  künftigen  Schwiegersohnes, 
der  in  ihm  das  Muster  aller  männlichen  Tugend  verehrt,  ge- 
rissen, sich  auf  sein  Pferd  gesetzt  und  ist  nach  seinem  Land- 
gute zurückgeritten.  Seine  Seele  war  durch  die  Zusammen- 
kunft mit  seinem  geliebten  Appiani  in  die  glücklichste  Stimmung 
versetzt,  als  sie  auf  einmal  aus  der  wiedergewonnenen  Ruhe  in 
die  aufregendste  Besorgniss  geworfen  wurde.  Ein  Bedienter 
nämlich  kam  ihm  entgegengesprengt  mit  der  Nachricht ,  dass 
in  der  Nähe  von  Dosalo  die  Seinigen  in  Gefahr  wären.  Er 
fliegt  herzu  und  hört ,  dass  der  Graf  Appiani  verwundet  wor- 
den, dass  er  nach  der  Stadt  zurückgekehrt  und  dass  seine  Frau 
und  Tochter  sich  in  das  Schloss  gerettet  haben.  Eiligst  tritt 
er  also  in  Dosalo  herein ,  ohne  sich  anmelden  zu  lassen ,  denn 
er  ist  in  der  grössten  Bestürzung  über  das  Schicksal  seiner 
Familie.  Hastig  fragt  er  Marinelli  nach  den  Seinigen  und  kann 
es  nicht  begreifen,  dass  der  Kammerherr  ihn  erst  bei  dem  Prin- 
zen melden  will ,  gibt  sich  aber  zuvörderst  zufrieden ,  als  ihm 
der  Höfling  andeutet,  dass  sein  unvermutheter  Anblick  dem 
Fürsten,  mit  dem  er  nicht  auf  dem  freundschaftlichsten  Fusse 
stehe  ,  nicht  gelegen  sein  könne.  Auch  darin  sucht  er  nichts 
Arges,  als  er  von  Marinelli  bei  Seite  gezogen  und  leise  ge- 
warnt wird,  auf  die  Reden  der  noch  verweilenden  Gräfin  Or- 
sina  Gewicht  zu  legen,  da  es  mit  ihrem  Verstände  nicht  richtig 
aussehe.     Denn    Avas    gehen    ihm  jetzt    die  Reden  einer  Wahn- 


248  Charakterbilder  aus 

witzigen  an  ?  Für  ihn  ist  jetzt  das  Wichtigste,  so  bald  als  mög- 
lich angemeldet  zu  werden. 

Nachdem  nun  Marinelli  sich  zu  dem  Zwecke  entfernt  hat, 
betrachtet  er  die  „Wahnwitzige"  mit  einer  flüchtigen  Neugierde, 
wird  aber  sofort  aufmerksam,  als  er  sich  von  Orsina  einen  Un- 
glücklichen nennen  hört.  Von  ihr  erfährt  er  in  folternden  Ab- 
sätzen, dass  noch  andere  Nachrichten  auf  ihn  warten,  dass  er 
noch  nichts  weiss ,  dass  er  bald  Schmerz  und  Wuth  mit  ihr 
theilen  wird,  dass  seine  Tochter  ein  unglückliches  Kind  ist, 
dass  er  bald  den  Verstand  verlieren  wird.  Zwar  möchte  er 
ihren  Reden  keinen  Glauben  beimessen,  aber  er  kann  sie  nicht 
für  die  Reden  einer  Wahnwitzigen  halten  und  die  warmen  Her- 
zensergiessungen  Orsina's,  welche  ihn  einen  guten,  lieben  Vater 
nennt  und  an  seiner  entschlossenen,  ehrwürdigen  Miene  Ver- 
stand sieht,  ketten  seine  bange  Aufmerksamkeit  unwiderstehlich 
an  die  W^orte  der  Gräfin.  Die  blosse  Angst  wegen  der  Eröff- 
nungen, die  ihm  Orsina  machen  will,  könnte  ihn  schon  um  den 
Verstand  bringen  und  nun  muss  er  von  ihr  erfahren,  dass 
Appiani,  sein  geliebter  Appiani,  nicht  bloss  verwundet,  sondern 
todt  ist:  dies  bricht  ihm  'das  Herz.  Aber  das  einzige  Wort, 
das  ihn  um  den  Verstand  bringen  soll,  hört  er  nun  erst,  denn 
das  Gift  der  Enthüllungen  wird  ihm  von  Orsina  tropfenweise 
beigebracht:  des  Morgens  sprach  der  Prinz  seine  Tochter 
in  der  Messe  und  des  Nachmittags  hat  er  sie  auf  seinem 
Lustschlosse.  Es  ist  nun  klar,  dass  Appiani  meuchlings  er- 
, mordet  ist,  und  Odoardo  ist  überzeugt,  dass  seine  Tochter, 
deren  Gesinnung  er  kennt,  nicht  freiwillig  nach  Dosalo  ge- 
flüchtet, sondern  nur  gewaltsam  dorthin  entführt  sein  kann. 
Aber  obgleich  ihm  dies  einen  kleinen  Trost  gewährt,  so  ist  er 
doch  von  der  schmerzlichsten  Wuth  ergriffen,  blickt  wild  um 
sich  und  stampft  und  schäumt,  dass  Claudia's  Unvorsichtigkeit 
und  Eitelkeit  seine  Befürchtungen  hat  zur  Wahrheit  werden 
lassen.  Dass  Emilia  nun  wirklich  in  den  Händen  des  begeh- 
renden Wollüstlings  ist,  bringt  ihn  ganz  aus  der  Fassung  und 
der  einzige  Gedanke,  der  ihn  jetzt  stachelt,  ist  Rache.  Aber 
da  steht  er  nun  vor  der  Höhle  des  Räubers  und  vergebens 
schlägt  er   den  Rock   von   beiden  Seiten  auseinander  und  fühlt 


Lessing's  Emilia  Galotti.  249 

an  alle  Schubsäcke:  er  sieht  sich  ohne  Gewehr,  was  er  aus 
Eilfertigkeit  vergessen  hatte.  Doch  dafür  ist  Rath:  Orsina, 
die  ihn  zugleich  als  Werkzeug  ihrer  Rache  an  den  Prinzen 
gebrauchen  will,  dringt  ihm  einen  Dolch  auf  und  er  dankt  ihr 
dafür  mit  den  wärmsten,  zutraulichsten  Worten,  indem  er  ihn 
geschwind  bei  Seite  steckt. 

Der  Besitz  des  Racheinstruments  imd  der  Anblick  seiner 
Frau,  welche  eben  aus  dem  Gemache  des  Prinzen  heraustritt, 
macht  den  ergrimmten  Vater  wieder  gefasster  und  mit  Ruhe 
fragt  er  nach  denr  Ereignissen.  Aber  seine  Fassungslosigkeit 
erneut  sich,  als  er  die  schrecklichen  Angaben  Orsina's  durch 
Claudia  bestätigen  hört,  er  bricht  in  bitteres  Lachen  aus  und 
tobt,  indem  er  wild  hin  und  her  geht,  dass  er  noch  nicht  wahn- 
witzig ist.  Doch  auf  ernstes  Bitten  Claudia's  zwingt  er  sich 
wieder  zur  Ruhe  und  verabredet  besonnen  die  Anordnunsfen, 
die  jetzt  zu  treffen  sind.  Da  er  selbst  zu  Pferde  ist,  bittet  er 
Orsina,  seine  Frau  in  ihrem  Wagen  mit  nach  der  Stadt  zu 
nehmen.  Von  Guastalla  soll  dann  Claudia  soo-leich  für  ihn 
und  Emilia  den  W^agen  herausschicken.  Er  ist  fest  entschlossen, 
seine  Tochter  nicht  wieder  nach  der  Residenz  zu  bringen:  sie 
soll  mit  ihm ,  und  er  duldet  keine  Einwendung  der  Mutter, 
welche  sich  nicht  gern  von  dem  Kinde  trennen  will.  Denn  der 
Vater  bleibt  ja  in  der  Nähe  der  Tochter  und  er  hofft,  dass  man 
ihn  endlich  doch  vorlassen  wird.  Er  führt  also  Orsina  und 
Claudia  zum  Wagen  und  ist  nunmehr  allein  auf  den  Kampf- 
platz gegen  den  Prinzen  gestellt ,  an  dem  er  sich,  wie  er  der 
Gräfin,  seiner  Freundin  und  W^ohlthäterin,  noch  bei  ihrem  Ab- 
gange leise  zuflüstert,  zu  rächen  gedenkt. 

Noch  ist  Odoardo  nicht  mit  dem  Prinzen  zusammenge- 
troffen, sondern  geht  die  Arkade  auf  und  nieder;  eben  biegt  er 
em  und  will  kommen,  aber  dann  kehrt  er  wieder  um,  denn 
ganz  einig  ist  er  mit  sich  noch  nicht,  aber  um  ein  Grosses 
ruhiger  scheint  er  zu  sein. 

Endlich  kommt  der  Oberst  auf  den  Vorsaal,  aber  noch  ist 
Niemand  hier.  Doch  ist  ihm  dies  ganz  lieb:  er  sieht  darin  ein 
Zeichen,  dass  er  noch  ruhiger,  kälter  werden  soll,  und  das  hält 


250  Charakterbilder  aus 

er  für  ein  Glück,  denn  jetzt  kommt  er  Avieder  zu  dem  Bewusst- 
sein ,  dass  nichts  verächtlicher  ist  als  ein  brausender  Jünglings- 
kopf mit  grauen  Haaren,  wie  er  sich  dies  oft  schon  gesagt  hat. 
Darum  bedauert  er  sogar,  dass  er  sich  hat  fortreissen  lassen 
von  einer  Eifersüchtigen,  von  einer  vor  Eifersucht  Wahnwitzigen. 
Denn  er  hat  allein  die  gekränkte  Tugend  zu  retten  und  mit  der 
Rache  des  Lasters  nichts  zu  schaffen.  Die  Sache  Appiani's 
aber,  seines  geliebten  Sohnes,  überlässt  er  getrost  der  Gerech- 
tigkeit Gottes,  des  höchsten  Eichters.  Jetzt  will  er  sich  damit 
begnügen,  wenn  Appiani's  Mörder  die  Frucht  seines  Verbre- 
chens, Emilia,  nicht  geniesst.  Nichts  wünscht  er,  als  dass  dies 
den  Prinzen  mehr  als  das  Verbrechen  selbst  martere  und  dass, 
wenn  nun  bald  ihn  Sättigung  und  Ekel  von  Lüsten  zu  Lüsten 
treiben,  die  Erinnerung,  diese  eine  Lust  nicht  gebüsst  zu 
haben,  ihm  den  Genuss  aller  vergällen  möge. 

Doch  noch  immer  bekommt  der  Vater  seine  Tochter  nicht 
zu  sehen,  denn  der,  welcher  jetzt  in  den  Vorsaal  tritt,  ist  Ma- 
rinelli,  nachdem  der  Prinz  schon  einmal  vergeblich  daselbst  er- 
schienen war-,  während  Odoardo  die  Damen  nach  dem  Wagen 
begleitet  hatte.  Dem  Marchese  entdeckt  der  ehrliche  Alte  so- 
fort  unumwunden,  dass  er  nur  den  Wagen  aus  Guastalla  er- 
wartet, um  seine  Tochter  an  einen  andern  Ort  zu  bringen, 
denn  sie  solle  nicht  mehr  nach  der  Residenz.  Unbegreiflich 
ist  es  ihm,  wie  Marinelli  ihm,  dem  Vater,  zum  Trotze  behaupten 
kann,  dass  Emilia  dennoch  nach  Guastalla  gebracht  werden 
müsse;  er  geräth  sofort  wieder  in  Hitze,  als  ihm  der  Höfling 
zumuthet  zu  erwägen,  wo  nach  seiner  Ansicht  nichts  zu  er- 
wachen ist,  und  wiederholt  mit  leidenschaftlichem  Nachdruck: 
„Sie  soll,  sie  muss  mit  mir." 

Auch  als  Marinelli  fortgegangen  ist,  um,  wie  er  sagt,  den 
Prinzen  entscheiden  zu  lassen,  d.  h.  um  eine  Schlinge  zu 
flechten  für  den  starrköpfigen  Vater,  ist  Odoardo's  Wuth  noch 
nicht  verraucht:  im  Gegen theil  ist  er  im  höchsten  Grade  ent- 
rüstet darüber,  dass  man  ihm  vorschreibt,  wo  seine  Tochter  hin 
soll,  und  dass  man  sie  ihm  vorenthalten  will!  Ja,  er  ist  ent- 
scl^lossen,  wenn  der  Prinz  dies  wolle  und  dürfe,  der  hier  Alles 
dürfe,  was  er  wolle,  blutige  Rache  an  ihm  zu  nehmen  und  dem 


Lessing's  Eiuilia  Galotti.  251 

kurzsichtigen  Wüthericli  zu  zeigen ,  diiss  wer  kein  Gesetz 
achtet,  eben  so  mächtig  ist,  als  wer  kein  Gesetz  hat.  Doch 
plötzlich  besinnt  er  sich,  dass  ihm  der  Zorn  schon  wieder  mit 
dem  Verstände  davon  gerannt  ist,  und  findet  sein  Toben  vor- 
eilig, so  lange  nicht  das  Gefürchtete  wirklich  geschehen  sei. 
Denn  er  stellt  es  sich  als  möglich  vor,  dass  i\Iarinelli's  Behaup- 
tung bloss  auf  Rechnung  der  Plauderhaftigkeit  ialle,  wie  sie 
Hoföchranzen  eigen.  Odoardo  bereut  es  nun  sogar,  dass  er 
den  Kammerherrn  nicht  hat  plaudern  lassen  imd  seinen  Vor- 
wand, warum  Emilia  wieder  nach  Guastalla  soll,  nicht  hat 
hören  wollen.  —  Denn  diese  Uebereilung  macht  es  ihm  un- 
möglich, sich  jetzt  auf  eine  Antwort  gefasst  zu  machen.  Zwar 
getraut  er  -sich ,  auf  jeden  Vorwand  eine  Antwort  zu  geben, 
und  wenn  sie  ihm  auch  felilen  sollte,  so  weiss  er  doch,  was  er 
zu  thun  hat ,  denn  als  äusserstes  Mittel  bleibt  ilun  immer  noch 
der  Dolch.  ,Sclion  wieder  also  ist  er  der  „alte  Knabe",  der  er 
nicht  sein  wollte,  und  er  muss  in  dem  Augenblicke,  wo  er  den 
Prinzen  und  Marinelli  kommen  hört ,  seinem  aufgeregten  Ge- 
müthe  erst  Kühe  gebieten. 

Vergebens  bemüht  sich  der  Landesherr,  den  Vater  Emilia's 
durch  den  schmeichelhaften  Vorwurf  zu  gewinnen,  dass  er  sich 
gar  nicht  bei  ihm  sehen  lasse:  Odoardo  erklärt  ihm  mit  Würde, 
er  halte  es  in  allen  Fällen  für  unanständig,  sich  zu  seinem 
Fürsten  zu  drängen,  denn  wen  der  Fürst  kenne,  den  werde  er 
fordern  lassen,  wenn  er  seiner  bedürfe.  Ebenso  entschieden 
weist  er  die  vermeintliche  Gnade  des  Prinzen  zurück,  welcher 
Emilia  im  Triumphe  nach  der  Stadt  zurückführen  will.  Denn 
er  ist  gesonnen ,  dem  unglücklichen  Kinde  alle  die  mannigfal- 
tigen Kränkungen  zu  ersparen,  die  Freund  und  Feind,  Mitleid 
und  Schadenfreude  in  Guastalla  für  sie  bereit  halten.  Zwar 
macht  sich  der  Prinz  anheischig,  dass  die  Kränkungen  des 
Feindes  und  der  Schadenfreude  sie  nicht  erreichen  sollten. 
Aber  Odoardo  will  seine  väterliche  Sorge  nicht  gern  theilen. 
Er  glaubt  zu  wissen,  dass  seiner  Tochter  in  ihren  jetzigen 
Umständen  nur  Entfernung  aus  der  Welt  geziemt:  sie  soll,  bis 
sie  in  ein  Kloster  gebracht  wird,  unter  den  Augen  ihres  Vaters 
weinen.      AVirklich    sciieint    der    Prinz    nachzugeben ,    denn    er 


252  Charakterbilder  aus 

stellt  dem  Vater  anheim,    seine  Tochter    zu  bringen,   wohin   er 
wolle.     Odoardo  kann   sich   den  Triumph,  den  er  in  Folge  der 
prinzlichen -Erklärung  über  Marinelli  errungen  zu  haben  glaubt, 
nicht  versagen  und  gibt  zu  verstehen,  dass  Marinelli,  nicht  er, 
sich  in  dem  Prinzen  geirrt  habe.     Allerdings  hatte  Odoardo  in 
gefassterer    Stimmung   es  nicht  für  möglich  gehalten,   dass  der 
Fürst  ihm  seine  Tochter  vorenthalten  würde,  und  glaubte  diese 
Ueberzeugung  jetzt   bestätigt    zu   sehen.     Aber   er  ahnte  nicht, 
dass    die   Erklärung    des    Prinzen   bloss    ein    Gaukelspiel    war. 
Denn    Verabredetermassen    tritt    nunmehr    Marinelli    den    An- 
sprüchen  des  Vaters   auf  Erailia   entgegen.     Mit   welchem  Er- 
staunen  über  die   lügnerische   Frechheit   des    abgefeimten  Höf- 
lings   erfüllt    es    Odoardo,     als    er    ersehen    muss,     dass    der 
Kammerherr   von  Appiani,   als   von   seinem  intimsten    Freunde, 
zum  Rächer  bestellt  sein  will!  Zwar  kann  er  auf  einen  Augen- 
blick  vergessen,    dass   es    eben   ein    Schurke    ist,    welcher    das 
Rächeramt  übernimmt,    und   in    dem   blossen   Gedanken  an  die 
in  Aussicht  gestellte  Bestrafung  der  Mörder  selbst  wieder  mehr 
Beruhigung  finden.     Aber  bald  sollten  ihm  die  Augen  schreck- 
lich aufgehen.     Mit  Hohn   und  Bitterkeit    begleitet   er  noch  den 
gleisnerischen    Bericht   Marinelli's    von    dem    Verdacht,   dass  es 
nicht  Räuber  gewesen,  welche  den  Grafen  angefallen,   dass  ein 
Nebenbuhler   ihn  habe  aus  dem  Wege  räumen  lassen ;  —  denn 
der  Verdacht  war  dem  Unglücklichen  schon  längst  die  schreck- 
lichste   Gewissheit.     Der    empörte    Vater   kann    sich   nicht    ent- 
halten, gegen  den  Nebenbuhler   als  gegen   einen  meuchlerischen 
Buben    einen    Fluch    auszustossen.      Ein    neuer    schmerzlicher 
Gedanke  wird  in  seine  Seele  geworfen:  Marinelli  erwähnt  eines 
Gerüchtes,  dass  der  Nebenbuhler  ein  begünstigter  sei.    Odoardo 
kann  es  nicht  glauben,    will  es    sich   nicht  als    möglich  denken, 
dass  seine  Tochter  einen  Nebenbuhler  habe  begünstigen  können. 
Wenn  aber  doch?     Er  hat   nicht  Zeit,    diesem  Zweifel  nachzu- 
hängen ,   denn  endlich  fängt  das  Bubenstück  an,  sich  in  seiner 
nackten   Blosse    zu   zeigen:    Emilia  muss   darüber  vernommen 
werden,   ob  es  ein  begünstigter  Nebenbuhler  gewesen  sei,   und 
das  kann   nur   in  Guastalla   geschehen;   darüber    sind   Marinelli 
und    der    Prinz    einverstanden.      Diese    Eröffnung    presst    dem 
Vater  verzweiflungsvolle   Schmerzensrufe  aus,   denn   er  durch- 


Lessing' s  Emilia  Galott i.  253 

schaut  nun,  wo  das  alles  hinaus  will,  und  bitterer  Aerger  er- 
greift ihn,  dass  er  es  nicht  vorausgesehen,  was  er  nun  sieht. 
Er  ergibt  sich  in  die  unvermeidliche  Nothwendigkeit :  Emilia 
soll  wieder  nach  Guastalla;  er  will  sie  Avieder  zu  ihrer  Mutter 
bringen,  und  bis  die  strengste  Untersuchung  sie  freigesprochen, 
will  er  selbst  nicht  aus  Guastalla  weichen.  Aber  so  harmlos 
war  das  Complott  ISIarinelli's  mit  dem  Prinzen  nicht  gemeint. 
Die  Form  des  Verhörs  erfordert  ja  schlechterdings,  dass  Mutter 
und  Tochter  und  Vater  getrennt  werden.  Wenigstens  muss 
Emilia  in  eine  besondere  Verwahrung  gebracht  werden.  Odoardo 
merkte  sogleich  den  Avahren  Sinn  dieser  jNIassregel:  er  wusste, 
dass  dann  Emilia  i*ettungsIos  der  Willkür  des  prinzlichen  Wüst- 
lings preisgegeben  sein  würde,  und  fuhr  deshalb  in  der  ersten 
Wuth  über  diese  „feine  Gerechtigkeit"  schnell  nach  dem  Schub- 
sacke, in  welchem  er  den  Dolch  hatte.  Aber  die  schmeichel- 
hafte Art,  wie  der  Prinz  auf  ihn  zutrat  und  ihn  zu  beruhigen 
suchte ,  erstickte  mit  eins  die  aufflammende  Rache.  Freilich 
war  das,  womit  der  Fürst  den  Obersten  über  das  Schicksal 
seiner  Tochter  zu  beruhigen  gedachte,  für  den  Vater  gar  nicht 
beruhigend.  Odoardo  soll  bei  Verwahrung  nicht  an  Kerker 
und  Gefängniss  denken ,  sondern  der  Prinz  will  Emilia  selbst 
in  das  Haus  des  Kanzlers  Grimaldi  bringen  und  sie  dort  der 
Aufsicht  einer  der  „würdigsten  Damen'"  übergeben.  Aber 
Odoardo  will  seine  Tochter  lieber  in  dem  tiefsten  Kerker  ver- 
wahrt wissen ,  als  in  der  Familie  der  Grimaldi ,  welche  er  als 
die  sittenloseste  der  ganzen  Residenz  kannte.  Deshalb  bittet 
er  sogar  den  Helfershelfer  des  Fürsten  darum ,  darauf  zu  drin- 
gen, dass  Emilia  lieber  in  ein  Gefängniss  gebracht  werde. 
Doch  diese  Bitte  konnte  der  Unglückliche  nur  in  einem  Anfall 
von  Verwirrung  an  einen  Marinelli  richten,  denn  bald  wurde 
es  ihm  wieder  bewusst,  dass  Beide,  der  Prinz  und  Marinelli, 
teuflische  Verbündete  waren.  Er  sieht  ein,  dass  er  ein  Thor, 
ein  alter  Geck  war,  als  er  den  Kuppler  bat,  und  es  ist  ihm 
zu  Muthe,  als  ob  er  den  Verstand  verlieren  müsste,  da  er  keinen 
Ausweg  aus  diesem  Labyrinthe  erblickt.  Er  versinkt  in  tiefe 
Gedanken,  aus  welchen  er  erst  erwacht,  als  der  Prinz,  welcher 
die  Nachdenklichkeit  Galotti's  für  ein  günstiges  Zeichen  hält 
und  in  beredten   Worten    sich    der   Zustimmung  des    Obersten 

Archiv  f.  n.  Simichen.     XXm.  17 


254  Charakterbilder  aus 

vollends  zu  bemächtigen  sucht,  mit  Marinelli  sich  entfernen  will. 
Es  befremdet  den  Vater,  dass  er  seine  Tochter  gar  nicht,  auch 
hier  nicht  sprechen  soll,  und  er  wundert  sich  über  sich  selbst, 
dass  er  sich  Alles  gefallen  las  st,  dass  er  Alles  ganz  vortrefflich 
findet.  Indessen  ist  sein  Entschluss  gefasst;  er  Avill  eine  Zu- 
sammenkunft mit  seiner  Tochter,  aber,  um  diese  zu  erreichen, 
muss  er  die  Maske  der  Nachgiebigkeit  aufstecken.  Nunmehr 
soll  also  der  Prinz  Emilia  ungehindert  in  das  Haus  des  Kanz- 
lers bringen  können,  denn  das  Haus  eines  Kanzlers  sei  natür- 
licherweise eine  Freistatt  der  Tugend.  Aber  splrechen  will  sie 
der  Vater  doch  gern  vorher.  Dieses  an  sich  natürhch  schei- 
nende Verlangen  weiss  Odoardo  noch  durch  Vorwände  zu  unter- 
stützen.  Der  Tod  des  Grafen  sei  ihr  noch  unbekannt,  Sie 
werde  nicht  begreifen  können,  warum  man  sie  von  ihren  Aeltern 
trenne!  Ihr  jenen  auf  gute  Art  beizubringen,  sie  dieser  Tren- 
nung wegen  zu  beruhigen,  müsse  er  seine  Tochter  durchaus 
sprechen.  Der  Prinz  will  ihn  zu  ihr  führen,  aber  die  Tochter 
kann  ja  auch  wohl  zu  dem  Vater  kommen.  Hier,  unter  vier 
Augen  ist  er  gleich  mit  ihr  fertig.  Odoardo  bittet  also  den 
gnädigen  Herrn,  sie  ihm  zu  senden. 

Der  Wunsch  des  mit  Marinelli  abgehenden  Prinzen,  den 
Obersten  zum  Freunde,  zum  Führer,  zum  Vater  zu  haben, 
bringt  dem  Unglücklichen  wiederum  das  Schicksal  in  Erinne- 
rung, welches  seiner  Tochter  bevorsteht.  In  einem  Anfalle  von 
wahnsinnigem  Hohn  über  die  Kupplerrolle ,  die  ihm  damit  der 
gnädige  Prinz  im  Grunde  zuertheilt,  bricht  er  in  ein  gräss- 
liches  Gelächter  aus.  Und  so  geistesabwesend  ist  er,  dass  er, 
sich  von  einem  Andern  verhöhnt  glaubend,  wild  um  sich  her- 
blickt und  die  Frage  herausdonnert:  „Wer  lacht  da?"  Als  er 
nun  zur  Besinnung  kommt,  dass  er  selbst  es  gewesen,  hält  er 
sich  doch  in  dieser  tragisch -ironischen  Stimmung  fest  und 
muntert  sich  selbst  zur  Lustigkeit  auf,  denn  das  Spiel  gehe  zu 
Ende  —  so  oder  so.  Aber,  fällt  ihm  plötzlich  ein,  wenn  sie 
mit  dem  Prinzen  sich  verstünde?  wenn  es  das  alltägliche  Pos- 
senspiel wäre?  Bei  dieser  Gelegenheit  entschlüpft  ihm  die  Er- 
wähnung eines  dunklen  Vorsatzes,  den  er  in  Beziehung  auf 
Emilia  gefasst  hatte.     „Wenn  sie  es  nicht  werth  wäre,  Avas  ich 


Lessing's  Emilia  Galotti.  255 

füi'  sie  thun  will?"  Er  hat  nicht  das  Herz,  es  sich  zu  sagen, 
Avas  er  für  sie  thun  will.  —  Da  denkt  er  so  was  I  So  was, 
was  sich  nur  denkeA  lässt!  Er  schaudert  zurück  vor  dem 
grässlichen  Vorsatze,  will  sich  selbst  entrinnen  und  seine 
Tochter  nicht  erwarten,  um  nicht  durch  die  Gelegenheit  zu 
einem  furchtbaren  Verbrechen  an  ihr  verführt  zu  werden.  Der 
Himmel  selbst,  der  sie  unschuldig  in  diesen  Abgrund  gestürzt 
habe,  soll  sie  wieder  herausziehen.  Da  er  aber,  indem  er  gehen 
wull,  Emilia  kommen  sieht,  glaubt  er  seine  Hand  vom  Himmel 
selbst  zum  Werkzeug  ausersehen. 

Zunächst  nimmt  der  Vater  mit  seiner  Tochter  eine  Prü- 
fung vor,  um  zu  sehen,  ob  sie  es  auch  werth  ist,  was  er  für 
sie  thun  Avill.  Je  unruhiger  er  selbst  ist,  desto  mehr  fällt  ihm 
ihre  grosse  Ruhe  auf.  War  es  Wahrheit,  wenn  Emilia  ver- 
sicherte, sie  sei  ruhig,  Aveil  sie  ruhig  sein  müsse,  da  Alles  ver- 
loren sei?  Ein  Mädchen  und  Odoardo's  Tochter  sollte  eine 
solche  Gelassenheit  besitzen,  während  der  Mann  und  Vater  sich 
nicht  fassen  kann?  Und  er  selbst  sollte  sich  also  vor  seiner 
Tochter  schämen  müssen?  Das  will  ihm  nicht  in  den  Kopf. 
Wenn  Erailia's  Fassung  sich  bloss  auf  den  Tod  ihres  Bräuti- 
gams bezieht,  dann  kann  sie  als  Seelen  stärke,  also  als  ein  Vor- 
zug betrachtet  werden.  Aber  auch  dann,  w^enn  sie  den  ver- 
brecherischen Zweck  des  Mordes  kennt?  Gewiss  nicht.  Ueber 
diesen  Punkt  muss  sich  also  der  prüfende  Vater  erst  volle  Auf- 
klärung verschaffen.  Er  setzt  deshalb  seine  Prüfung  fort  mit 
der  Frage,  was  sie  Alles  verloren  nenne.  Emilia's  Antwort 
lässt  ihm  über  ihre  Gesinnung  keinen  Zweifel:  nicht  bloss  weil 
der  Graf  todt  ist,  sondern  wegen  des  lasterhaften  Beweggrundes 
zu  dem  Morde  nennt  sie  Alles  verloren.  Wenn  nach  dieser 
Antwort  dem  Vater  das  ruhige  Verhalten  seiner  Tochter  um 
so  bedenklicher  erscheinen  musste,  so  durfte  er  es  doch  als  ein 
günstigeres  Zeichen  betrachten,  als  sie  ihn  aufforderte  mit  ihr 
zu  fliehen,  denn  nunmehr  konnte  er  ihre  Ruhe  als  das  Ergeb- 
niss  ihrer  Hoffnung  auf  Flucht  ansehen.  In  der  That,  wenn 
Fliehen  möglich  wäre,  was  hätte  es  dann  für  Noth?  Da  aber 
Flucht  unmöglich  ist,  so  muss  Odoardo  abwarten,  welchen  Ein- 
druck diese  Eröffnung  auf  Emilia  macht;   er  muss  ausforschen, 

17* 


256  Charakterbilder  aus 

ob  sie  auch  dann  noch  ruhig  bleibt,  wenn  er  ihr  einredet,  dass 
sie  allein,  ohne  Vater  und  Mutter,  in  den  Händen  ihres  Räu- 
bers sei  und  bleibe.  Verhielt  sie  sich  auch  dann  noch  ruhig, 
so  war  ihre  Ruhe  unzweifelhaft  Trägheit,  Schwäche,  Wider- 
standslosigkeit.  Diese  Prüfung  führt  in  der  That  zum  Ziel. 
Denn  als  nun  Emilia  erklärt,  dass,  falls  ihr  Vater  sie  wirklich 
auf  unväterliche  Weise  in  den  Händen  des  Räubers  lassen 
wolle,  sie  doch  keinen  Zwang  dulden  werde,  da  erst  überzeugt 
sich  Odoardo,  dass  die  Ruhe  Emilia's  die  Ruhe  der  Ent- 
schlossenheit ist,  welche  nicht  die  Hände  in  den  Schooss  legt 
und  sich  kein  Unrecht  gefallen  lässt.  Entzückt  umarmt  er 
seine  Tochter  und  hat  in  ihrer  Ruhe  die  seinige  wiedergefunden. 
Er  entdeckt  ihr  nun,  dass  man  sie  unter  dem  Vorwande  einer 
gerichtlichen  Untersuchung  zur  Grimaldi  bringe;  aber  sie  spricht 
nur  seine  eigenen  Gedanken  aus,  wenn  sie  auf  die  Willens- 
kraft hinweist,  die  dies  verhindern  könne.  Mit  der  Art,  wie 
Odoardo  dies  höllische  Gaukelspiel  beinahe  zu  Schanden  ge- 
macht hätte,  w^ar  Emilia  freilich  nicht  einverstanden.  Er  er- 
zählt ihr  nämlich,  er  sei  über  jenen  teuflischen  Plan  so  wüthend 
geworden,  dass  er  schon  nach  dem  Dolche  gegriffen  habe,  um 
einen  von  Beiden  —  Beiden!  —  das  Herz  zu  durchstossen. 
Dieser  Ausweg,  den  der  Vater  versäumt  hatte,  wird  also  jetzt 
von  der  Tochter  noch  ausdrücklich  verworfen.  Bei  jener  Er- 
zählung hat  Odoardo  den  Dolch  herausgezogen.  Emilia  will 
ihn  haben,  um  sich  damit  zu  durchstechen.  Odoardo  aber  muss 
erst  sehen,  ob  sie  furchtlos  den  Tod  erleiden  kann:  „Kind,  es 
ist  keine  Haarnadel."  Da  er  nun  das  Mädchen  zum  Aeusser- 
sten  entschlossen  sieht,  graut  es  ihm  doch  und  er  will  sich 
und  ihr  einreden,  dass  es  noch  nicht  so  weit  gekommen  sein 
könne ;  er  warnt  sie  vor  Unbesonnenheit  und  möchte  ihr  den 
Tod  ersparen,  wie  sie  ja  selbst  dem  Prinzen  und  Marinelli  das 
Leben  erhalten  wissen  wollte.  Aber  der  Fall  ist  hier  ein 
anderer.  Der  Prinz  und  Marinelli  hatten  in  ihrer  Lasterhaftig- 
keit ausser  dem  Leben  schon  Alles  verloren,  also  war  ihnen 
das  Leben  noch  zu  gönnen;  Emilia  aber  hatte,  wenn  sie  am 
Leben  blieb,  die  Unschuld  zu  verlieren,  die  zwar  über  alle 
Gewalt,  aber  nicht  über  alle  Verführung  erhaben  war,  wie 
Emilia  sich   und   ihrem   Vater  in  beredten  Worten  eing-e stehen 


»  Lessing's  Emilia  Galotti.  257 

musste.  Sie  verlangt  also  noch  einmal'  dringend  den  Dolch. 
Der  Vater  gibt  ihr  endlich  das  mörderische  AVcrkzeug,  welches 
ihn  an  das  Verhältniss  und  das  Schicksal  Orsina's  erinnert, 
auf  ihre  zum  dritten  Male  ausgesprochene  Bitte,  rcisst  ihr  aber 
den  Dolch  wieder  aus  der  Hand,  da  sie  sich  rasch  damit 
durchstossen  wull.  Doch  hat  er  sich  nun  auch  von  ihrem 
furchtlosen  und  ernstlichen  Entschlus.se  zum  Tode  übcrzeuirt. 
Dies  bestärkt  ihn  innner  mehr  in  seinem  Vorsatze,  den  er 
seiner  Tochter  durch  die  Worte  anzudeuten  suclit,  der  Dolcli 
sei  nicht  für  ihre  Hand.  Kmilia ,  welche  durchaus  den  Tod 
erleiden  will,  greift  nach  einer  Haarnadel,  um  sich  damit  zu 
tödten  und  bekommt  die  Rose  zu  ftissen.  Sie  wirft  sie 
herunter,  weil  sie  nicht  in  ihr  Haar  gehöre,  da  ihr  Vater  sie 
zur  Buhlerin  machen  wolle.  Dieser  Vorwurf,  Avelcher  den 
Vater  an  die  Schande  erinnert,  die  Emilien  bevorsteht,  falls  sie 
am  Leben  bleibt,  presst  ihm  einen  Weheruf  aus,  Avelcher  der 
Tochter  deutlicher  zu  verstehen  gibt,  welche  That  er  gegen  sie 
beabsichtigt.  Sie  glaubt  ihren  Vater  zu  eri'athen,  Avird  aber 
irre  an  ihm,  weil  er  zaudert,  bis  sie,  indem  sie  die  Rose  zer- 
pflückt, in  einem  bittei'n  Tone  an  die  That  des  Virginius  er- 
innert. Die  Art,  wie  Emilia  diese  That  erwähnt,  lässt  ihm 
keinen  Zweifel,  dass  die  Tochter  von  seiner  Hand  sterben  will: 
es  ist  der  directeste  Wunsch  von  ihrer  Seite,  der  ihn  ihrer  Zu- 
stimmung zu  dem  Morde  völlig  gewiss  macht.  Ihre  Worte: 
..Aber  solche  Thaten  sind  von  ehedem!  Solcher  Väter  gibt  es 
keine  mehrl"  stacheln  ihn  dergestalt,  dass  er  rasch  die  That 
des  alten  Römers  nachahmt  und  mit  den  Worten:  „Doch,  meine 
Tochter"  Emilien  durchsticht.  Aber  gleich  darauf  kommt  er 
zum  Bewusstsein  der  furchtbaren  That  und  stösst  einen  Wehe- 
ruf über  dieselbe  aus. 

Als  im  nächsten  Augenblicke  der  Prinz  und  Marinelli  ein- 
treten, rechtfertigt  Odoardo  das  Gethane  mit  den  Worten 
Emilia's,  er  habe  eine  Rose  gebroclien,  ehe  der  Sturm  sie  ent- 
blättert, und  duldet  nicht,  dass  die  Sterbende  das  Verbrechen 
auf  sich  nimmt :  er  selbst,  ihr  unglücklicher  Vater,  bekennt  sich 
zu  demselben.  Dann  wendet  er  sich  von  der  Leiche  Emilia's 
gegen   den   Prinzen    und    klagt    ihn   als    den    eigentlichen   An- 


258  Charakterbilder  aus  Lessing's  Emilia  Galotti. 

Stifter  der  That  an ,  obgleich  er  sein  eigenes  in  dem  Morde  an 
Emilien  verübtes  Verbrechen  eingesteht.  „Ich  gehe  und  liefere 
mich  selbst  in  das  Gefängniss.  Ich  gehe  und  erwarte  Sie  als 
Richter  —  Und  dann  dort  —  erwarte  ich  Sie  vor  dem  Richter 
unser  aller!" 

Crefeld. 

Dr.  Niemeyer. 


1 


lieber 

das    F  r  a  n  z  ö  s  i  s  c  h  -  S  p  r  e  c  h  e  n 

auf   Schulen. 


Dass  überhaupt  die  Schüler  des  Gymnasiums  und  besonders 
der  Realschule  zu  Versuchen  angeleitet  werden  sollen,  sich  der 
französischen  Sprache  auch  mündlich  zu  bedienen,  darüber 
herrscht  Avohl  kein  Streit;  in  welcher  Ausdehnung,  nach  welcher 
Methode  dies  aber  geschehen  solle,  welcher  Werth  überhaupt 
dergleichen  Uebungen  beizulegen  sei,  darüber  gehen  die  Mei- 
nungen sehr  auseinander. 

Die  entschiedensten  Freunde  des  Französisch-Sprechens,  die 
Linke,  finden  wir  unter  dem  Publicum,  unter  den  Eltern  der 
Schüler.  Der  Geschäftsmann,  der  seinen  Sohn  etwa  für  den 
Kaufmannsstand  bestimmt,  pflegt  das,  was  er  Sprechen  nennt, 
für  den  alleinigen  Zw  eck  des  Unterrichts  in  den  neuern  Sprachen 
zu  betrachten.  Er  hat  darum  im  Gemeinderathe  für  die  Errich- 
tung einer  Realschule  gestimmt,  er  schickt  seinen  Sohn  dorthin, 
damit  derselbe  fertig  sprechen  lerne  und  im  Stande  sei,  eine  kauf- 
njännische  Correspondenz  in  französicher  Sprache  zu  führen. 
Was  denkt  er  sich  unter  Sprechen?  Sein  Sohn  soll  im  Stande 
sein,  mit  den  Gemeinplätzen  der  gewöhnlichen  Unterhaltung  auf 
Promenaden  und  Bällen,  im  Eisenbahnwaggon  umzugehen,  er 
soll  im  Besitz  der  unvei'meidlichen  Fragen  imd  Antworten  sein, 
welche  die  banale  Höflichkeit  mit  sich  bringt.  Ob  die  Fertigkeit 
im  Sprechen  das  Resultat  eines  geist-  und  herzbildenden  Unter- 
richts ist,  oder  ob  sie  sich  auf  die  Fähigkeit  beschränkt ,  mit  den 
eingelernten  Phrasen  eines  Guide  de  conversation  geschickt  um- 
zugehen, das  kümmert  ihn  weniger. 


260  Ueber  das  Französisch-Sprechen  auf  Schulen. 

Die  Gegner  des  Französisch-Sprechens,  die  Rechte,  treffen 
wir  meist  unter  den  Lehrern  selber  an,  und  es  lassen  sich  hier 
zwei  Parteien  unterscheiden.  Die  äusserste  Rechte  bilden  die 
Philologen  de  la  vieille  röche,  welche  an  das  Dogma  von  der 
allein  seligmachenden  Kraft  des  altclassischen  Sprachstudiums 
und  an  die  Prästanz  der  altclassischen  Literaturen  in  intellec- 
tueller,  ethischer  und  ästhetischer  Hinsicht  glauben.  Das  Stu- 
dium keiner  neueren  Sprache,  also  auch  nicht  des  Französischen, 
ist  zur  formalen  Bildung  des  Geistes  geeignet;  der  französische 
Volkscharakter  ist  ihnen  speciell  zuwider  —  ein  Widerwille,  der 
sich  zum  Theil  noch  aus  den  Zeiten  der  französischen  Zwing- 
herrschaft herschreibt  und  durch  die  Anmassungen  der  Franzosen 
wegen  der  natürlichen  Grenzen  Frankreichs  neue  Nahrung  er- 
halten hat.  Der  Franzose  gilt  ihnen  als  oberflächlich ,  arrogant, 
auf  den  Schein  berechnet.  Seine  Literatur  ist  durch  und  durch 
unsittlich,  sagen  sie.  Jene  Feinde  des  Französischen  gehen  so- 
gar so  weit,  von  der  Beschäftigung  mit  dieser  Sprache  Gefahren 
für  den  deutschen  Volkscharakter,  für  die  deutsche  Gründlichkeit 
und  Biederkeit  zu  fürchten.  Sie  missgönnen  deshalb  dem  Fran- 
zösichen  sogar  seinen  Platz  als  Lehrobject,  namentlich  im  Gym- 
nasium, und  haben,  um  die  Sache  schlecht  zu  machen,  für  das 
Französisch- Sprechen  den  Ausdruck  Pariiren  in  Umlauf  ge- 
setzt, nach  einer  dem  Sprachforscher  häufig  begegnenden  Sitte, 
dass  das  Volk,  Avelches  von  einem  andern  ein  Wort  borgt,  demsel- 
ben eine  verächthche  Nebenbedeutung  gibt.  „Parier"  ist  parhren 
geworden,  offenbar  um  eine  oberflächliche,  seichte,  papageienhafte 
Art  des  Sprechens  zu  bezeichnen.  So  haben  die  Franzosen 
ihrerseits  dem  spanischen  Worte  „hablar"  vom  lateinischen  fabulari, 
welches,  wie  „parier"  im  Französischen,  einfach  sprechen  heis&t, 
die  Nebenbedeutung  des  Grosssprecherischen,  Prahlenden  ge- 
geben, indem  sie  daraus  habler  machten.  Die  Spanier  dagegen, 
um  den  Franzosen  nichts  schuldig  zu  bleiben,  nennen  den 
Schwätzer  „parlador."  So  ist  das  edle  Ross  im  Französischen 
„rosse"  zur  Schindmähre  geworden;  unser  Buch  als  „bouquin" 
bezeichnet  eine  Scharteke,  unser  Herr  in  „here"  einen  armen 
Teufel,  unser  Land  als  „lande"  eine  unfruchtbare  Haide. 

Die  gemässigte  Rechte  ist  für  möglichste  Beschränkung  der 
Sprechübungen,    weil  sich  ein  einigermassen  befriedigendes  Re- 


Ueber   das  Franzosiscb-Sprechen   auf  Schulen.  261 

sultat  doch  nicht  erreichen  lasse.  So  sagt  der  preussische  Schul- 
rath  Landfermann  in  Coblenz  im  Octoberheft  der  Mützell'schen 
Zeitschrift  für  das  Gymnasialwesen,  Jahrgang  1855:  „Fertigkeit 
im  mündlichen  Gebrauche  moderner  fremder  Sprachen  wird  in 
Schulen,  auch  in  Realschulen,  erfahrungsmässig  nicht  gewonnen, 
weil  es  nicht  möglich  ist  inmitten  deutscher  Umgebungen.  Was 
in  Schulen  in  den  neueren  Sprachen  erreicht  werden  kann,  ist 
sicheres  und  leichtes  Verstehen  des  in  der  fremden  Sprache  Ge- 
schriebenen, eine  leidliche  Aussprache  und  ein  guter  Anfang  im 
correcten ,  schriftlichen  Ausdruck.  Damit  ist  denn  der  nötliige 
Grund  gelegt  zur  Aneignung  jener  Fertigkeit,  wenn  dazu  Ge- 
legenheit und  Bedürfniss  sich  aus  dem  Verkehr  mit  Angehörigen 
des  fremden  Volkes  ergibt."  —  In  der  fünften  Versammlung 
deutscher  Realschulmänner,  welche  im  September  1853  zu  Braun- 
schweig abgehalten  wurde,  hielt  der  Institutsdirector  Dr.  Precht 
aus  Bremen  einen  Vortrag  über  französische  Sprechübungen, 
und  es  wurde  bei  der  Gelegenheit  von  den  Gegnern,  namentlich 
Dieckmann  aus  Hannover,  angeführt,  dass  das  Sprechen  dem 
reiferen  Alter  zukomme,  so  dass  man  nicht  vorgreifen  dürfe. 
Die  Schule  könne  nur  wenig  Zeit  dazu  einräumen;  deshalb  solle 
man  die  grammatische  Behandlung  mehr  hervorheben.  Nöldeke 
aus  Hannover  bemerkte,  dass  die  Schüchternheit  der  Knaben  dem 
Gedeihen  der  Sprechübungen  im  Wege  stehe.  —  Es  wird  auch 
wohl  gegen  Sprechübungen  eingewandt,  dass  einem  solchen  Un- 
terrichte nur  die  befähigtsten  folgen ,  Avährend  die  Classe  selbst 
nicht  gefördert  wird ;  es  werde  also  eine  kostbare  Zeit  damit 
vergeudet,  die  mit  Lesen  und  Uebersetzen  besser  ausgefüllt 
werden  könnte. 

Versuchen  wir  jetzt,  vom  Standpunkte  des  Centrums  nach 
beiden  Seiten  hin  unsre  Meinung  zu  begründen.  Jenen  ersten, 
deren  einziges  Feldgeschrei:  „Sprechen,  sprechen!"  ist,  muss 
erwiedert  werden,  dass  ihr  Zweck  auf  der  Schule  schlechthin 
imerreichbar  sei.  Dazu  gehört  jahrelanger,  täglicher  Umgang 
mit  Franzosen ;  dazu  reichen  nicht  die  vier  wöchentlichen  Stun- 
den der  Realschule  und  noch  weniger  die  zwei  Stunden  des 
Gymnasiums  aus ,  zumal  in  vollen  Classen ,  in  denen  auf  die 
Masse  gewirkt  werden  muss  und  für  Berücksichtigung  des  In- 
dividuums nur  wenig  Zeit  bleibt ,    wo  der  Einzelne  verhältniss- 


262  lieber  das  Französisch-Sprechen  auf  Schulen. 

massig  wenige  Fragen  erhalten  kann.  Also  die  Zeit  reicht  nicht 
hin,  um  jene  zu  befriedigen ;  die  Schule  ist  aber  auch  gar  nicht 
der  Ort,  um  Gegenstände  der  gewöhnlichen  Unterhaltung  des 
gemeinen  Lebens  ausführlich  zu  besprechen.  Wäre  jener  Zweck 
erreichbar,  wenn  man  den  gesammten  französischen  Unterricht 
darauf  einrichtete ,  so  dürfte  man  ihn  dennoch  nicht  erstreben, 
da  die  andern  Zwecke,  welche  die  Schule  mit  dem  Sprachunter- 
richt erreichen  will,  formale  Bildung  durch  das  Studium  der 
Grammatik,  Bereicherung  mit  den  Ideen  der  fremden  Völker, 
Bildung  des  Schönheitssinnes  u.  s.  w.  darunter  leiden  würden. 
Wem  nur  an  jener  Fertigkeit  gelegen  ist,  der  muss  an  den 
Privatunterricht  und  an  Fachschulen,  z.  B.  Handelsschulen, 
verwiesen  werden. 

Wenn  die  erste  Partei ,  die  unverständigen  Freunde  des 
Sprechens,  mit  Leichtigkeit  abgewehrt  werden  kann,  so  Avird 
der  Kampf  schwieriger  bei  den  Gegnern ,  die  aus  dem  eigenen 
pädagogischen  Lager  sich  erheben.  Ich  muss  hier  Punkte  be- 
rühren, über  welche  die  Entscheidung  sehr  schwer  ist,  und  über 
welche  schon  oft  mit  und  ohne  Erbitterung  gestritten  worden 
ist.  Ich  bekenne  mich  im  Wesentlichen  zu  einem  Anhänger 
der  von  Mager  in  seiner  Schrift:  „Ueber  Wesen,  Einrichtung 
und  pädagogische  Bedeutung  des  schulmässigen  Studiums  der 
neueren  Sprachen  und  Literaturen"  (Zürich  1843)  ausgespro- 
chenen Ansicht :  dass  die  hergebrachten  Redensarten  von  der 
Excellenz  und  Prästanz  der  alten  Literaturen  nur  Redensarten 
sind,  die  nur  für  die  bloss  ästhetische  Betrachtung  wahr  sind. 
In  intellectueller  Hinsicht  befindet  sich  unter  den  Werken  der 
Alten  verhältnissmässig  ebensoviel  Geistloses  und  Unnützes  als 
unter  den  Neuern.  Wer  wird  die  Naturwissenschaften  aus  den 
Alten  lernen  wollen?  In  ethischer  Hinsicht  muss  den  Schriften 
der  Neueren  der  Vorzug  eingeräumt  werden,  insofern  das  Chri- 
stenthum  unserm  Leben,  Denken  und  Dichten  einen  Inhalt  ge- 
geben hat,  der,  verglichen  mit  dem  Inhalte  der  antiken  Welt, 
gradezu  als  der  bessere,  menschlichere  bezeichnet  werden  muss. 
Natürlich  darf  man  die  französische  Literatur  nicht  nach  den 
ephemeren  Erzeugnissen  der  Romanschriftsteller  beurtheilen,  wo- 
mit die  geschäftige  Industrie  der  Uebersetzer  unsre  Leihbiblio- 
theken füllt  —  Erzeugnisse,    deren  sich  die  bessern  Franzosen 


Ueber  das  Französisch-Sprechen  auf  Schulen.  203 

selbst  schämen  und  die  dort  vielleicht  weniger  gelesen  werden 
als  bei  uns.  Neben  einem  Voltaire  und  einem  Paul  de  Kock 
nennt  Frankreich  einen  Pascal,  einen  Bossuet  die  Seinigen. 
Haben  uns  die  Alten  AVerke  von  vollendeter  Schönheit  geliefert, 
zeigt  ihre  Gescliichte  vollkommen  abgerundete  Charaktere,  ist 
Griechenland  das  Paradies  des  Menschengeistes:  so  sind  die 
Neueren  doch  wahrhaftig  nicht  arm  an  ästhetischen  Meister- 
werken; sie  haben  die  Kunstformen  der  Alten  nachgeahmt  und 
neue  erfunden.  Die  bloss  ästhetische  Betrachtung  ist  auch  nicht 
die  höchste,  auf  welche  es  in  der  Schule  ankommt. 

Nun  aber  die  formale  Bildung,  welche  die  Grammatik  ver- 
mittelt ?  Auch  hier  kann  ich  dem  Griechischen  und  Lateinischen 
einen  unbedingten  Vorzug  nicht  einräumen.  Die  starke  Aus- 
prägung der  lateinischen  Sprachformen,  der  synthetische  Cha- 
rakter der  alten  Sprachen,  der  analytische  Charakter  der  neueren 
hat  seine  eigenthümlichen  Vorzüge ,  und  ich  kann  auch  Mager 
nicht  beitreten,  der  in  seinem  Buche:  „Die  deutsche  Büi'ger- 
schule"  das  Latein  von  den  Realschulen  ausschliessen  will.  Auf 
Einzelnheiten  kann  ich  hier  nicht  eingehen ;  Hauschild  hat  in 
neun  Vorträgen  (Leipzig  1847)  die  Bildungselemente  der  deut- 
schen, französischen  und  englischen  Sprache  zusammengestellt, 
und  nachgewiesen,  dass  das  Zünglein  der  Wage  gar  oft  zu 
Gunsten  der  neueren  Sprache  sich  neigt. 

Sind  also  die  neueren  Sprachen  würdige  Objecte  der  Bil- 
dung des  heranwachsenden  Geschlechts,  so  muss  auch  die  Be- 
deutung der  Schreib-  und  Sprechübungen  zugegeben  werden, 
als  integrirende  Theile  eines  fruchtbringenden  Unterrichts ,  und 
ich  fordere  sie,  mit  der  gehörigen  Beschränkung  natürlich,  ebenso 
für  das  Lateinische  und  Griechische  auf  den  Gymnasien.  Sprech- 
übungen sind  ja  nichts  als  mündliche  Extemporalien.  Durch 
Schreiben  und  Sprechen  wird  die  fremde  Sprache  erst  im  Be- 
wusstsein  zur  Klarheit  gebracht;  es  ist  die  Praxis  zu  der  im 
grammatischen  und  onomatischen  Unterricht  empfangenen  Theo- 
rie, die  Bewegung,  wodurch  das  Genossene  erst  in  Fluss  kommt, 
in  Fleisch  und  Blut  verwandelt  wird.  Es  soll  das  Sprechen 
kein  blosses  Abfragen  auswendig  gelernter  Phrasen  sein,  kein 
blosser  Gedächtnisskram  mit  trivialem  Inhalt,  sondern  der 
Schüler   soll    zum  Ausdruck   des    eigenen  Gedankens   angeleitet 


264  Ueber  das  Französisch-Sprechen  auf  Schulen. 

werden;  die  Leetüre  soll  den  Stoff,  einen  würdigen  Inhalt  ge- 
währen. Es  ist  mir  daher  nicht  recht  verständlich,  warum 
Lüdecking  auf  der  oben  erwähnten  Versammlung  verlangte,  dass 
die  Leetüre  nicht  den  Stoff  der  Sprechübungen  hergeben  solle. 
Von  den  Schülern  werden  die  Sprechübungen  stets  mit  dem 
grössten  Interesse  ergriffen,  und  die  Zeit  wird  doch  wohl  am 
vortheilhaftesten  auf  das  verwandt,  was  die  Schüler  am  Hebsten 
thun,  vorausgesetzt  natürlich,  dass  es  zur  Sache  gehört,  die 
darauf  verwandte  Zeit  ist  ja  auch  für  alle  andern  Uebungen 
nicht  verloren;  geläufiges  Lesen,  Cori*ectheit  im  Schreiben  lernt 
der  Schüler  zugleich  mit;  Avenigstens  gewinnt  er  diese  Fertig- 
keiten in  Verbindung  mit  jenen  desto  leichter.  Soll  die  Gym- 
nastik der  Sprachwerkzeuge,  des  Ohres  und  des  Gedächtnisses, 
für  welche  die  Sprechübungen  wirken,  eine  der  Schule  unwür- 
dige sein?  Wird  nicht  der  Schüler  durch  die  Fragen  in  der 
fremden  Sprache  zu  weit  grösserer  Spannung,  zu  intensiverer 
Aufmerksamkeit  gezwungen,  und  so  diese  geistige  Gymnastik 
dazu  beitragen,  dass  die  Passivität  und  Receptivität,  zu  der  ein 
grosser  Theil  der  Schüler  hinneigen,  überwunden  werde? 
(Schmitz,  Anleitung  für  Schulen  zu  den  ersten  Sprechübungen 
in  der  französischen  und  englischen  Sprache,  Greifs wald  1856, 
Vorrede.) 

Hier  ist  auch  der  Ort,  ein  Wort  für  den  praktischen  Nutzen 
der  Sprechübungen  zu  sagen,  auf  den  jene  warmen  Freunde  des 
Sprechens  zu  viel  Gewicht  legen.  Stand  und  Beruf  stehen 
allerdings  in  einem  wesentlichen  Verhältniss  zu  den  angebornen 
Anlagen  und  Neigungen  der  zu  bildenden  Individuen.  Keine 
Schule  in  der  Welt  gibt  oder  soll  geben  eine  ganz  abstracte 
Bildung.  Wir  bilden  den  Menschen  nicht  in  abstracto;  wir  bil- 
den Knaben,  Deutsche,  Christen,  Kinder  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts ;  wir  bilden  auf  den  Gymnasien  durch  die  alten  Sprachen 
zu  den  sogenannten  gelehrten  Berufsarten ;  auf  den  Realschulen 
durch  die  Sprachen  der  modern -europäischen  Culturvölker,  der 
Deutschen,  Franzosen  und  Engländer  für  den  Beruf  des  büi'- 
gerlichen  Lebens,  für  den  Kaufmannsstand,  das  Postfach  und 
andere  Berufsarten,  welche  gradezu  eine  Sprachfertigkeit  erfor- 
dern. —  Denen  endlich,  welche  wie  Landfermann  gegen  Sprech- 
übungen sind,    weil    man    es    auf  Schulen   doch   nicht  zu  etwas 


Ueber  das  Französisch-Spr echen   auf  Schulen.  265 

Ordentlichem,  zur  Fertigkeit  bringen  könne,  lässt  sich  mit 
Schmitz  in  dem  angeführten  Buche  entgegenhalten,  dass  nicht 
nur  die  Fertigkeit,  sondern  auch  einige  Fertigkeit  einen 
Werth  habe.  Fertigkeit  ist  überall  relativ;  relativ  ist  auch  die 
Fertigkeit  nur,  Avelche  die  Schule  in  der  Muttersprache  mitgibt. 
Landfermann  erkennt  selbst  einen  Anfang  im  correcten  schrift- 
lichen Ausdruck  für  etwas  "Werthvolles  an ;  warum  soll  derselbe 
im  mündlichen  Ausdruck  zu  verachten  sein? 

Nach  der  Frage,  warum  Sprechübungen,  ist  eine  zweite 
über  das  Wie  derselben  zu  beantworten.  Sollen  die  Sprech- 
übungen zu  einem  einigermassen  befriedigenden  Resultate  füh- 
ren, so  müssen  sie  schon  auf  der  untersten  Stufe  begonnen 
werden.  Wenn  auch  im  Anfang  manches  unverstandene  Wort 
an  den  Ohren  einzelner  Schüler  vorüberrauscht,  so  werden  sie 
sich  doch  allmälig  an  die  fremden  Laute  geAvöhnen,  und  die 
natürliche  Schüchternheit,  welche  dem  Sprechen  entgegentritt, 
wird  leichter  in  den  unteren  als  in  den  oberen  Classen  über- 
wunden. Dazu  gehören  freilich  auch  in  den  unteren  und  mitt- 
leren Classen  Lehrer  des  Französischen,  welche  des  Sprechens 
mächtig  sind.  Wird  dagegen  diese  Arbeit  dem  Lehrer  der 
oberen  Classen  allein  überlassen,  so  lässt  sich  nicht  viel  erwar- 
ten. Ich  kann  deshalb  der  Meinung  von  Bach  und  Nabert  auf 
der  mehrerwähnten  Versammlung  nicht  beipflichten,  dass  es  hin- 
reiche, wenn  nur  in  den  Oberclassen  oder  gar  nur  in  der  ersten 
Classe  Sprechübungen  angestellt  werden.  Zwischen  dem  Ver- 
stehen eines  Wortes  oder  einer  Redensart  bei  der  Leetüre  und 
dem  selbständigen  Gebrauch  derselben  beim  Sprechen  liegt  ein 
langer  Weg,  der  nicht  ohne  Weiteres  übersprungen  werden  kann, 
um  in  Prima  nach  blosser  Leetüre  sofort  mit  dem  Sprechen  an- 
zufangen. Eine  Frage  von  untergeordneter  Wichtigkeit  ist  die, 
ob  für  die  Sprechübungen  besondere  Stunden  anzusetzen  oder 
ob  sie  nur  gelegentlich  vorzunehmen  sind.  Dies  mag  von  der 
Individualität  des  Lehrers  und  der  Beschaffenheit  der  Uebungen 
selbst  abhängen.  Einige  derselben  sind  gelegentlich  anzustellen  5 
andre  nehmen  eine  bestimmte  Zeit  in  Anspruch. 

Woher  soll  der  Stoff  zu  den  Sprechübungen  genommen 
werden?  Ich  antworte:  1)  aus  der  Grammatik;  2)  aus  der 
Leetüre;    3)    aus  andern  Lehrobjecten ,  namentlich  aus  der  Ge- 


266  Ueber  das  Französisch-Sprechen  auf  Schulen. 

schichte,  Geographie,  Naturgeschichte;  4)  aus  dem  Leben  der 
Schüler.  Ueber  jeden  der  vier  Punkte  einige  erläuternde  Worte. 
In  Bezug  auf  die  Grammatik  empfehlen  sich  Flexionsübungen, 
bei  denen  der  Lehrer  in  französischer  Sprache  fragt,  und  Ana- 
lysen des  Lesestückes ,  wobei  nach  den  Satz  -  und  Redetheilen 
gefragt  wird.  Die  grammatischen  Regeln  werden  nach  und 
nach  in  französischer  Sprache  mitgetheilt  und  vom  Schüler 
wiederholt.  Endlich  können  die  nöthigsten  Homonymen  und 
Synonymen  und  die  mündliche  Correctur  der  Exercitien  und 
Extemporalien  in  der  fremden  Sprache  mitgetheilt  werden. 

Die  Leetüre  lässt  sich  nach  der  z.  B.  im  Plötz'schen  Ele- 
mentarbuche angedeuteten  Methode  der  Questionnaires  auch  in 
sachlicher  Hinsicht  zum  Gegenstand  der  Sprechübungen  machen, 
und  es  kann  diese  Uebung,  wie  jene  der  grammatischen  Ana- 
lysen, schon  auf  der  untersten  Stufe  begonnen  werden,  da  es 
nur  der  Kenntniss  einer  ziemlich  beschränkten  Zahl  von  Aus- 
drücken, der  Fragwörter,  des  avoir  und  etre  bedarf,  um  sie 
vorzunehmen.  Mit  der  wachsenden  Sprachkenntniss  der  Schüler 
wird  der  geschickte  Lehrer  diese  Questionnaires  immer  weiter 
auszudehnen  und  in  freierer  Weise  zu  handhaben  wissen.  Daran 
schliesst  sich  das  selbständige  Wiedererzählen  eines  Lesestücks, 
das  Amplificiren,  Variiren,  Imitiren  des  gegebenen  Inhalts  und 
in  den  oberen  Classen  das  Referat  über  die  Privatlectüre  und 
das  eigentliche  Interpretiren. 

In  den  obersten  Classen  mag  auch  ab  und  zu  der  Versuch 
gemacht  werden,  ein  Examinatorium  über  den  geschichtlichen, 
geographischen  und,  wenn  der  Lehrer  derselben  gewachsen  ist, 
auch  über  den  naturwissenschaftlichen  Lehrstoff  anzustellen. 
Der  Lehrer  kann  hier  entweder  selbst  fragen  oder  das  gegen- 
seitige Examiniren  der  Schüler  bloss  leiten.'  Viertens  kann  man 
den  Schüler  auch  wohl  einmal  veranlassen,  über  seine  Personalien 
u.  s.  w.  sich  französisch  zu  äussern,  indem  er  das  von  dem 
Lehrer  vorher  mitgetheilte  Material  von  Wörtern  und  Ausdrucks- 
weisen anwendet.  Auch  hier  kann  der  Lehrer  die  Fragen  stel- 
len oder  die  Schüler  sich  fragen  und  antworten  lassen.  Als  die 
höchste  Spitze  des  Sprechunterrichts  möchte  ich  endlich  den 
nach  Umständen  in  Prima  anzustellenden  Versuch  eines  Dis- 
putatoriums  über  gestellte  Thesen  ansehen. 


Ueber  das  Französisch-Sprechen  auf  Schulen.  267 

Soll  sich  der  Lehrer  hierbei  eines  sogenannten  Guide  de 
conversation  bedienen  oder  nicht?  Ich  für  meinen  Thcil  gestehe, 
dass  ich  die  Einführung  eines  solchen  Buches  nicht  für  nöthig 
halte  (d.  h.  in  der  Schule,  im  Privatunterricht  dürfte  es  sehr 
gute  Dienste  leisten).  Ein  grosser  Theil  dieser  Anleitungen 
entbehrt  einer  zweckmässigen  Anordnung  und  enthält  eine  Masse 
in  Frankreich  selbst  veralteter  oder  selbst  nie  in  Gebrauch  ge- 
wesener Wörter  und  Kedensarten,  eine  Menge  trivialer  Unter- 
haltungen mit  Schneider,  Schuster,  Bäcker,  Zollbeamten,  die 
dem  Leben  des  Schülers  fern  lieo-en.  Die  erwähnten  Mäno-el 
suchen  Plötz  im  Vocabidaire  systematique  und  Schmitz  in  seiner 
Anleitung  zu  beseitigen.  So  ordnet  der  erste  die  Worte  nicht 
nach  den  ßedetheilen,  wie  Bigot  und  andere,  sondern  stellt  mit 
den  nach  Materien  geordneten  Substantiven  die  durch  Ablei- 
tung zugehörigen  und  die  gewöhnlich  damit  verbundenen  Ad- 
jectiven  und  Verben,  so  wie  die  sich  anschliessenden  Gallicismen 
zusammen  —  ein  entschiedener  Fortschritt  über  Bigot,  Coursier 
und  Konsorten,  da  die  alphabetische  Ordnung  für  das  Memo- 
riren  die  unpassendste  ist,  und  das  Gedächtniss  des  geistigen 
Anknüpfungspunktes  entbehrt.  Die  gewöhnlichen  Gespräche  für 
das  gesellige  Leben  lässt  Plötz  ganz  weg:  „weil  man  mit  dem 
Memoriren  ganzer  Dialoge  keine  Geläufigkeit  im  selbsständigen 
Ausdruck,  sondern  nur  Gewöhnen  an  sinnloses  Nachbeten  er- 
ziele." Doch  gibt  derselbe  Verfasser  von  der  dritten  Auflage 
an  im  Anhano;  eine  Anzahl  Unterhaltuno;en  nach  Art  der  Cau- 
series  parisiennes  von  Peschier  ohne  deutsche  Uebersetzung  als 
Anwendung  der  wichtigsten  Kapitel  des  Vocabulaire. 

Dagegen  besteht  das  Schmitz'sche  Buch  aus  Fragen  und 
Antworten  über  Personalien,  Begrüssungen,  Zeit,  Wetter,  Auf- 
stehen, Ankleiden,  Essen,  Trinken,  Schule,  Grammatik,  Ge- 
schichte,  Geographie,  Naturgeschichte. 

Bei  dem  Gebrauche  des  Schmitz'schen  Buches,  welches  nur 
73  Seiten  einschliesslich  der  10  Seiten  langen  Vorrede  enthält, 
ist  man  genöthigt,  Vocabeln  hinzuzudictiren,  wenn  man  den  Ge- 
genstand einigermassen  in  der  wünschenswerthen  Ausdehnung 
behandeln  will,  w^ährend  man  die  Anleitung  zu  Gesprächen, 
die  Formirung  von  Fragen  und  Antworten  bei  Plötz  vermisst. 
In   der   Vorrede    befinden    sich    allerdings    einige  Andeutungen 


208  Ueber   das  Französisch-Sprechen   auf  Schulen. 

darüber  und  für  den  geschickten  Lehrer,  der  die  Sprache  voll- 
ständig beherrscht,  mögen  dieselben  wohl  ausreichend  sein. 

Ist  ein  solches  Buch  in  der  Schule  nicht  eingeführt,  so  ist 
man  freilich  genöthigt  zu  dictiren ;  indessen  hat  das  Schreiben 
gerade  in  den  neueren  Sprachen  mit  ihrer  schwierigen  Ortho- 
graphie sein  Gutes.  Man  kann  ja  auch  die  zu  dictirenden 
Materialien  von  den  Schülern  selbst  erst  übersetzen  lassen,  so 
dass  dem  Dictiren  das  Mechanische  genommen  wird.  Ich  komme 
also  schliesslich  darauf  zurück,  dass  ich  die  Einführung  eines 
Guide  de  conversation  nicht  für  unentbehrlich  halte;  dagegen 
wünsche  ich,  dass  das  Elementarbuch  nicht  bloss  grammatisch 
fortschreite,  sondern  mit  Rücksicht  auf  das  Sprechen  die  nöthig- 
sten  Materialien  nach  und  nach  mittheile.  Dem  Zwecke  der  zu 
erlangenden  Sprachfertigkeit  kann  auch  die  Leetüre  eines  sorg- 
fältig gewählten ,  sittlich  reinen  Theaterstücks  dienen :  diese  ist 
insofern  wohl  nicht  durchaus  zu  verwerfen,  wie  Robolsky  in 
einem  Aufsatze  über  die  französische  Leetüre  in  den  oberen 
Classen  (der  höheren  Bürgerschule)  thut. 

Noch  ist  zu  der  allgemeinen  Methodik  der  Sprechübungen 
zu  bemerken,  dass  der  Lehrer  nicht  allein  spreche,  sondern  alle 
Schüler  zu  beschäftigen  suchen  müsse;  dass  die  Schüler  end- 
lich sich  gewöhnen  müssen,  in  der  Regel  in  vollständigen 
Sätzen  und  nicht  bloss  mit  einzelnen  Worten  oder  Lauten  zu 
antworten. 

Ich  schliesse  mit  den  Worten  Mager's,  S.  70:  „Die  Sprach- 
fertigkeit lässt  sich  beim  öffentlichen  Unterricht,  namentlich  in 
zahlreichen  Classen  nichtsehr  weit  treiben;  dagegen  gewinnen  die 
Schüler,  wenn  der  Unterricht  in  den  drei  oberen  Classen  in  der 
fremden  Sprache  ertheilt  wird,  die  Kunst  des  Hörens,  sie  ler- 
nen das  in  einer  fremden  Sprache  Gesprochene  verstehen  — • 
was  weniger  leicht  ist,  als  Viele  meinen,  wogegen  das  Sprechen 
weniger  schwierig  ist,  als  gewöhnHch  geglaubt  wird. 

Bromberg. 

Dr.  Weigand. 


Zur  ErläuterunfT 


W.  Sliakspeare's  Antony  und  Cleopatra 


Das  historische  Trauerspiel  Antony  and  Cleopatra  gründet 
sich  auf  die  von  Sir  Thomas  North  1579  veranstaltete  englische 
Uebersetzung  von  Plutarch's  Lebensbeschreibung  des  Antonius, 
welche  sich  hinwiederum  auf  die  französische  Uebertraffung  durch 
M.  Jaques  Amyot  stützt.  Shakspeare,  welcher  auch  anderen 
Werken  damaliger  Zeit  über  die  alte  Geschichte  nicht  fremd  war, 
schliesst  sich  ihr  möglichst  genau  an,  so  zwar,  dass  er  der  eigenen 
Worte  seiner  englischen  Quelle  sich  sehr  häufig  bedient. 

Wir  besitzen  von  diesem  Drama  keine  Quartausgabe.  Zum 
ersten  Male  begegnen  wir  ihm  in  der  Gesammtedition  der  Folio 
von  1623  —  The  Tragedie  of  Anthonie  and  Cleopatra  —  und 
entbehren  daher  der  Vergleichungen ,  die  bei  anderen  Stücken 
uns  oft  so  interessante  Aufschlüsse  über  Entwicklung  und  Ab- 
änderung, Plan  und  Ausführung  geben  und  den  Combinationen 
zur  Aufliellung  schwieriger  Stellen  einen  Anhalt  verleihen. 

Vorgänger  in  Behandlung  desselben  Stoffs  hatte  Shakspeare 
bekanntlich  für  verscliiedene  seiner  Stücke  und  so  findet  sich 
denn  auch  in  dem  Londoner  Buchhändler-Reffister  folgrender  für 
Symon  Waterson  gefertigte,  bezügliche  Eintrag:  A  Booke  en- 
titled  the  Tragedie  of  Cleopatra,  October  19,  1593,  welches,  da 
S.  Waterson  mehrere  Werke  des  engl.  Dichters  Sam.  Daniel 
verlegte,  höchst  wahrscheinlich  eine  Ankündigung  des  1594  unter 
gleichem  Titel  erschienenen  Dramas  Daniel's  ist.  —  Ein  späterer 
Eintrag  für  Edw.  Blount  lautet:  A  Booke  Called  Anthony  and 
Cleopatra,  May  20,  1608.  Verschiedene  Kritiker,  wie  z.  B.  Ma- 
lone,    Chalraers,   Drake,    beziehen   denselben   auf  unser  Drama, 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXni.  18 


270  Zur  Erläuterung  von 

und  nehmen  dem  entsprechend  ohne  Weiteres  das  Jahr  1607 
oder  1608  als  Abfassimgszeit  an,  obgleich  diese  Annahme  durch 
keinen  weiteren  Anhalt  unterstützt  wird,  als  dass  Edw.  Blount 
einer  der  Verleger  der  Folio  von  1623  war  und  von  dem- 
selben zugleich  mit  obigem  ein  ,,Buch  Pericles"  (a  Booke  call- 
ed  Pericles,  May  2,  1608)  eingeführt  Avurde.  Da  der  Shak- 
spearen  zugeschriebene  Pericles  aber  im  Jahre  1609  Ton  einem 
ganz  andern  Verleger  (Henry  Gosson)  gedruckt  wurde,  das 
unbestimmt  bezeichnete  „Buch  Pericles"  folglich  ein  ganz  von 
jenem  verschiedenes  Werk  sein  kann;  anderntheils  auch  die 
Ausgabe  des  Pericles  von  1609,  obgleich  ihr  (anscheinend 
fälschlich)  Shakspeare's  Namen  vorgedruckt  ist,  von  den  Ver- 
legern also  auch  von  Edw.  Blount  in  der  Collection  von  1623 
selbst  nicht  einmal  aufgenommen  (resp.  nicht  als  rein  Shak- 
spearisch  anerkannt)  wurde,  so  ist  das  aus  jenem  gleichzeitig 
erschienenen  Opus  zur  Bestimmung  der  Abfassungszeit  des  Shak- 
spearischen  Dramas  Antonius  und  Cleopatra  entnommene  Argu- 
ment ein  völlio;  unsicheres  und  haltloses.  —  Ebensowenis;  trägt  die 
gleichzeitige  Einführung  des  Dramas :  A  Yorkshire  Tragedy,  May 
2 ,  1608  in  den  Stationers  -  Registern  das  Geringste  zur  Fest- 
stellung der  Verwandtschaft  Shakspeare's  mit  jenem  „Buche 
Anthony  and  Cleopatra"  bei,  um  so  weniger,  als,  wenn  dasselbe 
(A  Yorksh.  Trag.)  wirklich  von  Shakspeare  verfasst  sein  sollte, 
der  ihm  beigefügte  Zusatz  (written  by  Will.  Shakspeare)  bei 
dem  gleichzeitigen  Eintrag  eines  so  viel  bedeutenderen  Werkes 
unseres  Dichters  schwerlich  unterlassen  worden  wäre. 

In  Ermangelung  unzweifelhafter  äusserer  Anhaltspunkte  wer- 
den wir  mehr  auf  innere  Gründe  verwiesen,  um  die  Entstehungs- 
zeit annähernd  bestimmen  zu  können.  Fassen  wir  nun  Verschie- 
denes, wie  z.  B.  Gegenstand,  Zusammenhang,  Styl  und  Versbau 
des  Stückes  genauer  in's  Auge,  so  finden  wir  unverkennbare  Ab- 
weichungen von  früheren  Arbeiten  des  Dichters  und  Ueber- 
einstimmungen  mit  denjenigen  Werken,  welche  seiner  letzten 
Periode  angehören.  Der  Blank-Verse,  in  welchem  mit  Ausnahme 
einiger  familiären  Unterredungen  (cf.  Act  I,  Sc.  2  —  II,  2,  6 
und  7.  —  III,  5.)  nahezu  das  ganze  Stück  geschrieben  ist,  ver- 
räth  in  seiner  oft  an's  Harte  streifenden,  den  rhythmischen  W^ohl- 
klang   völlig   verschmähenden,     ungebundenen    Form    (einzelne 


W.  Sliakspeare's  Antony  and  Cleopatra.  271 

Stellen,  z.  B.  II,  2  des  Enob.  malerische  Schilderung  sind  ab- 
sichtliche Ausnahmen)  die  spätere  Zeit  Shakspeare's.  Eben 
so  deutet  die  durchaus  ungesuchte,  der  Dichterkraft  sich 
ganz  bewusste  Ausf'ührungsweise  erhabener  Gedanken,  die 
Sicherheit,  mit  der  der  Dichter,  obwolü  genau,  ja  wörtlich,  der 
geschichtlichen  Quelle  sich  anschliessend,  dennoch  so  klar  und 
entschieden  die  Avichtlgcren  Beziehungen  der  vorgeführten  Per- 
sonen herausgreift  und  ordnet  und  die  Masse  der  Ereignisse 
bewältigt,  auf  die  Jahre  errungener  IVIeisterschaft.  Dem  auf  dem 
Schachbrette  sich  siegreich  dünkenden  Spieler  nicht  unähnlich 
weiss  er  in  der  gegebenen  Form  ein  sonst  von  Andern  in  pedan- 
tischer Rcgelrichtigkeit  geführtes  Spiel  einer  höheren  Auffassung 
und  Schlussführuno-  c^enial  unterzuordnen.  —  Ueberall  lässt  sich 
eine  gereifte,  gleichsam  abgeschlossene  Lebensanschauung  in  und 
zwischen  den  Zeilen  lesen.  Shakspcare  hat  sich,  vielleicht  schon 
durch  Ben  Jonson  (der  dem  Ruhm  der  Classicität  nachjagte) 
veranlasst,  jedenfalls  aber  w^ohl  durch  Montaigne,  dessen  „Essays" 
er  fleissig  studiren  mochte,  geleitet,  in  seinen  späteren  Jahren 
der  Benutzung  und  Darstellung  des  Alterthums  mehr  zugewendet. 
Ihm  war  der  zuletzt  grenannte  französische  Schriftsteller  aus  der 
englischen  Uebersetzung  des  Florio  (1603),  von  der  ein  Exemplar 
mit  Shakspeare's  eigenhändigem  Naraenszug  im  brittischen  Mu- 
seum aufbewahrt  wird,  him-eichend  bekannt  und  das  von  Mon- 
taigne seinem  Landsmann  und  Zeitgenossen  J.  Amyot  und  durch 
diesen  Uebersetzer  dem  Plutarch  gespendete  Lob  musste  auf 
den  Dichter  ohne  Zweifel  anregend  einwirken  und  ihn  zu  tieferer 
Erforschung  dieser  Geschichtsquelle  und  des  Alterthums  über- 
haupt anleiten.  —  AVie  dem  nun  auch  sey,  seine  Römerstücke 
zeigen  uns  eine  herrliche,  tiefe  Auffassung  römischer  Denk-  und 
Handlungsweise  und  sind  keinen  Falls  ausser  Zusammenhang 
mit  dem  gründlichen  Studium  der  alten  Zeit  entstanden.  Dieses 
vorausgesetzt  werden  wir  für  ihre  Entstehung  auf  eine  gereifte 
Lebenszeit  hingewiesen,  auch  wohl  zum  Theil  auf  Avenitjer  ausser- 
lieh  in  Ansprucli  genommene  Tage,  dergleichen  sie  der  Dichter 
ganz  besonders  nach  dem  Abgange  von  der  Schaubühne,  aus 
der  Residenz  und  dem  bewegteren  Leben  finden  musste.  Denken 
wir  an  die  geregelte,  bisher  so  angestrengte  Thätigkcit  Shak- 
speare's für   die  Bühne,  an    die  übrigen  sich   drängenden,  zum 


18* 


272  Zur  Erläuterung  von 

Theil  mehrfach  überarbeiteten  Productionen  seiner  männlichen 
Jahre,  so  ist  die  (zuerst  von  Kniglit  besonders  hervorgehobene) 
AValnscheinlichkeit  sehr  gross,  dass  namentlich  Antonius  und 
Cleopatra  und  Corolian  zu  seinen  letzten  Werken  gehören  mögen, 
vielleicht  wohl  gar  seineu  Nachlass  bildeten.  Die  Nachwelt  hätte 
in  diesem  Falle  davon  die  prima  cura  erhalten,  was  auf  das 
vorliegende  Stück  vornehmlich  Beziehung  finden  würde,  insofern 
seine  Anlage  mehr  als  geniale  Conception,  denn  als  stricte 
Bearbeitung  für  die  Bühne  gelten  kann,  in  seiner  zur  Aufführung 
weniger  geeigneten  Gestalt  mehr  einen  literarisch-künstlerischen 
als  praktischen  Zweck  zu  verfolgen  scheint. 

Nehmen  wir  dazu  die  Versicherung  der  Herausgeber  der 
Folio  von  1623,  dass  unser  Stück  zu  den  bis  dahin  ungedruckten 
gehöre,  die  Wahrnehmung,  dass  es  ebensowenig  wie  die  anderen 
Römerschauspiele  nebst  Cymbeline  und  Timon  v.  Athen  trotz 
der  sorgfältigsten  Nachforschungen  weder  irgendwo  als  Shak- 
speare'sches  Stück  genannt,  noch  auch  von  Zeitgenossen  über- 
haupt erwähnt  oder  (was  bei  anderen  vorliegt)  als  auf  der  Bühne 
o-egeben  irsfend  wo  angemerkt  worden  ist,  so  erstarkt  die  An- 
nähme  einer  sehr  späten  Abfassungszeit  immer  mehr.  —  Zu 
bemerken  wäre  hier  noch,  dass  die  Aufnahme  von  Antonius  und 
Cleopatra  in  die  Folio  von  1623  ohne  Eintheilung  in  Acte  und 
Scenen  und  ohne  Personenverzeichniss  erfolgte.  Während  die 
beiden  letzteren  Auslassungen  häufiger  vorkonimen,  erregt  erstere 
(die  der  Acte),  welche,  ausser  dem  fragmentarischen  Timon  v. 
Athen  und  späteren  Ueberarbeitungen  des  Dichters  (Romeo  and 
Juliet,  Hamlet,  Henry  VI.  P.  H  und  HI)  nur  noch  bei  Troilus 
and  Cressida  sich  findet,  einiges  Aufsehen.  Wenn  solche  der 
offenbaren  Nachlässigkeit  der  Herausgeber  nicht  zugeschrieben 
werden  soll,  so  würde  die  Vermuthung  entstehen,  dass  die  be- 
treffenden Manuscripte  Shakspeare's,  aus  welchen  (z.  B.  Romeo 
and  Juliet)  die  Folio  corrigirt  wurde,  in  seinen  letzteren  Jahren 
für  einen  eudgültigen  Abschluss  der  Eintheilung  noch  Spielraum 
gelassen,  resp.  noch  nicht  völlig  vollendet  gewesen  und  von  den 
Herausgebern,  ob  aus  Pietät  oder  Mangel  an  Selbstvertrauen 
bleibe  dahingestellt,  in  dieser  ünvollständigkeit  ohne  Weiteres 
abgedruckt  worden  seien,  als  der  ganze  Nachlass  des  Dichters 
zur  Herstellung;  einer  Gesammtauscabe  gesammelt  wurde. 


W.  Shakspoare's  Antony  and  Clo  op  atr  fi.  273 

Ueber  vielen  der  späteren  AVerke  des  unsterblichen  Britten 
schwebt  unläugbar  eine  trübe  Wolke,  sie  liegen  im  Schatten 
einer  sehr  verdüsterten  Stimmung.  Ja  noch  mehr,  sie  werden 
zum  Ausdruck  eines  titanischen,  Welt  -  stürmerischen  Kingens 
und  Kämpfens,  das  das  Gebäude  der  hergebrachten  sittlichen 
und  gesellschaftlichen  Ordnungen  aus  seinen  Fugen  zu  sprengen 
droht,  um  auf  seinen  Trümmern  neue  zu  errichten.  Davon  geben 
Hamlet,  Lear,  Macbeth,  Othello  etc.  hinlängliches  Zeugniss. 
Doch  wir  bemerken  daiin  wieder  auch  eine  gesetztere  Richtung, 
eine  zwar  noch  sehr  ernste,  aber  mehr  zur  Ruhe  gekommene 
Stimnmng  in  seinen  l^ömer-Stücken.  Die  Saiten,  welche  früher 
so  straff  angezogen  waren ,  so  schreiend  ertönten ,  sind  weniger 
grell  und  rauschend  fTCWorden.  Der  Dichter  scheint  der  stür- 
menden  Periode  entrissen  und  durch  Vertiefung  in  sich  selbst, 
durch  Studium,  namentlich  der  Philosophie  und  Geschichte  des 
Alterthums  jene  Störungen  mehr  bewältigt  und  künstlerisch  sich 
unterworfen  zu  haben.  Xach  dem  Gewitter  des  schwülen  Tages 
grollt  noch  in  den  letzten  Stunden  der  Donner  in  dumpfen,  maje- 
stätischen Schlägen.  Schon  das  Eintreten  abnehmender  Jalu-e 
bringt  eine  ruhigere  Haltung  mit  sich,  sänftigt  die  Seele,  und 
das,  was  an  sittlichen  Gebrechen  der  Zeit  und  dem  Individuum 
zur  Last  fällt,  wird  unparteiischer  betrachtet  und  gemässigter 
abgewogen.  Unser  Drama  zeigt  aus  diesem  Grunde  wohl  auch 
nicht  (von  der  Walil  des  Gegenstandes  ganz  abgesehen)  die 
Hervorhebung  massgebender  sittlicher  Charaktere  und  "Wen- 
dungen, wie  wir  es  an  anderen  Productionen  Shakspeare's  ge- 
wohnt sind.  Es  hat,  ohne  sich  deswegen  auf  die  Seite  der  sitt- 
lich-Gleichgültigen zu  schlagen  oder  absichthch  das  Laster  als 
solches  zu  verscliönern,  doch  eine  Art  der  Darstellung  gewählt, 
in  der  er  im  demüthigenden  Conflicte  der  Interessen  und  Pflichten 
kein  mit  Begeisterung  entworfenes  Ideal  durchbliken  lässt,  ge- 
schweige denn,  dass  er  sich  die  Mühe  gäbe,  denselben  durch  Auf- 
stellung von  Gcgenbildern  geradehin  zu  paralysiren.  Die  ganze 
Fassung  ist  objectiver  als  sonst,  gleich  als  freue  es  ihn  selbst, 
eine  Linie  gefunden  zu  haben,  auf  der  er  Alles  mehr  dem  Strome 
der  Thatsachen  und  dem  Gerechtigkeitsgefühle  des  Lesers  über- 
lassen könne.  Fand  er  vielleicht  zugleich  selbstquälerisch  in  dem 
Abfalle   seines  Helden   von   dem  Leben   der  That   zu   dem   des 


27-1  Zur  Erläuterung  von 

Genusses  eine  geheime  Uebereinstimmung  mit  der  Aufhebung 
seiner  eigenen  bisher  so  thätigen  Stellung  im  öffentlichen  Leben 
vmd  überdem  im  Charakterbilde  der  Cleopatra  eine  willkommene 
Erscheinung,  das  Geschlecht,  welches  ihn  so  anzog  und  doch,  wie 
es  scheint,  so  unglücklich  werden  Hess,  in  jener  Mischung  zu 
geben,  welche  es  unentschieden  lässt,  ob  mehr  vom  Engel  oder 
Dämon,  mehr  Süsses  oder  Bitteres  in  ihm  zu  finden  sei?  (Man 
vergleiche  hier  nebenbei  die  Worte,  Avelche  der  Dichter  dem 
satirisch-räsonnirenden  Enobarbus  I,  2  in  den  Mund  legt  („Why 
give  the  gods  a  thankful  sacrifice?  When  it  pleaseth"  etc.),  aus 
denen  gleichsam  die  Stimmung  eines  Mannes  spricht,  der  seine 
eigene  Lage  bitter  genug  fühlt.)  Shakspeare's  eheliche  Ver- 
hältnisse scheinen  niemals  recht  befriedigender  Art  gewesen  zu 
sein.  Wie  mochte  es  auch  anders  sein,  da  er,  ein  unreifer 
Jüngling  noch  so  schnell,  so  offenbar  übereilt,  aus  der  Sphäre 
seiner  niederen  Verwandtschaft  sich  eine  Lebensgefährtin  erwählt 
hatte,  die  nach  seinem  Eintritt  in  die  Hauptstadt,  als  er  Unter- 
kunft und  Ehre,  Freunde  und  Gönner,  ja  selbst  königliche  Pro- 
tection gewonnen  hatte,  niemals  würdig  befunden  wurde,  an  seiner 
Seite  zu  erscheinen.  Schwerlich  aber  mochte  das  dem  Dichter, 
dem  ruhmreichen  Schöpfer  der  anziehendsten  Frauengestalten, 
dessen  Testament  bekanndich  eine  so  auffallende  Gleichgültigkeit 
gegen  seine  Frau  an  den  Tag  legt,  mehr  zum  Bewusstsein 
kommen,  als  damals,  wo  er  aus  höheren,  geräuschvollen  Kreisen 
scheidend  im  häuslichen  Leben  seine  Befriedigung  hätte  finden 
können,  in  jener  Zeit  als  zugleich  Englands  schlaff  geführtes 
Regiment,  die  Entartung  der  Bühne  und  das  Hereinbrechen  einer 
befangenen,  fanatisirenden  Zeitrichtung  wie  so  manches  Andere 
ihn  mit  trüber  Aussicht  in  die  Zukunft  erfüllen  musste,  der  ihn 
nur  höhere,  künstlerische  Beschäftigungen  einigermassen  entheben 
mochten.  Nehmen  wir  hierzu  noch  schliesslich  die  Bemerkung 
des  seit  1602  in  Stratford  upon  Avon  lebenden  Geistlichen  John 
Ward  (dessen  Tagebuch  in  England  neuerdings  aufgefunden 
wurde),  dass  Shakspeare  in  dem  Rufe  gestanden  habe,  nach  seinem 
Abgange  von  London  jährlich  2  neue  Schauspiele  für  die  Bühne 
bearbeitet  zu  haben,  so  gestaltet  sich  die  Wahrscheinlichkeit 
immer  mehr,  dass  Antony  and  Cleopatra,  Avie  es  ein  Product 
völliger  Reife   ist,    so   auch    als    ein   Erzeugniss    der  letzteren 


"W.  Shakspeare's  Antou)-  and  Cleopatra.  275 

Lebensjahre  des  Dichterfürsten  zu  betrachten  sei.  —  Shakspeare 
zeigt  in  der  Anlage  und  Kntwicldung  seiner  Dramen  eine 
merkwürdige  Miscliung  von  selbständig  producirendcr  Kraft  und 
Aneignung  des  Fremden.  Der  reiche  Dichter  bindet  sich  nicht 
selten  an  einen  dürftigen  Stoff,  wenn  er  ihn  auch  sofort  als  Ma- 
terial für  einen  geborenen  Herrscher  verarbeitet.  Er,  der  Er- 
finder neuer  zauberhafter  Geschöpfe  und  llegionen  ist  bewun- 
dernswürdig in  der  Verherrlichtmg  alter  oft  höchst  unbedeutender 
Novellen,  ^Märchen  und  Sagen  und  erwählt  sich  selbstgezogene 
Schranken,  einen  kleinen  Kreis  engbemessener  Begebenheiten, 
um  ihn  mit  dem  Füllhorn  seiner  eigenthümlichen  Gaben  zu 
überschütten,  mit  dem  Hauche  seiner  schöpferischen  Gedanken 
zu  beleben.  —  AI. er  ebenso  bewundernswürdig  wie  in  der  Be- 
handlung jener  kleinen  alten  Geschichten  ist  er  in  der  Bewälti- 
gung und  Organisirung  reicher,  weltgeschichtlicher  Stoffe.  Ein 
Zeugniss  dafür  ist  auch  das  vorliegende  Drama.  Ohne  die 
historische  Treue  zu  verletzen,  ohne  der  äusseren  AVahrheit  der 
Charaktere  zu  nahe  zu  treten,  ohne  durch  die  Anhäufung  der 
Ereignisse  seinen  Blick  beirren  zu  lassen,  schafft  er  eine  idea- 
lisirte  Wirklichkeit,  Avelche  sowohl  einer  tieferen  Auffassung-  des 
Ganges  der  Geschichte  förderlich  ist,  als  auch  die  Regeln  der 
Kunst  befriedigt  und  die  Forderungen  der  Bühne  in  Betracht 
zieht.  Der  Dichter  will  offenbar  hier  der  Historie  möglichst 
gerecht  bleiben,  um  derselben  das  ihr  schlechthin  zukommende 
Interesse  zu  wahren  und  beabsichtigt  zugleich  ein  Lebensbild, 
das  den  Reiz  an  sich  wirkender  Anziehungskraft  übt.  Da  nun 
freilich  die  historischen  Vorgänge  zu  ausgedehnt,  zu  vielseitig 
sind,  um  in  allen  ihren  Beziehungen  harmonisch  an's  Licht 
treten  zu  können,  so  leidet  darunter  die  Einheit  der  Handlung 
nicht  nur,  sondern  auch  die  Charakteristik.  Jedes  Motiviren, 
auch  der  einfachsten  Bezüge,  nimmt  immerhin  der  übrigen  Dar- 
stellung, der  Entwicklung  der  leitenden  Ideen  imd  Personen, 
vielen  Kaum  weg.  Ein  welthistorisches  Gemälde  solcher  Art 
muss  daher,  wenn  es  überhaupt  aufgestellt  werden  soll,  mehr 
oder  weniger  skizzenhaft  bleiben.  Aber  auch  hierin  zeigt  sich 
die  wahre  Künstlerhand  Shakspeare's.  Den  rapiden  Flug  der 
Ereignisse  beherrscht  sie  mit  sicheren  Zügen;  die  Zeichnung,  ob 
sie   uns    auch    (durch   ihn    selbst   verwöhnt)    unvollständiger   er- 


276  Zur  Erläuterung  von 

scheint,  verräth  völlig  den  Meister  und  auch  das  Colorit  wirkt, 
unvernachlässigt,  mit  zum  grossen  Erfolge. 

Suchen  wir  nun  die  Grundidee  unseres  Dramas  im  AU- 
o-emeinen  zu  erfassen,  ohne  uns  in  specialisirte  Deutungen  zu 
verlieren,  so  möchte  wohl  die  bereits  berührte  Wahrnehmung 
dabei  leitend  sein,  dass  Shakspeare  hier  einen  äsdietisch  be- 
handelten doppelseitigen  Zweck,  politischer  und  zugleich  sitdicher 
Art,  vor  Augen  gehabt  haben  dürfte.  Er  schildert  die  Abnahme 
soAVohl  des  Römerthums,  als  auch  der  damaligen  sittlichen  Welt- 
zustände und  lässt  daraus  indirect  die  Nothwendigkeit  neuer 
staatlichen  Formen  und  Lebensbedingungen  resultiren.  Der  ord- 
nende Geist  der  Zeit  oder  besser  gesagt,  die  götthche  Welt- 
ordnung offenbart  sich  trotz  alles  Entgegenringens  menschlicher 
Bestrebungen.  Das  Römerreich  und  mit  ihm  die  ganze  gebildete 
Welt  war  in  jener  Zeit  auf  die  Stufe  ausserordentlicher  Macht- 
entwicklung und  Reichthümer  erhoben,  zugleich  aber  auch  da- 
hingekommen,  wo  die  Gesetze  allein  nicht  mehr  hini-eichen,  den 
Zusammenhang  zu  erhalten  und  die  übertriebenen  Ansprüche  zu 
zügeln.  Vergebens  ist  da  die  Erneuerung  der  Formen  des  alten 
Republikanismus,  wo  der  Geist  der  Republik  fehlt,  vergebens 
das  Streben  eines  edeln  Brutus  und  seiner  Freunde  nach  Frei- 
heit, wo  man  wegen  Mangel  sittlich- freier  Anschauungen  die 
äussere  Freiheit  nicht  mehr  ertragen  kann  und  der  Verwegenheit 
und  Grösse  des  Einzelnen  in  trunkener  Begeisterung  entgegen- 
jauchzt. Individuelle  Grösse  hat  in  erschlafften  Zeiten  immer 
etwas  Berauschendes.  Was  der  Masse  fehlt,  das  sucht  sie  am 
Einzelnen.  So  deutet  denn  der  Zug  zur  Alleinherrschaft,  welcher 
,  eigentlich  von  patriarchalischen,  unentwickelten  Zuständen  ausgeht, 
ebenso  naturgemäss  wieder  auf  übertriebene,  aufgelöste  Zeit- 
verhältnisse und  erweist  sich  in  ihnen  als  politische  und  sittliche 
Nothwendigkeit.  Wer  nun  die  Zeichen  der  Zeit  versteht  und 
fühlt,  sieht  sich  gern  als  Werkzeug  höherer  Schickung  an.  Aber 
nicht  Jeder  ist  ein  Günstling  des  Glücks,  so  wenig  als  er  selbst 
(oft  bei  trefflichem  Willen  uud  günstigen  Anlagen)  zur  Führung 
der  Ereignisse  immer  taugt.  Nicht  ist  es  gerade  das  gute  Herz 
oder  die  ungestüme  Dreistigkeit  und  brausende  Hitze,  Avelche 
den  rechten  Imperator  kennzeichnen.  Weder  ein  Lepidus  noch 
ein  Pompejus  vermögen  sich  im  Ringen  um  die  oberste  Leitung 


^Y.  Shakspeare"s  Antony  and  Cleopatra.  277 

zu  behaupten.  Aber  auch  reicher  begabte  Charaktere,  "wie  ein 
Antonius  es  war,  sind,  -wenn  sie  der  Entschiedenheit  und  sitt- 
hchen  Ordnung  ermangchi,  in  solchen  Zeiten  nicht  gUicklich. 
Sie  unterliegen  der  Versuchung  der  Zeit.  In  den  Perioden  des 
sittlichen  Verfalls  siegt  allein  die  Stärke  des  nüchternen,  Ehr- 
barkeit zeigenden  Verstandes,  behauptet  sich  nur  die  eiserne 
Consequenz  und  gewinnt  den  Thron.  Nur  INIenschen  solcher 
Art,  ob  auch  sonst  unvollkommen,  sind  in  höherer  Hand  brauch- 
bare Werkzeuge  zur  Vermittlung  ihrer  Zwecke. 

Neben  der  angedeuteten  allgemeinen  Grundrichtung  bemerken 
wir  auch  eine  Vertretung  specicller,  persönlicher  Interessen,  welche 
der  dramatischen  Verhandlung  den  Stempel  einer  Liebes-AfFaire 
aufprägen.  Die  Benennung  des  Stückes  —  Antonius  und  Cleo- 
patra —  deutet  auch  seinen  besonderen  Inhalt  an.  Es  entwickelt 
sich  vor  unseren  Augen  ein  Verhältniss  zweier  Personen,  das 
in  seinen  kleinen  Zuständen  mit  dem  politischen  Hergang  ge- 
nau verflochten  ist  und  ihn ,  kann  man  sagen ,  in  namhafter 
Hinsicht  abspiegelt.  Der  Held  dieser  kleinen  Welt  ist  zugleich 
der  Beherrscher  der  grossen,  mid  der  Gegenstand  seiner  Liebe 
greift  als  bedeutender  politischer  Factor  in  den  Gang  der  Welt- 
ereignisse ein.  Wie  nun  z.  B.  Troilus  und  Cressida  ein  Spiegel- 
bild im  Kleinen  von  dem  wenig  sittlichen  VorAvurfe  des  troja- 
nischen Krieges  darstellt;  so  giebt  uns  auch  das  Verhältniss 
von  Antonius  und  Cleopatra  ein  x\bbild  der  sittlichen  Zustände 
ihrer  Zeit.  Es  reflectirt  denselben  Grad  der  Verfeinerung,  Halt- 
losigkeit und  Corruption  und  fülu't  für  sich  nicht  minder  den 
Beweis,  wie  wenig  ohne  Anschluss  an  eine  feste,  sittliche  Ord- 
nung in  der  Macht  wie  im  Genuss  die  individuelle  Freiheit  er- 
langt  und  behauptet  werden  kann.  So  gehen  denn,  kann  man 
sagen ,  beide  Richtungen  dasselbe  Ziel  verfolgend  in  einander 
auf  und  geben  der  Welt  die  zwar  so  einfache  aber  immer  von 
Neuem  nöthige  Lehre,  dass  die  Menschheit  nur  in  dem  weisen 
Mass  gegenseitiger  sittlicher  Beschränkmig  und  in  nie  ermüdendem 
Erstreben  und  Aneignung  idealer  d.  h.  göttlicher  Forderungen 
in  ihrer  Anwendung  auf  die  Güter  dieser  Welt,  ihre  Bestimmung 
mit  Glück  verfolgen  und  erreichen  kann.  Solcher  AVeise  führen 
uns  deren  Inhalt  und  Zeit  des  gewählten  Gegenstandes  an  den 
Eintritt  einer  neuen  Weltgestaltung,  an  die  Schwelle  des  Christen- 


278  Zur  Erläuterung  von 

thiims  und  wir  erkennen  auch  an  diesem  trefflich  gezeichneten 
Bilde  wankender  menschlicher  Zustände,  dass  die  Zeit,  die  einen 
Octavian  als  Augustus  verlangen  und  ertragen  konnte,  zur  Er- 
neuerung durch  höhere  Eimvirkung  reif  geworden  war. 

So  ofienkundig  diese  Grundanschauungen  auch  entAvickelt 
und  verbunden  werden,  so  ist  doch  auf  den  ersten  Blick  zu 
sehen,  dass  unser  Drama  etwas  loser  in  seinem  Gefüge,  un- 
vermittelter in  seiner  Ausführung  dasteht  als  andere  Werke  Shak- 
speare's.  Dies  liegt  einestheils,  wie  bemerkt,  an  der  gewaltigen 
Masse  des  geschichtlichen  Stoffes,  der  hier  zu  verarbeiten  war, 
anderntheils  aber  auch  an  den  Hauptcharakteren  selbst,  die  sich 
dem  geschichtlichen  Charakter  analog,  meist  in  Gegensätzen 
bewegen.  Die  Launenhaftigkeit  und  Willkür  derselben  ergreift, 
wenn  man  so  sagen  darf,  den  Dichter  selbst  und  die  Wechsel, 
Wunderlichkeiten  und  Uebertreibungen  ihres  Gebahrens,  wie  nicht 
minder  ihrer  Schicksale,  ihres  Glückes,  bedingen  und  spiegeln 
sich  in  der  Verbindung  des  Ganzen.  Daher  neben  der  häufigen 
Veränderung  und  dem  gelockerten  Zusammenhang  derS  cenen 
das  Hastige,  gleichsam  Springende,  Oppositionelle  in  den  Vor- 
gänoen,  Reden  und  Richtunsren.  Wir  haben  eben  nur  ein  in 
grossen,  starken  Zügen  unterworfenes  Bild  vor  uns.  Ausführ- 
licher ist  allein  die  tragische  Entwicklung  gehalten  und  sie 
musste  es  wohl  auch,  da  in  ihr  die  im  Leben  bewiesene  Un- 
M'ürdigkeit  und  Haltlosigkeit  der  Hauptcharaktere  ausgeglichen 
und  die  sittliche  Anforderung  des  Zuschauers  ihre  schliessliche 
Genugthuung  finden  musste. 

Im  Ganzen  wie  auch  in  den  kleinsten  Nebenbeziehungen  zeigt 
sich,  Avie  bemerkt,  eine  grossartige  Weltanschauung,  welche  auf 
dem  schlüpfrigen  Thema  nicht  ausgleitet;  die  Ausdrucksweise 
ist  erhaben,  sicher  und  präcis.  Man  fühlt  sich  bald  von  dem 
Hauche  eines  Meisters  umweht,  der  die  stattlichen  Hallen  des  A\- 
terthums  neubelebend  durchdringt.  Er  selbst  tritt  gleichsam  an 
die  Seite  seiner  Geschöpfe,  die  er  aus  jenen  alten  Tagen  um  sich 
versammelt,  wie  Minerva  zu  ihrem  Schützling,  kämpft^  liebt  und 
duldet  mit  ihnen,  ja  er  ist  in  jedem  begeisterten  Moment  ganz  mit 
ihnen  Eins.  Je  tiefer  wir  eindringen,  desto  mehr  werden  wir 
uns  ergriffen  fühlen  von  dem  Ideenreichthum  dieses  Stückes, 
seinem  Farbenschmuck,  seiner  historischen  Treue,  seiner  reinen 


W.  Shakspcare's  Antony  and  Cleopatra.  279 

AVahihcit,  seiner  Darstellung  des  menschlichen  Herzens,  seiner 
sprachlichen  Grösse.  —  ,.üf  all  Shakspeare's  historical  plays," 
sagt  der  berühmte  Colcridgc,  „Antony  and  Cleopatra  is  by  far 
the  most  Avonderful.  The  Iiighest  praise  or  rathcr  form  of  praise  of 
this  play  which  I  can  ofFer  in  my  own  mind,  is  the  doubt  -which 
the  pernsal  always  occasions  in  me,  whcther  the  Antony  and 
Cleopatra  is  not,  in  all  exhibitions  of  a  giant  power  in  its  strength 
and  vigour  of  maturity  a  formidable  rival  of  Macbeth,  Lear, 
Hamlet  and  Othello." 

Bemerkenswerth  ist  die  Einflechtung  des  Komischen,  von 
der  das  Drama  Julius  Cäsar  nichts  bietet.  Jedenfalls  absicht- 
lich. In  jenem  Drama  kämpfen  in  den  Helden  des  wechselnden, 
sinkenden  Römerthums  doch  gewaltige,  einander  gegenüber- 
stehende Principien,  welche  den  Scherz  durchaus  nicht  auf- 
kommen lassen,  hier  dagegen  nur  mehr  aufeinander  eifersüchtige 
Nebenbuhler,  die  in  ihren  unvermeidlichen  Schwächen  imd  sitt- 
lichen Blossen  den  Vorwurf  zur  Ironie  und  Persiflage  selbst 
darreichen.  Dort  ist  der  ganze  Grundzug  ein  ernsterer  (bei 
offenbar  geringerem  Grade  dichterischer  Schwermutli),  obgleich 
nicht  persönlich  so  ergreifend,  dass  ihm  zur  Erleichterung  der 
Stimmrmg  des  Zuschauers  eine  Erheiterung  beigemischt  werden 
müsste,  hier  dagegen  leichter  und  leichtsinniger,  mithin  mehr 
Spielraum  zu  flüchtigem  Scherz.  Dieser  Scherz  gibt  sich  mit- 
hin als  charakterisirendes  Moment,  als  Abspiegelung  des  Inhalts, 
nicht  al)er  wie  sonst  bei  Shakspeare,  als  leichte  Folie  zur  Dar- 
stellung düsterer  Farben. 

Gehen  wir  nun  zur  Eintheilung  der  Acte  und  Scenen  über, 
so  können  es  auch  hier,  da  die  Folios  keinen  genügenden  An- 
halt verleihen,  nur  innere  Gründe  sein,  welche  über  die  Berich- 
tigung und  Feststellung  des  Vorhandenen  entscheiden.  Eine  vor- 
läufige  dem  logischen  Zusammenhang  entsprechende  Zusammen- 
stellung wird  geeignet  sein,  die  dramatische  Eintheilung  besser 
zu  überblicken. 

Acl  I. 

Sc.  1.  enthält  eine  Einleitung  zur  Schilderung  beider  Haupt- 
personen und  ihrer  Umgebung.  Sc.  2.  Cleopatra's  Gefolge. 
EntSchliessung  Antony's    zur   Trennung  von  der  Cleopatra.  — 


280  Z  u  r  E  r  I  ii u  t  e  r  u  n  g  V  0  n 

Sc.  3.  Abschiedsscene  zwischen  Beiden.  —  Sc.  4.  Octavian's 
u.  Lepidus'  Auftreten  und  Urtlieil  über  Ant.  —  Sc,  5.  Fort- 
setzung der  Verbindung  zwischen  dem  abwesenden  Antony  u. 
der  Cleop.  —  Sc.  6.  Pompejus  u.  Gefolge  treten  auf  und  ent- 
falten ihre  Beurtheilungen  der  Triumvirn  u.  ihre  Plane.  — 

Act  II. 

Sc.  1.  Eine  Aussöhnung  itler  Triumvirn  erscheint  durch 
Verlobung  Antony's  mit  der  Octavia  befestigt.  —  Sc.  2.  Vor- 
zeichen der  Lostrennung  Antony's  von  seinen  eingegangenen  (poHt. 
u.  ehel.)  Verbindungen.  —  Sc.  3.  Einleitung  zur  Verbindung 
der  Triumvirn  mit  Pompejus.  —  Sc.  4.  Eindruck  von  Antony's 
Vermählung  auf  Cleopatra.  —  Sc.  5.  Aussöhnung  der  Trium- 
virn mit  Pompejus.  —  Sc.  6.  Festgelage  der  Verbündeten.  — 
Sc.  7.    Bewältigung  der  Parther  durch  Antony's  Truppen. 

Act  III. 

Sc.  1 .  Abschied  Antony's  u.  seiner  Gemahlin  von  Rom.  — 
Sc.  2.  Cleopatra's  fortdauernde  Liebe  und  Eifersucht.  —  Sc. 
3.  Beginn  neuer  Misshelligkeiten  zwischen  Anton,  u.  Octavian. 
—  Sc.  4.  Lepidus'  Absetzung  u.  Pompejus'  Tod.  —  Sc.  5. 
Völliger  Bruch  zwischen  Octavian  u.  Anton.  Rückkehr  Octavia's 
zum  Bruder.  Sc.  6.  Vorgänge  vor  —  und  Entschliessung  An- 
tony's zu  einer  Schlacht  mit  Octavian.  Sc.  7.  Schlacht  bei  Ac- 
tium.  —  Sc.  8.  Trostlose  Stimmung  Antony's  nach  seiner  Nie- 
derlage. 

Act  IV. 

Sc.  1.  Octavian  in  Aegypten.  UnterAverfungs vorschlage 
der  beiden  Besiegten  daselbst.  —  Sc.  2.  Heimliche  Unterhand- 
lungen Cleopatra's  von  Anton,  entdeckt  u.  geahndet.  —  Sc. 
3.  Octavian  verwirft  die  Ausforderung  zum  Zweikampf  u.  be- 
schliesst  eine  Schlacht.  —  Sc.  4.  Schmerzlicher  Abschied  An- 
tony's von  seinen  Dienern.  —  Sc.  5.  Mysteriöse  Vorbedeutungen 
über  Anton.  —  Sc.  6.  Dessen  Vorbereitung  zur  Schlacht.  — 
Sc.  7.  Abfall  des  Enobarbus.  —  Sc.  8.  Dessen  Reue.  ~  Sc. 
9.  Ein  Siegsblick  für  Anton.  —  Sc.  10  Rückkehr  des  triumphir. 
Siegers  zur  Cleopatra.  —  Sc.  11.  Ende  des  Enobarbus.  —  Sc. 


W.  Sbakspeare's  Antony  and  Cleopatra.  281 

12.    Letzte  Niederlage  Antony's.  —  Sc.  13.  Cleopatra's  Flucht. 

—  Sc.  14.  Versuchter  Selbstmord  des  Antony.  —  Sc.  15.  An- 
tony's Abschied  von  Clcop.  u.  sein  Tod.  / 

Act    V. 

Sc.  1.  Eindruck  der  Todesnachricht  auf  Octavian.  —  Sc. 
2.  Tragisches  Ende  der  Cleopatra.     Scliluss. 

Oder  mit  kürzeren  Worten:  der  erste  Act  enthält  im  All- 
gemeinen   die   Einführung    der   Hauptpersonen    (resp.   Rivalen), 

—  im  Besonderen  (die  persönlichen  Beziehungen  zwischen  An- 
tonius und  Cleopatra  betreffend)  die  Losreissung  des  Antonius 
von  der  Cleopatra.  — 

Der  zweite  Act:  Die  Aussöhnung  Antony's  mit  seinen  Neben- 
buhlern. —  Seine  Ileirath  mit  der  Octavia. 

Der  dritte  Act:  Seinen  Bruch  mit  dem  Hauptgegner.  — 
Rückfall  zur  Cleopatra. 

Der  vierte  Act:  Seinen  Untergang  nach  vergeblichen  Unter- 
handlungen,  —  Das  Unglück  ein  Prüfstein  der  Liebenden. 

Der  fünfte  Act:  Den  tragischen  Abschluss,  welcher  sowohl 
den  Streit  um  die  AVeit  als  auch  die  Differenzen  der  Liebenden 
endigt  und  ihre  mangelhaften  Beziehungen  läutert  und  verklärt.  — 

Die  1.  Scene  des  II.  Actes  dürfte  (wie  oben  geschehen  ist) 
mit  allem  Rechte  dem  L  Acte  zuzuweisen  sein.  Denn  die  Ein- 
i'ührung  des  S.  Pompejus  als  einer  für  den  Gang  der  Ereig- 
nisse sehr  eintlussreichen  Person  gehört  offenbar  in  die  Ein- 
leitung des  Stücks,  welche  Act  I.  bildet.  Ausserdem  liegt  der 
AVendepunkt  von  Antony's  weiterem  Ergehenin  seiner  Annäherung 
an  die  bisher  feindseho  Q-estimmten  Colleg-en,  welche  daher 
schicklich  den  Beginn  von  Act.  II  bildet.  —  Zugleich  deuten 
die  gereimten  Schlusszeilen  der  erwähnten  Scene  auf  einen  be- 
sonderen Ruhepunkt,  einen  nachdrücklicheren  Abschluss  der- 
selben und  geben  mithin  der  Aenderunji^  aus  innern  Gründen 
einen  zwar  weniger  wichtigen  aber  doch  immer  sehr  bemerkens- 
werthen  äusseren  Anhalt. 

Auch  die  1.  Scene  des  III.  Actes  dürfte  ebenso  rechtmässig 
auf  Act  II.  zurückzuverlegen  sein.  Denn  sie  ist  einestheils  nur 
eine  wichtige  Beziehungen  im  Leben  Antony's  behandelnde  Epi- 
sode,   welche  Vorgänge    berichtet,    die    i'ür   den  Fall    der   Aus- 


282  Zur  Erläuterung  von 

söhnung  von  Antonius  bereits  vorgesehen  worden  waren  (cf.  II, 
2  (1)),  mithin  in  genauestem  Connexus  mit  den  von  dem 
Friedenswerke  des  erneuerten  Triumvirats  abhängigen  Be- 
gebnissen stehen  und  daher  als  Folge  des  Bisherigen, 
nicht  als  Anfang  und  Ursache  einer  neuen  Wendung  der 
Dinge  aufzufassen  sind.  (Obgleich  der  hartnäckige  von  Plu- 
tarch  ausführlich  geschilderte  Widerstand  der  Parther  für  An- 
tony's  Lebensgeschichte,  namentlich  sein  Verhalten  in  Aegypten 
sehr  einflussreich  war,  so  hat  ihn  doch  Shakspeare  als  ausser 
dem  Bereiche  seiner  Anlage  gelegen  nicht  als  massgebend  be- 
trachten können.)  Anderntheils  wird  in  dieser  Scene  (gegen 
Ende)  auf  das  bis  dahin  ungestörte  Bleiben  des  Antonius  zu 
Rom  angespielt  (he  purposeth  to  Athens).  Da  nun  aber  der 
neue  Act  selbstverständlich  in  einem  gewissen  Gegensatz  oder 
anders  gesaijt,  auf  einer  decidirten  Fortentwicklunosstufe  dem 
vorherigen  gegenüber  zu  stehen,  resp.  die  Abtrennung  des  An- 
tonius von  seinen  Bundesgenossen  zu  behandeln  hat,  so  tritt  die 
Einleitung  dieses  veränderten  Verhältnisses  passender  Weise  mit 
der  wirklich  stattfindenden  Abreise  Antony's  nach  Athen  ein.    Act 

III.  würde  also  mit  Scene  2  bisheriger  Eintheilung  zu  beginnen 
haben,  worin  Collier's  alter  Corrector  gleicher  Meinung  ist. 

Schwieriger  erscheint  die  Bestimmung  über  den  Anfang  des 

IV.  Actes:  Unseres  Erachtens  dürfte  derselbe  mit  der  10  Scene 
von  Act  III  bisheriger  Eintheilung  beginnen,  wofür  folgende 
Gründe  anzuführen  sind.  Nach  der  Schlacht  bei  Actium  tritt 
in  politischer  Beziehung  eine  Art  Kuhepunkt  für  unser  Drama 
ein,  eine  Zeit  des  Zusehens  und  Beobachtens.  Antonius  trachtet, 
wenn  auch  eine  Aussöhnung  in  früherem  Sinne  nicht  mehr 
möglich  ist,  nach  einem  friedlichen  Abkommen  mit  seinem 
Gegner,  er  sucht  zu  unterhandeln.  Diese  Unterhandlungen, 
welche  die  Ausforderung  zum  Zweikampf  als  letzten  Verzweif- 
lungsversuch in  sich  schliessen,  bilden  ein  Ganzes,  gehören  un- 
getrennt zusammen  und  eröffnen  eine  neue  Phase  in  dem  Glücks- 
wechsel des  Haupthelden.  Auch  ist  der  Anfang  eines  neuen 
Turnus  auf  dem  Boden  alter  Schuld  und  alter  Herrlichkeit  das 
Auftreten  und  Benehmen  der  Liebenden  in  trauriger  Lage  dort, 
wo  früher  das  Glück  und  Wohlleben  sie  schmeichelnd  umgab, 
ein  weiteres  Bestimmungsmoment  für  die  bezeichnete  Annahme, 


W.  Shakspeare's  Antony  and  Cleopatra.  283 

welcher  nebenbei  die  gereimten  Schlusszeilen  von  Scene  9  zur 
Unterstützung  dienen. 

Den  V.  Act  lässt  Collier's  Anonymus  mit  der  13.  Scene 
des  IV.  Actes  beginnen.  Die  Bestinmiung  hierüber  möchte 
mehr  als  offene  Frage  zu  betrachten  sein,  da  eincstheils  der 
völlige  Hingang  mit  der  versuchten  Selbsttödtung  erst  ein  tra- 
gisches Ganze  bildet  und  die  o;ereimten  Endzeilen  dieser  Scene 
hierbei  förderlichen  Anhalt  bieten;  anderntheils  aber  auch  der 
von  dem  Dichter  der  Geschichte  ganz  analog  festgestellte  Ab- 
schluss  der  persönlichen  Beziehungen  zwischen  den  Haupt- 
charakteren vor  ihrer  völligen  Trennung  als  ein  den  Ausgang 
des  Ganzen  mitbedingendes  JNIoment  an  den  Schlussact  ein  An- 
recht zu  beanspruchen  im  Stande  ist. 

Die  von  J.  P.  Collier  vor  einigen  Jahren  aufgefundenen 
Emendationen  enthalten  für  unser  Stück  nur  Einiges  von  Be- 
deutung und  bleibt  es  immerhin  auffallend,  dass  manche  gegen- 
wärtig viel  unklarere  Stellen  und  Worte  von  dem  Corrector, 
scheinbar  aus  Versehen  oder  weil  er  nichts  Besseres  zu  geben 
wusste,  übergangen  wurden.  Derselbe  scheint  überliaupt  bei 
seinen  Aenderungen  mehr  gewisse  subjective  Lieblingsabsichten 
verfolgt,  als  gerade  die  für  das  Verständniss  schwierigen  Stellen 
einer  Läuterung  unterworfen  zu  haben.  Doch  ist,  um  nicht 
ungerecht  zu  erscheinen,  immer  zu  bedenken,  dass  ein  Zeit- 
genosse oder  ein  dem  Leben  und  den  Werken  einer  grossen 
Zeit  noch  ganz  Nahestehender  viele  Anspielungen  und  Bezie- 
hungen derselben  als  sich  von  selbst  verstehend  übergeht  und 
üljerhau})!  die  Gegenwart  nicht  jener  Erklärungen  so  bedarf,  die 
der  Nachwelt  erst  zum  besseren  Verständniss  verhelfen. 

Bei  der  genaueren  Betrachtung  der  Charaktere  des  Stücks 
fällt  vor  allen  anderen  der  PLauptheld  desselben,  Antonius,  in 
die  Augen.  P>  erinnert  mit  vollem  Rechte  an  seinen  historischen 
Namen.  Shakspeare  hat  die  Grundzüge,  welche  er  in  den  Ge- 
schichtswerken, insbesondre  bei  Plutarch  vorfand,  genau  bei- 
behalten, ihnen  aber,  wie  dem  Dichter  frei  steht  und  gebührt, 
eine  etwas  veredelte  Färbuno;  o-egeben,  sodass  sein  Portrait  in 
der  allgemeinen  Fühmmg  die  historische  Natur  wiedergibt  imd 
doch  zugleich  freie  Genialität  beurkundet.  Wie  der  Antonius 
der   Geschichte   so    bietet   auch    der   Shakspearesche   glänzende 


284  Zur  Erläuterung  von 

Anlagen,  tritt  mit  bedeutender  Befähigung  auf  die  Bühne  des 
Lebens,  bleibt  aber  weit  hinter  den  Erwartungen,  die  er  erregt, 
zurück.  Die  Ursache  davon  liegt  in  seiner  besonderen  Indivi- 
dualität und  Umgebung.  Seine  Natur  zeigt  eine  eigenthümliche 
Mischung,  eine  Zusammenstellung  von  einander  widersprechenden 
Elementen,  welche  unausgeglichen,  seinem  Leben  eine  unbe- 
friedigende Wendung  geben.  Wir  bemerken  an  ihm  das  leben- 
digste Gefühl  für  Ehre  und  alles  Grosse  und  Edle,  verbunden 
mit  einem  feinen,  sicheren  Ueberblick  seiner  Umgebung,  mit 
einem  Worte  Verstand  und  Herz,  aber  leider  nicht  ebensoviel 
Willenskraft  und  Consequenz.  Rechnen  wir  eine  bedeutende 
Beigabe  sinnlicher  Naturanlage  hinzu,  welche  ihn  der  Versuchung 
und  dem  Genuss  in  die  Arme  führt,  so  finden  Avir  in  ihm  die- 
jenige Art  von  Menschen  repräsentirt,  welche  sich  eher  der 
Empfindung  als  der  Entschliessung  hingeben,  eher  hochfliegende 
Wünsche  nähren,  als  männliche  Plane  mit  nüchternem  Ernste 
betreiben.  Charaktere  dieser  Art  haben  nicht  selten  Grosses 
geleistet  und  in  der  Weltgeschichte  ihre  Namen  berühmt  gemacht, 
aber  nur  dann,  wenn  ein  begeisterter  Augenblick  sie  hinriss 
oder  eine  äussere  Nöthigung  sie  drängte.  Denn  sie  hängen 
mehr  von  ihrer  Umgebung  als  von  sich  selbst  ab.  Fremde 
Einflüsse  bringen  sie  zu  Thaten,  die  werth  sind  von  Dichtern 
besungen  zu  werden,  oder  aber  sie  ersticken  und  erschlaffen  völlig 
ihre  Widerstandsfähigkeit  und  Thatkraft.  Von  solchen  ist  unser 
Held  Einer  zu  nennen.  Wir  dürfen  ihn  indess  seinem  Vorgänger 
im  Julius  Cäsar  nicht  geradezu  an  die  Seite  stellen.  Denn  wie  beide 
Stücke  äusserer  Behandlung  nach  ein  sehr  verschiedenes  Gepräge 
aufweisen,  so  ist  auch  der  eine  Antonius  (vom  Historischen  ganz 
abgesehen)  nicht  dem  anderen  völlig  identisch,  der  diesseitige 
keinesAvegs  die  absolute  Fortsetzuno;  von  jenem.  Unser  Antonius 
ist  nicht  jener  blutdürstige  Unterzeichner  der  Proscriptionen, 
nicht  der  verschlagene  Schmeichler  derer,  die  er  hasst,  nicht  der 
verstellungssüchtige  Unterhändler  mit  der  Gegenseite,  nicht  der 
listige,  gewandte  Volksredner,  der  die  Menge  bearbeitet. 
Er  ist  von  alle  dem  geradezu  das  Gegentheil  und  muss  daher 
für  sieh  betrachtet  werden.  —  Eine  anziehende,  besonderes 
Interesse  erweckende  Erscheinuns:  sollte  aber  ohne  ZAveifel  der 
Antonius  unseres   Dramas   nach    dem   AVillen   seines   Schöpfers 


W.  Shakspeare's  Antony  and  Cleopatra.  285 

sein.  Diese  Intention  unseres  Dichters  müssen  wir  festhalten, 
ohne  uns  im  A'oraus  einem  Vorurtheil  oder  ^volJ  sar  einer  An- 
wandhmg  von  modern-liberaler  Abneigung  gegen  dem  Bekämpfer 
der  Volkspartei  hinzugeben.  Eine  scheinbar  unter  sich  unverträg- 
liche, bei  Trägern  von  welthistorischen  Namen  sonst  wenig  vorkom- 
mende Mischung  wird  uns  hier  geboten,  eine  Zusammenfassung 
von  anerschaffener  Grösse  und  unbesonnener  Erniedrigung,  von 
imponirendcr  Kraft  und  weicher  Dahingebung,  von  edler  Stand- 
haftigkeit  und  Aufgebung  alles  Selbstvertrauens,  von  würdevoller 
Selbstbeherrschung  und  gemeinem  Abfall  ins  Gebiet  der  Sinn- 
lichkeit, von  wohlwollendem  Entgegenkommen  und  bündiger 
Verachtung  gegen  die  Aussenwelt,  von  gesundem  Urtheil  und 
krankhafter  Bethörung.  Er  fühlt  sich  offenbar  zuviel,  dem  ver- 
meintlichen Ahnherrn  Hercules  nach  Shakspeare's  Anschauung 
nicht  unähnlich,  in  seinem  Eeichthum  unter  den  kleinen  Seelen, 
die  ihn  umgeben  und  blickt  etwas  gleichgültig  auf  die  Behauptung 
des  Weltregiments  hernieder,  das  ihm  unter  feiler  Dienstbarkelt 
des  Morgenlandes  so  mühelos  zu  Theil  geworden  und  ihm  lange 
nun  fast  werthlos  scheint.  Die  reine,  schwärmerische  Liebe 
hat  anfänglich  nichts  an  ihm.  Eine  solche  hätte  den  schlafenden 
Löwen  auch  bald  erweckt  und  zu  höherem  Ziele  schneller  be- 
rufen. Es  sind  zuerst  nur  mehr  sinnliche,  berauschende  Flam- 
men, denen  sein  üebermuth  sich  vöUig  hingiebt.  Diese  schürt 
er  so  lange,  bis  sie  ihn  wie  mit  einem  Zaubergürtel  umschliessen, 
den  er  vergebens  mit  schwachem  Muthe  zu  durchbrechen  über- 
nimmt, sein  innerstes  Heiligthum  umzüngeln,  alle  Ausgänge  ent- 
zünden und  versperren  und  im  allgemeinen  Ruin,  dem  er  am 
Ende  nicht  mehr  ausweichen  kann  und  mag,  ihn  verzehren. 
Wie  Hercules  jener  verderblichen  Liebesgabe  zum  Opfer  ver- 
fällt, so  vermag  auch  er  dem  Nessusgewebe  der  Aegypterin 
sich  nicht  zu  entreissen.  Die  Umstrickunfj;  brino;t  ihm  den  Unter- 
gang,  läutert  aber  auch  seine  Richtung,  lässt  ihn  seine  schlum- 
mernden Kräfte  zusammennehmen  und  so  die  schmachvoll  preis- 
gegebene Selbständigkeit  im  Tode  sich  erringen.  Die  Ge- 
legenheit,  die  ihm  geboten  war,  römische  Grösse  durch  orien- 
talischen Luxus  zu  zerrütten,  stand  seiner  Vertiefung  in  sich 
selbst  im  Wege  und  wand  ihm  den  Scepter  der  Alleinherrschaft 
völlig  aus   der   Hand.     Nur   der  Sturm   völligen  Missgeschicks 

Arcliiv  f.  n.  Sprachen.  XXIII.  19 


286  Zur  Erliiuterung  von 

treibt  ihn  dem  Hafen  zu.  Die  Zaubergewalt,  welche  ihn  den 
Kampf  gegen  seine  Nebenbuhler  im  Weltregimente  nur  schwä- 
cher bestehen  Hess,  den  Sieg  über  sich  selbst  gar  unmöglich 
machte,  und  ihn  in  ihr  Schicksal  verflechtend  dahinrafft,  verliert 
zuletzt  ihre  niedere,  dämonische  Macht  und  wird  ihm  zur  Kraft 
eines  höheren  reinem  Gebietens ,  verklärt  sich  in  jene  Gewalt, 
welche  den  über  Tod  und  Grab  hinaus  dauernden  Bund  der 
Seelen  schafft.  Nach  allen  SchAvankungen  und  Anfechtungen 
weiss  unser  Antonius  sich  völlig  Eins  mit  seiner  Cleopatra 
und  ruft  mit  wahrer,  inniger  Ueberzeugung  und  Sehnsucht,  der 
bereits  als  todt  Betrauerten  entgegen: 

I  come  my  queen ! 
Where  souls  do  couch  on  flowers,  we'U  hand  in  band, 
And  with  our  sprightly  port  make  the  ghosts  gaze  etc. 

So  können  wir  denn  diesem  Charakter,  welcher  bei  allem 
Leichtsinn,  bei  Sinnlichkeit,  Uebermuth  und  Mangel  an  Festig- 
keit, doch  auch  wie  als  Freund  so  als  Gebieter  und  Krieger 
die  glänzendsten  Eigenschaften  zeigt,  soviel  Grossmuth  und  Her- 
ablassimg,  Offenheit,  edlen  Stolz  und  persönlichen  Muth  ent- 
faltet, unsre  innige  Theilnahme  in  aller  seiner  Verschuldung 
nicht  entziehen.  Seine  Tugenden,  auch  wo  sie  die  eines  Ver- 
schwenders zu  nennen  sind,  halten  seinen  grossen  Fehlern  gar 
sehr  die  Wage.  Der  Zuschauer  und  Leser  fühlt,  wie  die  Woge 
der  Schuld  ab-  und  zuschwankt,  wie  meisterhaft  die  Anlässe 
zur  Ehrenrettung  und  zur  Verwerfung  von  dem  Dichter  vertheilt 
worden  sind,  indess  die  dunkle  Wetterwolke  des  den  Schuldigen 
treffenden,  ihn  läuternden  Gerichts  nicht  aussen  bleiben  kann, 
vielmehr    am    Horizonte     sich    immer    lauter    ankündiget    und 

heraufzieht. 

Ihm  zur  Seite  steht  würdig  Cleopatra.  Sie  ist  ganz  für 
einen  Antonius  geschafifen.  Ihr  Charakter  ist  nicht  minder  eine 
bewundcruswerthe  Conception,  eine  Vereinigung  von  Eigen- 
schaften, w^elche  blenden,  bezaubern  und  verwirren.  Man  ist 
bei  ihr  ganz  besonders  in  Verlegenheit,  ein  einheitliches  Gemälde 
zu  entwerfen  und  eine  logische  Consequenz  zu  finden,  da  sie 
gleichsam  aus  Thorheiten  und  Widersprüchen  zusammengesetzt 
ist.  Eben  so  anmuthig  als  geistreich,  verschlagen  und  doch 
gemüthvoll,    heftig,  ja    tobend   und   hinwiederum    so    sanft   und 


W.  Shakspeare's  Antouy  and  Cleopatra.  287 

seelenvoll,  leichtsinnig  und  doch  oft  in  ernster,  schwermüthiger 
Hoheit,  launenhaft  und  anderwärts  unverrücklich  deternimirt  in 
ihren  P^ntschlicssungon,  sehr  versinnliclit  und  dann  wieder  doch 
sittlicher  Grazie  theilhaft  —  tritt  sie  uns  entgegen.  Sie  wechselt 
überraschend  schnell  in  ihren  Stimmungen.  Die  schlaue  Berech- 
nung maclit  naiven,  unverkünstelfen  Geständnissen  Platz  und 
der  beleidigende  Spott  räumt  warmen,  innig  gemeinten  Wünschen 
seine  Stelle  ein.  So  erblicken  Avir  in  ihr  denn  die  leicht  erregte 
orientalische,  königliche  Frau,  welche  der  Anziehungskraft  ihrer 
körperlichen  und  geistigen  Vorzüge  sich  bewusst,  aller  morgcn- 
ländischen  buhlerisclien  Künste  Meisterin,  sich  selbst  damit 
schmeichelt,  die  Helden  ihrer  Zeit  unter  ihr  Joch  beugen  zu 
können.  Alle  ihre  Schritte  begleitet  jenes  bezaubernde  Etwas, 
das  der  Männer  Herzen  auch  gegen  ihren  Willen  so  leicht  Fes- 
seln anlegt.  Obgleich  Herrschsucht,  Sinnlichkeit,  Neid,  Stolz, 
Schadenfreude,  Treulosigkeit  und  Wankelmuth  bei  ihr  zu  Hause 
sind,  obgleich  unser  sittliches  Bewusstsein  schwer  von  ihr  ver- 
letzt wird,  fühlen  wir  uns  doch  seltsamer  Weise  wie  von  dä- 
monischer Zaubergewalt  stets  von  Neuem  zu  ihr  angezogen. 
Sie  scheint  das  Vorrecht  zu  haben,  bis  an  den  „Wendepunkt  von 
Allem  was  wir  hassen-  anzustreifen.  Antonius  ist  ihr  anfänglich 
nur  der  königliche  Sclave  am  Siegeswagen  und  mehr  ein  Werk- 
zeug als  Ziel  ihres  Strebens,  welches  zugleich  Ehrgeiz  und 
Eitelkeit  vor  Augen  hat.  Sie  preisst  sich  in  schlauer  Coquetterie 
olücklich,  eine  solche  Eroberung»:  gemacht  zu  haben.  Bald  aber 
fühlt  sie  sich  von  ihm  mehr  als  sie  anfänglich  wohl  will  ge- 
fesselt. ^\ie  ein  Blitz  aus  heiterer  Luft  stürzt  der  schreckliche 
Moment  seiner  Losreissung  auf  sie  hernieder.  Die  Trennung  bringt 
ihr  ihren  Verlust  und  die  Tiefe  ihrer  Empfindungen  zu  klarem  Be- 
wusstsein. Welche  Sehnsucht  nach  Antonius  in  ihrer  Einsamkeit! 
Welcher  Fassung-  und  Glieder-lähmende  Donnerschlag  für  sie  die 
entsetzliche  Nachricht  von  seiner  Verlobung!  Wie  ängstlich  lauscht 
sie  den  Berichten  über  Octavia,  die  Nebenbuhlerin.  Wie  hascht 
sie  überall  nach  der  geringsten  Aussicht  auf  Wiedervereinigung! 
Als  sie  ihn  wieder  hat,  schwankt  freilich  in  der  Versuchung  des 
Schicksals  ihre  Treue.  Doch  die  Bande,  welche  sie  umschlungen 
halten,  werden  gerade  durch  das  Uebermass  des  Unglücks  auch 
für    sie   inniger   und    fester    und  bewirken    zuletzt  einen    Grad 

19* 


288  Zur  Erläuterung  von 

von  "Welt-  und  Menschen  -  verachtender  Hingebung.  Die  Hin- 
o-ebung  wird  zur  Schwärmerei.  Auch  Cleopatra  ist  eine  Andere 
geworden.  Ihre  ganze  Lust  bleibt  jetzt,  wie  vorher  der  Gedanke 
an  den  Genuss  der  Welt,  der  Gedanke  an  den  Tod,  um,  wenn 
auch  im  Reiche  der  Schatten,  den  Avieder  z.u  besitzen,  der  ihr 
Eins  und  Alles  ist,  ob  hier  oder  dort.  Aber  diese  höhere  Kich- 
tung  ihres  Wesens  tritt,  wie  wir  gewahr  werden,  nur  nach  hef- 
tigen Stürmen  ein.  Selbst  im  Tode  noch  ringt  die  bewusste 
Sinnlichkeit  mit  der  heiligen  Glut  seelenvoller  Zärtlichkeit  und 
sie  muss,  wae  irgendwo  gesagt  wird,  sogar  im  Sterben  noch 
Luxus  entfalten.  Dessenungeachtet  bcAveisst  ihr  Ende  eine 
Seelengrösse,  die  ihr  Leben  nicht  so  gekannt  hat  und  der  Dichter 
hat  ein  Recht  sie  mit  den  Worten  von  hinnen  gehen  zu  lassen: 

Husband,  I  come, 
Now  to  tliat  nanie  my  courage  prove  iny  title, 
I  am  fire  and  air;  niy  other  dement 
I  give  to  baser  life  etc. 

Die  Schilderung  der  Cleopatra,  wie  Shakspeare  sie  uns 
gibt,  erinnert  sehr  an  die  Portraits  zweier  königlicher  Neben- 
buhlerinnen seiner  Zeit,  Elisabeth  von  England  und  Maria  Stuart. 
Eine  Reminiscenz  an  erstere  scheint  namentlich  mit  denjenigen 
Scenen  verbunden  zu  sein,  welche  die  Unterredung  Cleopatra's 
mit  dem  Boten,  der  Octavia's  Verlobung  ankündigt,  darstellen. 
Nicht  minder  liegt  es  der  unbefangenen  Prüfung  nahe,  dass  auch 
die  bezaubernde  Anmuth  der  schottischen  Königin,  ihr  gewaltiger 
Anreiz,  den  sie  (selbst  im  Kerker  unter  dem  Drucke  schwerer 
Leiden)  auf  die  Männerwelt  ausübte,  ihr  Wankelmuth,  ihr  Ver- 
fall in  die  Sinnlichkeit  neben  so  herrlichen  geistigen  Vorzügen, 
ihre  körperliche  Schönheit  und  Gewandtheit  im  Umgange,  die 
mystische  Färbung  (welche  dort  das  streng-katholische  Religions- 
bekenntniss,  hier  die  aegyptische  Zauberkunst  darleihen),  die  An- 
flüo;e  edlen  Trotzes  im  Leben  der  Uncrlücklichen  und  ihre  schwär- 
merische  Hingebung  an  den  Gegenstand  ihrer  Liebe  neben 
bewiesener  Untreue  u.  dgl.  mehr  in  der  Ausführung  des  Ge- 
mäldes der  aegyptischen  Königin  dem  Dichter  vorgeschwebt 
haben  mögen. 

Der  den  beiden  vorausgegangenen  zunächst  stehende  mit 
ihnen  verflochtene  Charakter  ist  Enobarbus.     Auch  hier  gefällt 


W.  Shakspeare's  Aiitony  and  Cleopatra.  28D 

sich  der  Dichter  in  Contrasten.  Dieser  Freund  und  Diener 
Antony's  ist  ein  Muster  soldatischer  Einfachheit,  Offenherzigkeit 
und  Derbheit  und  doch  gewandt  Avie  Wenige  in  geistreichen 
Spielen  des  "Witzes.  Er  bildet  einerseits  den  Typus  der  nüch- 
ternen Reflexion  in  dem  Kausche  versinnlichter  Gegenwart,  kalt 
im  Urtheil,  schneidend  in  seiner  lakonischen  Kürze  und  ist  doch 
anderntheils  so  beredt,  in  dichterischen  Ausdrücken  und  Be- 
schreibungen sich  ergehend  und  voll  tiefen,  warmen  Gefühls. 
Es  ist  kaum  Einer  seinem  Herrn  mehr  ergeben  und  in  guten 
Kathschlägen  so  bewandert  und  eifrig  —  und  dennoch  wird  er 
ihm  untreu.  Man  sieht,  der  Diener  wandelt  im  Schatten  seines 
Herrn,  ist  auch  ein  Kind  seiner  Zeit,  fällt  auch  den  Ver- 
suchungen und  Geschick  seiner  Umgebung.  Nicht  selten  ge- 
mahnt es  den  Leser,  als  brauche  ihn  der  Dichter  (in  einer  Be- 
ziehung dem  griechischen  Chor  entsprechend)  zum  Ausdrucke 
einer  aussen  stehenden  (öffentlichen)  Meinung,  gleichsam  zu 
einer  Folie  der  dichterischen  Auffassung  in  humoristischer  Weise, 
Clown -artig  die  Mitte  haltend  zwischen  Scherz  und  Ernst, 
Xaivetät  und  selbstl)ewusster  Spöttelei.  Wahrhaft  rührend  ist 
schliesslich  seine  Keue  und  sein  Tod.  Er  stirbt  in  der  That 
an  gebrochenem  Herzen.  Gleich  der  Cleopatra  kann  er  ohne 
Antonius  nicht  mehr  le))en  und  verstärkt  so  durch  seine  im  Tode 
sich  gleichfalls  bewährende  Liebe  zu  diesem  das  Interesse, 
welches  wir  an  der  Hauptperson  nehmen. 

Octavian  (Cäsar)  bot  dem  Dichter  mannigfache  Schwierig- 
keiten, da  Augustus  als  Günstling  des  Glücks  in  den  Weltbe- 
gebenheiten auftritt  und  als  solcher  seine  Geschichtsschreiber 
finden  musste,  welche  der  Nachwelt  weit  mehr  von  dem  Glänze 
und  dem  Verdienste  des  Mächtigen,  als  von  seinen  Schatten- 
seiten zu  berichten  hatten.  Gleichwohl  durchschaute  Shakspeare 
vollkommen  seinen  Charakter  und  gab  ihm  nur  was  des  Kaisers 
ist,  doch  nicht  gerade  unser  Herz,  ob  er  ihm  auch  seinen  Vor- 
zügen und  seinem  Ixihen  Berufe  gemäss  die  gebührende  würdige 
Stellung  einräumt.  Octavian  ist  ganz  das  Bild  des  vorsichtigen, 
nüchternen,  ehrbegierigen  Staatsmannes,  der  sein  erhabenes  Ziel 
unverrücklicli  im  Au^e  immer  auf  der  Grenzlinie  zAvischen  auf- 
richtigem  Handeln  und  geheimer  Intrigue  Avandelt.  Er  ist,  was 
man  den  vor  der  Welt  völlig  rechtlichen  Mann  nennt.    Er  kann 


290  Zur  Erläuterung  von  W.  S.'s  Antony  antl  Cleopatra. 

den  Senat,  seine  Freunde,  ja  die  ganze  öffentliche  Meinung  zum 
Zeugen  aufrufen,  ob  er  bis  daliin  übel  gehandelt  habe.  In  der 
Zeit  schwankender  Entscheidung  ist  er  noch  gutmüthig  der  Ver- 
mittlung zugethan,  schämt  sich  aber  freilich  dann  nicht  im  vollen 
Siegsglück,  nach  der  moralischen  Vernichtung  Antony's  des  Ri- 
valen Tod  von  Cleopatra  zu  verlangen.  Doch  die  Weltlage 
fordert  ja  die  völlige  Wegräumung  des  Störers  allgemeiner  Eini- 
ffunor  und  Friedens,  und  so  ma«'  er  denn  auch  vor  seinem  Ge- 
wissen  selbstzufrieden  eine  untadelhafte  Eechtlichkeit  sich  zu- 
erkennen. Seine  unfehlbare  Besonnenheit,  die  selbst  im  Rausche 
des  Bundesmahls  auf  Pompcjus'  Galere  ihn  nicht  völlig  verlässt, 
seine  kalte  durch  Nichts  alterirte  Berechnung  und  seine  rühm- 
liche sittliche  Strenge  stempeln  ihn  schon  im  Voraus  zum  Sieger 
und  verleihen  den  verführerischen  Züo-en  im  Bilde  der  Gegen- 
Seite  einen  anziehenden  Contrast. 

Der  gutmüthige,  schwache  Lepidus  ist  selbst  den  Dienern 
eine  Zielscheibe  des  Spottes  und  muss,  wäre  es  auch  nicht  ge- 
rade so  in  der  Geschichte  begründet,  von  der  Bühne  abtreten, 
als  nur  noch  Spielraum  für  zwei  mächtigere  Gestalten  übrig  bleibt. 

Octavia  ist  nur  in  wenigen  Zügen  uns  vorgeführt.  Wir 
erkennen  in  ihr  die  sanfte,  Versönlichkeit-athmende  Frau  von 
ausgezeichnet  sittlicher  Haltung,  deren  Schönheit  und  Jugend, 
wie  Agripjia  sagt,  sie  des  besten  Gemahls  würdig  mache.  Der 
stolzen  Sonnenblume  des  Mittags  oreo-enüber  rührt  sie  dem  stil- 
len  Veilchen  gleich  durch  die  Gewalt  anspruchloser  Reize,  treuer 
Standhaftigkeit  und  Liebe. 

Iras,  Charmian,  wie  auch  Alexas  und  Mardian  spiegeln 
den  niederen  Grad  intellectueller  und  sittlicher  Bildung  der 
Dienerschaft  eines  üppigen  Hofes  ab,  an  welchem  die  bald 
liebenswürdige,  bald  abschreckende  Laune  einer  Frau  gebietet. 
Aberglauben  und  Sinnlichkeit  treten  in  ihrer  Schilderung  in  den 
Vordergrund.  Sie  sind  der  Gebieterin,  welche  die  Gabe  be- 
sitzt, auch  sie  zu  fesseln,  völlig  ergeben  und  beide  Dienerinnen 
gehen  in  rührender  Treue  mit  in  den  Tod.  Sextus  Pompejus, 
eine  offenherzige,  verwegen-ehrliche  Abenteurernatur ,  gleichsam 
der  Repräsentant  des  verfallenden  derben  Römerthums,  zieht 
vorübergehend  unsre  Blicke  auf  sich. 

Agrippa  und  Mäcenas,  Octavian's  kluge,  wohlrathende 
Freunde,  sind  für  das  vorliegende  Drama  von  geringerer  Be- 
deutung imd  entfalten,  so  berühmt  ihre  Namen  auch  in  der  Ge- 
schichte geworden  sind,  hier  kein  besonderes  organisches  Leben. 

Von  den  anderen  Nebencharakteren  erwirbt  sich  Eros,  den 
Frauen  der  Cleopatra  ähnlich,  durch  seine  aufopfernde  Hingabe 
unsere  Bewunderung  und  Liebe. 

Carl    B 1  u  m  h  0  f. 


Zur 

Kritik,   Erklärung  und  Uebersetzung  Sliakspere's. 


Wenn  icli  mir  erlaube ,  einige  Beiträge  zur  Kritik  und  Erklärung 
Shakspere's  vorzulegen  ,  so  lässt  sich  sogleich  von  selbst  folgern ,  dass 
ich  nicht  zu  denjenigen  gehöre,  welche  in  den  Ruf  einstimmen:  Shak- 
spere  und  kein  Ende.  Es  ist  allerdings  wohl  nicht  zu  verkennen,  dass 
auch  dieser  Ruf  seine  Berechtigung  hat.  Er  ist  von  denen  ausge- 
gangen ,  welche  des  leeren  ästhetischen  Geschwätzes  müde  waren ,  das 
sich  über  Shakspere  so  oft  breit  gemacht  hat,  oder  welche  die  Ueber- 
zeugung  hatten,  dass  die  rein  Shakspere'sche  Form  des  Dramas  in 
neuen  Schöpfungen  auf  unsre  Bühne  zurückzuführen  eine  Unmöglichkeit 
sei.  Sonst  ist  sicherlich  von  keiner  Seite  in  Abrede  gestellt  worden, 
dass  trotz  aller  Bemühungen  und  Anstrengungen  so  vieler  wackerer 
Gelehrten  für  Shakspere's  Werke  noch  überall  Etwas  zu  thun  übrig 
bleibt;  es  ist  bekannt,  wie  viel  noch  in  der  neuesten  Zeit  für  die  Auf- 
hellung der  Quellen  mancher  Shakspere'scher  Stücke,  für  die  Erfor- 
schung des  Lebens  des  Dichters,  für  die  Chronologie  seiner  Arbeiten, 
ja  für  Kritik  und  Erklärung  einzelner  Stellen,  auch  nach  Steevens  und 
Malone,  geleistet  worden  ist.  Dass  unsre  in  vielen  Beziehungen  mit 
so  grossem  Recht  berühmt  gewordenen  Shakspere-Uebersetzungen,  wie 
namentlich  die  von  Schlegel  und  Tieck,  doch  noch  nicht  für  völlig  ge- 
nügend angesehen  werden  dürfen,  hat  erst  neulich  in  seinem  Buche 
über  Shakspere  Dingelstcdt  behauptet,  und  es  hat  gewiss  Jeder  zu- 
gleich mit  Theilnahme  und  Freude  vernommen ,  dass  nach  so  vielen 
Uebersetzungsversuchen  der  Dramen  des  grossen  Briten  eine  neue  Un- 
ternehmung dieser  Art  angekündigt  wird.  Wenn  auch  die  Ausgaben 
endlich  und  die  Abdrücke  des  Originals,  welche  in  England  und  bei 
uns  erscheinen,  so  zahlreich  sind,   dass  sie  alle  kennen  zu  lernen  und 


292  Zur  Kritik,  ErklUrung  und 

einzusehen  fast  eine  Unmöglichkeit  wird  selbst  für  diejenigen,  welche 
aus  Shakspere's  Werken  ein  ganz  besonderes  Studium  machen;  so  ent- 
geht gleichwohl  dem  Kenner  nicht,  dass  die  Schwierigkeilen  des  Textes 
und  der  Erklärung  immer  noch  nicht  alle  beseitigt  sind,  vielleicht 
schwerlich  alle  jemals  werden  beseitigt  werden  können.  Shakspere 
gleicht  in  diesem  Punkte  den  classischen  Schriftstellern  des  Alterthums, 
welche  seit  Jahrhunderten  den  Philologen  zu  thun  aufgegeben  haben 
und  noch  Jahrhunderte  hindurch  zu  thun  aufgeben  werden.  Um  so 
mehr  ist  zu  bedauern  ,  dass ,  mit  welcher  Einsicht  und  echt  philologi- 
scher Kritik  die  engliscljen  Herausgeber  zum  Theil  auch  gearbeitet 
haben,  dennoch  eine  eigentlich  philologische  Ausgabe  Shakspere's  noch 
nicht  vorhanden  ist;  ich  meine  eine  Ausgabe,  welche  an  allen  Stellen, 
wo  verschiedene  Lesarten  vorkommen ,  die  Quelle  der  aufgenommenen 
Schreibweise  angibt,  welche  ferner  die  unsichern  oder  unverständlichen 
Stellen  bezeichnet  und  die  Conjecturen  aufführt,  durch  welche  der  Text 
zur  Verständlichkeit  hergestellt  worden  ist ;  welche  endlich  die  Erklä- 
rungen bei  Seite  lassend,  die  nur  den  Anfänger  in  die  Bekanntschaft 
mit  Shakspere  einführen  sollen,  dagegen  die  Erläuterungen  beibringt, 
die  selbst  dem  Belesenen  und  dem  Kenner  zum  einsichtsvollen  Ver- 
ständniss  nöthig  sind.  leh  gestehe,  dass  beim  Niederschreiben  der  fol- 
genden Zeilen  das  Bedürfniss  einer  solchen  Ausgabe  sehr  lebhaft  bei 
mir  gewesen  ist. 

Neben  einigen  Erklärungen  und  Uebersetzungsversuchen  einzelner 
Verse  gebe  ich  auch  mehrere  Conjecturen ,  durch  welche  ich  den  mir 
verdorben  scheinenden  Text  herzustellen  suche.  Wenn  sie  nicht  alle 
für  gelungen  angesehen  werden  sollten,  so  werden  sie  theihveise  doch 
vielleicht  dazu  dienen,  eine  bessere  imd  gründlichere  Erklärung  der  von 
mir  mit  Unrecht  angefochtenen  und  verdächtigten  Lesart  hervorziu'ufen, 
als  bisher  von  den  Herausgebern  und  Commentatoren  gegeben  worden  / 
ist.  Wiewohl  diese  Conjecturen  zum  Theil  seit  mehr  als  zehn  Jahren 
aufgemerkt  worden  .^ind,  habe  ich  dennoch  jetzt,  bei  Begründung  der- 
selben, die  Delius'sche  Ausgabe,  welche  mir  grade  zur  Hand  war,  zu 
Grunde  gelegt,  auf  Johnson,  Steevens,  Malone  etc,  mich  nur  da  zurück-" 
beziehend,  wo  Delius  entweder  nichts  angemerkt  hat,  oder  wo  seine 
Ausgabe  noch  nicht  erschienen  ist.  Hat  daher  Delius  bei  Abfassung 
seiner  Anmerkungen  eine  bessere  Erklärung  der  englischen  Commenta- 
toren, als  die,  auf  welche  ich  mich  beziehe,  vernachlässigt,  so  trifft  ihn 
die  Schuld,  nicht  mich,  dem  die  neueren  englischen  Ausgaben  in  der 


Uebersctzunp:  Sli  akspere's.  293 

letzten  Zeit  nur  auf  dem  beschwerlichon  "Wege  der  Benutzung  im  Lese- 
zimmer der  königlichen  Bibliolliek  zu  Gebot  gestanden  haben. 

Manche  der  hier  folgenden  Bemerkungen  sind  in  der  Berliner  Ge- 
sellschaft für  die  Beförderung  des  Studiums  der  modernen  Sprachen 
vorgetragen  worden  und  auf  die  mir  gemachten  Einwendungen  habe 
ich  Rücksicht  genommen.  Namentlich  bin  ich  Herrn  Princc-Smith  für 
einige  Winke  verpflichtet. 

1)  Timon  of  Athens  IV,  3  gegen  Ende  sagt  Flavius,  der  Haus- 
hofmeister : 

Tliat  which  I  show,  heavou  knows,  is  merely  love, 

Duty  aiul  zeal  to  your  unmatched  niiiid, 

Care  of  your  food  and  living:  and  bclieve  it, 

My  most  honour'd  lord, 

For  any  benefit,  tliat  points  to  me, 

Either  in  hope,  or  present,  Fd  exchange 

For  tliis  one  wish,  that  you  had  power  and  wealth 

To  requite  me,  by  making  rieh  yourself. 

Delius  bemerkt  hierzu  (zu  den  Worten:  For  any  benefit  u.  s.  av.):  „Die 
Construction  ist  nicht  so  fortgeführt,  wie  sie  begonnen  Avurde,  da  dem 
Sinn  nach  entweder  zu  construiren  wäre:  For  any  benefit  etc.  =  was 
irgend  ein  Gut  betrifft  u.  s.  w.  l'd  exchange  it ,  =  so  würde  ich  es 
austauschen;  oder  auch:  l'd  exchange  any  benefit  etc."  Schon  die 
geschraubte  Erklärung  zeigt,  dass  die  Stelle  verdächtig  ist:  um  sie  ver- 
ständlich zu  machen,  bedarf  Delius  der  Einschiebung  eines  durchaus 
erforderlichen  Objects  it,  das  im  Texte  fehlt.  Dazu  kommt,  dass  for 
in  der  Bedeutung  was  anbetrifft,  Avie  das  französische  quant  ä  —  oder 
pour,  schwerlich  anders  als  zu  Anfang  eines  unabhängigen  Satzes, 
nicht  in  der  Mitte  eines  Satzes  oder  zu  Anfang  eines  abhängigen  Satzes 
stehen  darf,  wie  hier,  am  allerwenigsten,  wenn  in  demselben  Satze  for 
noch  einmal  und  in  ganz  andrer  Bedeutung  vorkommt ,  und  noch  we- 
niger als  am  allerwenigsten,  wenn  die  Präposition  for  das  natürliche 
Regime  des  Zeitworts  to  exchange  ist  (to  exchange  something  fo  r  some- 
thing).  Was  aber  am  meisten  die  Verdorbenheit  des  W^orts  for  be- 
weist, ist  Folgendes.  Das,  Avas  Flavius  besitzt,  ist  the  Avish,  that  you 
liad  power  and  A\'ealth  to  requite  me ,  by  making  rieh  yourself;  er  be- 
sitzt dagegen  nicht,  Avas  er  nennt:  any  benefit,  that  points  to  me, 
either  in  hope,  or  present.  Nun  aber,  Avcnn  er  sagt:  l'd  exchange  any 
benefit  —  for  the  A\'ish  — :    so  spricht  er  offenbar  so,  als  wenn  er  any 


294  Zur  Kritik,    Erklärung  und 

benefit  —  bescässe,  und  dagegen  the  wish  —  eintauschen  möchte;  was 
jedoch,  wie  ich  ausdrücklich,  um  nicht  niissverstanden  zu  werden,  be- 
merke ,  nicht  von  der  Stellung  der  Präposition  for  vor  dem  Substantiv 
the  wish  herrührt,  sondern  in  der  Voranstellung  dos  Worts  any  be- 
nefit vor  dem  andern  the  wish  seinen  Grund  hat.  Es  ist  daher  wohl 
kein  Zweifel,  dass  gelesen  werden  müsse: 

Not  any  benefit,  that  points  to  me  etc. 

Das  Object  geht,  wegen  seiner  Bedeutsamkeit,  dem  ganzen  übrigen  Satz 
voran,  und  das  vorangehende  not  macht  gleich  deutlich,  dass  any  be- 
nefit dasjenige  ist,  was  Flavius  nicht  besitzt.  Auch  philologisch  lässt 
sich  die  Entstehung  der  falschen  Lesart  leicht  erklären.  Der  Abschreiber 
(oder  Drucker)  irrte  sich  in  den  Zeilen  und  schrieb  (oder  druckte),  als 
er  bei  dem  Verse  Not  any  benefit  war,  das  nach  zwei  Zeilen  folgende 
for  hin,  welches  er ,  als  er  sich  endlich  zurecht  fand  und  richtig  any 
benefit  setzte,  stehen  liess.  Aehnliches  ist  bei  den  alten  Dichtern  sehr 
oft  vorgekommen;  wenn  wir  Collier  glauben,  auch  bei  Shakspere. 
S.  In troduction  XXIII,  S.  16  etc.  Die  Emendation  gewinnt  an  Wahr- 
scheinlichkeit noch  dadurch,  dass  die  Redensart,  I  would  change  oder 
exchange  (im  Wunsche)  ohne  Negation  schwerlich  vorkommt ;  vergl. 
z.  B.  As  you  like  it  III,  2.  'Tis  a  fault  I  will  not  change  for  your 
best  virtue  etc.  Hier  in  der  Stelle  aus  Timon  hat  Jeder  den  Sinn 
richtig  herausgefühlt  und  ist  deshalb,  Avie  das  öfter  vorgekommen 
ist,  über  die  falsche  Ausdrucksweise,  ohne  Anstoss  zu  nehmen,  fort- 
gegangen. 

2)  Macbeth  I,  7. 

But  in  these  cases 
We  still  have  judgment  here;  that  we  but  teach 
Bloody  instructions,  which  being  taught,  return 
To  plague  the  inventor.     Tliis  even-handed  justice 
Commends  the  ingredients  of  cur  poison'd  chalice 
To  our  own  Ups. 

Zu  this  even-handed  justice  merkt  Delius  an:  „Das  demonstrative  this 
weist  auf  das  vorhergehende  judgment  hin,  insofern  der  justice  nur  der 
Verwalter  des  judgment  ist."  —  Dann  wäre  also  this  even-handed 
justice  diejenige  Gerechtigkeit,  welche  jenes  judgment,  und  zwar  hier 
in  dieser  Welt,  austheilt,  denn  es  heisst  we  still  have  judgment  here, 
also  die  sich  auf  Erden  geltend  machende  Gerechtigkeit,  Avelche  unab- 
hängig von  den  ewigen  Folgen,    die  Dinge  dieser  Welt  verwaltet; 


U  e  b  e  r  s  e  t  z  u  n  g  S  li  a  Iv  s  p  c  r  e "  s.  295 

iiiul  indem  diese  Gerechtigkeit  even  -  luuided  genannt  wird,  scheint  sie 
von  der  ewigen  Gerechtigkeit,  —  besunders  da  Macbetli  auf  diese  niclit 
rücksichtigen  zu  Avollen  Aoi-her  gesagt  hat.  —  unterschieden  zu  werden, 
der  das  Epitheton  even  -  lianded  nicht  zukomme:  eine  Vorstellung, 
welche  Shakspere  aucli  nicht  einmal  in  Älacbetirs  IMund  gelegt  haben 
kann.  Das  Epitheton  cven-handed  zeigt  vielmehr,  dass  ganz  allgemein 
von  der  Gerechtigkeit  —  ich  brauche  wohl  nicht  erst  zu  sagen,  dass 
ich  von  der  menschlichen  Rechtsptlege  nicht  sprechen  will  — ,  sondern 
von  der  Weltordnung  überhaupt,  die  auf  Erden  sowohl  wie  im  zu- 
künftigen Leben  einem  Jeden  das  Seinige  gibt ,  die  Rede  ist.  Dann 
aber  passt  das  beschränkende  this  nicht,  mit  welchem  auf  die  Strafe  in 
dieser  Welt  allein  zurückgewiesen  wii'd.  Besser  als  es  von  Delius  ge- 
schehen ist,  würde  man,  um  this  zu  vertheidigen ,  sagen,  Macbeth 
meine  unter  justice  die  allgemeine  Idee  der  Weltgerechtigkeit  und  füge 
this  hinzu,  w^eil  ihm  diese  Idee  eben  im  Augenblick  lebhaft,  fast  ver- 
körpert, vor  der  Seele  schwebt:  was  allerdings  dem  visionären  Cha- 
rakter Macbeth's,  der  später  sogar  den  „Gedankendolch,"  welcher  ihm 
den  Weg  zum  Morde  zeigt,  vor  seinen  leiblichen  Augen  erblickt  und 
nach  ihm  greift  und  ihn  anredet,  durchaus  angemessen  wäre.  Ver- 
gleicht man  aber  die  beiden  oben  angeführten  Salze  der  Rede  Macbeth's, 
so  sieht  man  leicht,  dass  der  zweite  eine  weitere  Ausführung  des  ersten, 
eine  im  Wege  der  Verallsemeineruno^  aus  dem  ei'sten  gezogene  Folge- 
riing  ist.  Das  aber  grade  drückt  das  Adverbium  thus  aus,  wenn  es 
am  Anfange  des  Satzes  steht:  „so  also."  Nachdem  der  Goldsmith'sche 
Vicar  beschrieben  hat,  wie  er  und  seine  Familie  in  Einzelheiten  verfuhr 
und  handelte,  schliesst  er:  Thus  Ave  lived  several  years  in  a  State  of 
much  happiness;  und  gibt  mit  diesen  Worten  die  Verallgemeinerung 
ihrer  Lebensweise  und  die  aus  den  vorher  angeführten  Einzelheiten  zu 
ziehende  Folgerung  an.     Auch  bei  Shakspere  ist  ohne  allen  Zweifel 

zu  lesen : 

Thus  eveu-handed  justice 
Commends  the  ingredients  of  our  poison'd  chalicc 
To  our  own  lips. 

So  ist  thus  häutig  bei  Shakspere;  Merchant  of  Venice  III,  2: 

Thus  Ornament  is  but  the  guiled  shore 
To  a  niost  dangerous  sea. 

lieber  die  Verwechslung  von  this  und  thus,  die  auch  sonst  vorkommt, 
sehe  man  Collier  S.  10,  der  es  a  common  error  nennt.     Die  Verbesse- 


29G  Zur  Kritik,  Erklärung   und 

rung,  auf  welche  ich  von  selbst  gekommen  bin,  ist  übrigens  nicht  neu; 
Monc  Mason  hat  sie  zuerst  gemacht;  sie  findet  sich  in  dem  corrigirten 
Folio  -  Exemplar  Collier's ;  und  lierrig  hat  sie  ebenfalls  schon  aufge- 
nommen. 

3)  King  Henry  V.  act  III,  5. 

Bar  Harry  England. 
Gegen  die  Erklcärungen  A-on  Delius  kann  man  nicht  genug  auf  der  Hut 
sein.  In  der  neunten  Anmerkung  zu  dieser  Scene  sagt  er :  „England 
ist  auch,  hier  =  König  Heinrich,  der  nachher  Harry  England 
genannt  wird''  (nämlich  in  den  oben  angeführten  Worten).  —  Dass 
der  König  eines  Landes  durch  den  Namen  dieses  Landes  bezeichnet 
wird,  ist  etwas  Gewöhnliches;  so  King  John  I,  L 

K.  John.     New  say,  Chatillon,  what  would  France  vrlth  us? 

Chatillon.   Thus,  after  greeting,  speaks  the  king  of  France; 

wo  the  king  of  France  gleichsam  die  Erklärung  des  vorangegangenen 
France  abgibt.  Und  so  im  Hamlet  abwechselnd  Denmark  und  the 
Dane  für  the  king  of  Denmark,  Norway  für  the  king  of  Norway  etc. 
Aber  dass  Hany  England  statt  Harry  of  England  sollte  gesagt  wer- 
den können ,  bestreite  ich  durchaus ;  und  Delius ,  der  so  oft  hat 
Philip  of  France,  Fortinbras  of  Norway  und  nie  anders  im  Shakspere 
hat  müssen  drucken  lassen ,  hätte  nicht  so  leichthin  einen  so  sonder- 
baren Sprachgebrauch  aufbringen  sollen.  Man  bemerkt  dabei,  wohin 
Jemand  kommen  kann,  wenn  er  eine  Stelle  oberflächlich  ansieht.  Delius 
construirt  die  Worte  falsch.     Der  König  von  Frankreich  sagt: 

For  your  great  seats,  now  quit  you  of  great  shames ; 
Bar  Harry  England,  that  sweeps  through  cur  land 
With  pennons  painted  in  the  blood  of  Harfleur. 

Wie  dies  zu  verstehen,  lehrt  das  Folgende: 

Go  down  upon  Lim,  —  you  have  power  enough  — 
And  in  a  captive  chariot  into  Roan 
Bring  him  our  prisoner. 

Nicht  den  Weg  durch  Frankreich  sollen  sie  dem  Könige  von  England, 
der  jetzt  durch  Frankreich  zieht,  versperren:  sondern  sie  sollen  ihn, 
obgleich  er  jetzt  noch  durch  Frankreich  zieht,  —  er  ist  ohnehin  schon 
auf  dem  Rückzuge  nach  Calais,  —  von  England  abschneiden  und  ihn 
gefangen  nehmen.  Die  obigen  Worte  sind  also  so  zu  verstehen:  Sur- 
round Harry  and  bar  him  England;  umringt  ihn,  und  schneidet  ihm 
England,  den  Rückweg  nach  England  ab,  oder :  versperrt  ihm  England ; 


Uebersetzung  Shakspere's.  297 

so  dass  Harry  in  den  obigen  "Worten  der  Dativ  und  England  der  Ac- 
cusativ  ist.  Was  aber  Delius  in  Irrthum  gebracht  hat,  nämlich  der 
Umstand,  dass  das  Kelativum  that  sich  nicht  auf  das  letzte  Wort  Eng- 
land ,  sondern  auf  ein  vorhergeliendes,  Harry,  bezieht,  das  wird,  glaube 
ich,  kaum  irgend  wem  als  tSehwierigkeit  erscheinen.  AVer  sich  aber 
daran  stossen  sollte,  der  vergleiche  JMidsummer-niglit's  dream  IH,  2. 

In  Hcrmia's  love  I  yield  you  up  niy  part 
And  yours  of  Helena  to  nie  beciucath, 
Wboni  I  do  love,  and  will  do  to  my  doath; 

wo  auch  whom  sich  nicht  auf  mc,  sondern  auf  Helena  bezieht.  Und 
so  öfter. 

4)  King  John  IV,  1. 

Well,  sec  to  live!     I  will  not  touch  thine  eyes 
For  all  the  treasure,  that  thIne  uncle  owes. 

Delius  bemerkt  hierzu:  „Sieh,  damit  du  lebest,  insofern  das  Leben  erst 
durch  das  Gesicht  ein  wirkliches  Leben  ist."  —  Steevens:  ,,Continue 
to  enjoy  the  means  of  lifo"  und  Malone:  „live  and  live  with  the  means 
of  seeing."  —  —  Im  Englischen  braucht  man  bekanntlich  to  look  in 
der  Bedeutung  „bedacht  sein  auf  etwas."     King  Richard  IL  I,  3. 

Alas  I  looked  — 

to  make  mine  own  away. 

Dasselbe  im  Allgemeinen  bedeutet  hier  to  see ;  hauptsächlich  ist  dann 
See  to  live  =  look  to  live;  sei  darauf  bedacht  oder  sieh  zu,  dein  Leben 
zu  erhalten;  von  mir  wenigstens  hast  du  nichts  mehr  zu  besorgen 
(wohl  aber  von  Andern,  die  König  Johann,  —  auf  mich  allein  sich 
nicht  verlassend,  —  um  dich  zu  ermorden  abschicken  könnte).  Aber 
indem  Shakspere  statt  to  look  hier  sehr  bezeichnend  und  ausdrucksvoll 
to  see  gebraucht,  legt  er  noch  die  Nebenbeziehung  hinein:  „und  zwar 
mit  deinem  Augenlichte" :  look  to  live  and  live  seeing  oder  look  to  live 
and  see.  Die  Erklärungen  IMalone's  und  Steevens'  sind  daher  deni 
Sinne  nach  richtig  und  nur  in  ihrer  Fassung  nicht  deutlich  genug,  um 
den  Wortlaut  mit  zu  erläutern ,  den  ich  durch  meine  Auseinander- 
setzung schärfer  und  genauer  glaube  angegeben  zu  haben.  Ich  würde 
es  nicht  gethan  und  auch  nicht  für  nöthig  gehalten  haben,  wenn  Delius' 
Bemerkung  mich  iiicht  dazu  aufgefordert  hätte.  Uebrigens  kommt  to 
see  bekanntlich  in  der  blossen  Bedeutung  von  to  look  vor ;  z.  B.  Mid- 
pummer-night's  dream   III,  2. 

Hy  some  illusion  see  thou  bring  her  here. 


298  Zur  Kritik,  Erklärung  und 

King  John  III,  3. 

And,  ere  our  Coming,  see  thou  shake  the  bags 
Of  hoarding  abbots. 

5)  King  John  III,  2. 

Enter  the  bastard  with  Austria's  head. 
Bast.     New,  by  my  Hfe,  tbis  day  grows  wondrous  bot; 
Some  airy  devll  hovers  in  the  sky, 
And  pours  down  mischief.     Austria's  head  he  there, 
While  Philip  breathes. 

Delius  bemerkt  hierzu:  „to  breathe  Luft  schöpfen,  sich  ausruhen  von 
einer  Anstrengung,  hier  von  der  Arbeit  des  Kampfes"  (eine  Bedeutung, 
die  to  breathe  ganz  gewöhnlich  hat;  und  so  bei  Shakspere,  King 
Henry  IV.,  I.  p.  V,  4. 

We  breathe  too  long; 
Henry  IV.,  III.  p.  II,  3. 

*  *I  lay  me  down  a  little  while  to  breathe  etc.) 

„Mit  Philip  bezeichnet  der  Bastard  sich  selbst ,  wie  ihn  König  Johann 
ebenfalls  gleich  nachher  anredet,  ohne  zu  beachten,  dass  der  Bastard, 
seit  er  zum  Ritter  geschlagen  war,  Richard  hiess.  —  Im  alten  König 
Johann  wird  der  Bastard  durchgehends  Philip  genannt."  ■ —  Ich  halte 
diese  Erklärung  für  ganz  unstatthaft.  Dass  König  Johann  den  Bastard 
Philip  nennt,  bei  seinem  Taufnamen,  , nicht  bei  seinem  Ritternamen,  ist 
erklärlich;  er  thut  es  hier,  um  recht  familiär  und  vertraulich  zu  spre- 
chen ;  und  eine  Ungewissheit  des  Publicums  konnte  nicht  stattfinden, 
da  man  sah,  gegen  wen  der  König  sich  wandte.  Dass  aber  der  Bastard 
sich  selbst  so  nennen  sollte,  ist  wenig  wahrscheinlich.  Er  antwortet 
im  ersten  Act  dem  James  Gurnet,  der  ihn  so  genannt  hat:  „Philip? 
sparrow!  —  James;"  würde  also,  wenn  er  sich  bei  einem  Namen  nennt, 
wohl  Richard  sagen.  Aber  es  ist  überhaupt  nicht  Shakspere's  Sprach- 
gebrauch, andre  Personen  als  Könige  sich  bei  ihrem  Namen  nennen  zu 
lassen;  so  sagt  wohl  Richard  III.  zu  sich  selbst  Richard,  und  Hamlet 
nennt  sich  mit  diesem  seinem  Namen:  es  ist  das  eine  nur  dem  Pomp 
der  Könige  und  der  Prinzen  angemessene  Ausdrucksweise.  Auch  sagt 
der  Bastard  sonst  immer  I ;  z.  B.  II.  act  am  Ende : 
AVell,  whiles  I  am  a  beggar,  I  will  rail. 
Ueberzeugender  freilich  als  diese  Bemerkungen  sind  andre  Rück- 
sichten ,  —  Gründe  der  dramaturgischen  Motivirung  und  des  gesunden 
Menschenverstandes.     Heissen  nämlich  die  Worte: 


Uebersetzung  Shakspcre's.  299 

Austriii's  hcad,  lle  tliere, 
■\Vhile  Philip  breathes, 

Oesterreichs  Kopf,  liege  da,  während  Philipp  sich  ausruht:  so  ist  die 
einzig  erdenkliche  Älotivirung  des  Auftretens  des  Bastards  der  Wunsch, 
sich  ein  wenig  auszuruhen ,  und  es  ist  gar  nicht  einzusehen ,  warum 
er  das  vor  dem  Publicum  thun  will ;  und  dass  er  grade  jetzt  und  hier 
Oesterreichs  Kopf  niederwirft,  —  so  muss  man  glauben,  —  geschieht 
ebenfalls  zu  dem  Zweck,  sich  besser  verpusten  zu  können;  wobei  man 
etwa  annehmen  muss,  dass  der  Kopf  des  Herzogs  (als  blockhead  wahr- 
scheinlich sehr  schwer)  ihn  daran  hindert,  mit  Bequemlichkeit  Athcm 
zu  schöpfen;  und  man  muss  ferner  annehmen,  dass  er,  wenn  er  sich 
ausgeruht  hat,  den  Kopf  wieder  aufhebt  und  mit  ihm  in  die  Sclilacht 
zurückkehrt;  denn  liege  hier,  während  ich  Athem  schöpfe,  sagt  doch 
wohl:  habe  ich  Athem  geschöpft,  hebe  ich  dich  wieder  auf.  Dazu 
kommt  noch ,  dass  der  Bastard  gar  keine  Lust  zeigt ,  sich  auszuruhen ; 
denn  eigentlich  sagt  er  noch  in  demselben  Athemzuge  zu  King  John: 

But  on ,  my  liege !  for  very  llttle  pains 
AN'ill  bring  this  labour  to  an  happy  end. 

So  wird  denn  wohl  nichts  übrig  bleiben ,  als ,  wie  es  schon  Schlegel 
gethan  hat,  Philip  von  dem  französischen  König  zu  verstehen ;  alsdann 
ist  to  breathe  athmen,  leben;  und  der  Bastard  sagt:  Oesterreichs  Kopf 
liege  da,  so  lange  der  König  Philipp  noch  lebt.  Der  Bastard  hat  es 
nämlich  darauf  abgesehen,  —  und  das  erfährt  man  eben  hier,  —  auch 
den  König  Philipp  zu  tödten ;  und  bis  er  ihn  wird  gelödtet  und  seinen 
Kopf  vom  Rumpf  getrennt  haben,  soll  der  Kopf  des  Herzogs  von 
Oesterreich  hier  an  einem  sichern  und  dem  Feinde  nicht  zugänglichen 
Ort  am  Boden  liegen,  um  später  mit  dem  Kopf  des  Königs  von  Frank- 
reich zusammen  oder  auch  allein  als  Siegeszeichen  aufgehoben  zu  wer- 
den. Dadurch  ist  das  Auftreten  des  Bastards  zugleich  auf  das  ge- 
nügendste  motivirt:  er  kommt,  um  sich  seiner  Trophäe  zu  entledigen 
und  sie  zugleich  an  einem  Ort ,  wo  er  sie  nach  der  Schlacht  wieder- 
finden könne,  zu  verwahren,  Uebrigens  verlangt  diese  Erklärung  auch 
der  einmal  feststehende  Sinn  der  Redensart  while  I  breathe,  wliiles  I 
breathe,  so  lange  icli  lebe.  Ich  will  für  diese  Bedeutung  der  Partikel, 
für  welche  Hunderte  von  Beispielen  ohne  Mühe  aufgesucht  werden 
können,  ausser  dem  schon  oben  angeführten  Verse,  nur  noch  eine  Stelle 
hersetzeu : 


300  Zur  Kritik,  Erklärung  und 

John  hath  seized  Artliur,  and  it  cannot  be, 
That,  whiles  warm  life  plays  in  that  infant's  veins, 
The  misplaced  John  should  entertain  an  hour, 
One  minute,  nay,  one  quiet  breath  of  rest. 

Wie  schon  bemerkt,  hat  Schlegel  die  Stelle  richtig  aufgefasst;  er  über- 
setzt wortgetreu:  „derweil  noch  Philipp  athmet;"  deutlicher:  so  lang 
Philipp  noch  lebt. 

6)  King  John  II,  2. 

Cit.     A  gi-eater  power  than  we  denies  all  this ; 
And,  tili  it  be  undoubted,  we  do  lock 
Our  former  scruple  in  our  strong-barred  gates, 
Kings,  of  our  fear;  until  our  fears,  resolv'd, 
Be  by  some  certain  king  purg'd  and  depos'd. 

Dies  die  Art,  wie  Delius  die  Lesart  der  Fol.  interpungirt.  Er  bemerkt 
dazu:  „So  die  Fol.,  nur  dass  sie  hinter  gates  ein  Kolon,  hinter  kings 
kein  Komma  setzt.  Kings  ist  Vocativ,  die  häufig  wiederkehrende  An- 
rede an  beide  Könige,  welche  eingeschoben  ist,  in  das  zusammengehö- 
rende our  strong-barred  gates  of  our  fear,  d.  h.  our  gates  strong-barred 
of  our  fear  —  unsre  von  oder  vermöge  unsrer  Furcht  starkverram- 
nielten  Thore.  —  Die  meisten  Hgg.  lesen  mit  Tyrwhitt  King'd  of  our 
fears.  —  Vielleicht  ist  auch  in  der  Fol.  fear  aus  Verwechslung  mit 
dem  dai'auf  folgenden  fears  an  die  Stelle  eines  andern  Worts  getreten 
und  Shakspere  schrieb  vielleicht  kings  of  ourselves."  —  Was  Delius 
in  der  Erklärung  seiner  Lesart  meint,  müsste  doch  wohl,  auch  bei  Shak- 
spere, heissen : 

we  do  lock 

Our  former  scruple  in  our  gates  strong-barred, 

Kings,  by  our  fears. 

Tyrwhltt's  Conjectur  leidet  an  demselben  Fehler;  ich  bin  überzeugt, 
Shakspere  hätte,  wenn  er  das  sagen  wollte,  was  Tyrvdiitt  ihn  will 
sagen  lassen,  geschrieben:  King'd  by  our  fears;  ausserdem  lässt  sich 
wohl  schwerlich  eine  Stelle  finden,  wo  to  king  die  Bedeutung  to  govern 
hätte;  bei  Shakspere  sicher  kommt  es  nur  in  der  Bedeutung  zum  König 
machen  vor;  und  das  Beispiel,  das  Tyrwhitt  dafür  anführt,  King 
Henry  V.,  II,  4. 

she  (England)  is  so  idly  king'd, 
ist  ganz  anders  aufzufassen;  king'd  ist  hier  provided  with  a  king,  und 
idly  king'd  =  provided  with  an  idle   king;     in   derselben  Weise   sagt 


Uebersetzung  Sliakspere's.  301 

Falstaff  King  Henry  IV,,  II.  p.  I,  2 :  „An  I  could  get  me  but  a  wife 
in  the  stews,  I  were  nianned,  horsed  and  wived.'"  Man  vergleiche  zu 
Shakspere's  Gebrauch  des  Wortes  noch  Richard  11.,  V,  5. 

Then  am  I  king'd  again;  and,  by  and  by, 
Think,  that  I  am  unking'd  by  Boh'ngbroko.  — 

Die  Lesart  der  Fol.  ist  vollkommen  richtig.  Der  Bürger  sagt :  „Bis 
einer  von  euch,  —  Johann  oder  Philipp,  —  sich  durch  Recht  oder 
Macht  als  unser  wahrer  König  zeigt ,  sind  wir  unsre  eignen  Könige ; 
da  wir  aber  selbst  in  Zweifel  (scruple)  und  Furcht  (fear)  sind,  so  sind 
wir  nur  kings  of  our  fear,  weil  wir  jetzt  nichts  haben  als  diese  unsre 
Furcht;  und  wir  hören  auf,  unsre  eignen  Könige  (d.  h.  Könige  unsrer 
Furcht,  die  unser  einziges  Königthum  ist)  zu  sein,  wenn  durch  den 
rechten  und  wirklichen  König  unsre  Furcht,  die  uns  zu  Königen  machte, 
aufgelöst,  vertrieben  und  abgesetzt  (oder  abgelegt)  ist."  In  ähnlichem 
Sinne  heisst  es  in  K.  Richard  11.,  IV. 

Bolingbr.     I  thought  you  had  been  willing  to  resign? 

K.  Rieh.      My  crown,  I  am ;  but  still  my  griefs  are  mine. 
You  may  my  glories  and  my  State  depose, 
But  not  my  griefs:  still  I  am  king  of  those. 

d.  h.  king  of  my  griefs;  my  gi-iefs  are  mine;  and  I  have  nothing  left 
but  griefs ;  therefore  I  am  only  king  of  these  my  griefs.  Man  bemerke, 
dass  wie  im  K.  John  depose  nicht  zu  kings ,  sondern  zu  fears  gehört, 
so  auch  hier  als  Object  von  depose  nicht  king,  sondern  glory  und  State, 
d.  h.  das ,  was  Jemanden  zum  König  macht ,  hinzugefügt  ist.  Man 
wird  sich  übrigens  leicht  überzeugen,  dass  zwischen  diesen  beiden  Stellen 
noch  eine  andre  grosse  Aehnlichkeit  herrscht.  Nachdem  ihm  —  so 
sagt  Richard  11.  —  glory  and  State  genommen  sind,  ist  er  nicht  mehr 
König  von  England;  er  ist  aber  immer  noch  König,  aber  nur  king  of 
his  griefs;  würden  ihm  auch  diese  genommen,  so  folgt,  würde  er  über- 
haupt nicht  mehr  König  sein.  In  gleicher  Weise  sind  die  Bürger  kings 
of  their  fear ;  werden  ilinen  diese  fears  genommen ,  so  sind  sie  nicht 
mehr  ihre  eignen  Könige,  sondern  wiederum  dem  rechtmässigen  König 
unterthan.  Alan  mag  den  Ausdruck  an  unsrer  Stelle  gesucht,  sehr 
herausgesucht  finden,  ich  glaube  aber,  dass  Shakspere  ihn  gebraucht 
hat,  und  bin  überzeugt,  dass  die  Vergleichung  der  andern  Stelle  aus 
K.  Richard  II.  die  eigenthümlicho  Anschauungsweise  und  den  etwas 
sonderbaren  Gedanken  des  Dichters  deutlich  an's  Licht  stellt.  —  Nichts 
kann  matter  sein ,   als  Delius'  Conjectur  king  of  ourselves.     Sollte  er 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXIII.  "jO 


302 


Zur  Kritik,  Erklärung  und 


wirklich  nicht  gemerkt  haben ,  dass  in  der  Lesart  der  Fol.  kings  of 
our  fear  viel  prägnanter  enthalten  ist  kings  of  ourselves  who  are  in 
fear,  Avho  have  nothing  but  fear,  whose  whole  kingdom  is  our  fear? 
Oder  sollte  er  auch  nicht  eingesehen  haben,  dass  das  folgende  tili  our 
fears  be  deposed  ein  vorhergehendes  fear  voraussetzt?  Oder  endlich 
nicht  für  nöthig  halten ,  dass  auf  kings  of  ourselves  folgen  müsste :  tili 
we  be  deposed? 

7)  Two  gentlemen  of  Verona  I,  2  sagt  Julia  zu  ihrem  Kammer- 
mädchen Lucetta,  w^elche  den  Auftrag  hat,  ihr  einen  Brief  von  Proteus 
zu  überreichen: 


Julia. 
Lucetta. 

Julia. 

Lucetta. 

Julia. 

Lucetta. 

Julia. 

Lucetta. 

Julia 


Lucetta. 

Julia. 
Lucetta. 
Julia. 
Lucetta. 


Julia. 

Lucetta. 

Julia. 


Some  love  of  yours  hath  writ  to  you  in  rhyme. 

That  I  might  sing  it,  madam,  to  a  tune: 

Give  nie  a  note:   your  ladyship  can  set-. 

As  little  by  such  toys  as  possible. 

Best  sing  it  to  the  tune  of  Light  o'love. 

It  is  too  heavy  for  so  light  a  tune. 

Heavy?    belike  it  has  some  bürden  then. 

Ay;  and  melodious  were  it,  would  you  sing  it. 

And  why  not  you? 

I  cannot  reach  so  high, 
(nimmt  den  Brief,    den    sie   längst   zu    haben    wünscht, 
stellt  sich  aber  vor  dem  Mädchen  so,    als  wäre  sie  weit 
entfernt,  solche  Briefe  annehmen  zu  wollen). 
Let's  see  your  song!    (da  sie  siebt,  dass  er  von  Proteus 
an  sie  selbst  gerichtet  ist)    How  now,  minion? 
Keep  tune  there  still,  so  you  will  sing  it  out: 
And  yet  methinks,  I  do  not  like  this  tune. 
You  do  not? 

No,  madam ,  it  is  too  sharp. 
You,  minion,  are  too  saucy. 

Nay,  now  you  are  to  flat, 
And  mar  the  concord  with  too  harsb  a  descant: 
There  wanteth  but  a  mean  to  fill  your  song. 
The  mean  is  drown'd  with  your  unruly  base. 
Indeed,  I  bid  the  base  for  Proteus. 
This  babble  shall  not  henceforth  trouble  me. 
Here  is  a  coil  with  protestation. 

[Tears  the  lettre.] 


Das  zweite  base  —  natürlich  nur  dieses ,  nicht  auch  das  erste  —  er- 
klärt Steevens  „a  challenge."  Ausführlicher  wird  von  andern  Com- 
raentatoren  base  erklärt:    Prison  base,    or  prison  bass  a  rustic  garae, 


U  eher  Setzung  Shakspere's.  303 

which  consisted  chiefly  in  running,  so  called  perhaps  from  the  place 
"vv'hence  begins  fhe  running;  also  ein  Spiel,  unserm  Malzeck  etwa  oder 
dem  Balirlauf,  Barrelauf,  jeu  de  barre,  entsprechend.  So  kommt  es  vor 
Cymbel.  V,  3. 

He  with  two  striplings   (lads  more  like  to  tun 
The  country  base,  than  to  conimit  such  slaughter). 

Demnach  würde  hier  base  in  Lucetta's  Antwort  in  einem  andern  Sinne 
zu  nehmen  sein,  als  in  Julia's  Worten;  diese  meint  Bass,  jene  Barre- 
lauf; oder,  wenn  man  die  ganze  Phrase  in's  Auge  fasst,  diese:  die 
mittlere  Stimme  wird  von  deinem  ungefügigen  Bass  ertränkt  und  über- 
tönt; jene  (indem  nämlich  to  bid  so  viel  ist  als  to  offer  und  to  bid  a 
base  also  herausfordern  heisst):  in  der  That,  ich  fordere  (oder  forderte) 
Sie  für  Proteus,  an  Proteus'  Stelle,  heraus.  So  etwas  aber,  dass  in 
einer  Antwort  oder  auch  im.  Verlauf  einer  Rede  ein  Wort  in  einem 
andern  Sinne  genommen  wird  als  vorher,  ist  nichts  Seltenes  bei  Shak- 
spere  und  gradezu  eine  Hauptquelle  seiner  puns.  So  spielt  er  öfter 
mit  den  verschiedenen  Bedeutungen  des  Zeitworts  to  lie ;  den  cobbler 
im  Julius  Caesar  I,  1  lässt  er  sagen:  Nay,  I  beseech  you,  sir,  be  not 
out  with  me,  yet,  if  you  be  out,  I  can  mend  you ;  in  Two  gentlemen 
of  Verona  sagt  Panthino :  Away,  ass,  you  will  lose  the  tide  und  Launce 
erwiedert:  It  is  no  matter,  if  the  ty'd  were  lost;  for  it  is  the  unkindest 
ty'd,  that  ever  man  ty'd ;  und  als  Panthino  fragt :  What's  the  unkindest 
tide,  erklärt  Launce:  Why,  he  that's  ty'd  here,  Grab,  my  dog.  So  in 
Romea  and  Juliet,  wo,  auf  die  Worte  der  Amme  zu  den  Musikanten : 

Honest  good  fellows,  ah,  put  up,  put  up ! 
Too  well  you  know,    this  is  a  pitiful  case, 

während  die  Amme  mit  den  Worten  a  pitiful  case  einen  bedauerns- 
werthen  Fall  meint,  der  Musikant  antwortet: 

Ay,  by  my  troth,  the  case  may  be  amended, 
unter  case  das  Futteral  seines  Instruments  verstehend ,  und  den  Zu- 
schauern ein  Loch  in  demselben  zeigend.  Aehnliche  Beispiele  sind 
häufig,  so  häufig,  dass  ich  es  nicht  für  nöthig  halte,  noch  mehr  der- 
selben anzuführen.  —  Wem  es  also  in  dieser  Stelle ,  von  der  jetzt  die 
Rede  ist,  nur  darauf  ankommt,  die  Worte  zu  übersetzen,  der  wird  die- 
selben nicht  für  verdorben  halten.  Wer  aber  den  ganzen  Zusammen- 
hang des  Gesprächs  und  die  durchweg  in  demselben  festgehaltene  bild- 
liche, vom  Singen  eines  Liedes  hergenommene  Ausdrucksweise  in's  Auge 
fasst,  dem  muss  Lucetta's  Antwort:    In  der  That,  ich  fordere  für  Pro- 

20  • 


304  Zur  Kritik,   Erklärung  und 

teus  heraus,  selbst  wenn  man  diesen  Worten  den  Sinn  unterlegt:  ich 
will  Sie  für  Proteus  fangen,  Sie  für  Proteus  gewinnen,*)  selbst  dann, 
sag'  ich,  muss  diese  Antwort  bedenklich  und  ungehörig  erscheinen. 
Auch  die  Erwiederung  Julia's  geht  nicht  auf  die  neue  Bedeutung, 
welche  angeblich  Lucetta  dem  Wort  base  gibt,  ein,  sondern,  indem  sie 
beim  Zerreissen  des  Briefes  sagt:  Here  is  a  coil  with  protestatiou ; 
hier  ist  ein  Geräusch,  ein  Getöse  mit  Einspruch,  zeigt  sie,  dass  sie  bei 
der  musikalischen,  oder,  wenn  man  lieber  will,  bei  der  akustischen  Be- 
deutung des  Worts  base  stehen  bleibt ;  sie  sagt  damit :  durch  dieses 
Geräusch  unterbreche  ich  den  ganzen  Zwiegesang.  Es  ist  mir  daher 
nicht  zweifelhaft,  dass  gelesen  werden  müsse: 

Indeed,  I  did  the  base  for  Proteus. 
To  do  ist  to  perform;  so  kommt  es  namentlich  im  Sommernachtstraum 
vor;  I,  2  Bottom:  That  will  ask  some  tears  in  the  true  performing 
of  it:  if  I  do  it,  let  the  audience  look  to  their  eyes;  und  ebendaselbst, 
auf  Snug's  Frage:  Have  you  the  lion's  part  written?  pray  you ,  if  it 
be,  give  it  me,  for  I  am  slow  of  study ;  sagt  Quince :  You  may  do  it 
extempore,  for  it  is  nothing  but  roaring;  und  III,  1  derselbe:  This 
green  plot  shall  be  our  stage ;  this  hawthorn  brake  our  tyring  house ; 
and  we  will  do  it  in  action,  as  we  will  do  it  before  the  duke;  und  V,  1 
Hippolyta :  He  says,  they  can  do  nothing  in  this  kind ;  Taming  of  the 
shrew  induct.  that  part  was  —  naturally  performed;  —  thou  didst 
it  excellent.  Wenn  also  I  did  hier  heisst:  I  performed,  so  sagt  Lucetta : 
dass  ich  so  im  Bass  sprach,  kam  daher,  weil  ich  für  Proteus  ein  gutes 
Wort  einlegen  wollte,  weil  ich  statt  seiner  die  Werbung  übernahm, 
und  gleichsam  seine  Stimme  aus  meinem  Munde  kam;  oder  —  um  den 
Wortlaut  genauer  auszudrücken  —  :  in  der  That ,  ich  führte  die  Bass- 
begleitung  durch,    die   eigentlich  Proteus   für  sich   selbst  hätte  durch- 


*)  Ich  setze  Warburton's  vollständige  Erklärung  hinzu: 
The  Speaker  here  turns  the  allusion  (which  her  mistress  employed)  from 
the  base  in  music  to  a  country  exercise  Eid  the  base:  in  whIch  some  pursue, 
and  others  are  made  prisoners.  So  that  Lucetta  would  intend,  by  this,  to 
say:  Indeed  I  take  pains  to  make  you  a  captive  to  Proteus'  passion.  He 
uses  the  same  allusion  in  bis  Venus  and  Adonis: 

To  bid  the  wind  a  base  he  now  prepares. 
And  in  his  Cymbeline  he  mentions  the  game 

lads  more  like  to  run 
The  country  base. 


Ueber Setzung  Shakspere's.  30y 

führen  sollen,  die  eigentlich  Proteus'  Sache  war.  Alsdann  geht  base 
auf  das  obige  bürden  zurück : 

it  hath  some  bürden  tben; 
Ay,  and   melodioiis  were  it ,  would  you  sing  it. 

Denn  diesen  bürden  eben,  die  Brumm-  oder  Bassstimme,  die  das  Lied 
begleitet,  muss  man  auf  Proteus  beziclien.  So  erst  werden  die  sämmt- 
lichen  Ausdrücke  in  dem  witzelnden  und  nur  in  Andeutungen  vor  sich 
gehenden  Dialog  deutlich.  Das  Lied  light  o'  love  hatte  keinen  bürden 
oder  Bassbegleitung,  wie  man  aus  Much  ado  about  nothing  JII,  4  er- 
fahrt, wo  es  heisst:  clap  us  into  light  o'  love;  that  goes  without  a  Jjur- 
den ;  das  Lied  dagegen,  welches  Lucetta  der  Julia  vorschlägt,  hat  einen 
bürden,  der  melodisch  zum  Liede  passen  würde;  d.  h.  Proteus  und 
Julia  würden  eine  passende  und  prächtige  Ehe  abgeben.  [Uebrigens, 
glaube  ich,  irrt  nicht,  wer  annimmt,  dass  Siiakspere,  wie  er  in  solchen 
Fällen  so  oft  thut,  zugleich  die  andre  Bedeutung  von  bürden,  Last,  mit 
im  Sinne  hat.]  Für  Lucetta  ist  das  Lied  zu  hoch,  d.  h.  Proteus  steht 
zu  hoch  über  ihr,  als  dass  sie  selbst  Anspruch  auf  ihn  machen  könnte. 
Dagegen  übernimmt  sie  den  mean ,  die  Mittelstimme,  die  Vermittlung, 
die  Stelle  der  Vermittlerin;  da  aber  Julia  die  Sache  übel  aufnimmt  und 
meint,  die  Mittelstimme  wäre  durch  den  Bass  Lucetta's  verdorben  wor- 
den, erwiedert  sie:  ich  habe  allerdings  dadurch,  dass  ich  Proteus'  Brief 
abgegeben  habe,  seine  Partie  (das  ist  die  Basspartie)  ausgeführt.  So 
auch  wird  indeed  am  Anfange  jenes  Satzes  erst  gerechtfertigt;  denn 
man  kann  es  und  man  kann  im  Deutschen  „in  der  That"  natürlich 
nur  da  gebrauchen,  wo  man  das,  was  eben  gesagt  worden  ist,  durch 
Wiederholung  und  Aufnahme  eben  desselben  bekräftigt,  nicht  aber,  wo 
man  etwas  Anderes  sagt;  mit  I  did  the  ba.<;e  sagt  Lucetta  dasselbe, 
was  Julia  gesagt  hatte,  nur  in  etwas  anderer  Weise  und  so,  dass  man 
nun  erst  den  Schlüssel  zum  genauen  Verständniss  des  ganzen  Dialogs 
bekommt;  mit  I  bid  tlie  base  sagte  sie  dagegen  etwas  Anderes  und 
durfte  mit  dieser  Redensart  nicht  indeed  gebrauchen.  Indeed  ist  = 
the  mean  is  drowned  by  my  unruly  base ;  dahinter  passt  nur .  for  I 
did  tho  base  for  Proteus;  nicht  aber:  for  I  bid  the  base.  Richtig  sagt 
der  Musikant  in  der  oben  citirten  Stelle  aus  Romeo  and  Juliet:  by  my 
troth;  denn  wenig  oder  gar  nicht  an  den  Tod  Julia's  denkend,  fallt 
ihm  bei  dem  Ausdruck  der  Amme  a  pitiful  case  nur  das  zerrissene 
F'utteral  seines  Instruments  ein ;  by  my  troth  ist  ^^  the  case  is  pitiful. 
—  Bürden  von  der  Bassbegleitung  kommt  unter  Anderm  auch  As  you 


SOG  Zur  Kritik,  Erklärung  und 

like  it  III,  2  vor:  I  would  sing  my  song  without  a  bürden:  thou 
bringst  me  out  of  tune.  [Von  der  Begleitung  eines  Liedes  durch  einen 
ganzen  Chor,  oder  genauer  der  Ausführung  des  Rundgesanges  oder 
Refrains,  sagt  man  bekanntlich  to  bear  the  bürden ;  z.  B,  in  der  Bühnen- 
anweisung As  you  like  it  IV,  2.]  Und  in  demselben  Sinne  braucht 
Shakspere  das  Zeitwort  to  bass,  Tempest  IV,  3. 

the  thunder, 
That  deep  and  dreadful  organ-pipe,  pronounced 
The  name  of  Prosper ;  it  did  bass  my  trespass. 

Vergleicht  man  diese  beiden  Stellen  mit  einander,  so  geht  deutlich  her- 
vor, dass  man  völlig  berechtigt  ist,  auch  an  unsrer  Stelle  bürden  und 
base  als  gleichbedeutend  und  auf  gleiche  Weise  auf  Proteus  bezüglich 
zu  fassen.  Es  lässt  sich  endlich  auch  leicht  der  Grund  der  Verderbung 
der  Worte ,  von  denen  hier  die  Rede  ist ,  einsehen.  Das  für  I  per- 
formed  the  base  stehende  und  darum  ungewöhnlichere  I  did  the  base 
konnte  bald  durch  ein  Versehen  in  die  sprichwörtliche  und  darum  sehr 
gewöhnliche  Redensart  I  bid  the  base  übergehen.  Und  diese  Redensart 
selbst  haben  Wurburton  und  Malone  durch  Conjectur,  nach  meinem 
Dafürhalten  durchaus  richtig ,  eingesetzt ,  Venus  und  Adonis : 

Sometimes  he  scuds  far  elf,  and  there  be  stares ; 
Anon  he  Starts  at  stirring  of  a  feather: 
To  bid  the  wind  abäse  he  now  prepares. 

Das  hier  kaum  verständliche  abäse,  demüthigen ,  erniedrigen,  das, 
wenn  es  auch  von  dem  Winde  sollte  gesagt  werden  können,  dennoch 
gar  nicht  in  den  Sinn  passt ,  verwandeln  Warburton  und  Malone  in 
„a  base;"  „nun  schickt  er  sich  an,  den  Wind  an  Schnelligkeit  heraus- 
zufordern." 

8)  Henry  VI.,  II.  p.  11,  1  haben  die  Ausgaben: 

What  Cardinal,  is  your  priesthood  grown  peremptory? 
Tantaene  animis  coelestibus  irae? 
Churchmen  so  bot?  Good  uncle,  hide  such  nialice; 
Whit  such  holiness  can  you  do  it. 

Die  Verse  sind  unrichtig  geworden  durch  eine  Versetzung  des  Worts 
cardinal.      Es  muss  heissen  : 

What  is  your  priesthood  grown  peremptory? 
Tantaene  animis  coelestibus  irae? 
Churchmen  so  bot?  Good  uncle,  hide  such  malice! 
With  such  holiness,  cardinal,  can  you  do  it? 


U  ebersetzung  Shakspere's.  307 

Cardinal  ist  zweisylbig  genommen,  -wie  kurz  darauf: 

Cardinal,  I  am  with  you. 

^A'hy,  how  now,  luicle  Gloster. 

Oder: 

The  cardinal's  not  my  better  in  the  field; 

und  so  sehr  oft  grade  in  Henry  VI.  (und  Henry  VIII.  etc.).  —  Aber 
nicht  bloss  der  Vers  verlangte  diese  Umstellung,  auch  das  Wort  ho- 
liness  verlangt,  dass  cardinal  neben  ihm  stehe,  weil  ausgedrückt  werden 
muss  von  Gloster,  dass  Carlisle's  ganze  Heiligkeit  darin  besteht,  dass 
er  Cardinal  ist.  Und  dann  erst  stehen,  wie  in  dem  lateinischen  Verse 
animis  coelestibus  nnd  tantae  irae,  so  in  den  englischen  Worten  einander 
gegenüber  priesthood  und  peremptory ,  churchmen  und  hot ,  good  uncle 
und  such  malice ,  the  holiness  of  a  cardinal  und  to  do  it,  d.  h.  such 
nialice  oder  to  speak  diabolical  calumnies.  Dass  aber  uncle  vorhergeht, 
hindert  nicht  die  nachherige  Anrede  cardinal ;  in  derselben  Weise  grade 
wechselt  Gloster  auch  sonst  ab ,  in  derselben  Scene  und  in  der  ersten 
Scene  des  ersten  Acts. 

Collier  sagt  mit  Beziehung  auf  diese  Stelle:  „The  second  line 
(nämlich  with  such  holiness  can  you  do  it)  as  it  Stands  in  all  the  early 
copies,  is  imperfect  and  prosaic;  the  corrector  of  the  folio  1632  states 
that  two  small  words  have  been  omitted ,  and  bis  emendation  is  better 
than  either  of  those  offered  by  Warburton  and  Johnson :  he  gives  the 
two  lines  thus : 

Churchmen  so  hot?  Good  uncle,  hide  such  malice; 
And  with  such  holiness  you  well  can  flo  it. 

Das  soll,  ironisch,  heissen :  with  such  holiness  you  well  can  hide  such 
malice;  ein  Sinn,  dem  das  hinzufügende  and  einigermassen  widerstrebt. 
Auch  zeigt  Suffolk's  Antwort:  No  malice  hinter  do  it,  dass  man  do  it 
verstehen  muss  do  such  malice  und  nicht  hide  such  malice.  Dieselbe 
Antwort  zeigt ,  dass  man  well  anders  als  ironisch  nicht  fassen  könne ; 
auch  würde  das  nichtironische  well  hier  sehr  mattherzig  sein.  Ferner 
wird  durch  Collier's  Emendation  der  erste  von  den  vier  übrigen  Versen, 
der  sehr  lahm  ist,  nicht  hergestellt.  Endlich  sieht  man  nicht  ein ,  wie 
die  Lesart  sollte  ^■erÄorben,  und  neben  der  Auslassung  von  zwei  Wör- 
tern you  seine  Stelle  sollte  gewechselt  haben.  Meine  Verbesserung 
setzt  voraus,  dass  im  Bühnenmanuscrij)!  zu :  your  priesthood  das  Wort 
cardinal  als  eine  Erklärung  war  hinzugeschrieben  worden  und  so  in  den 


808  Zur  Kritik,  Erklärung  und 

Text  kam  ;  eino  Wiederholung  zu  vermeiden,  wurde  es  beim  Druck  im 
vierten  Verse  weggelassen. 

Die  von  Collier  oben  erwähnten  Conjecturen  Warburton's  und 
Johnson's  sind : 

With  such  holiness  can  you  de  it?  Do  what?  The  verse  wants  a 
foot ;  we  should  read 

With  such  holiness   can  you  not  do  it? 
Spoken  ironieally.     By   holiness   he   means   hypocrisy:    and  says,  have 
you  not  hypocrisy  enough  to  hide  your  malice?    Warburton. 

The  verse  is  lame  enougli  after  the  emendation,  nor  doos  the 
negative  particle  improve  the  sense.  When  words  arc  omitted,  it  is 
not  often  easy  to  say  what  they  were,  if  there  is  a  perfect  sense  without 
them.     T  read,  but  somewhat  at  random: 

A  ohurchman,  with  such  holiness  can  you  do  it? 
The  transcriber  saw  churchman  just  above ,  and  therefore  omitted  it  in 
the  second  line.     Johnson.  —    Der  Letztere  hat    wenigstens  richtig  be- 
merkt, dass  der  Zusammenhang  eifordere,  to  do  it  zu  verstehen  to  do 
such  malice. 

Ich  zweifle  nicht  im  Geringsten ,  dass  vor  allen  diesen  Verbesse- 
rungsversuchen, sowohl  wegen  des  Sinnes,  als  auch  wegen  des  Verses 
und  wegen  der  Leichtigkeit  der  Aenderung,  meiner  Emendation  der 
Vorzug  gebührt. 

9)  All's  well  that  ends  well     IV,  4. 

But,  o  stränge  men, 
That  can  such  sweet  use  inake  of  what  they  hate, 
When  saucy  trusting  of  the  cozen'd  thoughts 
De61es  the  pitchy  night. 

Offenbar  muss  gelesen  werden : 

When  saucy  trusting  of"  the  cozen'd  thoughts 
Deties  the  pitchy  night. 

Schon  die  natürliche  Wechselbeziehung  zwischen  saucy  trusting  und  to 
defy  zeigt  es. 

Wenn  freches  Zutrau'n  der  verlockten  Sinne 
Trotz  beut  pechschwarzer  Nacht.        ^ 

d.  h.  sich  nichts  daraus  macht,  dass  pechschwarze  .Nacht  ist ;  so  dass 
die  Sinne,  von  Liebesgluth  angefacht  und  erhitzt,  lieben,  obne  zu  fragen 
und  ohne  zu  wissen,    wen   sie   lieben,   ja   sogar  lieben,    wo   sie  sonst 


Uebersetzniig  Shakspere's.  309 

hassen,  und  zufrieden  mit  der  Aufregung  di-r  Phantasie,  um  von  Neuem 
entzündet  zu  werden,  den  Anblick  reizender  Schönheit  nicht  bedürfen. 
Wenn  diese  verwegene  Hitze  der  aufgeregten  Phantasie  (saucy  trusting 
of  the  cozen'd  thoughts)  sie  nicht  anfeuerte ,  —  gibt  Helena  zu  ver- 
stehen, —  würden  die  Sinne,  um  von  Neuem  angespornt  zu  werden, 
erst  sehen  wollen,  und  die  Anregung  durch  die  ihnen  gefälligen  Reize 
erwarten,  und  also  die  gänzliche  Finsterniss  nicht  dulden,  der  zu  trotzen 
ihre  verliebte  Gluth  und  die  Einbildung,  dass  sie  ihre  wirkliche  Ge- 
liebte umarmen,  sie  befähigt.  Die  ganze  Vorstellung,  die  hier  zu 
Grunde  liegt,  ist  eine  Lieblingsbeobachtung  Shakspere's,  die  er  unter 
verschiedenen  Gelegenheiten  in  etwas  verschiedener  Weise  wiederholt. 
So  sagt  Jago  im  Othello  II,  1  :  When  the  blood  is  made  dull  with 
the  act  of  sport,  there  should  be  —  again  to  inflame  it  and  to  give 
satiety  a  fresh  appetite  —  loveliness  of  fa\our  etc.  —  Ich  fürchte, 
defiles  ist  hier  gesetzt  worden  von  einem  Abschreiber  oder  dem  Drucker, 
wegen  des  Worts  pitchy.  Pitch  und  to  defile  kommen  im  Sprichwort 
pitch  defiles  vor;  so  Henry  TV.,  I.  p.  II,  4:  There  is  a  thing,  Harry, 
which  thou  hast  offen  heard  of  and  it  is  known  to  many  in  our  land 
by  the  name  oi'  pitch ;  this  pitch ,  as  ancient  writers  do  report,  doth 
defile.  Love's  labour's  lost  IV,  3 :  They  have  pitched  a  toil ;  I  am 
toiling  in  a  pitch  (womit  Byron  die  schwarzen  Augen  Rosalinens 
meint);  pitch,  that  defiles;  defile,  a  foul  word.  Henry  VI.,  II.  p 
II,  1 :  And  like  to  pitch  defile  nobility,  und  so  ein  Dutzend  Mal.  Für 
diejenigen,  welche  in  der  obigen  Stelle  defiles  in  Schutz  nehmen  möch- 
ten, bemerke  ich  noch ,  dass  für  einen  pun  oder  quibble  hier  gar  keine 
Veranlassung  ist  (wie  man  vielleicht  in  dem  Ausdruck:  defiles  the 
pitchy  night  zu  finden  geneigt  sein  könnte);  und  dass  das  Gehässige, 
ja  Herabwürdigende,  welches  in  dem  Worte  to  defile  liegt,  auf  Helena, 
und  noch  dazu  in  ihrer  eigenen  Auffassung,  in  ihrem  eigenen  Urtheil, 
in  ihrer  eigenen  Aeusserung,  zurückfallen  müsste:  vor  welcher  Un- 
schicklichkeit ich ,  durch  meine  Lesart ,  den  zarten  Charakter  Helena's, 
ja  was  mehr  ist,  die  ganz  nach  Recht  und  Pflicht  handelnde  Gattin 
in  Schutz  nehmen  möchte,  welche  durch  die  Liebesnacht  in  keiner 
Weise  defiled  ist  [ganz  eigentlich  dagegen  sagt  Diana  V,  3  :  Ile  knows 
himself,  my  bed  he  hath  defil'dl  und  daher  diese  Liebosnacht  auch 
nicht  defiled  nennen  kann. 

Ich    f^ige    noch    die   Erklärungen    der    enj^lischen   Commentatoren 
hinzu ,    damit  man    sehe ,    zu   welch'   einer  ganz  irrigen  Auffassung  der 


310  Zur  Kritik,  Erklärung  und 

Stimmung  und  der  Meinung  Helena's  das  Wort  defiles  ihnen  Veran- 
lassung gegeben  hat. 

„Defiles  the  pitchy  night,"  sagt  Warburton,  „i.  e.  makes  the 
person  guilty  of  intentional  adultery.  But  trusting  a  mistake  cannot 
make  any  one  guilty.     We  should  read  and  point  the  lines  thus: 

When  fancy,  trusting  of  the  cozen'd  thoughts, 
Defiles  the  pitchy  night. 

i.  e.  the  fancy  as  imagination ,  fhat  he  lay  with  his  mislress ,  though 
it  was  indeed  his  wife,  made  hini  incur  the  guilt  of  adultery.  Night, 
by  the  ancients ,  was  reckoned  odious ,  obscene  and  abominable.  The 
poet ,  alluding  to  this ,  says  with  great  beauty  Defiles  the  pitchy  night 
i.  e.  makes  the  night  more  than  ordinary  abominable." 
Wirklich,  einen  solchen  Gedanken  sollte  Helena  haben  können  in  dem- 
selben Augenblick,  wo  sie  in  der  Erinnerung  an  die  Hochzeitsnacht  — 
denn  das  ist  sie  für  sie  —  schwelgt !  (o  stränge  men ,  that  can  such 
sweet  use  make  etc.)  Man  vergleiche  V,  3 :  0  my  good  lord,  when  I  was 
like  this  maid,  I  found  you  wondrous  kind.  Und  Avenn  sie  nicht  grade 
an  Bertram's  Sünde  theilnimmt,  bleibt  sie  nicht  immer  schuldig,  ihn  zu 
einer  Sünde  verführt  zu  haben  ?  Und  wenn  das ,  müsste  sie  sich  nicht 
einen  Vorwurf  darüber  machen ,  dem  geliebten  Mann  Veranlassung  zu 
einer  Sünde  gegeben  zu  haben  ?  Zudem  liegt  die  Sünde  nicht  in  der 
That  Bertram's,  sondern  in  seinem  Irrthum .  sie  ist  nur  intentional  adul- 
tery; aber  eine  intentional  adultery  beging  er  nicht  in  dieser  Nacht 
bloss,  sondern  von  dem  Augenblick,  wo  er,  obgleich  verheirathet,  Diana 
verführen  wollte ;  warum  ist  also  diese  Nacht  grade  so  abominable  ? 
Und  damit  —  das  verlangt  einmal  defiles  —  die  Nacht  erst  abominable 
werde,  ist  noch  eine  Conjectur  nöthig:  fancy  für  saucy!  denn,  wie  die 
Worte  im  Text  lauten,  ist  weiter  von  Sünde  nicht  die  Rede:  ,, trusting 
a  mistake,"  sagt  Warburton  selbst,  „cannot  make  any  one  guilty."  Nun 
denn  also ,  sage  ich ,  fort  mit  defiles ,  a  word  which  defiles  extraordi- 
narily  the  whole  passage.  —  5,The  conjecture  (of  Warburton) ,"  sagt 
Johnson,  „is  truly  ingenious,  but,  I  believe,  the  author  of  it,  will 
himself  think  it  unnecessary,  when  he  recoUects  that  saucy  niay  very 
properly  signify  luxurious  and  by  consequence  lascivious."  Aber  die 
Vorstellung  von  intentional  adultery  scheint  er  von  Warburton  ange- 
nommen zu  haben.  Wer  erwartet  auch  Zartgefühl  von  Samuel  John- 
son!    0  ihr  Dichter,  was  würdet  ihr  zu  euren  Commentatoren  sagen! 


Ü  ebersetz  ungSliakspere's.  311 

10)  Cymbeline,  III,  4  sagt  Pisanio  zu  Imogen,  die  sich  entschlossen 
zeigt,  Britannien  zu  verlassen : 

Pis.  I  am  most  glad 

You  think  of  other  place.     The  embassador 
Lucius  the  Roman,  comes  to  Milford-Haven 
To-morrow.     Now,   if  you  could  wear  a  mind 
Dark  as  your  fortune  is;   and  but  disguise, 
That,  -which,  to  appear  itself,  must  not  yet  be, 
But  by  self-danger:    you  sbould  tread  a  course 
Pretty  and  füll  *)  of  view :  yea,  haply,  near 
The  residcnce  of  Posthumus :   so  nigh,  at  least, 
That,  though  his  actions  were  not  visible,  yet 
Report  should  render  him  hourly  to  your  ear, 
As  truly,  as  he  moves. 

Imog.  O,  for  such  means! 

Though  peril  to  my  modesty,  pot  death  on't, 
I  would   adventure. 

Pis.  Well,  theu,  here's  the  point! 

You  must  forget  to  be  a  woman  etc. 

Es  handelt  sich  hier  um  die  Worte:  Though  peril  to  my  modesty, 
not  death  on't,  I  wonld  adventure.  Ich  vv^eiss  wohl,  dass  diese  Les- 
art unter  gewissen  Voraussetzungen  und  noch  dazu  in  doppelter  Con- 
structionsweise  verständlich  ist.  Man  kann  construiren:  Though  peril 
to  my  modesty,  but  not  death  were  oder  be  on  it,  I  would  adventure 
it,  und :  Though  I  would  adventure  peril  to  my  modesty,  but  not  would 
adventure  death  on  it.  Nach  der  ersten  Constructionsweise  muss  man 
annehmen,  dass  Pisanio  in  seinen  Worten  eine  Verkleidung  in  einen 
Pagen  oder  einen  Mann  schon  so  deutlich  bezeichnet  hat,  dass  Imogen 
diesen  seinen  Vorschlag  erräth  und  äussert:  Wenn  auch  Gefahr  für 
meine  Sittsamkeit  dabei  sein  sollte  und  nur  nicht  der  Tod  die  Folge 
davon  ist,  wollte  ich  es  wagen.  Aber  Pisanio  hat  sich  so  deutlich 
noch  nicht  ausgesprochen ;  er  hat  nur  gesagt,  sie  dürfe,  bei  Lebens- 
gefahr, das,  was  sie  ist,  nicht  scheinen,  und  darunter  kann  Imogen 
natürlich  zuerst  nur  denken,  dass  sie  nicht  blicken  lassen  dürfe,  dass 
sie  die  Prinzessin  ist ;  dass  sie  aber  an  die  Verkleidung  in  einen  Mann 
jetzt  noch  nicht  denken  kann,  zeigen  Pisanio's  nachherige  Worte:  You 
must  forget  to  be  a  woman.     Nimmt  man  aber  j)eril  to  modesty,  ohne 

*)  Privy,  yet  füll,   Collier. 


312  Zur  Kritik,  Erklärung  und 

beschränkende  Beziehung  auf  die  Verkleidung,  in  seinem  allgemeinen 
Sinne,  dann  sagt  Imogen  etwas  ihrer  Unwürdiges  ;  was  dem  Engländer, 
so  allgemein  gesagt,  modesty  (Ehrbarkeit,  Keuschheit)  und  peril  to 
modesty  (Gefahr  für  die  Schamhaftigkeit)  bedeutet  und  sagen  will, 
sieht  man  z.  B.  aus  Othello  IV,  2. 

O  thou  public  commoner! 
I  should  make  very  forges  of  my  cheeks, 
That  -vvould  to  cinders  biu-n  up  modesty, 
Did  I  but  speak  thy  deeds. 

Ausserdem  schliesst,  was  Pisanio  bisher  gesagt  hat,  den  Gedanken  an 
Tod  keineswegs  aus.  Im  Gegentheil,  er  spricht  von  self-danger  für 
den  Fall,  wo  sie  erschiene,  was  sie  ist ;  er  nennt  den  Römer  Lucius, 
und  Imogen  miiss  bei  der  Erwähnung  des  Landesfeindes  erst  recht  an 
Todesgefahr  denken,  da  sie  wohl  voraussetzen  darf,  dass  Lucius,  wenn 
er  erfahren  haben  sollte,  dass  sie  die  Prinzessin  ist,  die  Tochter  des  ihm 
damals  schon  feindlichen  Britenkönigs  leicht  könnte  imibringen  lassen. 
In  beiden  Beziehungen  würde  also  die  obige  Lesart,  nach  ihrer  ersten  Con- 
structionsweise,  verwerflich  sein.  Bei  der  zweiten  Constructionsweise 
ist  die  Sache  noch  übler;  denn  Imogen  sagt  gradezu :  „Ich  möchte 
wohl  meine  Ehrbarkeit,  aber  nicht  mein  Leben  dabei  in  die  Schanze 
schlagen."  Wie  das  mit  Imogen's  Charakter  —  dem  reinsten  und 
zartesten,  den  die  Dichtkunst  schuf  —  in  üebereinstimmung  gesetzt 
werden  soll,  sehe  ich  nicht;  wohl  aber  sehe  ich  in  dem  ganzen  früheren 
Theil  dieser  Scene,  dass  sie  sich  den  Tod  fast  wünscht,  und  nur  nicht 
durch  Selbstmord,  sonst  auf  jede  Weise,  ihr  Leben  gern  endigen  will. 
Dass  man  on't  auch  für  of  it,  d.  h.  of  my  modesty  (so  dass  also  peril 
to  my  modesty  und  death  of  my  modesty  entgegengesetzt  wären)  hat 
verstehen  wollen,  führe  ich  der  Vollständigkeit  wegen  auf,  glaube  aber 
diese  Erkläiungsweise  nach  dem  Obengesagten  nicht  weiter  widerlegen 
zu  brauchen.  *)    Dagegen  lässt  sich,  ohne  Aenderung  der  Worte,  durch 


*)  So  scheint  Johnson  die  Stelle  aufzufassen,  wiewohl  es  nur  mit  Mühe 
aus  seinen  Worten  herausgedeutet  werden  kann.     Ich  setze  seine  ganze  An- 
merkung hierher: 
„I  read: 
Through  peril  — 

i.  e.  I  would  for  such  means  adventure  tbrough  peril   of  modesty; 
I  would  risque  every  thing  but  real  dishonour."    Joluison. 


Uebcrsetzung  Shakspere's.  313 

blosse  Versetzung  der  Zeichen,   der   schönste    und   für    Imogen's  Lage 

passendste  Sinn  herausbringen.      Man  interpungire : 

Though  peril  to  my  modesty  not,  —  death  on't 
I  would  udventure. 

d.  i.  though  I  would  not  udventure  peril  to  my  modesty,  yet  death  on 
it  I  would  adventure:  wenngleich  ich  einer  Gefahr  für  meine  Sittsam- 
keit mich  nicht  aussetzen  möchte ;  —  dem  Tode  will  ich  mich  gern 
dabei  aussetzen.  Damit  stimmt  aufs  Beste  die  Erwiederung  Pisanio's : 
Well  then,  here's  the  point.  Nun  gut  denn,  das  ist  eben  der  Punkt, 
nämlich :  ob  Sie  glauben,  durch  Verkleidung  in  einen  Pagen  ihrer  Sitt- 
samkeit nicht  zu  nahe  zu  treteri;  ob  Sie  glauben,  ohne  Schaden  oder 
Nachtheil  für  Ihre  Ehrbarkeit  so  weit  gehen  zu  dürfen,  dass  Sie  sich 
in  einen  Pagen  verkleiden.  Ich  raüsste  mich  sehr  irren,  oder  die  von 
mir  vorgeschlagene  Interpunktion  stimmt  besser  als  die  übliche  zu  dem 
so  überaus  zarten  und  keuschen  und  doch  in  ihrer  Liebe  so  todes- 
muthig  entschlossenen  Charakter  Imogen's.  Der  plötzliche  Einsatz: 
death  on't  —  am  Ende  des  Verses,  —  ist  so  weit  entfernt,  etwas  An- 
stössiges  zu  haben,  dass  er  vielmehr  die  grösste  Schönheit  ist  und  mehr 
als  viele  Worte  die  schnelle  und  muthige  Entschiedenheit  Imogen's, 
welche  .  sie  in  der  ganzen  Scene  zeigt,  malt,  und  einer  guten  Schau- 
spielerin hier  die  bedeutendste  Wirkung,  den  grossartigsten  Effect  ver- 
schaffen miisste.  Für  die  Richtigkeit  meines  Verständnisses  der  Stelle 
spricht  noch  eine  durchaus  überzeugende  Probe.  Es  versteht  sich  von 
selbst,  dass  man  Jemanden  zu  beruhigen  sucht  über  das,  was  er  fürchtet. 
Nach  meiner  Erklärungsweise  fürchtet  Imogen  für  ihre  Sittsamkeit,- 
nicht  für  ihren  Tod.  Dass  aber  ihre  Sittsanpkeit  keine  Gefahr  laufen 
werde,  darüber  beruhigt  offenbar  Pisanio  Imogen,  indem  er  in  Betreff 
des  Lucius,  dessen  Page  sie  werden  soll,  sagt:  for  he  is  honourable, 
and,  doubling  that,  most  holy. 

11)  King  Henry  VI.,  III.  p.  I,  2. 

(a  sllght  contention) 
Rieh.  About  that  which  concerfis  your  grace  and  us: 
The  crown  of  England,  father,  which  is  yours. 
York.  Mine,  boy?  not  tili  king  Henry  be  dead. 

Wahrscheinlich : 

Mine,  boy?  no :  —  not  tili  king  Henry  be  dead. 
Wie  leicht  beim  Schreiben  oder  Drucken  no  vor  not  wegfallen  konnte, 
ist  wohl  deutlich. 


314  Zur  Kritik,   Erklärung  und 

12)  Antonio  and  Cleopatra  I,  am  Ende,  sagt  Cleopatra: 

Get  me  ink  and  paper !  he  shall  have  every  day 
A  several  greeting,  or  Pll  unpeople  Egypt. 

Im  letzten  Verse  muss  es  wohl  heissen : 

he  shall  have  every  day 
A  several  greeting:  I'll  unpeople  Egypt. 

Ich  will  jeden  Tag  einen  Boten  mit  einem  Briefe  an  ihn  abschicken 
und  dadurch  (durch  das  Abschicken  so  vieler  Boten)  Aegypten  ent- 
völkern. Or  würde  voraussetzen,  dass  Cleopatra  zuerst  an  ein  anderes 
Mittel  dächte ,  ihre  Briefe  fortzuschicken,  als  an  Boten ;  dass  diess 
nicht  der  Fall  ist,  zeigt  die  ganze  vorhergehende  Scene. 

13)  Tempest  V. 

His  mother  was  a  witch  and  one  so  streng, 

That  could  control  the  moon,  make  flows  and  ebbs 

And  deal  in  her  comraand,  without  her  power. 

Hierzu  bemerkt  Collier:  The  words  J, without  her  power"  have 
naturally  occasioned  considerable  discussion,  in  which  Malone  hinted 
that  Sycorax  might  act  by  a  sort  of  „power  of  attorney"  from  the 
moon ,  while  Steevens  strangely  supposed  that  ,,  without  her 
power"  meant  „with  less  general  power."  All  difficulty,  however,  is 
at  an  end,  when  we  find  the  manuscript-corrector  of  the  folio  1632 
marking  „without"  as  a  misprint,  and  telling  us  that  it  ought  to  have 
been  „with  all": 

That  could  control  the  moon,  make  flows  and  ebbs 
And  deal  in  her  command,  with  all  her  power. 

that  is,  Sycorax  could  „make  ebbs  and  floods,"  matters  in  the  com- 
mand of  the  moon,  with  all  the  power  exercised  over  the  tides  by  the 
moon.  The  error  of  the  press  here  is,  we  think,  transparent.  —  Dann 
muss  man  in  her  command,  d.  h.  in  the  command  of  the  moon,  ver- 
stehen: in  dem  Gewaltbereiche  des  Mondes.  Das  Einzige,  was  gegen 
diese  Emendation  spricht,  ist,  dass  man  gar  zu  geneigt  ist,  beim  Lesen 
oder  Hören  „her"  wegen  seiner  Stellung  im  Satze  auf  Sycorax  und 
nicht  auf  the  moon  zu  beziehen.  Wer  „her"  nur  auf  Sycorax  beziehen 
zu  können  glaubt,  kann  daher  lesen 

And  deal  in  her  command  without  their  power: 
wo   dann  their  auf  the  moon,   flows  and  ebbs  zu  beziehen  sein  würde. 
Alsdann  ist  in  her  command  so  viel  als  in  her  command  over  them,  in 
coramanding  them ;  without  their  power  muss  dann  erklärt  werden,  ohne 


1^    UebersetzungShakspere's.  315 

dass  sie  Macht  haben  oder  behalten.  Dass  eine  Möglichkeit  dieser  Er- 
klärungsweise vorhanden  ist,  davon  kann  man  sich  durch  Beispiele 
leicht  überzeugen.  Sage  icli :  I  did  it  without  their  knowledge,  so  meine 
ich :  Ich  that  es,  ohne  dass  sie  Kenntniss  (davon)  hatten ;  warum  sollte 
I  did  it  witliout  their  power  nicht  heissen  können;  ich  that  es,  ohne 
dass  sie  Maclit  (darüber)  hatten?  I  did  it  in  a  manner  that  they  had 
no  power,  that  they  had  lost  all  their  power  ?  —  Es  kommen  zwar  nur 
Verbalia  in  einer  solchen  Verbindung  vor ;  aber  als  solches  kann  power 
(pouvoir)  immer  angesehen  werden.  —  Daraus  ergibt  sich  denn  endlich 
eine  Erklärung  der  gewöhnlichen  Lesart  für  die,  welche  keine  Aende- 
rung  haben  wollen,  und  welche  sich  nicht  daran  stossen,  „her"  auf  das 
entferntere  Femininum  „the  moon'*  zu  beziehen.  In  her  command  heisst 
dann  Avie  bei  der  CoUier'schen  Lesart:  in  dem  Gewaltbereiche  des 
Mondes,  und  without  her  power,  ohne  dass  er  (der  Mond)  Macht  hat, 
Macht  behalten  hat,  so  dass  er  seine  ganze  Macht  an  Sycorax  hat  ab- 
treten müssen.  Dies  ist  die  Erklärung,  welche  Malone  muss  gemeint 
haben;  und  nur  seine  ungeschickte  Ausdrucksweise  kann  Collier  Ver- 
anlassung gegeben  haben,  seine  Auslegung  lächerlich  zu  machen. 

14)  All's  well  that  ends  well  III,  6. 

Bertram.  ^V'hy,  de  you  think,  he  will  make  no  deed  at  all  of  this  that 
so  seriously  he  does  address  himself  unto? 
First  lord.  Nene  in  the  world,  but  return  with  an  invention,  and  clap 
upoD  you  two  or  three  probable  lies:  but  we  have  almost 
embossed  him,  you  shall  see  bis  fall  to-night;  for,  indeed,  [he 
is  not  for  your  lordship's  respect. 

Zu  dieser  Stelle  bemerken  die  Commentatoren :  To  emboss  a  deer  is  to 
enclose  him  in  a  wood.     Milton  uses  the  sarae  word. 

Like  that  self-begotten  bird 

In  the  Arabian  woods  embost 

Which  no  second  knows  or  third.  —  Johnson. 

It  is  probable  that  Shakspeare  was  unacquainted  with  this  Avord  in  the 
sense  which  Miltou  aftixes  to  it,  viz.  from  emboscare  Ital.  to  enclose 
in  a  thicket. 

When  a  deer  is  run  hard  and  foams  at  the  mouth,  in  the  language 
of  the  field,  he  is  said  to  be  embossed.  So  in  the  induction  of  the 
Taraing  of  the  shrew: 

The  poor  cur  is  imboss'd. 


31G  Zur  Kritik,  Erklärung  und  ., 

Again,  in  Albunazar: 

I  am  embossed 
With  trotting  all  the  streets. 

Again  in  Monsieur  Thomas,  1639: 

A  boar  emboss'd  takes  sanctuary  in  bis  shop 
And  twenty  dogs  run  after. 

Again  in  Swetnam  Arraign'd,  1620. 

Hast  thou  been  running  for  a  wager,  Swash? 
Thou  art  borribly  emboss'd. 

Again  in  Warner's  Albion's  England,  1602: 

For  lo,  afar  my  chased   beart  inibost  and  alraost  spent.  —  Steevens. 
Das  Wort  embossed  kommt  ausser  der  von  Steevens  angeführten  Stelle 
vor  bei  Shakspeare:  Timon  oi"  Athens  V,  2. 

Timon  hath  made  bis  everlasting  mansion 
Upon  tbe  beached  verge  of  the  salt  flood, 
Which  once  a  day  with  bis  embossed  frotb 
Tbe  turbulent  sorge  shall  cover; 

also  in  der  Bedeutung  swelling,  tumefied;    ferner  As  you  like  it  II,  7: 

And  all  tbe  embossed  sores  and  headed  evils, 
That  thou  with  licence  of  free  food  hast  caugbt, 
Wouldst  thou  discharge  into  the  general  world; 

-wiederum  in  der  Bedeutung  tumefied;  ferner  King  Lear  II,  4. 

thou  art  a  boil, 
A  plague-sore,  an  embossed  carbuncle 
In  my  corrupted  blood; 

auch  in  der  Bedeutung  tumefied ;  nicht  anders  Henry  IV.,  I.  p.  III,  3. 
thou  —  embossed  rascal,  zu  FalstaflF  gesagt ;  endlich  Antonio  and  Cleo- 
patra IV,  1 1 : 

he  is  more  raad 
Than  Telamon  for  bis  shield!  the  boar  of  Thessaly 
Was  never  so  emboss'd. 

d.  h.  tumefied,  swelling  with  rage.  —  Sonst  wird  das  Wort  bei  Shak- 
spere  nicht  gefunden.  Bei  Spenser  kommt  embossed  noch  vor  in  der 
Bedeutung  des  französischen  emboister,  emboiter,  d.  i.  covered,  z.  B. 
embossed  with  arms.  Diese  Bedeutung,  ohnehin,  wie  ich  glaube,  nur 
der  vorshakspere'sehen  Zeit  angehörig,  passt  bestimmt  nicht  für  unsre 
Stelle.  Nimmt  man  auf  Shakspere's  Gebrauch  Rücksicht,  so  würde 
auch  an  unsrer  Stelle  embossed  heissen  in-itated,  incitated  oder  tumefied 


Uebersetzung  Shakspere's.  317 

with  pride.  Aber  was  soll  hier  diese  Bedeutung?  Das  Alles  liegt 
einigermassen  schon  in  Bertram's  Worten :  this  that  so  seriously  he  does 
address  liimself  unto.  Und  warum  ist  almost  hinzugesetzt?  Die  Natur 
des  Wortes  embossed  in  dieser  Bedeutung  gestattet  die  Beschränkung 
durch  almost  kaum;  es  will  nicht  recht  passen:  wir  haben  ihn  beinahe 
schon  in  Hitze  oder  Harnisch  gebraclit,  besonders  wenn  der  Graf,  wel- 
cher von  Parolles'  Verhalten  in  Kenntniss  gesetzt  Averden  soll,  selbst 
schon  gesagt  hat ,  dass  derselbe  so  ernstlich  darauf  bedacht  ist ,  sein 
Unternehmen  auszuführen.  Zudem,  dass  er  embossed  oder  gebläht  ist 
zu  seinem  Unternehmen ,  die  Trommel  Aviederzuholen ,  bringt  allein 
seinen  Fall  noch  niclit  zu  Wege;  denn  er  kann  ja  innner,  wie  auch  der 
erste  Lord  sagt,  mit  einer  Lüge  im  INIunde  wiederkehren ;  so  ein  Barsch 
wie  Parolles  musste  ,,attrapirt"  werden ,  wenn  er  zu  Fall  gebracht 
werden  soll.  —  Aber  die  von  JSteevens  hier  angenommene  Bedeutung 
passt  ebenfalls  nicht  hierher ;  denn  matt  gehetzt  ist  Parolles  nicht,  auch 
noch  nicht  beinahe;  denn  die  Hetzjagd  soll  erst  beginnen.  Von  einem 
Fuchs,  den  man  zu  Tode  hetzen  will,  auch  wenn  man  schon  die  Vor- 
bereitungen dazu  tritft,  kann  man  nicht  sagen :  we  have  almost  emboss'd 
him,  sondern  man  muss  sagen:  he  will  soon  enough  be  embossed,  we 
shall  have  him  soon  enough  embossed.  Die  einzige  Bedeutung ,  die 
noch  übrig  bleibt ,  ist  also  embossed  =  enclosed ,  welche  freilich  Stee- 
vens  für  nachshakspere'sch  hält.  Alan  müsste  dann  mit  Johnson  an  das 
Bild  des  von  dem  Jäger  umstellten  Wildes  denken ;  vorausgesetzt,  dass 
ein  solcher  Gebrauch  in  dem  Worte  ehibossed  =  enclosed  liegen  könne: 
denn  das  von  ihm  aus  Milton  angeführte  Beispiel  führt  wenig  dahin. 
Sieht  man  aber  auf  die  übrigen  Ausdrücke,  so  ist  deutlich,  dass  nicht 
von  einem  Umstellen  des  Wildes ,  sondern  von  dem  Fangen  desselben 
in  einer  Falle  die  Kede  ist.  „I  with  a  troop  of  Florentines,"  sagt  der 
erste  Lord,  „will  suddenly  surprise  him ;  such  I  will  have,  Avhom,  I  am 
sure,  he  knows  not  from  the  enemy.  We  will  bind  and  hoodwink 
him  etc."  Auf  diese  Vorbereitungen  sich  zurückbeziehend ,  sagt  der- 
selbe: „I  must  go  look  my  twigs  (gewöhnlicher  wäre  wohl  to  my 
twigs;  und  er  meint  offenbar  lime-twigs)  ;  he  must  be  caught."  Und 
nachher ,  als  er  entlarvt  worden  ist ,  sagt  Parolles  selbst :  „Yet ,  who 
"would  have  suspected  an  a  m  b  u  s  h  ,  where  I  was  ta k  en  ?"  Man  möchte 
also  denken:  „Warum  lesen  wir  nicht  an  unsrer  Stelle  statt  embossed 
lieber  ambushed  d.  i.  entrapped ,  taken  in  an  ambush ,  oder  doch :  we 
have   almost   an  ambush  ready  for  him?"  Das  Schlimme  ist  nur,   dass 

Arcliiv  f.  n.  Sprachen.  XXIII.  21 


318  .  Zur  Kritik,  Erkliirung  und 

to  ambush  diese  Bedeutung  gar  nicht  hat,  sondei'n  immer  heisst,  in  den 
Hinterhalt  legen.  Auch  ist  es  meine  Meinung  keineswegs,  durch  diese 
Conjectur  Shakspere  ein  Wort  in  einer  ganz  neuen  und  von  der  ge- 
wöhnlichen völlig  abweichenden  Bedeutung  zu  oetroyiren.  Sondern  es 
erwächst  nun  die  Aufgabe  für  die  Erklärer,  durch  Stellen  älterer  Schrift- 
steller nachzuweisen,  dass,  Avie  ambushed  derjenige  ist,  der  in  einen 
Hinterhalt  gelegt  worden  ist ,  cnibossed  dagegen  denjenigen  bezeichnet, 
dem  ein  Hinterhalt  gelegt  worden  ist :  —  eine  Bedeutung,  die  an  unsrer 
Stelle,  wie  ich  gezeigt  habe,  nothvvendig  ist.  Die  blosse  Versicherung, 
auch  eines  Engländers,  dass  dies  der  Fall  sei,  genügt  bei  einem  Worte, 
Avelches  in  dieser  und  ähnlichen  Bedeutungen  längst  ausser  Gebrauch 
gekommen  ist,  nicht;  eine  Parallelstelle  müsste  die  Gewissheit  ver- 
schaffen, dass  man  das  Wort  in  dem  hier  durchaus  erforderlichen  Sinne 
auffassen  dürfe.  Finden  sich  solche  Stellen  nicht ,  so  bleibt  das  Wort 
emboss'd  hier  verdächtig. 

15)  King  John  III,  1. 

It   is  religion  tliat  dotb  make  vows  kept; 
But  thou  hast  sworn  against  religion, 
By  what  tbou  swear'&t  against  the  thing  thou  swear'st 
And  mak"st  an  oath  the  surety  for  thy  truth 
•  Against  an  oath :  The  truth,  thou  art  uasure 
To  swear,  swears  only  not  to  be  forsworn; 
Else  what  a  mockery  should  it  be  to  swear! 
•  But  thou  dost  swear  only  to  be  forsworn; 

And  most  forsworn,  to  keep  what  thou  dost  swear. 

Zum  sechsten  dieser  Verse  sagt  in  der  62.  Anmerkung  Delius  (dessen 
Lesart  ich  oben  angegeben  habe):  „to  swear  ist  ^  schwören,  beschwö- 
ren, und  =  schwören  lassen,  eidlieh  verpflichten.  Der  Sinn  der  Stelle 
ist  also:  die  Wahrheit,  von  der  du  nicht  gewiss  bist,  dass  du  sie  als 
solche  beschwörst ,  verpflichtet  dich  eidlich  nur  so  weit  und  insofern, 
dass  du  keinen  Meineid  thust.  —  Malone  las  swear  only  und  construirte 
demnach:  thou  art  unsure  to  swear  the  truth,  swear  (Imperativ)  only 
not  to  be  forsworn.  Damit  würde  aber  der  in  den  folgenden  Versen 
fortgeführte  Gedankengang  unterbrochen."  —  Dass  to  swear  sollte 
factitiv  gebraucht  worden  sein ,  das  wäre  eben  nichts  Seltenes ;  man 
sagt  ja  so  oft  jto  swear  one  Jemanden  schwören  lassen,  einem  einen 
Eid  abnehmen;  to  be  sworn  durch  einen  Eid  verpflichtet  sein;  K. 
John  IV,  1.  yet  am  I  sworn,  and  I  did  purpose,  boy,  with  this  same 


Uebersctzung  Sliakspere's.  319 

very  ivon  to  burn  theni  out.  Gleichwohl  lassen  sich  gegen  Dclius' 
Erklärung  beträchtliche  Bedenken  vorbringen.  Einmal  bleibt  es  auf- 
follcntl,  dass,  während  zu  dem  so  oft  in  den  obigen  Worten  vorkom- 
menden Zeitwort  to  SAvcar  überall  sonst  Philip  als  Subject  dient ,  bei 
diesem  swears  aber  mit  einem  Male  the  truth  Subject  wird.  Sodann 
nimmt  Delius  ohne  Weiteros  an,  dass  „schwören  lassen"  (einen  Eid 
abnehmen)  immer  mit  „eidlich  vorpflichten''  gleichbedeutend  sei.  Dies 
ist  aber  nicht  der  Fall.  Denn  „eidlich  verpflichten"  heisst:  1)  einen 
Eid  abnehmen;  2)  in  Folge  eines  Eides  zu  etwas  nöthigen.  „Schwö- 
ren lassen"  hat  nur  die  erste  Bedeutung.  Jene  erste  Bedeutung  kann 
nur  Personen,  die  zweite  nur  Sachen  zum  Subject  haben.  Und  weil 
„schwören"  lassen  nur  die  eine  Bedeutung  von  ,, eidlich  verpflichten" 
hat,  so  kann  man  zwar  statt  „schwören  lassen"  stets  „eidlich  verpflich- 
ten", statt  ,, eidlich  verpflichten"  nicht  immer  ., schwören  lassen"  sagen. 
Ich  kann  für:  „Ich  verpflichte  Jemanden  eidlich"  auch  sagen:  ,,Ich 
lasse  ihn  schwören";  aber  statt:  „Ein  Versprechen  verpflichtet  ihn 
eidlich"  nicht  auch :  „Das  Versprechen  lässt  ihn  schwören".  In  Folge 
dieses  Irrthums  über  die  beiden  deutschen  Verba,  der  sie  ihn  beide 
durcheinderwerfen  liess ,  ist  Delius  dazu  gekommen ,  dem  Zeitwort  to 
swear,  das  nur  ,, schwören  lassen"  heissen  kann,  auch  die  Bedeutung: 
,,iu  Folge  eines  Eides  zu  Etwas  nöthigen"  oder  schlechthin  von  „to 
oblige"  zu  geben,  und  eine  Sache  zum  Subject  desselben  zu  machen, 
die  nie  Subject  zu  demselben  sein  kann.  Somit  muss  man  Malone's 
Verbesserung  annehmen ,  gegen  welche  Delius  Einwendungen  erhebt, 
die  ganz  ungerechtfertigt  sind.  Denn  Malone  construirt  so  nicht,  wie 
Delius  ihn  construiren  lässt,  sondemi:  the  truth,  which  thou  art  unsure 
to  swear,  swear  only  not  to  be  forsworn ;  so  dass  the  truth  Object  von 
dem  Imperativ  swear  ist,  der  seinerseits  sagen  will :  thou  shouldst  swear. 
Und  da  auf  diese  Weise  der  Satz  genau  den  Sinn  bekommt,  den  Delius 
aus  seiner  Lesart  herauslesen  möchte,  so  ist  klar,  dass  von  einer  Unter- 
brechung des  Gedankenganges  nicht  mehr  bei  jener,  als  bei  dieser  die 
Rede  sein  kann.  Uebrigens  ist  swear  only  keine  Aenderung  von  Ma- 
lone; Warburton,  .Johnson  etc.  haben  nicht  anders  gelesen.  Woher 
die  Lesart    stammt,   habe   ich  nicht  aufßnden  können. 

IG)  Romeo  and  Juliet  III,   4  gegen  Ende,  sagt  die  Amme: 

Romeo 
Is  banishcd;  and  idl  the  world  to  nothing 
Tbat  he  dares  ne'er  come  back  to  challenge  you; 

21* 


320  Zur  Ki-itik,  Erklärung  und 

Or,  if  he  do,  it  needs  must  be  by  stealth. 

Then,  since  the  case  so  Stands  as  now  it  doth, 

I  think  it  best  you  married  with  the  county. 

O,  he's  a  lovely  gentleman! 

Romeo's  a  dishclout  to  him;  an  eagle,  madani, 

Hath  not  so  green,  so  quick,  so  fair  an  eye, 

As  Paris  hath.     ßeshrew  my  very  heart, 

I  think  you  are  happy  in  this  second  match, 

For  it  excels  your  first:  or  if  it  did  not, 

Your  first  is  dead;  or  'twere  as  good  he  were, 

As  living  here,  and  you  no  use  of  him. 

In  dem  letzten  Verse  erklärt  Delius  (nach  Johnson:  ,,in  this  world"): 
„living  here  lebendig  hier  auf  Erden."  —  Dass  here  das  heissen  könne, 
ist  gar  keine  Frage;  ob  es  an  dieser  Stelle  so  gesagt  werden  durfte,  ist 
sehr  fraglich.  Der  Gegensatz  von  to  be  dead  ist  einfach  to  live;  to  be 
on  earth  oder  to  live  here  ist  der  Gegensatz  von  to  be  in  heaven ,  to 
live  in  eternal  life.  Folglich  bringt  here,  wenn  es  die  Bedeutung  on 
earth  hat ,  eine  Beziehung  hinein ,  welche  in  diese  Stelle  nicht  gehört, 
und  die  selbst  dann  auch  nicht  hierhergehören  würde ,  wenn  man  an- 
nehmen wollte,  dass  die  Amme  mit  diestm  Worte  eine  Zuriickbeziehung 
mache  auf  Juliet's  Aeusserung 

My  husband  is  on  earth,  my  faith  in  heaven. 

Zudem  ist  der  Sinn  der  Amme  so  wenig  metaphysisch,  dass  solche  Ge- 
gensätze von  irdischem  und  himmlischem  Leben ,  auch  in  der  vorüber- 
gehendsten Anspielung,  ihr  durchaus  fremd  sind.  Das  Wort  here  ist 
also  überflüssig.  Aber  es  ist  ausserdem  zweideutig,  da  es  leicht  Jemand 
in  seiner  eigentlichen  Bedeutung  in  this  place  nehmen  könnte;  und 
dann  sagt  die  Amme  etwas  Falsches ,  da  Romeo  eben  nicht  an  dem- 
selben Orte  mit  Juliet  lebt,  sondern  aus  Verona  verbannt  ist.  Und 
diese  Erwähnung  der  Verbannung,  oder  doch  der  Entfernung,  welche 
der  Amme  nothwendig  im  Sinn  liegen  muss,  fehlt,  so  wie  die  Worte 
jetzt  lauten,  gänzlich.  Deshalb  conjicirte  Hanmer,  auf  halbem  Wege 
stehen  bleibend,  hence  statt  here.  Und  was  soll  endlich  der  construc- 
tionslose  Schluss  and  you  no  use  of  him?  Man  müsste  sich  doch  having 
dazu  ergänzen ,  and  you  having  no  use  of  him ;  eine  Auslassung,  die 
selbst  für  die  Sprache  der  Amme  zu  hart  ist.  Sie  spricht  überhaupt 
sonst  nirgends  elliptisch :  und  naturgemäss  lässt  Shakspere  wohl  den 
gedankenvollen  Tiefsinn,   aber  nicht  die  flache  Geschwätzigkeit  sich  in 


Ucberse t  zu  11  g  Sh;iks[)ore's.  321 

Ellipsen  ergehen.  Diese  und  alle  anderen  Schwierigkeiten  fallen  so- 
gleich fort,  sobald  man  liest : 

As  living  where  von  have  no  use  of  him 
Eu"r  erster  Mann  ist  todt,  —  so  gut  als  todt, 
D;i  dort  er  lebt,  wo  llir  ihn  nicht  geniesst. 

Die  Aenderung  ist  jedoch  zu  beträchtlich.  Vergleicht  man  mit  dersel- 
ben die  gewöhnliche  Lesart,  die  mir  verdächtig  ist,  so  wird  man  darauf 
geführt,  dass  Shakspere  hier  geschrieben   haben  möchte: 

As  living  where  have  you  no  nsc  of  him. 
Yöu   hat  sollen  betont  Averden ;    darum  hat  es  der  Dichter  in  die  Arsis 
gebracht ;  die  Amme  will  sagen  : 

Lebt  er,  wo  Ihr  doch  seiner  nicht  geniesst; 
oder,  um  es  deutlicher  auszusprechen :  as  living  where  another  lady  — 
not  you  —  has  all  use  of  him  :  worin  zugleich  eine  für  die  Amme  so- 
wohl, als  für  den  Fall  selbst  sehr  natürliche  Insinuation  liegt.  Dann 
aber  Uisst  sich  leicht  erklären,  wie,  nachdem  have,  vielleicht  in  einer 
Abkürzung,  für  and  gelesen  worden  war,  where  in  here  übergehen 
musste. 

Dass  der  Betonung  wegen  das  Pronomen,  um  in  die  Arsis  zu  kom- 
men, hinter  das  Verbum  tritt,  zeigt  unter  hundert  andern  Stellen  King 
John  n,  2. 

And  two  such  shores  to  two  such  streanis,  made  one, 
Two   such  Controlling  bounds  shall  you  be,  kings, 
To  these  two  princes,  if  you  marry  them. 

In  Relativsätzen  allerdings  ist ,  der  Verwechselung  mit  Interrogativ- 
sätzen wegen,  die  Stellung  des  Subjects  hinter  dem  Zeitwort  seltner: 
aber  sie  kommt  doch  vor;  Macbeth  V,  7. 

Hail,  king,  for  so  thou  art.     Behold  where  Stands 
The  usurpcr's  cursed  head. 

Tempest  IV,    1. 

Thy  turfy  mountains  where  live  nibbling  sheep. 
"Wer  aber  zweifeln   sollte,  dass   auch  dem  Pronomen   in  Relativsätzen 
(oder  was   in   diesem  Falle  dasselbe  ist,   in   abhängigen  Sätzen)  diese 
Stellung    gegeben  worden    sei ,     der    vergleiche    AU's    well    that    ends 
well  III,  4. 

That  bare-foot  plod  I  the  cold  ground  upon. 


322  Zur  Kritik,  Erklärung  und 

Love's  labour's  lost  I,  1, 

Study  me  how  to  please  the  eye  indeed, 
By  fixing  it  upon  a  fairer  eye; 
AVho  dazzling  so,  that  eye  shall  be  his  heed, 
And  give  him  light  that  was  it  blinde d  by. 

Wenn  in  diesen  Stellen,  in  welchen  für  die  Umstellung  kaum  ein  Grund 
vorhanden  ist,  das  Pronomen  hinter  das  Zeitwort  treten  konnte,  um  wie 
viel  eher  konnte  es  in  der  obigen  Stelle  geschehon,  wo  die  Umstellung 
bewirkte,  dass  das  Pronomen  in  die  der  ausdrucksvollen  Betonung 
günstigste  Stelle  kam.  Wem  aber  durch  die  angeffihrten  Stellen  die 
Stellung  des  Pronomens  noch  nicht  gerechtfertigt  erscheint,  mag  die 
andre  Fassung  vorziehen.  Die  alte  Lesart  dagegen  mag  behalten  und 
sich,  so  gut  er  kann,  erklären,  wer  mit  einem  Sinn  zufrieden  ist,  der 
auffallend  nahe  an  dem  Nichtsinn  vorbeislreift. 
17)  King  John  IV,  1. 

And  with  my  band  at  midnight  held  your  bead 
And,  like  the  watchful  minutes  to  the  hour, 
Still  and  anon  chcer'd  up  the  beavy  tinie 
Saying,  What  lack  you?  and  AVhere  lies  your  grief 
Or,  What  good  love  may  I  perform  for  you? 

Hier  bemerkt  zu  den  Worten  like  the  watchful  minutes  to  the  hour, 
Delius:  „Wie  die  Minuten,  die  in  ihrer  steten  Aufeinanderfolge  immer 
wachsam  sind,  die  Stunde  hinhalten,  so  hielt  Arthur  immer  wieder  und 
von  Neuem  die  Zeit  hin,  die  dem  kranken  Plubert  so  schwer  verstrich.  — 
Vielleicht  construirte  Shakspere  aber  minutes  watchful  to  the  hour."  — 
Wenn  Shakspere  so  hätte  construiren  wollen,  so  hätte  er  auch  die  Wör- 
ter so  gestellt,  besonders  da  der  Vers,  es  zu  thun ,  ihn  durchaus  nicht 
hinderte.  Man  sieht  aus  der  Doppelerklärung,  dass  Delius  in  der  Auf- 
fassung der  Stelle  gänzlich  unsicher  war.  JNIit  Recht  muss  er  bei  der 
ersten  Erklärung ,  die  er  gab ,  sich  gefragt  haben  ,  und  muss  sich  ein 
Jeder  fragen:  Wie  kommt  die  Präposition  to  dazu,  das  auszudrücken, 
was  in  der  obigen  Erklärung  durch  hinhalten  wiedergegeben  ist  und 
was,  beiläufig  gesagt,  durch  hinhalten  sehr  schlecht  ausgedrückt  ist 
und  durch  auflieitern  viel  besser  wäre  ausgedrückt  worden  ?  Man  nehme 
an,  es  stände  in  dem  obigen  Verse 

And,  as  the  watchful  minutes  do  the  hour; 
alsdann  würde  das  Zeitwort  to  do,  wie  das  so  oft  der  Fall  ist,  die  Wie- 
derholung   des   gewöhnlich   vorangehenden,    hier  erst  noch   folgenden, 


Uc'b  ersetz ung  8  Ijuksperc's.  3'i3 

eigentlichen  Zeitworts  des  Salzes  ersetzen ,  welches  in  unsrer  Stelle  to 
cheer  up  ist.  Dass  ein  erst  noch  folgendes  Zeitwort  durch  to  do  ver- 
treten wird,  kann  allerdings  nur  in  einem  Nebensatze  vorkonnnen,  der 
zum  Hauptsätze,  auch  wenn  er  vorangeht,  doch,  seiner  Natur  nach,  als 
nebenherlaufend  und  begleitend  gedaclit  wird.  Vollständig  sagt,  unter 
jener  Voraussetzung,  Arthur:  And  in  thoif  sanie  manncr  in  wliich  the 
watchful  niinutes  cheer  up  the  heavy  tinie,  I  still  and  anon  cheer'd  up 
the  heavy  tinic.  Wie  die  immer  Avachen  JMinuten  durch  ihr  unablässi- 
ges Tiktak  die  (dem  Einsamen)  schwerfällig  vergehende  Stunde  auf- 
heitern und  beleben  luid  ihr  Verlaufen  leichter  erscheinen  lassen :  — 
nebenbei  verdient  es  wohl  bemerkt  zu  werden,  dass  ein  passenderes  Bild 
von  einem  Gefangenen  nicht  gewählt  werden  konnte;  —  so  erheiterten 
meine  von  Minute  zu  iMinute  erfolgenden  Fragen  Euch  bei  Eurer  Krank- 
heit die  schwere  Zeit  und  Hessen  Euch  das  Vergehen  derselben  weniger 
beschwerlich  und  langweilig  erscheinen.  Es  ist  aber  nicht  statthaft  zu 
vermuthen,  dass  Shakspcre  geschrieben  haben  könnte 

And  like  the  watchful  minutes  do  the  hour; 
denn  like,  als  wesentlich  dem  zusammengezogenen  Satze  angehörig, 
kommt  niemals  mit  einem  Zeitwort  vor.  Es  ist  auch  durchaus  über- 
flüssig, irgend  etwas  zu  ändern.  Denn  to,  ,,im  Verhältniss  zu"  oder 
„gegenüber"  leistet  genau  denselben  Dienst,  den  das  Zeitwort  to  do  in 
Vertretung  eines  andern  Zeitworts  verrichtet;  K.  John  IV,  2. 

And  like  a  shifted  wind  unto  a  sail, 

It  makes  the  com-se  of  thoiights  to  fetch  about. 

d.  h.  And  as  a  shifted  wind  makes  a  sail  to  fetch  about,  so  it  makes 
the  course  of  thoughts  to  fetch  about;  wofür  auch  kürzer  hätte  gesagt 
werden  können:  as  a  shifted  wind  does  a  sail,  it  makes  the  course  of 
thoughts  (to)  fetch  about.      Taming  of  the  shrew  II,   1. 

Thongh  little  fire  grows  great  with  little  wind, 
Yet  extreme  gusts  will  blow  out  fire  and  all: 
So  I  to  her. 

d.  h.  So  I  (an  extreme  gust)  will  blow  out  her  (who  is,  as  it  were,  a 
fire).  As  you  like  it,  IV.  3.  why,  she  defies  me ,  like  Turk  to  Chri- 
stian i.  e.  as  a  Turk  does  a  Christian.  Die  Berücksichtigung  dieses 
Sprachgebrauchs  hätte  der  ersten  Erklärung  von  Delius  die  ihr  fehlende 
Stütze  gegeben  und  hätte  ihn  davor  bewahren  müssen,  zu  vermuthen, 
es  wäre  to  the  hour  mit  watchful  in  Verbinduncr  zu  setzen.    Diese  Ver- 


324  Zur  Kritik,  Erklär uiig  und 

keiinung  der  Function  des  Wortes  to  in  iinsror  Stelle  ist  bei  Delius  um 
so   auffallender,   da  er   in  der  zweiten  Scene  desselben  Acts  von  King 
John  die  Präposition  unto  ganz  richtig  erklärt. 
18)  Tenipest  I,  2. 

Abborred  slave, 
Whicb  any  print  of  goodness  will  not  take. 

Es  ist  gar  keine  Frage,  dass  which  hier  Subject,  any  print  Object  ist. 
"Wenn  will  richtig  sein  soll,  muss  man  annehmen,  dass  Prospero  diese 
Worte  beiseit  spricht ;  und  abhorred  slave  nicht  Anrede  an  Caliban  ist. 
Dem  aber  widerspricht  die  Auslassung  des  Artikel  an;  an  abhorred 
slave  müsste  es  doch  wolil  heissen,  wenn  Prospero  diese  Worte  für 
sich  sagte.  Wenigstens  so  immer  in  demselben  >Stück,  11,  2.  a  most 
seurvy  monster;  an  abominable  monster;  a  most  ridiculous  monster; 
Two  gentlemen  of  Verona  III ,  1.  An  unmannerly  slave,  that  will 
thrust  himself  into  secrets  !  u.  s.  w.  Warum  nicht  auch  hier  an  abhorred 
slave,  noch  dazu,  da  der  Vers  es  gestattete?  Dazu  kommt  noch,  dass 
Prospero  schwerlich  Veranlassung  hatte ,  was  er  gewiss  schon  so  oft 
beim  Anblick  Caliban's  gedacht  hatte,  jetzt  für  ^ich  zu  wiederholen: 
Sinn  und  Zweck  und  Wirkung  hatten  die  Worte  nur,  wenn  sie  an  Ca- 
liban gerichtet  wurden.  Und  dass  sie  an  Caliban  gerichtet  wurden, 
beweist  Alles ,  was  vorhergeht,  Alles,  was  nachfolgt :  vorher :  Thou 
most  lying  slave;  —  I  have  used  thee,  Filth  as  thou  art,  with  human 
care;  and  lodged  thee  —  tili  thou  didst  seek  — ;  und  unmittelbar  nach- 
her: I  pitied  thee,  Took  pains  to  make  thee  speak  etc.  Wenn  aber 
hierdurch  festgestellt  ist,  dass  die  Worte  abhorred  slave  zu  Caliban  ge- 
sprochen werden,  so  sehe  ich  nicht  ein,-- wie  es  anders  als  wilt  heissen 
kann.  Wenigstens  hat  Shakspere  nie  anders  geschrieben,  als  dass  er 
hinter  dem  Relativum  die  Person  des  Zeitworts  hat  folgen  lassen,  wel- 
cher das  vorhergehende  (oder  hinzuzudenkende)  Personalpronomen  an- 
gehört. 
Macbeth  I,  5. 

Hail,  king  that  sbalt  be. 
King  Lear  I,   1. 

Fairest  Cordeha,  that  art  most  rieh,  being  poor. 
King  Lear  IV,  2. 

Milk-liver'd  man, 
That  bear'st  a  cheek  for  blows. 


Ucbcrsctzung  bluikspcre's.  325 

Richard  II.,  IV. 

Make  me,  that  notliiiig  liavo,  witli  nolhiiig  grieved. 

K.  Henry  VI.,  I.  p.  IV.,  5. 

Flight  cannot  stain  tlie  honour  you  havc  won 
But  niine  it  will,  that  no  exi)Ioit  havc  douu. 

King  Henry  VI.,  III.  p.  I,  1. 

Ilad  I  been  therc  wliich  am  a  .silly  woman. 

Ritliard  III.,  I,  2. 

O  God,  which  this  blood  mad'st,  rovenge  his  death! 

0  earth,  which  this  blood  drink'st,  revenge  his  death! 

Ibid. 

For  doing  worthy  vengeance  cm  thyself, 
That  didst  unwortby  slaughter  upon  others. 

Und  so  immer.  "Wenn  also  die  sonst  überall  gültigen  Grundsätze  der 
Kritik  auch  bei  der  Herausgabe  Shaksperc's  zur  Anwendung  kommen 
müssen,  so  muss  der  T  strich,  den  ein  unachtsamer  Drucker  dem  letzten 
1  entzogen  hat,  ihm  und  Shakspcre  zurückgegeben  werden.  Redden- 
dum  Caesari  quod  est  Caesaris.  Das  ihm  dadurch  wieder  verschaffte 
Eigenthum  ist  nicht  bedeutend ;  auch  handelt  es  sich  weniger  um  die- 
ses, als  darum,  ob  man  einem  Buchdruckerburschen  mehr  zu  glauben 
hat,  als  »Shakspere  tmd  der  Vernunft. 

19)  King  John  V,  2  sagt  der  Bastard 

B)'  all  the  blood,  that  ever  fury  breath'd, 
The  youth  says  well. 

Schlegel  übersetzt : 

Bei  allem  Blut,  das  je  die  Wuth  gehaucht, 
Der  junge  Mann  spricht  wohl. 

Ganz  unverständlich  für  einen  Jeden,  der  nicht  mit  der  blossen  Ahnung 
dessen,  was  Avohl  hätte  gemeint  sein  können,  zufrieden  gestellt  ist;  eine 
von  den  Uebersetzungsweisen ,  von  denen  man  mit  Desdemona  sagen 
könnte : 

"What  doth  your  si)ecch  import? 

1  understand  the  fury  in  your  words, 
.  But  not  your  words. 

Man  merkt,  es  soll  etwas  recht  Wüthiges  gesagt  werden,  aber  man  weiss 
nicht  was.  Bei  keinem  Herausgeber  habe  ich  etwas  über  diese  Zeile 
gefunden;  und  doch  ist  es  leicht  möglich,   dass  sie  dieselbe  nicht  alle 


326  Zur  Kritik,  Erklärung  und 

auf  gleiche  Weise  verstanden,  oder,  wenn  das,  fraglich,  ob  sie  dieselbe 
richtig  aufgefasst  haben. 

Vor  Allem  hat  man  sich ,  um  zu  einer  sichern  Erklärung  zu  ge- 
langen, deutlich  zu  machen,  ob  fury  Object  oder  Subject  ist. 

Das  Nächstliegende  ist,  fury  als  Object  zu  Aassen,  und  dann  würde, 
to  breathe  fury  so  gesagt  sein,  wie  das  so  oft,  selbst  im  gewöhnlichen 
Leben  gebrauchte  lo  breathe  vengeance,  ne  respirer  que  vengeance,  ne 
respirer  que  fureur  etc.  Dass  das  Object  bei  dem  Dichter  auch  in  einem 
Relativsatze,  in  welchem  das  Relativum  Nominativ  ist,  dem  Zeitwort 
vorangeht  (von  den  Fällen,  in  welchen  es  zwischen  Hülfszeitwort  und 
Participium  oder  Infinitiv  steht,  spreche  ich  nicht),  dafür  finden  sich 
allerdings  weniger  Beispiele,  als  für  das  Vorangehen  des  Objects  in  an- 
dern Sätzen;  aber  doch  genug.  So,  ausser  dem  in  der  vorigen  Num- 
mer behandelten  Verse  des  Sturms  und  den  drei  andern  dort  aus  Rieh.  II. 
und  Rieh.  III.  angeführten  Stellen,  Timon  of  Athens  V,  5. 

Here  He  I,  Timon,  who,  alive,  all  living  men  did  hate. 
Hamlet  n,  2. 

Who  this  had  seen,  with  tongue  in  venom  steep'd, 
'Gainst  fortune's  state  would  treason  have  pronounc'd. 

Hamlet  IH,  3. 

The  instances  that  second  marriage  move, 
Are  base  respects  of  thrift,  but  none  of  love. 

As  you  like  it  III,  2. 

And  thou,  thrice-crowned  queen  of  night,  survey 
With  thy  chaste  eye,  from  thy  pale  sphere  above, 
Thy  huntress'  name,  that  my  füll  llfe  doth  sway. 

Troilus  and  Cressida  V,  2. 

discourse, 
That  cause  sets  up  with  and  against  itself. 

Ibid. 

Within  my  soul  there  doth  commence  a  fight 
Of  this  stränge  nature,  that  a  thing  inseparate 
Divides  more  wider,  than  the  sky  and  earth. 

Othello  I,  3. 

And  of  the  Cannibals  that  each  other  eat. 

Ibid. 

He  bears  the  sentence  well,  that  nothing  bears 
But  the  free  comfort,  which  from  thence  he  bears. 


Uebersetzung  Shaksperc's.  327 

Tim.  Ol"  Atli.   IV,  2. 

To  have  liis  ponip  and  all  wluit  slate  Compounds. 

K.  Rieh.  III.,  IV,  4. 

My  damned  soii  that  thy  two  swect  sons  smother"d. 

Äleich.  of  Ven.  II,  7. 

Avhich  this  proniisc  carries  — 
wlio  tlils  insci'iption  bears  — 
Sonie  thero  be  that  shadows  kiss. 

lind  ausserdem  noch  au  einigen  andern  Stellen.  Der  Grund,  weshalb 
die  ausgebildctere  und  sorgfältigere  Sprache  sich  dieser  Ausdrucksweise 
—  mit  Ausnahme  mancher  noch  jetzt  in  der  Poesie  gestatteter  Wen- 
dungen —  enthielt,  ist  derselbe,  der  den  Römern  im  accusativus  cum 
infinitivo  zwei  Aceusative  verwehrte:  die  dadurch  entstehende  Zweideu- 
tigkeit. Shakspere  selbst  stellt  diesen  Vergleich  an  und  belehrt  über 
diesen  Punkt  der  Grammatik.  Im  II.  Tlieile  von  Henry  VI.  liest  der 
Herzog  von  York  die  Weissagung,  welche  der  Beschwörer  Bolingbroke 
dem  aufgerufenen  Geist  in  den  Mund  gelegt  hat : 

The  duke  yet  lives,  that  Henry  shall  depose, 
But  him  outlive  and  die  a  violent  death ; 

und  dazu  bemerkt  der  Herzog  von  York: 

Why,  this  is  just: 

Ajo  te,  Aeacida,  Romanos  vincere  posse. 

Wenn  also  dergleichen  Beispiele ,  wo  dem  Relativum ,  als  Subject,  das 
Objoct  unmittelbar  und  noch  vor  dem  Verbum  folgt,  nicht  allzuhäufig 
sind,  so  kommen  sie  doch  vor.  Sprachlich  lässt  sich  also  die  Auffassung 
von  fury  als  Object  rechtfertigen ;  und  solche  Zusammensetzungen,  wio 
lust-breathing,  Tarq.  and  Lucr.  1  etc.  sprechen  auch  noch  einigermasson 
dafür.  Hätte  Schlegel  die  Stelle  so  verstehen  wollen,  dann  hätte  er 
vor  dem  Substantivum  Wuth  den  Artikel  fortlassen  und  überhaupt  über- 
setzen müssen: 

Bei  allem  Blut,  das  jemals  \\'uth  geschnaubt. 

Aber  was  für  einen  Sinn  gibt,  selbst  bei  diesem,  deji  Mund  etwas  voll 
nehmenden  und  nicht  selten  (mit  völliger  Absichtlichkeit  Shakspere's) 
an  den  Bombast  mancher  älteren,  z.  B.  Marlow'scher  Stücke,  erinnern- 
den Bastard  Faulconbridge,  die  Redensart:  das  Blut  schnaubt  Wuth? 
Ich  sollte  meinen,  diese  Sprechweise:  ,,Wuth  schnauben"  könne  nur 
mit  Beziehung  auf  eine  Person,  nicht  aber  von  ihrem  Blut  gesagt  wer- 


328  Zur  Kritik,  l^^rkliirun  ü:  und 

den ;  und  eine  Prosopopöie  dieser  Art  sei  nicht  bloss  kühn  und  gesucht, 
sondern  gradezu  abenteuerlich.  Anzunehmen  aber,  dass  blood  hier, 
wie  in  dem  Ausdrucke  a  young  blood  füra  youth,  von  Personen 
gemeint  sei,  hindert  das  dabeistehende  Adjectivum  all. 

Nach  meiner  Ueberzeugung  darf  man  die  andre  Erklärungsweise 
nur  hören,  um  die  erstere  sogleich  zu  verwerfen ;  und  sie  entscheidet 
zugleich,  wie  ich  hoffe,  die  Frage,  in  welchem  Sinne  fury  aufgefasst 
Averden  muss.  Shakspere  hat  fury  als  Subject  gefasst.  Faulconbridge 
sagt:  Bei  allem  Blut,  das  jemals  eine  Furie  angehaucht  d.h.  entflammt 
hat,  Fury,  eine  Furie  steht  ohne  den  unbestimmten  Artikel,  der  be- 
kanntlich nach  ever,  wie  im  Französischen  nach  jamais,  de  ma  vie  etc., 
fortbleibt.  Der  Dichter  hat  ohne  Zweifel  eine  Stelle  Ovid's  in  den 
Metamorphosen  IV,  490  vor  Augen,  wo  es  heisst: 

Moustris  exterrita  conjux, 
Territus  est  Athamas:  tectoque  exire  parabant. 
Obstitit  infelix,  aditumque  obsedit  Erinnys. 
Nexaque  vipereis  distendens  brachia  nodis, 
Caesariem  excussit.     Motae  sonuere  colubrae: 
Parsque  jacens  humeris,  pars  circum  tempora  lapsae, 
Sibila  dant,  saniemque  vomimt,  linguasque  coruscant. 
Inde  duos  mediis  abrumpit  crinibus  angues; 
Pestiferaque  manu  raptos  immisit.     At  illi 
Inoosque  sinus  Athamanteosque  pererrant, 
Inspirantque  graves  animas;  nee  vulnera  membris 
Ulla  ferunt:  mens  est,  quae  diros  sentiat  ictus. 

und  nachher: 

Dumque  pavent  illi,  vertit  furiale  venenum 
Pectus  in  amboi'um  praecordiaqu^  intima  movit. 

Man  vergleiche  auch  Metam.  II,  800. 

Jussa  faclt;  pectusque  manu  ferrugine  tincta 
Tangit;  et  hamatis  praecordia  sentibus  imjilet 
Inspiratque  nocens  virus,  etc. 

Die  Schlangen  der  Tisiphone  zischen  bei  Ovid  und  hauchen  Zorn  in  die 
Brust  der  Ino  und  des  Athamas ;  die  Furie  selbst  giesst  ihr  Gift  der 
Raserei  in  ihr  innerstes  Herz,  also  in  ihr  Blut.  In  gleicher  Weise  ist 
hier  bei  Shakspere  von  Leuten  die  Rede,  deren  Blut  die  Furie  ange- 
haucht und  mit  Wuth  und  Zorn  entflammt  hat.  Und  ähnlich  sagt 
Shakspere  an  einer  andern  Stelle.     Henry  VI.,  III.  p.  I,  2. 

The  sight  of  any  of  the  house  of  York 
Is  as  a  fury  to  torment  my  soul. 


Uebersetzung  Shakspore's.  329 

Die  Furien  waren  die  beliebtesten  mythologischen  Figuren  für  Anspie- 
lungen uml  liildor  der  älteren  Bülmenstiioke ;  daher  logt  Shakspere  in 
Pistol's  Mund  die  "Worte,  K.  Henry  IV.,  II.  p.  V,   4. 

Rousc  up  revenge  froiu  ebon  den  witli  feil  AU'cto's  snake. 
und  eben  da,  3. 

Then,  Pistol,  lay  tliy  head  in  Furios'  lap. 
und  im  Midsummer-niglit's  dreani  lasst  er  Pyramus  ausrufen: 

Approach,  ye  furies  feil! 
Um   so  mehr  passt  die  Redensart  nach   der  obigen  Auslegung  in  den 
Mund  des  Bastards,  den  Shakspere  nicht  selten  an  den  braggardism  der 
älteren  Bühnenstücke  —  aber  mit  unvergleichlichem  Humor  —  anstrei- 
fen lässt.      Er  lässt  ilui  auch  selbst  cracker,  brabbler  u.  s.  w.  nennen. 

Aber  wie  kommt  das  Zeitwort  to  breathe  dazu,  die  Bedeutung  zu 
haben,  welche  in  der  eben  vorgetragenen  Erklärung  ihm  beigelegt  wor- 
den worden  ist  ?  Alan  denke,  es  stände  im  Texte : 

By  all  the  blood  that  evcr  fury  breath"d  on, 
und  Niemand  würde  gegen  den  Ausdruck  in  obigem  Sinne  irgend  etwas, 
wenn  auch  Jeder  sehr  viel  gegen  den  Vers,  einzuwenden  haben.      Die 
Präposition  hat  Shakspere,   wie  er  es  auch  in  andern  Redewendungen 
bisweilen  thut,  fortgelassen;  so  AU's  well  that  ends  well  HI,  6. 

I  must  go  lock  my  twigs;  he  shall  be  caught; 
statt  to  my  twigs.      Andre  Dichter   thun  dasselbe;  Milton:    Who  shall 
find  out  bis  uncouth  Avay  o'er  the  vast  abrupt,  ere  he  arrive  the  happy 
isle;  und  besonders  scheint  dieser  Gebrauch  häufig  gewesen  zu  sein  am 
Ende  der  relativen  Sätze;  wie  K.  John  III,  1. 

Bat  thou  hast  sworn  against  religion, 

ßy  wliat  thou  swear't-t  against  the  thing  ihou  swcar'st, 

d.  h.  against  tlie  thing  thou  swear'st  by  oder  which  tliou  SAvear'st  by. 
Die  Ellipse:  breath'd  für  breath'd  on  ist,  nach  meinem  Dafürhalten, 
nicht  auflTallender ,  als  die  nicht  den  geringsten  Anstoss  erregende  im 
Macbeth  I,  8. 

And  the  very  ports  tlicy  blow ; 
—  eine  Stelle,  die,  wenn  sie  relativ  gefasst  wäre  (the  very  ports  that 
oder  which  they  blow),  mit  der  unsrigen,  nach  meiner  Erklärung,  ganz 
parallel  liefe. 

Hätte  Schlegel  die  Stelle  so  verstanden,  wie  ich  eben  auseinander- 
gesetzt habe,  so  hätte  er  übersetzen  müssen : 


330  Zur  Kritik,  Erklürung  und 

\  Bei  allem  Blut,  das  Furien  je  entflammt. 

Er  durfte  nicht  sagen:  „die  Wiith",  denn  die  Wuth  ist  nicht  das  von 
Aussen  her  wirkende  Agens,  sondern  die  im  eignen  Innern  des  Men- 
schen hervorgebrachte  Gemüthsbewegung,  nicht  das  Hervorbringende, 
sondern  das  Hervorgebrachte.  Offenbar  hat  er  hier,  um  zu  verdecken, 
dass  er  sich  nicht  zu  entscheiden  Aveiss ,  ob  fury  Subject  oder  Object 
ist,  so  übersetzt,  dass  man  aus  seinen  Worten  das  Eine  wie  das  Andre 
beinahe  gleich  gut  —  oder  vielmehr  gleich  schlecht  —  herausnehmen 
kann:  gewiss  in  der  Absicht,  die  Möglichkeit  der  doppelten  Ausle- 
gung auch  seiner  Uebersetzung  zu  erhalten,  freilich  auf  eine  Weise,  die 
beide  Auslegungsarten  völlig  undeutlich  und  den  Sinn  unverständlich 
macht. 

Zu  diesen  Auslegungen  kommt  nun  noch  eine  dritte,  welche  ich 
nicht  vorenthalten  darf. 

Als  ich  die  obige  Auseinandersetzung  im  Verein  für  das  Studium 
der  neuern  Sprachen  gegeben  hatte,  ei'hielt  ich  von  Herrn  Prince-Smith 
ein  Schreiben,  aus  welchem  ich  die  hierhergehörige  Stelle  heraushebe: 

It  occurs  to  nie  that  we  have  in  English  an  obsolete  expression : 
,,to  breathe  a  vein"  —  to  bleed,  to  give  vent  to  a  vein. 

But  as  it  is  evidently  rathor  to  the  blood  than  to  the  vein ,  that 
vent  is  given ,  Shakepeare's  words,  yesterday  evening  discussed,  may 
perhaps  be  translated: 

,,Bei  allem  Blut,  das  Wuth  je  fliessen  liess." 

This  Interpretation  appears  to  me  to  be  quite  admissible ,  and  helps  us 
over  the  difficulty  of  regarding  „fury"  as  an  accusative  preceding  the 
verb  by  which  it  is  governed. 

Aus  meinem  Antwortschreiben  setze  ich  gleichfalls  die  betreffende 
Stelle  her. 

As  to  the  Interpretation  given  in  your  letter  to  the  passage  of 
K.  John  lately  discussed,  1  freely  confess,  that  I  cannot  yet  adopt  your 
opinion.  In  saying  to  breathe  a  vein,  or  to  give  vent  to  — ,  the  mean- 
ing  is  evidently  to  make  a  hole  in  —  (properly  for  the  purpose  of 
admitting  air ;  vent  =  hole,  Troil.  and  Cress.  V,  3.  Look  how  thy 
wounds  do  bleed  at  many  vents;)  and  I  do  not  know  in  what  manner 
a  hole  may  be  made  in  the  blood,  and  therefbre  suppose  that  no  one 
ever  has  said  ,,to  breathe  blood"  for  „to  let  blood". 


Uebersetzung  Sbakspere's.  331 

20)  King  John  III,  4. 

So,  by  a  roaring  tempest  on  tbe  flood, 

A  whole  armado  of  convicted  sail 

Is  scatter'd  and  disjoin'd  l'rom  fellowship. 

Dass  Shakspere  bei  einzelnen  Stellen  Ovid  vor  Augen  gehabt  hat,  habe 
ich  in  dem  vorigen  Abschnitt  angenommen.  Am  deutlichsten  zeigt 
es  sein  Tarquin  aiul  Lucrece,  welches  aus  den  Fastis  (II,  721  ilg.) 
erweitert  ist  und  in  welchem  manche  Ausdrücke,  Beschreibungen  und 
Vergleiche  Ovid's  sich  herauskennen  lassen.  Auch  verglichen  seine 
Zeitgenossen  Shakspere  gern  mit  diesem  römischen  Dichter.  Francis 
IMoore  in  seinem  ,,Palladis  Taniia ,  Wit's  Treasury:  being  the  second 
part  of  Wit's  Commonwealth,  London  1598"  —  ich  citire  aus  Delius' 
Vorrede  zu  King  John  —  sagt:  As  the  soule  of  Euphorbus  was  thought 
to  live  in  Pythagoras,  so  the  sweet  worthie  soule  ofOvid  lives  in  melli- 
fluous  and  hony-tongued  .Shakspeare;  witness  bis  Venus  and  Adonis, 
his  Lucrece,  bis  sugred  sonnets  among  bis  private  friends.  Mag  Shak- 
spere immerhin  nur  ,,for  some  tinie  the  free  grammar  school  of  his 
native  town"  besucht  haben,  und  mag  er  auch  hier  nur  das  wenige  La- 
tein, —  the  small  Latin,  wie  sein  Freund  Ben  Jonson  sagt  —  welches 
er  kannte,  habe  erlernen  können:  immerhin  lebte  er  in  einem  literarischen 
Jahrhundert  und  mit  Freunden,  welche  scholars  waren ;  aus  deren  Um- 
gang er  mit  den  poetischen  Werken  des  Alterthums  (in  Uebersetzungen) 
bekannt  werden  musste;  und  viele  Ausdrücke  und  Anspielungen  führe 
nicht  nur  auf  Ovid  und  Virgil,  sondern  auch  auf  andre  Dichter,  auf 
Homer,  vielleicht  sogar  auf  die  griechischen  Tragiker.  Oder  führt  etwa 
nicht  die  Strophe  in  Venus  und  Adonis 

At  ihis  Adonis  sniiles,  as  in  disdain, 
That  in  each  cheek  appcars  a  pretty  dlmple; 
Love  made  those  hollows,  if  himself  were  slain, 
Ilc  miglit  bc  buried  in  a  tomb  so  simple: 
Foreknowing  well,  if  tliere  he  came  to  He, 
AA'hy,  there  love  lived,  and  there  he  could  not  die. 
entweder  auf  Iloraz,  Od.  IV,   13,  5. 

nie  (Cupido)  virentis 
doctae  psallere  Chiac 
pulchris  cxcubat  in  gcnis; 
oder  auf  Sophocles,  Antig.  783. 
'Eqws  — 

OS  ev  fifü.ay.cäs  Tta^etaie 
7'epviSoi  tvi'v/^f-vEii  — ? 


332  Zur  Kritik,  Erklärung  und 

Denn  die  Vorstellung,  dass  Amor  auf  den  Wangen  (oder  in  den  AVan- 
gengrübclienj  eines  Mädchens  (oder  eines  Jünglings)  Wache  hält  (oder 
stirbt  und  wieder  auflebt),  ist  eine  so  eigentliümlich  antike  Spielerei, 
dass  sie  nur  auf  dem  Boden  des  Alterthums  erwachsen  sein  kann.  Der 
Nachweis  aller  Stellen ,  in  denen  Shakspere  etwas  von  den  Alten  ent- 
lehnt, würde  eine  interessante  Abhandlung  geben  und  könnte  allein  den 
hier  kurz  berührten  Gegenstand  erschöpfen. 

Dann  aber  würde ,  zusammen  verglichen  mit  der  Chronologie  der 
einzelnen  Stücke,  das  Ergebniss  einer  solchen  Untersuchung  hinwiederum 
einiges  Licht  verbreiten  können  über  Shakspere's  Bildungsgang.  Dass 
Shakspere  z,  B.  als  er  [Titus  Andronicus]  Two  gentlemen  of  Verona, 
den  II.  und  III.  Theil  von  Henry  VI.,  schrieb,  frisch  von  der  Leetüre 
von  Ovid's  Metamorphosen  und  Virgil's  Aeneis  kam,  beweist  wohl  der 
Umstand,  dass  in  diesen  Stücken  die  meisten  Anspielungen  auf  die 
Fabeln  oder  auf  Ausdrücke  jener  Gedichte  vorkommen;  es  beweist  es 
am  Ende  auch  wohl  der  Gebrauch  de&  immer  doch  nur  bei  den  Gebilde- 
teren üblichen  Worts  metamorphosed ,  welches  Shakspere  auffallender 
Weise  in  des  clown  Launce's  Mund  legt :  was  er  schon  in  jener  Zeit, 
wo  seine  Objectivität  sich  eben  glänzend  entwickelte,  schwerlich  gethan 
hätte,  wenn  Ovid's  Gedicht  es  ihm  selbst  gerade  damals  nicht  so  sehr 
geläufig  gemacht  hätte.  In  den  auf  die  obengenannten  Stücke  fol- 
genden Lust-  und  Trauerspielen  nehmen  die  Anspielungen  auf  die 
alten  Dichter  —  selbst  in  den  Dramen ,  in  denen  wegen  des  antiken 
Gegenstandes  dazu  wohl  Veranlassung  wäre  —  schnell  ab,  um  zu- 
letzt fast  ganz  zu  verschwinden ;  und  schon  zur  Zeit  der  Abfassung 
des  zweiten  Theils  von  Henry  IV.  konnte  er  sich  durch  den  Mund  und 
in  der  Person  des  Fähnrichs  Pistol  —  ancient  Pistol  —  über  das  frü- 
her gebräuchliche  Umherwerfen  mit  antiken  Wortbrocken  und  Namen 
lustig  machen;  denn  das  sollen  doch  die  Worte:  to  Pluto's  damned  lake 
—  with  Erebus  and  tortures  vile  —  compare  with  Caesar's,  and  with 
Cannibals  and  Trojan  Greeks  —  Come,  Atropos,  I  say  und,  ähnliche. 

Ich  muss  einige  von  den  Stellen,  in  denen  Shakspere  auf  Ovid 
und  Virgil  sich  bezieht,  hier  hersetzen,  um  mit  der  Art  und  Weise, 
wie  er  es  thut,  für  die  über  diesen  Abschnitt  gesetzte  Stelle  aus  King 
John  eine  Parallele  ziehen  zu  lassen. 

Two  gentlemen  of  Verona  III,  1. 


Uebersetzung  Shakspere's.  333 

Why,  Phaethon  [for  thou  art  Merops  sonj 
Wilt  thou  aspire  to  guidc  the  heavenly  car 
And  with  tby  daring  folly  burn  the  world? 

I,  2. 

Fire,  that  is  dosest  kept,  burns  most  of  all, 
aus  den  Metamorph.  IV,   64. 

Quoque  magis  tegitur,  tectus  magis  aestuat  ignis. 

1,3. 

Thus  have  I  shunned  the  fire  for  fear  of  burning 
And  drench'd  nie  in  the  sea,  where  I  am  drown'd, 

mit  Anspielung  auf  Icarus;  Henry  VI.,  II.  p.  III,  2. 

With  füll  as  many  signs  of  deadly  hate, 
As  lean-faced  Envy  in  her  loathsome  cave. 

(Ov.  Met.  II,  760);  V,  1. 

"Whose  smile  and  frown  like  to  Achilles  spear 
Is  able  with  the  change  to  kill  and  eure. 

(Ov.  Met.  XII,  112.)      Durch  Virgil   dagegen   sind   veranlasst  Henry 

VI.,  n.  p.  III,  2. 

Bat  Aeolus  would  not  be  a  murderer. 
ibid. 

To  sit  and  witch  me,  as  Ascanius  did, 
When  he  to  madding  Dido  would  unfold 
His  father's  acts,  commenc'd  in  burning  Troy. 

K.  Henry  VI.,  IH.  p.  III,  2. 

ril  play  the  orator  as  well  as  Nestor, 
Deceive  more  slily  than  Ulysses  could, 
And  like  a  Sinon,  take  another  Troy. 

IV,  8. 

Farewell  my  Hector  and  my  Troy's  true  hope. 
i.  e.  spes  fidissima  Teucrum. 

Die  Berücksichtigung  der  Art  nämlich,  wie  Shakspere  die  alten 
Dichter  benutzte,  scheint  mir  auch  in  kritischer  Beziehung  nicht  ohne 
Ausbeute  zu  sein.  Nirgends  ahmt  Shakspere  bloss  nach;  nirgends 
übersetzt  er  eigentlich  ;  wenn  er  auch  Sentenzen  wie  Worte ,  Beschrei- 
bungen und  Bilder  entlehnt,  so  schafft  er  sie  doch  nach  seiner  Eigen- 
thümlichkeit  überall  um,  als  wenn  er  Horazens  in  andrer  Beziehung 
ausgesprochene  Vorschrift  „ex  Graeco  fönte  parce  detorta"  gekannt 
und  hierbei  angewendet  hätte.     Aus  dieser  Anschauung  heraus  glaube 

Arcliiv  f.  11.  Sprachen.  XXIll.  22 


334  Zur   Kritik,    Erklärung   und 

ich  einen  Ausdruck  unsrer  Stelle  gegen  unnöthige  Conjecturen  verthei- 
digen  zu  können. 

Statt  des  allerdings  auffälligen  convicted  conjlcirte  Pope  collected 
und  Johnson  nahm  diese  Lesart  auf;  Delius  setzt  gar  connected.  Aber 
collected  ist  Avegen  whole  arniado  überflüssig,  connected  nicht  bloss 
überflüssig,  sondern,  in  dem  gemeinten  Sinne,  schwerlich  im  Sprach- 
gebrauch begründet.  Collier's  Exemplar  hat  convented  ;  und  er  selbst 
erklärt  den  ganzen  Ausdruck  a  whole  armado  of  convented  sail  „a 
fleet  that  had  been  convened  at  some  port  to  bring  aid  to  the  Dau- 
phin." Ob  so  etwas  bei  diesem  ganz  allgemein  gehaltenen  Gleichniss 
gedacht  werden  dürfe,  oder  von  dem  Dichter  gesagt  werden  konnte, 
ist  äusserst  fraglich ;  besonders  da  der  Dauphin  (oder  vielmehr  König 
Philipp),  der  in  jenem  Augenblick  in  Frankreich  ist,  und  noch  dazu 
bei  Angers,  gar  keine  Hülfe  von  der  See  her  erwarten  konnte.  Es  ist 
dies  ein  Fall,  in  welchem  Collier,  sonst  in  seinen  Bemerkungen  sehr 
vorsichtig  und  überlegt,  sich  wohl  arg  versehen  hat.  Dagegen  ist  con- 
victed, vorausgesetzt  nur,  dass  es  die  Bedeutung  overcome,  oder  auch 
nur  confounded  haben  kann,  völlig  passend.  Ehe  die  Schiffe  von  ein- 
ander getrennt  werden  können,  muss  der  Sturm  ihrer  Herr  sein.  Nun 
hat  zwar  die  oben  angeführte  Bedeutung  das  lateinische  Zeitwort  con- 
vincere  nicht;  wohl  aber  das  englische  to  convince;  z,  B.  Cymbeline 
I,  5.  Your  Italy  contains  none  so  accomplished  courtier  to  convince 
the  honour  of  my  mistress;  —  wenn  es  für  eine  so  bekannte  Sache  der 
Beispiele  bedarf.  Shakspere  hat  aber,  dem  gewöhnlichen  convinced 
(und  con\ine'd  gesprochen),  hier  convicted  vorgezogen,  nicht  nur,  wie 
mir  scheint,  des  an  dieser  Stelle  wirksameren  härteren  Klanges  Avegen, 
sondern  auch ,  um  an  das  lateinische  victus  zu  erinnern.  Denn  bei 
diesem  Gleichniss  der  zerstreuten  Flotte  hatte  er  ohne  Zweifel  die  Be- 
schreibung Virgil's  im  1.  Buche  der  Aeneide,  V.  120  flg.  von  dem 
Sturm  und  der  Zerstreuung  der  Flotte  des  Aeneas  im  Sinne.  Der 
roaring  tempest  erinnert  an  Stridens  aquilone  procella;  convicted  sail 
an  Jam  validam  Ilionei  navem,  jam  fortis  Achatae,  et  qua  vectus  Abas 
et  qua  grandaevus  Aletes  vicit  hiems;  is  scatter'd  and  disjoined  from 
fellowship  an  Disjectam  Aeneae  toto  videt  aequore  classem.  Uebrigens 
vertheidigt  Todd ,  auch  ohne  auf  die  Virgil'sche  Stelle  irgend  welche 
Rücksicht  zu  nehmen,  dennoch  convicted  gegen  Johnson;  und  dafür 
dass  Shakspere  dies  Participium  in  der  Bedeutung  von  overcome  möchte 


Ueberse tzuiig  Shakspere's.  335 

gebraucht  haben,  lies.-ie  sich  noch  anführen,   das.s  er  in  dein  Sinne  von 
überführt  nur  convict  braucht,  K.  Rieh.  III.,  I,  4. 
Before  1  be  convict  by  course  ol"  law. 

Wie  sehr  aber  Delins  iiTle,  wenn  er  zu  dieser  Stelle  niederschrieb: 
„Die  Folio  hat  convictcd,  was  die  Hei'ausgeber  =  besiegt  erklären,  eine 
Bedeutung,  die,  wenn  sie  auch  nachweislich  wäre,  in  den  Zusammen- 
hang hier  wenig  passen  wiirde,  da  nicl^t  von  besiegten,  sondern  von 
durch  Sturm  zerstreuten  Schificn  die  Rede  sein  kann:"'  wie  sehr,  sag' 
ich ,  Delius  in  dieser  Bemerkung  sich  irrte ,  zeigt  das  Virgil'sche  vicit 
hiems:  wenn  Shakspere,  wie,  ausser  Collier,  die  englischen  Heraus- 
geber jetzt  wohl  alle  annehmen,  convicted  im  Sinne  von  overcome  ge- 
schrieben hat,  so  meint  er  natürlich  nicht  besiegt  von  Feinden,  sondern 
besiegt  vom  Sturm. 

Wer  endlich  nicht  zugeben  will,  dass  convicted  mit  Bezug  auf  die 
Virgil'sche  Stelle,  um  an  victus  zu  erinnern,  von  Shakspere  gebraucht 
worden  sei,  der  kann  dennoch  convicted  beibehalten  und  verstehen  con- 
victed by  the  band  of  heaven,  confounded.  Ich,  für  mein  Theil,  gebe 
der  andern  Erklärung  unbedingt  den  Vorzug. 

Denn  ähnliche  Wortbildungen  aus  dem  Lateinischen  wie  convicted 
aus  victus  hat  sich,  wie  ich  glaube,  Shakspere  auch  sonst  noch  erlaubt. 
So,  to  renege  von  nego  unmittelbar  statt  des  üblichen  fo  deny  gebildet, 
[Ich  finde  to  renege  ausser  bei  Shakspere  nur  aus  einem  Schreiben 
Karl's  I.  angeführt,  der  es  wahrscheinlich  von  Shakspere  entlehnt  hat.] 
Ant.  and  Cleop.  1,  1. 

bis  captain's  heart, 
Which  in  the  scuffles  of  great  fights  hatli  burst 
The  buckles  on  bis  breast,  reneges  all  temper. 

King  Lear  11,  2. 

such  smiling  rogues  as  these 


Renege,  affirm  and  turn  tbeir  halcyon  beaks 
With  every  gale  and  vary  of  their  masters. 

Alan  wird  leicht  bemerken,  dass  zwischen  diesem  Worte  (to  re- 
nege) und  dem  obigen  (convicted)  die  Analogie  der  Bildung  besteht, 
dass,  während  wegen  renegado  aus  nego  renege,  so  im  andern  Falle 
wegen  to  convince  aus  victus  convicted  gebildet  worden  ist.  Auch 
gehört  hierher  to  allege  für  to  alledge  (in  der  Abküi-zung  der  dritten 
Person  'leges  für  alleges)   unmittelbar   von  allegare   abgeleitet ,  um  so 

22* 


336    Zur  Kritik,   Erklärung  und   Uebersetzung  Sbakspere's. 

passender,  weil  von  einer  Anführung  aus  dem  Lateinischen  die  Rede 
ist  und  nur  weniger  passend  deshalb,  weil  das  Wort  einem  Bedienten, 
der  noch  dazu  das  Italienische  für  Latein  hält,  in  den  Mund  gelegt 
wird,  Taming  of  the  shrew  I,  2. 

Nay,  'tis  no  matter  what  he  'leges  in  Latin. 
Dies  Wort  to  allege  für  to  alledge  können   freilich  auch   wohl   schon 
andre  Schriftsteller  vor    Shakspere   gebraucht  haben;   und   ähnlich    ist 
es  mit  to  convive,  Troilus  and  Cressida  IV,  4  gegen  Ende: 

First,  all  you  peers  of  Greece,  go  to  my  tent; 
,  There  in  the  füll  convive  we; 

Avenigsten  kommt  dieses  Wort  in  den  gleichzeitigen  Schriftstellern  öfter 
vor.  Stelled  aber,  das  viele  Herausgeber  für  Stellated  von  dem  latei- 
nischen stellatus  erklärt  haben,  K.  Lear  III,  7. 

The  sea  with  such  a  storm,  as  his  bare  head 

In  hell-black  night  endur'd,  would  bave  buoy'd  up 

And  qnench'd  the  stelled  fires, 

kommt  ganz  einfach  von  dem  alten  Zeitwort  to  stell  =  to  fix;  Tarquin 
and  Lucrece,  207. 

To  this  well  painted  piece  is  Lucrece  come, 
To  find  a  face  where  all  distress  is  steU'd. 

21)  King  Henry  IV.,    I.  p.  V,   1.  haben  die  Ausgaben,  die  ich 
eingesehen  habe: 

In  both  cur  armies,  there  is  many  a  soul, 
Shall  pay  füll  dearly  for  this  encounter. 

Der  zweite  Vers  ist  unvollständig,  da  es  doch  gewiss  Niemandem  ein- 
fallen wird  zu  betonen  encounter.  (Man  vergleiche  Cyrab.  II,  5  and 
she  —  Should  from  encounter  guard.)  Sollte  nicht  gelesen  werden 
müssen 

Shall  pay  füll  dearly  for  this  here  encounter. 
Und   vielleicht  hat  das  unmittelbar  darüber   stehende   there    dem   Ab- 
schreiber oder  Drucker  Veranlassung  gegeben,  here  wegzulassen. 

Berlin.  H.  J.  Heller. 


Des 

Martin  US  Poloiius 


Chronik  der  Kaiser  und  Päpste, 

in    deutscher   Uebersetzung 

aus  der  ältesten  Handsclirift  des  vierzehnten  Jahrhunderts 


S an -M arte  (A.   Schulz). 


i 


E  i  n  1  e  i  t  u  11  g. 


Die  Sorgfalt  und  Genauigkeit  in  der  Chronologie,  die  rück- 
lialtlose  Wahrheitsliebe,  die  fromme  christliche  Gesinnung,  das 
klare  fiiessende  Latein  und  der  Geschmack  in  der  Auswahl  imd 
Darstellung,  welche  des  Marti nus  Polonus  Chronik  der 
Kaiser  und  Päpste  auszeichnen,  haben  deren  Verfasser 
ebenso  berühmt,  als  die  Aufnahme  oder  Einschiebung  der  bösen 
Geschichte  von  der  Pap  st  in  Johanna  in  dieselbe  berüchtigt 
gemacht.  Das  Erstere  bezeugen  die  zahlreich  durch  fast  ganz 
Europa  verbreiteten  Handschriften  seines  Werkes  (in  Pertz' 
Archiv  für  ältere  Geschichtskunde  Bd.  III.,  V.  und  VII.  sind 
fünfzehn  Manuscripte  der  ersten  und  mehrere  sechzig  der  zwei- 
ten Redaction  namhaft  gemacht),  sowie  die  Anerkennung,  welche 
ihm  von  Zeitgenossen  und  Nachfolgern  gezollt  w^ard;  das  Letztere 
bestätigt  der  alte  und  zur  Zeit  der  Reformation  auf's  Neue  ent- 
brannte Kampf  über  die  Wahrheit  oder  Fabel  von  der  verrufe- 
nen Päpstin,  welcher  auch  später  von  katholischer  Seite  zu  Gun- 
sten der  Reinheit  des  päpstlichen  Stuhls  wiederholt  aufgenommen 
ward. 

Martin  US,  vom  Prediger  -  Orden ,  und  wie  er  sich  selbst 
nennt,  Pönitentiar  und  Capellan  des  heiligen  Vaters,  und  zwar 
des  Nicolaus  III. ,  der  auf  Johann  XXI.  folgte ,  und  nicht  des 
Innocencius  IV.,  der  1254  starb,  war  weder  aus  Schottland, 
noch  aus  Carsula  oder  Cascina  in  Umbrien,  noch  aus  Böhmen, 
sondern  wahrscheinlich  aus  Troppau  in  Oberschlesien  gebürtig, 
und  erhielt  umthniasslich  wegen  dieser  seiner  Herkunft  den  Bei- 
namen Polonus.  ]\Iit  Unrecht  und  in  Folge  von  Verwechs- 
lung hat  man  ihn  zum  Erzbischof  von  Cosenza  oder  Benevent 
gemacht.     Vielmehr  ward  er  1278  vom  Papst  Nicolaus  III.  zum 


340  Martinus  Polouus. 

Erzbischof  von  Gnesen  ernannt.  Allein  noch  vor  Antritt  des 
neuen  Amtes  starb  er  auf  der  Reise  dahin  im  Jahre  1279  zu 
Bologna,  und  sein  Grabmal  in  der  Kirche  des  heil.  Dominicus 
daselbst  trägt  die  Inschrift :  „Hie  jacet  Martinus  Polonus  ordinis 
praedicatorum.  Archiepiscopus  Gnesnensis."  Hieraus  erhellt, 
dass  Alles,  was  die  Chronik  seit  1277  oder  1278  enthält,  nicht 
mehr  von  Martin  selbst  herrührt.  Ihren  ersten  Entwurf  hat  er 
später  noch  einmal,  wenn  nicht  öfter,  mit  Zusätzen  redigirt, 
deren  bedeutendster  die  Beschreibung  der  Stadt  und  die  Ge- 
schichte von  der  Erbauung  Roms  bis  zu  Octavianus  Augustus 
ist;  von  Jüngeren  ist  sie  vielfach  fortgesetzt  und  zum  Theil 
sehr  bedeutend  ergänzt  und  auso-edehnt  worden."  Daher  weichen 
die  Handschriften  der  zweiten  Redaction  sowohl  im  Inhalt  als 
im  Schlusspunkt  ausserordentlich  von  einander  ab ;  diejenigen 
aber  werden  als  die  lautersten  Quellen  zu  erkennen  sein,  worin 
er  selbst  die  Absicht  kundgibt,  die  Geschichte  bis  zum  Papst 
Nicolaus  III.  führen  zu  wollen. 

Die  lateinisch  abgefasste  Chronik  ist  bis  jetzt  dreimal 
o;edruckt  worden : 

1)  Coloniae,  a.  1616.  4.  von  Fabricius  Johannes  Caesar- 
ex  vetustissimo  Manuscripto  der  ersten  Redaction ;  sie  beginnt 
daher  mit  Octavian,  und  es  fehlt  ihr  die  Geschichte  Roms  seit 
Erbauung  der  Stadt.  Auch  fehlt  die  Johanna  Papissa,  und  an 
der  betreffenden  Stelle  eifert  der  Herausgeber  in  einer  Anmer- 
kung gegen  die  ketzerische  Basler  Ausgabe  des  Operinus, 
welche  dieselbe  zum  Aergerniss  der  heiligen  Kirche  aufge- 
nommen. 

2)  Basileae,  a.  1559.  4.  mit  dem  Marianus  Scotus  zu- 
sammen, per  Jacobum  Parcum,  expensis  Johannis  Operini,  nach 
dem  Euldaer  und  Vorauer  Codex   der  zweiten  Redaction. 

3)  Antwerpiae,  1574,  8;  cum  notis  SufFridi  Petri,  nach 
fünf  verschiedenen  Handschriften  der  zAveiten  Redaction,  und 
durch  eine  grosse  Menge  zum  Theil  sehr  ausführlicher  Zusätze 
die  Baseler  Ausgabe  an  Umfang  weit  überragend. 

Die  Bedeutung,  welche  dieser  Chronik  beigelegt  ward,  be- 
kundet sich  auch  durch  ihren  Uebergang  in  die  Volkssprache. 
In  Per  tz' Archiv,  1.  c.  V,  S.  192  wird  einer  florentinischen 
Bearbeitung  und  Fortsetzung  der  ersten  Redaction  der  Chronik, 


Martinas    Polonus.  341 

der  Stiulj  zu  Neapel  erwähnt,  die  mit  lo()8  endigt,  wo  Al- 
brecht's  1.  Erniorduno-  mit  kurzen  Worten  «i-edaeht  wird.  Nach 
Bd.  VII.  Ö.  {)6ß  1.  c.  ist.  ein  zweites  Exemplar  in  Florenz,  bibl. 
Magliabecchiana,  Nro.  48,  Classe  48,  palchetto  I.  aufgefunden. 

Auch  an  mehreren  deutschen  Uebersetzungen  und  Be- 
arbeitungen fehlt  es  nicht.  Nach  Wilken's  Geschichte  der 
Heidelberger  Büchersammlungen  (Heidelberg  1817,  Oswald)  be- 
finden sich  darin  unter  den  deutschen  Handschriften: 

a.  (p.  35(3,  1.  c.)  Nro.  CXXXVH.  Pap.  15.  Jahrh.  242  IM 
Fol.  mit  Bildern,  in  drei  Büchern:  1.  „Hie  vohet  sich  an  des 
buches  capittel  —  wie  Kome  gebuwen  ist  vnd  wer  es  zum  ersten 
aneving."     2.  Von  den  heiligen  Oertern.     3.  Von  den  Päpsten. 

b.^(p.  362,  1.  c.)  Nro.  CXLIX.  Pap.  15.  Jahrh.  gespult. 
Col.  319  Bl.  Fol.  1.  Poncianus.  2.  Unsere  Chronik  in  drei 
Büchern  wie  Nro.  137.  Anfang:  „Die  zit  vnd  stunde  vnd  die 
getad  der  Romischen  keyser  vnd  der  Bebeste  so  han  ich  bruder 
Martin  ein  penitencier  —  disz  gegenwertige  Buoch  gedichte  etc." 

c.  (p.  364,  1.  c.)  Nro.  CLIV.  Pap.  15.  Jahrh.  405  Bl.  Fol. 
1.  Bl. :  1.  Die  Chronik  in  zwei  Büchern.  Anfang:  „Die  zit 
vnd  stund  vnd  die  gctat  der  Romischen  keiser  und  der  bebst 
so  han  ich  bruder  martin  ein  penitentzer  vnd  capellan  vnssers 
helligen  vatters  des  bapsts  disz  gegenwirtig  buch  gedacht  zu 
nemende  uz  mancherley  Croniken,"  etc.  Dem  ersten  Buche, 
das  mit  Heinrich  VII.  schliesst,  sind  gereimte  Erzählungen  von 
den  Kaisern  Theodosius  und  Julianus  angehängt. 

d.  (p.  369,  1.  c)  Nro.  CLVII.  Pap.  15.  Jahrh.  gespalt. 
Col.  155  Bl.  Fol.  1.  Die  Chronik.  Bl.  1.  Anfang:  „Anno 
domini  MCCCLXVIH.  Avanne  es  sich  wol  fuget,  vnd  nutz  ist 
zu  wissen  den  maistern  von  der  gotlichen  kunst  vnd  ander  ge- 
lerten  lewten,*'  etc.  Ende :  „Hie  hat  die  Cronik  ain  ende  von 
den  keysern  vnd  von  den  pebsten  vnd  wart  auz  geschriben  do 
man  zalt  von  Cristi  geburt  Tausent  vierhundert  iar  vnd  in  dem 
neundenvndzwantzigsten  Jar.  an  dem  hailigen  crist  habent  von 
mir  bansen  zückcniaünst." 

Nach  ^Ilttheilung  des  Herrn  Bibliothckdirector,  v.  Lichten- 
thaler besitzt  die  königl.  Hof-  und  Staatsbibliothek  zu  München 
zwar  keine  vollständige  Uebersetzung  der  lateinischen  Chronik 
des  ^lartin  Polonus,  wohl  aber  zwei  Handscluiften  des  15.  Jahr- 


342  Martinus   Polonus. 

Hunderts,     in     denen     das    Chronikon     theilweise    benutzt    ist, 
nämlicli : 

e.  Cgm.  696.  Chronik  von  Rom  vnd  den  romischen  Kai- 
sern (ausgezogen  aus  der  Chronik  des  M.  P.  und  fortgeführt 
bis  auf  Kaiser  Friedrich  III. ,  1440.  Benutzt  sind  hi^r:  L.  I., 
c.  1.  3.  4.  5.  8.  L.  IL,  c.  1.  2.  und  von  c.  8  das  Ende; 
c.  4  fehlt  ganz;  ferner  c.  5  —  18.  L.  III.  fehlt  ganz.  Probe: 
„In  der  iar  zall  als  rom  gestanden  was  funff  hundert  vnd  XL 
iar  da  wurden  gesant  lucius  palo  tarentinus  nardo  radhern  von 
rom  gen  hanibal  vnd  stritten  mit  in  pey  den  gassen  tanasa  vnd 
verlorn  den  streitt  vnd  wurden  erschlacjen  XLIllI  tausent  man 
der  romer.  da  mochten  die  romer  nicht  mer  gestreitten  wan  in 
dem  streitten  wurden  erschlagen  emilius  paulus  Rathern  ares 
vnd  die  hern  von  dem  pretorio  vnd  der  senat  dreyssig  edel  hern 
vnd  L  tausent  ze  fusz  vnd  L  tausent  ze  rosz  vnd  farco  ain 
rather  floch  zu  neuwfio  mit  L  ritter  vnd  die  romer  hetten  kainen 
zweifFel  es  wer  der  jungest  tag  ir  stat  gewesen  vnd  auch  nach 
des  signust  zu  band  köret  hanibal  zu  der  statt  zu  ainer  ge- 
zugnusz  ains  grosens  sigs.    (S.  Fol.  XIII  b.  unsers  Manuscripts.) 

f.  Cgm.  316.  Hier  sind  benutzt:  L.  I.,  c.  2  auf  Fol.  1  v. 
(nach  der  Baseler  Ausgabe).  Von  Fol.  12  v.  an  beginnt  der  alte 
Text  des  M.  P.  in  der  Cölner  Ausgabe  von  1616,  Fol.  4b. 
Dieser  Cölner  Ausgabe  folgt  die  Uebersetzung  bis  Fol.  90  v-, 
dann  folgt  die  Fortsetzung  bis  a.  1435.  „Hie  hat  die  Cronik 
ain  ende  von  den  kaysern  vnd  von  den  pebsten  vnd  wart  auz 
geschriben  do  man  zalt  von  Christus  gepurt  Tausent  vierhun- 
dert vnd  in  dem  funff  vnd  dreyzzigesten  jar  an  dem  nechsten 
mentag  nach  Esto  michi.  —  Hernach  vindet  man  geschriben 
von  mangerlay  sachen  die  auz  andern  püchern  genomen  sint 
vnd  auch  gerecht  sint  zu  dem  ersten  also,"  etc.  etc.  (z.  B.  aus 
Conrad  v.  Megenberg,  Buch  der  Natur).  Probe:  „Von  Grcr 
gorio  dem  VH.  von  Tuscan  geparn.  Fol.  83 v.  (M.  Pol.  L.  IV., 
c.  167).  Gregorius  der  sibent  was  geporen  von  Tuscan  der 
l)csaz  den  stul  zwelff  iar  ainen  manat  vnd  vier  tage  vmb  sein 
loblich  leben  Avart  er  ze  pabst  erweit.  Disen  pabst  vieng  Cen- 
cius  ain  prefecte  an  der  Cristnacht  do  er  die  ersten  messe  ge- 
sang  in  vnser  frawen  munster  der  grozzern  das  da  haizzet  ze 
vnsers  herrn  crippen  vnd  lait  in  in  seinen  Türen  vnd  die  Romer 


Martinas  Pol  onus.  343 

prachen  desselben  nacht  den  Türen  vnd  losten  den  pabste  vnd 
vertreiben  Cencium  von  der  stat.  Diser  pabst  macht  ain  con- 
ciliuni  von  zehen  vnd  hundert  pyschoffen  in  dem  er  ze  panne 
tet  den  kaiscr  hainrich  den  dritten  wanne  er  der  romischen  kir- 
chen  ir  avgen  wolt  zertaylt  habn  vnd  darnach  kom  er  zu  dem 
pabst  zc  Lamparten  vnd  do  stund  er  mit  plozzcn  füzzen  auf 
sue  vnd  eyse  etwe  lange  vmb  puz  vnd  wart  doch  kavm  ledig 
von  dem  panne.  Darnach  besamneten  sich  vil  pyschofF  ze  Ka-' 
venna  die  auch  der  pabst  gepannet  het  vnd  machten  ze  pabst 
Gumbertum  den  pyschoff  von  Ravenna  mit  des  kaisers  rahte 
vnd  nanten  in  dementem"  (die  entsprechende  Stelle  muss  in 
unserm  jNIanuscript  auf  den  verlornen  Blättern  gestanden  halicn). 

Nach  ferneren  iVnfragen  bei  den  Bibliotheken  zu  Wien, 
München,  Leipzig,  Wolfeubüttel  und  Berlin  sind  daselbst  fernere 
derartige  Manuscripte  nicht  vorhanden  und  bekannt;  zu  beson- 
derer Freude  gereichte  es  mir  daher,  aus  der  Bibliothek  des 
verstorbenen  Geh.  Eeg.-Rath  Lepsius  zu  Naumburg  a.  d.  S. 
das  Manuscript  einer  Aollständigen  üebersetzung  des  M.  P.  mit 
der  Erlaubniss  zu  dessen  Herausgabe  zu  erhalten,  welches 
alle  übrige  Manuscripte  dieser  Art  an  Alter  bei 
Weitem  übertrifft. 

Es  ist  ein  Pero-amentcodex  in  kl.  Folio  von  149  Bl.  in 
SchAveinsleder  gebunden,  worin  jedoch  leider  Bl.  74 — DG  incl., 
Bl.  l:2!l,  wo  die  Papissa  ihren  Platz  hätte  finden  müssen,  und 
Bl.  137  —  144  incl.  fehlen,  und  vor  dem  Einbinden  schon  gefehlt 
haben,  da  »Spuren  gewaltsamen  Ilerausreissens,  ausser  bei  Bl. 
129,  nicht  sichtbar  sind.  Die  Schrift  ist  neugothische  Minuskel, 
mühsam,  mit  der  grössten  Genauigkeit,  ganz  gleichförmig  und 
sehr  sauber  von  einer  Hand  geschrieben.  Es  kommen  nur  we- 
nige und  einfache  Abkürzungen  in  der  gewöhnlichen  Weise  vor, 
ein  Apostroph  für  die  Endungen  er  und  us ,  der  Querstrich 
über  der  Silbe  für  n,  d,  um  und  am,  z.  B.  in  von,  vnd,  eccle- 
siara  u.  s.  av.  Die  Ueberschi-iften  sind  roth,  die  Initialen  roth 
oder  blau;  andre  Farben  kommen  nicht  vor.  Die  Sätze  sind 
durch  rothe  oder  blaue  Trennungszeichen  geschieden ;  die  Zeilen 
sind  interliniirt ;  jede  Seite  ist  in  zw^ei  Spalten  getheilt,  die  durch 
Seitenlinien  einirefasst  sind.  Das  Pergament  ist  stark  und  nicht 
eben  fein.     Nach  Form  der  Schrift  imd  Sprache  kann   der  Co- 


344  Miirtinus   Polonus. 

dex  niclit  lange  nach  der  Zeit  geschrieben  sein,  bis  zu  welcher 
er  die  Geschichte  selbst  führt.  Die  Kaiser-  und  Papstgeschichte 
ist  nicht,  wie  in  mehreren  lateinischen  Handschriften,  neben  ein- 
ander, sondern  hintereinander  geschrieben,  die  der  Kaiser  voran, 
und  sie  reicht  bis  zu  Kaiser  Ludwig's  IV.  Tod  a.  1347,  die  der 
Päpste  bis  Clemens  V.  u.  1315. 

Fol.  LXVllII.  macht  das  Manuscript  ohne  Weiteres  einen 
Sprung  von  1273  bis  1308  und  beginnt  mit  Heinrich  VH.  eine 
von  Martin  Polonus  und  dessen  Fortsetzern  ranz  unabhänffig-e 
Erzählung.  Wäre  diese  vom  Schreiber  selbst  verfasst,  so  hätte 
er  sich  wohl  als  Autor  zu  erkennen  G-e^eben.  Gleichwohl  ist 
es  mir  nicht  gelungen,  einen  lateinischen  Chronisten  zu  ermit- 
teln, den  er  hier  übersetzt  haben  könnte.  Albertinus  Mussatus, 
bist.  Henrici  VlI.,  Chron.  Ludovici  IV.  bei  Perz,  desgleichen 
des  Herward  ab  Hohenburg  und  was  sonst  an  Chroniken  dieser 
Zeit  bei  Reuber,  Burmann,  Eccard,  Pistor,  Muratori  u.  s.  w. 
zu  finden,  steht  mit  dieser  Erzählung  ausser  allem  Zusammen- 
hang ,  und  scheint  sie  in  der  That  für  ein  literarisches 
Novum  gelten  zu  dürfen.  —  Es  würde  der  Verlust  der  Blätter 
74 — 96  mehr  zu  beklagen  sein,  wenn  es  nicht  sehr  wahrschein- 
lich wäre,  dass  der  Schreiber  wirklich  seine  Kaisergeschichte 
mit  Ludwig's  IV.  Tode  geschlossen  habe;  indem  er  sie  schon 
weiter  als  die  der  Päpste  geführt  hat  und  in  dem  vorgesetzten 
Index  sich  kein  jüngei'er  Kaiser  als  Ludwig  IV.  verzeichnet 
findet.  Ja  es  werden  überhaupt  die  Fol.  74  —  96  im  Index  gar 
nicht  allegirt,  daher  wohl  anzunehmen,  er  habe  die  fehlenden 
Blätter  ganz  leer  gelassen ,  um  Raum  zur  Fortsetzung  der 
Kaiserchronik  zu  lassen,  Avie  solches  öfter  vorkommt,  und  auch 
hier  am  Schluss  der  Papstchronik  die  volle  Seite  zwar  liniirt, 
aber  nur  bis  zur  Hälfte  der  zweiten  Colonne  beschrieben  ist, 
ohne  dass  ein  Schlusszeichen  oder  gar  eine  Schlussbemerkimg 
hinzugefügt  wäre. 

Sagittarius  (Introduct.  in  bist,  eccles.  p.  72;  1694,  4.) 
bemerkt:  „Ceterum  superiori  annoetiam  vidi  antiquum  exemplar 
Germanice  versum  inque  membrana  concinne  satis  scriptum, 
Coburgi  apud  Johannem  Ludovicum  Zollmann  ICtum  summe 
doctum  ac  prudentem,  et  Consiliarium  Saxonicam  amplissimum, 


Martinus   Polo  aus.  345 

qui  dono  id  accepcrat  ab  Augusto  Carpzovio,  pracfecto  Bran- 
deiiburgico-^Magdeburgensi  in  iiionastcrio  ad  Salain  Dei  Gratia 
dicto.  Et  dignus  profecto  hie  est  über,  qui  sive  scparatim, 
sive  cum  aliis  ejusceniodi  scriptis  prodeat."  Die  von  ihm  an- 
geführten Anfangs  -  und  Schhissworte  stimmen  so  genau  mit 
unserm  Manuscript,  dass  es  kaum  einem  Zweifel  imterliegt,  es 
sei  eben  dasselbe,  welches  er  gesehen,  und  der  Amtin.  Carpzov 
in  dem  damals  vor  nicht  lanij;er  Zeit  aufgehobenen  Kloster 
Gottesgnaden  bei  Calbe  a.  S.  an  sich  genommen.  Zur  Er- 
mittelung, ob  es  etwa  aus  dem  Scriptorio  dieses  Klosters  her- 
vorgegangen ,  habe  ich  die  im  hiesigen  königl.  Provinzialarchiv 
befindlichen  Urkunden  dieses  Klosters  eingesehen,  deren  Hand- 
schriften aus  der  Mitte  des  14.  Jahrh.  aber  schon  so  wesentlich, 
und  zwar  in  Verschlechterung,  von  der  Schrift  unsers  Manu- 
scripts  abweichen,  dass  es  damit  keinen  Zusammenliang  haben 
kann;  seine  Sclu'iftzüge  gleichen  vielmehr  den  besten  des  di-ei- 
zehnten  Jahrhunderts,  als  den  Jüngern  des  vierzehnten.  Wie  es 
in  die  Hand  des  letzten  Besitzers  gekommen ,  ist  nicht  zu  er- 
mitteln gewesen,  indem  eine  Notiz  sicli  darüber  nicht  vorgefun- 
den, und  sind  auch  Bemerkungen  über  frühere  Besitzer  nicht 
darin  befindlich.  Die  Sprache  ist  hochdeutsch  mit  einigen  we- 
nigen und  ziemlich  folgerecht  festgehaltenen  niederdeutschen  For- 
men ,  die  Verwandlung  des  a  in  o  häufig ,  doch  nicht  immer, 
z.  B.  Ochen,  gemolet,  noch  (nach),  Avont  (für  want,  wähnt); 
die  augenscheinlich  falsch  geschriebenen  Namen  sind  dennoch 
deutlich  geschrieben,  und  eigendiümlich  ist  ihm,  oft  für  Teutsche 
oder  AUeraannen  Tuscan,  und  für  Gothen  Schotten  zu  schreiben, 
auch  mit  Tuscan  andre  wilde  Völker  zu  bezeichnen.  Welche 
Ausbeute  die  Geschichte  und  Sprache  aus  dieser  Schrift  zu 
ziehen  vermag,  müssen  wir  an  andrer  Stelle  den  Fachgelehrten 
überlassen,  und  beschränken  uns  nur  auf  einen  kleinen  Auszug 
der  besonders  auffälligen  AVörtcr,  mit  der  Bemerkung,  dass  in 
der  Regel  das  Manuscript  den  lateinischen  Text  in  höchst  prä- 
cisem  und  treffendem  Kerndeutsch  wiedergibt,  in  einigen  Stellen 
sich  aber  auch  eine  solche  Unkcnntnisss  des  Lateinischen,  Flüch- 
tigkeit und  jNIissverstand  kund  gibt,  dass  es  schwer  zu  erklären 
bleibt,  wie  dieselbe  Person  so  Treffliches  und  daneben  so  Mangel- 
haftes wiederzuiicben  vermochte. 


346 


Martinus    Pol  onus. 


Antloz.  vmb  antloz.  devotionis  caus. 
107  a. 

ayden.  maritus  filiae.  20c- 

Begrebede.  sepultura.   HO''- 

besagen,  accusare.  109  c. 

besatzen.  statuere,  praecipere. 

bescheiden  lieb,  rationabilis.  lOG-i- 

b  et  Uten,  exponere.   120  ^• 

betz.  pacis  osculum.   114b. 

bistel.  postes.  48a. 

bit zeichen,  exenipluni.   llO". 

Greiz,  circus. 

Ehte.  persecutio. 

eimer.  urna.  22 c 

einberikeit.  uuio.   lOSd. 

endellch.  dih'gens.  25 J- 

entenken.  cooperire.  42c. 

er  lieh,  gloriosus.  solenniter.  103  b- 

ertbidme.  terrae  motus.  37c. 

erwerg.  venerabilis.  43c. 

ey  gen  Schaft,  servitus.  122»- 

Freyiich.  libere.  G9b. 

furbrucke.  porticus.   127  d. 

Gazzen.  vicus. 

geiegde.  venatio. 

gemachtsam.  commodus.  25a. 

gerkamern.  sacrarium.   123». 

gestan.  favere.  130c. 

geuelHg.  apertus.  8a. 

gewere.  verus.  23  c 

gezweiulinge.  gemelli.  S^^- 

girig.  gyrig.  avarus.   110b. 

girikeit.  avaritia.   llOb. 

Heimelich,  societatem  requirens. 
I6c. 

hergraf.  patricius.  44''. 

hinder  sich  farn.  secedere.  Il6c. 

hole,  crypta.  109fi-117b.   voragoGd. 

Kint  dez  Wunsches,  fortunatus. 
1 9  c. 

kretze.  cantus  (pullorum ,  galli). 
104  c. 

krieg,  schisma. 

Lantherren.  optimates.  49a.  hä- 
renes.  147  c. 

lauben.  tugurium.  ßb. 


lute.  gens. 

Malatscher.  leprosus.  122b.  i22d.     ' 
m  ans  Iaht,  homicidium.  40  c. 
missehalten,  dissentire.   103». 
munster.    monasterium.    116».  I20b. 

basilica,  ecclesia. 
mutte.  modius.  Ißc. 
Naht  werk.  s.  werkwesen. 
nuwen.  nisi. 
Partige.  schisma.  53a. 
patte.  patrinus.   104d. 
poj'en.  compedes.   10». 
Rat  her.  Senator, 
raven.  succidere.  38 d- 
rilich.  magnificus.  24 fi.  liberalis.  25 d. 
ritte  (m.)  febris.  47b. 
ritter.  miles. 

ritt  er  Schaft,  militia.  milites. 
roch,  foetor.   11  b. 
runs.  alveus.  2b. 
ruwer.  poenitens.   llGc. 
Sent,  sende,  synodus. 
schirmen,  dimicare.  25»- 
schirmer.  gladiator.  24b. 
sitik.  morosus.   19'1- 
s  mache  it.  blasphemia.  33  b. 
stören,  destruere. 
suhte,  suchte,  infirmitas;  morbus, 
suther.  Inquisitor.   120  b. 
Tedingen,  tractationes.  145b. 
tote,  patrina.  104 J. 
trom.  trabs.   118b. 
Unberhaft.  steriHs.  5  7 »• 
Vb  erhör  er.  auditor.   100»- 
vberlegen.  deponere.  41  d. 
verbos-en.    deformare.    20c.    depra- 

vare.  25  »• 
verdacht,  externiinatus.  37c. 
vergeben,  gratis.  Sc  venenare.  1 1  c 
veriehunge.   confessio. 
verrihten.  regere.  119b. 
ver rügen,  rügen,  accusare.  lOßb. 
vertragen,  parcere  (judicio  fiituro). 

40». 
vmb  gen.  ambire.    I08b. 
vmb  reiten,  anibire.  65  d. 


IM  a  r  t  i  n  ii  s  I*  o  1  o  n  u  s.  347 

vnge machtsam.  incommodus.  25'>-  wilen.  veliim.   105 ''• 

vorster.  forostarius.  51»-  Wirtschaft,  convivium.  59»- 

Wandelung,  translatio.   126:»  Zertriben.  exercere.  26'^- 

werk  wesen.  natura, operatio(Clnisti)  zucken,  rapere.  3  "J« 

43''».  Zukunft,  adventus.   lOOc 

werung.  duratio.  2«-  ■  zuriten.  iniiietus   14»- 

widersetzzen.  restitüere.  119-»-  zuvurt.  adventus.  09 1^- 

Die  Vergleichung  des  Manuscripts  mit  den  drei  lateinischen 
Drucken  hat  ergeben,  dass  die  Uebersetzung'nach  keiner  der 
bei  diesen  Ausgaben  benutzten  Handschriften  gefertigt  ist,  son- 
dern ihr  eine  andre,  jedoch  der  zweiten  Redaction,  zum  Grunde 
liegt.  Um  jedoch  ihr  Verhähniss  zu  jenen  Ausgaben  näher  an- 
schaulich zu  machen,  ist  Alles,  was  unser  Manuscript 
mehr  hat,  als  die  eine  oder  die  andre  Ausgabe,  cursiv  ge- 
druckt, und  am  Kande  die  Au.'<gabc  (und  zwar  durch  A.,  d.  h. 
Antwerpener;  B. ,  d.  h.  Baseler;  C. ,  d.  h.  Cölner)  bemerkt, 
gegen  welche  das  Mehr  sich  findet.  Wenn  dagegen  die  eine 
oder  andre  Ausgabe  mehr  hat  als  das  Manuscript,  ist  es  durch 
A-|-.  B-|--  ^ -\--  firii  Kande  bemerkt.  Somit  wird  dieser  Ab- 
druck hierdurch  auch  den  Besitzern  der  lateinischen  Drucke  und 
Manuscripte  von  Werth  sein ,  indem  die  Zusätze  der  zweiten 
zur  ersten  Kedaction  des  Lateinischen  dadurch  zugleich  mit  er- 
sichtlich werden.  Diese  Zusätze  selbst  aber  vollständig  in  den 
Noten  nachzutragen ,  Würde  nicht  bloss ,  besonders  wegen  der 
höchst  ausgedehnten  Zusätze  der  Antwerpener  Ausgabe,  fast 
den  doppelten  Raum  dieser  Schrift  in  Anspruch  genommen, 
sondern  auch  eine  fast  vollständige  Revision  der  Texte  der  la- 
teinischen Ausgaben  erfordert  haben,  wozu  andre  Hülfsmittel 
und  Kräfte  gehören,  als  der  Herausgeber  zu  bieten  vermochte. 
Gleichwohl  hoflPt  er  auch  in  dieser  Gestalt  damit  einen  willkom- 
menen Beitrag  zu  einer  künftioen  kritischen  Ausjjabe  des  la- 
teinischen  ^Nlartinus  Polonus  geliefert  zu  haben,  avozu  ein  reicher 
Apparat  in  den  Collectaneen  von  Sagittarius  auf  der  Bibliothek 
zu  Wolfenbüttel  bereits  aufgesammelt  ist:  indem  die  Ueber- 
setzung  der  Zeit  des  Autors  noch  so  nahe  steht,  dass  er  nur 
eins  der  ältesten  Manuscripte  desselben  benutzt  haben  kann.  — 
Die  Marginalien  zeigen,  dass  die  Uebersetzung  sich  dem  Fuldaer 
Codex  der  Baseler  Ausfi;al)e  am  meisten  nähert,  oeoen  die  Cölner 
mancherlei  mehi-,  gegen  die  Aiitwerpener  aber  unendlich  weniger 


348  Marti  nus  Pol  onus. 

hat,  und  in  der  Chronologie  oft  von  allen  dreien  merklich  ab- 
weicht, obwohl  auch  in  diesem  Punkt  die  lateinischen  Hand- 
schriften die  auffallendsten  Differenzen  bieten.  Eben  deshalb 
schien  es  hier  von  Erheblichkeit,  dieselben  kurz  in  den  Noten 
zu  vermerken.  Der  deutschen  Schrift  des  Manuscripts  ist  für 
den  Druck  die  lateinische  aus  graphischen  und  typischen  Grün- 
den vorgezogen ,  und  sind  auch  die  kleinen  deutschen  Zahlen- 
buchstaben durch  die  grossen  römischen  Zahlen  wiedergegeben. 
Die  übrigens  nie  zweifelhaften  Abkürzungen  sind  vollständig 
ausgeschrieben.  Da  das  Manuscript  um  fast  ein  Jahrhundert 
älter  als  die  andern  bekannten  Uebersetzungen ,  so  niusste  die 
grösste  Treue  beim  Abdruck  erster  Grundsatz  sein ,  weshalb 
ich  mir  auch  bei  offenbaren  Schreibfehlern  keine  Aenderungen 
erlaubt  habe,  indem  auch  sie  zur  Charakteristik  der  Handschrift 
gehören;  noch  weniger  wären  Conjecturen  gestattet  gewesen. 
Was  in  Parenthese  steht,  ist  entweder  eigne  Correctur  des 
Schreibers  in  der  Linie,  oder  am  Rande  Zusatz  von  seiner  Hand. 

Schliesslich  kann  ich  nicht  unterlassen,  den  geehrten  Biblio- 
thekvorstehern, Herren  Geh.  Reglerungs-Rath  Pertz  zu  Berlin, 
F.Wolf  zu  Wien,  v.  Lichtenthaler  zu  München,  Schöne- 
mann zu  Wolfenbüttel  und  Herrn  Prof.  M.  Haupt  zu  Berlin 
den  verbindlichsten  Dank  für  die  mir  so  äusserst  bereitwillig 
gewordene  Unterstützung  und  gegebene  Auskunft  hier  öffentlich 
auszusprechen. 

Magdeburg. 

Der  Herausgeber. 


M  a  r  t  i  11  u  s    P  o  1  o  n  u  s. 


Diz  ist  der  kqiserTauel  mit  iren 

Folia. 

namen    gesetzzet    nach    dem 

II.  Fridericus  ....  LXV. 

Abece. 

I.  Focas     .     . 

.  XL. 

I.  Adrianus    .     . 
I.  Anthonius  .     . 
II.  Anthonius  .     .     . 
III.  Anthonius  .     .     . 

FoUa. 
.  XXIII. 
.  XXIIIIv. 
.  XXVI. 
.  XXVI. 

I.  Gayus    . 
I.  Gordianus 
I.  Gallus    .     . 
1.  Gracianus 

.  XX. 

.  XXVI. 
.  XXVH. 
.  XXXII. 

I.  Alexander  .     .     . 

.  XXVI. 

I.  HeHus    .     . 

.  XXV. 

I.  Aurelianus  .     . 

.  XXVII. 

I.  Honorius     . 

.  XXXIIL 

I.  Ai-chadius  .     . 

.  XXXII. 

I.  Heinricus 

.  LHI. 

I.  Anastasius.     .     . 

.  XXXVI. 

II.  Heinricus 

.  LVL 

II.  Anastasius.     .     . 

.  XLIIIL 

ni.  Heinricus 

.  LVII. 

I.  Arnolfus     .     .     . 

.  LL 

IV.  Heinricus 
V.  Heinricus 

.  LVin. 
.  LX. 

I.  Berngarius.     . 

.  LH. 

VI.  Heinricus 

.  LXIII. 

n.  Berngarius.     .     . 

.  LH. 

VH.  Heinricus 

.  LXVIIIL 

III.  Berngarius.     . 

.  Lni. 

VIII.  Heinricus 

.  LIII. 

IUI.  Berngarius.     . 

.  LIII. 

I.  Julianus 

.  XXX. 

I.  Claudius     .     .     . 

.  XX. 

I.  Jobinianus 

.  XXXI. 

I.  Commodus 

.  XXV. 

I.  Justinus 

. XXXVL 

IL  Claudius     .     . 

.  XXVIL 

I.  Justianus 

.  XXXVII. 

I.  Clarius  .     .     . 

.  XXVIII. 

IL  Justinus 

.  XXXVIII 

I.  Constantinus  . 

.  XXIX. 

II.  Justianus 

.  XLIII. 

II.  Constantinus  . 

.  XXX. 

in.  Justianus 

.  XLIHI. 

III.  Constantinus  . 

IV.  Constantinus  . 

.    .  XLI. 
.  XLIL 

I.  Karolus. 

II.  Karolus. 

III.  Karolus . 

.  XLVIL 

V.  Constantinus  . 
VI.  Constantinus  . 

.  XLV. 

.  XLVII. 

.    .  LI. 

I.  Cunradus    .     . 

II.  Cunradus   .     . 

III.  Cunradus   .    . 

.  .  LH. 

.  LVI. 
.    .  LXI. 

I.  Leo   .     . 

IL  Leo  .    . 

III.  Leo   .    . 

im.  Leo   .    . 

.    .  XXXV. 

.    .  XLHI. 
.    .  XLIIIL 
.     .  XLVIL 

I.  Domicianus     . 

,    .  XXI. 

I.  Ludwicus 

.    .  XLVIII. 

I.  Decius   .     .    . 

.    .  XXVIL 

I.  Lotharius 

.    .  XLVIIIL 

I.  Dyoclecianus  . 

.    .  XXVIII. 

IL  Ludwicus 

.     .  L. 

I.  Eraclius      .     . 

.    .  XL. 

III.  Ludwicus 
nil.  Ludwicus 

.    .  LH. 
.    .  LXXIL 

I.  Florianus   .     . 

.    .  XXVIII. 

IL  Lotharius 

.    .  LHI. 

I.  Fridericus  .     . 

.    .  LXII. 

ni.  Lotharius 

.    .  LXI. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  ] 

ÜOII. 

23 

350 


Martin  US    Polonus. 


I.  Marcus  . 
IL  Martinas 
I.  Maximianus 
I.  Martianus 
I.  Mauricius 
I,  Michahel 


I.  Nero .  . 
I.  Nerua  . 
I.  Nychoforus 

I.  Octauianus 

I.  Otto.     . 

II.  Otto.     . 

III.  Otto.     . 

mi.  Otto.     . 


I.  Phylippus 

I.  Probus  . 

I.  Plorianus 

II.  Phylippus 

I.  Seuerus. 


I.  Tyberius 
I.  Tytus  . 
I.  Trayanus 
I.  Tacius  . 
1.  Theodosius 
II.  Thyberius 

III.  Thyberius 
II.  Tneodosius 

III.  Theodosius 


I.  Valwa  .  . 
I.  Vespasianus 
I.  Valerianus . 
I.  Valeiicianus 
I.  Valens  .  . 
I.  Valerius 

I.  Zeno .     .     . 


Folia. 
XXIIII. 
XXVI. 
XXVI. 
XXXV. 
XXXIX. 

XLvn. 

XX. 

XXIL 
XLVII. 

XVIII. 
LIII. 

Lim. 

LV. 
LXIIII. 

XXVI. 
XXVIII. 

XLIIII. 

XXV. 

XX. 

XXI. 

XXII. 

XXVIII. 

XXXII. 

XXXIX. 

xLin. 

XXXIIL 
XLV. 

XXL 

XXVII. 

XXXL 

XXXL 

XXIX. 

XXXV. 


Daz    ist   die    Tauel    und    die    zal 
der  bebste  nach  dem  Abece. 
Folia. 

L  Cristus LXXXXIX. 

I.  Anacletus  ....  CII. 


I.  Alexander  . 

I.  Anicetus    . 

I.  Antbereos  . 

I.  Anastasius . 

II.  Anastasius  . 

I.  Agapitus     . 

I.  Agathe  .     . 

I.  Adrianus     . 

n.  Adrianus     . 

111.  Adrianus    . 

m.  Anastasius  . 

IL  Agapitus     . 

IL  Alexander . 

im.  Anastasius. 

IUI.  Adrianus     . 

in.  Alexander  . 

IUI.  Alexander . 

V.  Adrianus    . 


I. 

IL 

I 

III. 

IIIL 

V. 

VI. 

IL 

HL 

VII. 

III. 

IIIL 

V. 

I. 

VIII. 

VI: 

VII. 

VIIL 

IX. 

XL 

X. 


Bonifacius  . 
Bonifacius  . 
Benedictus. 
Bonifacius. 
Bonifacius . 
Bonifacius  . 
Bonifacius  . 
Benedictus. 
Benedictus. 
Bonifacius  . 
Benedictus . 
Benedictus. 
Benedictus. 
Bonifacius 

strichen) 
Bonifacius 
Benedictus, 
Benedictus. 
Benedictus. 
Benedictus, 
Benedictus. 
Benedictus 


I.  Cletus  . 
I.  Clemens 
I.  Calixtus 


(dur 


ch- 


Folia. 
CIIL 
CV. 
CVIII. 
CXIIIL 
CXVIL 
CXVIIL 
CXXII. 
CXXVI. 

cxxx. 
cxxx. 

CXXXIL 

CXXXII. 

CXXXVII. 

CXLL 

CXLL 

CXLII. 

CXLV. 

CXLVII. 

CXV. 
CXXII. 

cxx. 

CXXI. 

CXXI. 

CXXII. 

CXXIII. 

CXXIIL 

CXXIII. 

CXXXIIL 

CXXIX. 

CXXXL 

CXXXIIL 

CXXIL 

CXLVIII. 

CXXXIIL 

CXXXIIL 

CXXXV. 

CXXXVI. 

CXLVIIIL 

CXXXVII. 

CI. 

CIL 

CVII. 


M  a  1- 1  i  11  u  s  P  o  1  o  IUI  s. 


351 


Folia. 

Folia. 

I. 

Cornelius 

.   .   .  cyiii. 

VII. 

Gregorius   .     . 

.  CXXXVII I 

I. 

Celestinus 

.    .    .  CXIIII. 

VIII. 

Gregorius  .     . 

.  CXLHL 

I. 

Constaiitiiu 

js  .     .     .  CXXIIII. 

IX. 

Gregorius   .     . 

.  CXLHIL 

n. 

Constantiii 

US  .     .     .  CXXVI. 

X. 

Gregorius  .     . 

.  CXLVL 

ir. 

Giemen.'^ 

.     .    .  CXXXVII. 

II. 

Gelasius      .     . 

.  CXL. 

ir. 

Calixtus 

.    .    .  CXL. 

II. 

Celestinus 

.     .    .  CXLI. 

I. 

Hylarius     .     . 

.  CXVI. 

III. 

Celestinus 

.    .     .  CXLIII. 

I. 

Honorusda .     . 

.  CXVIII. 

IUI. 

Clemens 

.    .    .  CXLVI. 

I. 

Honorius     .     . 

.  CXXI. 

IUI. 

Celestinus 

.    .    .  CXLV. 

II. 

Iloiiorius    .     . 

.  CXL. 

VII. 

Clemens 

.     .    .  CXLIII. 

IIL 

Honorius     .     . 

.  CXLIIII. 

V. 

Celestinus 

.     .     .  CX1.VIII. 

IIIL 

Honorius    .     . 

.  CXLVIIL 

V. 

Clemens 

.    .     .  CXLVIIII. 

I. 

Ignius     .     .     .     . 

.  Clin. 

I. 

Dyonisius  . 

.    .     .  CIX. 

I. 

Julius     .     .     . 

.  CXI. 

j. 

Damascus  . 

.     .     .  CXIII. 

I. 

Innocencius     . 

.  cxniL 

I. 

Deus  dedit 

.   .   .  cxxr. 

I. 

Johannes    .     . 

.  cx\in. 

I. 

Deo  datus 

.     .    .  CXXII. 

II. 

Johannes    .     . 

.  cxvni. 

I. 

Damasus 

.     .    .  CXXXVII. 

IIL 

Johannes    . 

.  CXIX. 

IIU. 

Johannes    .     . 

.  CXXII. 

I. 

Buaristus 

.    .    .  CHI. 

V. 

Johannes    .     . 

.  CXXHI. 

I. 

Eleutherius 

.    .     .  CVI. 

VL 

Johannes    .     . 

.  cxxnii. 

I. 

Enticianus 

.     .     .  CIX. 

VII. 

Johannes    .     . 

.  CXXIIIL 

I. 

Eusebius 

.    .    .  CX. 

VIIL 

Johannes    .     . 

.  cxxx 

I. 

Egenius 

.    .     .  CXXVIII. 

IX. 

Johannes    .     . 

. CXXXL 

II. 

Egenius  (ro 

th  durch- 

X. 

Johannes    .     . 

.  CXXXII. 

strichen 

). 

XI. 

Johannes    . 

.  CXXX. 

III. 

Egenius . 

.    .     .    .  CXLI. 

XII. 

Johannes    .     . 

.  CXXXIII. 

xin. 

Johannes  (roth  < 

urchstrichen). 

I. 

Fabianus 

.     .     .  CVIIl. 

XI IH.  Johannes    .     . 

.  CXXXIII. 

I. 

Feli.x      . 

.    .     .  CIX. 

XV. 

Johannes    .     . 

.  CXXXHII. 

II. 

Felix 

.     .     .  CXIL 

XVI. 

Johannes    .     . 

.  CXXXHII. 

m. 

Felix      . 

.     .    .  CXVII. 

XVII.Johannes    .     . 

.  CXXXIIIL 

IUI. 

Felix      . 

.   .   .  cxvin. 

XVIII.Johannes  .     . 

.  CXXXV. 

11. 

Fabianus 

.   .   .  cxx. 

XIX. 

Johannes    . 

.  CXXXV. 

I. 

Formosus 

.     .     .  CXXXI. 

XX. 

Johannes    .     . 

.     .  CXXXVI. 

XXI. 

Johannes    . 

.  CXL VII. 

I. 

Gayus    . 

.    .    .  CIX. 

n. 

Innocencius     . 

.     .  CXL. 

I. 

Gelasius 

.    .    .  CXVII. 

in. 

Innoceneius     . 

.  CXLHI. 

I. 

Gregorius 

.     .     .  CXX. 

mi. 

Innocencius     . 

.  CXLV. 

II. 

Gregorius 

.    .     .  CXXIIII. 

V. 

Innoceneius     . 

.  CXLVII. 

III. 

Gregorius 

.   .  cxxv. 

IUI. 

Gregorius 

.     .     .  CXXVIII. 

I. 

Linus     .     .     . 

.    .  CL 

V. 

Gregorius 

.     .     .  CXXXI III. 

I. 

Lucius    .     .     . 

.    .  CVIIL 

VI. 

Gregorius 

.    .    .  CXXXVI, 

I. 

Liberius     .     . 

.    .  CXH. 
23* 

352 


Martinus  Polonus. 


Folia. 
I.  Leo CXV. 

n.  Leo cxxm. 

m.  Leo cxxm. 

nn.  Leo CXXVIL 

V.  Leo CXXIX. 

VL  Leo CXXXI. 

Vn.  Leo CXXXIL 

L  Laudo CXXXIL 

VliL  Leo CXXXIII. 

IX.  Leo CXXXVIL 

n.  Lucius CXLL 

IIL  Lucius CXLIL 


I.  Marcellinus     . 

.    .  CIX. 

I.  Marcellus   .     . 

.    .  CX. 

L  Marcus  .     .     . 

.    .  CXI. 

,1.  Martinus    .     . 

.    .  CXXXI 

n.  (Martinus  ausradirt.) 
III.  Martinus    ....  CXXXII. 
IUI.  Martinus    ....  CXLVIII. 
V.  (Martinus  ausradirt.) 


I.  Nycolaus 

n.  Nycolaus 

m.  Nycolaus 

nn.  Nycolaus 


L  Pius  .    . 
I.  Poncianus 
I.  Pelagius 
I.  Paulus  . 
I.  Pyscalis 

II.  Paulus  . 

II.  Pyscalis. 

n.  Pelagius 

I.  Romanus 


I.  Syxtus  . 
L  Sother  . 
I:  Stephanus 
IL  Syxtus  . 


CXXIX. 
CXXXVII. 
CXLVII. 
CXLVIII. 

cmi. 

CVIL 

cxrx. 

CXXVI. 
CXXVIII. 
CXXX. 
CXXXIX. 

cxx. 

CXXXI. 
CHI. 

cv. 

cvin. 

cvin. 


I. 

I. 
m. 

I. 

I. 

I. 

I. 

I. 

n. 
m. 

IUI. 

I. 

V. 
VI. 

n. 

VII. 
VIII. 

II. 
III. 

IX. 


Siluester 

Syriens  . 

Syxtus  . 

Simplicius 

Symachus 

Syluerius 

Seuerinus 

Sysinnus 

Stephanus 

Stephanus 

Stephanus 

Sergius  . 

Stephanus 

Stephanus 

Sergius  . 

Stephanus 

Stephanus 

Siluester 

Sergius . 

Stephanus 


I.  Telleforus 
I.  Theodorus 
IL  Theodorus 

I.  Victor    . 

I.  Urbanus 

I.  Virgiiius 

I.  Valentinus 

n.  Victor    . 

III.  Victor    . 

II.  Urbanus 

III.  Urbanus 

IUI.  Urbanus 


I.  Christoforus 

I.  Zozinaus.  . 
I.  Zepherinus 
I.  Zeno  .  . 
I.  Zacharias  . 


FoHa. 
CXL 

cxin. 

CXV. 

ex  VI. 

CXVIL 

CXVIII. 

CXXII. 

CXXIIII. 

cxxv. 

CXXVI. 
CXXVIL 

cxxm. 

CXXX. 

cxxxr. 
cxxxv. 

CXXXIL 
CXXXIL 
CXXXIIII. 
CXXXI. 


cniL 

CXXIL 
CXXXI. 

CVL 

CVIL 

CXIX. 

CXXVIII. 

CXXXVII. 

CXXXVIII. 

CXXXIX. 

CXLIL 

CXLVL 

CXXXI. 

cxini. 

CVL 

cxxni. 
cxxv. 


Martinus    Pol  onus.  353 


I« 


Wanne  ez  sich  wol  fuget  vnd  nutze  ist  zu  wissen 
den  meistern  von  der  «-otlichen  kunste .  vnd  andern  ge- 
lerten  luten  die  zit  vnd  die  getat  der  Romischen  keyser. 
vnd   der   pebste.     So    han    ich    bruder    mertin    ein 
penitencier    vnd  ein  capplan   vnsers  heiligen  c. 
vaters    des    pabstes    dis   gegenwertig    buch   gedacht 
zu   nemen   uz    manigerleye   croniken.     von    der  tat  vnd 
der  zit  der  keyser.  vnd  der  pebste.  vnd  wil  es  machen 
in  ein  puch  nach  der  iarzal  vnsers  herren  ihesu  Christi. 
Vnd  von  Octauiano  dem  ersten  keyser.  also  nach  ein- 
ander i)   zu   zelen   die    keyser   vnd  die  pebste  ^is  an 
Ny colaum  den  pabest  tieft  namen  den  dritten.'^)  a.  r.  c. 
vnd    wanne    die    keyser    vnd   die    pebste   in  der  stat  zu 
rome   gewesen    sint.    vnd    sunderlich    dar  gehorent.    so  I^- 
dunket   mich   gut    sin   daz  ich  von  der  stat  gelegenheit 
etwas  sage,  durch  daz  ich  des  pas  wege  vnd  ordenunge 
gewinne   von   den   keysern   vnd   den  pebsten  zu  sagen, 
vnd    also   han   ich   genomen  dis  gegenwertige  werk  ein 
teil   von   der   schHft    Tyti   liuii.    vnd    von    der    croniken  c. 
orosii.    vnd    von    den    croniken    damasci^)    des  pabstes. 
vnd  der   getat   der  pebste.    vnd  von  den  kroniken  honici 
Sutrini  *)  des  pyschofes  also  genant .  von  den  jiebsten  tnd  c. 
von  den  keysern.   vnd  von  den  Croniken  pauli  des  dya- 
cones  vnd  Cardinalis  von  Rome.   von  keysern  vnd  von 
pebsten .  vnd  aber  von  den  Croniken  Gylbertis  von  keysern  c. 
vnd  von  j^ebsteii.   vnd  von  den  croniken  richardes  eines 
munches  von  Clonias  •^)  vnd  von  den  Croniken  Gervasii. 


1)  deduxi  in  una  pagina.  Eo  anno  D.  quo  creati  fuerint, 
ponendo  Pontifices:  in  alia  pagina  eoontra  sub  eisdem  annis, 
eo  anno  quo  creatus  quisque  fuit,  ponendo  Imperatores.     A.  B.  C. 

2)  Johann  XXL,  A.  B,  -   Clemens  IV.,  C. 

3)  Damasi  papae  de  gestis  Pontif.  A.  B.  C. 
*)  Bonisii  ep.  Sutrini.    A.  B. 

5)  Cluniacensis.    A.  B.  C. 


3f,4  Martinus    Polonus. 

vnd    von   den    Croniken    Estodli .  *)    von    den    Croniken 
Ic.    Gotfridi   von   viterbie .    von    den   brudern    der  kronilcen 
Belvatenum .  -)    vnd   etliche   von  dem  passlonal  der  liei- 
llaen. 


Vo n   de 71  vier  k u n ig r i c h e n. 

Von  erst  ist  ze  sagen  ^)  von  den  vier  kunigi'ichen 
zum  ersten  von  dem  Homischen  riche.  daz  das  iimgest 
loaz.  zu  dem  andern  mole  von  weihen  j^ersonen  rome  an- 
ving.  zum  dritten  mole  zu  weihen  ziten  rome  anvinh.  zu 
dem  vierden  mal  von  der  geschieht  tvie  rom  an  vink.  zu 
dem  fünften  mal  von  den  richtern  vnd  der  herichtunge 
von  der  rome  zu  nam  vnd  gepezzert  wart .  vnd  darvmb 
als  Orosius  saget  vnd  schribet  sarde  Augustino  von  angenge 
der  loerlde  Ins  an  die  zit  daz  rome  gemachet  ivart  des 
!'!■  loaren  vier  tuse72t  iar.  vier  hundert,  vnde  LXXXIIlIiar. 
vnd  also  von  angenge  der  iverlde  bis  an  die  zuhinft  vnsers 
herren  Jhesu  Christi.  Waren  fünf  tusent  hundert  vnd 
nun  vnd  nunzig  iar.  und  also  vindet  man  vnder  den  an- 
dern riehen  vierew  die  die  grosten  gewesen  sint  nach  den 
vier  enden  der  werlde.  daz  waz  babylonisch  rieh,  daz  an 
vink  bi  Abrahames  ziten.  Cartagines  riche  gegen  mitten 
tage,  tvart  bi  den  ziten  der  richter  vnder  Coladuc.^)  do 
kartago  gepuwen  wart.  Macedonisch  rieh  gegen  septentrion. 
daz  an  vink  von  alexandro  bi  der  machabeen  ziten.  Ro- 
rnisch  riche .  voji  der  sunnen  vndergange .  daz  an  vink  p>i 
Romulo.  Vnder  den  vier  riehen  zwei  die  mittelste^i  sint 
die  minsten .  aber  daz  erste  vnd  daz  iungeste  sint  die 
IIa.  grosten  an  dem  geicalte  vnd  von  langer  xoerunge.  viul  als 
die    hystorien    von    babylonie    sagent    von    Nyno    des   xvip 


1)  Methodii,  A.  B.  —  Escodii,  C. 

-)  Ex  chronicis  fratris  Vincentii  Beluacensis. 

■')  Die  ganze  Beschreibung  und  Geschichte  Roms  bis  zu  Octa- 

vianus  Angustus  fehlt  in  C. 

0  sub  Thohi  duce.  A.  B. 


Malt  in  US    Polunii5!.  355 

Se77ieramis  was.  vnd  machte  l/a/i^//onie.  Also  gcwan  rome 
iren  anvank  von  Proca  *)  die  romeli  froioe  was.  Als  oro- 
sius  seit,  vnd  als  von  dem  ersten  iar.  daz  Ninus  richsent 
piz  daz  semeramis  habylon  die  stat  machet,  do  vergingen 
vier  vnd  sechzig  iar  also  vergingen  von  dem  ersten  iar. 
vntz  daz  prothus  richsen  begonde .  piz  daz  Roma  gestiftet  a.  -f- 
wart  von  Romrdo  sechs '^)  vnd  sechzig  iar.  vnd  der  kimig 
Oyrus  störte  vnd  herte  Bahi/lonie.  hi  der  zit  Esdre.  vnd 
zacharie  der  propheten .  daz  er  ging  also .  do  der  kunig 
Cyrus  ein  ,grozes  teil  des  kunigriches  von  orient  het  be- 
twungen .  do  keimte  er  gegen  Babylonie .  die  die  beste  was  II  i>. 
under  den  andern  steten.  Vnd  kam  an  Eufraten  daz 
wazzer .  vnd  an  ein  ander  toazzer  vnd  do  einer  siner  ritter 
nicht  allein  der  kunst  siinder  der  schönste .  do  er  den  Jurt 
solle  suchen,  do  ertrank  er  in  dem  wazzer.  do  wurt  der 
kunig  betrübet  vmb  den  ritter  den  er  so  liep  hette.  vnd 
swur  in  sinem  zorn .  daz  grozze  wazzer  also  dünne  ze- 
machen.  daz  es  nieman  an  sin  knie  ginge,  daz  ouch  ge- 
schach.  Wanne  er  hiez  ez  zej'teilu  drtrch  ein  wites  velt  in 
vier  hundert  vnd  sechzig  runse.  Also  leitet  er  daz  kreftig 
Wasser  Eufraten  von  der  stat  babylon.  daz  vor  enmitten 
do  durch  ran.  Vnd  also  für  er  in  die  feintstat  feintlich. 
von  der  orosius  spricht,  daz  es  vngloublich  si.  vnd  daz  si 
von  menschlicher  kraft  ymmer  mochte  geivunnen  werden  II c- 
oder  zerstöret.  Wanne  si  gelegen  waz  vnd  ist  noch  an 
einer  grozen  wite  des  veldes  vnd  sere  preit.  Vnd  waz  von 
vier  orten  gemacliet .  vnd  die  rinkmour  waz  fünfzig  kloftern 
hohe,  vnd  fünf  kloftern  brait.  vnd  waz  von  gepacken  zie- 
geln  gemouret.  vnd  legt  die  darein  gezogen,  vnd  die  niour 
het  von  oben  an  hundert  erein  porten.  vnd  der  vmbvank 
waz  ein  vnd  fünfzig  meyle  xveit.  noch  vil  mere  schribet 
Orosiu^s  von  der  stat.  a.-|- 

Do  ro m e  an v i n g. 
In  der  zit  do  Rome  an  vink.  do  woren  vergangen  von 
angenge  der  loerlde   vier   tusent  vier  hundert,   vnd  achzig 


')  Proca,  qui  proavus  Roiimli  fuit.    A.  ß. 
-)  quatuor,  A.  B. 


356  Martinus  Polonus. 

vnd  vier  iar .  vnd  waz  nach  dem  daz  Troye  geiounnen 
loart  vier  hundert  iar  vnd  fünfzig  iar.  ^)  Do  der  hunig 
Achas  in  Judea  richsejit.  e  daz  die  stat  Rome  gestiftet 
II  d.  wart.  Do  waren  vil  kunige  in  ytalia  dem  lande .  vmh  die 
gegen  da  sider  Rome  gepmven  wart.  Daz  waz  zum  ersten 
Saturnus .  den  vertreip  sin  sun  Jupiter  vz  grecea  dem  lande. 

A.  B,  vnd  warf  ime  sine  hoden  vz  als  einem  caphan.  V7ul 
also  flöhe  Saturnus  sinen  sun  Jupiter  vnd  kam  in  schiffen 
vber  mer  in  ytaliam  die  gegen,  do  sider  Rome  gepuwen 
wart,  vnd  lag  do  verborgen  in  weiden  vnd  in  puschen  von 
der  vorhte  sines  sunes.  vnd  dar  vmh  wart  daz  lant  Terra 
latina  genant .  von  dem  icorte  latet .  vnd  der  Saturnus  lerte 
daz  volk  von  dem  lande  huser  puwen .  vnd  daz  ertrich  ar- 
beiten .  vnd  wingarten  pflantzzen .  vnd  lebten  als  lute .  icanne 
vor  konden  si  niht  arbeiten  vnd  lebten  als  vihe .  und  azzen 

III '1  aichehi.  vnd  ander  wilde  frucht.  vnd  ein  teil  iconte^i  m  den 
holen  steinen .  etliche  7nachten  htäten  von  lobe  dar  vnder  si 
lagen,  vnd  dar  vmb  daz  er  si  lerte  recht  leben,  do  ivart  er 
ir  kunig  vnd  ir  got  geheizzeti.  Also  puwet  er  ein  stat  von 
der  vorhte  sines  sunes  niht  verre  von  Rome.  die  nante  er 
nach  sinem  namen.  Saturniam.  die  nu  heizzet  Sutrinum. 
do  daz  erste  körn  in  dem  lande  geseet   wart .  uf  einem 

A.  B.  preiten  velde.  das  heizzet  grassus.  vnd  nach  Sa- 
turno  richsent  Pyrus^)  sin  sun.  vnd  dar  nach  Faunus  sun 
latinus.  derselbe  latinus  bezzert  latin  spräche,  vnd  sint  die 
latin  nach  ime  genennet,  vnd  die  vorgenanten  kunige.  rich- 
sent  hundert  vnd  fünf  zig  iar.  e  daz  eneas  in  daz  lant  kam. 
von  dem  die  komen  die  Rome  puweten. 

Von   den  personen  ze  Rome. 
III  b.  Die  persone  die  Rome  pauwten.  die  namen  vrsprung 

vnd  anvang  von  Enea.  der  ein  herzöge  loaz  von  Troye. 
wan  do  troye  geiounnen  wart,  daz  geschach  bi  der  zit  do 
der  kunig  abdon  in  Judea  richsent.  vnd  loaz  vor  der  zit 
daz  Rome  gestiftet  wart   dru  hundert .  vnde  drizig  iar.  3) 


')  432,  A.     404,  B. 

2)  Picus,  A.  B. 

3)  432,  A. 


Martinas    rolonns.  357 

vnd  daz  geschach  casus  do  heleiia  gezucket  wart  in  kriechen, 
do  sivuren  die  kriechen  alle  zu  hauffen.  vnd  füren  init 
tusent  schiffen  für  troye.  vnd  lagen  zehen  iar  do  vor.  vnd 
gewnnnen  si.  vnd  waz  strites  vnd  vrluges  do  geschehe  daz 
heschnhet  Omerus.  vnd  daz  alsus  Troye  gewunnen  vnd 
zerstörtet.  Do  für  eneas.  vnd  Anchises  sin  vater  von  danne 
mit  ztvelf  schiffen,  i)  vnd  komen  in  Syciliani.  Do  Anchises 
sfarp .  vnd  do  si  solten  schifen  in  ytaliarn .  Do  nam  si 
ein  sturmwint.  vnd  fürte  si  in  Affricam.  do  eneas  von  Ulf- 
Dytone  der  kuniginne  sere  geminnet  wart .  vnd  kotcfte  in 
zeletste  zu  der.  e.  vnd  ku'tzlich  dar  ytach.  do  liez  er  si 
alda  hlihen.  vnd  für  in  ytaliani.  vnd  kam  in  die  gegen, 
do  tyheris  daz  xvazzer  in  daz  mer  ßuzzet.  Do  karn  ime 
ein  stimme  für  in  einem  trome .  die  sjiracJi. .  gank  zu  dem. 
kunige  euandero .  der  do  richset  über  die  siben  berge,  daz 
loaz  an  derselben  stat.  do  sider  rome  gepuwen  icart.  ivanne 
er  loil  striten  loider  den  kunig  latinum.  vnd  du  seit  ime 
helfen .  icanne  dir  ivirt  Natham  2)  daz  riche  in  ytalia .  vnd 
daz  du  mir  gloubest.  so  gib  ich  dir  zu  Wortzeichen,  wenne 
du  dar  körnest .  so  vindest  du  vnder  einen  widen  paume  ein 
weizze  Sau .  mit  drizzig  iungen  weizzen  verhleinen .  vnd  von 
der  gesicht  wart  darnach  ein  stat  gepuwen.  die  piz  an  Hl'^- 
disen  hutigen  tag  Albanum  geheizzen  ist .  vnd  do  der  kunig 
evander  Eneam  ersach.  Do  wonde  er .  er  ivere  vint .  vnd 
reit  ime  gewajmet  engegen.  Do  Eneas  das  gesach.  Do 
nam,  er  einen  ast  eins  olpaumes.  vnd  weist  ime  den  zu 
einem  zeichen  dez  frides  noch  der  alten  gewonheit.  loanne 
loer  uz  einem  lande  in  daz  ander  für .  der  fürte  einen 
oleypaum  ast  zu  einem  zeichen  daz  er  ftnint  icere.  vnd  do 
also  der  kunig  Euander  vnd  eneas  zu  sammen  komen. 
Do  swuren  si  ein  arider  zu  helfen,  wider  den  kunig  lati- 
num .  vnd  do  der  kunig  Turnus  der  in  Tuscia  tvaz .  vnd 
kam  dem  kunige  latino  ze  hilfe.  loan  er  het  sin  tochter. 
vnd  si  Straten  mit  einander.  Do  slug  der  kunig  Turnus 
von  Tuscan.  Evander s  sun  zu  tode.  der  hiez  Palas .   vnd  IVi^. 


»)  22,  A. 

2)  quia  tibi  debetur,  A.  B. 


358  Martinus   Polonus. 

des  grab  vnd  sin  lichnani  umrden  sider  funden  zu  Rome. 
nach   keyser   heinrichs   zit    dez   andern.     Als    hernach  ge- 

A.+  schrihen  stet.  Und  do  Turnus  erslagen  loart.  Do  nam 
Eneas  sin  tcip  Lauiniani  die  latinen  tochter  waz  ze  wihe. 
Vnd  do  noch  latinen  tode.  Do  loart  Eneas  kunig  über 
daz  latinesch  rieh .  vnd  dez  dritten  Jares .  von  daz  Troye 
zestoret  ivart.  Do  starp  Eneas.  Do  nam  Aschasius.  Eneas 
sun  daz  riche .  den  er  mit  ime  von  Troye  prahte  vnd 
puivet  do  die  stat  albanum.  daz  waz  bi  sampsones  ziten. 
do  der  richter  loaz  in  israhel.  von  der  stat  ivurden  die 
kunig e  albani  genant,  die  vor-  latini  hiezzen.  Vnd  also 
richsent .  Aschauius  acht  vnd  zwenzig  iar.  i)  vnd  starp.  Do 
het  lauinia  einen  sun.  den  trug  si  do  ir  man  Eneas  starp 

IV  'j-  vnd  der  waz  geheizzen  Postimus .  wan  er  nach  sines  vaters 
tode  geporn  ivaz.  vnd  hiez  ouch  Syluinus.  xva7i  er  in  einem 
walde  gezogen  waz.  vnd  der  richsent  nach  aschauio. 
XX  Villi,  iar.^)  vnd  alle  die  kunige  die  von  dem  komen 
die  wurden  Siluini  gehezzen .  die  vor  Albani  ivaren  genant, 
vnd  nach  dem  postimo  richsent  Eneas  sin  sun.  nach  dem 
Eneas  richsent  latinus  Siluinus .  L.  iar.  bi  dez  ziten  loaren 
die  lüissagen  Jath^)  vnd  nathan.  bi  dem  kunige  Davides 
ziten.  aicch  liset  man.  daz  karthago  bi  siner  zit  gepuioen 
het.  nach  detn  richsent  Albasilicius .  XL.  iar^)  pi  kunig 
Salomons  ziten.  Nach  dem  richsent  Egyptus  der  ouch  hiez 
Achis  Sihdnus.  XXIIII,  iar.  bi  der  zit  waz  Roboam 
kunig  in  Judea.    Nach  dem  richsent  Capissilinus.  XX  VIII. 

IV  c-  iar .  do  aza  kunig  waz  in  Judea.  Nach  dem  richsent  Car- 
pentus  Siluius.  XIII  iar.  bi  Josaphates  ziten  in  Judea. 
Nach  richsent  Tliyberius  Siluius.  IX.  iar^)  bi  Ochozias 
ziten  des  kuniges  in  Judea.  von  dem  Thyberio  geivan  Ty- 
beris  daz  ivazzer  sinen  namen.  wan  ez  hiez  vor  albula. 
vnd  do    '^Tliyberius   darinnß    ertrank,    do    loart   daz  wazzer 


')  38,  A.     18,  K. 

^)  39,  A. 

3)  Gad,  A.  B. 

^)  39,  A. 

s)  8,  A. 


Martinas  Pol  o  n  u  s,  3  'i  0 

nach  hne  ucnant.  Also  si'it  Ti/ins  liidtis.  nid  nach  don 
richsent  Agrijipa  Siluins.  XL.  iar.  hi  Achat  in  Judea. 
vnd  hi  den  ziten  ivaz  Omcnis  in  kriechen.  Nach  dem 
richsent  Aremuhis  Silimift.  XIX.  iar.  hi  Jonas  zit  in  Ju- 
dea. Nach  dem  richsent  Auentns.  XXXIII.  iar.'^)  der 
oucJi  der  stat  einen  namen  liez.  loan  er  in  dem  teil  be- 
graben icart.  vnd  loaz  bi  Ananiaz'^)  ziten  des  kuniges  in 
Judea.  Nach  Auentino  richsent  sin  suii  Protha.  XXXIII.  IV 'i 
iar .  3)  bi  der  zit  Josie  des  kuniges  in  Judea.  Nach  dem 
7'ichsent  sin  sun  Aniulus .  XLIII.  iar.  "*)  der  verstiez  prn- 
der  munitorem  von  dem  riche.  bi  Joachim^)  dem  kunige 
in  Judea.  vnd  der  Munitor  het  ein  tochter  hiez  Rea.  die 
loaz  in  dem  tempel  einer  gottinne.  wanne  si  waz  schon, 
vnd  hi  der  slief  heimelichen  einer  hiez  mars.  vnd  gewan 
zwen  sun.  der  wart  einer  genant  Romtdns.  der  ander  Re- 
mus .  vnd  ir  muter  Rea .  loart  lebendig  begraben  vmh  die 
7}iissetat.  daz  si  sich  heimelichen  het  lazzen  minnen.  wanne 
ez  geivonheit  waz.  welhev  frowe  also  missetet.  die  hegmb 
man  lebendig.  vnJ  die  zivei  kint.  Romulus  vnd  Remus. 
lüurden  geworfen  in  einen  pusch  pi  dem  wazzer  Tyberius 
vnd  wurden  geseuget  von  einer  ividfinne.  vnd  do  vant  si  V"- 
ein  hirte  der  hiez  famulus.^)  der  trug  si  heim  sinem  wibe. 
die  hiez  Lau7'encia.  vnd  die  waz  ein  schönes  loip.  vnd  liez 
sich  minnen  vmb  gäbe,  vnd  geican  do  mit  so  vil .  daz  si 
ir  nachgeburen  Lupam  nanten .  vnde  von  dem  namen.  lour- 
den  der  bösen  frou-en  huser  genant  Lupamaria.  vnd  do 
die  selben.  Romulus  md  Remus  gewuchsen,  daz  si  man 
wurden.  Do  samrnenten  si  zu  in  hirten  vnd  morder .  vnd 
slugen  Amulium  ze  tode.  der  iren  vater  Munitoren  von 
dem  nche  het  gestozzen .  vnd  satzten  in  vnder  an  daz  rieh, 
vnd   also   von   den  zwein  Romido   vnd  Remo  tcart  Rom. 


0  37,  A. 

2)  Amasiae,  A.  B, 

3)  23,  A.  B. 

*)  44,  A. 

•■>)  Joathan,  A.  B. 

'')  Faustulus,  A.  B. 


360  Martinus  Polon  US 

die  von  Enea  kutnen  loaren .    der   von  Troye  geporn   loaz 

A.  gepuwen  vnd  genant   nach   dein   daz  Troye  gestoret  wart. 

V'-  vierhundert  fünf  zig  vnd  vier  iarA)  als  Orosiut?  sprich  et. 

Wie  Rome  an  ving. 
Wie  Rome  an  vink.  vnd  ir  gelegenheit  hewiset  vns 
Estodius .  2)  vnd  sprichet  also.  Dar  nach  do  noes  kindes 
gepauwet  den  turn  der  scheidunge  der  spräche.  Do  ging 
noe  mit  etlichen  sines  gesifides .  in  ein  schif.  vnd  komen 
in  ytaliajn  gevarn  niht  verre  von  der  stat  do  Rome  liget 
vnd  puwet  do  ein  stat  nach  sinem  namen  genant .  vnd  starb 
auch  alda.  Do  kam  Janus  sin  sun .  vnd  Janus  Japhetis 
sun  sin  neue .  vnd  Chames  ein  laritman  des  landes  vnd 
pniwet  ein  stat  alda  vnd  loart  ime  daz  riche.  vnd  die  stat 
hiez  Janiculum.  vnd  vnd  puwet  dar  über  die  Teyfer  einen 
palast .  daz  yiante  er  Janiculum .  vnd  daz  loaz  an  der  stat .  do 
nu  stet  die  kirche  sant  Johannes  ad  Janiculum .  vnd  bi  der  zit 

V  c.  Jcam  Saturnus  der  ouch  Nemrot  hiez .  vnd  dem  uz  gesniten 
wart  3)  von  sinem  sun  Jone .  in  des  egenanten  Janus  rieh, 
vnd  machet  ein  stat  mit  Janus  helfe  do  nu  daz  Capitoliuni 
stet,  vnd  in  den  tagen  kam  der  kunig  von  ytalia  zu  Jano 
vnd  Saturno  mit  den  luten  von  Syracusana  vnd  putoet 
ouch  ein  stat  alda  bi  dem  wazzer  albula .  daz  dar  nach 
Tyberis  wart  genant .  vnd  dar  nach  kam  Hercules  sin  sun. 
vnd  puwet  ein  stat  in  dem  Capitolio.  als  varro  schribet. 
Nach  dem  kam  der  kunig  Tybris  von  Orient  mit  sinem 
Volke,  vnd  machet  ein  stat  bi  dem  wazzer  Tyberim.  Dar 
nach  kam  Euander  der  kunig  von  Archadia  mit  sinen 
luten.  vnd  machet  ein  stat  an  dem  berge  Palatino.  Auch 
kam  der  kunig  Corneliam  ^)  mit  sinem  her .  vnd  puioet  ein 

Vd.  stat  do  bi  in  dem  tal.  do  kam  Elaucus^)  Jouis  Enenkel. 
vnd  puwet   ein   stat    ouch   do   bi.     Dar  nach  kam  Rem  ^) 


1)  432,  A. 

2)  Methodius,  A.  B. 

^)  eunuchisatus,  A.  B. 
'')  rex  Corybantii,  A.  B. 
5)  Glaucus,  A.  B. 
ß)  Romain  veniens,  A.  B. 


Martiiitis    Polonus.  361 

En&as  tohter  mit  vil  luten  von  Troye.  vnd  puwet  ein  stat 
ouch  do  hi.  vnd  Auentinus  der  albanischen  hinig.  der 
puwet  ein  stat  do  hi.  an  dem  berge  Auentino,  vnd  dar 
nach  in  der  zit  do  vergingen  von  daz  Troye  zustoret  wart 
vier  hundert  iar.  fünfzig  iar.  vnd  vier  iar.^)  Do  kam 
Romulus  der  geborn  waz  von  dem  hinige  Priami  von  Troye. 
do  sin  bruder  Rejnus  tot  xoaz .  vnd  er.  XXII.  iar  alt  icaz. 
an  der.  XV.  kaiende  des  Meyen.  vnd  vmb  vink  dise  stet 
alle  mit  einer  muren .  vnd  machet  ein  stat .  vnd  hiez  die 
nach  siyieni  namen  Roma,  vnd  komen  in  die  stat  ze  iconen 
mit  loiben  vnd  mit  kinden  die  herren  Sabinenses .  Alba- 
nenses .  Toschalanenses .  Politanenses .  Sycanenses .  Cama- VI»- 
mnenses  Campenatinen .  Lucani.  vil  bi  Alledie.  Edel  lute 
in  ytalia  dem  lande,  vnd  die  stat  hat  dri  hundert  tum. 
vnd.  LX.  vnd  an  dem  vmb  kreize  der  stat  sint.  XXII. 
mile.  on  daz  uher  die  Tyfer  ist.  vnd  on  die  stat  Lomo- 
nam.')  vnd  mit  den  zwein  ist  Rome.  XLII  milen  wit.       a.-\- 

Vo n  p orten  der  stat  rotne. 
Das  sint  die  pforten  von  der  stat.     Zum  ersten  von 
der  pforten  Camena.  3)  die  do  heizzet  sant  paulus  parte  hi 
Remus  grabe.      Vnd  die  parte  Apia   die   do  get  zu  dem, 
xcege.    do   sant  peter  zu  unserm  herren  sprach.    Domine 
quo  vadis  daz  do  heizzet  katacumba .  vnd  die  p)orte  Lcdina 
bi  sant  Johannes  ewangelister  der  in  dem  ole  gepraten  a.  b. 
irart.  vnd  die  parte  Asinaria  wider  Lateran .  vnd  die  p orte 
metronij.    do   der  pach   in    der   stat  fluzzet  vnd  die  porte 
Lauicaria.    die  die  grozzest  ist.   vnd   ist   hi  dem   heiligen  Yl^. 
kruze.  vnd  die  porte  Thaurina.    die  nu  heizzet  sant  Lau- 
r enden  porte.  und  die  porte.  Jumentana^).    die  get  wider 
sant  Agnesen.  vnd  die  porte  Scdaria.  get  icider  Sabinam. 
vnd  die  jjorte  Pinciana.    die   stat    bi   sant  felicis  in  pincis 
kirchen .  vnd  die  porte  ßaminea  bi  der  kirchen  vnser  frowen. 


')  432,  A. 

2;  civitatem  Leoninam,  A.  B. 
^)  Capena,  A.  B. 
')  Numentana,  A.  B. 


362  Marti nus    Polonus. 

daz  do  heizzet  de  populo.  vnd  do  get  ynan  vz  zu  der  pvucke 
mcdi7ium^).  vnd  die  prucke'^')  Collum,  die  ist  hi  dem  tem- 
piel  Adriani.  hi  sant  jieters  prucke  vber  die  Tyfer  sint  dry 
porten.  vnd  in  der  stat  Lendna^)  dry. 

Von  den  palasten. 
Daz  groste  Palast  ivaz  enmitten  in  der  stat.  vnd  waz 
nach  dem  vmb  ringe  der  werkle  gemachet.     Aber  daz  pa- 
last  Romidi.    bi    der  lauben  ßstuli .  ^)    daz  jjalast  Neronis 

VIc.  ^t(  Lateran  bi  der  kii^chen  Marcelli  vnd  petri.  Daz  palast 
Sxisurriamiin .  do  nu  ist  die  kirehe  dez  heiligen  Creuzes. 
Daz  palast  dez  frides  do  Ronndus  satzete  ein  guldin  sulen 
vnd  sprach .  diz  palast  sol  niht  vallen .  piz  ein  maget  ein 
kint  gebirt .  daz  palast  Traiani .  daz  palast  Adriaid .  do 
die  Calumpna  stet.  Daz  palast  Claudij  bi  pantheon.  Daz 
palast  pantheon^)  bi  der  andern  Columpnen.  Daz  palast 
Neronis  uf  dem  spital  dez  heiligen  geistes  bi  sant  peter. 
Daz  palast  Camilli.  Daz  palast  Julij.  dez  keisers.  do  er 
begraben  wart.  Daz  palast  Cromacij.  Daz  palast  Eufa- 
miani.  An  dem  berge  Auetifum.  Daz  palast  Tyti  vnd 
vespasiard  vswendig  der  mur.  Ad,  Cathachumbas.  Daz 
palast  Constantiiii .  do  stet  ein  erin  roz.  vnd  ein  erin  man 
dar    iif  der   heizzet   Constaticius .    vnd   ist   doch   nit    Con- 

Yl fi- stancius  pilde.  sunder  eins  andern  mannes .  der  waz  so 
stark  vnd  so  kune  der  ving  einen  gewaltigen  kunig  der  het 
Rome  besezzen.  vnd  praht  in  in  die  stat.  vnd  also  icart 
die  stat  gelediget  von  dem  here.  vnd  dem  man  zu  eren 
wart  daz  bilde  gemachet.  Daz  palast  domiciani.  vber  die 
Tyfer  zu  dem  guideinen  brote.  Daz  palast  Olympiadis. 
do  sant  Laurencius  gebraten  ivart.  Daz  palast  Octaidani. 
do  die  kirehe  stet  sant  Siluester  zu  dem  houbt.  Daz  2>alast 
Veneris   bi   der   krieschen   schule.     Daz  pa^as^    Cyceronis. 


')  ponteni  Milvium,  A.  \i. 

2)  1.  porte. 

3)  Leonina,  A.  B. 

'')  tugurium  Faustuli,  A.  B. 
^)  1.  Antonini. 


INI  ;ir  tili  IIS    Pol  onus.  363 

Do  nu  ist  daz  hus  der  kiiulcr  vtul  petri  leonis.  Daz  palast 
Kathaline.  do  sant  Anthoniushirche  stet  do  hi  stet  ein  stat 
heizzet  die  helle.  Wanne  hie  vor  hi  der  alten  zit.  stunt 
do  ein  hol.  do  für  uz  ging,  daz  der  stat  grozzen  schaden 
tet.  vnd  do  kam  einer  hiez  Marcus  curcius  vnd  liez  sich 
gewapent  werfen  in  daz  hol.  vmb  die  stat  erloset  wurde  VII«- 
von  der  plage,  vnd  do  er  dar  in  geioorfen  wart,  do  tet 
sich  daz  ertrich  zu .  vnd  also  wart .  die  stat  erloset  von  der 
plage,  vnd  die  palast  die  do  heizzet  J'erme.  daz  sin  dise 
daz  j)alast  Tenne.  Antonianie.  Tyheriane.  Nepociane. 
Maximiane.  Luciniane.  Ih/ocleciane .  Ohpnpiadis.  Agrip- 
p)ine .  Aleacandiine. 

Von    dem   Cap)itolio. 
Capitoliwn  daz  ivaz  ein  hauht  der  werlt.  do  die  liat- 
herren  vnd  die  Senator  es  innen  xeonten.    die  alle   die  loerlt 
herihten.  vnd  daz  Vorderteil  des  Capitolij .  loaren  holtz  vnd 
siechte^)    muren  alvmbe  bewart,    mit  golde .  vnd  mit  glas. 
Daz    es   ein    sjnegel   icere    allen    den    die  ez    ansehen.     In 
dem  obersten  teil  dez  Capitolij  holtz.-)   loaz  ein  tenqiel  dez 
gotes  Jouis.     Dar   inne   stunt   ein  guldin  sul.    dar  uf  saz  VII '^ 
Jörns  in  einem  guldenin  Trome.'^)  do  waz  auch  ein  temp)el 
genant  Asilium .    in   dem   wart  erslagen.  der  keiser  Julius 
vnder  dem  Capitolio .  do  lit  ein  marmelsteinenbilde.'^)  a.  b. 
do  waz  ouch  ein  tempel  louis.     Do    nu  ist  sant  Mer-  a.  b. 
tin.^)  do  waz  ein  tempel  der  scheppfunge.  zu  sant  Adriano 
loaz   ein  tempel  refugij .   zu  sante  Sergio   waz  ein  tempel 
concordie .  zu  Canajyata .  icaz  ein  tempel  der  gottinne  Ce- 
rens   vnd  Telluris.     Daz    tempel  veste    der   gottinne.    daz 
man  seit,  daz  die  helle,  vnd  der  drak  lige  in  der  kirchen 
sant    Cosmas    vnd    Damians .    loaz    ein    tempel    des   gotes 
assisi.  6)      Hinder   sant    Cosma   xvaz    ein   tempel   des   gotes 


')  altis  et  firniis,  A.  B 

2)  arcis,  A.  B. 

3;  1.  trone 

*)  ubi  jacet  siinulaclirnin  MaimM-tinuiii,  A.  i>. 

5)  Sta  Maria,  A.  H. 

'^)  teinplum  Asyluii),  A.    H. 


364  Martinas   Polonus. 

des  frides.     Dar  vher   ivaz   der   tempel  Romuli.    zu  vnser 

A.  i\.-\-  frowen  der  nuwen.  waz  ein  tempel  der  got  dez  fridez  vnd 

der  miltekeit  vor  dem  Coliseo  icaz  ein  tempel  der  sumien. 

VII  <=•  Daz  tempel  daz  do  hiez  Septisolium.  daz  waz  mit  seulen 
gemachet,  vnd  waz  der  simnen.  vnd  dez  monen  Tempel. 
vnd  waz  nahent  hi  sant  Sabinen'^)  Tempel,  vnd  do  waz 
gemacht  ein  kertzstal  mit  einem  Hecht  von  einem  stein 
heizzet  ahiston.  2)  der  ivaz  eines  enzundet.  vnd  künde  in 
furhaz  niemant  erleschen .  vnd  dar  vmbe  heizzet  die  stat 
Abiston  ivanne  man  alda  machet  die  wizzen  stolen.  der 
heiserinne.  Aber  zu  sant  Sabinen  hinder  einem  altar  stat 
ein  bilde  vnsers  herren  daz  er  selber  molet.  vnd  der  kreiz 
prischi  Tarquinij .  der  do  waz  zioischen  dem  berge  Aluen- 
tum.  vnd  dem  grozzen  palast  het  zwo  porten  ein  gen  Orient, 
vnd  ein  gen  Occident.  vnd  waz  von  tounderlichr  schone, 
vnd  waz  also  gemachet,  daz  der  Romer  kehier  den  andern 

Vlld-  erzürnet  an  der  schauivunge  des  spiles.  des  man  do  pßag- 
vnd  do  stunden  zioei  erin  ros  pi.  ietweder  eines  in  der 
hohe  der  porten.  vnd  die  icaren  verguldet.  die  stunden  qIso 
ordenlichen .  daz  si  die  ros  die  man  do  reit  rizten .  vnd 
die  ros  fürt  der  heiser  Constantinus  mit  ime  zu  Constan- 
tinopel. 

An  dem  berge  Exquilino .  zwischen  unser  froioen  der 
grozzern .  vnd  lateran .  do  nach  schule  3)  vnd  alle  pilde 
funden  lourden.  Do  loaz  ein  tempel  hiez  cyprwn  *)  zu  vnser 
frowen.  zu  fontana  waz  ein  tempel  Fauni.  do  der  aptgot 
Jtdiano  dem  keiser  zu  sprach,  vnd  in  betröge,  zu  sant 
peter   ad  vincula.    loaz    der    tempel  veneris   der  gottinne. 

A.  B.  An  dem  berge  Celto^).  do  nu  ist  ein  teich^)  dez  kei- 
sers .    do   ivaz   ein   tempel  Jouis  des  gotes.  vnd  dyane  der 

Ylll^- gottinne .  bi  deii  mermerin  rossen,  do  waz  ein  tempel  Sa- 


1)  Balbina.  A.  B. 

2)  Asbeston,  A.  B. 

ä)  1.  sule .  columnae,  A.  B. 
*)  Cymbrum,  A.  B. 
*)  In  monte  Julio,  A.  B. 
^)  mensa,  A.  B. 


Martinns   Pol  onus.  365 

turnini  rml  haclii .  do  iior/i  ir  bihh'  l'ujent .  v)id  war  vinh  VlII  «■ 
die  marmereinen  ros  gemadit  ivurden.  daz  sage  ich  hirtz- 
lichen  bi  keiscr  Tybenns  ziten  homen  die  iungen  philosophie 
i'on  JRome  prasicellis .  vnd  fida^)  genant,  vnd  gierigen  zu 
male  nacheilt,  vnd  der  keiser  fragte  si.  icar  vmh  si  nackent 
gingen.  Dez  antwurten  si  also .  V7id  sprachen .  icanne  vns 
alle  ding  ploz  sint  vnd  geuellig .  vnd  daz  ivir  alles  icerlt- 
liches  ding  versniehen.  vnd.  daz  nit  besitzzen.  vnd  waz  du 
sagest  heimelich .  vnd  über  lid .  daz  ist  vns  allen  erkant. 
vnd  do  der  keiser  bevant  daz  si  war  seifen,  da  machet  er 
in  dar  zu  ein  memorial.  daz  man  ir  do  bi  gedenken  solte. 
daz  nu  ist  zu  vnser  frowen  liotundum.  Do  waz  ein  tem- 
pel  der  gottinne  Cybiles  die  ein  inuter  loaz  der  gote  von 
dem  puice  dez  tempels  liset  man  hie  nach,  do  man  von  VIIIIj- 
dem  keiser  domiciano  seit,  zu  der  graden  vmz  der  tempel 
der  sunnen .  zu  sant  Stephan  Rotundum .  waz  ein  tempel 
fauni.  zu  dem  Elephanto.  icaz  ein  tempel  Sibille .  vnd  ein 
tempel  Cyceronis.  do  nu  ist  die  kirche  der  kinder  petri 
Leonis.  Do  ist  ouch  ein  kerker  Juliani .  2)  do  ouch  sant 
Nyclaus  kirche  stet,  do  bi  ist  ouch  ein  tempel  Jouis .  zu 
dem  heiligen  engel.  do  ivaz  daz  tempel  Seuerianum.  zu 
dem  guldin  vmbhang .  loaz  der  tempel  der  gottinne  Mi- 
nerue.  An  der  niedern  prucke.^)  loaz  ein  temp)el  dez  gotez 
fauni.  zu  sant  Stephan  in  dem  loier.  waz  ein  tempel  der 
hiez  Olonitreum.'^)  daz  vz  Ginstallen  alzemale  waz  ge- 
machet, vnd  die  knnst  Astronomia  mit  allen  den  zeichen 
dez  himels  icaz  dar  an  gemachet,  vnd  daz  zerstört  fiant 
sebastianus  vnd  Tyburcins.  Cromacius  sun.  als  man  liset  VIII  e- 
zu  vnser  frowen  vber  die  tyfer .  do  xcaz  ein  tempel  Raucn- 
natinum.  vnd  icaz  ein  hus  dez  dienstes  do  man  die  ritter 
inne  mietet,  die  dem  Senat  vergeben  dienten,  vnder  dem 
Janiculo  icaz  ein  tempel  Gorgonis.  in  der  inseln.  ivaz  ein 
temjyel  Jouis  vnd  Eschulapij .  der  got.  dise  vnd  vil  ander 


>)  Praxiteles  et  Phidias,  A.  B. 
2)  Tullianus,  A.  B. 
^)  Ad  pontein  Judaeorum,  A.  B. 
'*)  Colosseum,  A.  B. 
Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXUI.  24 


366  Marti nus    Pol  onus. 

Tempel,  vnd  palast  der  ratherren.  der  heiser  vnd  der  Se- 
natoren vnd  prefecten.  vnd  der  burger  der  stat.  vnd  Rom 
loaren  mit  lounderlichen  geherde  gemacliei.  vnd  gezieret 
von  golde  vnd  von  silber  von  ere  von  helfenjyain.  von  edelen 
steinen,  vnd  von  merhelsieinen  maniger  varbe. 

Wie  rom  an  ving.'^) 
Wanne  xcir  nu  berihtet.   vnd  gesaget   haben   von  der 
gelegenheit  des  piaves  zu  Rome.     An  muren.    an  Turnen, 
an  porten.  an  tempeln.  mit  den  die  stat  gepuivet  xoaz    So 
VIII  d.  sullen  wir  nu  furbaz  sagen  von  den  die  si  berihten  in  iren 
tagen .  daz  loirdest  ordenlichen  wege  haben  zu  sagen .  von 
den   keisern   nach   den    ersten    rihtern .    vnd   dar   vmb   als 
Romidus   vnd    Renius   die   ersten   loaren    die  Rom    stiften. 
■    Also  loaren  si  ouch  die  ersten    an    der   herschaft,    vnd  do 
si.  XVIII.  iar  alt  loaren .    wanne   si  gezweinlinge  waren. 
Do  sammenten  si  hirten   morder   vnd  diebe.   vnd  machten 
ein  kleines  stettelin  an  dem  berge  palatino.  mit  dem  stette- 
lin  vnd  7nit  Tyrannide'^)   hetwungen  si  vnder  sich  alle  die 
stete .^  die  andern  die  do  bi  gepuwen  waren,   vnd  an  dem 
dntten  iar.  Do  die  stat  Rom  gepuwen  icart .  do  wart  Re- 
mus  erslagen  mit  einem  hirten  stap.   von  einem  hiez  For- 
bius  3)  der  loaz  hertzoge  Romuli  sines  bruder .   wanne  die 
zwen  gebruder  kriegten   vmb  die  ivissagunge  der  wien  die 
IX^- si  beide  sahen,  loanne  als  livius  saget,  daz  si  gezwinlinge 
waren  vnd  glich  alt  icederre.  dirre  dar  vmb  oberster  rnhter 
were.   über   di  stat.    daz  liezzen  si  an  die  wissagunge  der 
loien  .    vnd   dar  vmb  ging  ir  itwederre  uf  den  berg  Auen- 
^  tinum  mit  den  sinen .  do  begegenten  Remo  zum  ersten  siben 

wien.  vnd  Romido .  XIIII.  xoien.  Do  sprach  ietweder.  sin 
ivissagunge  ivar  getvesen  Remus.  dar  vmb  wanne  er  sin 
loien  bi  erste  sach .  Romidus .  wanne  siner  vogel  mer  icaz. 
vnd  also  komen  si  ze  kriege .  daz  Remus  in  der  schar  er- 
slagen wart.     Do  kam  Romulus  in  die  stat .   do  er  allein 


1)  De  rectoribus  et  regimiue  urbis,  A.  B. 

2)  per  tyrannideni,  A.  B. 
■0  a  Fabio,  A.  B. 


Martinas  Polonus.  367 

richsent  in  der  stat.  vnd  erweit  hundert  der  ehesten  an 
den  rat.  vnd  nante  si  Senatoren .  vnd  erweit  oucli  tusent 
man  zu  striten  die  er  ritter  nante.  von  dem  u'orte  mille. 
vnd  do  die  stat  also  zu  kam.  do  ketten  sin  Inte  in  der  l^h. 
stat  nit  wip .  vnd  ringen  den  litten  Sabints .  ir  tocider  vnd 
ir  vyip .  vnd  namen  si  zu  xoihen .  vnd  dar  vmb  ketten  die 
salnni.  ein  grozzes  vrluge  mit  Romulo.  vnd  Ronmlus  ge- 
siget  in  an.  vtid  mackten  do  einen  fride  mit  in.  .  Dar 
nack  Icom  Homulus  In  einer  brücke.'^)  die  waz  genant 
Capree.  Do  vmb  zock  in  ein  grozzes  weter.  von  donren 
vnd  von  plitzzene  sckozzen.  Also  daz  in  niemayit  geseken 
mokte.  vnd  ivart  also  gezucket  vnder  die  goter  quirini. 
vnd  wart  mit  in  gekeiliget.  Nack  Romulo  berikten  Sena-  a. -f- 
tores .  die  er  gemacket  ket.  die  stat  andertkalp  iar.  Dar 
nack  xcart  einer  ricksent  der  kiez  Numaponpilius  zu  Rom. 
XL.  iar-)  bi  der  zit  Ezecliie.  der  kunig  loaz  In  Judea. 
vnd  der  ordent  von  erste  den  rittern  solt  zu  geben,  vnd  IX«". 
legte  ouck  zwen  monen  zu  dem  Jar.  Januarium  vnd  Fe- 
hmarium.  bi  der  zit  waz  ouck  Sibilla  erictea  nack  disem  A.-f- 
ncksent .  Tidius  Hostilius  bi  der  zit  do  manasse  kunig  waz 
in  Judea.  der  TuUus  trug  von  erst  purpiirein  cleider.  vnd 
nack  langem  fride .  mackte  er  .ein  vrluge  mit  den  luten. 
Albanus,  die  von  Rom  wonten.  XV TU.  mile.  vnd  mit 
den  luten  Fenedacus.^)  die.  XII.  mile  wonten  von Rome. 
vber  Tifberim  daz  tvazzer.  vnd  gesiget  den  alben  an.  Do 
er  gereicksent.  XXXII.  iar.  do  verprant  in  ein  iceter  von 
dem  kimel  in  sinem  kus  mit  allem  sinem  kusegesinde.  Bi 
den  zifen  ivaz  ein  ander  Sibille .  die  genant  waz  von  Satne. 
ouck  wart  die  stat  Sysanium'^)  gepuwen  bi  den  selben 
ziten  .  vnd  wart  dar  nack  genant.  Constantiuopolim.  narji  A.-f- 
dem.  Ricksent  der  vierde  Romesche  kunig.  der  kiez  Aiickiis.  IX''- 
bi  der  zit  ricksent  Josijas  In  Judea.  der  puwet  nf  dem 
mere.  XVI.  mil  von  Rome  die  stat  Ostiam.  vnd  ricksent. 


')  paludera,  A.  B. 
0  XLJ.,  A.  B. 
3)  Fidenates,  A.  B. 
^)  Byzantiiim,  A.  B. 

24* 


368  Martinus   Polonus. 

s 

XXIII.  iar .  vnd  machet  die  ersten  prucke  AncJms  über 
die  tiher  ztinschen  dem  berge  Auentino .  vnd  Janicido. 
Nach  dem  harn  der  fünfte  Roynisch  kunig  Priscus.  Tar- 
quinius.  vnd  richsent .  XXX  VI J.  iar .  bi  der  zit  xvaz  Joa- 
chim kunig  in  Judea .  der  machet  den  kreiz .  do  die  Romer 
ires  spiles  pßagen  zu  triben.  vnd  p)mcet  och  die  graben, 
die  den  unßat  vz  den  heimelichen  kameren  in  die  Tyfer 
trugen,  der  begonde  ouch  von  erste  daz  Capitolium  zu 
machen  von  erst .  vnd  loart  dar  vmb  geheizzen  daz  Capi- 
tolium.   loanne   do   inan  den  grünt  do  zu  grub,    do  ivart 

Xa-  ein  haubt  do  fiinden  ane  corper.  Nach  dem  richsent 
serimis  Tulius  der  sechste  romische  kunig.  bi  der  zit  Se- 
dechie  dem  kunige  in  Juda.  der  machet  die  graben  vmb 
die  muren  der  stat.  vmb  daz  machte  er  ze  erste,  daz  man 
die  zinse  vf  hübe,  do  von  man  vor  niht  loiste.  ze  letzste 
slug  in  ze  tode  tarquinius.  der  lioffertige.  bi  der  zit  ging 
ein  plage  'vber  die  Juden .  wanne  si  der  kcddeien  kunig 
Nabuchodonosor .  vink  do  Sedechias  ir  kunig  xcaz.  Dar- 
nach .  Tarquinius  superbus  der  icaz  der  sibende  romisch 
kunig  vnd  richsent.  XXXV.  iar.  bi  der  zit  dez  kuniges 
Cyrus .  vnd  der  erdacht  alle  vangnisse .  vnd.  pinunge  vnd 
keten  vnd  in  daz  eilende  ze  senden  kerker  vnd  poyen .  vnd 
der  selbe  wart  verstozzen  von  dem  riclie.  von  sines  sunes 
A.  B.  toegen    Tarquinius    des    sechsten    der    einer    frowen    hiez 

X'^-  Lucrecia .  die  ein  edel  ivip  waz  von  kunne  vnd  ouch  von 
iugent  ir  ere  nam .  vnd  die  selbe  froioe  von  der  schäm  irs 
Vaters  vnd  irs  tnannes .  vnd  irre  magen.  vnd  ertötet  sich 
selber,  vnd  also  wart  Tarquinius  von  Rom  vertriben.  vnd 
ßohe  zu  dem  kunige  Clusio  von  pornsene .  ^)  der  sament 
ein  grozes  her  von  dem  Ttscan,  vnd  ouch  ander  lute.  vnd 
kam  ze  Rom.  biz  an  die  stat  der  Tyber  bi  dem  jyalast 
Janiculi.  vnd  brahte  die  stat  in  grozze  vorhte.  vnd  machte 
ze  letzste  einen  friden  mit  den  Romern.  vnd  besaz  Acri- 
ciam.  -)  Nach  Tarquinio  dem  hoffertigen  gingen  die  kunige . 
abe  van  dem  riche  in  der  stat  Roma,  daz  die  biz  an  die 


I)  ad  Porsennam  regem  Clusinuui,  A.  B. 
-)  Aretium,  A.  ß. 


]\I:irtinus    Pol  onus.  369 

zit  gerichsent  hoben,  zwei  hiouleii  nid  vierzig  /a;-.')  vnd 
do  satzten  die  Romer  die  ratherrcn  an  daz  riche.  vnd  die 
stat  ze  berillten .  also  daz  ie  zicen  ratherren  die  stat  be- 
rilden  soUeJi  ein  iar.  rnd  dar  vnd»  niht  danne  ein  iar.  Xc- 
doj:  keiner  zestark  noch  zehoch/eriige  wurde  an  demgeicalte. 
vnd  dar  vmb  wurden  ie  zwene  geweit,  ob  ir  keiner  vnrecld 
der  gemein  xeolte  tu)i.  daz  im  des  der  ander  wider  teere, 
vnd  biz  an  die  zit  gie  Romische  gewalt  vnd  ir  rieh  biz 
an  den  fünf  zehenden  stein .  teanne  man  do  die  mil  mit  den 
steinen  vnder  schiet.  vnd  do  icurden  zwen  an  daz  ampt 
gesatzt.  Liuius  vnd  Bratus-)  genant,  vnd  bi  der  zit  starp 
zu  Rome.  Auarogoras .  ^)  vnd  Pictagoras  .  Aristotiles .  vnd 
Piatonis  iunger .  der  waz .  X  VIII.  iar  alt.  a.  -f- 

Von  Rom. 
In  der  iarzal  von  daz  Rom  gemachet  wart  zwei  hun- 
dert vnd  rier  iar  vnde  XL.  iar.  I)o  icaz  Lunius^)  der 
erste  Ratherre  gemachet  ze  Rome.  bi  dez  ziten  die  Inte 
Sabi7ii  vrlugten  vf  Rom  mit  eine>n  grozzen  vrluge  vnd  mit  X^i- 
grozzer  kraft,  vnd  dar  vber  er  weiten  die  Romer  einen  der 
ir  houbtman  ivere  vber  die  ratherren .  bi  den  ziten .  wart 
auch  ein  zxveiunge  vnder  den  Senaten,  vnd  der  gemein  ~c 
Rom.  bi  den  ziten  wart  babylonia  zerstöret,  von  Cgro  dem 
kunige  von  persia  als  hie  vor  gesclirieben  ist.  ■ 

von  dem  daz  die  kunge  — .  ^) 
In  dem.  XVI.  iar.  von  dem  daz  die  kunige  ze  Rome 
niht  mere  richsenten  vnd  ie  ziven  ratherren  ein  iar  dez 
riches  pßagen.  do  klagte  daz  gemein  rolke.  daz  in  die 
ratherren  vnd  der  Senaten  getvalt.  vnd  vnreht  teten .  vnd 
wurden  ander  rihter  gesatzt  vber  die  ratherren  die  hiezzen 
Tribuni .  daz  si  der  gemein  rihter  ivem  vnd  schirmer. 


')  241,  A. 

-)  Lucius  et  Brutus,  A.  B. 

3)  Anaxagoras,  A. 

*)  Brutus,  A.  B. 

*)  de  binis  Consulibus,  A.  B. 


370  Martinas  Polonus. 

von  der  stat  anevang. 
In  der  iarzal  dru  hundert  iar  von  der  stat  ane  vang. 

XI  a-  do  wurden  die  gesetzte  der  stat  athenis  ze  Rome  gesant 
in.  X.  tauein  geschrihen.  vnd  die  Romer  taten  zwo  dar 
zu.  als  Liuius  Tytus  seit,  an  der  iar  zal  als  die  stat  ge- 
machet icart.  dreic  hundert  iar.'^)  do  lourden  die  ratherren 
abgesetzet  von  dem  geriht  in  der  stat.  an  der  iarzal'^)  von 
der  stat  an  vank  wurden  die  lute  vegentes  betwungen  von 
den  Romern .  hi  Äsicerus  ziten  dez  kunges  in  Juda .  hi 
den  selben  ziten  Senones  galli  striten  mit  den  Romern  bi 
dem  wazzer  alba .  vnd  die  Romer  lourden  siglos .  vnd  wart 
die  stat  alle  gewunnen  biz  an  daz  Capitolium  daz  ouch 
verloren  wart,  dayine  die  gans  die  dar  vf  stimt.  die  wecket 
die  Romer  vf  mit  grozzem  geschreie .  wanne  si  slieffen  von 

A.-j-  der  müde  dez  strites. 

von  daz  rome  gemacht. ^y 
An  der  iar  zal  von  daz  Rom  gemachet,  dru  hundert 
XI b.  vnd.  LXV.  iar  do  wurden  tribuni  an  der  ratherren  stat 
geordent.  Do  wart  die  stat  peneste  *J  betwungen  von  den 
Romern  bi  dem  wasser  allia.^)  vnd.  VIII  ander  stette. 
die  vnder  dem  gewalte  der  stette  peneste  ivaren.  bi  den 
selben  ziten  ging  ein  grozze  plage  von  sterben  vber  die  stat 
Rom.  wanne  enmitten  in  der  stat  tet  sich  die  erde  uf.  vnd 
erschein  do  ein  ßq/mme .  als  die  helle .  vnd  von  dem  bösen 
röche  der  dar  vz  ging,  verdarbte  vil  lute  in  der  stat.  als 
ouch  hie  vor  geschriben  ist .  do  man  seit  von  den  palasten, 
vnd  dar  vmb  füren  die  lute  galli  von  der  stat.  vnd  einer 
von  den  gallen .  hiez  einen  kempfen  von  den  Romern .  der 
mit  ime  stritte  für  beide  her.  vnd  der  Romer  kempfe  ge- 
siget.   vnde   nam   den   andern   den  er  het  erslagen.   einen 


1)  301,  A.  B. 

2)  fehlt,  a.  315  a.  u.  c,  A.  B. 

3)  De  tribunis,  A.  B. 
-'')  Praeneste,  A.  B. 
5)  Albula,  A.  B. 


Marfinus    Poloniis.  371 

gxddin  riuk    von    dem    Judse.    vinl   tet    den    an    sinen  liah. 
vnd   da)'   nach    icart  er   vnd   alles  sin  kiinne   Torquaü  ge-  XI f- 
helzzen .    In    den    selben   ziten .   irart    Alexander   PhiUppus 
sun  (jehorn .    ron   olimpia   irart  lang  Macedomim  der  Inte, 
des  getete  grulich  vnd  lotnderlie/i  loaren.    Als  man  sehrdief 
an    einem    sundei-lichen   hueh.    In   den    selben   ziten  machet  a.+ 
apixis   Claudius  ein  ratherre  ron  JRome  den  weg  apiam  in 
der  stat  zu  Rome,    bi   den   selben    ziten   wart   arimium  ze 
Romeniola  vnd  braienium  ze  Sampnio  *)  zivo  stet  gebinven  a.  b. 
V071  den  Romern. 

von  Ro m e.  -) 
In  der  iar  zal  von  daz  Rome  gepinren  icart.  dm  a.-|- 
hundert^)  vnd.  XX VI.  iar.  do  starp  der  kunig  philippus 
Macedomim.  vnd  ivart  Alexandra  sinem  sun  daz  rieh. 
vnd  der  pmcet  vnd  betwank  alle  lant  in  Orient .  vnd  hoffent 
onch  Occident  betwingen .  do  der.  XII.  ior  gerichsent.  do 
wart  ime  vergeben  bi  der  selben  zit .  do  die  Romer  bc- 
gonden  g>jvaltig  tcerden.  Do  wurden  si  angeurluget  von  X['i- 
den  Samniten.  die  gesezzen  waren  an  der  m,itteln  zwischen 
Campania.  vnd  apulia.  die  trugen  guldin  vnd  silberin 
ivajfen.  daz  icaz  vmb  Campaniam  daz  lant.  daz  gar  rieh 
icaz  von  dem  mere .  vnd  von  dem  gewinne  dez  landes.  vnd 
dez  selben  landez  houbtstat  hiez  Gamma .  *)  vnd  waz  als 
groz  als  karthago  oder  Roma,  vnd  zu  dem  ersten  wurden 
di'  Samniten  vberwunden  von  den  Romern.  vnd  gesigten 
doch  den  Romern  an  zum  letsten.  lagen  si  also  gar  nider. 
daz  ir  über  hundert  tusend  erslagen  tvurden  in  maniger 
wise.  vnd  ir  kunig  icart  gevangen  mit  den  andern,  vnd  ir 
stat  wart  zemole^)  zerstöret  von  den  Romern.  Auch  ge- 
wunnen  die  Rotner  nie  strenger  viende  danne  die  Samp- 
niten  waren. 

>)  Ariminuiii  in  Rouiandiola  et  Benoveritum  in  Samnio,  A.  H. 

2)  De    nativitate    et    vita  Alexandri  inagni,    A.     De  Alexandra 
magno,  B. 

3)  426,  A.  B. 
*)  1.   Capua. 

*)  funditus,  A.  B. 


372  '  Martinas    Polonus. 

von  daz  Rome  gemachet  toart.^) 
In  der  iar  zal  von  daz  Rom  gemachet  wart,  vierhun- 

XITa.  dert  und.  XLIII.iar.^)  do  satzten  sich  die  Tarenti  ivider 
die  Romer,  vnd  smelden  in  ir  boten,  do  si  zu  in  santen. 
vmh  daz  gciounnen  si  sache  mit  in  ze  krigen .  vnd  heten 
grozze  helfe  von  den.  Finitinis .  ^)  vnd  hesanten  ouch  an  ir 
hilfe.  ich'tumden^)  kunk  von  kriechen,  der  kam  über  mere 
mit.  LXXX.  tusent  mannen  zu  fuzze.  vnd  mit.  VI.  tu- 
sent  vnd.  XX.  helf ändert.^)  vnd  kam  in  ytaliam.  vnd 
het  ein  hertes  vrluge  mit  den  Romern  vnd  gewan  ouch  di 
von  kartagine  an  sich  ivider  die  Romer .  wanne  die  stat 
kartago  waz  groz.  vnd  ein  houbtstat  dez  landes  Affrice. 
vor.  LXXIL  iaren.^)  e.  daz  Rome  gemachet  wurde,  vnd 
ivanne  si  so  mechtig  icaz .    do   loolte  si  Siciliam  daz  lant. 

A. -[-  vnd  ander  Inseln  dez  meres  beschif'men  vor  den  Romern. 
daz  si  in  keinen  gewalt  teten .    vnd   an   der  iarzal .  '^)    von 

XII  t>.  daz  die  stat  gemachet  tvart .  do  kam  Ilannibal  der  alte  mit 
einem  vnzelUchen  volke.  vnd  drizzig^)  helfanden  geschiff'et 
in  Syciliam .  vnd  begegenten  ime  do.  Oneo  ^)  vnd  Cai/us 
Ratherren  von  Rome .  vnd  uberivunden  in .  vnd  nanien  ime 
waz  er  het.  Also  daz  er  selbe  kume  entran.  Atilius  Re- 
gulus  ein  Ratherre  von  Rom.  do  er  kerte  gegen  kartagine 
der  stat.  vnd  het  betwungen  die  kunige  die  vil  volkes  heten. 
vnd  dert  Romern .  LXXIII.  ^^)  stete  in  Aff'rica  dem  lande 
woren  vndertan  worden .  vnd  do  er  kam  an  ein  ivazzer 
hiez  Bagrada .  do  slug  er  ein  slangen  die  toaz .  XX.  vnd. 
C.  fuzze  lang .  die  ime  siner  lute  vil  ertötet  het.   vnd  den 


')  De  Tarentinis,  A.  B. 

2)  444,  B. 

3)  finitimorum,  A.  B. 
"*)  Pyrrhum,  A.  P). 

6)  equitum  vero  VII  inilibus  et  CXX  elephantis,  A.  B. 
6)  CCLXX,  A.  B. 
^)  484,  A.     483,   B. 

8)  quadraginta,  B. 

9)  1.  Cneo. 

»0)  74  civit.,  A.  B. 


RIartiniis    Polonus.  373 

tet  er  scJdnden.  vnd  sant  sin  hat  zu  rome.  vnd  zeleste 
wolten  die  hartagines  einen  friden  machen  mit  in.  dez 
wolde  er  niht .  vnd  besammenten  sich  mit  den  luten  vz 
dem  lande  affrica  vnd  striten  mit  ime .  vnde  tcurden  die 
Romer  sifflos .  vnd  ir  houhtman  Regidus  wart  gevangen.  XII f- 
vnd  in  keten  geslozzen .  vnd  gefurt  gen  kartagine.  do  duz 
emilius  *)  vemani  ouch  ein  Ratlierre  von  Rome .  daz  sin 
geselle  also  swerlich  ge fangen  lege,  der  fürt  ein  her  in 
affricam  daz  lant.  mit  drinhundert  schiffen,  vnd  von  kar- 
thagine  die  hegegenten  ime  mit  so  vil  luten.  imd  icurde 
ouch  alda  iiberwicnden .  von  Emilio. 

v  0  n  d  a  z  ro  m  e  g  e  ni  a  c  h  e  t.  2) 
In  der  iar  zal  von  daz  die  stat  gemachet  icart.  Fünf- 
hundert vnd.  VIII.  iar.  do  geschach  der  stat  ein  grozze 
plage.  Do  Lucanus  Quifdus  Caiulto  in  Aulio^)  Ratherren 
ze  Rom  ivaren .  do  ging  die  Tyfer  vz .  wanne  si  groz  von 
Regenne  icaz  worden,  vnd  prach  alles  daz  nider.  daz  in 
der  stat  waz  gejnaven .  uf  slechtem  lande .  bi  derselben  zit. 
bi  Summij^)  bi  Gaij  Valerij  Ratherren  in  der  stat  Quamen. 
die.  IX.  Galli.^)  vnd  vrlugten  an  die  Romer .  mit  mani-  XII t'- 
gerley  vrluge .  ligurna .  ^)  vnde  wurden  überwunden  von. 
den  Romern.  vnd  die  selben  lute  galli  sint  grimmes  ge- 
mutes  vnd  sterker  von  übe  denne  ander  lute.  vnd  rehte  als 
si  an  dem  anvange  kreftiger  sint.  Also  schier  verget  ir 
kraft,  vnd  werdent  ploder  danne  di  wip.  daz  an  in  ver- 
suchet ist .  als  Orosius  schribet. 

wie   Rome  g emachet."^) 
In  der  iar  zal  von  daz  Rome  gemachet   wart,  fünf- 
hundert, vnd.  XXXIII.  iar.  do  kam  Hannibal  der  keiser 


')  et  Fulvius,  A.  B. 

2)  De  repentina  subversione,  A.  B, 

3)  Lucio  Catulo,  Aulo  Mantio  Coss.,  A.  ß. 
'S)  Sempronii,  A.  B. 

5)  novi  Galli,  A.  B. 

6)  in  Liguria,  A.  B. 
■>)  De  Aiiibale,  A.  B. 


374  Martinus    Polonus. 

von  Affrica  in  Hüpaniam  vnd  hesaz  die  stat  Sagujitinum. 
die  der  Romer  loaz.  die  zerstört  er.  vnd  walte  der  Römer 
boten   niht  für   sich    lazzen .    hi  der  selben  zit .    bi  Publio 

A.  B.  Cornelio  Scipio   V7id  Sempronio   Ratherren    komen.    Han- 

nibal.    in  ytaliam  wider  die  Romer .    vnd  hieb  einen  weh. 

XIII  •>•  durch   die   velse.    vber    die    berge  pirreneos .    mit  grozzer 

arbeit .  vnd  vrlugie .    vnd  loaz   sin  her   hundert  tusent  fuz- 

hite.    vnd.    XX.    tusent   man   ze   rossen,    dem   ivider    reit 

A.  B.  Cornelius  Scipio  ein  Ratherre  ze  Rome .  bi  Tycino.  vnd 
verwuntet hannibalem^)  gar  ser  an  dem  zu  leiten,  vnd  dar- 

A.  B.  nach  wart  Cornelius ,  vnd  die  Romer  alle  erslagen  vil 
nahe  vnd.  gesigten.    daz  vernam  Sympronius  der  Ratherre 

A.  B.  tvie  ez  sinem  gesellen  Cornelio  2)  ergangen  waz .  vnd 
kerte  her  wider  von  asulia .  3)    vnd  streit  mit  hannibale   bi 

A.  B.  dem  wazzer  Trebea.  vnd  verloz  do  alle  sin  lute.  vnd 
entweich  htm  allein.  Do  hanibal  gen  Tuscan  kerte.  do 
viel  ein  so  grozzer  sne  an  den  berge?i .  Appenninis .  daz 
ime  sin  helfande  vnd  ander  sin  vihe  verdürben  vor  kelde. 
XIII  ij  ivanne  er  ouch  wol  wüste  ßamineum  den  ratgeben  vnd  rat- 
herren  allein  in  den  gezelten  bliben  sin.  dar  vmb  Ute  er 
dez  bcdder.  daz  er  in  funde  vngeioarnet.  vnd  ime  also 
angesiget.  vnd  vernam  atich  daz  Flamineus  kam  vnd  zöget 

A.  B.  vz  gegen  ime  bi  dem  see.  drasimenum .  vnd  mit  listen 
vmb  zoch  in  hannibal.  daz  er  an  allen  enden  verloz.  vnd 
also  vielen  von  den  Romer.  XXV.  tusent  man.  vnd.  VI. 
tusent  lüurden  gevangen. 

von  Rome.^) 
In  der  iar  zal  von  daz  Rome  gemachet  wart.  Fünf- 
hundert vnd.  XL,  iar.    Do  wurden  gesant.  lucius  Paulus 
Carentinus    Narco . '')    Ratherren   von   Rom   gen  Hanibal. 
vnd  striten  mit   ime    bi   der  gazzen  Canosa.  vnd  verluren 


')  Hannibal  eum  graviter  viilneravit,  A.  B 

2)  Scipio,  A.  B. 

3)  a  Sicilia,  A.  B. 

')  De  Lucio  Aemilio,  A.  B. 

*)  Lucius  Aemilius  Paulus  et  Publius  Tercntiiis  Varro,  A.  B. 


ISIartinus  Polonus.  375 

den  strit.  vnd  wurden  erslagen.  XL  IUI,  tusent  man  der 
Romer.  Do  mohten  die  Romer  niht  viere  gestriten.  Wanne 
in  dem  xirlxige  xcurden  erslagen  JEnilius  Paulus  ratherren. 
Ares^)  V7id  die  herren  von  dem  pretorio.  vnd  der  Senat.  XI1I<- 
A'-X'A''.  edeler  herren .  vnd  fünfzig  tusent  m,an  ze  fuzzen. 
vnd.  XL.  tusent  ze  rossen .  vndFarco^)  ein  ratlierre.  flöhe 
zu  Nennisio  .'^)  mit  fünfzig  rittern.  vnd  die  Romer  hetten 
keinen  ztoifel.  ez  u-ere  ein  iungster  tag  irre  stete  geicesen. 
vnd  nach  der  sigmcnß.  zehant  h'rte  Ilannibal  gen  der  stat. 
vnd  zu  einem  gezugnisse.  eines  so  grozzes  gesiges.  do 
sante  Hannihal  zu  kartagine.  dru  mtitte  guldener  vingerlin. 
die  er  von  erslagener  luie  henden  zoclt.  Als  Orosixis  schri- 
bet.  vnd  die  Romer  verzwifelten  also  sere .  'daz  si  xcolten 
fliehen  vz  der  stat.  loanne  daz  Scipio  Aflricamis  der  do 
waz  ein  Trihunus  die  ritter  mit  hlozzen  siverten  si  betxvank 
ze  blihen.  Do  kouften  die  Romer  von  gemeinen  gelte 
knehte.  vnd  machten  die  ze  Rittern,  vnd  gedacht  Junius 
dictator  also  genant,  an  die  alten  getat  die  Romulus  tet.  Xlll<>- 
vnd  machet  die  ritter  zu  sinem  her  morder  vnd  diebe.  vnd 
aller  hande  hose  lute.  der  waren  sehs  tusent  man.  do  er- 
manneten  aber  die  Romer  die  von  erste  gar  verzwifelten. 
vnd  Orosius  spncliet.  der  do  het  gesehen  die  ritterschaft 
ze  Rome.  wanne  ez  alles  loaren  ietweder  eigen  knechte, 
oder  kint  an  den  Jaren .  oder  morder .  oder  die  von  scha- 
den entivichen  ivoren.  oder  hose  reihte,  der  keiner  wirdig 
toaz  der  ritterschefte .  vnd  der  Senatus  waz  aller  vernuwet. 

von  der  stat  r o m e.  *) 
Li   der  Jar   zal.    von    daz    die   stat  gepuwen   loart. 
fünfhundert  vnd.  XLIII.  iar.  do  brahte  hannihal  ein  reis 
von    Campania.    vnd    kam    mit.    IX.   tusent    mannen    ze  a.  n. 
Rom.    do  ersraken  die  Römer  gemeinlich   also   sere.    daz 
si  zemal  verzagten .    do   Reffen  die  frowen  uf  die  icer  von 


>)  consulares,  A.  B. 

2)  Varro,  A.  B. 

^)  Venusium,  A.  B. 

*)  De  Anibale  et  Scipione,  A.  B. 


376  Martinus    Polonus. 

Xlllla  der'  muren.  vnd  trugen  stein  dar  uf.  vnd  loolten  von  der 
mure  geioorfen  haben,  vnd  kam  hannihal  mit  sinem  her. 
biz  an  die  porten  Coloniam.  i)  I)o  kam  Siluius  ^)  der 
orerste  Rotherre  mit  den  Romern  gegen  ime.  vnd  do  si 
zesamen  solten  varn.  do  kam  ein  grozzer  regen  mit  einem 
hagel  gemiscliet  daz  si  kum  entließen  in  die  gezelt .  vnd 
do  ez  schon  toart.  do  wolten  si  aber  ze  sammen  sin  do 
kam  ein  noch  grozzer  regen  danne  vor.  vnd  musten  aber 
ßiehen  in  die  gezelt.  Do  bedahte  sich  hannibal  daz  daz 
urluge  ivider  got  iver .  vnd  kerte  von  der  stat.  Darnach 
wart  Scipio  affricanus  in  hyspaniam  gesant  von  den  Ro- 
mern, vnd  an  dem  ersten  zu  riten  gewan  er  die  nuwen 
kartaginem.     Do    vant    er   grozzen   schätz   von   golde  vnd 

Xllllb.  von  Silber  vf  kxmftigen  solt  den  rittern  zegeben.  vnd  vink 
ouch  aldo  Magonem  hanibals  bruder.  vnd  den  sant  er  ze 
Rom.  Do  Scipio  in  hyspanie  gesiget  do  für  er  in  Affricam. 
vnd  streit  mit  dem  hertzogen  der  Penoren  ^)  genant  ivaz. 
vnd  slug  den  ze  tode  tnit .  XL.  üisent  mannen .  do  er  daz 
alles  vei'wustet.  do  sariten  die  von  kartagine  zu  hannibal. 
vnd  enbuten  ime  daz  er  in  zehilfe  kerne.  V7id  do  hannibal 
daz  vernam.  do  zogeie  er  vz  ytalia.  vnd  alle  die  ritter 
die  ime  niht  gevolgen  mohten.  die  slug  er  zu  tode.  vnd 
also  kayn  er  ze  karthagine .  vnd  wurden  beidersit  tedingen 
vmb  fride.  vnd  konden  niht  eintrehtig  iverden.  vnd  wurden 
die  von  kartagine  siglos.  daz  hanibal  ntit  vier  ritten'^) 
kume  entfioch.  Do  für  Scipio  in  die  stat  kartaginem. 
vnd  gewan  ouch  die. 

von  Ro me.^) 
In  der  iar  zal.  von  daz  Rome  gemachet  wart,  funf- 
XIIlIc-  hundert,  vnd.  XLVI,  iar.^)   Do  namen  die  vrluge  die  do 


1)  ColHnam,  A.  B. 

2)  Fulvius,  A.  B. 

3)  et  facta  pugna  cum  Poenis,  A.  B. 
■*)  1.  rittern. 

5)  De  punico  hello,  A.  B. 
'•)  566,  A.  B, 


Martlnus   Polonus.  377 

hiezzen  punica  ein  ende,  vnd  zehant  do  viengen  an  ander 
vrluge  aber  an  mit  den  von  Macedonia.  vnd  daz  hielte 
Flameus  der  fünfte  *)  ein  ratherre .  vnd  nach  vil  vrluges 
gesiget  er  den  Maeedonien  an.  vnd  gab  irem  kungej^hilipp 
einen  fride.  vnd  die  Romer  die  vnder  Ilannibal  verkouft 
xourden.  die  wurden  tvider  praht.  mit  heschornen  haubten 
zu  einem  zeichen,  daz  in  der  dienst,  vnd  die  eigenschaft 
were  zemaJe  abe  geivisehet .  vnd  aber  dar  machet  der  kunig 
antiochus  ein  vrluge  mit  den  Romern .  vnd  kam  vber  mer 
gevam.  vz  dem  lande  Asya.  Europam  dem  lande.-)  dem 
kam  hannibal  von  Africa  zu.  vnd  gesellet  sich  heimelich 
zu  im.  do  tvart  Antyoclais  vberwxmden.  von  Lucio  Cor- 
nelio  vnd  Marco .  Scipione .  Atilio .  ^)  ratherren  von  Rome. 
vnd  hanibal  kam  von  erst  in  den  schiffen  Anthyochi.  vnd  XlIII'i- 
ßoch  in  den.  vnd  machte  Anthyochus  einen  fride.  mit  Sci- 
pione. vnd  den  Romern.  vnd  also  vberslahe  ich  vil  vrluge. 
Jde  mit  kurtzzen  ivorten.  vnd  daz  loaz  daz  Macedoniscli 
vrluge. .  a.  b. 

V  on   ro  m  e.  *) 

In  der  iar  zal.  von  daz  Rome  gemachet  tcart.  VI. 
hundert  vnd  zioei  iar.  vnder  Imcio  Censorino .  vnd  Marco 
Maulino  ratherren.  hub  sich  daz  dritte  punisQh  vrluge. 
loanne  do  der  senatus  ze  rat  tvurden  kartaginem  ze  ver- 
tilgen, do  füren  die  ratherren  zu  mit  Scipio  affricano.  der 
do  Tribunus  lodz .  vnd  beruften  die  kartaginenses  ze  sam- 
men.  vnd  gebuteii  in  daz  si  in  geben  allen  iren  harnasch 
vnd  ir  schif.  daz  geschach.  darnach  hiezzen  si  aber  die 
Romer .  daz  si  zehen  tusent  schrit  hindersich  von  dem  mere 
entwichen,  do  wurden  si  so  gar  sere  beswert.  daz  si  do  XV » 
Icuren.  mit  strit  lieber  zesterben.  denne  daz  si  loolten  also 
entwichen,  vnd  erweiten  ziven  astinbales^)  die  ir  her  leiter 


')  Quintus  Flainlniu:?,  A.  V>. 

'■')  in  Europam  transiens,  A.  15. 

^)  Cornelio  Scipione  t-t  Marco  Atilio  Glabrione  Coss.,  A.  B. 

••)  de  tertio  ptinico  hello,  A.  B. 

'•>)  duos  Asdrubalcs,  A.  B. 


378  Martinas  Po  Ion  US. 

weren.  vnd  machten  wappen  von  silber  vnd  von  golde. 
vnd  die  gelegenheit  der  stat  kartaginis  waz  alsus .  daz  in 
einem  graben  vmh  die  muren  daz  mere  gink.  mer  damie 
dru  tusent  schritte  lang  an  die  gegent  die  man  uf  tet  des 
veldes  halb.  Do  waz  ein  mure.  XXX.  fuzze  tief  mit  ge- 
vietten  steinen  gemuret.  vnd  ivaz.  XL.  cloftern  hoch,  vnd 
LXX.    die   do  heizzent  jyirse .    vnd    hat    hitzel    nie    danne 

,  tusent  schritte  lang,  vnd  do  kartago  von  Scipione.  vnd 
von  den  r atherogen  geiounnen  loart.  do  gaben  ir  sich  in 
iren  dienst.  XXX.  tusent  man.  vnd.  XXV.  tusent  frowen. 
vnd  die  andern  die  in  der  stat  lieber  icolten  verbrinnen  in 

XV b.  dem  füre  denne  si  den  Roynern  ivolten  dienen,  vnd  also 
wart  kartago  an  gezwult.  vnd  hrante.  XVII.  tage^)  on 
vnderloz .  vnd  also  iqart  daz  der  stat  ein  stein  niht  gantz 
bleib.  Do  waren  vergangen .  VII.  hundert  iar .  vnd  in  dem 
ersten  dar  nach,  vnd  also  nam  daz  dritte  vrh(,ge  ein  ende, 
daz  do  hiez  bellum  punicum .  in  dem  vierden  Jare .  wanne 
daz  urluge  weret.  XX.  iar. 

von  rom.^) 
In  der  iar  zal.  von  dem  daz  Rome  an  vink.  VI. 
hindert  vnd.  VI.  iar.  daz  waz  dez  selben  iar  es  do  kar- 
thago  zerstöret  wart.  Pigneo  Cornelio  Lenuilo.  Lucio 
ratherren .  do  icart  Chorucus  ^)  die  namhafte .  vnd  die 
richest  stat.  vnd  allez  daz  lant  Achia  xoai't  betwungen. 
vnd  zerstöret  von  den  Romern.  vnd  do  die  stat  waz  an- 
gezündet, do  toaz  so  vil  side  vnd  aptgoter  von  silber  vnd 
von  golde .  daz  ez  on  zal  7vaz .  daz  floz  vnd  smieltz  ze 
XV<:'Same?i.  vnd  loart  ein  nuwe  metalle  daz  hiez  Cornicum.^) 
vnd  alle  die  vaz  die  ma7i  dar  vz  machet  die  heizzen  noch 
vasa  Cornicia.  Bi  der  selben  zit  vnder  Seruio  vnd  Flaco  ^) 
ratlierren.  loart  ze  Rome  ein  kint  geborn  von  einer  dirnen 


0  16,  A.  B. 

2)  De  Cneo  Cornelio,  A.  B. 

^)  Corinthum,  A.  B. 

•*)  Corinthum,  A.  B. 

5)  Servio  Flacco  et  Quinto  Calpurnio,  A.  B. 


Martinus    Polonus.  379 

daz  het  vier  fu~:e .  vnd  vier  hende .  vier  oxigen .  vier  oren. 
vnd  ztven  zumpen.  vnd  vier  hoden.  Audi  in  Sicilia  der 
berg  ethna.  warf  grozces  für  vz  alicmh  in  die  gegen. 
Auch  huh  sich  in  Sycilia  daz  dienstlich  vrluge.  ^)  JJaz 
nit  die  Homer  allein  ervert.  vnd  erschrecket  auch  sunder 
die  ratherien.  Auch  icas  Sicilia  daz  erlichest '-)  laut, 
wanne  si  tourden  manger  snoden  herschaft  heiwungen .  den 
si  dienen  mnsten. 

von  ro m e. 3) 

In  der  iar  zal  daz  Home  gemachet  wart.  VI.  hun- 
dert vnd.  XXIIII.  iar.^)  do  hiezzen  die  Homer  die  stat 
hartagincm  in  ajfrica .  vnder  Celio  Lucio  vnd  Cyto  Fla- 
miiieo  ratherren  .  vnd  daz  waz  in  don  .  XX.  iar^)  nach  XV  wi- 
dern daz  si  gestoret  wart,  und  die  hmounge  geschach  von 
den  Romern .  die  santen  ir  gesinde  dar .  die  die  stat  icider 
huiveten.  In  den  ziten  wart  ein  grozze  zweiunge .  zwischen 
ßano.^)  vnd  Gracco  vnd  Ratherren .  vnd  der  stat  ze  Rome. 
Bi  den  ziten  warf  der  berg  ethna .  vz  furig  fiammen  iner 
daime  ie.  vnd  verprant  die  stat  Cathenensem.  vnd  von 
dem  plage.  Santen  die  Senatus  von  Rome.  X.  iar  vz  ir 
zinse. 

V on  ro m  e.  '^) 

In  der  iar  zal  von  daz  Rom  gemachet  icart.  VI. 
hundert  vnd.  XLI.  iar.  Do  vrlugten  Gneus.  Maulinus, 
rnd  Quintus.  Scipio  .^)  Ratherren  von  Rome  wider  zim- 
bros  vnd  die  Tuscan .  ^)  V7id  Ambronas .  Gallos  vnd  Ger- 
mania, die  wurden  des  eintrechtig.  daz  si  den  Romischen 
gewalt  vertilgen  ivolten.    die   wurden   doch   ze  letste   vber-  XVI  «• 


')  bellum  servile,  A.  H. 

■')  miserior,  A.  B. 

^)  De  Lucio  Caecilio,  A.  B. 

■')  628,  A.  ß. 

•■)  23,  A.  B. 

••)  Flavio,  A.  H. 

')  De  Caio  Munlio,  A.  B. 

**)  Cujus  Manlius  et  Quintus  Caepius,  A.  B. 

'••)  CymViros  Theutonicos,  A.  B. 


380  Martinus   Folonus. 

komen.  ivanne  ze  ersten  wurden  der  Römer  erslagen. 
LXXX.  tusent  man.  vnd  Marcus  Emilius  ein  Ratlierre. 
vnd  zwen  siner  sune.  vnd.  XL.  tusent  man  der  Colonen, 
also  daz  nilit  wanne  zelten  man  enpfluhen.  die  die  leide 
mere  hin  heim  hrahten .  vnd  do  die  Tuscan  vnd  die  Cumbri 
in  ytalien  komen  in  grozzer  kelle,  vnd  dar  nach  loolten 
gemache  haben  mit  spise  vnd  mit  tränke  vnd  mit  bade  do 
lourden .  Quintus  vnd  Catulius  *)  etigegen  in  gesant .  die 
vielen  vber  si  vngewarnet .  vnd .  e .  si  sich  gesalzten  zu 
strit .  do  vbencunden  si  die  grozzen  menge .  ouch  nil  on 
iren  schaden,  vnd  also  wurden  ir  erslagen.  hundert  tusent. 
vnd.  XL.  tusent.  vnde.  LXX.  tusent  gevangen.  vnd  die 
sich  selber .  vnd  ir  iungen  ertoten .  noch  wiplicher  tobheit. 
XVI 'j-  der  vnzelUch  vil  icaz.  vnd  zu  einer  gedenknisse  dez  grozen 
glukes.  machten  die  Romer  einen  lemp)el.  von  wunderlicher 
gezierde .  der  noch  hüte  ist  genant .  zu  vnser  frowen  der 
grozzen. 

von  Rome.-) 

In  der  iar  zal  von  daz  die  slat  Rome  gemachel  icart. 
VI.  hundert,  vnd.  XLV.  iar.  nach  dem  vrluge  der  zim- 
bern  vnd  der  Tuscan .  do  wart  Rom  so  gar  geswechet  von 
kriege  vnd  von  partis.  die  si  in  der  stat  hellen  vnder  ein- 
ander .  daz  si  ze  leiste  nach  gar  vergangen  waz .  wanne 
daz  Maurius  Quintus.^)  ein  Ratherre  daz  betrübet  volk 
mit  senften  worlen  gestillet,  vnd  die  erslug  er  die  den  krieg 
an  vingen. 

von  Rome.^) 

In  der  iar  zal  von  daz  Rome  gemachet  wart.  VI. 
hundert .  vnd .  L  Villi,  iar .  vnder  Julio  dem  keiser .  vnd 
Lucio  Marco .  ratherren .  harte  wunder  da  geschahen .  vnd 
die  Romer  sere  erschreckten  vmb  daz.   ivanne  bi  den  Ca- 


>)  Catulius,  A.  B. 
2)  de  intestino  bello,  A.  B. 
^)  Marius  quiuto  Consul,  A.  B. 
'')  De  Jullo  Caesare,  A.  B. 


Martinus   Polonus.  381 

cajjtiuos  1)  do  si  di  lyrot  solten  brechen  in  der  Ritterschaßß)  XVIc 
do  ran  hlut  dar  vz.    vnd  zu  den  Samneten  hi  Benevento 
tet  sich  die  erde  uf .    vnd  ging   ein  ßamme   dar  vz  uf  hiz 
an  den  hhnel.   vnd  alle  die  Tier  die  bi  den  hden  pflegent 
ze  iconen.    die   liezzen   stelle   vnd  fider .    vnd    lieffen    mit 
iemerlichem  geschrei  ze  ivalde.   vnd  nach  dem.    danne  die 
hiinde    die   von   natur   heimelich    sint.    die   lieffen  vmb  mit 
iemerlichem  Indien  als  die  ivolje.  dcz  bezeichenunge  zehant 
darnach  vz  ging .  '  ivanne    der    keiser  Jxdius   verlos   einen 
grozzen   stnt.    vnd   entran   selber   kume.     Poncius  .^)    der 
Hhter  icart  überwunden,   vnd  in  maniger  pit'ovincien  wur- 
den die  Romer  siglos   also   vil  daz   der  Senatus   ein  cleit 
antaten   von   tnirikeit.    daz    cleit   hiez    Saga,    vnd  santen 
daz  ouch  dem  heiser  Julio.   daz   er  es  an  tete.     Aber  do  XVI <•• 
Julius  vnd  Pomj)eius   ir   vinde   vberwunden.    do    taten    si 
daz  cleit  vz.    Dar  nach  besaz  pompeius  Ascalum  die  stat. 
vnd  geioan  si   vnd  slug  iren  kunig.   vnd.  LXXX.  tusent 
lute  der  Masoren  *)  tot.     Bi  den  selben  ziten  hub  sich  an 
vrluge.  vnder  den  burgern.    dar  nach   daz  vor   nie   mere 
geschach.   icanne   der  ratherren.   vnd  der  Senaten,  waren 
etliche  leider  asillam.  vnd  etliche  mit  silla.   xvider  die  an- 
dern also  daz  der  Romer  manig   tusent  wurden  erslagen. 
vnd  daz  Quintus  Catulus   sjn'achen  zu    Silla.   mit  weihen 
wir  nu  ze  leiste  gesigen  gewappent  in  dem  stnte .  die  slahen 
icir  danne  zetode  one  were,    vnd  on  ivappen.   vnd  uf  daz 
wort  salzte  Silla   zu   erste   die  tauein   zu  machen  der  be- 
schrihunge  in  daz  eilende,   vnd  in  die  ersten  beschribunge  XVIIa- 
fünf  hundert  man   vnder   den   waren   ratherren.   vnd   also 
wurden  die  Ratherren   entweder   beschriben   oder  erwürget 
vnd  also  daz  zoch  sich  uf  zehen  iar.   daz  do  von  stürben 
vnd  beschriben  icurden  hundert  tusent.  vnd  fünfzig  tusent. 
Do  starb  ouch  Silla.   vnd  nam   der   krieg  ein  ende,   vnd 
Pompeius   betivank   die   lant  in  Onent  zu  einem  grozzen 
teil.  vnd.  XXII.  kunige  da  mit. 


»)  Tarentinos,  A.  B. 

2)  per  convivia,  A.  B. 

3)  Pompejus,  A.  B. 

'S)  18000  Marsoruiu,  A.  B. 
Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXIII.  25 


582  Martinas  Polonus. 

von  Rome.'^) 
In  der  iar  zal  von  daz  Rome  gemachet  ivart.  VI. 
hundert,  vnd.  LXXXXIII.  iar.  hi  dem  keiser  Gayo.  vnd 
Lucio  hihulo  ratherren.  do  lourden  dem  keiser  Julio  ge- 
geben drie  i^rovincien  .  mit .  VI.  legionibus .  vnd  luten .  der 
ist  ieclich.  IX  VI.  vnd.  VI.  hundert,  und.  VI.  tusent. 
die  wurden  ime  hevolhen  fünf  iar .  daz  waz  gallia .  vher 
die  Alpes,  vnd  Gallia  disseit  alpen.  vnd Licius^)  galliani 

XVI Ib.  Comatani .  vnd  die  galliani  kriegten  mit  einem  steten  vr- 
luge .  wider  die  germanos .  daz  der  Rin  allein  scheidet. 
vnd  der  keyser  betwank  gallos.  der  vil  erslagen  wart,  vnd 
wüstet  die  stat  Treuerim  zu  letste  machet  er  ein  brücke 
A.-j-  über  den  Rin.  vnd  für  in  Germaniam.  vnd  nach  dem 
daz  der  keiser  die  gallos  betumngen  het.  do  für  er  wider 
gen  Rom .  do  ivart  im  der  Trisor  mit  dem  schätze  vor 
beslozzen  mit  pompeius  rat .  vnd  icart  niht  enphangen. 
Do  brach  der  keiser  den  Trisor  uf .  vnd  nam  den  schätz, 
vnd  zöget  in  anninium  3)  zu  dem  legionen .  vnd  zoch  dar 
nach  alpes  zu  niassilia.  vnd  für  von  danne  zu  hyspania. 
wider  pompeius  lute.  vnd  kam  in  ytaliam  wider,  vnd 
machte .  LXXXVIII.  schar .  uz  sinem  her .  ze  letste  nach 
grozzem  kriege .    den   die  Romer   ivider   ein  ander  hetten. 

XWUc- Do  ßoch  2)07npeius  her  in  asiam  daz  lant.  vnd  kam  von 
danne  in  egyptum .  vnd  do  slug  in  ptolomeus  der  kunig 
zu  tode  in  Egypto .  vmb  die  fmntschaft  Julij  dez  keisers. 
Also  zöget  der  keiser  pompeio  noch,  vnd  kam  in  alexan- 
driam.  vnd  besante  für  sich  daz  houbet  pompeij .  vnd  sin 
vingerlin .  do  er  daz  sach .  do  weinet  er  gar  sere .  do  kam 
der  keiser  loider  ze  Rome .  vnd  wart  dictator  Ratherre  ge- 
machet, vnd  für  in  ytaliam^)  zehant  wider  die pompeiarios 
vnd  betwank  die.  vnd  zogt  ivider  zu  Rome.  vnd  hielt  do 
daz  fursten  ampt .  III.  iar .  vnd .    VII.  monen .  vnd  loart 


1)  De  Cajo  Caesare,  A.  B. 

2)  Illlricus,  A.  B. 

3)  Ariminum,  A.  B. 
■*)  Hispaniam,  A.  B. 


Martinus  Polonus.  383 

do  erslagen.  von  verretnisse.  Bruti  vnd  Cassi.  vnJ  also 
umz  Rom  berihtet  rnder  kimige  von  Romulo  ziten .  II.  hun- 
dert vnd.  XLVII.iar.'^)  vnd  vnder  den  ratherren.  Uli.  a.-\- 
kundert.  vnd.  XLIIII.  iar  hiz  an  Julium  den  heiser.  XVII J- 
vnd  Jidius  der  keiser  sta7-b  an  dem .  VI.  vnd  fimfzigsten 
iar.  sines  altes,  vnd  sin  corper  luart  verhrant  noch  der 
getwonheit.  vnd  daz  volk  satzte  inie  ein  starke  Mermelin 
sid .  hundert .  vnd .  XX.  fuzze  hoch .  vnd  machten  sin  grab 
dar  uf  en  mitten  in  der  stat.  vnd  ivart  die  sul  Julia  ge- 
heizzen.  vnd  an  dem  hundertsten  tage  vor  sinem  tode.  do 
viel  ein  donre  stral  von  dem  himel  bi  der  sul  nider  die 
ime  gemachet  ivaz.  vnd  slug  dar  abe  einen  buchstaben. 
ein  C.  vnd  an  der  nechsten  nacht  vor  sinem  tode .  do 
füren  die  slof kamern  uf  vnd  zu  so  sere.  daz  er  vz  dem 
bette  lief,  vnd  loonte  ez  loolte  daz  hus  nider  vallen.  vnd 
dez  selben  tages.  do  er  in  daz  CapitoUum  ging  do  wur- 
den ime  brief  gegeben .  die  uf  iren  tot  geschribeii  woren. 
vnd  het  er  die  ze  hant  gelesen,  so  were  er  nit  erslagen.  XV^III»- 
vnd  do  man  in  tot  trug,  do  vant  man  die  brief e  in  siner 
hant  beslozzen.  Do  sprach  der  ochse  zu  dem  ackerman. 
hirtzlich  bezeichent^)  iner  lute.  danne  kom.  war  vmb 
iagest  du  mich  so  sere. 

von  Rom e.  ^) 
Ä7i  der  iar  zal  von  daz  die  stat  Rom  gemachet  wart. 
VII.  hundert,  vnd.  X.  iar.  do  Jidius  der  keiser  gestarb, 
do  kam  Octauianus  sin  neue,  den  nam  man  an  daz  riche. 
wanne  do  er  noch  ein  Jungeling  waz.  Do  kam  er  gen 
Rome  vnd  vbet  sich .  vnd  sin  manheit  in  einem  ieclichem 
sirit.  er  vaht  ouch  fünf  strite  bella  Ciuilia.  daz  vrluge 
Mutinense.  daz  vrluge  Philippense.  daz  vrluge  Persinum. 
daz  vrluge  Sycidum.  daz  vrluge  Atticum. 

von  Rome. 
An   der  iar  zal.    von  daz  die  stat  Rome  gemachet XVUl^- 


1)  267,  A.     241,  B. 

2)  deficient,  A.  B, 

3)  De  Octaviano  Augusto,  A.  B. 

25' 


384  Martinus  Polonus. 

toart.  VII.  hundert,  vnd.  XXV.  iar.  Do  harn  der  heiser 
Augustus  von  Orient,  vnd  het  die  rieh  do  hetwungen.  vnd 
harn  hin  ze  Rome.  Do  wart  er  zu  ersten  geheizzen  Augu- 
stus von  den  Romern .  daz  er  den  gemeinen  nutz  gemert 
het.  vnd  der  naine  heclihet  sinen  tiach  komen.  der  in  be- 
zeichent  die  obersten  wirdekeit  vf  ertriche  des  riches.  der 
in  hriechischer  zungen  heizzet.  Monarchia.  von  do  Octa- 
uianus  Augustus  ivart  genant,  do  zoch  er  mit  eiiieni  her 
in  hyspaniam .  vnd  alle  die  andern  lant  vnd  ricli .  betwanh 
er  mit  sinen  heimzogen  vnd  amptluten.  bi  den  selben  ziten 
hetwang  er  Pannoniam  daz  nu  vngern  ist  genant  mit  sinem 
stlefsun  den  er  dar  sante.  vnd  tilget  die  mit  mangem  tot- 
slage.  vnd  dar  nach  Germaniam  daz  sich  von  vngern 
y^^llc  zxdiet  biz  an  den  Rin.  wan  als  Orosius  seit,  vnd  Solinus 
von  den  wazzern  in  Germania,  daz  ist  die  Elbe,  die 
ßuzzet  von  Peheim.  vnd  die  entspringet^)  in  Merhern. 
vnd  die  vilse  entsjyringet  in  Polan.  vnd  durch  daz  lant 
wider  daz  mere  in  die  Germaniam .  harn  Tyberius  von  des 
heisers  wegen  mit  ziveilf  leigionibus  von  Rittern,  vnd  vr- 
lugten  tvider  si .  III.  iar .  vnd  daz  vrluge  waz  den  Romern 
so  groz  vnd  vorchtsam  daz  als  Swetonius  seit,  daz  in  nie 
kein  vrluge  so  schedelich  wart,  ane  daz  vrluge  Cartagi- 
nense .  ivanne  si  zu  Germania .  III.  legiones  von  rittern 
A.-(-  verlier?!. 


von  dem  keiser  Octauiano  dem  Augusto.^) 
Nach  vnsers  herren  ihesu  christi  geburt.  richsent 
Octauianus  der  keiser.  XLIII.  iar.  3)  vnd  waz  ein 
XVIII  d.  Romer  von  geburt.  Sin  vater  hiez  Octauianus  ein  Se- 
nator, von  der  muter  waz  er  geborn  von  Enea.  vnd 
waz  neue  dez  keisers  Julij.  vnd  waz  an  ime  ein  wünsch 
der  werlde.   in  einem  gewalt.   ouch  wart  sin  glich  nie. 


')  et  Grutales  i.  e.  Odera,  qui  nascitur  in  Moravia,  A.  B. 
-)  Hier  beginnt  in  A.,  B.,  C.  der  Paralleldruck. 
3)  1.  14. 


Martiniis    Polcmus.  385 

wanne  er  on  alle  bosheit  wa/,.')  vnd  lohte  nach  luste. 
Er  pflag  bl.  XII.  Juncfrawen  ze  sloffen,  ouch  sahen  in 
die  Römer  also  schon  ze  Avesen.  daz  in  nicmant  vnder 
engen  mohtc  an  sehen,  vnd  waz  so  gluckhaft,  daz  er 
alle  die  werke  im  zinshaft  machte,  vnd  sprachen  zu  ime. 
Avir  wellen  dich  an  beten,  wanne  gut  ist  in  dir.  wer 
des  niht.  dir  niohten  alle  dink  niht  als  glucklich  gen. 
vnd  daz  vers])rach  er.  vnd  bat  dez  ein  frist.  vnd  dez 
besant  er  zu  im  Sibillam  von  Tyburtina.  ein  wissaginne 
vnd  seit  der.  Avaz  im  die  lute  lietten  für  geleit.  do  bat 
Sibilla.  m.  tage  frist.  ime  dar  uf  ze  antworten,  vnd  XIX«- 
vastet  dri  tage,  vnd  noch  dem  dritten  tage,  antwurt  si 
dem  keiser  also,  ze  einem  zeichen  des  o;erihtes  ist  die 
erde  von  sweizze  naz .  von  himel  ist  komen  eweclich 
künftig  et  cetera.  Do  zehant  tet  sich  der  himel  uf .  vnd 
kam  ein  lieht  uf  in.  vnd  sach  in  dem  himel  die  schön- 
sten iuncfrowen  sten.  ob  einem  alter  die  het  ein  kint 
an  irem  arme,  vnd  des  gesihtes  Avundert  in  sere.  vnd 
horte  ein  stimme  die  sprach,  diz  ist  der  alter  des  gotes 
sunes.  Do  zehant  do  viel  der  keiser  uf  die  erden .  vnd 
betet  ez  an .  vnd  do  er  die  gesiht  seite  den  Senatoren 
dez  Avundert  si  sere.  diz  fresiht  «xeschach  in  dez  keisers 
kamern  Octauiani.  in  dem  Capitolio  daz  nu  ist  A'nser 
frowen  kirche  in  dem  alter,  vnd  do  Octauianus  zu  Rome 
käme  Avider  A'on  Orient.  A'nd  do  gesiget  hat.  mit  dri-  XIX''- 
ualtiger  signuft.  Do  wart  er  gegruzzet  von  den  Ro- 
mern mit  dem  namen  augustus .  Avanne  er  den  gemeinen 
nutz  dez  riches  gemcrt  het.  A^ad  also  betAvank  er  alle 
lant.  vnd  slug  der  von  Germania  vil  zu  tode.  A'nd  ving 
ir.  XL.  tusent.  vnd  fürt  die  in  galliam.  vnd  satzte  die 
aldo  an  dem  rine  zebliben.  Also  Avart  nie  man  seliger 
uf  ertriche  ze  striten .  XLIIII.  iar.  die  Avil  er  dez  riches 
wielt  allein,  vnd.  XII.  iar  mit  Anthonio .  der  anthonius 
waz  auch  ein  Romer.  vnd  also  Avart  er  ouch  bcromt 
daz  er  die  etat  mit  ziegel.    vnd  mit  mcrbel  liez  zieren.  a.-{- 


')  neque  vitiis  cariilt,  A.  B.  C. 


386-  Martinus  Polonus. 

vnd  an  dem .  XXIIII.  iar  i)  sines  riches  starb  virgilius 
A.-j-  ze  brunduöia.   vnd  wart  sin  gepein  gefurt.  gen  Napels. 
Bi  Octauianus  ziten   waz   ein  namhaft  Tabern  vber  die 
Tyfer.    die    wart  genant  Eruentoria^)    AA'anne   die   ritter 
XIXc-  von  sinem  solde  verdienten  daz  si  vertoten  mere  kurtze- 
wil.  vnd  alda  floz  ein  brunne  in  der  nacht  mit  olei.  do 
got  seborn  wart,  do  hat  sider  Calixtus  ein  kirchen  o;e- 
machet   vnd  gepuwen    vnser  frowen.     Also  starb  Octa- 
uianus  Augustus  in  dem  iar  sines  alters  an  dem  riebe. 
LVI.  iar  3)  bi  der  stat  Etalta  in  Campania  wart  er  be- 
graben in  dem  velde  marcio.     Auch  luart  hi  sinen  ziten 
c.  gerechent  die  zal  der  hurger  zu  Rom.  dru  hundert  tusent. 
A.  +  vnd.  LXXX  tusent. 

Tyberius  richsent. 

Tyberius    richsent.  XVIII.  iar.    biz    an   daz  iar 

daz  got  gemartert  wart,    der   waz  Octauiani    stief  sun. 

vnd  tochterman.    vnd    waz    och   ein  kint  dez  Wunsches. 

k.-B.c.vnd   ein  grozzer   trinker   dez  ivines.    vnd   waz  wise  vnd 

gluckhaft   in   dem    wappen.    vnd    waz    wol   geleret   der 

XIX (1-  Schrift  vnd  wol  spreche,  vnd  doch  eines  unsteten  hertzen. 

wanne  er  piniget  die  sinen.  vnd  die  fremden  dicke  von 

A. -f  vnschulden .    vnd    starp   in    Campania.    in   dem  XVIIl. 

iar.*)  sines  riches.   vnd.  LXXXVIII.  iar   sines  alters. 

dez   die  lute    alle   fro   waren.     Auch   war   er   sitik   mit 

allen    sinen   werken,    bi    sinen    ziten    wart    der    meister 

Ouidius  in  daz  eilende  gesant.  er  machet  ouch  poncium 

pylatum  richter  der  Juden .   an   der   stat   seit  Josephus 

in  der  Juden  hystorien .  ein  meister  ein  lobelich  gezuge- 

schaft   von    Christo,    vnd    sprichet.    bi    den    ziten    waz 

Jhesus  ein  wise  man.  ob  man  in  einen  man  sol  nennen. 

vnd  waz  ein  wurker  vnd  ein  lerer  wunderlicher  werke. 

A.-}-  vnd  zoch  an  sich  mit  siner  lere  vil  der  Juden,  vnd  der 


1)  26,  A.  B.     25  C. 
*)  1.  emeritoria. 
3)  77.  Attela,  A.  B.  G. 
*)  23,  C. 


Martinas   Polonus.  387 

Heiden.  Also  nach  vnsers  lierren  niartcr  richsent  Ty- 
berius  fünf  iar.  bi  den  ziten  Avart  poncius  pilatus  in 
daz  eilende  gesant  zu  vienne  in  purciundia.  iimb  vil  ^^"^ 
Sache  die  er  wider  den  keiser  tct.  vnd  vnib  grozze  ar-  a.-{- 
beit  die  er  do  leit  stach  er  sich  selben  ze  tode .  auch 
wart  herodes  mit  sinem  wibe  herodiade  in  daz  eilende 
gesant  ze  vienne  von  Tyberio.  vnd  stürben  do  beide 
revviclich.  diz  waz  der  herodes.  vnder  dem  sant  Jo- 
hannes enthaubtet  wart,  vnd  vnser  herre  c-ot  iremartert.  a.-I- 

Gaius.    der   euch   genant   waz   Galigola.    richsent 
III.  iar.  vnd.  VIII.  monde.i)    vnd   waz  der  Boste  der 
ie  wart .    wanne  er  beslief  zwo  siner  tochter .  -)    die  eine 
gewan  ein  tochter .    die    minnet   er   euch .    er  waz  Neue  a.  b.  c. 
Tyberij    dez    keisers.     Jeronlmus    seit    von    dem    ersten  c. 
Gayo  3)  dem  keiser  wurden  alle  Romischen  kunge  keiser 
genant.    Der  seihe  Gayiis  do  er  so  vil  boskeit  getreih  mit  c. 
tmkusch  vnd  mit  andern  bosheit.    Do  ivart  er  erslagen  ze  XX h- 
Rome  in  dein  palast.  a.-\- 

Claudius  richsent.  XIIII.  iar.  vnd.  XXVIII. 
tage.^)  waz  Caligolus  veter  vnde  machet  ein  vrluge  wi- 
der die  von  Britania.  vnd  etlich  inseln  enseit  Britanie 
betwank  er  auch  an  daz  riebe,  die  hiezzen  Archades, 
der  lebt.  XLIIII.  iar .  s)  vnd  Avart  nach  sinem  tode  ge- 
heihget.  vnde  zu  den  gotin  genant  er  het  keinen  gedank. 
wanne  do  sin  wip  erstochen  wart.  Dar  nach  kurtzlich 
laff  er  in  siner  kamern.  vnde  frogte  war  vmb  sin  frowe 
niht  zu  ime  kerne,  vnd  er  waz  ouch  zu  allen  ziten  vnd 
an  allen  steten  vngeordent  an  siner  spise .  vnd  an  sinem 
tränke.  Er  het  loib  hiez  Messelena,  die  icaz  so  rnkusch  c. 
daz  si  sich  heimelich  liez  minen .  in  den  bösen  husern. 
vnd  zeletste  offenlich   einen   ieclichen .    dez  genüget  si  niht 


>)  3  ann.  10  mens.  8  dies,  A.  B.  C. 

2)  sororibus,  A.  B.  C. 

3)  Julio,  C. 

'^)  14  ann.   7  mens.  29  dies,  A.  B.  —  28  dies,  C. 
5)  64,  C. 


388  Martinus  Polonus. 

XX  c-  vnd  zohe  ouch  ander  edel  froioen  mit  ir  in  die  hosheit. 
Do  diser  Claudius  sterben  solde .  do  satzte  er  von  sines 
wibes  rot  sinen  Ayden.  Neronem  in  daz  riebe,  vnd  ver- 

A.-|-  sties  sinen  sun  i)  do  von.  Bi  diz  Claudius  ziten  kam 
sant  Peter 2)  ze  Korne,  vnd  berihtet  do  die  Cristenheit. 
c.  XXV.  iar.  bi  den  selben  ziten  erschein  der  fenix  in 
Agypto .  der  vor  VI.  Imndert  iar .  in  Arabia  erschineyi 
waz .  inan  seit  aucli .  daz  er  lebe .  VI.  hundert  iar .  vnd 
sich  danne  iunk  mache  in  dem  für.  Er  ist  ein  vogel  groz 
als  ein  Are.  vnd  uf  dem  hoxdjte  gehronet  als  ein  hane. 
vmb  den  hals  ist  er  goltvar .  an  dem  hinderteil  purper  var. 

A.-\-  an  dein  zagel  rosen  var.  vnd  pleich. 

Nero  richsent.  XIII.  iar.  VII.  monde.  vnd.  VIII. 
tage  3) .  der  verboste  romisch  rieb  vnd  minret  ez.  Er 
vischet  mit  gülden  netzen .  die  man  mit  guldinen .  vnd 
XX d.  mit  sidenen  seilen  zocb.  vnd  erslug  einen  OTozzen  teil 
des  senatus .  vnd  waz  allen  guten  luten  vint .  vnd  er 
erslug  vil  siner  frunde  sin  wip  sin  bruder  sinen  meisten 
vnd  zündet  die  stat  an.  vnd  waz  der  enste  ehter  der 
Cristenheit.  dar  vmb  wart  er  verlozzen  vor  allen  Ko- 
A.-\-  mern  vnd  von  den  Senaten  ein  vint  gezalt  vnd  ein  vint 
der  stat.  Bi  sinen  ziten  wart  sant  Jacob  vnsers  herren 
bruder  gemartert.     Er  tet  ouch  Senacam  sinen  meister. 

A.  B.  c.  vnd  hiez  ime  lo^zen  in  einem  bade .  daz  er  starb  an  siner 
angesiht.  In  der  zit  wurden  die  Juden  dem  rieh  vn- 
gehorsam  vnd  wart  vespasianus   dargesant  von  Nerone. 

A.  B.  c.  auch  tet  vespasianus  *)  allen  sinen  fleiz .  daz  sant  peter. 
vnde  sant  paulus  gemartert  wurden.  Also  do  die  Rö- 
mer Neronem  suchten  vnd  wolten  in  erslahen .  vmb  daz 

XXI a-  die  stat  waz  verbrant  von  ime.  vnd  vmb  ander  bosheit. 
die  er  begangen  het.  do  flöhe  er  in  den  palast.  do  si 
ime  nach  iageten.   do   stach   er   sich   selber  ze  tode  in 


1)  Britannicum,  A.  B.  C. 

2)  et  Paulus,  A.  B, 

3)  29,  A.  B.     19  C. 
^)  Nero,  A.  B.  C. 


Martinus  Polonus.  389 

der  vor  stat.  zwischen  sal.iriain  viid  Numentanam .  in 
der  vierden  wil  i)  der  stat.  vnd  do  azzen  in  die  avoH'c. 
von  dem  seit  Swetonius .  daz  er  so  böse  waz  .  daz  er 
an  dez  menschen  Hbe  kein  stat  noch  gehde  reiner  oder 
vnreiner  ahtet  danne  daz  ander .  vnd  do  von  erloubet 
er  den  sinen  ketzzern  alle  bosheit.  Er  tet  kein  cleit  a.  b.  c. 
mehr  an.  danne  daz  einstunt.  Er  besluck  auch  an  kei- 
nen dingen  so  erlichen  als  an  puAve  wanne  die  gezierde 
sines  palastes.  vnd  sines  wappen .  waz  alles  von  golde 
vnd  von  silber.  vnd  von  edelm  gesteine.  von  helfinpeine. 
vnd  von  so  grozzer  koste,  daz  vnzusagen  ist.  Bi  disen 
ziten  do  wart  der  Coliseus  uf  gci'ihtct.  der  waz  hundert  XXIb. 
fuzze-)  hoch.  a.+ 

Vespasianus  3)  richsent.  XL  wochen .  vnd.  IX. 
iar.  vnd.  XXII.  tage.*)  der  wart  keiser  gemachet,  bi 
Palestino  dem  here .  er  wart  verborgcnlich  tjeborn .  vnd 
mit  guter  behendekeit,  vnder  ime  wart  die  Judescheit 
betwungen  von  Römischen  reichen.  Diser  vnd  sin  sun 
Tytus  gewunnen  Jerusalem .  vnd  dar  vmb  gewunnen  in 
die  Römer  sere  lieb.  Er  starb  von  der  Rure.  vnd  do 
er  sterben  solde  do  richtet  er  sich  uf  vnd  sprach:  Ez 
ist  niht  reht.  daz  ein  keiser  Hgende  von  dem  ertriche 
scheide,  hie  wart  er  euch  von  Claudio  in  germaniam. 
vnd  in  Britaniam  gesant .  vnd  streit  do  mit  den  vinden 
ze  .  XXXII.  molen.-^')  vnd  die  sterckesten  vnd  die  besten 
betwanck  er  vnder  daz  riche.  a.-}- 

Tytus. 
Tytus  richsent.  III.  iar.  der  stört  Jerusalem  mit  XXIc- 
sinem  vater  vespesiano.  vnd  alle  die  gezierde  dez  tem- 
pels  sante  er  ze  rome  in  den  tempcl  dez  frides  als  Je- 


')  1.  mil.  milliarium,  A.  B.  C. 

2)  140,  A.  B.     107,  C. 

3)  Galba  in  A.,  B.,  C.  ist  übergegangen. 

'S)  9  ann.  10  m.  12  d.,  A.  B.     9  ami.  11  m.  22  d.,  C. 
*)  32,  A.  B.     tricies  et  bis,  C. 


390  Martinus  Polonus. 

i'onlinus  seit,  diser  Avaz  also  volkomen  an  allen  tugenden. 
daz  er  geheizzen  wart  ein  wollust  menschlichen  kunnes. 
er  liez  ouch  die  bhben  in  der  ersten  fruntschaft  die 
wider  in  gesworn  heten.  Er  waz  also  milte.  daz  er 
niemant  verzech  der  in  bat.  Er  wart  begraben  do  er 
starb  in  dem  stetelin .  do  sin  vater  begraben  wart .  vnd 
so  grozze  clage  vnd  weinen  waz  vmb  sinen  tot  zc  rome. 
c.  daz  sin  ze  vil  waz.  Alleine  der  vater  grozzer  hujent  toere. 
doch  furkam  in  der  sun  an  tilgenden .  daz  man  in  für  den 
vater  erte  an  der  schrift  vnd  vnder  der  gemeinen  rede. 

Domicianus  richsent.  XIII.  iar.^)  vnd.  V.  raonde. 

XXI '1-  Der  Mez  Joluinnem  eio angeUstarn  von  Ejiheso  füren  zu  rom. 

A.B.  c.  vnd  liiez  in  setzen  in  daz  sident  olei.  vor  der  porten  la- 
tina .  dar  vz  er  gink  vnverseret.  Diser  domicianus  waz 
Tytus  bruder.  an  den  ersten  iaren  waz  er  gut  vnd 
senftemutig  an  dem  riche .  zehant  dar  nach  beging  er 
so  vil  vntugent.  daz  er  daz  gut  wort  sines  vaters  vnd 
eines  bruders  zumale  swachet.  Er  erslug  die  eldesten 
von  dem  Senatu .  vnd  waz  der  erste  der  sich  got  hiez 
nennen .  vnd  wolt  kein  sul  in  dem  Capitolio  lazzen 
setzzen  wanne  die  guldin  oder  silberin  were .  er  tet 
Johannen!  evangehstam  in  patmos  senden,  vnd  tot  der 
Cristenheit  die  andern  anuechtunge  noch  nerone.  vnd 
wie  er  vespasianus  sun  were.  doch  waz  er  im  vnglich 
an  tugenden .    wanne   er   ouch   verhaszet  waz  von  allen 

XXII a-  luten.  do  wart  er  erslagen  von  den  sinen  in  dem  palast. 
an  dem  iar  sines  alters .  XXXVI.  iar .  vnd  wart  mit 
vneren  begraben,  bi  sinen  ziten  wart  gemartert.  Dyo- 
nisius  mit  siner  geselleschaft .  vnd  sant  Lucianus  der 
saut  peters  Junger  waz.  die  sant  Clemens  ze  sammen 
schicket,  vnd  si  in  Galliam  sante.  Bi  disen  ziten  do 
wart  gemachet  daz  tempel  pantheon.  daz  nu  ist  zu  vn- 
ser  frowen  der  Rotunden,  vnd  von  dem  wart  es  ge- 
machet, die  Senatores  vernamen.  Daz  die  von  Persia 
sich  satzten  an  daz  rieh,   vnd  wolten  dar  gesant  haben 

1)  3,  A.  B.    13,  C. 


Miirtinus  Polonns.  39t 

einen  prcfecten  von  der  stat .  der  het  dri  tage  frist  üicli 
ze  beroten,  vud  do  er  in  einer  naht  also  lag.  vnd  also 
entslief.  do  erschein  ime  ein  wib  die  sprach,  daz  er 
gelobet  einen  tempel  ze  machen  in  ir  ere.  als  si  in 
wiset.  si  wolt  ime  helfen  daz  er  n^esiffet  wider  die  Per-  XXIIb. 
scn.  vnd  nante  sich  Cybelin  ein  muter  aller  goter.  Do 
globt  ir  Agrippa  der  prefecte.  vnd  ging  des  morgens 
fru  fui'  den  Senat  vnd  saget  ime  die  2;esihte.  vnd  also 
sant  in  der  Senatus  mit  vil  gezierde  mit  schiffen  vnd 
mit  Inten  vnd  mit  fünf  Icgionem .  mit  rittcrn  in  persiam. 
vnd  betwank  si  mit  alle. 

Nerua.- 
Nerua    richsent.    I.   iar.    vnd.    Uli.  monde.    der 
widerrufte  alle   die    ding   die.   Domicianus   setzet.      Er 
liez   ouch  Johannem   evangelistam   vz    dem  eilende   von 
patmos  wider  varen  zu  Epheseos.  a.+ 

Trayanus  richsent.  XIX.  inr J)  der  betwank 
Asiam.  vnd  Babiloniam.  vnd  für  do  in  Judeanj  noch 
allcxandro.  diser  tet  der  Cristenheit  die  dritten  ehtc. 
daz  waz  von  siner  diener  rate,  vnd  niht  von  sin  selbes  XXII c, 
willen .  er  waz  geborn .  von  dlenstluten  vz  hyspania. 
vnd  wart  in  Gallijs  bi  Agrippa  keiser  gemachet  in 
ytalia  vnd  bereitet  vnd  meret  daz  rieh  vil  nach  Augusto. 
er  für  in  dem  roten  mere  biz  in  indiam .  vnd  mähte 
schif  alda  mit  den  er  daz  lant  Indiam  verwüstet.  Er 
waz  gemeine  vnd  siecht  gen  den  Romern .  vnd  gen  allen 
landen,  vnd  waz  grusam^)  gen  sinen  frunden  steteclich. 
xnd  do  er  wider  kam  gen  per-siam  noch  grozzem  lobe 
vnd  signunft.  do  starb  er  vnderwegen  von  der  rure. 
Sin  gebein  wart  ze  sammen  gelesen  in  einen  guldinen 
eimer.  vnd  ze  Rome  gefurt.  vnd  vnder  ein  sule  gcleit 
do  an  dem  markte .  den  er  gemachet  het .  vnd  die  seul 
heizzet  nach  sinem  namen  Traiana.   vnd   ist.  LX.  vnd 


0  18,  C. 

a)  überaus,  A.  B.  C 


392  Martinus   Polonus. 

hundert^)  schuhe  hoch  also  wart  er  von  den  keisern^) 
XXII '1-  begraben,  vnd  vnder  die  gote  gezalt.  vnd  zu  sinem 
lobe  ewicHch  ist  in  dem  Senat  gemachet,  daz  man  den 
fursten  rufFet.  vnd  daz  sehget  Augusto.  vnd  pezzert 
Traiano.  3)  Under  ime  wart'  gemartert  sant  Ignacius. 
,der  Junger  waz  sant  Johannes  ewangelisten.  "vnd  ein 
Bischof,  anthyochus.  Wanne  do  Traianus  kam  vnd 
o:esio;et  het.  vnd  het  den  Cristen  ^edrot.  do  beofegrent 
er  im  vnd  verlach  daz  er  Cristen  Avere.  der  wart  mit 
ysen  gebunden  vnd  zu  Rome  gefuret.  vnd  gemartert, 
vnd  do  sin  hertze  ze  kleine  stucken  gesniten  wart,  vnd 
do  stunt  Cristus  name  an  einem  ieglichen  stucke  mit 
guldinen  buchstaben.  geschriben.  Bi  der  selben  zit 
bluet  astachius  der  vor  placidus  hiez.  vnd  waz  meister 
der  ritterschefte  des  keisers  Trayani .  dem  Cristus  er- 
XXnia.  schein  an  einem  geiegde  zwisclient  eines  Idrzes  Jwrti.  vnd 
A.  B.  also  nu  do  Cristus  irae  vor  seit,  do  leit  er  mit  wibe 
vnd-  mit  kinden  grozze  arbeit.  Bi  der  zit  verbrant  der 
tempel  pantheon  von  einem  himelschen  für  vnd  wart 
dar  nach  wider  gemachet.  Bi  der  zit  lebte  plinius  ora- 
c.  tor .  der  den  heiser  senftet  von  der  eläunge  der  Cristen- 
Jieit.  uHinne  er  im  scJireih  daz  (e?')  niht  vhels  an  in  funde. 
danne  daz  si  den  goten  nicht  opferten,  vnd  daz  si  Vortage 
xif  stu7iden  vnd  Cristum  lohten  zu  einem  got.  Bi  disen 
ziten  icart  Symon  vnd  Cleophas  Jacohi  Mumen  sun  vnd 
A.-f-  auch  bischof  icaz  nach  ime  gemartert. 

Adrianus. 

Adrianus.  Traianus  sun.  richsent.  XXI.  iar.  der 

betwank   die  Juden    zu   dienen,    zu   dem   andern  mole. 

XXIUb.  die   vngehorsara   waren   worden    vnd    besetzet    die    stat 

Jerusalem  mit  andern  luten.    Diser  waz  ze  allen  dingen 

lobelich.    vnd  machet  vil  nuwer  gesetzte,  vnd   hiez  ein 


')  140,  A.  B.  C. 

2)  SC.  solus  intra  urbem  sepultus,  A.  B.  C. 
•■')  ut  in  Senatu  Principibus  non  aliter    acclamaretur   nisi 
felicior  Augusto  melior  Tr  aj  ano,  C.  —  adamaretur  —  tyranno,  A.  B. 


Martinas   Polonus.  393 

sul  In  siner  er  machen  in  der  stat.  vnd  Avie  daz  er 
Traianus  neue  Avere,  so  heizzet^)  er  doch  die  ere  die 
Traianus  het.  vnd  hiez  drie  prouincien  von  dem  riche 
komen .  daz  waz  Syria .  Mesopotanea .  vnd  armenia  die 
Traianus  gemachet  het.  vnd  wohc  ouch  Daciam  hin 
haben  gelazzen  do  werten  im  die  frunde  vnd  erschreck- 
ten in.  daz  er  do  von  Hezc.  ^^'anne  do  Traianus.  Da- 
ciam gewan.  do  brahte  er  von  danne.  ein  vnzellich 
menge  mit  hiten  gen  Kome.  Die  dicker  musten  arbeiten 
vnd  wo  man  ir  bedorfte.  Do  machet  er  fride  in  dem 
riche.  die  wil  er  lebte.  Er  waz  ouch  wolgespreche  in 
latinischer  vnd  in  kriecher  zungen.  vnd  waz  endelich 
vnd  sorksam  vmb  den  Trisor.  Er  starj)  zu  Campania  XXIII c- 
in  dem .  XXI.  iar  sines  riches.  Der  Senat  wolt  im 
niht  gotlich  ere  erbieten,  doch  erwarb  ez  sin  nachkom- 
men an  dem  Senat  daz  man  in  heiliget  als  die  andern, 
vnd  der  Adrianus.  machet  Jerusalem  wüder.  vnd  gebot 
daz  man  keinen  Juden  dar  inne  liez .  sunder  Cristen- 
lute.  Do  wart  die  stat  Caluarie  do  got  gemartert  wart  a.  u.  c. 
in  die  stat  begriffen  mit  den  muren .  daz  vor  vz  wendig 
lag.  vnd  wanne  er  hiez  Elius  Adrianus.  do  nante  er 
die  stat  Jerusalem  nach  sinen  namen  Elya.  vnder  ime 
Avart  gemartert  ze  Rome.  die  heilige  Juncfrowe  Seraphia 
geborn  von  Anthiochia.  vnd  wonte  in  einem  huse.  mit 
einer  gar  edelen  frowen  hiez  Sabina.  die  si  bekerte  zu 
Cristen  glouben.  vnd  do  sant  Serapia  gemartert  wart.  XXIII  ^i- 
do  läse  sant  Sabina  ir  gebein  zesammen.  dar. vmb  wart 
si  ouch  gemartert.  Diser  Adi'ianus  gebot  mit  sinen  a.  b,  c. -|- 
brieuen.  daz  nieman  die  Cristen  toten  solde.  on  rede- 
liche  Sache  einer  bosheit.  Also  do  er  den  gemeinen 
nutz  der  stat  vnd  dez  richs  mit  rechtlichen  Sachen  ge- 
ordent  vnd  gci^chicket  het.  vnd  do  zu  Athcnis  ein  Biblio- 
cetam  von  wunderlichen  werke  gemachet  het.  do  starb 
er  zu  Campania.  Bi  den  ziten  der  gotes  dienst  zu  ersten  c. 
in  kynevhischer  gewanheit  in  kriechen  begangen  ivart.  Orien- 
talis der  vor  in  Abraharnische  loart  begangen. 

')  gloriae  invidens,  A.  13.  C. 


394  Martinus  Polonus. 

Anthonius  der  .  . 
Anthonlus  der  milte  richsent.  XXII.  lar.  vnd 
dri  monen.    Diser  gewan  den  namen  der  milde  dar  vmb. 

XXIIIIa.  Wanne  in  allen  landen  do  erlemant  vant  der  umb  schulde 
oder  bekumert  waz  den  loste  er.  Er  waz  Adrianus 
tochterman.  vnd  waz  milde  wider  dieCristen.  vnd  rich- 
sent so  senfteclich.  daz  er  von  schulden  milde,  vnd  ein 
vater  waz.  Nach  sinem  tode  wart  er  begangen  als  Ro- 
mulus .  vnd  starb  in  sinem  dorfe  Ortam .  XII.  mile  von 
der  stat.  vnd  wart  gezalt  vnder  die  gote.  vnd  wart  ge- 
heiliget. Bi  der  selben  zit  waz  Galienus  der  artzte  ze 
Kome.  bi  der  selben  zit  lebte  ouch  pompeius  Trogus 
von  hyspanie .  der  alle  die  hystorien  von  der  zit  Niniuen 
des  riches  Assyria  biz  an  die  zit  dez  keisers  ze  Latin 
machet  vnd  teilet  die  in.  XLIIII.  teil  der  buch  Con- 
pendium.  aber  kurzerunge  machet  Justinus  sin  iunger. 
vnd  der  selbe  Justinus  machet  dem  keiser  Anthonio  ein 

XXIIII'^  buch  von  der  regeln  der  Cristenheit.  vnd  machet  in  do 
mit  milde  vnd  senfte  gen  der  Cristenheit.  Diser  An- 
thonius waz  so  milde  daz  er  niemant  herte  waz.  vnde 
brufet  wie  er  die  guten  erte.  Man  seit  von  ime  daz 
er  spreche  ich  wil  lieber  nach  der  gewonheit  *)  einem 
burger  leben  behalten  denne  tusent  vinde  ertoten,  der 
het  ein  tochter  die  zwen  schirmer  mit  ein  ander  vehten 
sach .  vnd  entprant  in  dez  einen  minne  so  sere .  daz  si 
do  von  siech  wart .  vnd  wart  irem  man  Marco  Anthonio 
daz  sagen,  dem  rieten  die  ertzte  von  Caldea.  daz  er 
den  schirmer  tet  erslahen.  vnd  die  frowe  mit  dem  blute 
bestrichen,  daz  er  verguzze.  vnd  do  daz  geschach  do 
A.B.-(- verginge  ir  die  liebe,  vnd  wart  gesunt.  s 

Marcus. 
Marcus  Anthonius  der  gewere  richsent  mit 
sinem   bruder.   Lucio.   Aurelio .    Commodo.   XIX.  iar. 
XXIIIlc  von  dem  vink  Roma  an  zwen  keiser  mit  ein  ander  zu 


•)  exemplo  Scipionis,  A.  B.  C. 


Martinus  Polonus.  395 

haben.  Diser  der  M-art  gar  biderbe .  doch  wart  die 
cristenhcit  gepinget  von  sinen  dienern  mit  der  vierden 
verehtunge.  Bi  diser  zit  wart  der  gemein  nutz  mit  gar 
gelichem  rehtem  berihtet .  vnd  von  den  amptluten  wenik. 
vnd  do  der  eine  starb,  vnd  der  ander  richsent.  do  wur- 
den si  in  Asya  in  Gallia  in  Oriente  vnd  in  üccidente 
vil  hite  gemartert  vmb  Cristenglouben.  In  Asya  wart 
gemartert  sant  Policarpus  mit .  XII.  siner  gesellen.  In 
GalHa  ze  phyladelphia  Sant  Justus  ein  bischof  von 
Luo;dum  mit  jjar  vil  ander  lute.  Wer  mohte  disen 
Marcum  niht  billirh  loben.  Er  waz  von  sinen  ersten 
iaren  gar  senftmutig.  Er  waz  von  keinen  dingen  vber- 
mutig.  vnd  hielt  die  lant  in  grozzer  tugent  vnd  mildi- 
keit  mit  g-eben.  Er  waz  rilich  noch  der  si^'nuft.  ErXXIIII'i- 
starb  in  pannonia.  vnd  wart  geschriben  gemeinlich  von 
alten  luten  vnd  erlich  vnder  die  lute  *)  gezalt.  Bi  dez 
ziten  lebte  die  heilige  Juncfrowe  Braxedis  die  die  toten 
begrub,  vnd  für  sich  selber  bat  daz  si  got  ouch  neme 
von  diser  werlde  mit  der  marter.  des  wart  si  von  gote 
erhöret,  vnd  starb  och  an  der  marter.  vnd  für  gen 
himel.  Do  diser  kciser  keiser  Marcus  geurlugt  wider 
die  Germanos.  vnd  die  Solanos.  vnd  dieGlanacos.  vnd 
die  Assamatos.  ^)  Also  daz  der  Trisor  geleret  waz  von 
gute .  daz  er  den  rittern  nit  nier  het  ze  geben.  Do 
wolle  er  den  Senat  nocli  daz  lant  niht  betrüben  vmb 
fifut  ze  geben .  vnde  nam  sine  guldenin  vaz .  vnd  siner 
frowen  gezierde.  vnd  verkoufFt  die.  daz  er  den  rittez'n 
ze  geben  hete.  vnd  do  er  y:esiget.  do  bessert  er  daz  XXV*'^- 
niht  alleine,  er  machte  ouch  allen  landen  ir  tribut  lihter. 

Commodus. 

C  0  m  m  o  d  u  s    A  u  r  e  1  i  u  s     richsent    nach    Aurelio. 

XIII.  iar.  mit  Lucio  anthonio.     Dirre  Commodus.  An- 

thonij    sun.    hette   glucklich    strit  wider   die   Germanos. 

er  gedahte.    Septembrem   den  monade   ze   nemen  nach 


1)  1.  gote. 

2)  öclavos,  Giauocos,  et  Sarmatas,  A.  ß.     Glaucos,  C. 


39G  Martinus  Polonus. 

sinem  namen.  Er  wart  ouch  verbost  von  sines  wibes 
vntugent.  vnd  gink  schirmen  mit  den  luten  in  Anphy- 
teatro.  vnd  starb  eines  gehen  todes.  mit  so  grozzem 
hazze  der  lute.  daz  man  in  nante  einen  vint  alles 
A. -j- mensclilichen  kunnes.  sin  nam  waz  zu  tutsche  der  ge- 
machtsam.  vnd  waz  doch  allen  liifen  vngemachtsam. 
vnd  wart  erwürget  in  dem  huse  vegali.  ^)     Discr   sante 

XXV'J-  philippum  einen  edeln  Romer  in  Egyptmii  genant  in 
Alexandriam    mit    siner   Tochter    Eugenia.    vnd    zwene 

A.n.c.smie^)  Protho  vnd  Jacincto.  do  solde  er  ein  rihter  sin 
dez  landes  .  vnd  sin  tohter  Eugenia  cleidet  sich  in  mannes 
cleider  heimlichen,  vnd  für  in  ein  munches  closter.  mit 

A.  B.  c.  iren  brudern  protho  vnd  Jacincto .  vnd  nante  sieh  euge- 
nius .  vnd  waz  so  gar  frum .  daz  si  wart  zu  Apte  ge- 
setzet do  der  apt  gestarb,  vnd  do  waz  ein  böses  wib 
die  waz  geheizzen  Meliuitia.  die  enpran  in  irre  liebe 
von  do  ir  Eugenius  der  apt  ir  bosheit  verseit.  do  rüget 
si  in  vor  allen  den  munchen  vmb  ein  notzogunge .  vnd 
wart  braht  für  iren  vater  der  waz  rihter  des  landes. 
vnd  wart  an  gesprochen   vmb  die  vorgenanten  schulde. 

A. B.c.  vnd  do  si  stunt  vor  dem  rihter  irem  vater.  vud  ir  hru- 
der  bi  ir.     Do  reiz  si  ire  cleider   von   irem  halse .    vnd 

XXV  c-  liez  iren  vater   sehen   daz    si    waz  Eugenia   sin  tochter. 

A.  B.  c.  vnd  Prothus  vnd  Jacinctus  sin  sune.  Do  wart  vater 
vnd  muter  getauft  vnd  alles  ir  gesinde .  vnd  wurden  fro 
des  fundes  der  kinde .  vnd  daz  wib  die  si  an  sprach, 
die  verprant  von  einem  für  von  liimel. 

Helius  Pertinax. 
Helius  Pertiiiax  vndSeuerus  richsent.  XVIII. 
iar .  dirre  Helius  bat  den  Senat .  daz  liezzen  sin  wib 
keyserinne  wesen.  vnd  sinen  sun  keiser.  Do  antwurt 
ime  der  Senat .  daz  er  sich  lizze  genügen .  daz  er  rich- 
sent mit  vnwillen  ze  leiste,  do  wart  er  erslagen  in  einem 
kriege  vnder  den  rihtern  vnd  dem  pretorius  vnd  Julio 


0  Vestali. 

2)  eunuchis  suis,  A.  B.  C. 


Martinus  Polonus.  397 

dem    melster.  1)     Diser    helius    pertinax    avuz    ein    alter  a.b.  c.-|- 
man.    vnd  an  allen  sinen    dingen   sieht,    vnd   räch    sieh 
allen  dingen  keinem.  A.-f- 

Seuerus   richsent.  XVII.  iar.     Er  waz  ouch  ein 
vrluger.   vnd  waz   vvol   gelert  in  kriechscher  vnd  latin- XXVJ. 
scher  zungen.  vnd  waz  ze  fragen  endelich.  vnd  ze  ge- 
ben rilich.    Diser  Seuerus  tet  die  die  fünften  verehtunse. 
der  Cristenheit  in  der  manig  heiige   in    manigen  landen 
wurden    gemartert,    ^^^d    den    Iconcius-)    Orietus    wart 
enthaubtet.    vnd   liez  Orienem   mit.  VI.  sinen  brudern. 
vnd  ir  mutter  ein  witteben,    vnd  do   der    selbe  Orienes 
waz .  XVII.  iar .    alt .    do    waz    er    so    wol    geleret    in 
gramatica.  bi  der'zit  wart  gemartert,  yreneus  ein  bischof  a.  d.  c. 
zu  lugthuie   mit   vil   anders  Volkes.     Also  starb  Seuerus 
in  britania.  daz  nu  heizzet  Anglia  Eborati.     Diser  Se- 
uerus waz  kark .  vnd  eines  grimmigen  mutes .  vnd  streit  c. 
vil  strite  do  ez  ime  glucklichen  ging.     Er  betwank  die 
Parthos .  vnd  Arabes .    vnd    brahte   vil  der  lande  wider 
an  daz  riche.     Der  selbe  waz  ouch  ein  meister  in  dem  XXVIa- 
rehten.  er  w^az  ouch  ein  gut  philosophus  on  die  grozzen 
ere  die  er  in  striten  gewan.  ze  letste  het  er  ein  vrluge 
in  Britanie  vnd  betwank  daz .    vnd   zu    einer   Sicherheit 
die  lant  zu  behalten  die   er   gewunnen   het.   machet   er 
einen  graben  von  einem  raere .   biz   an  daz  andre  hun- 
dert mil .  vnd  XXXII.  mil.    Diser  loaz  zu  erste  ein  vogt  c. 
vnd  kam  also  von   einem   anipt   hiz  uf  daz   andere,   vntz 
daz  er  keiser  wart.     Diser  ivaz   ouch   der   erste  vnd  der 
letste  geborn  von  Affrica. 

Anthonius  von  karcalla  richsent .  VII.  iar .  vnd 
sin  sun  Seuerinus.  Diser  Anthonius  waz  Seuerus  sun. 
vnd   waz   gar   ein   boswiht.    vnder   ime  waz  in  Ercia^) 


')  seditioiie  Practorianorum  niilltum,    ft  Salui  scelere  obtrun- 
catur,  A.  B.  C. 

2)  pater  Origencs,  A.  B.  C. 

3)  Ilicricbo,  A.  B.     Virclio,  C. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXÜI.  26 


398  Martinus  Pol  onus. 

funden  die  fünf  erbiinge  i)  der  schrift.  Diser  Anthonius 
waz  noch  grimmer  der  siten  denne  der  vater.  vnd  waz 
XXVI  b-  so  vnkusche .  daz  er  sin  stiefmuter  nam  zu  wibe.  Also 
do  er  ein  reise  samment  Avider  die  partes .  do  starb  er 
bi  der  stat  Edyssam.  in  dem.  Vll.  iar  sines  riclies. 

Marcinus^)  richsent  ein  iar.  mit  sinem  sune.  vnd 
A.+  do  wart  er  erslagen. 

Anthonius  richsent.  III.  iar.  bi  dez  ziten  wart 
die  sehste  der  ernuwunge  der  schrift  funden.  Diser  An- 
thonius waz  also  vnkusche .  daz  kein  stucke  waz  von 
vnkusche.  er  wolde  ez  zertriben.  ze  letste  wart  er  er- 
slagen von  der  ritterschaft .  Aiid  die  sinen  mit  ime  er- 
slagen. 

Alexander  richsent. 
Alexander  richsent.    XIII.  iar.    diser   wart   von 
dem  her  genant  keiser.  vnd  von  den  Senaten  augustus. 
Er  hielt  die  ritterlichen  zucht  gar  herteclich.    vnd  hielt 
bi  ime  assessorem  whnanum  ^)  der  ein  meister  waz  die 
XXVIc- reht  zei  rihten.    vnd  betwank  die  lute  persas.    die  Ro- 
mer heten   in   Hep.     In    Gallia   ze  Moguncia   wart   ime 
der  hals  abe  geslagen  von  den  rittern .  bi  den  ziten  waz 
Origenes  noch  den  Aposteln,    der   beste   lerer,   vnd  an 
heilio;em  leben  in  der  Cristenheit .  do  beg-onde  er  machen 
manigerleye  bucher.  vnd  het  stetes  sitzzen.  VII.  Junge- 
linge,  vnd.   VII.  Juncfrowen    die    bucher  schriben  von 
sinem  munde .  vnd  schreib  so  vil  daz  Jeronimus  sprach, 
er  het  gelesen.   VI.  tusend  volumina.    oder    pucher  die 
er    gemachet    het    on    episteln.    vnd    noch    vil   hellikeit 
A.  B.  0.+ schribet  man  von    sinem  leben,    die    wir  hie  geswigen. 
c.  Meminea  des  muter  ^)   wart   von   o^igenis  vnd  ander  lerer 
Cristen .   vnd   dar  vnib    slug   st  ir  sun  der  keiser  ze  tode. 
A.-{-sa7it  ypolitus  jiyschof  ze  portuensi  icaz  bi  den  ziten. 


1)  quiula  editio,  A.  ß.  C.  ernuwunge. 

2)  Macrinus,  A.  B.  C. 
^)  Ulpianum,  A. 

")  Mammea,  mater  Imperatoris,  A,  B 


Martinus   Polonus.  399 

Maxi  minus  richsent.  III.  iar.  der  waz  der  erste  XXVI ''■ 
der  von  einem  ritter  ze  keiser  wart  gemachet,  on  des 
Senates  rat .  er  verchtct  och  die  Cristen .  vnd  betAvank 
die  germanos.  vnd  die  persaz.i)  ze  letste  verliezzen  in 
die  ritter  vnd  wurde  er  vnd  sin  sun  Maximinus  dar 
nach  ein  kint  waz  tot  geslagen. 

Gordianus  richsent.  VI.  iar.  Fabianus  wart 
habest  zu  Kom  von  der  wisunge  dez  heihgen  geistes 
der  ob  sinem  houbt  in  einer  tuben  wise  erschein",  vnd 
sprach,  du  wirdest  zu  Kom  pischof  gewihet.  Dirre 
Gordianus  do  er  die  von  persia  betwungen  het.  vnd 
gen  Kome  kam .  do  wart  er  ershigen  von  der  verretnisse 
phiHppi.  A,  K.  c-f- 

Philippus.  vnd  sin  sun  philippus .  richsent .  VII. 
iar .    diser   der  waz  ein  Cristen  keiser  worden  von  Fa-  a.  b.  c 
Viano  dem  pabst.   bi  dez  ersten  iare  waz  die  zal  tusent 
iar  erfüllet  von  der  stat   anvank.    dar   vmb   die  Körner  XXVII  a. 
o-rozze  hochzeit  vnd  freude   begino-en   an   dem   tag-e   ze 
eren.    vnd    die    hochzit    wert    dri    tage    vnd    dri    naht. 
Diser  waz  getouft  von  sant  poncio  dem  marterer  in  der 
stat.  Nycena  in  der  provincia.    dise   beide   wurden   er- 
slagen  von  dem  her .    der  vater  ze  Rome .    der   sun  zu 
veron.  vnd  der  sun  waz  eines  so  grimmes  mutes.    daz 
in   niemant   künde    lachen   machen.     Dise   zwen   keiser. 
liezzen   iren   schätz   sant   Syxto  dem  babste.    vnd    der 
heiligen  Cristenheit .    die   Decius    der  minner   der   niht.  c. 
keiser  waz  von    saut   laurencio   vordert   als  man  liset  in  c. 
siner  legende.    Diser  jMlipjnis  der  elter.  loaz  so  volkomen 
an  Cnsten  glouhen .   daz   er   snelleclichen   sin  siinde  bildet 
vnd  gotes  lichnam  enpking   an   dem  ostertage  offenlicli  vor 
aller  der  gemeine. 

Decius   richsen.  IL  iar  vnd.   IUI.  monden.   vnd  XXVII  b. 
waz  böse  an  allen  dingen,   vnd  Avaz  doch  wise  in  dem 
Wappen.    Er  hazzet  die  armen,  vnd  tet  der  Cristenheit 


1)  Tarthos,  A.  B.  C. 

26' 


400  Martinus   Polonus. 

die .  VII.  verehtunge.     Er  waz  geborn   von   der  nidern 
pannonia  .  vnd  wart  erslageii  in  dem  pannesclien  vrluge.*) 

Gallus   mit  voll u. 
Gallus    mit    vollusiano    richsen.    II.  iar.   vnd. 
IUI.  monen .  vnd  starb  von  dem  swellenden  buche .    bi 
der  zit  waz  sant  Ciprianus  bischof  zu  kartagine. 

valerianus. 
Valerianus  mit  sinem  sun  gallieno  riclisent. 
XV.  iar.  diser  betwank  die  lant.  Gotland.  Greciara. 
Macedoniam  vnd  Asiam.  dirre  fürt  ein  reyse  in  Meso- 
potamiam .  vnd  zu  Jerusalem .  vnd  wart  vberwunden. 
von  Sapore  dem  kunge  von  persia.  vnd  betwungen  von 
ime  in  einem  vnerlicheu  dienst.  Avanne  als  lange  er 
lebte .    so    troet   ime  der  kunig  Sapor  uf  sinen  hals  für 

XXVII  c.  einen  Stegreif  wenne  er  uf  sin  phert  wolde  sitzen.  Do 
diser  valerianus  an  vinck  richsen.  do  verehtet  er  die 
Cristenheit  so  vil .  daz  mani«;  heilioe  sin  blut  vergoz 
vnder  ime.  Do  wart  gemartert  sant  Cyprianus  sant 
Martinus  sant  Lucius  der  pabst.  Galyenus  rihtet  von 
erste  daz  rieh,  vnd  den  gemeinen  nutz  biderbclich. 
vnd  dar  nach  liez  er  ab  vor  fulheit.  vnd  wart  böser 
danne  vor.  vnd  dar  nach  wart  er  erslagen  von  verret- 
c.  nisse  Aurelij  des  rotgeben .  '^)  von  valeriano  vnd  Galyeno 
xoart  decius  kunig.  vnd  noch  heiser  niht.  vnd  vnder  dem 
wart  sant  Syxtus  vnd  sant  Laurencius  gemartert .  loanne 
do  Sant  Syxtus  fiir  in  hyspaniam.  vnd  vant  die  zwen 
iungen .  Laurencium  vnde  Vincencium .  die  fürt  er  mit  ime 
gen  Rome .    vnd  Liaurencius   bleib    aldo    mit  ime .    do  für 

XXVII '••  vincencius    wider  in   hyspaniam .    vnd    loart    do    gemarter 
vnder  dyocleciano. 

Claudius    wart   keiser   gemachet.    7nit  ivillen   des 
A.  B.  c.  ScJiates .  vnd  richsent  ein  iar.  vnd.  VIII.  monen.  3)  der 


')  in  bello  Barbarico,  Ä.  B.  C. 
-)  ducis. 
3)  6,  C. 


IStartinnp  Polonus.  401 

hetwank  die  Gotos.  die  beten  gewüstet  INTyricum ')  vnd 
Maccdoniani  die  laut,  vnd  diser  C'Iandius  -wart  vber- 
"Nvunden  von  den  Tiiscan.-)    vnd    starb   in  einer  suchte.  a.+ 

Aurelianus. 

Aurelianus  richsent.  V.  iar.  Diser  verchtet  auch 
die  Cristen.  vnd  den  sluo-  ein  donerslaj;  daz  er  doch 
niht  starb.  Er  waz  geborn  von  dacia  repesi .  ^)  vnd 
waz  mechtig  an  vrluge.  Er  betwank  die  Schotten'') 
strengiclich  zu  ßinf  moleii.  Er  waz  der  erste  der  edel  a.  b.  c. 
gestein  machet  in  sin  kröne.  Er  machet  ouch  die  rink- 
niur  der  stat  sterker  denne  si  vor  waz.  vnd  einen  tem- 
pel  der  sunnen.  dar  inne  er  vil  goldes  vnd  gesteines 
worchte.  vnd  satzte  den  baten  swinen  fleisch  zu  ezzen.  XXVIII«- 
Auch  kam  er  in  Gallias.  vnd  machte  do  gar  g-rimme 
gebot  wider  die  Cristen.  zu  Senonis  martert  er  sant 
Columban.  vnd  vil  ander  lute  mit  ime.  zu  Anstisio^) 
hiez  er  ouch  vil  lute  martern.  Ein  stat  in  Gallia  hiez 
Genabium  die  nant  er  nach  sinem  namen  Aurelianam. 
vnd  wart  ze  letste  erslagen.  von  sines  knchtes  verret- 
nisse .  vnd  wart  vnder  die  gote  gezalt. 

Dacius*-)  der  richsent.  Yll.  monde.'^)  Er  waz 
wise  vnd  milde .  vnd  mohte  siner  tilgend  niht  wol  be- 
wisen  wanne  er  kurtzlich  starb. 

Probus  **)  richsent.  VI.  iar.  vnd.  TU.  monade. 
der  betwank  zwcn  kunge.  bi  der  zit  stunt  uf  die  ket/.zerie 
Manucheus  in  dem  lande.  Er  waz  der  erste  genant  waz 
ein  barbarus.  vnd  seit  sich  doch  ein  manucheum.^)    Er 


')  Illyrlcum,  A.  B.  C. 

*)  victis  Alemannis,  A.  B.  C. 

3)  de  via  Ripeiisi  oriundus,  A.  B.     de  Dacia  Ripensi,  C. 

*)  Gothos,  A.  B.  C. 

5)  Altisiodori,  A.  B.  C. 

6)  Tacitus,  A.  B.  C. 
')  1  ann.  6  mens.,  C. 

*)  A.  B.  setzen  Florian  vor  Probns. 

")  Persa  genere,  acer  ingenio,  moribus  Barbarus.    Manes  priino 
dictus:  sed  per  adjectionem  Manichaeum  sc  dixit,  A.  B.  C. 


402  Martinus    Polonus. 

XXVIII b-  sprach  claz  zwen  anvange  weren  einer  guten  dinge, 
einer  dez  lichtes .  vnd  einer  der  vinsternisse .  vnd  brahte 
vil  siner  nach  komen  in  die  irrunge.  Dirre  probus  wart 
erslagen  von  den  rittern  bi  der  stat  Snircino.  i) 

Florianus^)  richsent.  zwei  iar  vnd.  XII.  tage.  3) 
der  Avart  tot  geseit  von  einem  aderlazzen.  Er  tet  nie 
kein  dink.  daz  wirdig  were  zu  verschriben. 

Clarius. 
Clarius    mit    sinen    sunen    Carnlo'^}    vnd  nume- 
rlano    richsent.  IL  Iar.    er   waz    an    allen   dingen   böse, 
vnd  verdarb  in  einem  deinem  wazzer .  sin  sune  wurden 
ouch  beide  erslagen. 

Dyocleclanus.     vnd     maximlanus     richsent. 
XX.  Iar.    DIser  dyocleclanus  waz  von  einer  helmelichen 
A.  B.  c.  geburte.  vnd  loart  heiser  gemachet  von  dem  her.   Er  ver- 
brante    die    bucher    der   Cristen    gar    vnd    verehtet    die 
Cristen.  X.  iar.    In  aller  der  Crlstenhelt.     Er  waz  der 
XXVIII  c-  erste  der  edel  gesteine  in  sin  schuhe  vnd  sin  cleider  tet 
machen .  Avanne  alle  fursten  vor  Ime  niht  wanne  purpur 
trugen,    ze   letste    wart   er   verstozzen    von    dem   riche. 
vnd  starb  von  der  vergift.    Er  waz  geborn  von  damacla. 
vnd  machet  maximlanum  zu  einem  kunge.  vnd  sant  den 
A.  B.  c.  in  galllam  ivider  die  purgunden  s)   die    mit   grozzem   ge- 
walt  sich  satzten  wider  daz  riche.  die  gestillet  er.  vnd 
vnder   wegen   begegenten   Ime  die  Thebei.   sant  Maurl- 
clus  mit  siner  schar,    vnd   daz    die  nIht  wolten  ophern 
A.-f-den  goten  vnd  an  Crlstum  Jähen,    do   hiez   er  sl  mar- 
tern .  daz  sl  wllliclichen  Uten .  vnd  also  let  dyocleclanus 
in   Oriente .    vnd  Maximlanus    In    occidente    die   kirchen 
zerstören,    vnd    die  Cristen  lute  ertoten,    vnd   die    ver- 


1)  Sutrinum,  A.  B.     Sirminum,  C. 

2)  Glorianus,  A. 

3)  39  dies,  alias  2  annis,  A.  B.     2  ann.,  C. 
■i)  Carus,  Carinus,  A.  ß.     Clarus,  C. 

*)  contra  populum  Rusticorum,  A.  B.  C. 


M  art  i  uns  Poloniis.  403 

ehtuuge  der  Cristenheit.  ^\az  aller  groste.  wanne  si  XXVIII <'• 
were.  X.  iar.  wer  niht  oppfern  wolte  den  guten  den 
slug  man  ze  tode.  do  wart  ze  rume  Gayus  der  babst 
gemartert,  vnd  jNrarcellinus  der  wart  babst  erweit,  bi 
dez  ziten  waz  so  grozze  verehtung .  der  Cristenheit. 
daz  bi.  XXX.  tagen,  vnib  vnd  vnib  in  den  landen 
XXII.  tusent  von  mannen  vnd  von  frowen  oreniartert 
wurden.  Also  daz  der  babst  Marcellinus  von  vorhten 
den  goten  oppfert.  doch  kam  er  zu  ruwen .  vnd  gab 
vrteil  vber  sich  selber  daz  er  soIde  verstozzen  sin  von 
dem  babst  ampt.  vmb  sin  missetat.  die  er  begangen 
het .  vnd  wart  dar  nach  von  dyocleciano  gemartert .  bi 
der  selben  zit  wart  gemartert  ze  Kome.  Anastasia  die 
Juncfrawe .  Sant  sebastianus .  sant  Agnes .  sant  Lucia 
zu  meylant .  Geruasius  vnd  prothasius .  sant  Agatha, 
sant  Gorgonius.  sanctus  Quintinus  Crisogonus  zu  der  XXIX >»• 
stat  Egea .  Cosmas  vnd  damianus  prüder.  In  dem  lande 
Frigida^)  ein  gantz  stat.  die  cristenlute  waren  die  wur- 
den verbrant  daz  niemant  vz  quam  in  britania.  vnd  in 
Gallia .  -)  Avaren  vil  die  Cristenlute  toten  vnd  vertilge-  a.  b.  c. 
ten.  Do  icort  ouch  sant  Georgius  gemartert .  vnd  also  ^'  "" 
dar  nach,  do  starb  dyoclecianus  in  Britania  von  vergift. 
vnd  setzet  sinen  su7i  Constantinum  der  ein  Jcehs  sun  icaz 
ze  heiser  in  Gallia.  Do  der  heiser  icart.  do  wart  er  den 
bürgern  vnd  den  andern  laten  liejJ  vnd  ham  gen  Home 
leider  Mdxencium  den  die  Homer  ketten  gemachet .  vnd  der 
waz  so  böse .  daz  er  hein  bosheit  schuhet  vnd  gesiget  von 
dem  zeichen  dez  hruzes  daz  ime  gewiset  icart  vnder  (ZemXXIXt» 
icart  sant  hatherina  gemartert. 


1)  Phrygia,  A.  ß.  C. 
-)  et  Anglia,  A.  B.  C. 


(Fortsetzung    folgt.) 


Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft 
für    das    Studium    der  neueren    Sprachen. 


In  der  Sitzung  vom  19.  April  wurde  zuvörderst  ein  Auszug  aus 
der  Correspondenz  der  auswärtigen  Mitglieder  niitgetheilt.  Herr  Ha- 
mann in  Potsdam  verspricht  Beiträge  auf  deutsche  Spraehkunst  be- 
züglich, Herr  Ihne  in  Lrivei'pool  eine  lexieographische  Arbeit,  in  der 
zugleich  eine  Schilderung  des  englischen  Volkslebens  gegeben  werden 
soll.  Herr  Schmitz  in  Greifswald  theilt  mit,  dass  er  ein  Werk:  Ency- 
clopädie  des  philologischen  Studiums  der  neueren  Sprachen  in  vier 
Theilen,  unter  der  Presse  hat,  Herr  Tycho  Mommsen  in  Oldenburg 
fibersendet  den  ersten  Bogen  einer  kritisclien  Ausgabe  der  Doppeltexte 
von  Romeo  and  Juliet,  und  erbittet  die  Unterstützung  der  Gesellschaft 
für  die  Gründung  einer  Shakspeare-Actiengesellschaft,  deren  Ziel  sein 
soll  1)  eine  kritische  Zusammenstellung  des  alten  überlieferten  Textes, 
2)  die  Publication  einer  Reihe  von  Abhandlungen  erläuternder,  histo- 
rischer, ästhetischer,  dramaturgischer  Art.  Seinem  Briefe  fügt  er  ein 
eigenhändiges  Schreiben  Payne  Collier's  bei.  Herr  Düntzer  in  Cöln 
übersendet  einen  kleinen  Aufsatz  :  Goethe  in  Ilmenau  im  Anfange  de 
Septembers  1783  (siehe  Archiv  XXIH,  S.  205  ff.). 

Herr  Philipp  berichtet  darauf  über  eine  Abhandlung  von  Borel : 
Malherbe  und  Ronsard,  Herr  Sachs  über  Jähnsch  :  Beiträge  zur  Lexi- 
cographie  des  Französischen,  Herr  Büchsenschütz  über  die  zweite  Aus- 
gabe der  Uebersetzung  des  Parzival  von  San  Marte  (Archiv  XXIH, 
S.  200,  202,  161). 

Zu  den  durch  die  Abreise  der  Herren  Andresen  und  Pröhle  er- 
ledigten Aemtern  eines  stellvertretenden  Vorsitzenden  und  eines  stell- 
vertretenden Schriftführers  werden  gewählt:  zum  ersteren  Herr  Pro- 
fessor Petermann,  zum  letzteren  Herr  Dr.  Holtze. 

Für  die  Bibliothek  der  Gesellschaft  wurden  von  Herrn  Dr.  Corte 
folgende  von  ihm  verfasste  Schriften  eingesandt:  1)  ein  Programm  des 
Zerbster  Francisceums :  Probe  einer  englischen  Uebersetzung  A-on 
K.  W.  Krüger's  griechischer  Sprachlehre,   2)  die  Liebenden  von  Teruel, 


Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft  etc.  405 

Trauerspiel    in   fünf  Aufzügen,   frei    dem   spanischen  Sd'ieke  desselben 
Titels  von  Don  Juan  Eugenio  Ilartzenbiiscli  naeligedielitet. 

Sitzung  des  4.  I\Iai.  Nachdenj  der  Vorsitzende  von  den  einge- 
gangenen Uriefen  und  Arbeiten  Nachriciit  gegeben  und  einige  zuge- 
schickte Bücher  zur  Beurtheilung  vorgelegt  hat,  spricht  zuerst  Herr 
Heller  über  Shaksp.  K.  John  V,  2 : 

By  all  the  blood,  t.hat  ever  fury  brcath'd, 
The  youth  says  well. 

Zur  Aufliellung  dieser  und  anderer  Stellen,  namentlich  auch  der  con-' 
victed  sails  (ibid.  HI,  4)  ver^yies  der  Vortragende  auf  den  Einlluss, 
den  das  Studium  der  Alten,  namentlich  Ovid's  und  Virgil's,  auf  An- 
schauungSAveise  und  DIction  Shakspeare's  unverkennbar  geübt  hat ; 
speciell  für  jene  beiden  Stellen 'vergleicht  er  Ovid,  Met.  IV,  490  und 
II,  800  und  das  Virgil'sche  vicit  hiems  naves. 

Darauf  las  der  Vorsitzende  einen  von  Hei-rn  Weigand  einge- 
sandten Aufsatz:  .,Ueber  das  Französischsprechen  in  der  Schule."  — 
Der  Verfiisser  zeigt  in  demselben,  dass  die  ge\yöhnliclie  Anforderung 
des  Publicums,  der  Schüler  solle  zu  geläufigem  Hersagen  der  im  ge- 
meinen Leben  am  häufigsten  vorkommenden  Redensarten  angeleitet 
werden,  der  Schule  unwürdig  ist.  Er  verwahrt  sodann  die  neueren 
Sprachen  gegen  den  Vorwurf,  dass  ihr  Werth  für  formale  Bildung 
gering  sei,  ihr  Studium  in  der  Schule  daher  von  untergeordneter  Be- 
deutung, zumal  da  selbst  der  praktische  Gewinn  einer  Fertigkeit  im 
mündlichen  Gebrauche  derselben  auf  Schulen  nicht  erzielt  weide.  Im 
Gegensatz  gegen  diese  Extreme  glaubt  der  Verfasser,  dass  einige 
Fertigkeit  im  Sprechen  erreicht  werden  könne  und  —  schon  um  der 
schweren  Kunst  des  Hörens  willen  —  angestrebt  werden  müsse.  Dazu 
habe  man  schon  auf  den  untersten  Stufen  mit  Sprechübungen  zu  be- 
ginnen, den  Stoff  aber,  wie  er  des  Näheren  ausführt,  aus  der  Gram- 
matik, aus  der  Leetüre,  aus  den  historischen  Unterrichtsgegenständen 
und  aus  den  persönlichen  Verhältnissen  der  Schüler  zu  entnehmen  ;  mit 
Disptitatorien  könne  man  günstigenfalls  auf  der  höchsten  Stufe  ab- 
schliessen.  Eine  lebhafte  Debatte  knüpfte  sich  an  diese  Vorlesung. 
Herr  Heller  bemerkt,  der  Verfasser  hätte  Realschule  und  Gymnasium 
aus  einander  halten  sollen.  Herr  Herrig  erwiedert,  selbst  auf  dem  Gym- 
nasium werde  bei  rechtem  Betriebe  der  Sache  eine  ziemliche  Fertigkeit 
im  Sprechen  gewonnen.  Herr  Härtung  will  auch  für  das  Lateinische 
Sprech lilmngen.  Herr  Mann  erklärt  die  mündlichen  Uebungen  bei 
jedem  Sprachunterricht  fiir  erspriesslicher  als  die  schriftlichen.  Herr 
Kleiber  weist  die  Unzulässigkeit  der  Forderung  nach,  dass  die  Schule 
es  zu  vollkommener  Fertigkeit  im  Sprechen  bringe,  ist  mit  dem  Ziel 
und  der  Methode  des  Verfassers  im  "Wesentlichen  einverstanden  und 
zweifelt  nicht  am  Gelingen,  sobald  nur  hinreichend  gebildete  Lehrer  vor- 
handen seien.  Herr  von  Thrämer,  als  Gast  anwesend,  meint,  dass 
der    Schüler    überhaupt    nur  ausnahmsweisse  eine   fremde   Sprache 


40G  Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft 

sprechen  lerne ;  könne  doch  selbst  in  den  russischen  Ostseeprovinzen ' 
selten  ein  Abiturient  das  Russische  geläufig  sprechen,  obwohl  dieser 
Unterrichtsgegenstand  —  dem  übrigens  weder  Abneigung  noch  Un- 
fähigkeit der  Schüler,  noch  ausserordentliche  Schwierigkeiten  der  Er- 
lernung im  Wege  ständen  —  ganz  besonders  bevorzugt  sei.  Herr 
Kleiber  entgegnet,  dass  es  dann  an  der  Methode  liegen  müsse;  bei 
ausschliesslich  grammatisch-kritischer  Behandlungsweise  lerne  man  keine 
Sprache,  auch  die  eigene  Muttersprache  nicht  einmal,  sprechen.  Zum 
Schlüsse  weist  Herr  Heller  auf  die  Wichtigkeit  der  Hörübungen  hin. 
Den  I.Juni  berichtet  der  Vorsitzende  über  die  eingelaufene  Coi're- 
spondenz.  —  Dann  spricht  Herr  Heller  über  vier  Stellen  Shakspeare's. 
Zuerst  zeigt  er  die  Unhaltbarkeit  der  Delius'schen  Erklärung  von  Bar 
Harry  England  (King  Henry  V.,  act  IIF,  5)  ;  auch  unternahm  Niemand 
aus  der  Gesellschaft  eine  Vertheidigung  der  Delius'schen  Uebersetzung. 
Dann  bespricht  er  folgende  Stellen:  King  John  IV,  1,  Well,  see  to 
live,  King  John  HI,  2,  While  Philip  breathes  (in  dieser  Stelle  bezieht 
er  mit  Schlegel  gegen  Delius  Philip  auf  den  König  von  Frankreich, 
nicht  auf  den  Bastard)  und  King  John  H,  2.  In  dieser  Stelle  liest  er, 
wie  die  Folio:  kings  of  our  fear,  nicht:  kings,  ofourfear,  und  erläutert 
sie  durch  King  Richard  II,  4,  wo  der  König  sich  king  of  griefs  nennt. 
Herrn  Hartung's  Erklärung,  der  kings  of  our  fear  als  Apposition  zu 
gates  fasst,  fand  vielseitige  Unterstützung.  —  Herr  Sachse  referirt  dar- 
auf über  die  vier  ersten  Nummern  des  Anzeigers  für  Kunde  der  deut- 
schen Vorzeit,  Organs  des  germanischen  Museums  zu  Nürnberg.  — 
Herr  Sachs  trägt  nachsiehende  Studien  zur  Geschichte  der  englischen 
Grammatik  vor,  welche  vielfach  discutirt  werden. 

,Jcli  will  In  flen  folgenden  Zeilen  nicht  eine  Geschichte  der  englischen 
Grammatik  schreiben,  zu  der  unter  Andern  Hunter  in  seinem  textbook  of 
Englls!)  Grammar  und  Goold  Brown  in  seiner  Grammar  of  English  Gram- 
mars einzelne  Notizen  zusammengetragen  haben,  welche  auch  Schmitz  in 
der  Einleitung  zu  seiner  brauchbaren  Grammatik  benutzte;  ich  will  nur  ver- 
suchen, einige  fernere  Beiträge  zusammenzustellen  und  die  bedeutendsten 
Werke  zu  cbaraktcrisiren,  welche  sich  mehr  oder  weniger  speciell  mit  dem 
Studium  der  englischen  Sprache  beschäftigt  haben.  Im  Ganzen  gilt  übrigens 
noch  Blair's  Wort  in  den  Lectui-es  I,  157:  The  Genius  and  Grammar  of 
the  English,  to  the  rtproach  of  the  country,  have  not  been  studied  with 
equ.'d  care  (sc.  as  the  French)  or  ascertained  with  the  same  precision. 

Die  ältesten  Versuche,  welche  in  dieses  Gebiet  einschlagen,  obwohl 
man  sie  kaum  Grammatiken  nennen  kann,  sind  mehr  glossenartig  gehaltene 
Werke,  deren  Zweck  es  war,  Bewohnern  des  britischen  Eilandes  fremde 
Sprache  zugänglich  zu  machen,  die  uns  aber  mittelbar  auch  mancherlei  An- 
deutungen über  das  heimische  Idiom  geben.  Dahin  gehört  die  hinter 
Somner's  Dictionarium  Saxonico-latino-anglicum  (Oxon.  1GÖ9.  Fol)  abge- 
druckte Grammatica  latino-s  axonica  des  Abtes  Aelfric,  welche  sich 
selbst  als  excerptiones  de  Prisciano  minore  einführt  und  als  ein  frühzeitiges, 
die  einzelnen  Redetheile  nach  Art  der  alten  lateinischen  Granmiatik  durch- 
nehmendes Werk  in  angelsächsischer  und  lateinischer  Sprache  in  Icxika- 
hscher  Beziehung  von  Bedeirtung  ist.  Ein  ähnliches  Interesse  nehmen  einige 
ältere  Werkchen  in  Anspruch,  welche  darauf  berechnet  waren,  das  Studium 
der  französischen  Sprache  zu   erleichtern;    1)  das  Gedicht  des  Gautier 


für  das  Studium  der  neueren  Sprachen.  407 

de  BIblesworth  aus  dem  XIII.  saoc.,  tretys  (\ue  Ganter  de  Bibele.swortli 
fist  a  niadame  Dyonisie  de  INIounchensy,  das  icli  aus  dem  Ms.  Mus.  Britan. 
Arundel  220  (4.  pareheniin.  XIV'.  saec.  ]i.  297)  co])!)'!  und  mit  der  ctwa.s  ver- 
stümmelten Copie  in  der  Biblioiliek  von  Corpus  C'ln-i^ti  Collef^^e  zu  Cam- 
bridge Nr.  450  (Fol.  241—2.=)!)  und  dem  INIiddlehiller  Ms.  833G  vergliehen 
habe,  das  aber  bis  jetzt  noch  nicht  heransp;ej,a'ben  ist.  Die  genannte  Dame 
.«oUte  aus  diesem  Opus,  Avelehes  in  Iranzüsischen  Versen  die  Ilauptbefreben- 
heiten  des  Lebens  von  der  Wiege  an  mit  englischen  Glossen  durchgeht, 
französiseh  lernen,  und  es  kann  wohl  als  eines  der  ersten  Vocabularien  für 
die  englische  und  französische  .Sprache  angesehen  werden.  Die  seltene,  bei 
Wynkyn  de  Worde  gedruckte  prosaische  Grammatik  der  französischen 
Sprache  (British  Museum  Biblioth.  Greuvill.  7570)  here  begyiineth  a  lytell 
treatyse  for  to  lerne  Englysche  and  Frensche.  12.,  ist  die  üobertson'sche 
Methode  in  nucleo.  Sie  soll  in  beiden  Sprachen  in  die  am  meisten  ge- 
brauchten Phrasen  einführen  und  enthält  auf  den  zwölf  Seiten  stets  Inter- 
linearübersetzung.     Sie    fängt    an  : 

Here   is   a  good  boke  to     lerne      speke  frensche  in  the  name  of  the  father 
Very    ung  bon     livre    a  apprendre  parier  francoys      cn     nom       du       pere 

and  the  sone  . .  . 

et      du    fiz  . . . 

Diese  und  einige  andere  solche  Erstlingsversuche,  wie  endlich  die  erste 
französische  Grammatik,  welche  einen  Engländer,  Falsgrave,  zum  Ver- 
fasser hatte,  das  von  Genin  neu  edirte,  zuerst  1530  veröllcntlichte 
Esclarcissenient  de  la  langue  Francoyse  geben,  wenn  auch  nur  in  zweiter 
Linie,  Kenntniss  vom  Standpunkte  einer  Sprache,  welche  damals  ausser 
Landes  noch  wenig  geachtet  war.  Denn  lange  nachdem  Bonnetto  Laiini 
in  der  f^inleitung  zu "  seinem  Tresor  die  oft  citirten  Worte  zum  Lobe 
der  französischen  Sprache  geäussert  hatte:  que  francois  est  plus  deli- 
taubles  lengages  et  plus  communs  que  molt  dautres,  durfte  noch  Claudius 
Dur  et  US  in  seinem  tresor  de  riiittoire  des  langues  de  cet  imivers  (Col. 
I6l3)  die  folgende  Bemerkung  machen:  „Cette  langue  angloise  est  si  peu 
estimee  des  estrangers,  qui  vont  cn  Angkterre,  qu'il  y  en  a  peu  i\m  veu- 
lent  sc  pener  de  l'apprendre  et  de  la  parier,  si  se  ne  sont  les  serviteurs  ou 
facteurs  pour  l'usage  des  choses  utiles  et  lu-cessaires  k  la  vie  lesquelles  de- 
pendent  du  menu  peuple,  qui  ne  scait  parier  autre  langue."  Grammatische 
Studien  wurden  wesentlich  gefördert  durcli  die  sogenannte  Paul's  Acci- 
dence,  ein  I.tIO  erschienenes  Compendium  der  lateinischen  Sprache  für 
Engländer,  zu  dem  Colet  dean  of  St.  Paul's  die  englisch  geschriebene  Ein- 
leitung und  den  Namen,  sowie  Lily  den  syntaktischen  Theil  lieferte,  und 
durch  das  am  Meisten  in  jenen  und  noch  in  späteren  Zeiten  gel)rauchte  *) 
Handbuch  der  lateinischen  Grammatik,  Lily's  oder  King  Henry's  Gram- 
mar,  als  dessen  früheste  vollständig  zusammengestellte  Ausgabe  nach  zu- 
verlässigen Untersuchungen  die  vom  Jahre  1542  anzusehen  ist.  Wie  die 
Entwickelung  der  englischen  Sprache,  besonders  in  .syntaktischer  Beziehung, 
vielfach  durch  das  Lateinische  becindusst  wurde,  so  lehnte  sich  auch  die 
Grammatik  vielfach  an  die  als  Muster  aTigenommene  Behandlung  der  latei- 
nischen Zunge. 

Die  erste  eigentliche  Grammatik  der  englischen  Sprache  aber,  veröH'ent- 
licht  drei  Jahre  vor  Puttenham's  art  ofenglish  pocsie,  ist  William  Bullo- 
kar's  Booke  at  large  for  the  amendment  of  Orthographie  for  English 
Sj)eech,  über  das  mir  keine  weitern  Nachweisungen  zu  Gebote  stehen,  und 
desselben  Autors   bref  grammar   for  English,    158C,   in   der  B.  selbst 


*)  So   sagt  Wither  Abuses  stript  I,    1:    Nor  any  whit    for  Grammar 
rules  to  seeke,  in  Lilies  Latine  nor  in  Camdens  Greeke  . . . 


408  Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft 

sagt,  sie  sei  the  first  gramniar  fnr  englisli  that  ever  waz,  except  my  gram- 
mar  at  large.  Ich  niuss  mich  hier  begnügen,  dieses  Buch  nur  zu  nennen, 
wie  ein  zweites  aus  der  nächstfolgenden  Zeit,  das  als  in  Beziehung  zu  gram- 
matischen Untersuchungen  stehend  citirt  wird,  das  mir  aber  ebenso  wenig 
liier  einzusehen  möglich  war;  ich  meine  das  von  VVharton  in  seiner  History 
of  English  poetry  lU,  323  citirte  Werk  von  Verstegan  „Restitution 
of  decayed  Intelligence.  Antwerp.  IGOS.  4.,  dessen  Autor  schon  1587 
in  Antwerpen  das  theatrum  crudelitatum  heraeticarum  herausgab.  Nach  der 
englischen  Grammatik  Ballokar's,  dessen  Name  übrigens  bald  noch  einmal, 
aber  mit  dem  Vornamen  John  als  der  eines  Autors  eines  englischen  Lexi- 
cons  erscheint:  „An  english  expositour  of  hard  words.  IGlG,"  erschien  zu- 
nächst wieder  eine  lateinisch  geschriebene  von  Dr.  Alexander  Gill: 
„English  grammar  treated  in  Latin.  4.  London  1621,"  welche  aber  bald 
durch  Ben  Jonson's  English  grammar  for  the  benefit  of  all 
strangers  verdunkelt  wurde.  Dieser  Dichter,  dessen  „partiaiity  for  the 
classic;  tongues  and  learnod  sock"  sprüchwörtlich  geworden  sind,  basirte 
sein  Werk  auch  wesentlich  auf  das  Latein;  ihm  ist  grammar  „the  art  of 
true  and  well  speaking  a  language:  the  writing  fs  but  an  accident"  Er 
behandelt  die  einzelnen  Redetheile  nach  der  althergebrachten  AVeise,  gibt 
mancherlei  Regeln  zur  Abhülfe  der  englischen  Pseudographie,  die  aber  zu 
lange  schon  herrschend  sei  als  dass  eine  Abhülfe  wahrscheinlich,  citirt  viel 
aus  lateinischen  alten  und  spätem  Grammatikern,  wie  in  den  neun  Kapiteln 
der  Syntax  aus  Gower,  Lydgate,  Chaucer;  stellt  aber  unter  den  schätzens- 
werthen  Regeln  manche  hin,  die  er  selbst  in  seinen  "NA'erken  sonst  nicht  be- 
folgt hat.  So  z.  B.  sagt  er  prince  habe  im  Genitiv  princi's,  welches  miss- 
verstanden zu  d(;r  monströsen  syntaktischen  Form  the  prince  bis  house  ge- 
fülu't  habe;  während  doch  zwei  seiner  Stücke  den  Titel  Sejanus  his  lall 
und  Catiline  his  conspirary  führen,  und  in  Every  man  in  his  humour  3,  2 
,. Sir  Revis  his  horse  vorkommt;  unter  den  Pronominen  führt  er  its  noch 
nicht  an,  das  freilich  in  der  englischen  Bibel  niemals,  aber  zweimal  bei 
Jonson  selbst  und  bei  Shakspeare  vorkommt.  Wenn  Ben  Jonson,  dessen 
Buch  Hörne  Tooke  Litroduction  S.  5  „the  first  (as  well  as  the  best)  Eng- 
lish grammar"  nennt,  sich  eng  an  die  lateinische  Grammatik  anschloss,  so 
wählte  sein  nächster  Nachfolger  auf  diesem  Gebiete,  J.  Wallis,  der  Vater 
der  englischen  Philologie,  wie  ihn  Nares  (Elements  XXIV)  mit  Recht  nennt, 
gar  wieder  die  Sprache  Cicero's  und  Priscian's,  um  seine  Gramm atica 
linguae  anglicanae  zu  schreiben,  welche  zuerst  1653  in  Oxford  erschien, 
wo  der  Autor  seit  1G49  Savilian  professor  of  geometry  war.  Wenn  er  auch 
in  der  Vorrede  S.  XXV  seinen  Vorgängern  vorwirft,  dass  sie  „ad  latinae 
linguae  normam  haue  nostram  anglicanam  nimiura  exigentes  multa  inutilia 
praecepta  tradiderunt,  quae  a  lingua  nostra  sunt  prorsus  aliena,"  so  hat  er 
sich  doch  auch  wesentlich  an  dieselben  Vorbilder  angeschlossen  und  in  seinen 
gelehrten,  vielfach  auf  das  Hebräische  und  die  classischen  Sprachen  Rück- 
sicht nehmenden  W^erke  die  hergebrachte  Anordnung  befolgt:  er  behandelt 
in  fünfzehn  Kapiteln  pronunciatio,  Substantiv,  artikel,  praepositiones,  adjectiv, 
comparativ,  pronomen,  verb,  auxiliare,  to  be,  to  have ;  dnzwischen  syntak- 
tische Regeln  bezüglich  des  Accusativs  und  Nominativs;  verba  anomalia;  ad- 
verbia,  conjunctiones,  praepositiones  noch  einmal,  interjectiones ;  dann  125 
bis  191  etymologia;  endlich  191  poesis.  Auf  Seite  199  folgt  die  praxis 
grammatica,  in  der  das  Vaterunser  und  das  Symbolum  analysirt  werden. 
Ein  solches  Werk,  so  hoch  es  auch  bei  dem  geriihmten  Scharfsinn  seines 
Verfassers  über  etwa  gleichzeitigen  für  den  praktischen  Gebratich  geschrie- 
benen Machwerken  stehen  nochte,  als  z.  B.  Milk  for  Children,  a  piain 
and  easie  method  teaching  to  read  and  write  von  J.  Thoraas,  London  1658, 
bleibt  doch  bedeutend  hinter  den  Anforderungen  zurück,  die  wir  jetzt  an 
eine  gute  Grammatik  machen ;  noch  weniger  aber  kann  bei  aller  Spitzfindig- 
keit  des  Autors   das  folgende  Opus   uns   befriedigen,    das  in   unser  Gebiet 


für  das  Studium  der  neueren  Sprachen.  409 

einschlügt;  wir  meinen  Bishop  Wilkins*)  Essay  towjirds  a  real  character 
and  a  i>hilo.sophical  lannuajie,  London  1(JG>S,  aus  dem  Booth  in  seinem  ana- 
lytical  dictionary  einen  interessanten  Abschnitt  excorpirt,  das  Monboddo  of 
the  origin  and  progress  of  hinguage  (E(hnbiirgh  1774)  S.  440 — 482  aus- 
führhch  bespricht  und  für  ein  nicht  praktisch  andwendbares  Erzeugniss 
eines  Genius  erkUirt.  Nach  einer  Einleitung  über  den  Irspruiig  der  Sprachen, 
über  Alphabete  und  deren  UnvoUkomnicnhcit  stellt  \V.  in  einem  Universal 
philosophy  betitelten  Abschnitte  in  zwölf  Kapiteln  allgemeine  Bcgrillc  auf, 
unter  die  er  mit  fast  ermüdendem  Streben  nach  logischer  Uuterabtheihnig 
und  Schematisirang  die  einzelnen  Worte  der  Sprache  zu  rangiren  versucht 
(regulär  enumeration  and  description  of  all  those  things  and  notions  to  which 
names  are  to  be  assigned) :  dann  folgt  die  i)hilosoi)hical  grannnar,  worin 
er  in  acht  Kapiteln  die  einzelnen  Kedetlieile  bespricht  unil  auch  wieder  mit 
mathematisch  genau  abgezirktdten  und  sogar  durch  Bilder  erliinterten  Scheina's 
je  in  das  ihnen  zukonunende  Fach  des  grossen  Kepositoriums  einschachtelt. 
S>?hr  unbedeutend  ist  das  kurze  Ka]iitel  von  der  Syntax,  worin  er  fast  nur 
von  Stellung  und  Accent  der  Rede  liandelt,  und  nachdem  er  noch  in  Kap. 
10  — 14  über  Buchstaben  und  ihre  Auss[)rache  geredet,  geht  er  im  vierten 
Theile  seines  Buches  zu  seinem  llauptzwi-cke  über,  der  Aufstellung  einer 
neuen  philosophischen  Sprache,  die  er,  künstlieh  selbst  construirt  hat  und 
deren  Vorzügliehkeit  er  dadurch  recht  in's  Licht  zu  stellen  sich  bemüht,  dass 
er  zum  Schluss  das  Vaterunser  in  fiüilzig  Sprachen  hinter  einander  vorliihrt 
und  sein  Machwerk  als  einundfünlzigste  darauf  prangen  liisst,  welche  uns 
trotz  Monboddo's  lobender  Aeusserungen  darüber  doch  nur  als  eine  ziemlieh 
unfruchtbare  Arbeit  hat  erseheinen  können. 

Einige  gelegentliche  Beitrage  für  grammatische  L^ntersuchunjren  lieferte 
Henr.  Spelman  **)  in  seinem  Glossanum  archaeologicum,  London  1G87,  nach- 
dem die  eigentlich  anglische  Lexicographie  durch  Minshew's  grosses  Lexi- 
con  in  elf  Sprachen  (1617),  ..Guide  into  the  tongues"  und  durch  Kider's 
„Latin  and  English  Dictionarie"  gef"ördert  war;  doch  machte  sich  auch  hier 
der  Einfluss  eines  allzu  pedantischen  Studiums  der  alten  Sprachen  bald 
geltend  und  führte  manche  Autoren  auf  Abwege,  wovon  uns  ,, The  new  world 
of  English  words  or  a  general  dictionary"  von  E.  IMiiUips,  London  1G58, 
Fol.,  mit  seinem  gelehrten  ^V'uste  ein  recht  deutliches  Beispiel  gibt. 

Ln  Jahre  1(J89  erschien  in  Oxford  ein  Werk,  das  für  eine  gründlichere 
Erforschung  der  englischen  Sprache  in  wissenschaftlicher  Beziehung  Bahn 
brach,  die  lateinisch  gesehriebcnen  Institutioncs  grannnaticae  anglo-saxo- 
nicae  et  Moeso-gotieae  von  G.  Hickes,  4.,  worin  nach  den  herge- 
brachten Principien  der  lateinischen  Grammatik  in  fünfzehn  Kapiteln  erst 
die  verschiedenen  Kedetheile  lateinisch  behandelt,  dann  quaedam  re- 
gulae  syntaxeos  (?4)  promiscue  positae  mit  Beispielen  aus  den  beiden 
Sprachen  begründet  werden;  es  folgt  darauf  eine  islandische  Grammatik  und 
Lexicon  von  Ranolph  Jonas,  die  aber  nur  die  Aceidence,  keine  Synta.x 
enthält,  ein  Vorwurf,  den  wir  überhaupt  einer  grossen  Zahl  von  Graunnatiken 
machen  müssen,  dem  ja  selbst  Grimm  in  seinem  herrlichen  Buche  nicht  ganz 
ausgewichen  ist,  wiihrend  auch  Diez's  syntaktischer  Theil  gt'gen  den  ersten 
gehalten  dürftig  genannt  werden  kann,  obwohl  Monboddo  mit  Recht  von 
der  Syntax  sagt  (S.  339,  vol.  III),  sie  sei  the  last,  but  the  hrst  and  principal 
part,  beiiig  that  f'or  which  every  other  part  of  the  art  is  intended. 

\\'ichtig  für  die  Behandlung  der  -lateinischen  Grammatik  und  somit  auch 
von  unmittelbarem  Einflüsse  auf  die  englische  waren  des  laborious  and  ju- 
dicious   (Tooke  I,  292)   Rieh.  Johnsou's  170G   erschienenen   Grammatical 


*)  Who  is  fairer  and  more  intelligent  than  any  of  them  (Tooke  I,  292). 
**)  Tooke  I,    412:    I  hardly  venture  to  say  that  I  believe  the  correct 
and  exact  Spelman  is  here  mistaken. 


410  Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft 

Conimentaries  (8.  400  Seiten),  die  sich  besonders  gegen  Lily  richteten;  be- 
deutender aber  wirkte  sein  Namensvetter,  Dr.  Johnson,  durch  sein  1755 
erschienenes  Lexicon,  dem  er  eine  Geschichte  der  enghscben  Sprache  auf 
29  und  eine  englische  Grammatik  auf  14  Seiten,  mit  etwa  zehn  Zeilen  Syntax 
meist  das  Phonetische  berücksichtigend,  voranschickte.  Dieses  von  Todd 
neu  herausgegebene  Werk,  über  das  auch  die  Ausgabe  von  Dr.  Johnson's 
Werken  durch  Murphey  (London  1816)  im  zweiten  Bande  Notizen  enthält, 
hatte  wie  sein  Verfasser  seiner  Zeit  unbedingte  Autorität,  wenn  auch  frei- 
lich jetzt  Manches  antiquirt  oder  umgestossen  ist  und  Booth  S.  70  mit  Recht 
von  iinn  sagt,  er  sei  au  authority,  which,  if  not  great  among  grammarians, 
is  powerful  aniong  the  people  (cf.  Johnson's  life  by  Boswell  ed.  Croker. 
London  1839.  10  vol.  8.).*)  Bald  nach  diesem  x'cin  für  das  Praktische 
beabsichtigten  und  in  vielen  tausend  Exemplaren  und  Auszügen  im  Volke 
verbreiteten  Werke  erschienen  „The  principles  of  the  English  language  di- 
gested  for  the  use  of  Schools"  by  J.  Elphinston.  London  17G6.  12.  in 
vier  Abschnitten :  Accidence,  Etymology,  Syntax  in  acht  Theilen  nach  der 
hei'gebrachten  Bestimmung  der  Redetheile,  Pi-osody  (S.  298);  einen  ähn- 
lichen Gang  befolgt  Jos.  Priestley,  The  rudiments  of  English 
grammar.  London  17G8.  8.,  der  alle  Abschnitte  in  Fragen  und  Antworten 
abhandelt  und  auf  den  ersten  leichtern  und  einfachem  Theil  bis  Seite  200 
noch  in  zwölf  Paragraphen  notes  and  observations  for  the  use  of  those  who 
have  made  sorae  proficiency  in  the  language  folgen  lässt,  die  manche  feine 
Bemerkung  über  Sprachgebrauch  gibt  und  Fehler  gegen  die  Syntax  in  zahl- 
reichen Beispielen  aus  den  gelesensten  Autoren  der  ihm  zunächst  voran- 
gehenden Zeit  rügt.  Blair  I,  208  nennt  ihn  useful,  by  pointing  out  several 
of  the  errors  into  which  writers  are  apt  to  fall.  Von  secundärer  Bedeutung 
war  Ray 's  in  demselben  Jahre  mit  Priestley  erschienene  complete  collectlon 
of  English  proverbs,  London  17G8;  sehr  einflussreich  aber,  weil  das  Er- 
zeugniss  eines  scharf  denkenden  Kritikers.  A  short  introduction  to  English 
Grammar  by  Lowth,  London  1767,  whose  grammar  (wie  Booth  S.  77  sagt) 
has  been  plundered  by  many  of  bis  suceessors  without  being  imi)roved.  Blair, 
lectures  I,  207,  nennt  sein  Buch  the  gtammatlcal  perfonnance  of  hlghest 
authority  that  has  appeared  In  our  time;  Horace  Tooke,  Introduction  5,  sagt: 
üur  English  grammar  may  be  sufficiently  and  easily  le<arned  Irom  the  excellent 
Introduction  of  Dr.  Lowth;  doch  tadelt  er  ihn  auch  mitunter  (I,  258,  II, 
471).  Zwar  sagt  er  in  der  Vorrede,  dass  die  englische  Sprache  vielleicht 
von  allen  europäischen  die  einfachste  in  Form  und  Constructiou  sei  (S.  V) 
[ein  Urthell,  das  sich  besser  ausnimmt  als  Monboddo's  f^rklärung,  Fran- 
zösisch und  Englisch  seien  mongrel  dialects,  corruption  of  better  languages, 
S.  75];  aber  doch  darf  man  nicht  genaue  Forschungen  unterlassen  und  her- 
gebrachte Fehler  aus  dem  Volksmunde  in  die  Schriftsprache  einschmuggeln. 
S.  VI :  The  construction  is  so  easy  and  obvious,  that  our  grammarians  have 
thought  it  hardly  worth  while  to  give  us  any  thing  like  a  regulär  and  syste- 
matical  syntax.     The  English  Grammar  that  has  been  last  presented  to  the 


*)  Sehr  scharf  kritisirt  es  H.  Tooke,  I,  219:  „lils  grammar  and  history 
and  dictionary  of  what  he  calls  the  English  languages  are  in  all  respects 
(except  the  bulk  of  the  latter)  most  truly  contemptible  Performances ;  and 
a  reproach  to  the  learning  and  industry  of  a  nation,  which  could  receive 
them  with  the  slightest  approbation.  Nearly  one  third  of  this  dictionary  is 
as  much  the  language  of  tiie  Ilottentots  as  of  the  English  .  .  .  it  appears  to 
be  a  work  of  labour,  and  yet  Is  in  trutli  one  of  the  most  idle  peribrmances 
ever  ofi'ered  to  the  public"  etc.  —  Campbell,  Rethoric  I,  405,  urtheilt  über 
ihn:  „Dr.  Johnson  notwithstanding  his  acknowledged  learning,  penetration 
and  ingenulty,  appears  sometimes,  if  I  may  adopt  his  own  expression  „lost 
in  lexicography." 


für  das  Studium  der  neueren  Sprachen.  411 

public  and  by  tlie  person  best  qualified  to  have  given  us  a perfect  one  (Dr. 
Johnson),  comprises  the  wliole  Syntax  in  ten  lincs,  fbr  this  reason,  „be- 
cause  cur  hinguage  has  so  little  inde.xion,  that  its  construction  neither  re- 
quires  nor  admits  many  rules."'  Lowtli  gibt  trotzdem  viele  Ivcgoln  und  kri- 
tisirt  Fehler,  welche  von  Autoren  dagegen  gemaclit  sind,  in  dem  20J  Seiten 
uml'assenden  Werke.  Eine  vielfach  neu  aufgelegte  Grannnalik,  die  aber  auch 
mannigfachen  Tadel  verdient,  ist  die  von  Tooke  I,  2'Jb  kurz  kritisirte  von 
Green  wo  od. 

Wir  kommen  jetzt  zu  zwei  Bachern,  die,  von  bedeutenden,  geistreichen 
Älannern  verfasst,  manches  recht  Gute  Heferten,  aber  wohl  in  England  ent- 
schieden überschätzt  sind;  wir  sprechen  von  Harris  und  Tooke.  j.  Harris 
(I  1780)  war  ein  speculativer  Kopf,  der  in  seinem  gelehrten  \\'erke  Hermes 
or  a  philosophical  iuquiry  concerning  universal  graunnar  (3  ed.  8.  Lon(h:)n 
1771)  streng  construirend  und  iiberall  auf  die  classischen  Sprachen  recurrirend 
weniger  ein  specielles  Lehrgebäude  chn-  englischen  (irannuatik  gab,  als  i'Än 
mitunter  etwas  zu  hoch  geschraubtos  ithilosophisches  Buch  voll  scharfsinniger 
Bemerkungen  über  die  voi-züglich  von  ihm  geehrten  alten  Sprachen,  aus 
denen  die  graunuMtischcn  Begrille  logisch  entwickelt  werden,  und  gelegent- 
lieh über  die  englische.  Das  erste  Buch  handelt  von  den  Theilen  der  Kede, 
die  für  sich  allein  bezeichnend  sind  (Substantiv  und  Atiributive),  das  zweite 
von  den  auxiliary  parts,  which  are  only  significant  when  associated;  das 
dritte  im  Allgemeinen  von  der  Sprache,  considered  with  respeCt  to  meaning 
on  general  ideas.  Auch  des  \'erfassers  anderes,  nach  seinem  Tode  ver- 
öllentlichtes  Buch,  Philological  inquiries,  London  l  781,  trägt  denselben 
Charakter  an  sich,  bezieht  sich  aber  mehr  auf  Kritik  und  Literaturgeschichte 
als  auf  Grammatik,  ^^'enh  Lowth  den  Hermes  ..the  most  l)eautitul  and  per- 
fect e.xample  of  Analysis"  nennt,  ..that  has  becn  e.xhibited  since  the  days 
of  Aristotle,"  so  können  wir  andrerseits  nicht  mnhin,  in  manchen  Beziehungen 
Hooke's  Urtheil  zu  unterschreiben,  der  in  seiner  Introduction,  jene  Worte 
citirend,  S.  7  sagt:  ..I  cannot  siiy  that  I  have  found  the  periormance  to 
correspond :  nor  can  I  boast  of  any  acquisition  from  its  perusal,  e.xcept 
iudeed  of  hard  words  and  frivolous  or  unintelligible  distinctions.  ef.  1,  2(>5. 
Während  er  a  priori  construirend  vorging,  unternahm  John  Home  Tooke 
in  seinen  'E:tea  TiTsooevra  or  the  Diversions  of  Purley  (London  1798 — 1815. 
2  vol.  4.,  neu  edirt  1829  von  Richard  Taylor,  2  vol.  8.)  mit  grosser  Be- 
lesenheit im  älteren  Englisch  (und  die  sorgsam  gesammelten  Bei.'^piele  geben 
seinem  Buche  ein  grosses  Verdienst  fiir  wissenschaftliche  Untersuchungen) 
die  (iranmiatik  nach  allen  ihren  Theilen  etymologisch  zu  behandeln,  wobei 
er  das  un\erkennbare  Verdienst  hatte,  viele  richtige  P]tymologien  an's  Tages-' 
licht  zu  fordern  durch  Zuriickführung  auf  das  Angelsächsische,  besonders 
in  den  Abschnitten  von  Conjunctionen  und  Adverbien,  indem  er  richtiger 
urtheilte  als  Tyrwhitt,  der  sein  Glossar  zu  Chaucer  mit  den  ^^'orten  ein- 
leitet: .,Ktymology  is  clearly  not  a  necessary  brauch  of  the  duty  of  a  Glos- 
sarist ;••  aber  während  er  mit  der  grössten  Verachtung  auf  andere  Gram- 
matiker herabsieht  (H,  32-2:  Johnson  says  hardily  as  usual  ....  and  this 
is  accepted  and  repented  by  Malone;  I  can  only  say,  that  this  note  is  worthy 
of  them  both,  and  they  of  each  other,  cf.  I,  347.  4  73,  Mr.  Todd  [dessen  ge- 
tadelte Etymologie  aber  richtiger  ist  als  Tooke's]  knew  as  little  as  heart 
can  wish,  concerning  the  significatLon  of  any  words,  H,  149),  hat  er  sich 
doch  durch  sein  ganz  falsches  Princip,  fast  alle  Worte  aus  Participien  ab- 
zuleiten, gar  zu  oft  auf  Irrwege  geführt;  *)  ihm  sind  z.  B.  coward,  das  ollen- 
bar  mit    codardo  zusammenhängt,    dastard,  ja   selbst    das   franzosische   oui 


*)  Murray,  citirt  und  zurückgewiesen  von  Tooke's  Editor,  tadelt,  dass 
er  olt  falsch  sich  auf  Tooke  gestützt  und  auf  the  weaker  materialism  of 
sonie  unintelligible  modern  opinions. 


412  Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft 

Participien  etc.  Um  noch  zwei  eclatante  Beispiele  von  Tooke's  Etymologien 
anzuführen,  die  uns  zum  Theil  von  W.  Windham,  J.  Brückner*)  und 
Fearn  in  seinem  Anti-Tooke  erwähnt  werden,  so  leitet  er  I,  303  avec  ab 
=  and  have  that  or  have  that  also,  and  it  was  formerly  written  avecque 
i.  e.  avezque,  II,  14G  Knight  :=  Lnyc,  attach^  zusammenhängend  mit  to 
Knit;  II,  431  leitet  er  das  Futur  ab  aus  wol,  vol,  ßovl,  ibo  sei  =  iboul, 
ibou;  so  amabo  =  ama-boul,  audiam  =  audire  amo  etc. 

Monboddo's,  mehr  dem  Harris'schen  Wege  folgendes  Werk  „Of  the 
origin  and  progress  of  languages,  Edinburgh  1774,  enthält  in  seinem  zweiten 
Theile  unter  den  Abschnitten  of  the  analysis  of  the  formal  part  of  language, 
analysis  of  the  material  part  of  language  und  composition  of  language  manche 
anziehende  Bemerkungen,  welche  der  für  die  alten  Sprachen  begeisterte  und 
oft  einen  Mangel  an  festen  Regeln  im  Englischen  bedauernde  Autor  (II,  80 
the  French,  in  this,  as  well  as  in  many  other  tliings,  is  more  regulär  than 
cur  language  — ;  11,  82  it  is  the  misfortuue  of  our  language  that  the  use 
of  it  is  not  so  much  fixed  as  of  the  French ;  and  whoever  will  try  to  reduce 
it  to  rules,  will  find  very  near  as  many  exceptions  from  as  instances  of  the 
rule)  seinem,  gründlichen  Studien  wohl  nicht  entsprungenen  Opus  einfiicht, . 
das  iibrigens  von  Tooke  vielfach  auf  das  Schärfste  (selbst  in  Bezug  auf  den 
Styl,  I,  2G9)  getadelt  wird  (cf.  I,  113  etc.)  und  von  dem  Taylor  sagt,  man 
werde  gewöhnlich  recht  thun,  grade  das  Gegentheil  der  dort  aufgestellten 
Ansichten  als  wahr  anzunehmen  (1,  192  Note).  Sowohl  Beattie  als  Blair 
in  seinen  Lectures  behandeln  mancherlei  in  das  (jebiet  der  Grammatik  ein- 
schlagende Punkte;  der  Letztere  besonders  in  der  neunten  Vorlesung  über 
Structure  of  Language,  worin  er  nachweist,  wie  die  Syntax  der  in  ihrer  Form 
und  Construction  einfachsten  aller  europäischen  Sprachen  (I,  203),  der  latei- 
nischen, sehr  verwandt,  und  im  dritten  Theil  L.  XXXVIII,  in  der  er  von 
englischer  Poetik  spricht.  Beattie  ist  von  Tooke  in  dessen  gewohnter  Weise 
schnöde  abgefertigt  mit  den  Worten  (Letter  to  Mr.  Dunning  S.  559):  The 
author  would  by  no  means  be  thought  to  allude  to  the  common  sense 
of  Doctors  Oswald,  Reid  and  Beattie;  which  appears  to  him  to  be  sheer 
nonsense  (cf.  I,  265).  Sein  Buch  „the  theory  of  language,"  London  1788, 
enthält  besonders  im  zweiten  Abschnitte  „of  universal  grammar"  neben 
manchen  falschen  oder  sehr  hausbackenen  Bemerkungen  allerlei  gute  Beob- 
achtungen über  den  Bau  der  englischen  Sprache;  er  verfolgt  im  Ganzen  den 
von  Harris  eingeschlagenen  W'vg  der  Vergleichung  und  Begründung  durch 
die  alten  Sprachen,  die  er  oft  citirt,  wobei  er  das  Griechische  mit  englischen 
Buchstaben  schreibt.  Am  schwächsten  ist  die  Lehre  von  den  Modis  von 
ihm  behandelt.  Die  als  Standard  angesehene  Grammatik  aber,  die  noch  jetzt 
in  den  Händen  aller  Engländer  ist,  obwohl  sie  ihrer  ganzen  Einrichtung  nach 
mehr  eine  Zusammenstellung  von  lose  zusammenhängenden  Regeln  gibt,  deren 
Befolgung  durch  einige  Beispiele  angerathen  wird,  ist  von  Lindley  Murray, 
welcher  zuerst  London  1795  in  einem,  später  1819  in  zwei  Bänden  erschien  und 
nach  der  die  zwei  ausser  dieser  am  meisten  verbreiteten  Granmiatiken  von 
AV.  Lennie,  „The  principles  of  English  grammar"  (1831,  13,  edit.),  Edin- 
burgh, und  R.  Hiley,  „A  treatise  on  English  grammar"  (1840,  3.  edit.), 
London,  gearbeitet  sind. 

Ein  eigenthümHches  Werk  ist  Cobbctt's  „Grammar  in  a  series  of  letters, " 
XXIV.     230  Seiten.     12.     1818,    und  der  Autor  stellt  sich  absichtlich   auf 


*)  Criticisms  on  the  diversions  —  unter  dem  Namen  Cassander  —  (wieder 
von  Tooke  selbst,  der  auch  Windhams  Malignant  and  false  observations 
öfter  bespricht,  cf.  I,  217,  in  nicht  eben  höflicher  Weise  recensirt,  wie  ja 
Tooke  überhaupt  verbissen  unrl  grob  war  und  sein  Buch  vielfach  zu  Invec- 
tiven  gegen  seine  politischen  Gegner  benutzte. 


für  das  Studium  der  neueren  Sprachen.        413 

einen  sehr  niedrigen  Standpunkt  und  in  Opposition  zu  gelehrter  Behandlung 
des  Stoffes,  sein  Buch  soll  vom  Volke,  sohiiers,  sailors  etc.  gebraucht 
werden,  und  ist  in  den  ersten  zwölf  der  Etymologie  und  Acci<lenz  gewid- 
meten, wie  in  den  folgenden  die  Syntax  enthaltenden  Kapiteln  ein  sich  nur 
ziemlich  oberflächlich  haltendes  Buch. 

Thomson's  Lexicon  (Etymons  of  English  words,  Edinburgh. 
1S26.  4.)  gibt  eine  Einleitung  von  27  Seiten  über  indo-germanische  Etymo- 
logie, die  manches  Gute  cnthiUt :  in  seinem  Le.xicon  ist  nur  eine  Neigung, 
durch  Aufnahme  seltener  aus  fremden  Sprachen  lierübergenommencr  V\'orte 
Gelehrsamkeit  zu  zeigen,  aufgefallen,  wiüirend  viele  wichtige  Worte  felden. 
Ausführlicher  und  ein  in  seiner  ganzen  Anlage  bcachtenswerthes  Werk  ist 
das  Analytical  dictionary  of  thc  English  Language  in  which  the 
words  are  explained  in  the  order  of  iheir  natural  affinity  von  Daniel 
Booth.  London.  1835.  4.  455  Seiten.  Der  Autor  ist  selir  belesen  in 
classischen  und  modernen,  auch  in  germanischen  Sprachen,  und  bringt  in 
der  sehr  ausführlichen  grammatischen  Einleitung  bei  Gelegenheit  der  ein- 
zelnen lledetheile  manche  beachtenswerthe  Etymologie.  Das  Lexicon  be- 
ginnt mit  den  Begriffen  man,  l'emale  und  entwickelt  daraus  allmälig  in  lo- 
gischem Eortschritte  die  übrigen  Worte  der  Sprache;  doch  ist  der  Autor 
dem   sein  Buch   Benutzenden   noch   durch   einen  Index  zu  Hülfe  gekommen. 

Von  den  in  neuerer  Zeit  in  England  erschienenen  Grammatikcu  helfen 
•wir  nur  die  vielfach  gebrauchten  heraus  von  Graham,  P^nglish  Granmiar, 
London  1843,  d'Orsey,  ,.A  duodecimo  grammar,"  Edinburgh  1845"  und 
Hunter,  ,.Textbook  of  English  grammar,"  das  nach  der  erwähnten  kurzen 
Einleitung  in  die  Geschichte  der  englischen  Grammatik  vierzehn  Paragraphen 
EtjTnologie,  neun  elementary  und  vierzehn  supplementary  SjTitax,  endlich 
vier  über  Interpunction  enthält;  doch  verräth  er  oft  grosse  Unkenntniss  der 
Etymologie,  wie  z.  B.  wenn  er  nay  aus  n"aie  ableitet,  um  nur  ein  Beispiel 
anzuführen. 

Ein  epochemachendes  Werk,  das  zuerst  Grimm's  grosse  Forschungen  in 
England  einführte,  war  A  Handbook  of  the  english  language  for  the 
use  of  students  by  Latham.  London.  1851.  8.,  über  das  ich  hier  eben  so 
kurz  hinweggehen  kann  als  über  die  gleichen  Spuren  folgenden  und  wohl 
jedem  sich  eingehend  mit  dem  Englischen  Beschäftigenden  ebenso  bekannten 
Werke  von  R.  Chenevix  Trench,  „  On  the  lessons  inproverbs."  London. 
1853.  8.  und  besonders  „English,  past  and  present."  London.  1855.  8. 
Hier  wird  nach  einer  Charakteristik  der  ßestandtheile  des  jetzigen  Englisch 
nachgewiesen,  was  die  Sprache  und  wann  sie  es  für  ihren  Wortvorrath  ge- 
wonnen, was  sie  an  Worten  im  Laufe  der  Zeit  verloren,  wie  die  Bedeu- 
tungen der  Worte  sich  verändert  haben  und  wie  auch  die  Orthographie  nach 
und  nach  sich  wesentlich  umgestaltet.  Das  Werk,  das  für  manche  Einzeln- 
heiten d'Israeli's  „Curiosities  of  litterature"  verpflichtet  ist,  gibt  entschieden 
einen  der  interessantesten  Beiträge  zur  historischen  Betrachtung  der  eng- 
lischen Sprache.  Bis  zu  diesen  Werken  kann  man  Behn-Eschenburg's  Urtheil 
über  die  in  England  geschriebenen  englischen  Grammatiken  theilen,  das  er  auf 
Seite  X  der  Vorrede  zur  neuen  Auflage  seiner  Grannnatik  ausspricht:  „Die 
in  England  geschriebenen  englischen  (irammatiken  wollen  nichts  weiter  als 
einige  praktische  Winke  geben,  die  sie  nach  dem  Schema  der  mittelalter- 
lichen lateinischen  Grammatik  an  einander  reihciu;  ihre  Norm  ist  der  Durch- 
schnittsgebrauch;  höchstens  üben  sie  dann  und  wann  vom  Standpunkte  der 
lateinisciien  Grammatik  aus  eine  sehr  einfache  Kritik  und  sitzen  über  die 
ersten  Denker  und  Dichter  der  Nation  zu  Gericht,  die  unmittelbar  aus  dem 
eigenthinnlichsten  Spracligeist  heran.-;  gedacht  und  gesprochen  haben.  Von 
einer  Einsicht  in  die  Eigentliümlichkeiten  des  germanischen  Sprachbaues, 
einer  historischen  Kenntniss  der  (ieutschon  Schwestersprache,  von  einer  Bezug- 
nahme auf  die  grossartigen  Ent<h'ckungeM  der  neuern  Sprachforschung  ist 
bei  ihnen  keine  Hede.-  —  Nach  einer  Bemerkung  Taylor's  in  Tooke,  XVH, 
Archiv  f.  Q.  Si-rachen.  XXIII.  27 


414  Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft  etc. 

scheint  Grant's  grammar  ein  mehr  •wissenschaftliches  gutes  Buch  zu  sein;  doch 
habe  ich  es  nicht  gesehen. 

Von  anderen  neueren  Erzeugnissen  wollen  wir  zuna  Schluss  nur  noch 
Fowler  nennen,  der  Lathani's  Untersuchungen  in  seine  1850  in  New  York 
erschienene  Grammatik  aufnahm,  und  Goold  Brown e's  „Grammar  of 
English  Grammars."  New  York.  1851.  Dies  letzte  Werk  ist  das  Erzeug- 
niss  von  siebenundzwanzigjährigen  Studien  und  eine  weitere  Ausführung  der 
1823  erschienen  „Institutes  of  English  Grammar"  desselben  Autors,  die  nur 
dreihundert  Seiten  umfassen,  während  dies  in  Namen  und  Einrichtung  der 
„Grammaire  des  grammaires"  etwa  gleichstehende  Opus  1028  Seiten  stark 
ist.  Nach  einer  Einleitung  in  die  Geschichte  der  englischen  Sprache  und 
einigen  Notizen  bezüglich  mancher  Vorgänger  Browne's  auf  dem  von  ihm 
betretenen  Gebiete  folgen  die  überaus  zahlreichen  Beispiele  for  parsing  .  .  . 
und  die  nicht  immer  zu  logisch  geordneten  Regeln  der  Orthographie,  Ety- 
mology,  Syntax  und  Prosody. 

Um  die  in  Dffntschland  erschienenen  englischen  Grammatiken  eingehend 
besprechen  zu  wollen,  müsste  man  sich  mindestens  gleich  Hercules  rüsten, 
als  er  seine  Kräfte  dem  Dienste  des  Augias  widmete;  fast  jeder  Lehrer 
schreibt  einen  mehr  oder  weniger  praktischen  Leitfaden  tür  seinen  Unter- 
richt und  doch  sind  die  auf  WissenschaftHchkeit  und  einiges  Verdienst  mit 
Recht  Anspruch  machenden  Bücher  darunter  nicht  allzu  häufig. 


Beurtheilnngen  und  kurze  Anzeigen. 


Ulfilas.  Die  heiligen  Schriften  alten  und  neuen  Bundes  in 
gothischer  Sprache  mit  gegenüberstehendem  griechischen 
und  lateinischen  Texte,  Anmerkungen,  Wörterbuch,  Sprach- 
lehre und  geschichtlicher  Einleitung  von  H.  F.  Massmann. 
Stuttgart  1857.     Liesching.     8. 

Ulfila,  oder  die  uns  erhaltenen  Denkmäler  der  gothischen 
Sprache.  Text,  Grammatik  und  Wörterbuch.  Bearbeitet 
und  herausgegeben  von  Friedr.  Ludw.  Stamm,  Pastor  zu 
St.  Ludgeri  in  Helmstedt.    Paderborn  1858.    Schöningh.    8. 

Es  ist  ein  erfreuliches  Zeichen,  dass,  trotz  der  geringen  Begünstigung 
der  deutschen  Studien  von  Oben  her,  überall  im  deutschen  Volke  sich  Kräfte 
regen,  die  eifrigst  dahin  arbeiten,  dass  auch  nach  dieser  Seite  hin  die  Ehre 
der  Nation  gewahrt  werde.  Das  Studium  der  deutschen  Sprache  beginnt 
bekanntlich  mit  den  kostbaren  grossen  Resten  des  Gothischen.  Professor 
Mass  mann  war,  wenn  irgend  Einer,  durch  seine  frühere  Herausgabe  eines 
Theils  der  gothischen  Denkmäler,  durch  seine  jahrelangen  gründlichen  Studien 
der  ganzen  dahin  einschlagenden  Literatur  —  ich  erinnere  nur  an  seine 
Gothica  Mnora  in  Haupt's  Zeitschrift  I,  294  bis  393— wohl  berechtigt,  eine 
Sammlung  aller  gothischen  S]irachreste  zu  veranstalten  und  das  Verständniss 
derselben  möglichst  zu  erleichtern.  Zu  diesem  Zweck  hat  er  dem  Te.xt  eine 
ziemlich  ausführliche  geschichtliche  Einleitung  vorausgesthickt  über  die 
Gothen  nach  ihrer  physischen  und  geistigen  Existenz,  über  Ulfilas,  über  das 
gothische  Alphabet,  über  die  Schicksale  der  gothischen  Schrillen  u.  dgl.  m. 
Ueber  das  Alles  hat  schon  Herr  Hölscher  im  zweiundzwanzigsten  Bande  des 
Archivs  auszugsweise  berichtet.  Er  hat  das  Verdienst  des  Herausgebers 
richtig  gewürdigt,  des  minder  Gelungenen  oder  Verfehlten  dagegen  mit 
keiner  Silbe  gedacht.  Es  ist  nicht  meine  Absicht,  die  gründlichen  und  sehr 
ausführlichen  Ausstellungen  des  Recensenten  in  den  Göttinger  gelehrten 
Anzeigen  1857  Nr.  160  zu  wiederholen.  Dieselben  betreuen  sowohl  die 
äussere  Darstellung  des  Textes,  die  Verunzierungen  desselben  durch  Stern- 
chen, überflüssige  Häkchen  und  (Querstriche,  die  ausserordentlich  grosse 
Menge  von  Druckfehlern,  als  auch  ganz  besonders  die  Willkiir  in  der  sonst 
sehr  verdienstlichen  Zusannucnstelliing  des  griechischen  und  lateinischen 
Textes,  endlich  auch  Fehler  und  Mängel  des  Wörterbuchs  und  der  Gram- 
matik. Die  Ausgabe  ist  demnach  trotz  ihrer  Zweckmässigkeit  und  Hand- 
lichkeit   nicht    geeignet,    wissenschafilichen   Studien    zu   Grunde    gelegt    zu 

21* 


416  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

s 
werden    und   etwa   die   vortreffliche  Ausgabe  von  v.  d.  Gabelentz  und  Lobe 
überflüssig  erscheinen  zu  lassen. 

Die  Ausgabe  von  Stamm  gibt  den  gothischen  Text  mit  Ausnahme  der 
kleinsten  Denkmäler.  Dieselbe  stützt  sich  auf  „das  v.  d.  Gabelentz-Löbe'sche 
Meisterwerk",  verglichen  mit  der  neuesten  Ausgabe  von  Massmann,  und  auf 
Uppström's  genauen  Abdruck  der  silbernen  Handschrift.  Die  photographischen 
Copien  Leo's  scheint  er  nicht  benutzt  zu  haben.  Die  gothischen  Doppel- 
buchstaben, die  Massmann  gegen  lateinische  vertauscht,  hat  er  wieder  auf- 
genommen, die  in  der  Handschrift  fehlende  Accentuirung  von  ai  und  au 
hat  er  ebenfalls  nicht,  ebenso  A^enig  die  Längenbezeichnung  von  e  und  o. 
Dem  Text  folgen  einige  Seiten  Lesarten,  sodann  Grammatik  und  Wörter- 
buch. Die  Grammatik  ist  ausführlicher  als  die  Massmann's ;  sie  behandelt 
auch  die  Syntaxis,  während  Massmann  sich  nur  auf  die  Formenlehre  be- 
schränkt hat.  Das  Wörterbuch  „bestrebt  sich  möglichster  Kürze"  und  ist 
doch  in  manchen  Artikeln  ausführlicher  als  das  in  der  Massmann'schen 
Ausgabe.  Eine  kurze  Einleitung  enthält  das  ^^'ichtigste  über  Ulfilas  und 
die  gothischen  Denkmäler,  so  dass  in  der  That  diese  wohlfeile  Ausgabe  ihrem 
Zwecke,  Anüüigern  und  Studirenden  in  compendiöser  Form  sichere  Grund- 
lage zu  gothischen  Studien  zu  sein,  auf  das  Vollkommenste  entspricht  und 
alle  früheren  Hülfsmittel  der  Art,  z.  B.  die  kleinen  Bücher  von  Vilmar  und 
Hahn,  entbehrlich  macht. 

Dr.  Sachse. 


Lehrbücher  der  englischen  Sprache. 

Unter  der  grossen  Menge  der  jetzt  sich  täglich  mehrenden  englischen 
Grammatiken  zeichnet  sich  vortheilhaft  aus,  da  sie  einen  denkenden  prak- 
tischen Verfasser  verräth,  die  Schulgrammatik  der  englischen  Sprache 
für  alle  Stufen  des  Unterrichts  berechnet  von  Dr.  H.  Behn- 
Eschenburg,  die  soeben  in  zweiter  Auflage,  Zürich  1858,  die  Presse  ver- 
lassen hat.  Es  ist  gegen  die  erste  Auflage  nichts  Wesentliches  geändert, 
ausser  dass  ein  schwieriges  Lesestück  durch  Briefformulare  ersetzt  und  die 
Ordnung  der  syntaktischen  Beispiele  umgemodelt  ist;  eine  Consecutio  tem- 
porum  ist  zuerst  hier  vom  Autor  versucht.  Der  erste  Abschnitt,  „Einfüh- 
rung in  die  Sprache,"  geht  in  134  Paragraphen  erst  in  grossen  Umrissen 
den  englischen  Sprachbau  durch;  es  folgen  dann  auf  diese  Regeln  von  Seite 
27  — 103  zum  Theil  recht  passend  gewählte  und  durch  den  Druck  das  Lesen 
erleichternde  englische  Lesestücke  (6)  und  (56)  Uebungen  zum  Uebersetzen 
aus  dem  Deutschen.  Uebersichten  der  vorgekommenen  englischen  Laute 
und  starken  Verba  vervollständigen  diese  Gi'undlage,  auf  die  sich  nun  in 
ähnlicher  Anordnung  die  hundert  Paragraphen  des  zweiten  Abschnitts  „Er- 
weiterte Formlehre"  aufbauen.  Die  Paragraphen  300  —  794  geben  die  mit 
dem  Verb  beginnende  Syntax,  welche  mit  Uebungsstücken,  eingestreuten 
Fragen  etc.  die  zehn  Redetlieile  durchgeht,  aber  stets  auf  logische  Anord- 
nung und  historische  Berücksichtigung  der  Sprache  bedacht  ist;  dass  selbst 
die  lateinischen  grammatischen  Begrifle  erklärt  werden,  zeigt,  für  welchen  Kreis 
das  Buch  berechnet  ist.  Die  Lehre  von  der  englischen  Wortbildung,  nach 
Fiedler,  von  Accent,  von  Aussprache  und  Schrift,  endlich  Noten  über  eng- 
lische Aussprache  dtr  classischen  t-prachen,  über  Dialekte,  Dichterspracbe, 
Inteipunction,  Apostrophirungen  und  grosse  Anfangsbuchstaben  schliessen 
bis  §.  1000  hin  in  etwas  aphoristischer,  aber  stets  wohldurchdachter  Weise 
das  reichhaltige  Buch. 

Wer  eine  andere  Methode  wünscht,  wird  vielleicht  befriedigt  werden 
durch  das  Lehrbuch  der  englischen  Sprache  von  T.  Robertson, 
nach   den  neuesten  Auflagen   des  französischen  üriiriuals  zum  Gebrauch  für 


Beurthoilungen  und  kurze  Anzeigen.  417 

Deutsche  bearbeitet  von  W.  Oelsphliiger,  Stuttgart  1857.  Vierte  Auflage. 
Das  Buoh  will  keine  (iranimatlk  sein  und  eiithiüt  nur,  wie  der  Uebersetzer 
sagt,  einen  reichen  Schatz  von  Formen  und  Mogeln  ohne  logiselie  Ani'ein- 
andertblge;  die  bekannte  Methode  (nu'hr  praktische  Richtung  als  Wissen- 
schaftlichkeit) ist  hier  consc(|uenter  als  in  ßolz's  Bearbeitung  festgehalten; 
doch  macht  auch  hier  der  Verfasser  die  Concession,  S.  362  —  'ixü  eine  kurze 
übersichtliche  Zusanunenstellung  der  in  den  58  Loctionen  (welche  gegen 
früher  durch  Leseübungen  vermehrt  sind)  vorgekonmienen  Formen  imd  Kegeln 
zu  geben. 

Praktische  Schulgrammatik  der  englischen  Sprache.  Mit 
vielen  Uebungss  tu  cken  zum  Uebersetzen  aus  dem  Deutschen 
in  das  Englische  von  Graeser.  Leipzig  1857.  Der  Verfasser  eines 
praktischen  Lehrganges  nach  Alm's  Methode  und  eines  französisch  geschrie- 
benen Buches  für  das  Englische,  wie  eines  iihidichen  in  englisciier  Sprache 
für  das  Französische  beabsiclitigt  hier  nicht,  sicli  durcli  absolute  Vollständig- 
keit oder  durch  \'ertiefung  in  sprachliche  Frobleuie  auszuzeichnen.  Er  gibt 
1  —  14  eine  Vorschule  der  englischen  Aussfirache,  dann  eine  kurze  (rram- 
matik,  in  der  z.  B.  die  unregelmiissigen  (!)  Verba  schlecht  geordnet  sind,  und 
nach  sechs  Seiten  Uebungen  zur  AViedcrholung  von  S.  45  — 134  die  wich- 
tigsten syntaktischen  Regeln  mit  zahlreichen  Exercitien.  Die  135  —  157  fol- 
genden, mit  Vocabeln  am  Ende  (bis  178)  verselienen  Aufgaben  zur  Einübung 
sämmtlicher  Regeln  sind  für  den  Schüler  anziehend  ausgewählt;  auf  sie  folgen 
orthographische  Regeln  und  weitere  Ausführung  früher  nur  angedeuteter  syn- 
taktischer Punkte,  besonders  mit  Bezug  auf  die  Präpositionen,  endlich  be- 
sondere Regeln  und  Ausnahmen  für  die  Aussprache,  die  in  der  Vorschule 
noch  nicht  erledigt  waren  (205  —  230). 

Das  Lehrbuch  der  englischen  Sprache  von  Pr  i  ncc -Smith , 
einem  gebornen  P^ngländer,  der  aber  schon  seit  sehr  langer  Zeit  in  Deutsch- 
land heimisch  geworden,  hat  in  seinem  ersten  Cursus  (Berlin  1855—  15  Sgr.) 
ganz  besonders  und  mehr  als  andere  derartige  Büi  her  den  Zweck,  die  Er- 
lernung der  Aussprache  zu  erleichtern  und  gibt  zu  dem  Ende,  mit  einsilbigen 
Wörtern  beginnend,  eine  zahlreiche  Älenge  von  Uebungen  nebst  praktischen 
Anleitungen  auch  für  den  Selbstunterricht,  nebst  Interlinearübersetzungen 
und  eingeflochtenen  grammatischen  Regeln;  ej-*t  im  2(3.  Abschnitte  beginnen 
mehrsilbige  Worte,  und  hier  ist  besonders  das  Kapitel  vom  Einfluss  des 
Tones  auf  die  Ausspraclie  und  das  über  die  unbetonten  Silben  hervorzu- 
heben. Deutsche  Stücke  zu  nuüidlicher  Ueberst'tzung,  Regeln  liber  Betonung, 
Schlüssel  und  umfangreiche  Verzeichnisse  schliessen  das  gute  Buch,  dem  wir 
bei  seiner  von  vornherein  ausgesprochenen  praktischen  Tendenz  den  mitunter 
sich  zeigenden  Mangel  an  tieferen  Studien  gern  verzeihen  wollen. 

Englische  Grammatik  in  kürzester  Form.  Erster  Theil  des 
leichtfasslichen  Sprachbuches.  Dr.  A.  Riedl.  St.  Gallen  1855.  Dieses  Buch 
macht  die  Aussprache  im  Gegensatze  zum  vorigen  etwas  zu  kurz  ab;  an  der 
Anordnung  Hesse  sich  Manches  tadeln,  wie  auch  beim  Verzeichniss  der  zum 
Sprechen  nöthigsten  Worte  ein  logisches  Princip  wenig  sichtbar  ist.  Die 
unregelmässigen  Verba  sind  alphabetisch,  die  regelmässigen  Formen  der 
Declinationen  und  Conjugationen  auf  einer  Tabelle  zum  Schluss  gegeben. 
Seite  97  gibt  Riedl  seine  Quellen  an,  die  vor  dem  nach  Ahn'scher  Methode 
bearbeiteten  kurzen  Buche  den  Vorzug  der  Ausfidn-lichkeit  haben.  Den 
zweiten  Theil  dieses  Buches  bilden  Easy  Themes,  leichte  Uebungsstücke 
zum  Uebersetzen  aus  dem  Deutschen  ins  Englische,  wälnend  der  dritte  ein 
englisches  Lesebuch  ist,  das  nach  vorheriger  Angabe  der  bei  der  durch- 
gängigen Bezeichnung  der  Accentsilben  und  sonstigen  Erleichterungen  der 
Aussprache  angewandton  Zeichen  und  nach  einer  kurzen  Liste  von  Homo- 
nymen 1  — 14  Familiär  Phrasen,  15  —  21  Easy  lessons  of  one  and  two  syl- 
lables  und  dann  im  Ganzen  leidlich  gewählte  grössere  Lesestücke  gibt. 
Noten  unter  dem  Text  vertreten   bis  zu  S.  94  das  Wörterbuch;   weshalb  in 


418  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

ihnen  aber  auch  Formen  analysirt  werden,  ist  nicht  recht  klar,  da  der  Schüier 
doch  zum  Verstiindniss  dieser  schon  befähigt  sein  muss,  wenn  er  dieses  Buch 
in  die  Hand  nimmt.  109 — 1C3  bieten  poetische  Stücke  mit  Noten.  Wenn 
wir  auch  sonst  die  Vorführung  von  Gedichten  in  guter  enghscher  Uebersetzung 
bilHgen,  welche  dem  Schüler  aus  dem  deutschen  Unterricht  bekannt  sind,  so 
dürfte  doch  wohl  das,  vielleicht  durch  locale  Beziehungen  dem  Schweizer 
mehr  geeignet  erscheinende  The  chief  of  Toggenburg  (144)  am  Wenigsten 
hierhergehören,  das  freilich  auch  schon  in  Fölsing  steht. 

Uebungsaufgaben  zum  Uebersetzen  aus  der  deutschen  in 
die  englische  Sprache,  für  Anfänger,  Dr.  Brennecke,  Posen  1857, 
ist  eine  mit  Hinweisung  auf  des  Verfassers  Grammatik  in  zwei  aufeinander- 
folgenden Lehrstufen  bearbeitete  Sammlung  von  leichten  Uebungen  zum 
Uebersetzen  mit  Beschränkung  auf  die  wesentlichsten  Regeln  und  gebräuch- 
lichsten Wörter.  Die  erste  Lehrstufe  enthält  43,  die  zweite  eine  gleiche  An- 
zahl von  Uebungen  mit  darunter  gesetzten  Vocabeln  und  mehr  oder  weniger 
ausfuhrlichen  Regeln  darüber;  der  Stoff  ist  passend  gewählt  „entlehnt  aus 
der  heutigen  englischen  Weltanschauung  und  soll  beitragen,  die  Erlernung 
der  künftigen  Universalsprache  zu  erleichtern." 


1.  Französische  Fibel    und  erste  französische  Grammatik  nebst 

leichten  Lesestücken  von  Dr.  M.  R.  Friedemann.  Dritte 
verbesserte  und  vermehrte  Auflage.  Berlin  bei  Rud.  Gärtner. 
1855. 

2.  Französisches    Elementarbuch     nebst   Vorbemerkungen    über 

Methode  und  Aussprache  von  Dr.  B.  Schmitz.  Erster 
Theil:  Vorschule  der  französischen  Sprache.  Dritte  er- 
weiterte Auflage.     Berlin  bei  Ferd.  Dümmler.     1857. 

3.  Aufgaben    über  die   Regeln    der  französischen   Sprache   für 

Anfänger  von  Alex.  Frege.  Zweite  Auflage.  Schwerin 
bei  Oertzen  und  Schloepke.     1857. 

4.  Die  regelmässigen    und    unregelmässigen   französischen  Zeit- 

wörter, ihre  Stamrazeiten,^  die  Ableitungen  und  Verwandt- 
schaften, von  Stolzenburg.     Potsdam.     1853. 

5.  Französisches  Uebungsbuch  von  Fr.  Rempel,    Professor  und 

Rector  am  königl.  Gymnasium  in  Hamm.  Erste  Abthei- 
luno;, für  Anfänger.  Zweite  gänzlich  umgearbeitete  und 
mit  Paradigmen  vermehrte  Auflage.  Essen  bei  Bädeker. 
1858. 

6.  Cours   de    syntaxe   fran^aise   ä  l'usage    de   la  jeunesse   alle- 

mande.     Munich.     1857. 

Nr.  1  der  genannten  Elementarbücher  tritt  unter  dem  bescheidenen 
Namen  einer  Fibel  auf.  Es  ist  nicht  uöthig,  hier  auf  die  Anordnung  des 
Buches  näher  einzugehen,  da  dasselbe  bereits  in  der  dritten  Auflage  und 
zwar  von  1855  vorliegt  und  den  Lesern  des  Archivs  schon  aus  einer  Be- 
sprechung bekannt  sein  kann,  die  in  demselben  der  zweiten  Auflage  ge- 
widmet worden  ist. 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  419 

Was  die  erste  Abtheilung  anbotrilVt,  auf  die  es  hier  als  bei  einer  Fibel 
liauptsächlich  ankoninit,  so  scheint  die  Roilienf'olgo  in  der  Einübung  der 
Vocale  eine  etwas  willkürliche  zu  sein.  Der  Hauptzweck  bei  dieser  Ein- 
übung ist,  eine  reine  Au?sj)rache  der  Vocale  bei  dem  Kinde  zu  gewinnen; 
zu  dem  Ende  ist  es  aber  wohl  am  f()n]erlichstcn,  die  Vocale  in  der  Reihe 
zu  üben,  in  welcher  sie  sich  der  Mundstellung  nach  aus  einander  entwickeln. 
Beginnt  man  also  mit  a  und  fäln-t  mit  o  in  zweiter  Stelle  fort,  so  nuiss 
nothwendig  in  dritter  Stelle  u  folgen,  nicht  aber  e,  namentlich  nicht  in 
seinen  verschiedenen  Lautwandlungen  (e,  e,  c  [0]).  Denmach  würden  wir 
§.  8  zwischen  §.  2  und  3  setzen.  Ferner  leuchtet  nicht  recht  ein,  warum 
die  gedehnten  Vocale  ä,  ö,  i,  ü  getrennt  von  a,  o,  i,  u  geübt  werden  sollen, 
während  e  im  Zusammenhange  mit  den  übrigen  Lautwandlungen  von  e  ge- 
übt wird.  —  In  Betrefi'  des  nasalen  in  (in,  im,  ein,  ain,  aim)  finden  wir 
noch  immer  die  Aussprache  durch  äng  bezeichnet,  trotzdem  doch  von  allen 
Seiten  und  gewiss  mit  Eecht  die  Nothwendigkeit  hervorgehoben  wird,  gra<ie 
beim  Anfänger  auf  eine  correete  Aussprache  zu  achten.  Wenn  man  auch 
sagt:  „in  lautet  ungefähr  wie  äng,"  so  wird  sich  der  Lernende,  dessen 
Ohr  überdies  an  feinere  Schattirungen  nicht  gewöhnt  ist,  wenig  an  das  un- 
gefähr kehren  und  gradezu  äng  aussprechen.  Wo  die  Analogie  der  Aus- 
sprache im  Deutschen  mangelt,  da  lasse  man  doch  lieber  derartige  Bezeich- 
nungen weg;  der  gut  aussprechende  Lehrer  wird  sicher  ohne  dergleichen 
Mittelchen  fertig  werden,  den  L'ebrigen  aber  wird  dadurch  nicht  im  Ge- 
ringsten geholfen.     Dasselbe  gilt  von  un  (öng),  oin  (oäng). 

Bei  der  i^inübung  der  Consonanten  c  und  g  vermisst  man  die  Angabe 
der  Aussprache  derselben  vor  y;  wenn  auch  cy  und  gy  im  Ganzen  wenig 
vorkommen,  so  ist  doch  kein  Grund  vorhanden,  sie  an  dieser  Stelle  ganz 
zu  ignoriren,  um  so  weniger,  als  in  ij.  16  von  dem  einsylbigen  y  die  Rede 
gewesen.  Sehr  misslich  scheint  es  übrigens  auch,  als  Analogieen  für  die 
Aussprache  von  g  vor  e  und  i  die  deutschen  Wörter  geniren,  genie  an- 
zuführen; wenn  nun  Einer  z.  B.  immer  nur  schenie  und  schenieren  hat  aus- 
sprechen hören  und  ausgesprochen  hat,  dann  wird  er  auch  sagen  müssen: 
la  schelee,  las  schens? 

Ueber  die  ganze  erste  Abtheilung  können  wir  uns  im  Uebrigen  nur 
anerkennend  äussern,  wenn  auch  vielleicht  die  Uebungen  jeder  einzelnen 
Nummer  noch  zahlreicher  sein  könnten.  Ganz  besonderen  Beifall  verdient 
aber  als  Beschluss  dieser  Abtheilung  §.  63,  Frobeübungen  betitelt;  auch 
dieser  würde,  erweitert,  von  noch  grösserem  AVerthe  sein. 

Die  zweite  und  vierte  Abtheilung  schliessen  sich  in  natürlicher  Ent- 
wickelung  an  die  erste  an.  Was  aber  die  dritte  anbetrifl't,  so  scheint  sie 
uns  für  eine  Fibel  einen  zu  beträchtlichen  Umfang  einzunehmen,  denn  sie 
umfasst  zwei  Drittel  des  ganzen  Buches  (S.  CO — 125).  Während  in  einer 
Beziehung  zu  viel  gegeben  wird,  ist  auf  der  andern  zu  wenig  geschehen,  da 
wir  mit  Ausnahme  der  Paragraphen  über  die  adverb.  quant.  und  die  präpos. 
überall  die  Beispiele  vermissen. 

Nr.  2  liegt  ebenfalls  in  erweiterter  dritter  Auflage  vor.  Der  Verfasser 
gibt  statt  einer  Vorrede  auf  dreiundzwanzig  Seiten  Vorbemerkungen: 
A.  über  die  Einrichtung  des  Buches  und  Alethode  überhaupt;  B.  Vor- 
bemerkungen zu  einzelnen  Nummern;  C.  die  allgemeinen  Regeln  der  fran- 
zösischen Aussprache.  Was  in  neucn'Cr  Zeit  vielfach  in  einem  Anhange  zu 
den  Schulbüchern  zu  sagen  beliebt  wurde,  geht  hier  dem  Schulbuche  vor- 
aus; aber  so  wenig  wir  jene  Anhänge  in  Büchern  billigen  können,  die  für 
den  Schüler  bestimmt  sind,  ebensowenig  billigen  wir  diese  Vorbemerkungen, 
an  dieser  Stelle,  wohlverstanden.  Denn  es  soll  damit  keineswegs  gesagt 
sein,  dass  dieselben  nicht  Vortreffliches  enthielten.  So  können  wir  z.  B. 
dem  Herrn  Verfasser  nur  beiptliehten  in  dem,  was  er  über  den  Werth  von 
Paradigmen  sagt:    „Ich  kann  den  \\'erth  vollständiger  Paradigmen,    welche 


420  Beurtheiliingen  und  kurze  Anzeigen. 

dem  Schüler  nicht  viel  zu  denken  und  zu  machen  übrig  lassen,  nicht  ein- 
sehen. Wenn  der  Schüler  das  Zeitwort  avoir  richtig  und  tüchtig  eingeübt 
hat,  so  kann  er  die  zusammengesetzten  Zeitformen  von  parier  selbst  machen, 
und  es  ist  viel  besser,  wenn  er  sieht,  dass  er  sie  selbst  machen  kann,  als 
wenn  er  gleichsam  als  etwas  Neues  in  aller  Breite  im  Buche  sieht:  „Per- 
lectum  j'ai  parle,  tu  as  parle  etc. 

In  dem  Theile  über  die  li'anzösische  Aussprache  finden  wir  auf  Seite 
XXII  in  Zusatz  .5  eine  Bemerkung,  die  wenigstens  an  Ungenauigkeit  leidet. 
Es  heisst  dort  nämlich :  „e  und  u  sind  in  den  Verbindungen  gi,  gu  vor 
einem   andern  Vocale   stumm    (in   ge   dient   e  zur  Erweichung  des  s;,   in  gru 

FT  1  .  . 

dient  u  zur  Härtung  des  g) :  mangeanf ,  pigeon,  gageure ;  guerre,  guule, 
anguille,  langue.  Ebenso  dient  e  zur  Erweichung  des  c  in  morceau. "  Da- 
gegen ist  zu  sagen  ])  dass  die  Behauptung  in  ihrer  Allgemeinheit  eine 
falsche  ist;  es  möchte  doch  schwer  werden,  neben  gageure  ein  zweites  Bei- 
spiel hinzustellen,  in  welchem  e  vor  u  stumm  wäre  hinter  g;  2)  dass  das  e 
in  morceau  durchaus  nicht  dasselbe  ist  als  in  mangeant,  sondern  dass  es, 
wie  in  den  meisten  Wörtern  auf  eau,  z.  ß.  chäteau,  in  der  Ableitung  des 
Wortes  selbst  seine  Berechtigung  findet. 

Was  das  Elementarbuch  selbst  anbetrifft,  so  zeigt  sich  durchweg  das 
sehr  anerkennenswerthe  Bestreben,  die  Selbstthätigkeit  des  Schülers  anzu- 
regen; daher  von  Regelwerk  keine  Spur,  aber  hinreichende  Uebungen,  so 
dass  unter  verständiger  Leitung  der  Schüler  dahin  gelangen  kann,  einen 
selbstgefundenen  Schatz  auch  von  grammatischen  Kenntnissen  sich  anzu- 
eignen. In  der  Erweiterung  des  zweiten  Abschnitts,  dessen  Hauptinhalt  die 
drei  regelmässigen  Conjugationen  sind,  befinden  sich  indessen  einige  An- 
gaben, denen  wir  nicht  beipfiichten  können.  So  heisst  es  unter  Anderm  in 
Nr.  5  (S.  .'3):  hair  (liassen)  wird  im  Präsens  sing.  ind.  ohne  trema  ge- 
schrieben und  einsylbig  gesprochen."  Logisch  richtiger  möchte  es  doch 
wohl  sein,  zu  sagen:  „hair  ist  im  Präs.  sing.  ind.  einsylbig,  deshalb  fällt 
das  trema  hier  weg."  Wie  pedantisch  diese  Bemerkung  auch  scheinen 
möge,  so  ist  sie  doch  insofern  wichtig,  als  sie  dem  Kinde  das  richtige  Ver- 
hältniss  von  Ursache  und  Wirkung  zeigt. 

Den  Beschluss  des  Buches  machen  zusammenhängende  Lesestücke,  denen 
ein  alphabetisch  geordnetes  Vocabularium  beigegeben  ist. 

Nr.  3.  Die  Vorrede  gibt  in  acht  Punkten  an,  was  dieses  Uebungsbuch 
hauptsächlich  von  Seinesgleichen  unterscheiden  soll.  Wir  müssen  aber  ge- 
stehen, dass  mit  Ausnahme  von  Nr.  8  alle  übrigen  Punkte  doch  schon  längst 
allgemein  als  richtig  anerkannt  worden  sind.  In  Nr.  8  aber  heisst  es:  „Es 
sind  ni<:ht,  wie  in  den  meisten  Elementarbüchern,  Stücke  zum  Uebertragen 
aus  dem  Französischen  eingereiht.  Denn  diese  verlangen  eine  Anordnung 
nach  ganz  andern  Rücksichten,  die  mit  der  nach  dem  grammatischen  Systeme 
nicht  zu  vereinigen  ist."  Wenn  es  auch  etwas  schwer  sein  mag,  beide  Arten 
von  Uebungen  in  allen  Beziehungen  in  Einklang  zu  bringen,  so  scheint  es 
doch  für  den  Anfänger  von  wesentlicliem  Nutzen  zu  sein,  wenn  er  beide 
Sprachen  fortwährend  an  einander  übt  und  nicht  die  eine  ausschliesslich  an 
der  andern.  Dann  ist  doch  aber  auch  vor  Allem  auf  Einfachheit  der  Lehr- 
mittel, namentlich  auf  der  untersten  Stufe  zu  sehen;  das  Buch  des  Herrn 
Verfassers  macht  aber  jedenfalls  neben  seinem  Uebungsbuche  noch  ein  fran- 
zösisches Lesebuch  für  den  Anfänger  nöthig.  Doch  gehen  wir  zu  dem 
Buche  selbst.  Obgleich  es  mir  Aufgaben  über  die  Regeln  der  französischen 
Sprache  geben  soll,  seinem  Titel  nach,  so  sind  doch  mit  besonderer  Be- 
tonung die  Regeln  selbst  angegeben,  und  häufig  in  sehr  naiver  Form.  Um 
Beweise  für  diese  letztere  Behauptung  zu  geben,  begnügen  wir  uns,  einige 
Definitionen  und  Regeln  wörtlich  anzuführen.  Nr.  1  beginnt  gleich  fol- 
gendermassen:  „Verb  heisst  ein  'Wort,  welches  darstellt,  was  Einer  thut. 
Infinitiv  nennt  man  die  Form  des  Verbs,  wenn  es  sich  auf  r  oder  r  e  endigt." 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  421 

In  Nr.  2  lieisst  es :  „Die  pewobnliclistc  Spruchform  ist  die  der  dritten 
Person,  weiche  in  der  Enduni;  t  besteht."  In  Nr.  C  aber  heisst  es  gar: 
„Wenn  der  Besitzer  ein  AVort  im  Phniel  ist,  dient"  etc.  etc. 

Nr.  4.  Obgleich  der  Herr  Verfiisser  in  kurzen  einleitenden  Worten  be- 
hauptet, dass  die  Zeitwörter,  welche  dem  Sclüiler  grosse  Schwierigkeiten 
bereiten,  nach  solcher  (soll  wohl  heissen :  meiner)  Behandlung  sich  bald  mit 
Leichtigkeit  in  ihren  verschiedenen  Formen  anwenden  lassen,  so  hat  uns 
diese  Leichtigkeit  bei  genauerer  Ansicht  des  Heftchens  doch  keineswegs 
einleuchten  wollen.  Wir  bezweifeln  auch  sehr,  dass  dies  dann  eintreten 
würde,  wenn  wir,  wie  der  Herr  Verfasser  es  fordert,  die  kleine  Tabelle 
lleissig  benutzten.  Für  Diejenigen  aber,  die  das  Bedürfniss  fidden  sollten, 
neben  einer  guten  Grammatik  noch  eine  solche  Monographie  über  das  fran- 
zösische Verbum  ihren  Schülern  in  die  Hand  zu  geben,  würde  der  Herr 
Verfaser  jedenfalls  sehr  gut  thun,  die  Anschauungsweise  auseinanderzusetzen, 
nach  welcher  er  bei  Anordnung  der  Verba  verfahren  ist,  denn,  olT'en  ge- 
standen, wir  wissen  nicht  mehr  anzugeben,  was  ein  regelmässiges  Zeitwort 
ist,  wenn  unter  dieser  Rubrik  Verba  wie  vcnir,  prendre,  naitre  und  viele 
andere  aufgeführt  werden,  die  wir  einfaltigerweise  bisher  iunner  für  un- 
regelmässig gehalten  haben. 

Nr.  5.  Die  Rücksichten,  welche  den  Herrn  V^erfasser  bei  Abfassung 
seines  üebungsbuches  leiteten,  können  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  durch 
eine  Besprechung  der  ersten  Auflage  (Archiv,  J.  1852,  8.  2-' 9)  bekannt  sein. 
Es  bleibt  uns  daher  bei  Ankündigung  der  zweiten  Auflage  nichts  Anderes 
zu  thun  übrig,  als  auf  jene  Besprechung  zu  verweisen.  Doch  sehen  wir  uns 
genöthigt,  auf  einen  ad  2  schon  besprochenen  Punkt  zurückzukommen.  Der 
Herr  Verfasser  hat  nämlich  dieser  Auflage  eine  Zusammenstidlung  von  Para- 
digmen der  Declinationen  und  Conjugationcn  beigefügt,  und  sagt  mit  Bezug 
darauf  in  der  Vorrede:  ,.Dem  mehrseitig  ausgesprochenen  Wunsche,  dass 
dem  Uebungsbuch  Paradigmen  von  Declinationen  und  Conjugationen  zur 
becjuemen  Einübung  derselben  für  die  SciiiUer  beigefügt  werden  möchten, 
habe  ich  in  einem  besonderen  Anhange  willfahren  zu  müssen  geglaubt, 
wenngleich  ich  selbst  solche  bei  meinem  Unterrichte  nie  vermisst  habe." 
Es  mag  allerdings  ein  bequemes  Unteniciiten  sein,  wenn  man  sich  solcher 
mechanischen  Handhaben,  wie  Paradigmen  sind,  bedienen  kann;  erfolgreicher, 
wenn  auch  mühsamer  ist  es  aber  jedenfalls,  wenn  man  den  Schüler  dahin 
bringt,  dass  solche  Paradigmen  für  ihn  überflüssig  sind. 

Nr.  6  Dieses  Buch  ohne  Namen  (des  Verfassers,  wohlverstanden")  kennt, 
trotzdem  es  sich  auf  die  Erfahrungen  eines  zehnjährigen  Unterrichts  in 
Deutschland  stützt,  doch  den  Aufschwung  nicht,  den  das  Studium  des  Fran- 
zösischen, wie  überhaupt  der  neueren  Sprachen,  in  den  letzten  Jahrzehnten 
in  Deutschland  erfahren  hat.  Es  kennt  nur  „La  Grammaire  de  Noel  et 
Chapsal,"  „la  Grammaire  selon  l'Academie,"  „le  cours  theori(jue  et  pratique 
de  lansue  fran^aise  j)ar  M.  Poitevin,"  kurzum  „les  grammaires  francaises  les 
plus  generalement  suivies  et  appreecices."  Es  beabsichtigt,  wie  es  in  der  Vor- 
rede heisst,  „de  presenter  aux  eleves  et  aux  instituteurs  de  langue  fran^aise 
en  AllemagRO  une  theorie  complete  et  methodique,  mais  simple  et  facile, 
eclairee  par  des  exemples  ä  la  portee  de  la  jeunesse"  etc.  Nach  Ansicht  des 
Buches  müssen  wir  gestehen,  dass  wir  diese  theorie  nicht  für  complete,  be- 
sonders nicht  für  methodique  halten  können,  wohl  aber  für  simple,  und  wenn 
auch  nicht  grade  für  facile,  so  doch  für  legere.  Es  möge  genügen,  an 
einigen  Beispielen  zu  zeigen,  wie  oberflächlich  das  Ganze,  und  wie  wenig 
geeignet  es  ist,  in  den  (Jeist  der  Sprache  einzuführen. 

In  dem  Kaj)itel  „De  l'article"  heisst  es  §.  32  (S.  7):  Du,  des,  de  la 
donnent  au  substantif  tantöt  un  sens  general,  comme  lorsque  je  dis:  la  vie 
des  hornmes  est  jjIus  courte  que  celle  des  cerfs;  tantot  un  sens  paititif, 
lorsqu'ils  equivalent  il  quelque. 


422  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Ibid.  §.  34.  „On  emploie  le,  la,  les  avant  les  adverbes  plus,  mieux, 
moins,  quand  on  veut  etablir  une  comparaison,  mais  on  emploie  le  invariable, 
quand  il  n'y  a  point  de  comparaison,  et  lorsque  les  adverbes  plus,  mieux, 
moins  modifient  un  vcrbe  ou  un  autre  adverbe.  ex.  Entre  toutes  cesjennes 
persoiuies  vos  soeurs  sont  les  plus  aimables  et  elles  sont  le  plus  ai- 
mables,  quand  elles  se  couvrent  du  voile  de  la  modestie."  Findet  hier 
etwa  in  dem  zweiten  Falle  (le  plus  aimables)  keine  Vergleichung  statt? 
Gewiss,  nur  der  Gegenstand  der  Vergleichung  ist  ein  andrer;  im  ersten 
Fall  werden  verschiedene  Personen  in  Bezug  auf  dieselbe  Eigenschaft  ver- 
glichen, im  .zweiten  dagegen  verschiedene  Grade  derselben  Eigenschaft  in 
Bezug  auf  dieselben  Personen. 

S.  \2,  §.  52  heisst  es:  „L'adjectif  possessif  leur  se  met  au  singulier: 
1)  lorsque  l'objet  possede  exprime  distinctement  une  seule  personne  ou  une 
seule  chose;  2)  lorsque  par  sa  nature,  il  ne  peut  avoir  de  pluriel;  3)  lors- 
qu'on  enonce  un  sens  general."  Wo  ist  da  wohl  die  verheissene  simplicite 
und  clarte. 

Sehr  diirftig  ist  das  Kapitel  „Emploi  des  auxiliaires,"  und  dieses  Kapitel, 
wie  das  über  den  Gebrauch  der  Tempora  und  Modi,  ist  doch  grade  für 
Deutsche  ein  sehr  wichtiges  und  schwieriges. 

Wenn  wir  daher  im  Ganzen  viel  an  dem  Buche  auszusetzen  haben,  so 
ist  doch  andrerseits  nicht  zu  leugnen,  dass  es  auch  einiges  Gute  enthält; 
besonders  hervorzuheben  ist  in  dieser  Beziehung  das  Kapitel  „Accord  du 
verbe  avec  son  sujet"  (§§.  94  —  106)  und  „de  la  negation"  (§§.  180  —  186); 
weniger  ausführlich,  doch  auch  recht  lobenswerth  ist  der  Abschnitt  „du 
complement  du  verbe"  (§§.  107  — 113).  Crouze. 


Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit.  Organ  des  Ger- 
manischen Museums.  Red. :  Dr.  Freih.  v.  u.  zu  Aufsess, 
Dr.  A.  V.  Eye,  Dr.  G.  K.  Frommann.  Neue  Folge,  gr.  4. 
Nürnberg. 

Der  Anzeiger  für'Kunde  der  deutschen  Vorzeit  ist,  wie  er 
ausdrücklich  auf  dem  Titel  angibt,  das  Organ  des  germanischen  Museums 
zu  Nürnberg  und  hat  mit  dem  laufenden  Jahre  den  fünften  Jahrgang  „neuer 
Folge"  eröffnet.  Die  letzten  Worte  sollen  bekanntlich  nur  andeuten,  dass 
sich  der  Anzeiger  als  eine  Fortsetzung  des  von  Herrn  v.  Aufsess  im  Jahr  1832 
unter  dem  Titel  „Anzeiger  für  Kunde  des  teutschen  Älittelalters"  begrün- 
deten, dann  zuerst  in  Gemeinschaft  mit  Mone,  endlich  von  diesem  Letzteren 
allein  unter  dem  Titel  „Anzeiger  für  Kunde  der  teutschen  Vorzeit"  bis  zum 
Jahre  1839  fortgeführten  betrachtet.  Der  jetzige  Herausgeber  der  Zeit- 
schrift, Herr  von  Aufsess,  eben  derselbe,  welcher  auch  jenen  altern  Anzeiger 
begründet  hat,  und  die  Herren  A.  v.  Eye  und  K.  Frommann,  die  unter  uns 
einen  guten  Klang  haben,  sprechen  sich  in  dem  Vorworte  zur  ersten  Nummer 
(Juli  1853)  darüber,  sowie  über  die  ganze  weitumfassende  Tendenz  dieses 
Blattes  und  seines  Anschlusses  an  das  germanische  Museum  selbst  aus.  Da- 
nach hat  nun  diese  im  Allgemeinen  noch  wenig  gekannte  Zeitschrift  die 
grosse  Aufgabe,  das  ganze  Material  des  deutschen  Alterthums  bis  zum  sieben- 
zehnten Jahrhundert  zu  umfassen.  Sie  verfolgt  die  einzelnen  Disciplinen 
nach  denselben  Rubriken,  nach  welchen  das  grossartige  germanische  Museum 
in  Nürnberg  selbst  eingerichtet  und  gegliedert  ist  Es  würde  demnach  diese 
Zeitschrift  ganz  vorzugsweise  die  Böckh'sche  Auffassung  vom  Wesen  und 
Beruf  der  Philologie  zu  realisiren  suchen,  während  die  übrigen  wissenschaft- 
lichen Blätter  nur  partielle  Zwecke  verfolgen.  So  z.  B.  gibt  die  Haupt'sche 
„Zeitschrift  für  deutsches  Alterthum"  vorzugsweise  Denkmäler  und 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  423 

grössere  Abhandlungen,  die  Pfeiffer' sc  he  „Germania"  fast  ausschliess- 
lich Literarliistoriscli-Exegetisches,  nobst  einigen  meistens  südiieutschen,  zum 
Tlieil  sehr  einseitigen  Kritiken;  die  F  rom  m  ann'schc  endlich,  „Die 
deutschen  Mundarten,"  beansprucht  nur,  dits  Organ  für'  mundartliche 
Studien  zu  sein. 

Ist  so  die  Tendenz  des  Blattes  eine  höchst  wichtige,  so  ist  auch  der  reiche 
Inhalt  wohl  geeignet,  jedem  Freund  der  deutschen  Literatur,  oder  besser : 
deutscher  Studien.  Interesse  und  Belehrung  zu  gewähren.  Diesen  Inhalt 
bilden  zuerst  „wissenschaftliche  Mittlieilungen,"  dann  eine' Chronik  des  ger- 
manischen Museums  und  Verzeichnisse  I.  der  Geschenke  für  das  Archiv, 
II.  fiir  die  Bibliothek,  III.  für  die  Kunst-  und  Alterthumssammlung:  ferner 
eine  Chronik  der  historischen  Vereine;  dann  unter  der  Ueherschrift  „Nach- 
richten" kurze  Anzeigen  über  neu  erschienene  Werke  der  betrellenden  Lite" 
ratur  und  Angabe  der  in  das  Gebiet  de.s  Museums  einschlagenden  Aufsiitzc 
in  andern  Zeitschriften.  Den  Beschluss  bilden  Vermischte  Nachrichten,  An- 
fragen, Inserate  und  Bekanntmachungen. 

Der  Jahrgang  besteht  aus  zwölf  in  der  Regel  zwei  bis  zwei  und  einen 
halben  Bogen  starken  Nummern;  der  Preis  desselben  ist  massig,  etwa  zwei 
Thaler.  Ich  beschliesso  meinen  Bericht  mit  einer  kurzen  Angabe  der  wissen- 
schaftlichen Mittheilungen,  deren  einige  nur  kurz,  andere  langer  sind  und 
sich  durch  mehrere  Nummern  hindurchziehen.  Es  sind  in  den  beiden  ersten 
Nummern  der  Reihe  nach  folgende:  1.  Heinz  Uebertwerchs  Lied  von  Niclas 
Muffel  1469,  mirgetheilt  von  Prof.  Dr.  C  Hötler  in  Prag.  2.  Ueber  eine 
Handschrift  des  Luarin,  von  Prof.  Dr.  K.  Bartsch.  3.  Zwingli's  erste  zw  i 
Schriften,  von  E.  "Weiler  in  Zürich.  4.  Haar  und  Bart  der  Deutschen  im 
Mittelalter,  von  Jacob  Falke.  Der  Verfosser,  einer  der  Beamten  im  Ger- 
manischen Museum  und  Herausgeber  einer  Galerie  der  Meisterwerke  alt- 
deutscher Holzschneidekunst,  gibt  hier  nur  wegen  Beschränkung  des  Raumes 
eine  möglichst  kurze  übersichtliche  Darstellung  des  Ganges,  den  die  Tracht 
an  Haar  und  Bart  in  Deutschland  genommen  hat.  Einige  Abbildungen  sind 
zur  Veranschaulichung  beigefügt.  Die  weitere  Ausfiihrung  soll  an  einer 
andern  Stelle  stattfinden.  5.  lieber  die  Wappen  und  Sigille  der  St;idt 
Constanz  von  Dr.  J.  Marmor  zu  Constanz,  mit  einer  Abbildung.  6.  Nach- 
trägliche Bemerkung  über  eine  alte  Spielkarte,  vom  Kreisgerichtsrath  Kuchen- 
buch zu  Müncheberg.  7.  Schuldiger  gleiclibedeutend  mit  Gläubiger,  von 
Lochner.  8.  Ueber  die  Handschriften  der  Nürnberper  Stadtbibliothek,  von 
Dr.  K.  Bartsch,  Professor  zu  Rostock.  9.  Altnumistica,  von  E.  Weller  in 
Zürich.  Derselbe  bittet  die  Herren  Biblioihekare  um  Auskunft  über  mehrere 
Exemplare  von  Joh.  Clais  satirischem  Gedichte,  von  dem  K.  Gödecke  nur 
einige  Ausgaben  nenne.  10.  Wolfgangus  Prisbachius,  von  E.  Weller  in 
Zürich.  Der  genannte  Pseudonymus  ist  nach  Weller  Theodor  Beza  und 
Genf  der  Druckort  seiner  .Schrift.  11.  Die  adlige  Gesellschaft  „zum 
Sünflzen"  in  Lindau,  von  C.  Primbs,  Rechtspraktikanten  zu  Nürnberg.  Die 
Gesellschaft  ist  schon  vor  138.5  gegründet  worden.  Der  älteste  Geselischafts- 
oder  Statutenbrief  ist  vom  Jahr  1430.  Karl  V.  ertheilt  ihr  1.5  51  neben  dem 
Rechte,  dass  aus  selber  jederzeit  die  drei  Bürgermeister  und  ein  Geheimer 
zu  wählen  seien,  die  Freiheit,  auch  andere  ehrbare  Leute  in  ihre  Gesell- 
schaft aufzunehmen.  12.  Ein  altes  Taufbecken  im  Dome  zu  Osnabrück, 
von  Dr  L.  Tross,  Oberlehrer  in  Hamm.  13.  Unzuchtstrafen  früherer  Zeiten, 
von  A.  Birlinger,  Cand.  theol.  in  Tübingen. 

So  mannigfaltig  und  unterhaltend  diese  wissenschaftlichen  Mittheilungen 
sind,  ebenso  sind  es  auch  (Vw,  übrigen  Zuthaten  des  Blattes.  Alle  Diejenigen, 
welche  sich  für  das  germanische  Museum  interessiren,  finden  hier  Alles  ver- 
zeichnet, was  die  Verwaltung,  den  Vorstand,  die  Gelehrtenausschüsse  und 
dergleichen  mehr  betriflt,  ebenso  den  Ungeheuern  Zuwachs  an  Mitteln  jeder 
Art,  besonders  an  literarischen.  Am  wichtigsten  sind  sodann  wohl  die  Aus- 
züge  aus  den  Schriften  der  verschiedenen  historischen  Vereine  (die  beiden 


424  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

ersten  Nummern  geben  deren  dreizehn)  und  die  Hin^Yeisung  auf  Aufsätze  in 
Zeitschriften  (in  den  beiden  vorhegenden  Nummern  dreissig).  Es  werden 
zweiundzwanzig  Werke  angezeigt  und  nach  Inhalt  und  Werth  einer  kurzen, 
aber  gediegenen  und  gemässigten  Kritik  unterworfen.  Auch  unter  den  ver- 
mischten Nachrichten,  Bekanntmachungen,  Anfragen  und  dergleichen  findet 
der  Freund  deutschen  Altertliums  mannigfaltige  Anregung,  und  ich  glaube 
nicht  zu  viel  zu  sagen,  wenn  ich  behaupte,  dass  keine  Zeitschrift  geeigneter 
ist  als  sie,  in  das  Studium  des  Deutschen  auf  eine  leichte  und  angenehme 
Weise  einzuführen  und  zu  bewirken,  dass  Jeder,  unbeschadet  seiner  spc- 
ciellen  Studien,  bei  dem  Gesammtstudium  der  deutschen  Philologie  sich  be- 
theilige. 

Nr.  3  und  4  (März  und  April)  enthalten  folgende  wissenschaftliche  Mit- 
theilungen: 1.  Meister  Hermann,  ein  deutscher  Glasmaler  des  vierzehnten 
Jahrhunderts,  von  Dr.  Ludwig  Schneegans,  Stadtarchivar  in  Strassburg. 
2.  Der  wahre  Name  des  Bildhauers  der  Constanzer  Domthüren,  von  dem 
selben.  3.  Ueber  die  Handschriften  der  Nürnberger  Stadtbibliothek,  Schluss, 
von  Dr.  K.  Bartsch,  Professor  in  Rostock.  4.  Meister  Altswert,  von  Prof. 
Dr.  A.  v.  Keller  in  Tübingen.  5.  Ueber  Gambrinus,  von  Dr.  Karl  Gautsch 
in  Dresden.  6.  Haar  und  Bart  der  Deutschen  im  Mittelalter,  Schluss,  von 
Jacob  Falke.  7.  Zum  Holen  der  Speckseite,  von  Dr.  Reinhold  Köhler, 
grossherzoglichem  Bibliothekar  in  Weimar.  8.  Zur  Geschichte  der  Strafe  des 
Steintragens  der  Weiber,  von  Jos.  Zahn,  Professurscandidaten  in  Wien. 
9.  Ueber  die  Gefangennehmung  des  Grafen  Reinhard  von  Solms,  von  Dr. 
Johannes  Voigt,  königl.  preussischem  geheimen  Regierungsrath  und  Univer- 
sitätsprofessor in  Königsberg.  11.  Freimarkt,  vom  Archivar  Herschel  zu 
Dresden.  11.  Die  Inschrift  in  der  sogenannten  Bennohöhle,  von  K.  Gautsch 
in  Dresden.  12.  Meister  Altswert,  Fortsetzung,  von  Prof.  v.  Keller.  13.  Zur 
Geschichte  des  englischen  Seh  weisses.  14.  Das  römische  Kastell  Aliso  und 
das  Varianische  Schlachtfeld,  von  M.  F.  Escellen,  königl.  preussischem  Hof- 
rath  in  Hamm.  1.5.  Bärenfang  im  Fichtelgebirge,  von  Ludwig  Zapf  in  Münch- 
berg.  1 6.  Der  Freistuhl  an  der  breiten  Eiche,  von  J.  S.  Seibertz,  königl. 
preust^ischem  Kreisgerichtsrath  zu  Arnsberg. 

Den  Schluss  bilden  wieder,  wie  in  den  früheren  Nummern,  die  Chronik 
des  Museums  nebst  Angabe  des  Zuwachses  zu  den  Sammlungen  desselben; 
Chronik  der  historischen  Vereine;  Nachrichten  aller  Art:  Recensionen  (23 
bis  30),  vermischte  Nachrichten,  Inserate  und  Bekanntmachungen. 

Dr.  Sachse. 


Programmenschau. 


Die  freie  deutsche   Arbeit    in  Prima.     I.     Von    Dr.  H.  Wendt. 
Programm  des  Gymnasiums  in  Rostock,  1857. 

In  dem  ersten  Tlicile  dieser  höchst  beachtungswerthen  Abhandlung, 
welcher  die  Ueberschrift:  Allgemeines  trägt,  gibt  der  Verfasser  zuvörderst 
eine  kurze  historische  Darstellung  des  Entwicklungsganges ,  welchen  die 
Methode  des  deutschen  Unterrichts  an  unsern  Gymnasien  genommen  hat, 
und  wendet  sich  sodann  zu  einem  speciellen  Punkte  dieses  ganzen  Gebiets, 
dem  freien  deutschen  Aufsatz  in  Prima.  Dieser  Ausdruck  wird  folgender- 
massen  erklärt:   * 

„Darstellung  durch  die  Schrift  ist,  wie  die  mündliche  Rede,  die  sie  zu- 
nächst vertritt,  wie  die  Sprache  überhaupt,  zu  welcher  der  Mensch  von  Naiur 
organisirt  ist,  ilirem  Wesen  nach  Mittheiluug:  Mittheilung  eines  Innerlichen, 
eines  Empfundenen,  Gedachten,  im  Innern  Geschauten.  Der  Zweck  jeder 
solchen  Mittheilung  ist  entweder  ein  innerer,  auf  sie  selbst  gewandter,  oder 
ein  äusserer,  auf  etwas  Anderes  als  sie  selbst  bezogener,  wonach  die  Mit- 
theilung selbst  in  zwei  ihrem  Wesen  und  ihrer  Bedeutung  nach  verschiedene 
Arten  zerfällt.  Die  erstere  Art,  deren  Zweck  ein  innerer,  muss  angesehen 
werden  als  ein  Act  der  Selbstljefriedigung  durch  geistiges  Schallen,  der  Be- 
friedigung eines  im  Geiste  wie  in  allem  Lebendigen  wirksamen  Triebes,  sich 
selber  gegenständhch  zu  sein  und  zu  werden,  sich  von  sich  selber  abzulösen, 
sich  darzustellen,  und  so  in  objectiver  Erscheinung  sich  selber  anzu- 
schauen. Hierbei  ist  die  geistige  Thätigkeit  ganz  durch  sich  selbst  besiimmt, 
weil  auf  keinen  andern  Zweck  als  auf  ihr  eigenes  Schaffen  bezogen,  und  in- 
sofern eine  freie,  die  ihr  Gesetz  in  sich  selber  hat,  aus  sich  selber  anhebt 
und  in  sich  selber  mit  geschehener  .Selbstdarstellung  zu  Ende  geht.  Pro- 
duction  ist  das  eigentliche  Wesen  dieser  ersten  Art  der  Mittheilung. 

Die  zweite,  deren  Zweck  ein  äusserer,  ist  dadurch  in  Allem  der  Gegen- 
satz der  ersteren  Art.  Dort  ein  Act  reiner  Selbstbefriedigung,  hier  ein  Ge- 
schäft, das  in  fremdem  Auftrage  vollzogen  wird;  dort  ein  eintäches  und  un- 
mittelbares Interesse  an  der  I^Iittheilung,  das  ganz  in  dieser  selbst  aufgeht, 
hier  ein  abgeleitetes  und  mittelbares  Interesse  an  der  Mittheilung  als  solcher, 
deren  Zweck  ja  eben  ausser  ihr  selbst  in  etwas  Anderem  liegt,  das  durch 
sie  erreicht  werden  soll,  und  das  so  vielfach  sein  kann  als  die  Beziehungen 
des  individuellen  SeiriS  nach  Aussen  oder  zu  sich  selbst.  Denn  auch  zu  sich 
selbst  kann  der  Mittheilende  in  Zwei-kbeziehung  treten,  ohne  dass  darum  der 
Zweck  der  Mittheilung  aufhörte  ein  äusserer  zu  sein  und  ein  innerer  würde. 
Eine  schriftliche  Aufzeichnung  z.  B.  als  Gedächtnisshülfe  oder  zum  Nutzen 
und  zur  Uebung  irgend  einer  geistigen  Kraft  oder  Fertigkeit,  wie  solche 
namentlich  in  Schulen  so  häufig  vorkommen,  hat  einen  der  Darstellung  selbst 
ausserlichen  Zweck,    dessen  geistige  Natur  nichts  an  dem  äusserlichen  Cha- 


426  Programmenschau. 

rakter  dieses  Zweckes  ändert.  Ferner  ist  hierbei  die  geistige  Thätigkeit 
nicht  durch  sich  selbst  bestimmt,  die  Regel  ihres  Verfahrens  wird  ihr  nicht 
durch  ihr  Schaffen  selbst,  sondern  durch  etwas  Anderes,  aussen  Stehendes 
dictirt,  zu  dem  dies  Schaffen  in  Zweckbeziehung  steht;  es  waltet  über  ihr 
nicht  ihr  eigenes,  sondern  ein  fremdes  Gesetz,  sie  ist  insofern  eine  unfreie, 
gebundene,  von  Aussen  beherrschte." 

Arbeiten  der  letzteren  Art,  eigentliche  Uebungen,  müssen  in  der 
Schule  in  Menge  vorkommen;  die  Production  schliesst  dagegen  den  Be- 
griff' der  Uebung  aus,  denn  sie  beruht  auf  dem  energischen  Hervortreten 
eines  in  allem  Leben,  dem  geistigen  wie  dem  leiblichen,  unter  gewissen  Um- 
ständen erwachenden  Triebes,  womit  dasselbe  über  die  Grenzen  der  Indivi- 
duahtiit,  innerhalb  welcher  es  zunächst  besteht,  hinausstrebt,  und  sich  in 
einer  aus  ihm  selbst  heraustretenden  Bildung,  die  ein  Abbild  seines  eigenen 
Seins  ist,  zu  wiederholen  unternimmt.  Solches  Unternehmen  ist  nun  zwar 
au  Bedingungen  geknüpft,  deren  Vorhandensein  vom  directen  Willenseinffusse 
des  Subjects  unabhängig  ist,  aber  das  Productions vermögen  und  der  in 
ihm  erwachende  Bildungstrieb  stehen  keineswegs  ausser  dem  Bereich  mannig- 
facher bestimmender  und  bedingender  EinÜüsse.  Der  Verfasser  will  es  hier- 
bei indessen  durchaus  nicht  auf  Hervorrufung  und  Begünstigung  der  Pro- 
duction anlegen,  sondern  will  die  Aufgabe  der  Schule,  welche  das  geistige 
Leben  der  Jugend  und  seine  Entwicklung  zu  leiten  und  zu  behüten  hat,  so 
verstanden  wissen,  dass  sie  die  „bei  normaler,  gesunder  Entwicklung  von 
selbst  sich  regende  Production  gewähren  lasse  und  nur  dafür  Sorge 
trage,  in  massvoller  und  wohl  berechneter  Weise  derselben  Gelegenheit 
zu  bieten,  sich  zu  zeigen,  wo  sie  sich  zeigen  wolle." 

In  Beziehung  auf  die  von  mehreren  Pädagogen  geäusserten  Bedenken 
über  die  Zulassung  der  Production  im  Jünglingsalter  überhaupt  bemerkt  der 
Verfasser,  dass  auch  er  der  Ansicht  über  das  Verwerfliche  der  blasirenden 
Anforderungen  so  mancher  Lehrpläne  beipflichte,  dass  man  indessen  vom 
pädagogischen  Standpunkte  nur  desshalb  vor  der  Production  wie  vor  einem 
Gifte  absperren  zu  müssen  glaube,  weil  man  darunter  etwas  ganz  Anderes 
verstehe,  als  die  Befriedigung  eines  naturgemäss  im  Geiste  wirksamen 
Triebes,  sich  selber  gegenständlich  zu  werden.  Zur  näheren  Verständigung 
scheint  es  dem  Verfasser  nöthig,  „in  der  Natur  des  geistigen  Vermögens 
selber ,  der  Seelenthätigkeit  im  Allgemeinen ,  die  Erklärung  desjenigen 
Vorganges  zu  suchen,  den  er  als  Production,  als  productive  Seelenthätig- 
keit bezeichnet:  die  Spuren  derselben  bis  in  das  erwachende  Seelenleben 
zurück  zu  verfolgen ;  ihr  Verhalten  während  der  nachfolgenden  Entwick- 
lungsphase zu  beobachten ,  den  wesentlichen  Richtungen  nachzugehen,  in 
welche  diese  fortschreitende  Bewegung  jene  Thätigkeit  naturgemäss  weiset; 
die  Gebiete  abzugrenzen  und  deren  Dimensionen  nach  Breite  und  Tiefe  zu 
ermitteln,  innerhalb  welcher  die  Production  sich  je  nach  den  verschiedenen 
Alters-  und  Lebensabstufungen  bewegt."  —  Jede  Seelenthätigkeit  ist  als 
ein  inneres  Wirken  und  Schaffen,  Bilden  und  Gestalten  zu  denken:  die  pro- 
ductive Geistesthätigkeit  ist  deshalb  von  keiner  Alters-  und  Entwicklungs- 
stufe ausgeschlossen  und  es  findet  unter  den  Productionen  der  verschiedenen 
Lebensabschnitte  kein  Art-,  sondern  nur  ein  Gradunterschied  statt.  Das 
eigenthümliche  individuelle  Leben  producirt  sich  stets  in  der  ihm  adäquaten 
Weise.  Li  der  Sprache  ist  Nichts,  was  nicht  in  der  Seele  ist;  als  Product 
menschlischer  Organisation  ist  sie  leiblich  und  geistig  bedingt  und  dasselbe 
gilt  auch  von  dem  ganzen  Verlaufe  der  Entwicklung  des  sprachlichen  Ver- 
mögens im  Individuum.  Die  Produ(!tion  besteht  demnach  in  dem  bezeich- 
neten Sinne  in  einer  Geistesthätigkeit,  die  jedem  Lebensalter  zukommt  und 
als  vom  Menschengeiste  unzertrennlich  gedacht  werden  muss.  „Es  genügt, 
dass  das  spielende  und  plaudernde  Kind  seine  ganze  Seele  blosslegt, 
und  dabei  in  tausend  eigenthümlichen  Combinationen,  Erfindungen,  Urtheilen 
und   Einfällen    die   Selbstthätigkeit    und    den  schaffenden  und   gestaltenden 


Prograramenschau.  427 

Trieb  kundgibt,  der  das  AVesen  aller  und  jeder  Production  ausmacht.  Ver- 
früht, widernatürlich  kann  also  diese  Thiitigkeit  und  können  ihre  Aeusse- 
rungen  und  Erzeugnisse  nirgends  heissen,  wo  sie  von  selbst  und  unter 
den  ihnen  ge müssen  Bedingungen  auftreten  .  .  , 

Sollen  demnach  schriftliche  Productionen,  wie  ü-üh  oder  wie  spät,  im 
ausgehenden  Knaben-  oder  im  reiferen  Jünglingsalter  innerer  Beruf  oder 
äusserer  Anlass  dazu  führen  mag,  vor  dem  Vorwurf  der  Priicocitiit,  der 
Ueberspannung  und  Unnatur  gescliützt  stehen,  so  dürfen  sie  eben  nicht 
durch  künstlichen  Reiz  gemacht,  sondern  müssen,  analog  den  Combinationen 
und  Erfindungen  des  spielenden  Kindes,  von  selbst  gekommen,  freiwillig  und 
aus  innerem  Trieb,  also  auf  naturgemiissem  Wege  entstanden  sein.  Die 
Selbstbestinuuung  des  Geistes  in  dem  freien  Spiel  seiner  Knifte,  das  Wolil- 
gefiillen,  das  er  an  ihrer  Thiitigkeit  findet,  ist  der  einzige  Bestiin- 
mungsgrund  der  Production:  die  Aufgabe  kann  und  soll  nur  als 
Gelegen heitsreiz  und  Anregung  der  Produetionslust  wirken. 

Sollen  ferner  dergleichen  Pruductionen  überhaupt  möglich,  sollen 
sie  natürlich  und  wahr  und  nicht  bloss  Schein  und  'J'äuschung  sein,  so 
niuss  ihnen  erlaubt  sein,  nach  Art  und  Charakter,  nach  Inhalt  und  Form 
das  zu  sein,  was  sie  in  Berücksichtigung  des  Alters  und  der  Bildungsstufe, 
der  Neigung  und  der  Individualitat  des  Producirenden  sein  können:  ihnen 
muss  erlaubt  sein,  in  der  Kichtung  und  dem  Vorstellungskreise  zu  liegen 
und  die  Sprache  und  Ausdrucksweise  an  sich  zutragen,  die  diesem  Alter, 
dieser  Bildungsstufe  und  individuellen  Begabung  natürlich  und  angemessen 
sind  .  .  . 

Endlich  ist  zu  jeder  Production  der  volle  Seele nantheil  nöthig, 
das  intensive  Interesse  an  dem  Gegenstand  der  Darstellung,  welches  die 
höhere  Spannung  und  Energie  der  geistigen  Kräfte,  ihre  volle  Wirkung  auf 
einen  gegebenen  Punkt  bedingt.  Was  aus  dem  Innern  heraus  Gestalt  und 
Bildung  gewinnen  soll,  muss  die  innere  gestaltende  und  bildende  Thiitigkeit 
in  entsprechender  Weise  in  Bewegung  setzen,  muss  desshalb  zu  dem  indivi- 
duellen Denken,  Empfinden,  Begehren  in  der  allernäclisten  und  innigsten 
Beziehung  stehen."' 

Nach  einer  kürzeren  Polemik  gegen  Hiecke,  welcher,  wie  der  Verfasser 
sagt,  von  einer  falschen  Theorie  der  Production  ausging,  beleuchtet  die  Ab- 
handlung die  Ansichten  mehrerer  Gegner  der  freien  Production  beim  Unter- 
richte in  der  deutschen  Sprache  und  behandelt  dann  in  einem  zweiten  Theile 
die  Bildung  des  Stiles.  Referent  wünscht,  dass  dieser  interessante  Abschnitt 
in  der  Zeitschrift  vollständig  abgedruckt  werden  möge.  Er  lautet  folgender- 
massen: 

-Man  verlangt  vom  Lehrer,  dass  er  den  Stil  seines  Zöglings  bilde.  Es 
ist  erstaunlich,  mit  welcher  Unbefang-enheit  diese  Aufgabe  gestellt  und  — 
acceptirt  zu  werden  pflegt.  Am  erstaunlichsten  wohl  in  folgendem,  übrigens 
alltäghchem  Fall.  Ein  junger  Mensch  vom  Lande  wird  von  seinen  Ange- 
hörigen in  die  Stadt  gegeben,  um  hier,  nachdem  er  zu  Hause  bis  zum  fünf- 
zehnten oder  sechzehnten  Jahre  die  Elemente  absolvirt,  in  Jahresfrist  mit 
einem  Cursus  im  Reiten,  Tanzen,  Buchführen,  etwas  französischer  Conver- 
sation  und  —  im  deutschen  Stil  seine  „Ausbildung"  zu  vollenden.  Bald  ist, 
neben  den  andern,  auch  der  „Stil-"  oder  „Deutschlehrer"  gefunden:  eine 
Stunde  wöchentlich  oder  zwei  werden  ausgemacht,  und  die  Sache  geht  vor 
sich.  Aus  der  Reitstunde  kommt  der  Jüngling  in  die  Stilstunde.  Hier  er- 
hält er,  nach  Anleitung  irgeml  eines  „Briel'schülers"  oder  einer  „Sammlung 
von  Materialien  zu  allen  Arten  von  schriftlichen  Arbeiten,"  die  den  Lehrer 
der  Mühe  überhebt,  die  Stofle  der  Individualität  und  dem  Bedürfuiss  seines 
Schülers  anzupassen,  Aufgaben  zu  Briefen  und  Aufsätzen,  die  ihm  Veran- 
lassung werden,  Federn  zu  zerkauen  und  Papier  zu  bcsclireiben  —  mit 
Redensarten,  die  der  Lehrer  nacli  Miiglichkeit  verbessert,  und  die,  als  über- 
lieferte fertige,  conveutionelle  Formeln,  zu  dem  natürlichen  und  sachgemässen 


428         '  Programmenschau. 

Ausdruck,  zur  Sprache  in  eigentlicher  Bedeutung,  als  dem  Spiegel  und  Ab- 
druck des  eigenen  Innern,  genau  in  demselben  Verhältniss  stehen  wie  die 
Exercitien  der  Tanzstunde  —  Arme  halten,  Beine  stellen,  Verbeugungen 
machen,  entree  und  sortie  executiren  u.  s.  w.  —  zur  freien,  vom  Geflihl  und 
AiTect  und  innerem  Bedürfniss  getragenen  Haltung  und  Bewegung  des 
Körpers.  Dass  der  Schüler  durch  diese  Schreibereien,  die  sich  um  fingirte 
Verhältnisse  und  unwahre  Situationen  drehen  und  keinerlei  Zusammenhang 
haben  „mit  dem,  was  in  der  Reihe  der  lebendigen  Gedanken  vorgeht,"  auch 
nur  so  viel  gefördert  werde,  dass  er  die  gröbsten  Fehler  und  Solöcismen 
seines  Dialekts  nach  eigenem  Urtheil  vermeiden  lerne,  ist  kaum  denkbar: 
das  Höchste  ist,  dass  er  eine  Anzahl  Phrasen  und  Wendungen  über  allerlei 
Gegenstände  und  Gelegenheiten  an  ungelegenem  Orte  anbringen  lernt; 
worauf  er,  um  diese  „Ausbildung"  bereichert,  in  sein  Dorf  zurück-  oder  zu 
seinem  anderweitigen  Berufe  übergeht.  Und  dies  hohle  Wesen  heisst  Unter- 
richt im  Stil! 

Aber  auch  bei  anscheinend  gründlicherem  Verfahren  eines  regelmässi- 
geren  Unterrichts,  in  höheren  und  niederen  Schulen,  erscheint  Demjenigen, 
der  Zweck  und  Mittel  eines  solchen  stiHstischen  Unterrichts  bedenkt,  das 
Meiste,  was  für  denselben  geschieht  und  geschehen  kann,  als  nugae,  als  ein 
von  dem  Bewusstsein  dessen,  um  was  es  sich  eigentlich  handelt,  mehr  oder 
weniger  verlassenes  Beginnen.  Sehen  wir  uns  den  Gegenstand,  um  den  man 
sich  bemüht,  etwas  näher  an. 

Der  Stil  ist  der  Mensch.  Das  heisst  zunächst,  der  Stil  ist  Natur.  Denn 
der  Mensch  selber,  der  einzelne  in  seiner  individuellen  Bestimmtheit,  ist  vor 
Allem  Natur,  ist  eine  ursprüngliche  Eigenheit,  eine  so  und  nicht  anders  an- 
gelegte Wesenheit,  und  alle  innere  und  äussere  Gestaltung  dieses  Indivi- 
duellen ist  lebenslänglich,  im  Grossen  und  Ganzen,  Entfaltung  eines  von 
Anfang  Gegebenen,  eines  im  Keime  nach  Gehalt  und  Form  Vorgebildeten. 
Wenn  nun  diese  angeborne  Art  den  Chrakter  des  Individuums,  wenn  sie 
wesentlich  seine  AVeise  zu  denken,  zu  empfinden,  die  AVeit,  die  ihn  umgibt, 
und  alle  ihre  Erscheinungen  aufzufassen  und  ihr  gegenüber  sich  lebendig  *" 
wirkend  zu  verhalten,  bedingt,  so  ist  damit  auch  über  das  Verhältniss  des 
Darstellungsvermögens  zur  natürlichen  Begabung  des  Individuums  entschieden. 
Denn  wie  zuerst  der  menschliche  Charakter  überhaupt,  der  Gattungscharakter 
unsers  Geschlechts,  am  reinsten  und  menschlichsten  in  Wort  und  Rede  her- 
vortritt, so  muss  dies  auch  vorzugsweise  das  Gebiet  sein,  wo  die  indivi- 
duelle Natur  sich  in  ihrer  Stärke  zeigt,  so  muss  Naturell  und  Tempera- 
ment und  alle  ursprüngliche  Besonderheit  des  Einzelnen  in  der  Sprache  des- 
selben zu  vollster  Geltung  kommen.  So  ist  der  Stil  zuerst  Natur,  und  dass 
dem  so  ist,  liegt  im  Grossen  in  allen  Literaturen,  und  liegt  noch  im  Kleinsten 
in  jedem  Blättchen,  das  uns  im  menschlichen  Leben  von  Freundes  Hand  zu 
Gesichte  kommt,  klar  vor  Augen. 

Aber  freilich  der  Mensch  ist  nicht  bloss  Natur.  Das  Ursprüngliche 
in  ihm  ist  auf  tausendfache  Weise  durch  Bilduugseintlüsse  modificirt,  die  im 
weitesten  Bereich  seiner  ganzen  Persönlichkeit  ihr  Gepräge  aufdrücken,  und 
so  ist  der  Stil  zweitens  auch  die  Bildung  des  Menschen.  Die  Barbarei  hat 
ihren  Stil  so  gut  wie  die  höchste  Bildung  und  die  Verbildung,  und  keinen 
Fortschritt  im  intellectuellen  und  sittlichen  Leben  der  Völker  und  Individuen 
gibt  es,  und  keinen  Rückschritt,  der  nicht  seine  Spuren  in  ihrer  Sprache 
zurückliesse.  So  mächtig  nach  dieser  Seite  hin  ist  der  Einfluss  der  Bildungs- 
verhältnisse, dass  wir,  um  von  den  Völkern  zu  schweigen,  nicht  einen 
Mann  von  einiger  Bedeutung  kennen,  der  als  Schriftsteller,  wenn  seine  Werke 
kein  ganz  kurzes  Leben  begleiten  und  dieses,  wie  natürlich,  eine  Mehrheit 
von  Bildungsphasen  durchhef,  nicht  ein  Abbild  seines  Bildungsganges  und 
der  verschiedenen  Perioden  desselben  in  der  Verschiedenheit  seines  früheren 
und  späteran  Stils  darböte. 

So  ruht  das  Darstellungsvermögen  und  was  dasselbe  im  einzelnen  Falle 


Programmenschau.  429 

charakterisirt,  es  seien  Vorzüge  oder  Schwächen,  durchaus  auf  der  breiten 
Unterhifj;e  der  Individualität,  der  frcsamnitcn  geistigen  Organisation,  wie  diese 
theils  durch  natürliche  Anlage,  theils  durch  Bildungseinllüssc  näher  bestimmt 
und  entwickelt  ist  —  durchaus  bedingt  und  getragen  von  grossen  und  all- 
gemeinen Verhältnissen:  der  Denkthätigkeit,  des  Anschauungsvernuigens,  der 
Quantität  und  Qualität  der  in  der  Seele  lebendigen  Begrirte  und  Vorstel- 
lungen u.  s.  w. ;  und  es  ist  kaum  abzusehen,  wie  neben  diesen  massgebenden 
und  entscheidenden  allgemeinen  Beiiingungen  noch  einer  aparten  Ivunst, 
einer  besondern  stilbildenden  Veranstaltung  ein  Recht  und  eine  Bedeutung 
zukommen  könne.  Der  Stil  ist  der  Mensch :  wer  also  den  Stil  anders  will, 
muss  den  Menschen  anders  machen.  Dies  wird  zum  Theil  unmüglieh 
sein,  soweit  die  Individualität  von  fester  natürlicher  Schranke  umzogen  ist, 
die  keine  Kunst  und  keine  Erziehungsweisheit  durchbricht  oder  verrückt; 
zum  Theil  aber,  nämlich  soweit  die  Anlage  und  ihre  Entwicklungsfähigkeit 
es  zulässt,  mag  es  der  Einsicht,  der  Kunst,  wenn  sie  rechter  Art  ist,  ge- 
lingen, zumal  in  einem  Alter,  wo  der  individuelle  Charakter  noch  weniger 
scharf  ausgeprägt,  die  Natur  noch  nachgiebiger,  die  Seele  noch  allen  Ein- 
flüssen offener  und  folgsamer  ist.  Darauf  beruht  ja  eben  alle  Möglichkeit 
der  Erziehung,  der  Bildung,  des  Unterrichts,  die  eine  Perfectibilität  mensch- 
lichen Wesens  voraussetzen,  ohne  welche  jeder  pädagogische  Versuch  eine 
Thorheit  wäre. 

An  diese  pädagogische  Kunst  also  und  was  sie  von  allgemein  er- 
ziehenden Mitteln,  von  seelenbilden  Einflüssen  besitzt  oder  zu 
besitzen  meint,  sieht  sich  der  „Stillehrer"  gevTiesen,  der  im  Ernst  un<i  nicht 
bloss  zum  Spiel,  von  Innen  heraus  und  nicht  bloss  auf  der  Oberlläche,  aus 
ganzem  Zeuge  und  nicht  bloss  mit  aufgehefteten  Flicken  und  Lappen,  den 
Stil  seines  Zöglings  zu  bessern  unternimmt.  Von  ihr,  wenn  sie  aufrichtig 
ist,  wird  er  dann  erfahren,  erstens  dass  zur  Erziehung,  Bildung,  Entwicke- 
lung  des  Mensohen  das  Leben  viel,  die  Kunst  wenig  thut;  zweitens,  dass 
alle  grossen,  allgemeinen,  durchgreifenden  Wirkungen  weit  weniger  von' der 
IntelUgenz ,  als  von  der  sittlichen  Kraft  des  Menschen  erwartet  werden 
müssen.  So  belehrt  (wenn  er  anders  solcher  Belehrung  fähig  ist),  wird  er 
seine  Aufgabe  in  einem  andern  Lichte  sehen,  als  die  Literatur  der  „Anlei- 
tungen zum  deutschen  Stil"  sie  ihm  erscheinen  liess;  er  wird  grösser  von 
ihr  und  immer  grösser  denken,  je  mehr  er  sich  in  ihre  Bedeutung  vertieft, 
so  gross  zuletzt,  dass  er,  wie  stets  der  Mensch  sein  Thun,  wenn  er  sich 
recht  auf  dasselbe  besinnt,  nur  mit  religiösem  Gefühl  sie  anzublicken  wagt. 
Denn  wenn  Erd'  und  Himmel  zusammenwirken  müssen,  um  des  Menschen 
Seele  zu  bilden,  und  diese  nur  aussprechen  kann,  wovon  ihr  zu  zeugen  ge- 
geben ward  in  ihrem  innersten  eigensten  Leben,  so  ist  der  erste  und  vor- 
nehmste Lehrmeister  des  Stils  Er,  der  Himmel  und  Erde  geschaffen  und  der 
das  Leben  der  Menschen  lenkt  und  ihre  Herzen  anrührt  durch  allerlei 
Wandel  und  Schickung,  und  so  ihre  Zungen  löset.  Gleich  diesem  Meister 
in  seinen  Lectionen  in  die  Tiefen  der  Menschenseele  hinabgreifen,  an  den 
Quell  der  Gedanken  und  Gefühle,  mit  wohlthätiger  Erschütterung,  mit  frei- 
machendem Zauberstabe,  dass  es  lebendig  zu  sprudeln  beginnt,  und  stark, 
und  lauter,  und  lieblich,  in  Wort  und  Rede,  dem  Spiegel  des  Innern  —  das 
dünkt  uns  die  rechte  Weise  dieses  Unterrichts,  der  seiner  wahren  Natur 
nach  nur  bestehen  kann  in  einer  grossen  und  dauernden  Einwirkung  auf  den 
inneren  Menschen,  die  das  Ganze  seines  Denkens,  Fühlens,  Wollens  erfasst. 
Woher  diese  kommen,  wonn  sie  bestehen  müsse,  ist  bei  der  Verschiedenheit 
der  Naturen  und  Prädispositionen  uimioglich  im  Voraus  zu  bestimmen ;  noch 
unmöglicher  in  den  meisten  Fällen,  solche  Einwirkungen  nach  vorbedachtem 
Plane  herbeizuführen.  Es  ist  meistens  ein  bedeutendes  Ereigniss  seines 
Lebens,  das  den  Jüngling,  oft  plötzlich,  zum  Manne  vollendet,  über  seinen 
Beruf  und  sein  Talent  entscheidet :  ein  grosses  Beispiel,  eine  ungewöhnliche 
Lage,  ein  hohes  Interesse,  eine  leidenschaftliche  Neigung  regt  alle  seine 
Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXIII.  28 


430  Programmenschau. 

Kräfte  auf,  richtet  sie  auf  Einen  Punkt,  gibt  seiner  Einbildungskraft  Leben, 
seiner  Empfindung  Tiefe,  seinen  Gedanken  Klarheit  und  Ordnung.  Nun  ist 
mit  allen  Gaben,  die  in  der  Knos}  e  ruhten  und  die  nun  auf  einmal  in  voller 
Bliithe  stehen,  auch  der  Stil  da.  Natürlich !  Der  Mensch  hat  sich  selbst 
gefunden  und  so  auch  die  Sprache,  die  ihm  gemäss  ist.  Nicht  dem  Unter- 
richt des  Professors  Geliert,  der  in  seinem  Prakticum  die  Aufsätze  Goethe's, 
des  Leipziger  Studenten,  gleich  vielen  anderen,  mit  gewohnter  Freundlich- 
keit und  Sorgfalt  corrigirte,  dankt  dieser  den  Reiz  und  die  Vollendung  einer 
Darstellung,  die  bald  die  Zeitgenossen  und  nach  ihnen  noch  Manchen  ent- 
zücken sollte.  Als  aber  für  ihn,  der  inzwischen  „viel  mit  Menschen  gelebt 
und  ihren  Sinn  erkannt,  viel  auch  gelitten  in  seinem  Gemüthe,"  der  Augen- 
blick der  Erfüllung  gekommen  war,  als  mit  den  Ereignissen,  die  den  „Werther" 
in's  Leben  riefen,  die  entscheidende  Stunde  geschlagen  hatte,  da  stand 
plötzlich,  wie  durch  ein  Wunder,  die  Blume  der  Schönheit  entfaltet  da.  Und 
so  schlägt  für  den  Einen  in  diesem,  für  den  Andern  in  jenem  Anlass  die 
Stunde,  da  der  Gott  in  seinem  Busen  zu  reden  beginnt  —  ohne  Hülfe  und 
Zuthun  des  Stillehrers,  der  nur  dann  für  seinen  Zögling  von  einiger  Bedeu- 
tung werden  mag,  wenn  er  ausser  im  Stil  auch  sonst  noch  in  einigen  Dingen, 
die  zum  Leben  gehören,  obgleich  sie  nicht  alle  Tage  dahin  gerechnet  werden, 
ihm  vomngehen  kann:  wenn  er  durch  reinen  Sinn  und  Reichthum  des  Innern 
Lebens,  eine  mannigfaltige  Kenntniss,  durch  Verständniss  für  das  Grosse  in 
Wissenschaft  und  Kunst,  wie  im  Leben  und  in  den  Geschichten  der  Menschen, 
vor  Allem  durch  sittliche  Eigenschaften  auf  ihn  wirken  kann.  Einem  solchen 
ireilich  mag  es  gelingen,  durch  Anregung  dessen,  was  in  der  Seele  des  Zög- 
lings schlummert,  auch  ohne  dass  „Aufsätze"  gemacht  und  corrigirt  werden, 
und  selbst  lange  vor  der  Zeit,  ihm  diejenige  Richtung  und  die  Impulse  zu 
geben,  die  einst  allen  seinen  Worten  und  Werken  zu  Gute  kommen  werden: 
er  mag,  wenn  er  das,  was  die  Bestimmung  des  Menschen  und  seine  Befähi- 
gung vollendet  —  die  Gelegenheit,  für  seinen  Schüler  auch  nicht  machen 
kann,  ihn  wenigstens  würdig  auf  ihren  Eintritt  vorbereiten.  Das  ist  Alles, 
was  er  vermag  (es  ist  aber  nicht  so  ganz  wenig  und  unendlich  mehr,  als  die 
herkömmlichen  „Stilübungen"  auch  nur  ahnen  lassen):  ein  vorbereitender 
Unterricht  der  allgemeinsten  Art,  der  darin  besteht,  den  Sinn  für  das  Höhere 
im  Menschen  zu  wecken. 

Soll  ich  nun  aber  noch  bestimmter  als  bisher  mich  aussprechen,  was 
ich  zu  solchem  vorbereitenden  Unterricht  rechne,  oder  welche  Einwirkungen 
der  angedeuteten  Art  mir  vor  anderen  im  directen  Zusammenhange  mit 
der  Gabe  des  Wortes  zu  stehen  scheinen,  so  hat  das  Bewusstsein  der  Zeiten 
längst  darüber  entschieden,  dass  die  Furcht  Gottes  der  Anfang  aller 
Weisheit  ist.  Es  kann  auch  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  Nichts  eine 
grössere  Gewalt  der  Rede  gibt  als  die  Macht  des  Glaubens,  der  sittlich-reli- 
giösen Ueberzeugung;  nicht  bloss  in  Fällen,  meine  ich,  wo  es  sich  um  die 
Religion  und  deren  Interessen  handelt,  wo  Luther  und  Andere  grosses  Bei- 
spiel gaben,  sondern  ganz  allgemein,  in  geistlichen  und  weltlichen,  bürger- 
lichen und  bäuerlichen,  häuslichen  und  öffentlichen,  grossen  und  kleinen 
Dingen:  überall  wo  es  gilt,  das  unmittelbare  Verhältniss  des  Menschen  zur 
Wahrheit,  seinen  ungelösten  Zusammenhang  mit  ihr  und  seinen  unreflectirten 
Antheil  an  ihr  auszusprechen.  Die  Wahrhaftigkeit  und  die  Unbefangenheit, 
die  Stetigkeit  und  die  Treue,  die  Kraft  und  die  Milde,  die  Furchtlosigkeit 
und  die  Bescheidenheit,  und  alle  die  höheren  Tugenden  der  Rede,  die  ihr 
bei  Freund  und  Feind  den  Charakter  der  Zuverlässigkeit  geben  und  Achtung 
verschaffen,  können  nur  aus  einem  Gemüthe  kommen,  das  fest  auf  sich  selbst 
gestellt  ist,  wie  dasjenige,  worin  der  Glaube  den  Zweifel,  die  Liebe  die  Selbst- 
sucht, das  Ewige  das  Zeitliche  besiegt  hat.  Was  wohlgefällig  ist  vor  Gott 
im  Herzen,  ist  auch,  wie  es  über  die  Lippen  kommt,  gerechtfertigt  vor  den 
Menschen;  und  wer  sich  mit  dem  Herrn  zu  besprechen  gewohnt  ist,  ver- 
stummt nicht  vor  den  Knechten.     Die  Kraft,    die  im  Innern  haushält,    mit 


Programmenschau.  431 

festem  Mass  die  flutliOiiden  Begierdon  lenkt  und  die  scluvcifenden  Gedanken 
ziigelt,  die  im  Handeln  gewiss  macht  und  ilio  Schritte  iler  Lebensbahn  ordnet, 
schreibt  auch  der  Kede  ihr  Gesetz  und  zeichnet  ihr  die  Bahn  vor,  auf  der 
sie  sicher  und  ohne  Unischweif •  zum  Ziel  dringt.  Es  ist  auch  tauseudfidtig 
erprobt,  dass  vor  dem  Wort  des  schlichten  Burgers  und  Landmannes,  des 
einfachen  Mannes,  der  keine  Studien  gemacht  als  an  seinem  eigenen  Herzen, 
und  keinen  Unterricht  gehabt  als  der  ihn  lehrte  sein  Heil  bedenken,  dass 
vor  seinem  klaren  Verstand,  graden  Sinn,  einfaltigen  Wort  alle  Kunst  der 
studirten  Rede,  alles  Schellengeläute  der  Wortmacher  und  Declamatoren,  alles 
Spinnengewebe  der  subtilsten  Argumentation  zu  Spott  ward.  —  In  allen  Lite- 
raturen zählen  einzelne  erhabene  Inspirationen  des  religiösen  Geistes  zu  den 
grossartigsten  Schöpfungen  des  Menschengeistes  ;  doch  nicht  an  diese  allein  hat 
man  zu  denken,  wenn  man  sich  von  dem  Kinlluss  Rechenschaft  geben  will, 
den  die  still  sohafl'ende  religiöse  Idee  von  jeher  auf  die  literarische  Produc- 
tion  gehabt  hat.  Wie  alle  (jultur  mit  der  Religion  beginnt,  wie  alles  tiefere 
Geistesleben  von  ihr  durchdrungen  und  getragen  wird,  so  gibt  es  au<'li  keine 
Literatur  von  einiger  Bedeutung,  die  nicht  überall  und  vorzugsweise  in  ihren 
würdigsten  Repräsentanten  den  Fulsschlag  des  religiösen  Lebens  der  Völker 
und  Individuen  erkennen  Hesse :  nur  nicht  überall  so  auf  der  Oberllache, 
wie  es  für  Manche  nöthig  wiire,  die  sonst  Nichts  davon  entdecken  kunnen, 
sondern  meistens,  wie  sich  gebührt,  in  der  Tiefe,  und  hier  unter  gro.-ser 
Verschiedenheit  der  Formen  und  des  Ausdrucks:  anders  natürlich  in  einer 
gi-ieehischen  Tragödie  als  im  mittelalterlichen  Minnelied,  anders  bei  einem 
Geiste  wie  Shakspeare  als  im  Sagen-  und  Mährchenschatz  des  deutschen 
Volkes  —  nirgends  aber  vielleicht  in  vollerer  Strömung,  als  hier  auf  dem 
zuletzt  bezeichneten  Gebiete.  Doch  dies  nur  nebenbei!  nicht  die  Literatur 
und  ihre  Interessen  beschäftigen  uns  hier,  nicht  aus  dem  Standpunkt  der 
literarischen  Production  betrachten  wir  die  Frage  des  Stils,  eingedenk 
der  Warnung  v.  Raumer's,  dass  wir  (auf  unsern  Schulen)  nicht  Schrift- 
steller, auch  nicht  künftige  Scliriftsteller  zu  bilden  haben,  sondern  ganz  all- 
gemein, aus  dem  Gesichtspunkte  des  Hausgebrauchs,  wenn  man  will,  des 
alltäglichen  Lebens,  im  Interesse  der  nächsten  Zwecke,  für  welche  die 
Sprache  da  ist,  der  Mittheilung  und  des  Gedankenausdruckes  im  weitesten 
Smne.  Und  wenn  hier  die  Frage  ist:  A\'ie  es  zu  machen,  wenn  der  Mund 
zum  Reden  sich  öflhet,  dass  "Wohllaut  aus  ihm  hervorgehe?  so  ist  die  Ant- 
wort: Nicht  anders  als  so,  dass  er  den  Ton  der  Seele  wiedergebe  und  dass 
dieser  Ton  wohl  laute.  Wenn  Misston  in  der  Seele  ist,"  muss  auch  die  Rede 
des  Mundes  misstönend  und  widerwärtig  sein;  und  wiederum,  je  höher,  je 
reiner  die  Seele  besaitet  ist,  desto  reiner,  heller  muss  auch  die  Rede  des 
Mundes  tönen.  Nun  hat  die  Menschenseele  keinen  höheren  und  keinen 
volleren  Ton,  als  den  zum  Preise  ihres  Schöpfers,  und  wer  den  entbehrt  in 
seiner  Seele,  dess  Mund  mag  reden  was  und  wie  er  will:  es  sind  nur  arme 
Worte,  hohle  Klänge,  die  nirgends  haften,  weder  im  Ohr,  das  sie  mit  leerem 
Schall  erfüllen,  noch  im  Herzen,  das  sich  ihnen  nicht  öffnet. 

Das  wäre  also  die  erste  Quelle  der  Wohlredenheit,  zu  welcher  der 
Lehrer  des  Stils  heranzuführen,  aus  welcher  der  Schüler  des  Stils  mit  vollen 
Zügen  zu  trinken  nicht  versäumen  soll;  und  die  zweite  fliesst  nicht  weit 
davon:  von  der  Anbetung  des  Schöpfer  ist  zu  der  Liebe  seiner  Creatur, 
zur  Freude  an  allen  erschaflenen  Dingen  der  Schritt  natürlich. 

Der  Lehrer  des  Stils,  der  nicht  Staare  abzurichten ,  noch  durch  ange- 
zogene Drähte  Puppen  sprechen  zu  lassen  hat,  sondern  sich  an  ein  beseel- 
tes Innere  gewiesen  sieht,  darin  die  Welt  der  Erscheinungen  sich  spiegelt, 
und  daraus  sie  mit  Klang  der  Rede  hervortönt,  kar.n  wenig  thun  als  diesem 
Spiegel  die  rechte  Richtung  geben :  die  Richtung  auf  das  Lebendige,  Wirk- 
liche, auf  Gestalt  und  Kraft,  dass  nicht  Schatten  bloss  und  Nebelbilder,  son- 
dern eine  gestaltenreiche,  lebendige  MClt  in  Kraft  imd  Handlung,  in  Glanz 
und  Schönheit  den  Spiegel  fülle.    Denn  darauf  kommt  es  an,  wie  der  Mensch 

28* 


432  Programmenschau. 

im  Anschauen,  Empfinden,  Denken  zu  den  Dingen  dieser  Welt  sich  stellt; 
"was  und  wie  viel  er  davon  in  seine  Kreise  zieht;  mit  welchem  Antheil, 
welchem  Interesse,  welcher  Freude  er  dies  thut:  ob  ihn  das  Grosse  reizt, 
das  Schöne  fesselt,  das  Bedeutende,  das  Ungemeine  in  frohes  Staunen  setzt, 
und  ob  er  Grosses  auch  im  Kleinen,  Sinn  und  Bedeutung  auch  in  alltäglicher 
Erscheinung,  das  ewig  Dauernde  im  zeitlichen  Fluss  und  Wechsel  zu  sehen 
vermag  —  oder  ob  Alles  ohne  Unterschied,  im  Leben  wie  in  den  Büchern, 
in  der  Gegenwart  wie  in  der  Vergangenheit,  in  den  Zuständen  der  Menschen 
wie  in  den  Werken  der  Natur,  vor  seinem  blöden  Aug',  seinem  stumpfen 
Sinn'  in  gleicher  Nichtigkeit  und  Gemeinheit  verschwimmt.  Das  sollte  die 
Höhe  aller  Bildung  bezeichnen,  dass  der  Mensch  sich  im  Mittelpunkt  aller 
Dinge  fülilt,  dass  er  würdig  und  mit  Selbstachtung  von  sich,  von  seinem 
Geschlecht,  von  dessen  Geschichte  denkt,  dass  darum  kein  menschliches  Ver- 
hältniss  ihm  gleichgültig,  keine  Form  und  Erscheinung  des  Daseins  ihm  be- 
deutungslos geblieben  wäre.  So  haben  alle  grossen  Völker,  welche  Spuren 
ihres  Daseins  zurückgelassen,  gedacht  und  darnach  geredet  und  gehandelt: 
so  haben  sie  Alles,  was  menschlichen  Sinnen  und  menschlicher  Forschung 
erreichbar  war ,  in  den  Kreis  ihrer  Betrachtung  gezogen ,  mit  diesem  AVohl- 
gefallen,  diesem  hohen  Ergetzen  haben  sie  von  sich  und  ihren  Werken  und 
Schicksalen,  von  Allem,  was  mit  ihnen  in  Berührung  kam,  gesprochen,  und 
haben  das  Gemeine  geadelt,  das  Formlose  gestaltet,  das  Todte  beseelt,  das 
Flüchtige  gefesselt,  und  so  den  Augenblick  zur  Unendlichkeit  erweitert  und 
ihrem  kurzen  Dasein  eine  unvergängliche  Dauer  abgewonnen.  Und  eben 
das  hat  alle  grossen  Schriftsteller  gross  gemacht,  dass  sie  ein  hohes  Inter- 
esse der  Welt,  die  sie  umgab,  entgegenbrachten,  dass  sie  mit  verlangenden 
Blicken  auf  Himmel  und  Erde  hinausschauten  und  die  Fülle  des  Lebens,  das 
alles  Sein  durchdringt,  in  ihre  Seele  sogen.  Da  sanken  vor  ihnen  die  Schran- 
ken der  einzelnen  E.xistenzen,  zum  Gefühl  des  Alls,  der  Gemeinschaft  aller 
Dinge  erweiterte  sich  in  ihrer  Brust  die  persönliche  Empfindung,  und,  weil 
ihre  Seele  sich  allen  Dingen  vermählte,  waren  ihnen  alle  Dinge  traut  und 
geheim;  weil  zu  ihnen  alle  Dinge  sprachen;  und  ihr  Ohr  der  Sprache  jedes 
Dinges  erschlossen  war,  konnten  sie  wiederum  von  allen  Dingen  sprechen; 
und  weil  sie  allen  Dingen  in's  Herz  schauten,  konnten  sie  zu  uns  aus  dem 
Herzen  aller  Dinge  reden ,  und  so  die  Mittler  werden  zwischen  ihrem  Ge- 
schlecht und  den  erschaffenen  Dingen  allen,  in  deren  Heiligthum  sie  als  Prie- 
ster ein-  und  ausgingen,  und  den  Draussenstehenden  verkünden  und  bezeu- 
gen die  Herrlichkeit  Gottes  in  seiner  Creatur. 

Aller  höhere  Stil  fliesst  aus  solcher  energischen  Betheiligung  des  Men- 
schen an  den  ihn  umgebenden  Dingen.  Darum  muss  der  Lehrer  des  Stils 
sich  fragen,  ob  er  zur  Hervorbringung  eines  solchen  Verhältnisses  zwischen 
dem  menschlichen  Innern  und  der  Ausscnwelt,  oder  zur  Kräftigung  und  He- 
bung desselben,  die  natürliche  Begabung  vorausgesetzt,  etwas  thun  könne, 
und  er  wird  bald  erkennen,  dass  hier  jeglicher  Ai't  von  B'ildungseinflüssen, 
vornehmlich  sittlichen,  aber  auch  intellectuellen,  ein  weiter  Spielraum  geöff"- 
net  ist.  Zuerst  ist  zu  erinnern,  dass  aller  Antheil  an  den  Dingen  die 
Kenntniss  derselben,  sei  es  durch  Anschauung,  Vorstellung  oder  auf  welchem 
Wege  sie  vermittelt  sein  mag,  voraussetzt,  dass  daher  Umfang  und  Man- 
nigfaltigkeit der  erworbenen  Erkenntniss  für  den  Grad  der  Betheiligung 
an  den  Dingen  nicht  gleichgültig  sind.  Denn  wie  gross  auch  die  natürliche 
Begabung  sein  möge,  mit  ihr  ist  das  Object  der  Empfindung,  Anschauung, 
des  Denkens  noch  nicht  gegeben,  vielmehr  wird  dieses  den  Seelenthätigkei- 
ten  erst  von  aussen,  durch  unmittelbare  oder  mittelbare  Berührung  mit  den 
Dmgen,  zugeführt,  und  je  vielfältiger  auf  solchem  Wege  sich  jene  angeregt 
finden,  je  reicher  das  Material  ist,  das  dadurch  der  Anschauung,  der  Erkennt- 
niss geboten  wird,  desto  mehr  schärft  sich  das  Gefühl  des  Zusammen- 
gehörens  des  Menschen  mit  den  Dingen,  desto  inniger  und  fester  wird 
sein  Verhältniss  zu  denselben.      Es  wächst  mit  jeder  Erkenntniss   des  Meu- 


Proirramnienschau.  433 

sehen  Antheil  an  der  Welt,  und  wer  viel  pesehen,  gehört,  gelernt  und  er- 
fahren von  mensehlichen  und  natiirliehen  Dingen,  wer,  wohin  er  blickt,  die 
Zeiten  und  die  Räume  sich  mit  bekannten  (Gestalten  füllen  sieht,  der  steht 
Welt  und  Menschen  mit  ganz  anderem  Interesse  gegenüber ,  als  der  leere 
Kopf,  der  mit  leeren,  nirgends  haftenden  Blicken  auf  Himmel  und  Erde 
schaut,  für  den  der  Mund  der  (ieschichte  schweigt,  und  der  nichts  ahnt  von 
dem,  was  der  Ertindungsgeist  der  Menschen,  was  Kunst  und  Wissenschaft 
seit  Jahrtausenden  Grosses  und  Schönes  zu  Stande  gebracht  haben.  Vor 
Allem  sind  es  Kunst  und  Wissenschaft,  welche  dem  Geist  die  reichste  Fülle 
von  Anschauungen,  Begriffen,  Combinationen  aller  Art  erschliessen,  die  Be- 
trachtung durch  immer  neue  Gesithtspunkte  reizen,  den  Blick  nach  oben  und 
unten,  nach  aussen  und  innen,  in  Nidie  und  Ferne,  auf  Gegenwart  und  Ver- 
gangenheit richten,  und  so.  imlem  sie  Zeiten  und  Völker  verbinden,  das 
höchste  und  mannigfaltigste  Interesse  an  dem  Menschen  und  seinen  Werken, 
an  aller  Creatur,  an  der  gesanmiten  AN'irkliclikeit  unterhalten.  Aber  auch 
unter  denen,  die  nicht  Männer  der  Wissenschaft  im  strengsten  Verstände 
sind,  deren  Leben  aber  oft  nicht  weniger  voll ,  und  deren  Antheil  an  allem 
Guten  und  Löblichen  oft  nicht  minder  gross  ist,  war  eine  rege  Wissbegierde,  ein 
rastloser  Trieb  des  Forschens,  Bcobachtens.  Erkennens,  stets  charakteristisch 
für  alle,  die  durch  ihr  AVort  oder  ihre  That  der  Älenschheit  angehören. 
Natürlich !  denn  geistige  Rührigkeit ,  in  welcher  Sphäre  des  Lebens  und 
AVirkens  sie  sich  bewegen  mag,  verträgt  sich  nicht  mit  schläfrigem  Beharren 
im  Kreis  der  immer  gleichen  Tage,  sie  schallt  sich  fort  und  fort  in  neuen 
Anschauungen  neue  Impulse  und  unterhält  und  mehrt  auf  diese  A\'eise  durch 
Zuflüsse  von  allen  Seiten  den  Reichthum  des  Innern  Lebens,  aus  dem  der 
Strom  der  Rede  seinen  Ursprung  nimmt,  der,  wenn  viele  Quellen  und  Bäche 
der  Erkenntniss  sich  in  ihn  ergiessen .  auch  mächtig  und  ohne  Hemmung 
daher  fliesst,  der  aber  in  gedankenarmer  Steppe  des  Innern  versiegt  und 
versandet.  • 

Das  Zweite,  worauf  es  ankommt,  ist  die  Ordnung,  der  Zusammenhang, 
worin  die  erkannten  Dinge  vor  dem  erkennenden  Geiste  stehen,  und  aus 
tausendfachem  Einzelnen  sich  ein  Ganzes  rundet.  Um  zu  erfahren,  „wie 
schön  sich  die  weltlichen  Dinge  zu  einander  verhalten."  nniss  ich  eben  in 
ihnen  ein  Ganzes  sehen  können :  nur  <la  kann  ich  mich  wahrhaft  des  P^in- 
zelnen  freuen,  wo  es  den  Gedanken  des  Ganzen  in  mir  erregt.  Dies  mahnt 
mich,  nicht  mehr  in  meine  Kreise  zu  ziehen,  als  ich  übersehen  und  bewälti- 
gen kann.  Nur  so  viel  will  ich  mein  nennen,  als  sich  harmonisch  zum  Gan- 
zen meiner  Anschauungen  fügt:  das  schlechthin  Ungleichartige,  Disparate, 
das  mir  keinerlei  Anknüpfung  an  mein  übriges  Denken  und  Vorstellen  ge- 
stattet, will  ich  lieber  entbehren,  als  mich  auf  Kosten  der  innern  Einheit 
daran  bereichern.  Es  gibt  ein  unvortheilhaftes  Haschen  nach  Kenntnissen 
auf  allen  Gebieten  menschlichen  AVissens,  das  ohne  Einsicht  lässt,  weil  es 
nur  die  Gegenstände  vor  dem  Auge  häuft,  ohne  den  Standpunkt  zu  erhöhen 
und  dadurch  den  Gesichtskreis  zu  erweitern.  Der  Mensch  ist  das  Maass 
aller  Dinge,  sagt  der  Grieche.  Dies  ist  er  in  höherem  Sinne  nur  durch  die 
Einheit  seines  Denkens  und  Vorstellens:  denn  alles  Mass  ist  angenonunene 
Einheit.  Wo  dem  Geiste  in  seiner  Bildung  diese  Feinheit,  und  mit  ihr  das 
Mass  der  Dinge  verloren  geht,  da  gehört  er  nicht  länger  sich  selber  an,  an 
^ie  Stelle  der  lichten  festen  Ordnung  der  Dinge  tritt  das  alte  Chaos.  Das 
wussten  eben  jene  Griechen  so  put,  deren  ganze  Bildung  sich  in  engeren 
Grenzen  hielt,  um  innerhalb  derselben  sich  harmonisch  zu  vollenden.  Und 
darin  sind  sie  musterhaft:  denn  e.--  ist  unstreitig  besser,  in  einem  kleinen 
Staate  vollkommen  Herr  sein,  als  einen  grossen  ohne  Macht  regieren;  und 
wenn  unsre  moderne  Bildung  in  ihrer  universalen  Richtung  nur  zu  oü  einem 
grossen,  aber  anarchischen  Staate  gleicht,  wo  Alles  auseinander  fällt,  weil 
die  Bestandtheile  und  also  die  Interes«en  zu  verschiedenartig,  das  Band  aber, 
das  alle  umschlingen  und  einigen  sollte,   zu   schwach  ist,   so   weist   uns   dies 


434  Programmenschau. 

auf  den  Weg  der  Selbstbeschränkung,  des  Masses  in  unsern  Ansprüchen  an 
die  zu  erstrebende  allgemeine  Bildung,  dnss  nicht  über  ihrer  zu  grossen 
Breite  die  Innerlichkeit  und  harmonische  Durchbildung,  über  der  Mannig- 
faltigkeit der  Richtungen  die  Einheit  und  mit  ihr  die  Starke  des  geistigen 
Vermögens  verloren  gehe. 

An  und  für  sich  ft-eilich  sind  Reichthum,  Vielseitigkeit,  Beweglichkeit 
der  geistigen  Interessen,  wie  sich  von  selbst  versteht,  nicht  bloss  nicht  ver- 
werflich, sondern  selbst  nothwendige  Bedingungen  jedes  hohem  Geisteslebens, 
und  auch  lür  die  Entfaltung  und  Vollendung  des  sprachlichen  Vermögens, 
wie  bereits  oben  besprochen,  von  höchster  hedeutung;  aber  ihre  volle  und 
energische  Wirkung  m  dieser  wie  in  jeder  andern  Beziehung  knüpft  sich  an 
ihre  gegenseitige  Durchdringung  und  zusammenlaufende  Richtung  auf  ein  ge- 
meinsames Höheres,  worin  der  B(.'griff'  und  Lebensinhalt  der  gesummten  Bil- 
dung sich  einheitlich  zusammenfasst.  Nicht  ein  todtes  Aggregat  von  allerlei 
Kenntnissen  und  Fertigkeiten,  von  vielerlei  unvermittelten  und  unzusammen- 
hängenden Begriffen,  Wahrnehmungen  und  Beobachtungen,  sondern  ein  leben- 
diger geistiger  Organismus  ist  die  rechte  Bildung,  ein  Organismus,  der  von 
Einem  Lebensprinzip  in  allen  seinen  Theilen  und  Functionen  durchdrungen 
und  gestaltet,  eben  dadurch  als  Ganzes  lebemlig  und  wirksam  ist.  dass  das 
Einzelne  in  ihm  als  Einzelnes  aufhört,  in  das  Leben  des  Ganzen  als  aufge- 
hobenes INIoment  desselben  übergeht.  Und  wie  der  leibliche  Organismus 
nicht  bloss  die  Verschiedenheit  der  Stoffe  und  Functionen,  die  seinen  Lebens- 
process  unterhalten,  zur  Einheit  seines  Begriffs ,  der  sich  lebend  entwickelt, 
verbindet,  sondern  auch  jedem  einzelnen  seiner  Theile  den  Begi-iff' und  das 
Gepräge  des  Ganzen  aufdrückt,  so  dass  der  Kundige  aus  dem  einzelnen 
Glied  und  Gebilde  auf  Art  und  Gestaltung  dieses  Ganzen  schliessen  mag: 
grade  so  sehen  wir  auch  in  dem  Bildungsleben  aller  bevorzugteren  Völker 
und  Individuen,  aus  wie  verschiedenen  Elementen  dasselbe  sich  gestalten, 
und  wie  verschiedene  Einflüsse  von  aussen  es  in  sich  aufnehmen  mag,  nicht 
bloss  alle  diese  Verschiedenheiten  in  eine  organische  Einheit  und  Harmonie 
sich  auflösen,  sondern  auch  das  Prinzip,  die  Seele  dieser  Bildung  mit  solcher 
allgegenwärtigen  und  durchwirkenden  Kraft  auftreten,  dass  sich  bis  in's  Ein- 
zelnste Allem,  was  dieser  Bildung  angehört  und  was  von  ihr  ausgeht,  ihr 
Begriff"  und  ihr  Charakterbild  kenntlich  eindrückt.  Von  diesem  Gesetz  inne- 
rer Angleichung  und  Ausstrahlung  aus  einem  Mittelpunkte  ist  auch  die 
Sprache,  darin  eine  solche  mit  sich  selbst  einige  Bddung  sich  darstellt, 
ergriffen:   wie  mannigfaltig  auch,    nach  Verschiedenheit  der  behandelten  Ob- 

i'ecte,  oder  nach  Stimmung  und  Absicht  des  Subjects,  ihre  Töne  und  Weisen 
ilingen  mögen,  ist  sie  doch,  wie  die  Bildung,  deren  Ausdruck  sie  ist,  in 
ihrem  Grundton  immer  sich  selber  gleich,  und  der  Kundige  erkennt  auch 
hier  im  einzelnen  Wort,  in  der  einzelnen  Wendung  „geliebte,  still  redende 
Züge"  des  Urbildes.  Und  so  schreiten  Völker  und  Individuen  durch  Zeiten 
und  Geschlechter  hin,  in  hoher  Eigenthümlichkeit  und  selbsteigener  Schön- 
heit voll  ausgeprägte  Gestalten,  dieselben  noch  nach  Jahrtausenden,  die  sie 
im  Leben  waren,  und  so  in  Eins  gewachsen  mit  Allem,  was  ihnen  angehört, 
dass  es  der  Mit-  und  Nachwelt  leichter  scheint,  dem  Herkules  seine  Keule, 
als  ihrem  Gedanken  seinen  Ausdruck  zu  entreissen. 

Wir  fanden  also,  dass  ein  lebendiges,  reges,  fruchtbares  Verhältniss  des 
Menschen  zur  Welt  der  Erscheinungen,  ein  energisches  Interesse  an  mensch- 
lichen und  natürlichen  Dingen,  wie  es  für  den  höheren  Charakter  des  Stils 
in  jeder  Gattung  der  Rede  als  uuerlässliche  Bedingung  erscheint  —  so  weit 
dasselbe,  von  der  natürlichen  Begabung  abgesehen,  durch  Bildungseinflüsse 
vermittelt  werden  kann  —  eine  doppelte  Voraussetzung  hat:  einmal  eine 
breite  Grundlage  der  allgemeinen  Bildung,  eine  vielseitige  geistige  Berüh- 
rung mit  dem  Leben  in  jeder  seiner  Erscheinungsformen,  eine  reiche  und 
mannigfoltige  Erkenntniss,  ein  Leben  in  und  mit  menschlicher  Kunst  und 
Wissenschaft;    dann  einen  gleichzeitigen  Fortscliritt    von    der  Vielheit   der 


Programmens  chau.  435 

Bildungsfactoren  zur  Einheit  des  BiMungscharakters,  eine  gegenseitige  innere 
Durchdringung  und  Anjik-ichung  maniiiglaltiger  Momente  zur  Darstellung  eines 
einigen,  auf  sich  selber  ruhenden  organischen  Ganzen  der  sittlichen  und  in- 
tellectuellen  Bildung. 

Fassen  Avir  alles  Gesagte  in  ein  kurzes  AVort  zusammen,  so  ist  es  dies: 
Die  aligemeine  und  die  besondere  natürliche  Begabung,  nachstdem  Bildung, 
sittlich-religiöse  wie  intellectutUe,  und  unter  Umstünden  AiTect  und  Leiden- 
schaft machen  den  Stil.  Wie  die  Seele  des  Manschen ,  wie  seine  Art  zu 
denken,  zu  empfinden,  so  sein  Ausdruck,  seine  Sprache. 

Hiergegen  ist  alles  Andere ,  was  man  sonst  noch  als  bestimmend  und 
massgebend  für  den  Stil  bezeichnen  könnte,  von  untergeordneter  Bedeutung. 
So  ist  es  gewiss,  dass  der  Gegenstand  auf  die  Haltung  und  Färbung  der 
Darstellung  EinHuss  üben  umss :  mit  dem  objectiven  Unterschiede  der  Dinge 
ist  ihre  verschiedene  Behandlung  von  selbst  gegeben.  Aber  erstlich  ist  schon 
die  Wahl  des  Gegenstandes  für  die  Individualitiit  bezeichnend,  und  wo  die 
Wahl  verfehlt  oder  nicht  frei  ist,  wird  der  Erfolg  den  Fehler  oder  den  Zwang 
rächen:  die  vielen  misslungenen  Versuche  aller  Art,  wo  Afl'ectation  und  Un- 
natur den  Nothstand  des  Schreibenden  kund  thun,  zeugen  davon !  Non  onmia 
possumus  ouines.  Weil  die  Grenzen  der  individuellen  Natur  gezogen  sind, 
gibt  es  fiir  Jeden  ein  Gebiet  des  Unmöglichen,  von  dem  der  Verständige 
■weise  zurückbleibt,  das  der  Unverstand  zu  seinem  Schaden  betritt.  So  be- 
hauptet die  Individualitat  auch  hier  ihr  Recht.  Zweitens  aber  gehört  dieser 
Grundsatz,  der  Gegenstand  mache  den  Stil,  in  seiner  Allgemeinheit,  zu  den 
allerbedenklichsten  der  literarischen  Production.  Allerdings  beschränkt  die 
Natur  des  Gegenstandes  den  Schreibenden ;  aber  wie  eng  oder  weit  diese 
Schranken  sind,  das  muss  dieser  selbst  sich  sagen,  das  muss  seine 
Auffassung  des  Gegenstandes  ihm  sagen.  Ein  grosser  Spielraum 
bleibt  auch  hier  der  Individualität  zu  freiem  Schauen  und  Gestalten.  Der- 
selbe Gegenstand,  dasselbe  Thema  kann  sehr  verscln'eden  aufgefasst,  und 
also  auch  dargestellt  werden,  und  jede  dieser  Auflassungen  und  Darstellun- 
gen kann  berechtigt  sein:  die  \\'ahrheit  wie  die  Schönheit  erschienen  von  je- 
her in  einer  grossen  Mannigfaltigkeit  von  Formen,  und  erscheinen  stets  in  neuen. 
Nur  eigensinnige  Kritiker,  rigoristische  Dictatoren  des  Geschmacks,  wie  de- 
ren die  Geschichte  jeder  Literatur  aufzuweisen  hat,  verschliussen  dagegen 
ihr  Auge,  vertreten  mit  selbstgeschaflenen  Regeln  und  Theorien,  die  sie  in 
der  Natur  der  Stoße  gefunden  haben  wollen,  den  Individualitäten  den  Weg 
und  machen  die  einmal  dagewesene  Form  zum  Gesetz  für  alle  künftige  Be- 
handlung. Aber  solche  Gest-tzgebuncen  waren  noch  stets  von  kurzer  Dauer: 
ein  Flügelschlag  des  Genies  verwehte  sie,  und  das  Feld  war  wieder  frei, 
und  Natur,  Neigung,  Einsicht,  innerer  Beruf  konnten  wieder  mit  dem  Gegen- 
stande machen  was  sie  wollten,  d.  h.  was  sie  nach  ihrer  Auffassung  durften. 
Denn  nicht  regellos  ist  ilir  Walten  mit  den  Stollen ,  vielmehr  bis  in's  Ein- 
zelnste durch  diese  bedingt,  aber  die  Auffassung  macht  sie  zu  dem, 
was  sie  sind,  und  die  Auflassung  ist  des  Menschen  —  und  so  ist  die  Be- 
handlung, der  Stil  abermals  der  I^lensch.  Duo  cum  faciunt  idem,  non 
est  idem. 

Und  dies  gilt,  wie  gelegentlich  schon  wiederholt  angedeutet  ward,  von  den 
Völkern  wie  von  den  Individuen.  Alles,  was  von  der  si)rachlichen  Darstellung 
und  deren  subjectiven  Bedingungen  aus  dem  Gesichtspunkte  des  Einzelnen  ge- 
sagt wonlen,  findet  im  Grossen  in  den  National-Literaturen  seine  Bestätigung. 
Auch  hier  ruht  alle  Elgenthümlichkeit  der  Sprache,  des  Ausdrucks  bis  in's  Ein- 
zelnste auf  angeVjorner  Art,  Charakter,  Bildung,  Geschichte  des  Volks.  Wie  die- 
ses von  Anfang  war,  wie  es  unter  wechsehiden  Einflüssen  sich  entwickelte,  ein 
anderes  ward  und  doch  dasselbe  blieb:  so  war  s(;ine  Rede,  seine  Schrift,  sein 
nationaler  Stil.  Blicken  wir  auf  uns  selber  hin!  War  nicht  unsre  deutsche 
Sprache  un.l  ihre  Literatur  in  den  anderthalb  Jahrtauj-endeu,  dass  Denk- 
mäler von  ihr  existiren,  zu  jeder  Zeit  in  Worten    und  Wendungen,    in  Stil 


436  Programmenschau. 

und  Redeweise  ein  treuer  vSpiefrel  und  Abdruck  unsrer  Nation,  der  Bildungs- 

Ehasen,  die  sie  durchlief,  der  Vor-  und  Hücksehritte  in  dieser  Bildung,  und 
ei  allem  Wechsel  der  Form  doch  wieder  in  ihrem  Grundcharakter  sich  selber 
gleich  von  Anfang  bis  heute,  „weil  von  sich  selbst  der  Mensch  nicht  scheiden 
kann?"  Und  was  diese  Sprache  jetzt  ist,  wodurch  ward  sie  es?  woher 
kamen  ihr  z.  B.  auch  die  Fortschritte,  die  sie  noch  seit  einem  Jahrhundert, 
seit  den  Tagen  Gottsched's  und  Geliert's,  gemacht  hat?  Man  höre  hierüber 
das  glänzende  Zeugniss  eines  competenten  ßeurtheilers,  Koberstein's , 
wenn  er  nach  einer  kurzen  Charakteristik  der  am  Sprachkörper  eingetre- 
tenen Veränderungen  und  der  Bereicherung  des  Wortvorraths  also  fort- 
f aljrt :  „Am  allerbemerkbarsten  jedoch  zeigt  die  neue  Sprache  ihre  Ueber- 
legenheit  über  die  zunächst  ältere  in  dem  Gebrauch,  den  sie  von  iliren  syn- 
taktischen Mitteln,  von  Idiotismen  und  von  derNüancirung  iler  Wortbedeutungen 
zu  machen  gelernt  hat.  Ungleich  freier  und  kühner,  geschmeidiger  und 
mannigfaltiger  in  ihren  Bewegungen  beim  Satz  -  und  Periodenbau  ,  hat  sie 
sich  mit  einer  Fülle  neuer  Wortstellungen  und  Wendungen  bereichert;  durch 
zahlreiche  bildliche  Ausdrücke  und  Idiotismen,  die  sie  entweder  aus  der  Rede- 
weise dts  Volks  in  sich  aufgenommen  oder  neu  geschaffen  hat  —  zunächst 
in  Nachahmung  fremder  Sprachen,  dann  immer  mehr  aus  dem  Geiste  des 
eigenen  Volkes,  —  hat  sie  sich  sinnlich  belebt,  innerlich  erwärmt  und  erfrischt, 
wieder  an  natürliche  Bewegung  gewöhnt  und  volksthümlich  gefärbt;  durch 
Erweiterung  der  Begriffssphäre  vieler  schon  vorhandenen  Wörter  und  durch 
eigens  gebildete  sich  umfangreich  und  geschickt  genug  gemacht,  zum  Vortrag 
der  feinsten  und  abstractesten  Gedanken  zu  dienen;  und  zuletzt  noch  durch 
ihre  sorgfältige,  charakteristische  und  feine  Ausbildung  in  den  verschiedenen 
Stilarten  auch  die  übrigen  Tugenden  sich  angeeignet,  um  ein  vortreffliches 
Darstellungsmittel  für  jede  Gattung  der  Poesie  und  der  Prosa  abzugeben."  — 
Und  nachdem  man  dies  gehört,  frage  man  sich:  wie  und  wodurch  ist  das 
Alles  gekommen  und  geworden  ?  Und  wenn  man  dann  noch  den  Muth  hat 
zu  antworten:  die  Stilübungen,  die  Gottsched  und  Geliert  vor  hundert 
Jahren  in  Gang  brachten,  und  die  man  seitdem  ununterbrochen  auf  unsern 
Schulen  und  Universitäten  bis  auf  diesen  Tag  in  steigender  Progression  fort- 
gesetzt hat,  haben  es  gethan!  wenn  man  den  Muth  hat  zu  leugnen,  dass 
tausend  zusammenwirkende  grosse,  allgemeine,  tief  in  den  Geist  und  das 
Leben  der  Nation  greifende  Ursachen,  Ursachen,  wie  deren  bei  uns  nie 
zuvor  so  viele  und  so  mächtige  zusammengewirkt  haben,  das  Reformations- 
zeitalter ausgenommen,  dass  Genie,  Talent,  Wissenschaft,  Erfahrung,  Schick- 
sale der  Nation  und  Weltereignisse  dies  Werk  vollbracht  haben,  dass  nur 
sie  es  vollbringen  konnten,  dass  diese  Frucht  an  einem  lebendigen  Baum 
mit  tiefen  und  weitverbreiteten  Wurzeln,  nicht  an  einem  todten,  in  den  Boden 
gesteckten  Reis  gewachsen  ist  und  wachsen  konnte  —  dann  haben  wir  frei- 
lich Vieles  umsonst  geredet.  Dann  kommen  wir  freilich  auf  unsre  „Stil- 
schulen" und  „Anleitungen,"  auf  lu^sre  Gottsched,  Adelung,  Pölitz, 
Falkmann  etc.  statt  auf  Luther,  Lessing,  Goethe,  Humboldt  etc. 
zurück.  Dann  braucht  es  auch  für  unsre  Knaben  und  Jünglinge,  um  sie  zu 
trefflichen  Scribenten,  zu  Rednern  und  Sprachkünstlern  zu  machen,  statt  all 
des  Andern,  was  sonst  mit  ihnen  vorgenommen  wird.  Nichts  weiter,  als  jener 
„Stilstunden"  mit  obligaten  Uebungen  ein  oder  zwei  Male  die  Woche,  von 
denen  oben  die  Rede  war,  und  die  dann  etwa  um  die  Zeit  ihrer  Confirmation 
ein  vorübergehendes  Bedürfniss  werden. 

„Aber  die  Form !  die  Form !  Ist  denn  im  Reden  und  Schreiben  nicht 
immer  ein  Doppeltes :  Inhalt  und  Form?  Gedanke  und  Ausdruck  ?  und  gibt 
es  nicht  Vorzüge  und  Mängel  der  Form  an  und  für  sich?  und  Regeln  und 
Vorschriften  und  Uebungen,  um  diese  vermeiden,  jene  erstreben  zu  lernen? 
Ist  nicht  zum  reinen,  gewandten,  schönen  Stil  die  Kenntniss  dieser  Form 
nothwendig  ?  ist  er  selber  nicht  eben  die  Fertigkeit,  sich  in  reinen  und  schönen 
sprachlichen  Formen  zu  bewegen  ?" 


Programmenscliau.  437 

„Der  falschen  Vorstcllungsart,"  sngt  K.  I'h.  Moritz,  „wo  man  das 
im  Ausdruck  sucht,  was  in  der  Sache  liegt,  kann  nicht  genug  ent- 
gegen gearbeitet  werden,  weil  der  Nachtheil  da^■on,  in  Ansehung  der  Ver- 
stimmung des  menschlichen  Denkens  und  Kuipfuidens  so  gross  ist  und  eine 
unzählige  Menge  misslungener  (icistcsjiroducte  nur  daher  iiiren  Ursprung 
haben.'*  l'nd:  „In  den  Lehrbüchern  über  den  iStil  scheint  die  Vorstellung 
zu  herrschen,  als  ob  eine  jede  Art  des  Stils  in  eines  «leden  Gewalt  wiire 
und  durch  Kegeln  füglich  erlernt  werden  kcinnte."  —  ^^'as  ist  die  Korm  ? 
ist  sie  etwas  selbständiges  V  bedingungsloses?  durch  sich  gegebenes  V  hat  sie 
eine  Existenz  für  sich?  eine  Gellung  und  Bedeutung  für  sich?  entstellt  sie 
für  sich?  nach  eigenem  Gesetz?  kann  sie  für  sich  angeeignet,  entlehnt, 
iibertragen  werden?  und  ist  sie,  falls  das  möglich,  nach  der  Uebertragung 
noch  dasselbe  was  sie  vorher  war?  Alle  diese  Fragen  müssen  wir  verneinen, 
sobald  nicht  von  der  Form  eines  todten,  mechanisch  zubereiteten  Stoffes, 
sondern  von  derjenigen  eines  lebendigen  Seins,  es  sei  ein  körperliches  oder 
ein  geistiges,  die  Rede  ist.  Das  Leben  kann  nur  in  bestinnnter,  indivi- 
dueller Form  ,  die  seine  natürliche  organische  Bildung,  seine  leibliche  Er- 
st heinunp:,  und  darum  selbst  lebendig,  nichteine  todte  Ilülle,  ein  angepasstes 
Kleid,  ein  zubereitetes  Gefäss  fiir  dasselbe  ist,  sich  darstellen,  und  die  von 
dieser  Form  eben  so  unzertrennlich,  wie  umgekehrt  die  P^onn  von  dem  Leben, 
das  in  ihr  und  durch  sie  erscheint.  Das  werden  wir  nunmehr  wohl  von 
aller  Naturbelrachtung  gelernt  haben,  und  die  dort  gefundenen  Gesetze  der 
Form  gelten  auch  für  das  geistige  Leben.  Auch  die.'cs  hat,  wo  es  erscheint, 
eine  bestimmte,  individuelle  Begrenzung  in  Raum  und  Zeit,  die  wir  seine 
Form  nennen.  Es  erscheint  unter  andern  auch  in  sprachlicher  Form,  und 
diese  sprachliche  Form  ist  eben  so  wenig  für  den  geistigen  Inhalt,  das  gei- 
stige Leben,  den  individuellen  Begriff,  der  darin  erscheint,  ein  Zufälliges, 
Aeusserliohes,  Bedingunfrsloses ,  als  z.  B.  die  Blattform  und  die  ganze  Bil- 
dung der  Pflanze  für  den  Begriff,  das  Leben,  das  sich  in  dieser  Form  und 
Bildung  individualisirt.  Kennen  wir  den  geistigen  Inhalt,  der  sich  in  sprach- 
licher Form  darlegt,  einen  Gedanken,  so  stehen  also  Gedanke  und  Form  in 
unlöslichem,  weil  lebendigem,  organischem  Zusammenhang:  jener  ist  nicht 
ohne  diese,  und  diese  ist  nur,  weil  jener  ist,  und  ist  sowie  jener,  ihr  Inhalt 
es  verlangt.  Beide  sind  als  ein  Ganzes  aus  demselben  Schöpfungsacte  des 
Geistes  hervorgegangen ,  imd  bezeugen  ihren  gemeinsamen  Ursprung  durch 
die  Harmonie  ihres  Daseins  und  ihres  Lebenslaufes.  Denn  indem  ihr 
Sein  mit  tausend  zarten  ^Vurzelfäden  an  dem  Liben,  aus  dem  es  entsprungen 
ist,  d.  h.  an  dem  Geiste  des  Individuums,  des  Volkes  haftet,  bringt  es  dessen 
Art  und  Eigenthümlichkeit,  dessen  Beharrliches  (seinen  Grundcharakter), 
aber  auch  dessen  flüssige  Natur  zur  Erscheinung  und  zeigt  alle  seine 
Metamorphosen.  So  entwickelt  sich  die  sprachliche  Form,  bildet  und 
verbildet  sich,  sinket  und  steigt  —  Alles  in  L'ebereinstinimung  mit 
dem  geistigen  Sein,  das  sie  trägt,  und  kann  darum  auch  wohl  als  ein  Ge- 
wordenes für  sich  aufgefasst ,  für  die  Betrachtung  isolirt,  als  ge- 
schichtliche Erscheinung  studirt,  aber  nicht  in  ihrem  Werden  beliebig 
übertragen,  durch  Unterricht  nicht  schlechthin  mitgetheilt  werden.  Denn 
auch  ihre  Nachbildung,  wo  sie  versucht  wird,  unterliegt  denselben 
Bedingungen  wie  ihre  erste  Entstehung:  auch  was  wir  von  Andern  ent- 
lehnen, muss  in  uns  wiedergeboren  werden,  soll  es  wirklich  als  unser 
Eigenthum  gelten,  und  diese  Wiedergeburt  kann  nur  vermöge  übereinstim- 
mender Anlage  und  Bildung  geschehen.  So  kann  ein  lein  gebildeter  Kömer 
griechische  Eleganz  und  griechischen  Formreichthum  bis  auf  einen  gewissen 
Grad  in  seiner  Sprache  nachbilden,  aber  erst  nachdem  seines  Volkes  Bildung, 
worin  <lie  seinige  wurzelt,  den  langen  Weg  von  der  altrömischen  Einfachheit 
und  Kusticität  bis  zur  Urbanität  des  augusteischen  Zeitalters  zurückgelegt, 
und  aul  diesem  Wege  tausendfältige  materielle  und  geistige  P^inflüsse  in  sich 
aufgenommen  und  verarbeitet  hat.    Und  eben  so  kann  er  selber  wieder,  dem 


438  Programmenschau. 

80  Grosses  gelang,  mit  seinen  Kunstschöpfungen  des  geläutertsten  Geschmacks, 
der  feinsten  Lebensltlugheit  nach  Jahrtausenden  ein  ernstes  nordisches  Volk, 
in  der  Periode  seiner  universellen  Bildung,  zur  Nachahmung  reizen,  die  doch 
selten  gelingt,  weil  die  Natur  die  geistigen  Elemente  selten  so  glücklich 
mischt,  die  öffentlichen  Zustände  und  die  persönlichen  Verhältnisse  selten 
ein  Talent  auf  einen  so  günstigen  Boden  stellen,  als  nöthig  ist,  wenn  ihm 
eine  Form  gelingen  soll  gleich  derjenigen,  worin  uns  jener  „Lieblingsdichter 
aller  gebildeten  Menschen"  noch  heute  entzückt. 

Dies  gilt  von  aller  auf  Nachahmung  der  Form  gerichteten  Bemühung. 
„AVas  hilft  alles  Ankünsteln  des  Fremden?  die  Kunst  kann  nicht  ohne 
Natur  bestehen,  und  der  Mensch  hat  seinen  menschlichen  Mitbrüdern  nichts 
Anderes  zu  geben  als  sich  selbst.  Wie  über  derLileichen  Bestrebungen,  die 
nur  auf  äusserliche  Uebertragung  der  Form  ausgehen,  schon  eine  frühere 
Zeit  urtheilte,  wo  besonders  Cicero  der  Gegenstand  solcher  kindischen 
Nachäffung  und  todten  Schulübung  war,  ersieht  man  aus  der  bei  v.  Raumer 
mitgetheilten  Stelle  des  Erasmus  im  Cicer  onianns  1.528.  „Es  ist  ein  thörichtes 
Beginnen"  —  sagt  jener  gelehrte  Theolog  und  Kenner  der  alten  Literatur, 
„der  erste  Philolog,  der  alle  Bildung  aus  den  Quellen  d(;s  Alterthums  schö- 
pfen hiess,"  „aber  auch  der  erste,  der  die  Beschäftigung  mit  Objecten  und 
Formen  des  Alterthums  nicht  als  Mittel  zum  Zweck  ansah"  —  „in  fremdem 
Sinne  schreiben  zu  wollen,  sich  abziunühen,  dass  Cicero's  Geist  den  Leser 
aus  unsern  Werken  anwehe.  Du  musst  alles  Mannigfaltige  verdauen ,  was 
Du  lesend  zu  Dir  genommen  und  es  durch  Nachdenken  vielmehr  in  die 
Adern  der  Seele  überführen,  als  in  das  Gedächtniss  oder  in  einen  Index,  so 
dass  der  Geist  mit  aller  Art  geistiger  Speise  genährt,  eine  Rede  aus  sich 
selbst  erzeuge,  welche  nicht  nach  diesen  und  jenen  Blumen,  Laube  und  Grä- 
sern schmeckt,  sondern  nach  dem  Wesen  und  der  Neigung  Deines  Ge- 
müthes ;  daher  der  Leser  in  Deiner  Schrift  nicht  etwa  zusammengeflickte 
Fragmente  Cicero's,  sondern  das  Abbild  eines  Geistes  erkenne,  welcher 
mit  Wissen  alier  Art  erfüllt  ist.  Die  Bienen  sammeln  den  Honigstoff  nicht 
von  einem  einzigen  Strauch,  sondern  mit  bewunderswürdiger  Emsigkeit  fliegen 
sie  auf  Blumen  und  Kräutern  aller  Art  herum;  auch  gewinnen  sie  nicht  fer- 
tigen Honig,  sondern  in  Mund  und  Eingeweiden  bilden  sie  ihn,  erzeugen 
ihn  dann  aus  sich,  und  man  ( rkennt  in  demselben  nicht  Geschmack  oder 
Geruch  einzelner  Blumen,  welche  sie  gekostet."  —  Hier  wird  in  vortrefflicher 
Weise,  einer  falschen  äusserlichen  Nachahmung  gegenüber,  auf  den  innern 
Zusammenhang  hingewiesen,  der  zwischen  der  Form  und  ihrem  gei-tigen  In- 
halt besteht.  Von  beiden  mit  einander  heisst  es,  dass  der  Geist,  mit  gei- 
stiger Speise  aller  Art  genährt,  die  Rede  aus  sich  selbst,  aus  seinem 
eigenen  Leben  erzeuge,  dessen  Art  und  Eigenschaft  sie  auf  diese  Weise 
in  treuem  Abbilde  zeige. 

Was  können  also  alle  einseitig  auf  Ausbildung  der  Form  gerichteten 
Bestrebungen  helfen?  Ist  ein  Fortschritt  in  der  Form  denn  nicht  an  einen 
vorausgehenden  Fortschritt  des  sie  erfüllenden,  vielmehr  sie  erschaffenden 
geistigen  Inhaltes,  d.  h.  an  eine  Steigerung,  Erweiterung,  Vergeistigung  des 
innern  Lei  ens  gebunden?  Und  wird  dieser  letztere  Fortschritt,  wo  er  ge- 
macht wird ,  nicht  von  selbst  und  aus  innerm  Bedürfniss  den  Fortschritt  in 
der  Form  zur  nothwendigen  Folge  haben?  Ist  es  nicht  überall  so,  dass  das 
höher  potenzirte  Leben  frühere  unvollkommnere  Formen  abwirft,  indem  es 
höhere,  freiere,  reichere  aus  sich  erzeugt?  Jene  können  eben  nicht  zurück- 
bleiben, weil  sie,  wie  die  Entwickelung  fortschreitet,  als  ein  Fremdes,  dem 
Innern  nicht  mehr  Adäquates  empfunden,  vom  neuen  Triebe  abgestossen 
werden.  So  auf  Seiten  des  körperlichen  Organismus,  und  eben  so  auf  Seiten 
des  geistigen.  Auch  hier  potenzh't  sich,  so  lange  der  Process  der  Ent- 
wickelung fortgeht,  aufsteigend  so  weit  die  angeborne  Art  und  Anlage  es 
zulässt,  mit  dem  inneren  Gehalt  des  Lebens  und  der  Bildung  auch  die  Form, 
worin  dieser  Gehalt   zur  Erscheinung   kommt,    und  was  mich    innerlich   be- 


Programmen  schau.  489 

reicliert,  den  Horizont  meiner  Anschauung  erweitert,  und  dadurch  mein  Ge- 
miitli  befruchtet,  was  mich  geistig  erregt  und  mich  wesentlich  fördert, 
(las  fiirdert  und  bildet  micli  auch  formell. 

Hieraus  erhellt,  d;iss  eine  hoher  entwitkelte  sprachliche  Form  nur  von 
höherer  allgemeiner  Entwiekelung,  dass  ein  ausgebildeter  Stil  nur  von  dem 
pereiften  (iciste  erwartet  werden  kann :  dass  man  an  frühere  Alters  -  und 
Bildungsstufen  hinsichtlich  der  Darstellung  nicht  Forderungen  stellen  darf, 
die  aus  innerem  Vermögen  erst  auf  einer  späteren  Stufe  befriedigt  werden 
k()nnen;  dass  die  Sprache,  den  Ausdruck,  den  Stil  zu  bilden,  das  Geschäft 
aller  Erziehung  und  alles  Unterrichtes,  nicht  bloss  desjenigen,  der  von  der 
Schule  au.<;geht,  sondern  auch  desjenigen  ist,  den  das  Leben  ertheilt :  und 
dass  wenig  oder  kein  Erfolg  von  einem  Verfahren  zu  erwarten  steht,  das 
diese  Seite  der  Bildung  isoliren,  sie  unmittelbar  durch  besondere  Ver- 
anstaltungen, Metboden,  Vorschriften  und  Uebungen  mitthoilen  zu  können 
vermeint. 

Was  aber  nicht  unmittelbar  mitgetheilt  werden  kann,  das  kann  dennoch 
zum  Gegenstand  des  Studiums,  der  Bcoba(;htung  gemacht,  und  so  kann 
aueli  der  Sinn  für  die  sprachliche  Form  durch  Anschauung,  Beur- 
thcilung,  Vergleichung  geweckt  und  geschärft,  es  kann  das  Bedürfniss 
einer  reinen  und  schönen  Form  der  Rede  durch  entsprechende  Veranstal- 
tungen innerlich  angeregt  und  bis  zum  Grade  absoluter  Forderung  gesteigert 
werden?  Und  eben  so  setzt  doch  auch  die  HersttUunp:  solcher  Form  die 
Kenntniss  der  Mittel,  durch  welche  sie  hergestellt  wird,  so  wie  des  tech- 
nischen VerJahrens  im  Gebrauch  dieser  Mittel  voraus?  Da  nun,  wo  von 
sprachlicher  Form  die  Rede  ist.  eben  die  Sprache  das  Mittel  der  Darstel- 
lung ist,  so  kann  die  Herstelhmg  einer  angemessenen  sprachlichen  Form 
■icht  ohne  Herrschaft  über  die  Sprache,  die  wieder  auf  einer  um- 
fassenden Kenntniss  ihres  materiellen  Reichthums,  auf  gründlicher  Erforschung 
ihrer  Gesetze  und  Ausdrucksmittel,  ihres  ganzen  geistigen  Organismus  beruht, 
gedacht  werden? 

."^lles  dieses  ist  wahr,  und  alles  dieses  wird  durch  den  gesammten 
Unterricht,  der  alle  geistigen  Kräfte  und  so  auch  das  sprachliche  Ver- 
mögen in  Anspruch  nimmt  und  aushihh-t,  geleistet  und  kann  nirht  ohne  ihn 
erreicht  werden;  speciell  aber  durch  da«;  Studium  der  Musterschriften  der 
Alten  und  Neueren,  das  ja  von  früh  auf  die  Jugend  unsrer  Schulen  in  ausneh- 
mendem Maasse  beschäftigt  und  als  die  feste,  durch  Nichts  zu  ersetzende  Basis 
aller  hohem  Geistesbildung  anerkannt  wird.  Hier  bietet  sich  zum  unausgesetzten 
Studium  der  Form  die  Gelegenheit  wie  nirgends  sonst;  hier  hat  der  Schüler  eine 
Sprache  vor  sich,  die  ihm  eine  unendliche  Mannigfaltigkeit  von  Ausdracks- 
formen  erschliesst,  deren  Studium  nicht  bloss,  was  das  VA'enigste  ist,  den 
eigenen  Besitz  des  Lernenden  an  Mitteln  des  Ausdrucks  materiell  bereichert, 
sondern  auch  formell  sein  Darstellungsvermögen  durch  Ausbildung  des  Sprach- 
sinns, durch  Uebung  der  Geisteskraft  erhöht;  hier  hat  er  Muster  alles  Stils 
und  jeder  Dar.«!tellungsform  unablässig  vor  Augen,  und  mag  sein  Ohr  und 
seinen  Innern  Sinn  an  alle  höheren  Vorzüjre  der  Rede,  als  Lebendi<ikeit, 
Geist,  Energie,  Präcision,  Klarheit.  Grazie,  \\'ohlklang,  und  seinen  Geist  an 
alle  auszeichnenden  Attribute  der  Composition,  als  Scharfe  der  Auflassung, 
Gründlichkeit,  Tiefe,  Reichthum  ,  Maass,  Uebereinstimmimg,  mit  steigender 
Empfänglichkeit  gewöhnen.     \\'as  könnte  ihm  diese  Schule  ersetzen? 

Und  damit  mögen  sich  immerhin  eigens  auf  den  Zweck  der  Stilbildung 
berechnete  Anleitungen  und  Uebungen  verbinden,  die,  wenn  sie  auch,  wie 
sich  aus  dem  Vorhergehenden  ergibt,  für  den  beabsichtigten  Zweck  keines- 
wegs schlechthin  nothwendig  sind,  ihn  vielmehr,  wenn  in  verkehrter,  rein 
äusserlieher  Weise  aufgefas.st,  nur  beeinträchtigen  können,  doch,  vom  ein- 
sichtigen Lehrer  mit  dem  einsichtigen  Schüler  vorgenonnnen,  denselben  an 
ihrem  Theile  mögen  *f  ordern  helfen.  Nur  auf  andere  Weise ,  als  man  sich 
die  Sache  gemeiniglich  denkt:    nämlich  nicht  direct,    und  so  als  ob   sie   die 


440  Programmenschau. 

beabsichtigte  Wirkung  unmittelbar  zur  Folge  hätten,  sondern  indirect, 
als  formales  Bilclungsmittel,  insofern  sie,  durch  ihre  Richtung  auf  Form  und 
Ausdruck,  überhaupt  den  Formsinn  bilden  helfen,  und  dadurch,  also 
mittelbar  und  in  zweiter  Linie,  dem  spcciellen  Zweck  der  Stilhildung  dienen. 
Sie  stehen  in  dieser  Weise  auf  gleichem  Boden  mit  andern  Uebungen,  die 
auf  andern  Gebieten,  namentlich  der  zeichnenden  und  bildenden  Kunst  und 
der  Musik,  die  Seele  für  die  Vorzüge  der  Form  empfänglich  machen,  so 
dass  sie  auch  mit  diesen  Uebungen  ihre  Kellen  wechseln,  und  stellvertretend 
diese  für  jene  und  jene  für  diese  eintreten  können.  Wie  nämlich  durch 
eingehende  Betrachtung  von  Zeichnungen,  Gemälden,  Bildwerken  etc.  das 
Auge  für  die  Auffassung  künstlerischer  Verbältnisse  geübt,  durch  Reflexion 
über  die  angewandten  Kuustmittel  und  das  Studium  ihrer  AVirkungen  das 
Kunsturtheil  geweckt  und  geschärft,  dadurch  aber  überhaupt  die  Seele  für 
Maass  und  Ordnung  und  Uebereinstimmung  und  reinen  Ausilruck  bereitet 
und  gestimmt  wird,  und  wie  dasselbe  Resultat  in  entsprechender  AVeise  in 
der  jNIusik  durch  Gewöhnung  des  Ohrs  an  gesetzmässige  Tonfolge,  an  Me- 
lodie und  Harmonie  erzielt  wird:  so  kann  und  wird  auch  eine  methodische 
Schule  des  Stils,  indem  sie  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Formen  der  Rede, 
die  Nuancen  des  Ausdrucks  und  ihre  Angemessenheit  fesselt,  dieselbe  all- 
gemein bildende  Wirkung  nicht  -verfehlen.  Es  ist  hier  wie  dort  das  Gesetz 
der  Form,  das  studirt  wird,  und  das,  einmal  in  die  Seele  übergegangen,  jede 
Thätigkeit  derselben  regeln,  und  so  auch  Allem,  was  dieser  Thätigkeit  ent- 
springt, es  sei  Wort,  Gedanke,  Willensäusserung  oder  was  es  sei,  sein  Herr- 
schersiegel aufdrücken  wird. 

Es  kommt  aber  darauf  an,  dass  es  wirklich  in  die  Seele  übergegangen 
sei,  ihr  Denken  und  Fühlen  innerlieh  bestimme;  so  lange  dies  nicht  geschehen, 
wird  man  vergebens  im  einzelnen  Falle ,  dem  unerschlossenen  Sinne  gegen- 
über, auf  den  Anforderungen  der  Form  bestehen,  eben  weil  sie  dem  inneren 
Bedürfniss  dessen,  an  den  sie  gemacht  werden,  und  seiner  Fähigkeit  nicht 
entsprechen.  Dies  ist  der  Grund,  warum  Stilregeln  und  Stilübungen  gemei- 
niglich so  wirkungslos  sind;  die  hinwieder  da  überflüssig  sind,  wo  der  Sinn 
für  die  Form,  wie  nicht  so  gar  selten  der  Fall,  von  Hause  vorhanden  oder 
durch  die  gewonnene  allgemeine  Bildung  schon  erworben  ist.  Es  ist  ersicht- 
lich, dass  alle  Vorschriften  über  Klarheit,  Angemessenheit,  Präcision  etc. 
des  Ausdrucks,  wenn  auch  noch  so  gründlich  vom  Lehrer  erörtert  und  wenn 
auch  noch  so  fleissig  vom  Schüler  einstudirt.  Letzterem  noch  gar  nicht  die 
Fähigkeit  mittheilen,  im  gegebenen  Falle  zu  beurtheilen,  was  nun  klar, 
nngemessen,  präcis  etc.  sei,  und  also  das  Entgegengesetzte  zu  vermeiden. 
Nicht  die  Gesetze  der  Optik  und  ihr  wissenGchaftliches  Verständniss  .sind  es, 
die  uns  das  Sehen  lehren ;  wir  sehen  ohne  ihre  Kenntniss,  ob  auch  nach 
ihnen,  wenn  unser  Auge  gesund,  unsre  Sehkraft  ungeschwächt  ist;  wo  diese 
fehlt,  verhilft  auch  jene  Kenntniss  uns  nicht  zu  Gesichtsempfindungen,  wir 
tappen  trotz  ihrer  im  Dunkeln.  So  auch  der  Stilschüler.  Er  tappt  im  Dun- 
keln, trotz  Regeln  und  Vorschriften,  und  schreibt  unklar,  verworren,  schwer- 
fällig, so  lange  sein  geistiges  Auge  nicht  für  klare,  reine,  gefällige  Formen 
erschlossen  ist:  es  hilfst  ihm  nicht,  dass  man  ihm  sagt,  was  sein  muss,  wenn 
er  es  sich  selbst  nicht  sagt.  Wenn  aber  Lehrer  und  Schüler  es  sich 
nicht  verdriessen  lassen,  wiederholt  und  immer  wieder  die  Gesetze  eines  guten 
Ausdrucks  zu  studiren ,  die  Musterschriften  der  Alten  und  der  Neueren  zu 
diesem  Zweck  einer  genauen,  in's  Einzelnste  gehende  Analyse  zu  unterwerfen, 
auf  jede  Feinheit,  jede  Eigenthümlichkeit,  jede  besondere  Färbung,  jede 
leise,  oft  halb  verborgene  Beziehung  des  Ausdrucks  zu  achten,  und  mit  diesem 
Studium  eigene  Versuche  in  der  Composition  zu  verbinden :  so  wird  diese 
fortgesetzte  Uebung  immerhin  dazu  beitragen,  in  dem  Schüler  die  Empfäng- 
lichkeit für  die  Form  zu  wecken  und  seine  Seele  zu  bereiten,  dieselbe  aus 
eigenem  Vermögen  zu  erzeugen.  Dies  ist  das  Ziel,  dem  solche  Uebung  zu- 
streben muss,  und  dies  ihr  rationelles  Princip.   Doch  täusche  man  sich  auch 


Programmenschau.  441 

so  nicht  mit  zu  grossen  Erwartungen  von  ihr!  Sie  allein  kann  schwerlich 
geben,  was,  wenn  unsre  vorhcrfielionde  Betrachtung  Recht  hat,  nicht  eine 
Willkür  li  c  ii  e ,  mechanische  Fertigkeit,  die  dem  Zögling  von 
aussen  beizubringen  wäre,  und  die  sich  Jeder  ohne  Unterschied 
in  gleicher  Weise  aneignen  könnte,  der  sich  gewisse  Kegeln 
und  Handgriffe  zu  merken  und  durch  Wiederholung  geläufig 
zu  machen  wüsste  ,  sondern  ein  innerlich  Bedingtes,  der  Per- 
sönlichkeit und  individuellen  Begabung  Entsprechendes,  an 
die  Subjectivität  und  ihre  gesammte  Entwickelung  Gebun- 
denes ist,  das  zwar,  wie  alles  Innerliche  ,  zu  seiner  glu  cklichen 
Entfaltung  günstiger  äusserer  Einwirkungen  bedarf  und  An- 
regung, Vorbild,  Zucht  nicht  verschmäht,  aber  auch  so,  auch 
unter  der  Pflege  der  Kunst,  nur  organisch  wie  Blüthe  und 
Frucht  aus  innerem  Lebenstriebe  nach  eigenem  Gesetz  sich 
bildet:  den  Stil. 


Ueber  die  Einwirkung  der  vergleichenden  Grammatik  auf  die 
Metliode  des  französischen  Unterrichts  an  Gymnasien.  Von 
W.  Hornbostel.  Programm  des  Gymnasiums  in  Ratze- 
burg, 1857. 

In  der  Einleitung  weist  der  Verfasser  auf  die  ausserordentlichen  Fort- 
schritte hin,  welche  die  Sprachvergleichung  in  den  beiden  letzten  Jahr- 
zehnten gemacht  und  zieht  daraus  den  Schluss,  dass  die  spi-achvergKichende 
Grammatik  die  Grundlage  jedes  tiefer  eingehenden  Sprachstudiums  werden 
müsse.  Jeder  Philologe  hat  sich  deshalb  wenigstens  mit  den  Resultaten 
jener  Forschungen  bekannt  zu  machen  und  sollte  über  ihre  praktische  Ver- 
werthung  beim  Unterrichte  ernstlich  nachgedaeht  haben,  um  eine  grössere 
Einheit  in  die  Methode  des  Unterrichis  einzuführen  und  eine  engere  Ver- 
bindung der  beiden  classisehen  Sprachen  unter  einander  und  mit  der  Mutter- 
sprache anzubahnen  (natürlich  nur  mittelbar).  Für  den  Unterricht  in  der 
französischen  Sprache  hat  die  vergleicliende  Grammatik  noch  weit  grössere 
Bedeutung,  indem  liier  die  zu  vergleichenden  Objecto  ganz  in  das  Gebiet 
des  höheren  Schulunterrichts  fallen  und  die  Resultate  schon  viel  sicherer 
festgestellt  und  systematisch  geonlnet  sind. 

Hierauf  theilt  Herr  H.  seine  Ansichten  über  die  Einwirkung  der  sprach- 
vergleiehenden  Grammatik  auf  die  Methode  des  französischen  Unterrichts 
all  Gymnasien  mit,  wie  sich  dieselben  während  seiner  praktischen  Thätigkeit 
ausgebildet  haben.  Als  allgemeine  Grundlage  wird  ausgesprochen, 
dass  die  französische  Sprache  schon  als  Vertreterin  der  ganzen  romanischen 
Sprachfamilie  für  wissenschaftliche  Bildung  unentbehrlich  ist,  sie  hat  die 
Aufgabe,  das  aus  dem  Studium  der  classisehen  Sprachen  gewonnene  alige- 
meine sprachliche  Bewussts^'in  zu  vermitteln  nüt  der  Form  der  neueren 
Sprachen.  Die  Muttersprache  ist  keine  wissenschaftlieh  erlernte,  es  bedarf 
deshalb  eines  dritten  Sprachobjects,  welches  wie  die  französische  Sprache 
den  materiellen  Inhalt  fler  lateinischen  Sprache  mit  dem  allgemeinen  Cha- 
rakter der  modernen  Sprachformen  vereinigt.  Soll  nun  aber  der  Unterricht 
in  der  französischen  Sprache  als  formelles  Bildungsmittel  für  den  Geist  des 
Schülers  von  Bedeutung  werden,  so  mu^s  er  sici»  möglichst  eng  an  die  Be- 
liandlung  der  classisehen  S[)rache  anschliessen.  Als  Ziel,  welches  der  Unter- 
richt in  in  dieser  Sprache  auf  dem  Gymnasium  zu  erreichen  hat,  wird  ange- 
geben:  „Eine  genaue  Kenntniss  der  grammatischen  Sprachgeselze,  hervor- 
gegangen aus  gründliclHfm  grammatischen  Unterriehte ,  cm  leichtes  Ver- 
ständniss  wissenschaftlicher  französischer  Werke,  gegründet  auf  systematische 


442  Programmenschau, 

und  sorgfältige  Leetüre  der  besten,  namentlich  der  historischen  Schriftsteller, 
und  endlich  die  Fähigkeit,  eigene  Gedanken  correct  und  zusammenhängend 
in  französischer  Sprache  darzustellen."  —  Ueber  die  Methode  werden  sodann 
in  aller  Kürze  einige  allgemeine  Winke  gegeben,  und  die  Abhandlung  zeigt 
danach  ganz  speciell,  wie  im  P^inzelnen  die  Resultate  der  sprachvergleichenden 
Grammatik  für  den  Unterricht  am  besten  verwandt  und  fruchtbringend  ge- 
macht werden  können.  Referent  unterlässt  es,  die  speciellere  Ausführung 
an  dieser  Stelle  weiter  darzustellen,  empfiehlt  indessen  die  methodische  Be- 
handlung zu  möglichst  vielseitiger  Behandlung  und  Prüfung.  Manche  Punkte 
sind  mit  feinem  pädagogischen  Tacte  behandelt  worden,  und  wenngleich 
man  nicht  überall  den  Ansichten  des  Herrn  H.  beipflichten  kann,  so  wird 
doch  gewiss  jeder  Lehrer  der  Iranzösischen  Sprache  die  Abhandlung  mit 
lebhaftem  Interesse  lesen  und  manche  gute  Lehre  daraus  ziehen  können. 

H. 


Ueber  die  drei  ältesten  süd-  und  nordfranzösischen  Grammatiken. 
Programm  des  Gymnasiums  in  Tübingen,  1857. 

Die  wissenschaftliche  Abhandlung  zur  Feier  des  königlichen  Geburtstages 
schrieb  Prof.  Dr.  Wildermuth  als  Anhang  einer  ausführlicheren  Geschichte 
der  französischen  Grammatiken  bis  zur  Gründung  der  Akademie.  Er  be- 
spricht, nach  einer  kurzen  Notiz  über  Gauter  de  Biblesworth,  iiber  dessen 
Bedeutung  noch  die  unrichtigsten  Ansichten  im  Gange  sind  und  nachdem  er 
den  Grund  früher  grammaticaler  Behandlung  der  französischen  Sprache  aus 
der  Geschichte  dieser  Spraclie  selbst  und  aus  Ilirer  früheren  Erlernung  durch 
Fremde  abzuleiten  versucht  hat,  zunächst  den  Donatus  provincialis,  bei  dem 
ihm  leider  noch  nicht  Guessard's  neue  Auflage  zu  Gebote  stand  (S  7),  dann 
S.  13  VidaVs  Dreita  maniera  de  trobar,  endlich  S.  18  —  31}  Jean  Pahgrave's 
erste  nordfranzösische  Grammatik,  mit  verständiger  Kritik  der  drei  Werke. 
Das  Ganze  ist  eine  mit  Kenntniss  unternommene  Arbeit,  die  auch  den 
Laien  in  dieses  Gebiet  einzuführen  wohl  geignet  sein  dürfte. 

S. 


Des  Grafen  Bernardino  Rebolledo  Selvas  Danicas.    Von  I.  Ben- 
dixen.     Programm  des  Gymnasiums  in  Ploen,  1858. 

Unter  den  Gedichten  des  spanischen  Grafen  Bernardino  Rebolledo  (geb. 
1.597,  gest.  167C)  gewähren  die  „Dänischen  W'älder,"  welche  mit  seinem 
Aufenthalte  in  Kopenhagen  (1648  — 16G2)  in  Verbindung  stehen,  auch  für 
uns  ein  gewisses  Interesse.  Der  erste  dieser  beiden  Wälder  enthält  dem  bei 
Weitem  grösseren  Theile  nach  einen  Ueberblick  über  die  Geschichte  der 
dänischen  Könige  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zur  Regierung  Friedrich  des 
Dritten,  wobei  der  Dichter,  von  den  religiösen  Verhältnissen  ausgehend,  die 
heidnische  Zeit  als  eine  tragische,  die  des  Lutherthums  als  eine  der  könig- 
lichen Majestät  unwürdige,  die  zwischen  'beiden  liegende  katholische  als  die 
allein  wünsclienswerthe  darstellt.  Die  Tendenz  dieser  Dichtung  ist  in  der 
Einleitung  wie  am  Schlüsse  deutlich  genug  in  dem  Wunsche  ausgesprochen, 
dass  die  katholische  Lehre  in  Dänemark  wieder  allgemeinen  Eingang  finden 
möge.  Der  Verfasser  der  oben  genannten  Abhandlung  hat  sich  nun  die 
Aufgabe  gestellt,  aus  der  Dichtung,  von  welcher  er  die  bezeichnendsten 
Stellen  in  deutscher  Uebersetzung  mitgetheilt  hat,  nachzuweisen,  dass  die- 
selbe eine  Zuschrift  des  Grafen  Rebolledo  an  den  König  Friedrich  den 
Dritten  sei,  welche  den  Zweck  gehabt  habe,  jenen  Monarchen  zu  bewegen, 


Programmenschau.  443 

mit  Land  und  Leuten  in  den  Schooss  der  katholischen  Kirche  zurückzu- 
kehren, sowie  dass  diese  Zuschrift  dem  Könige  wirkUch  übergeben  worden 
sei.  Der  Verfasser  hat  die  Einwürfe,  welche  gegen  seine  Ansichten  gemacht 
werden  können,  wohl  in  Erwägung  gezogen  und  gestützt  auf  anderweitige 
Zeugnisse  desselben  Dichters  zu  widerlegen  gesucht.  \\'ir  gehen  auf  eine 
Kritik  seiner  Beweisgründe  nicht  näher  ein,  sondern  wollen  hierdurch  nur 
;iuf  jene  Dichtung  aufmerksam  machen,  die  nach  der  Ansicht  des  Verfassers 
inmierhin  „ein  interessantes  Document  und  Actenstück  über  die  Bemühungen 
der  derzeitigen  katiiolischen  Propaganda  im  Norden"  sein  würde. 

Von  geringerem  Interesse  ist  der  zweite,  der  Königin  gewidmete  Wald, 
eine  poetische  Beschreibung  des  Jagd-  und  Lustschlosses  Hirschholm,  von 
welcher  der  Verfasser  einen  gedrängten  Auszug  mit  eingefügter  Ueber- 
setzung  einzelner  iStellen  gibt. 

^^^^^-  Dr.  Büchsenschütz. 


Miscellen. 


Französich:   Donner   un  poisson  d'Avril  a  quelqu'un;    deutsch: 
Jemand  in  den  April  schicken. 

Woher  der  Ursprung  dieser  Sitte  und  Redensart?  Unter  poissson 
d'Avril  versteht  man  eine  Makrele,  die  sonst  maquereau  heisst,  weil  der 
reichlichste  Fang  derselben  im  April  geschieht.  Der  Makrelenfang  wird  am 
meisten  in  Frankreich  betrieben,  besonders  im  Canal.  Dort  wird  auch  die 
Makrele  am  häufigsten  eingesalzen.  Weil  man  von  diesem  Fische  glaubte, 
dass  er,  sobald  der  Frühling  gekommen  sei.  den  kleinen  Alsen  oder  Mai- 
fischen (aloses),  die  man  in  der  Volkssprache  Jungfrauen  (vierges)  nennt, 
zu  folgen  und  sie  ihren  Mannchen  zuzuführen  pflegte  (Furetiere  v.  maquereau), 
so  nannte  man  sie  maquereau.x  oder  Kuppler.  Einen  solchen  Kuppler  nennt 
man  umgekehrt  auch  einen  poisson  d'Avril.  Donner  un  poisson  d'Avril  a 
quelqu'un  wurde  nun  also  wohl  zuerst  nur  auf  Frauen  und  zwar  auf  Jung- 
frauen angewandt.  Indem  man  einer  Jungfrau  einen  solchen  Aprilfisch  oder 
Kuppler  schickte  oder  gab,  wünschte  man  sie  durch  denselben  zu  verführen 
und  anzuführen;  und  so  entstand  der  Ausdruck,  der  allmälig  in  einem  weitern 
und  unschuldigem  Sinne  gebraucht  wurde  und  die  Sitte  des  Aprilschickens 
hervorbrachte.  Das  französische  maquereau  und  unser  Makler  ist  dasselbe 
Wort,  mittellat.  macarellus,  maquerellus,  maquerella.  Bei  diesem  Worte  ist 
der  Ausdi-uck  für  den  Fisch  nicht  als  der  erste  zu  setzen  und  die  Bedeutung 
Kuppeln  daraus  abzuleiten,  sondern  es  ist  umgekehrt  zu  verfahren.  Auch 
sind  die  beiden  Ausdrücke  nicht  zu  trennen,  wie  es  unter  Andern  auch  von 
Diez  geschieht.  Der  Fisch  ist  nicht  mit  ihm  von  macula,  Fleck,  abzuleiten, 
weil  derselbe  über  den  Rücken  gestreift  ist.  Auch  den  Kuppler  leitete  man 
von  macula  ab,  in  Beziehung  darauf,  dass  die  Kuppler  der  römischen  Ko- 
mödie sich  eines  scheckigen  Kleides  bedient  hätten.  Dies  weist  Diez  zurück, 
indem  ihm  die  Voraussetzung  zu  gewagt  scheint,  dass  Frankreich  ein  An- 
denken an  die  römische  Bühne  verblieben  sei,  wovon  die  andern  Provinzen 
keine  Spur  besässen.  Dagegen  billigt  Diez  die  Deutung  aus  dem  nieder- 
ländischen maker,  von  maken,  unterhandeln,  althochdeutsch  mahhari  von 
mahhön,  machinari,  huor-mahhari,  leno,  und  dies  scheint  richtig.  Sonst  Hesse 
sich  auch  das  hebräische  mi'ikar,  mächar,  mahar,  verkaufen,  kaufen,  herbei- 
ziehen, welches  besonders  seine  Tochter  verkaufen,  d.  h.  verheirathen,  be- 
deutet, weil  der  Bräutigam  einen  Kaufpreis  zahlen  musste.  Auch  wird  das 
deutsche  Mäkler  hebräisch  durch  möcher,  Mäklerin  durch  möcharäh  und 
mOchereth,    Mäklerlohn  durch   mächär    und    machar    wiedergegeben.     Alles, 


Miscellen.  445 

was  mit  kaufen,  verkaufen  und  bandeln  zusamnicidiängt,  kann  leicht  einen 
hebräischen  Ursprunp:  haben.  Jedoch  ist  dem  deutschen  Ursprunr;  hier  der 
Vorzug  zu  geben.  Die  deutsche  Sitte  und  Redensart:  Jemand  zum  April- 
narren machen  (engl,  to  niake  an  April  lool  of  one),  oder  ihn  in  den  April 
schicken,  oder,  wie  Lessing  sagt,  zum  April  schicken,  und  Goethe,  in  den 
April  führen,  ist  daher  sicherlich  nicht  altdeutschen  Ursprungs,  sondern  aus 
Frankreich  eingeführt.  Alan  glaubte,  es  mochte  wohl  der  Ueberrest  eines 
alten  heidnischen  Gebrauchs  sein,  der  von  irgend  einem  heidnischen  Feste 
herriilirtc.  Es  findet  sich  aber  im  deutschen  Alterthura  keine  Spur  davon, 
wie  J.  Grimm  bezeugt.  Einige  haben  gemeint,  dass  es  wohl  einer  Nach- 
ahmung des  Hin-  und  Ilerschickcns  Christi  vor  seiner  Verurtheilung,  von 
Hannas  zu  Kaiphas,  von  Pilatus  zu  Hcrodes,  sei,  welches  in  den  mittelalter- 
lichen Oster-  und  Ta^sionsspielen  dargestellt  wurde.  Sonst  läge  es  auch 
nahe,  an  die  im  Monat  April  herrschende  Veränderlichkeit  des  Wetters  zu 
denken,  weil,  wenn  man  sich  bei  seinen  Geschäften  oder  Spaziergängen  auf 
das  Wetter  dieses  Monats  verliess ,  man  leicht  und  oft  angeführt  "wurde. 
Auch  J.  Grimm  vermuthet,  dass  der  Gebrauch  des  Aprilschickens  erst  in 
den  letzten  Jahrhunderten  aus  Frankreich  uns  zugeführt  sei,  doch  sei  er 
dort  seinem  Ursprünge  nach  noch  nicht  aufgeklärt,  jedenfalls  hänge  er  mit 
dem  Beginn  des  neuen  Jahres  im  April  zusammen,  was  aber  nicht  der  Fall 
ist,  wenigstens  nicht  in  der  Art,  wie  Grimm  es  meint,  sondern  der  Ursprung 
ist  der  oben  angegebene  ignoble.  Der  franzosische  Ausdruck  für  diesen 
Gebrauch  ist  auch  der  eigenthünlichstc  und  charakteristischste;  die  übrigen 
sind  schon  abgeschliflTener  und  allgemeiner.  Im  Italienischen  sagt  man: 
mandare  uno  in  Aprile  per  la  chiave  dell'  alleluja,  gewiss  durch  deutschen 
Einfluss  entstanden  und  nicht  alt.  In  Spanien  ist  die  Sitte  und  der  Aus- 
druck gänzlich  unbekannt. 

Dr.  C.  A.  F.  Mahn. 


lieber  einige  Erklärungen  in  Niemeyer's  Commentar  zu 
Lessing's  Nathan. 

(Vergl.  die  Berichtigungen  im  Archiv  XXI,  337.) 

Zu  V.  364  erinnert  Niemeyer  an  zwei  Bedeutungen  des  Wortes  dürfen, 
in  denen  es  bei  Lessing  im  Nathan  vorkommt.  Der  seltenern  Bedeutung 
des  Wortes  aber,  in  der  es  V.  2821  steht: 

Auch  soll  es  Nathan  schon  empfinden,  dass 
Er   ohne   Schwemefleisch  ein  Claristenkind 
Erziehen  dürfen! 

Der  Bedeutung  wagen  ist  weder  zu  V.  364  noch  zu  Vers  2821  gedacht 
worden.  Es  hätte  dabei  an  das  entsprechende  englische  dare  erinnert 
werden  können. 

Zu  V.  451  hat  Niemeyer  eine  Note  von  Nodnagel  abdrucken  lassen,  die 
sicher  ebenso  falsch  ist  wie  die  zu  den  feurigen  Kohlen.  Die  Lehrer  des 
Hau  können  doch,  da  die  Derwische  Muhamedaner  sind,  unmöglich  die 
Bramah  nen  sein. 

Zu  V.  508  wird  das  Er  auf  Gott  bezogen,  ich  sehe  nicht  ein,  mit 
welchem  Grunde.  Mir  scheint  der  Dichter  an  dieser  Stelle  mit  dem  unbe- 
stimmten Er  zu  spielen.  Man  pficgt  ja  wohl,  wenn  das  Herz  von  dem  Ge- 
danken an  eine  Person  ganz  criullt  ist,  vorauszusetzen,  das  müsse  auch  bei 
Andern  so  sein  und  dann  das  unbestimmte  Er  zu  gebrauchen,  wo  man  einen 
Archiv  f.  n.  Sprachen.  XXIII.  29 


446  Miscellen. 

bestimmten  Namen  nennen  sollte.    Darüber  wird  nun  die  geschwätzige  Daja 
von  Nathan  verspottet. 

Zu  V.  532.  Die  Erläuterung  dieser  Worte  kann  ich  nicht  für  richtig 
halten.  Auch  zeichnet  sie  sich  nicht  eben  durch  Klarheit  aus.  Mir  scheint 
die  ganze  Phrase  nichts  Anderes  zu  bedeuten,  als  was  sie  dem  gewöhn- 
lichen Sprachgebrauche  zufolge  sonst  bedeutet:  der  folgt  mir  nicht,  um  sich 
die  Langeweile  zu  vertreiben,  also:  nicht  umsonst,  nicht  ohne  Grund.  — 
Die  dann  folgende  Exposition  über  die  Präposition  vor  scheint  mir  eben- 
falls unrichtig  und  dabei  übersehen  zu  sein,  dass  man  früher  auch  und  sogar 
gewöhnlich  sagte:  für  die  Langeweile,  was  dann  nicht  schwer  zu  deuten  ist. 

Zu  V.  2612  werden  die  Spenden,  von  denen  daselbst  die  Rede  ist,  auf 
die  Abgabe  bezogen,  welche  die  Christen  für  die  Erlaubniss  zum  Besuche 
des  heiligen  Grabes  bezahlen  mussten.  Diese  Erklärung  passt  weder  in  den 
Zusammenhang,  noch  verträgt  sie  sich  mit  den  Worten  Saladin's:  „Wenn 
die  Christenpilger  mit  leeren  Händen  nur  nicht  abziehen  dürfen."  Offenbar 
sind  jene  Spenden  auf  Almosen  zu  beziehen,  welche  Saladin  den  Christen- 
pilgern zukommen  liess.  Und  von  solchen  erzählt,  wenn  ich  nicht  irre,  auch 
die  Geschichte. 

G. 


Der  Grieche  Trikupis  über  die  neugriechische  Sprache. 

Wie  verschieden  auch  die  Ansichten  und  Systeme  über  die  Art  und 
Weise,  die  herabgekommene  und  in  verschiedenen  Beziehungen  verkommene 
Sprache  der  Griechen  der  neueren  Zeit  zu  behandeln,  unter  den  Griechen 
selbst  noch  vor  einiger  Zeit  gewesen  sein  mögen:  jedenfalls  hat  sich  nun- 
mehr diejenige  Ansicht  als  die  allein  gültige  und  entscheidende  durchgear- 
beitet, dass  man  diese  Sprache,  die  Sprache  des  Volks,  die  Sprache  der 
blossen  „Gewohnheit"  (awr^dtia),  nicht  sich  selbst  überlassen  dürfe,  dass 
man  sie  vielmehr,  weil  sie  historisch  und  ihrem  wesentlichen  Grunde  nach 
die  altgriechische  Sprache  ist,  mit  feinem  Tacte  und  mit  Geschick  auf  diese 
Grundlage,  soweit  möglich,  und  ohne  ihr  selbst  und  ihren  wesentlichen 
Eigenthümlichkeiten  Gewalt  anzuthun,  zurückführen  müsse.  Dieser  richtigen 
Ansicht  der  Griechen  selbst  kommt  nun  auch  von  der  andern  Seite,  nämlich 
von  Seite  der  Fremden,  besonders  auch  der  Deutschen,  die  Meinung  ent- 
gegen, dass  die  sogenannte  neugriechische  Sprache  eben  keine  neue,  keine 
besondere  und  für  sich  bestehende  Sprache,  sondern  dass  sie  mit  der  alt- 
griechischen Sprache  eine  und  dieselbe  sei,  während  man  sich  früher  entweder 
gar  nicht  um  die  neugriechische  Sprache  bekümmerte,  oder  sie  damit  kurz  ab- 
fertigte, dass  sie  —  eine  eigene  Sprache  sei,  die  grade  die  Hellenisten  Nichts 
angehe.  War  die  altgriechische  Sprache  selbst  noch  zur  Zeit,  nachdem 
Constantinopel  in  die  Hände  der  Tiü'ken  gefallen  war,  im  Volke  nicht  ganz 
ausgestorben,  so  gilt  sie  jetzt  vielmehr  bei  einem  jeden  Verständigen  als 
noch  lebend  in  der  Sprache  des  Volks,  in  der  Vulgarsprache. 

Ohne  hier  in  weitere  Details  über  diesen  Gegenstand  einzugehen,  hielt 
ich  es  unter  allen  Gesichtspunkten  für  interessant  und  für  lehrreich,  die 
neuesten  Ansichten  eines  hochgebildeten  Griechen  über  die  neugriechische 
Sprache  und  über  ihre  Behandlung  und  Behandlungsweise  hier  mitzutheilen. 
Der  Grund  und  der  Zweck  ergeben  sich  von  selbst.  Der  in  der  Ueber- 
schrift  genannte  Trikupis  sagt  in  seiner:  Igo^ia  t/;s  eXltjvixrjg  knavagäoecas, 
London  1854,  Theil  I,  S.  9  f.  Folgendes: 

Was  die  Sprache  anlangt,  in  der  ich  meine  „'laroQia"  zu  schreiben  be- 
absichtigte, so  wollte  ich  einen  Mittelweg  wählen  zwischen  Denen,  die  in 
der  gewöhnlichen  Volkssprache  und  Denen,  die  gar  zu  altgriechisch  schreiben; 


Miscellen.  447 

denn  ich  habe  die  üeberzeugung,  dans  nur  dieser  Weg  die  noch  unbekannten 
Grenzen  unsrer  Sprache  enthalt,  wenn  wir  n;iniliob  woUen,  was  wir  müssen, 
dass  die  gesprochene  und  die  8chrii'tsprache  zusammentiillen  und  Eines  und 
Dasselbe  seien. 

Unsre  Volkssnraclie  ist  nicht  ohne  Reize,  und  Derjenige  ist  ohne  Alles 
ästhetische  Gefühl  für  das  Scheine,  der  sie  nicht  empfindet  und  ihrer  sich 
nicht  freut,  wenn  er  die  in  ihr  in  reinerer  (iestalt  verl'assten  Schrillen  liest. 
Sie  ist  nicht  bloss  die  Tochter  der  altgriechischen  Sprache,  etwa  in  dem 
Verhältnisse,  wie  die  italienische  Sprache  die  Tochter  der  lateinischen  ist, 
sie  ist  vielmehr  mit  der  altgriechischen  Sprache  eine  und  die  nämliche;  aber 
die  Liinge  der  Zeit  hat  nach  und  nach  deren  unvergleichliche  Schönheiten 
zum  Theii  umgestaltet.  Indess  hat  sie  sich  während  des  Freiheitskampfes 
in  einem  solchen  Grade  entwickelt,  und  sie  entwickelt  sich  in  Folge  der 
mannigfaltigen  gesellschaftlichen  und  politischen  Bedürfnisse,  welche  die  neue 
Ordnung  der  Dinge  im  freien  Griechenland  erzeugt  hat,  sowie  in  Folge  der 
immer  mehr  erweiterten  Kenntniss  der  altgriechischen  Sprache  und  des 
Studiums  der  AVissenschaften  fortwährend  dergestalt,  dass  sie  bereits  fähig 
ist,  allen  Gedanken  des  Menschen,  sowie  allen  Leidenschaften  desselben  den 
rechten  Ausdruck  zu  verleihen,  gleich  den  anderen  Sprachen  der  gebildeten 
Völker;  allein  es  ist  hierbei  nach  meiner  Ansicht  grosse  Vorsicht  nöthig, 
damit  wir  uns  nicht  über  Gebühr  von  der  Volkssprache  entfernen,  indem 
wir  gar  zu  sehr  hellenisch  schreiben,  und  wir  nicht  unvermerkt  dahin  ge- 
langen, eine  doppelte  Sprache  zu  besitzen,  die  des  Volks  und  die  der  Ge- 
lehrten, etwa  wie  die  alten  Aegypter  zweierlei  Buchstaben  hatten,  heilige 
und  profane  {S>;uü}S>;).  Denn  im  Irrthum  ist  Derjenige,  der  da  meint,  es 
sei  hinreichend,  wenn  das  Volk  nur  das  verstehe,  was  der  Gebildete 
spricht  und  schreibt.  Auch  das  Volk  muss  sprechen  und  schreiben,  wie  der 
Gebildete.  Ich  meine  dies  nicht  in  Betrefl'  der  Ausdrucksweise  desselben, 
indem  dies  vielmehr  mit  seiner  ganzen  Natur  und  seiner  Bildung  zusammen- 
hängt und  Folge  seiner  Studien  ist;  ich  meine  dies  auch  nicht  von  den 
Worten,  die  der  Gebildete  braucht,  da  das  Volk  nicht  die  gleiche  Erziehung 
mit  diesem  selbst  geniesst,  wohl  aber  meine  ich  es  in  Ansehung  der  Bil- 
dung und  Beugung  der  einzelnen  Kedetheile.  Wie  verschieden  auch  die 
Gebildeten  und  Ungebildeten  anderer  civilisirter  Nationen  der  Gegenwart 
sich  ausdrücken  mögen :  sie  haben  in  der  Praxis  eine  und  dieselbe  Gram- 
matik, und  sie  bilden  und  beugen  die  Namen  und  Worte  auf  die  gleiche 
Weise  und  verTainden  letztere  nach  den  gleichen  Gesetzen  der  Syntax. 
Uebrigens  ist  es  auch  bekannt  und  einleuchtend,  dass  dem  Volk  eine 
Sprache  nichts  nützt,  die  es  hört  oder  liest,  wenn  sie  es  nicht  zugleich  an- 
zieht und  ergötzt;  eine  dem  Gehör  ungewohnte  Sprache  aber  kann  das  Volk 
nicht  anziehen  und  ergötzen. 

Es  ist  zu  beklagen,  dass  die  meisten  unsrer  Gelehrten,  weil  das  Lesen 
der  attischen  Schriflsteller  sie  bezaubert  hat,  von  dem  obigen  Wege 
abgewichen  sind  und  ihre  dorische  Sprache  gar  zu  sehr  nach  der  attischen 
umbilden,  gleich  als  ob  die  Dorisnien  dieser  Sprache  nicht  auch  hellenisch 
wären.  Dieses  unüberlegt«  Jagen  nach  Atticismen  ist  besonders  auch  darum 
zu  bedauern,  weil  es  die  Schriftsprache  gar  zu  sehr  von  der  Volkssprache 
entfernt,  ohne  dieselbe  zu  bereichern  oder  zu  reinigen,  da  sie  doch  solcher 
Reinigung  sehr  bedarf.  Diesem  Jagen,  das  Nichts  nützt,  aber  Viel  schadet, 
muss  nach  meiner  Ansicht  Einhalt  gethan  werden;  denn  in  ungerechter  und 
unverständiger  Weise  werden  dabei  die  allgemein  üblichen  Eij'enthümlich- 
keiten  eines  griechischen  lebenden  Dialekts  in  andere  nicht  übliche  Eigen- 
thümlichkeiten  eines  anderen  nichc  lebenden  griechischen  Dialekts  umge- 
staltet. In  der  That  hat  diese  Wuth  nach  Atticismen  bei  uusern  Gelehrten 
«o  lehr  überhand  genommen,  dass  ich  selbst,  wie  sehr  ich  auch  dagegen 
bin,  gezwungen  war,  mich  darnach  in  Etwas  zu  richten  und  dabei  Grund- 
sätze ofliänbar   zu   verletzen,    die   ich  für  allein   richtig   und  gesund  halte. 

29» 


448  Miscellen. 

Das  „Bis  hierher  und  nicht  weiter!"  muss  uns  als  ein  heilsamer  Wink  gelten, 
nicht  zwar  in  Betreff  der  Bereicherung  unsrer  Volkssprache,  die  vielmehr 
aus  den  Schätzen  der  altgriechischen  Sprache  hinreichend  bereichert  werden 
kann,  wohl  aber  in  Ansehung  ihres  Mechanismus  und  ihrer  Eigenthiimlich- 
keiten.  Das  Volk  ist  schwierig,  wenn  es  den  Schematismus  und  die  Syntax 
seiner  Rede  ändern  soll,  nicht  aber  dann,  wenn  es  darauf  ankommt,  Worte 
aus  der  Sprache  seiner  Vorfahren  zu  lernen,  die  heutzutage  nicht  im  Ge- 
brauch sind.  Mit  Hinsicht  hierauf  habe  auch  ich  in  meiner  „Geschichte" 
den  materiellen  Reichthum  der  heutigen  Sprache  auf  die  angegebene  Weise 
zu  vermehren  gesucht;  allein  ich  habe  in  Ansehung  der  Bildung  und  der 
Syntax  an  der  herrschenden  Regel  der  Gewohnheit  Nichts  geändert.  *)  Die 
Sprache  ist  das  Eigenthum  des  ganzen  Volks,  und  wie  sehr  Derjenige  Lob 
verdient,  der  dies  Nationaleigenthum  bereichert  und  vermehrt,  so  sehr  ver- 
dient Derjenige  Tadel,  der  es  veräussert,  indem  er  es  nach  seinem  Gefallen 
vertauscht  und  verwendet.  Statt  die  Vervollkommnung  der  Sprache  zu  be- 
schleunigen,' hält  er  sie  auf,  anstatt  den  geistigen  Fortschritt  des  Volks  zu 
befördern,  hindert  er  ihn.  Selbst  Korais,  der  gelehrteste  und  durch  kri- 
tischen Scharfsinn  am  meisten  ausgezeichnete  Grieche  seiner  Zeit,  der  mehr 
als  jeder  Andere  auch  über  unsre  Sprache  nachgedacht  und  geschrieben  hat, 
ist  diesen  Weg  gegangen,  und  er  hat  uns  entschieden  gerathen,  keinen 
andern  Weg  zu  gehen.  Ich  selbst  habe  es  mir  zur  Pflicht  gemacht  und 
habe  Sorge  getragen,  dass  meine  Sprache  rein,  verständüch,  nicht  uneben, 
sondern  gleichartig  und  regelmässig  sei,  und  ich  habe  die  Gewohnheiten  der 
Volkssprache  nur  verlassen,  wo  sie  selbst  sich  bereits  genügend  entwickelt 
hatte,  und  nicht  ohne  Zurückhaltung  habe  ich  Hellenismen  und  nur  dann 
in  die  Sprache  aufgenommen,  wenn  ich  sie  deren  für  fähig  und  empfänglich 
hielt. 

Viele  unsrer  Puristen  machen  der  Volkssprache  zum  Vorwurf,  dass  sie 
nicht  frei  sei  von  Gallicismen  und  Italicismen.**)  Zum  Glück  ist  dies  in 
neuester  Zeit  anders  geworden,  und  die  neugriechische  Sprache  ist  frei  von 
fremden  Wörtern.  ***)  Allein  —  welche  Sprache  ist  ohne  fremde  Idiotismen  ? 
und  wäre  denn  etwa  selbst  die  attische  ohne  solche?  Vielmehr  sagt  sogar 
Xenophon,  und  er  sagt  es  gradezu  zum  Lobe  der  attischen  Sprache,  dass 
die  Attiker  „aus  verschiedenen  Sprachen  der  Hellenen  und  der  Fremden 
(rolv  ßaQßÜQov),  aus  der  einen  dies,  aus  der  andern  das  ausgewählt"  hätten. 
Und  wir^  Niclit- Attiker,  wollen  noch  eifrigere  Attiker  zu  sein  scheinen, 
als  selbst  die  Attiker!? 

Ich  habe  es  irgendwo  gelesen  und  ich  habe  es  oft  gehört,  dass  die  in 
unsrer  heutigen  Sprache  eingeführten  Hellenismen  der  alten  Sprache  nach 
fünfzig  Jahren  x^dfclofioi  sein  würden.  Wehe  uns,  wenn  wir,  pohtisch  frei 
und  frei  in  der  Wissenschaft,  frei  im  Lichte  der  Cultur,  das  die  Welt  er- 
leuchtet, nicht  gewürdigt  werden  sollten,  vor  dem  Ende  des  gegenwärtigen 
Jahrhunderts  Schriftsteller  zu  haben,  die  da  berufen  wären,  uns  den  rechten 
Weg  zu  zeigen,  den  wir  ohne  alle  Gefahr  zum  Ziele  zu  gehen  haben! 

So  weit  Trikupis.  In  einer  Anmerkung  (I,  S.  355  f.)  gibt  er  in  Ein- 
zelnem an,  wie  er  es  mit  der  Reinigung  und  Regelung  der  Sprache  in  Be- 


*)  Hin  und  wieder  ist  dies  doch  gleichwohl  geschehen,  indem  der  Ver- 
fasser in  reineren  grammatischen  Formen  schreibt,  als  sie  dem  Volke  ge- 
läufig sind  und  dieses  sie  kennt. 

*•)  Man  kann  hinzusetzen,  auch  nicht  frei  von  den  Einflüssen  slavischer 
und  anderer  Sprachen. 

**♦)  Ganz  ist  dies  wohl  noch  nicht  der  Fall.  Aber  bei  ihrer  Bildsamkeit 
kann  sie  sich  der  fremden  Ausdi-ücke  entäussern,  wie  sie  bereits  mit  Glück 
angefangen  hat,  dies  zu  thun. 


Miscellen.  449 

treif  des  lenrixäi'  gehalten  habe.  Man  muss  ihm  auch  hier  dem  Grundsatze 
nach,  sowie  im  Einzelnen  vollkommen  Recht  geben,  selbst  wenn  es  scheinen 
will,  dass  er  dabei  nicht  ganz  consc(iuent  vcrlahren  sei,  und  er  in  IManchem 
wohl  noch  weiter  hätte  gehen  können  und  sollen,  um  die  Sprache  zu  rei- 
nigen und  zu  regeln,  ohne  —  zu  hellenisch,  namentlich  zu  attisch  zu 
werden. 


Zur  Kenntniss  der  neugriechischen  Volksdialekte. 

Je  mehr  die  Ansicht,  dass  die  neugriechische  Sprache  keine  eigene 
neue  Sprache,  sondern  nur  die  mehr  oder  weniger  verderbte  und  theils  in 
Folge  fremdartiger  Einflüsse  verschiedener  Art  zersetzte,  theils  in  ihren  ei- 
genen Elementen  entartete  und  herabgekommene  altgriechische  Sprache  ist, 
in  immer  weiteren  Kreisen  an  Anerkennung  und  an  Begründung  zu  gewinnen 
scheint,  um  so  interessanter  und  um  so  nöthiger  ist  es  "auch,  die  neugrie- 
chische Sprache  in  ihren  einzelnen  Dialekten  kennen  zu  lernen  und  in  den- 
selben den  Zusammenhang  zu  verfolgen,  der  unter  ihnen,  wie  zwischen  den, 
durch  Jahrhunderte,  ja  durch  Jahrtausende  von  einander  getrennten  Aus- 
drucksweisen eines  und  desselben  Volkes  stattfindet.  Im  Allgemeinen  wird 
jene  Kenntniss  auch  dadurch  befördert,  dass  man  gegenwärtig  es  sich  an- 
gelegen sein  lässt,  einzelne  griechische  Wörter,  die  im  Volke  sich  erhalten 
haben  und  in  den  bisherigen  Wörterbüchern  fehlen,  in  den  verschiedenen 
Theilen  der  vormals  griechischen  Lander  in  Europa  und  Asien,  in  welchen 
noch  griechisch  redende  Bevölkerungen  sich  finden,  sorgfältig  zu  sammeln 
und  auf  diese  Weise  den  noch  unerschöpften  griechischen  Sprachschatz  zu 
Tage  zu  fördern,  der  dann  auch  der  griechischen  Lexikographie  ausser 
Griechenland  mehr  oder  weniger  zu  Gute  kommen  muss.  Indess  ist  davon 
hier  weiter  keine  Rede:  vielmehr  mag  dieser  Gegenstand  einer  andern  Zeit 
vorbehalten  bleiben.  Allein  es  gibt  auch  noch  andere  Zeugnisse  der  ange- 
gebenen Art,  in  denen  die  Ausdrucksweise  des  Volks,  und  sogar  noch  mehr 
und  lebendiger  sich  ausprägt,  als  in  blossen  einzelnen  Wortbildungen.  Da- 
hin gehören  vorzüglich  die  Volkslieder,  die  unter  allen  Umständen,  nament- 
lich aber  dann,  wenn  sie  einen  localen  Ursprung  haben  und  eine  locale 
Färbung  an  sich  tragen,  welche  in  gewissen  Dialektformen  sich  kundgibt, 
die  interessantesten  und  bedeutsamsten  Aufschlüsse  über  die  Sprache  selbst, 
wie  sie  im  griechischen  Volke  fort  und  fort  sich  erhalten  hat,  darbieten  und 
besonders  in  die  einzelnen  Dialekte  der  neugriechischen  Volkssprache  die 
tiefsten  Blicke  thun  lassen.  Schon  das,  was  in  dieser  Hinsicht  Prof.  Mullach 
in  Berlin  in  seiner  schätzbaren  „Grammatik  der  griechischen  Vulgarsprache" 
(Berlin  1856)  —  ein  Buch,  das  man  den  Hellenisten  nicht  genug  empfehlen 
kann,  —  S.  88  f.  bemerkt  hat,  genügt  vollkommen,  um  die  Wichtigkeit  des 
Gegenstandes  zu  begreifen ;  aber  im  Einzelnen  ist  es  nöthig,  den  vorhan- 
denen Stoff  durch  genauere  Untersuchungen  und  Forschungen  erst  noch  zu 
gewinnen  und  zu  Tage  zu  fördern,  um  ihn  übersehen  und  den  Gegenstand 
erschöpfen  zu  können.  Die  Griechen  selbst  kommen  uns  hierbei  entgegen, 
indem  sie  die,  besonders  in  Ansehung  einzelner  Dialekte  wichtigen  Volks- 
lieder aus  dem  Leben  des  Volks  entlehnen  und  anderweit  mittheilen.  Ich 
meine  nichts  Unnützes  zu  thun,  wenn  ich  Einzelnes  davon  auswähle  und  von 
Zeit  zu  Zeit  zur  Verfügung  der  deutschen  Sprachforscher  stelle,  die  das 
Gebiet  der  griechischen  Sprache  zum  Gegenstande  ihrer  besonderen  Studien 
machen.  Ich  beginne  mit  zwei  Volksliedern,  die  ein  Grieche  aus  Kerasunt 
in  der  Nea  Ua^'Sown  vom  15.  April  1858  S.  48  mittheilt,  und  aus  denen  die 
Eigenthümlichkeiten  des  kleinasiatischen  Volksdialekts  klar  zu  erkennen 
sind.     Es  schien  mir  unerlässlich,   namentlich   auch  zur  Verständigung  über 


450  Miscellen. 

den  Sinn  der  Lieder,  die  allernothwendigsten  Worterklärungen  hinzuzufügen, 
und  ich  habe  dabei  zugleich  die  spraclilichen  Bemerkungen  zum  Theil  mit 
benutzt,  die  der  Einsender  selbst  in  der  IlnvdcoQa  dazu  gemacht  hat,  die 
jedoch  nicht  allenthalben  ausreichen.  Gedichtet  sind  übrigens  die  Lieder  in 
dem  sogenannten  politischen  Versmaase,  das  dem  versus  tetrameter  jam- 
bicus  catalecticus  der  Alten  entspricht. 


Evxv   1' £  o  V. 

Xptcrs'  ftov,  va  enoXves  ')  fis  's  erav  öftnltv^)  SevtqOV,^) 
l\'a  'Sirss*^  UE  tioXXa  y.aQTtov  y.ai  x^afisla^')  aXcoväata, 


lOV, 

N«  xijpzav  '3)  v    aTtoy.otfiTjd'ovv  's  tov  xlcova^i    fi   rcv  XamOv.  " 

II. 

O  V  s  i  q  0  i'   vsavidos. 

Kogäaiov  slSsv  opofiav,  '*)  xoifinrat  fii  tö  'raJov  '®)   dre,  '^) 
Kl    ovTBS  '*)  yvEfi^si  10)  xni  teosT,  20)  y.oijuäzai  fiova/Jaoa.  21) 
MaXlov    UE  ra  TtartXiouaTCL  ts --)  xal    fie  xa  fin^ildioia  ts* 
Mn^iXagiraia  fi    anlsoa,  ^^)  7canXci/i.ax    anE^Sa  Xca,  '^) 
Nr    ETtoixETEv'^''')  TOV  ETatgo  fi,  ro  VEOv  xo  TiaXXrjy.dgiv ; -^^y 


1)  TToicö,  BTtoiva  {sTioiovv).  Die  neugriechische  Vulgarsprache  hängt 
ein  «,  wie  an  andere  Wortformen  {rovTova,  iy.Eivova,  statt  rovrov^  Ey.eXvoi'), 
so  auch  an  die  erste  Person  der  Einzahl  des  Imperfects  des  Activums.  Sie 
sagt  imO.ovva,  (piXovva^  für  Efi'Xovv;  hier  hat  sie  für  eiroiovra  die  contra- 
hirte  rorm  indiva.  2)  'OfxäXiv  —  -roVos  oualög,  die  Ebene,  das  Flachland. 
Die  Vulgarsprache  bildet  solche  Hauptworte  der  zweiten  Declination  häufig 
auf  IV,  auch  ohne  dass  die  Endung  ursprünglich  lov  gewesen.  3)  Jirrqov  — 
dtvSQov.  '<)  "eSivu,  Imperfectum  von  öivco  (ßiSio/it),  wie  die  Vulgarsprache 
in  gleicher  Weise  ar>]vM  für  ioTrj^i  sagt.  Für  i'St.ta  sagt  sie  aber  auch 
iSovva.  5)  XafiEXög  für  yafirjXög.  Schon  Homer  hat  ^eqÖs  für  |/;o()e,  und 
die  neugriechische  Vulgarsprache  ändert  r]  in  e,  z.  B.  TisydSi  für  Tti^yäSi 
{vTtoy.oQ.  von  nriyrj),  %t.oa  für  yriqa,  ifisls  u.  s.  w.  für  i)fi£Xs  u.  s.  w.  ^)  Negönov 
—  VEQov.  Die  Vulgarsprache  hat  neben  vielen  andern  Formen  der  hnoxo- 
Qigiy.ä  auch  die  Endung  auf  otzos,  wie  naiSonov  {TtaiSäy.t),  y.oQtraÖTtov 
ly-opiroäxi)  u.  s.  w.  ')  "Ovrm'  für  orav.  »)  Kivio),  die  active  Form  in  der 
Bedeutung  des  Mediums  (für  y.ivovfiai),  sich  bewegen,  kommen.  ^)  nävE 
für  Ttdyovv  (darans  näv,  wie  nä?,  Ttä,  Ttä/zei',  ttüte  für  Ttäysis  u.  s.  w.)  mit 
angehängtem  c,  das  die  Vulgarsprache  in  ähnlicher  Weise  gebraucht  wie  « 
(siehe  Anmerkung  1),  indem  sie  dasselbe  an  einzelne  Casus  (yi]onvE  für 
%TjQnv,  TiQvs,  rovE  für  t?^;^,  tov),  sowie  an  einzelne  Verbalformen  (ygdj>ovt'E, 
tTt/joaPE  u.  s.  w.  für  yQafovv,  ETcfi^av)  anhängt.  ^°)  jtaoxäoEa.  Ohne  irgend 
eine  weitere  Erklärung  hinzuzufügen,  bemerkt  der  Einsender  der  beiden 
Lieder  a.  a.  O.  nur,  dass  dieses  Wort  „die  Anhöhen"  bedeute.  Ich  selbst 
weiss  es  grammatisch  und  etymologisch  nicht  zu  erklären.  ")  A"  nQ/ovvrav 
=  V  t'QX,(ovTai.  7tii>  für  tiCvei,  iiivEiv.  '-)  Jt?s  —  «tto,  «tt'.  '•*)  KfivTav. 
Ueber  dieses  Wort  und  dessen  Sinn  gibt  der  erwähnte  Einsender  auch  nicht 
die  geringste  Andeutung,  und  ich  muss  es,  auch  ohne  nur  eine  Vermuthung 
aussprechen  zu  wollen,  dahingestellt  sein  lassen,  was  dasselbe  bedeuten  könne 


Miscellen,  451 

und  wie  es  grammatisch  zu  erklären  sei.  •')  '^loxioi  —  ay.iä.  '^)  'Ö^ofinv  — 
ovei^of.  "')  ^ralQj:  0  eraJoos,  der  Geliebte,  wie  in  der  letzten  Zeile  dieses 
Liedes.  To  'raTpi  (refji),  das  Liebchen.  Aus  t6  \al^iv  wird  liier  Tal(jv 
(siehe  Anmerkung  2).  '")  'Wrs  —  «j't/'».  i*')  "Orxes  —  oxe.  ''J)  Fvsfi^ei, 
altgriechisch  ixry'jfco.  Die  neugriechische  Vul^arsprache  braucht  das 
Wort  YVE(pi^(ii  in  der  Bedeutung  tlieils  von:  erwachen,  theils  einen  Rausch 
ausschlafen,  sowie  das  Adjectivum  tyrscpos  für:  munter,  nüchtern.  '^)  Teatl 
—  rr^^el  (siehe  Anmerkung  5).  -')  Momyjooa  —  uoin/i^,  fioit].  '^'-)  Tg  — 
Tt;g,  avzTJg.  '^) yiyj.eoog  —  fiy./.t;oog,  in  der  ursprünglichen  Bedeutung:  der 
nichts  hat,  arm:  dann:  unglücklich,  wie  das  altgriechische  nO/uoi  und  in 
der  neugriechischen  Sprache  uaioog.  Indess  wird  es  oft,  und  so  auch  hier, 
ohne  alle  weitere  Bedeutung  von  Menschen  und  Sachen  gebraucht,  wie  das 
deutsche:  arm.  ^i)  ^TiegSäXia,  vielleicht  vom  altgriechisclien  nioÖouui, 
nooSaks'a,  mit  vorgesetztem  «,  wie  dies  häufig  in  der  altgrieclilschen  und  in 
der  neugriechischen  Sprache  vorkommt,  in  der  Bedeutung  des  Hässlichen,  Ekel- 
haften, Schmutzigen,  soviel  als  ab.scheulich.  Uebrigens  ist  dies  Wort  auch  oft 
ohne  tiefere  Bedeutung.  Die  neugriechische  Vulgarsprache  sagt  auch :  aTvao- 
Sä'/.ios.  -^)  Ar'  tTioiy.exev  —  ri  at'  (Tt  ra)  ETtoiaere.  ^Ertoly.a  (so  z.  B.  auch 
in  einem  der  von  mir  herausgegebenen  trapezuntischen  Volkslieder,  unter 
dem  Titel:  Mi'r^uoairor,  Leipzig,  1849,  S.  24,  Vers  21),  Aoristfürm  der  neu- 
griechischen Vulgarsprache,  entweder  aus  dem  altgriechischen  Perfectum 
TtETioirjy.a  entstanden  oder  einfach  In  derselben  Weise  zu  erklären,  wie  ähn- 
liche Aoriste  der  neugriechischen  Sprache  auf  xa,  z.  B.  affjy.a,  t&rjy.a, 
26)  Txa/J.T^y.ccQiv  —  nak/.Tjy.ä^iov. 

Leipzig. 

Dr.  The  od.  Kind. 


Die  Schwierigkeiten  correcten  Druckes. 

Wie  möglichste  Fehlerlosigkelt  bei  jedem  Druckwerke  höchst  wünschens- 
werth  erscheint,  so  ist  sie  bei  Lehr-  und  Schulbüchern  gradezu  unerlässlich, 
wenn  nicht  deren  Nutzen  mehr  oder  weniger  in  Frage  gestellt  werden  soll  — 
eine  Behauptung,  die  kaum  einer  nähern  Begründung  bedarf  und  welche 
heutzutage  von  der  Kritik  (z.  B.  auch  In  den  in  diesem  Archiv  enthaltenen 
Beurtheilungen)  oft  scharf  geimg  in's  Auge  gefasst  wird.  Da  nun  der  Leser- 
kreis des  Archivs  aus  Männern  besteht,  welche  wohl  fast  alle  theils  selbst 
Lehr-  und  Schulbücher  herausgeben,  theils  solche  in  ihrem  Berufe  benutzen, 
dabei  aber  zum  Theil  mit  dem  Betriebe  einer  Buchdruckerei  zu  wenig  be- 
kannt sein  können,  um  sich  über  die  Entstelmng  von  Druckfehlern  und  die 
Schwierigkelten  Ihrer  Beseitigung  völlig  klar  zu  sein,  so  möchte  denselben 
eine  kurze  Erörterung  dieses  Gegenstandes  einiges  Interesse  bieten,  zumal 
da  dem  Einen  oder  Andern  in  diesen  Zeilen  ein  Wink  gegeben  werden 
könnte,  bei  der  Herausgabe  von  Drucksachen  im  Interesse  einer  möglichsten 
Correctheit  Verhältnisse  zu  berücksichtigen,  welche  seiner  Beachtung  bisher 
entgangen  sind. 

Wenn  dem  Setzer  leserlich  und  correct  geschriebene  Mauuscripte  über- 
liefert werden,  so  wird  es  ihm  bei  gehöriger  Befähigung  und  einiger  Auf- 
merksamkeit nicht  schwer  fallen,  einen  ziemlich  fehlerfreien  Satz  zu  liefern ; 
aber  oft  genug  erhält  er  Handschriften,  bei  deren  erstem  Anblick  er  nicht 
zu  entscheiden  im  Stande  ist,  ob  sie  hebräisch,  koptisch  oder  chinesisch  ge- 
schrieben seien,  bis  er  zu  seiner  Beruhigung  entdeckt,  dass  sie  seine  Mutter- 
sprache enthalten,  deren  er  hinlimgllch  mächtig  ist,  um  wenigstens  den 
grössten  Theil  der  handschriftlichen  KUthsel  lösen  zu  können.    Bietet  aber 


452  Miscellen. 

ein  solches  unleserliches  Manuscript  eine  fremde  Sprache,  enthält  es  neben- 
bei allerlei  orthographische  und  sonstige  Inconsequenzen,  constructionver- 
wirrende  oder  überhaupt  nur  häufige  Correcturen  und  P^inschaltungen  (auf 
deren  genaue  Bezeichnung  manche  Autoren  leider  sehr  wenig  Sorgfalt  \ex- 
wenden),  Durchstreichtuigen,  die  zu  viel  oder  zu  wenig  Worte  tilgen,  unver- 
ständliche Abbreviaturen,  verwischte  Stellen,'  wortverdeckende  Dintenklexe 
und  Gott  weiss  was  soiist  für  Uebelstände,  und  der  Setzer  besitzt  keine 
hervorragende  wissenschaftliche  Ausbildung,  so  muss  seine  Arbeit  nothwendig 
von  Fehlern  wimmeln. 

Und  doch  wird  diese  Grundbedingung  eines  correcten  Druckes,  ein 
leserliches  und  reinliches  Manuscript,  ganz  gegen  das  Interesse  ihres  eigenen 
Werkes  von  so  vielen  Verfassern  ausser  Augen  gesetzt,  abgesehen  von  der 
Ungerechtigkeit  gegen  den  Setzer,  dem  sein  Verdienst  durch  den  auf  die 
Entziflerung  der  Handschrift  verwendeten  Zeitverlust  in  hohem  Grade  ge- 
schmälert wird.  I 

..Aber  ein  Setzer  sollte  doch  den  zu  seinem  Berufe  erforderlichen  Grad 
wissenschaftlicher  Bildung  besitzen ,"  wird  Mancher  entgegnen.  Ein  Druckerei- 
besitzer, bei  dem  sich  ein  Autor  wegen  schlechter  Correcturen  beschwerte, 
entgegnete  diesem  sehr  wahr:  „Herr  Professor,  wenn  meine  Setzer  so  viel 
Griechisch  verständen,  um  ein  solches  Manuscript  richtig  lesen  zu  können, 
so  würden  dieselben  vorziehen,  ii'gend  welches  Katheder  zu  besteigen,  an- 
statt sich  hier  vor  den  Setzkasten  zu  stellen."  Zur  Ehrenrettung  des  Standes 
nmss  übrigens  bemerkt  werden,  dass  nicht  wenige  Schriftsetzer  einer  ziem- 
lich bedeutenden  wissenschaftlichen  Ausbildung  sich  erfreuen  und  einzelne 
selbst  mit  manchen  in  Schulämtern  angestellten  Philologen  sich  messen 
könnten. 

„Nun,  so  sollte  man  nur  Solchen  so  schwierige  Arbeiten  anvertrauen!" 
wird  man  sagen.  Hierauf  ist  zu  antworten:  Intelligente  Setzer  sind  meisten- 
theils  nicht  in  Verlegenheit  wegen  ihres  Unterkommens  und  ziehen  oft  den 
Austritt  aus  dem  Geschäft  einer  unvortheilhaften  Arbeit  vor,  falls  sie  nicht 
anderweitig  gebunden  sind;  die  unbefähigten  dagegen,  die  des  lieben  Brotes 
wegen  sich  jede  Art  von  Arbeit  gefallen  lassen  müssen,  oder  strebsame  An- 
fänger, welche  sich  der  Uebung  und  Belehrung  wegen  einer  solchen  frei- 
willig unterziehen,  bilden  unter  den  an  schwierigen  Manuscripteu  Arbeitenden 
die  Mehrzahl,  es  sei  denn,  dass  der  Verdienst  liei  solchen  Werken  auch  den 
Anspruchsvolleren  genüge.  Aber  bei  dem  Kostenaufwande,  welcher  mit 
wissenschaftlichen  Werken,  wenigstens  den  umfangreicheren,  verbunden  ist 
und  welcher  den  Verleger  oder  Druckereibesitzer  zur  grössten  Sparsamkeit 
nöthigt,  wird  es  diesem  in  den  seltensten  Fällen  möglich  sein,  bei  solchen 
Arbeiten  einen  vorzüglichen  Satzpreis  zu  stellen,  welcher  für  die  durch  die 
schlechte  Beschaffenheit  des  Manuscripts  entstehenden  Nachtheile  entschä- 
digen könnte.  Ferner  gibt  es  zwar  Zeitperioden,  wo  viele  Setzer  arbeitslos 
umherreisen,  eben  so  oft  aber  auch,  wo  es  schwierig  ist,  deren  überhaupt  zu 
bekommen,  wo  also  für  den  Principal  eine  Auswahl  zwischen  guten  und 
schlechten  Setzern  gar  nicht  ausführbar  ist. 

Nach  Vollendung  des  Satzes  geht  nun  der  Correcturbogen  in  die  Hände 
des  Correctors,  von  dem  wir  voraussetzen  wollen,  dass  er  die  nöthige  Be- 
fähigung besitzt.  Hierzu  gehört  aber  ausser  einer  soliden  allgemein -wissen- 
schaftlichen Bildung  vor  Allem  ein  gewisses  Spürtalent,  verbunden  mit  einem 
geübten  Auge;  mit  diesen  Eigenschaften  ausgerüstet,  wird  er  schon  bei  ein- 
maliger Correctur  den  Abzug  von  fast  allen  Fehlern  reinigen  können,  falls 
dieser  in  Folge  guten  Manuscripts  deren  nicht  gar  zu  viele  enthält,  dies  ist 
aber  unmöglich  im  umgekehrten  Falle.  Es  ist  eine  alte  Erfahrung,  dass  je 
mehr  Fehler  eine  Correctur  enthält,  um  so  mehr  auch  übersehen  werden^ 

Die  Druckfehler  oder  richtiger  Setzfehler  beruhen  aber  einerseits  auf 
Schwierigkeiten  des  Manuscripts  und  wissenschaftlicher  Unfähigkeit  der 
Setzer,  wodurch  theilweis   oder  ganz  falsche  Worte  und  Wortformen,   also 


Miscellen.  453 

sinnentstellende  und  grammatische  Fehler  entstehen;  was  aber  Stylfchler 
bctrifFt,  so  darf  Herr  Dr.  Sachs,  wenn  er  wieder  einmal,  wie  er  es  mit  vielem 
Hecht  im  23.  Bande  des  Archivs  Seite  204  The  Eiiglish  Prepositions  etc. 
thiit,  nachlässigen  Druck  rügen  nuiss,  getrost  davon  abstehen,  aus  Artigkeit 
gegen  den  Verfasser  solche  Fehler  dem  Setzer  in  die  Schuhe  schieben  zu 
wollen  oder  gar  dem  Drucker,  wie  er  nach  Analogie  des  allgemein  üblichen 
und  auch  von  mir  in  diesen  Zeilen  gebraucliten  Ausdrucks  „Druckfehler" 
statt  des  richtigeren  „Setzfehler"  sieh  ausdrückt;  der  Drucker  wenigstens  ist 
an  allen  Fehlern  unschuldig.  Wenn  aber  ein  Setzer  sich  Styländerungen 
erlauben  sollte,  so  wird  es  gewiss  wohl  nur  von  einem  der  intelligenteren 
geschehen,  wobei  schwerlich  Verböserungen  statt  Verbesserungen  zu  Tage 
kommen  werden. 

Andrerseits  beruhen  die  Fehler  auch  auf  den  technischen  Manipulationen 
des  Setzers.  Wenn  er,  um  seinen  geleerten  Setzkasten  wieder  zu  füllen,  aus- 
gedruckte Seiten  auseinandernimmt,  um  von  den  einzelnen  Buchstaben  der 
Worte  einen  jeden  in  das  ihm  gebührende  Fach  des  Setzkastens  zu  bringen 
(der  technische  Ausdruck  hierfür  ist:  Schrift  ablegen),  so  ist  es  kaum  zu 
vermeiden,  dass  nicht  bisweilen  ein  Buchstabe  statt  in  sein  richtiges  Fach 
in  irgend  ein  anderes,  besonders  ein  benachbartes,  geräth.  Wollte  sich  nun 
der  Setzer  beim  Setzen  nach  jedem  Grifli"  in  ein  Fach  erst  überzeugen,  dass 
er  keinen  falschen  Buchstaben  erfasst  hat,  so  wäre  damit  ein  allzugrosser 
Zeitverlust  verbunden;  er  nimmt  vielmehr  stillschweigend  an,  dass  dieses 
Fach  lauter  a,  jenes  lauter  b,  ein  drittes  lauter  c  u.  s.  w.  enthält,  und  daher 
entstehen  Fehler  wie  Tater  statt  Vater,  Blrme  statt  Blume  (Ablegefehler). 
Ferner  veranlasst  die  Schnelligkeit  des  Arbeitens  auch  viele  umgekehrt 
stehende  Buchstaben  (lieSen).  Sollten  solche  kleine  Fehler  übersehen 
werden,  so  wird  das  die  Kritik,  falls  dieselben  nur  vereinzelt  vorkommen, 
leicht  verzeihen  können,  misslicher  aber  wird  es,  wenn  solche  Fehler  sinn- 
entstellend sind. 

Da  quält  sich  nun  bisweilen  der  arme  Corrector  ab  bei  einer  Correctur, 
die  mit  Fehlern  aller  Art  so  reichlich  gespickt  ist,  dass  er  selbst  oft  den 
Wald  vor  Bäumen  nicht  sehen  kann  und  mancher  arge  Schnitzer  seinem 
Blicke  entgeht.  Traurig  ist  es,  wenn  der  Zeit-  und  Geldersparniss  wegen 
solche  Arbeiten  mit  einer  einmaligen  Correctur  abgemacht  werden,  indess 
wird  der  Corrector  meist  noch  mit  einer  zweiten  Lesung  beauftragt.  Aber 
da  muss  er  denn  zu  seinem  Aerger  auf  dem  zweiten  Abzüge  wahrnehmen, 
dass  der  Setzer  wegen  der  Menge  der  angestrichenen  Fehler  nicht  wenige 
derselben  und  oft  recht  ärgerliche  übersehen  hat.  Zu  den  stehengebliebenen 
Fehlern  gesellt  sich  nun  meist  noch  ein  artiges  Sümmchen  neuentdeckter 
und  die  zweite  Correctur  sieht  noch  so  bunt  aus,  dass  wahrscheinlich  wieder 
der  eine  oder  der  andere  Fehler  vom  Setzer  übergangen  wird,  wozu  dann 
noch  diejenigen  kommen,  welche  der  Corrector  selbst  übersehen  hat.  Denn 
auc-h  er  ist  nicht  immer  im  Stande,  alle  Schwierigkeiten  des  Manuscripts  zu 
besiegen  und  selbst  bei  den  tüchtigsten  Fachmännern  sucht  er  oft  vergebens 
sich  Raths  zu  erholen,  ist  es  ja  doch  vorgekommen,  dass  der  Autor  selbst 
eine  schwierige  Stelle  seines  Manuscripts  nicht  zu  lesen  vermochte. 

Der  Corrector  muss  aber,  um  gut  zu  lesen,  sich  in  einem  von  Störungen 
freien  Arbeitslocal  befinden,  vor  allen  Dingen  aber  gehörige  Gemüthsruhe 
besitzen.  Die  Störung  derselben  z.  B.  durch  Aerger  über  abscheulichen 
Satz  oder  sonstigen  Verdruss  wirkt  nicht  nur  höchst  nachtheiiig  auf  sein 
geistiges,  sondern  selbst  auf  sein  leibliches  Auge,  und  dies  würde  bisweilen 
in  einem  noch  höhern  Grade  geschehen,  wenn  nicht  mitunter  wahrhaft  gottvoller 
Unsinn,  der  vielleicht,  seinem  Erzeuger  unbewusst,  den  köstlichsten  Humor 
von  der  Welt  enthält,  sich  in  die  Correctur  einschliche  und  ihn  zu  einer 
gewissermassen  entschädigenden  und  erfrischenden  Heiterkeit  zwänge.  Zu 
den  Hindernissen  für  den  Corrector,  seine  Arbeit  mit  Ueberlegung  ver- 
richten zu  können,  gesellt  sich  noch  oft  ein  anderer  Umstand.    Verhältnisse, 


454  Miscellen. 

die  im  Gechäftsbetriebe  einer  Buchdruckerei  begründet  und  kaum  za  besei- 
tigen sind,  deren  nähere  Erörterung  für  Unkundige  aber  zu  weit  abführen 
würde,  machen  es  bisweilen  unerlässlich,  irgend  einen  Bogen  bis  zu  einer 
bestimmten  Frist  in  Satz  und  Correctur  beendigt  zu  haben,  wenn  nicht  das 
Geschäft  empfindliche  Nachtheile  erleiden  soll.  In  solchen  Fällen  kann  die 
Eile,  zu  der  der  Corrector  angetrieben  wird,  nur  höchst  nachtheilig  auf  seine 
Leistung  wirken,  und  manche  unsichere  Stelle,  über  die  er  sich  durch  Nach- 
schlagen in  Büchern  Gewissheit  verschafft  hätte,  muss  er  nun,  wegen  Mangel 
an  Zeit  dazu,  sich  selbst  überlassen. 

Auch  der  Setzer  muss  sich  dann  mit  der  Berichtigung  der  Fehler  be- 
eilen und  übersieht  aus  diesem  oder  einem  andern  Grunde  Dies  und  Jenes; 
er  muss  vielleicht  einen  sinnentstellenden  Fehler  belachen,  er  theilt  denselben 
seinen  Collegen  mit,  es  fehlt  nicht  an  mancherlei  witzigen  Bemerkungen 
und  dies  erzeugt  bei  ihm  eine  solche  Zerstreuung,  dass  er  den  Fehler 
bereits  berichtigt  zu  haben  glaubt,  wenn  er  nach  dem  Gespräch  mit  seinen 
Nachbarn  wieder  an  die  Arbeit  eilt,  und  so  spukt  der  alte  Fehler  noch 
immer  in  der  Correctur. 

??  Die  meisten  Werke  werden  vor  dem  Druck  von  ihren  Verfassern  noch 
einmal  überlesen  und  so  geht  denn  ein  Abzug  nach  vorhergängiger  Berich- 
tigung durch  den  Corrector,  wo  diese  Arbeit  nicht  vom  Verfasser  selbst 
verrichtet  wird,  an  den  Letzteren  ab.  Nun  gibt  es  Autoren,  welche  neben 
ihren  Kenntnissen  auch  grosses  Geschick  zum  Correcturenlesen  und  oft  so- 
gar ein  so  geübtes  Auge  besitzen,  dass  ihnen  z.  B.  in  lateinischer  Schritt 
kaum  ein  verkehrtes  s  oder  ein  eckiger  Punkt  (est  statt  est,  .  statt  .)  ent- 
geht. Solche  Autoren  dürfen,  wenn  sie  die  nöthige  Mühe  und  Zeit  auf 
ihre  Correctur  verwenden  wollen  und  der  Corrector  nur  einigermassen  ge- 
nügend vorarbeiten  konnte,  auf  einen  sehr  correcten  Druck  ihrer  Werke 
rechnen,  denn  selten  wird  es  geschehen,  dass  die  von  ihnen  angezeichneten 
Fehler  übersehen  würden,  da  der  Geschäftsführer  der  Druckerei  (Factor) 
vor  dem  Drucke  revidirt,  d.  h.  auf  einem  eigenen  Abzüge  sich  überzeugt, 
dass  Alles  berichtigt  ist.  Wo  keine  genaue  Revision  stattfindet  und  viel- 
leicht der  Verfasser  auf  seiner  Correctur  sich  nicht  vollkommen  deutlich 
ausgedrückt  hat,  ist  diese  Sicherheit  freilich  weniger  gross.  So  wurde  z.  B. 
in  einer  gewissen  üfficin  ein  griechischer  Dichter  mit  lateinischen  Anmer- 
kungen gedruckt  und  der  Herausgeber  fand  auf  seinem  Correcturbogen,  dass 
die  eine  Note  nicht  in  der  richtigen  Reihenfolge  stand.  Er  schrieb  deshalb 
neben  dieselbe:  „Dies  gehört  weiter  hinauf!"  indem  er  dem  Setzer  so  viel 
Verstand  zutraute,  er  werde  die  betreffende  Note  weiter  oben  an  der  rich- 
tigen Stelle  einfügen.  Als  der  Autor  nach  Vollendung  des  Druckes  die  be- 
treffende Seite  wieder  zu  Gesicht  bekam,  fand  er  die  erwähnte  Note  noch 
immer  an  jener  unrichtigen  Stelle,  der  geistreiche  Setzer  hatte  sie  jedoch 
jetzt  mit  dem  Zusatz  versehen:  „Dies  gehört  weiter  hinauf!"  (Die  einzigen 
deutschen  Worte  im  ganzen  Werke!) 

Ebenso  gibt  es  aber  auch  eine  grosse  Anzahl  von  Schriftstellern,  welche 
kaum  das  Geringste  von  dem  nöthigen  Spürtalent  eines  Correctors  besitzen, 
die  trotz  ihrer  Gelehrsamkeit  die  crassesten  Fehler  übersehen.  Solchen, 
ist  kein  anderer  Ruth  zu  erthellen,  als  für  einen  tüchtigen  Corrector 
zu  sorgen,  dem  die  nöthige  Müsse  gelassen,  mindestens  eine  zweimalige 
Correctur  übertragen  und  die  Möglichkeit  gegeben  wird,  vor  dem  Druck 
sich  von  der  Berichtigung  der  von  ihm  gezeichneten  Fehler  selbst  zu  über- 
zeugen. Denn  die  vom  Verfasser  zurückgesendete  Correctur  (Verfasser- 
correctur)  ist  von  seiner  Seite  das  Eingeständniss,  dass  der  Bogen  so,  wie 
er  ihn  zurückgebe,  zum  Druck  gut  sei,  und  die  OfTScin  hat  ihm  gegenüber, 
falls  sie  sich  genau  an  seine  Correctur  hält,  keine  Verbindlichkeiten,  mag 
er  später  noch  so  viel  über  fehlerhaften  Druck  sich  beklagen  wollen.  Bis- 
weilen wird  eine  solche  Verfassercorrectur  auch  sehr  mit  Unrecht  als  ein 
unantastbares  Orakel  betrachtet  und  so  mancher  Factor,  der  bei  der  Revi- 


Miscellen.  455 

slon  noch  ein  Versehen  entdeckt,  wird  sich  die  Berichtigung  desselben  nicht 
erlauben,  wenn  es  sich  nicht  auch  für  ihn,  der  im  specielliii  Falle  vielleicht 
ein  wenig  competenter  Beurtheilcr  ist,  ganz  evident  als  solches  herausstellt, 
während  doch  auch  die  Autoren  Vieles  übersehen,  ja  aus  Uebercilung  auch 
einmal  falsch  corrigiren  können. 

Sehr  zweckmässig  ist  es,  wenn  besonders  bei  solchen  Verfassercorrec- 
turen,  auf  deren  Correctheit  man  sich  nicht  vollständig  verlassen  kann,  vom 
Factor  nicht  bloss  revidirt  (verglichen),  sondern  der  ganze  Bogen  noch  ein- 
mal überlesen  wird,  da  er  gewiss,  wenn  er  der  Sprache  mächtig  ist,  noch 
Manches  verbessern  wird.  Einer  so  vielfachen  Jagd  bedarf  bisweilen  ein 
auffallender  Fehler,  um  beseitigt  zu  werden!  Ueberhaupt  kann  ein  recht 
oftmaliges  Correcturlesen  nicht  dringend  genug  befürwortet  werden,  denn 
es  ist  unglaublich,  aber  durch  Erfuhrung  bestätigt,  wie  leicht  auch  geübten 
Augen  auffallende  Fehler  mehrmals  entgihen  können,  die  bei  nochmaliger 
Lesung  durch  ein  violleicht  weniger  geübtes  zufällig  entdeckt  werden.  Der 
Gründer  der  berühmten  Firma  Tauchnitz  in  Leipzig  wünschte  seinen  stereo- 
tyi'irten  Homer  fehlerlos  herzustellen  und  gelobte  nach  zehnmaliger  sorg- 
fältiger Correctur  für  jeden  noch  zu  entdeckenden  Druckfehler  einen  Du- 
caten,  aber  nur  zu  bald  musste  er  die  grosse  Zahl  der  Einsendungen  von  Auf- 
findungen derselben  recht  unangenehm  empfinden. 

Sollte  man  es  aber  für  möglich  halten ,  dass  nach  Absetzung  eines 
guten  Manuscripts  durch  gute  Setzer,  nach  mehrmaliger  guter  Correctur 
und  gehöriger  Kevision  in  einem  zum  Druck  für  gut  erklärten  Bogen  noch 
Druckfehler  neu  entstehen  können?  Folgen  wir  dem  Setzer,  der  soeben 
die  RcNdsion  vom  Factor  empfing,  an  die  Presse,  wo  er  dieselbe  berichtigt. 
Der  Factor  hat  unter  Anderm  einen  Buchstaben  angestrichen,  welcher  sich 
zu  schwarz  abdruckt,  indem  irgend  ein  kleiner  Gegenstand  unter  denselben 
gerathen  ist  und  ihn  über  das  Niveau  der  übrigen  emporhebt.  Der  Setzer 
versucht,  durch  das  Herausziehen  dieses  Buchstabens  und  seiner  Nachbarn 
aus  dem  hierdurch  entstandenen  leeren  llaum  den  störenden  Gegenstand 
vermittelst  seiner  Ahle  zu  entfernen,  da  es  ihm  aber  nicht  gelingen  will, 
steckt  er  die  Buchstaben  wieder  hinein  und  bittet  den  Drucker,  die  zum 
Behufe  des  Corrigirens  gelockerte  Form,  d.  b.  die  durch  einen  Rahmen  um- 
spannten einzelnen  Seiten,  wieder  fest  zusammenzuschliessen,  so  dass  sie 
sich  in  Gestalt  einer  Platte  emporheben  lassen,  damit  er  von  der  untern 
Seite  her  dem  Uebelstande  abhelfen  könne.  Der  Drucker  verspricht  ihm, 
die  Sache  selbst  in  Ordnung  zu  bringen  und  thut  dieses  auch,  während  der 
Setzer  sich  wieder  entfernt.  Aber  aus  der  nicht  fest  genug  zusammen- 
geschlossenen Form  fällt  hierbei  ein  Buchstabe  heraus;  da  derselbe  nirgends 
anders  hingehören  kann,  als  in  das  hierdurch  in  der  Schriftform  entstandene 
Loch,  glaubt  der  Drucker,  denselben,  ohne  den  Setzer  incommodiren  zu 
brauchen,  selbst  wieder  an  den  richtigen  Ort  bringen  zu  können :  er  voll- 
führt es,  aber  es  passirt  ihm  nur  das  kleine  Versehen,  dass  er  die  obere 
Seite  desselben  nach  unten  kehrt,  und  so  kann  es  denn  geschehen,  dass  ein 
stellesuchender  Candidat,  der  seinen  hochgestelHen  Gönner  in  einem  Geburts- 
tagscarmen mit  dem  horazischen  „mearnm  grande  decus  columen(|ue  rerum" 
angesungen  hat,  vielleicht  erst  nach  Absendung  des  Prachtexemplars  auf 
einem  anderweitigen  Abzug  entdeckt,  dass  .sein  Mäcen  trotz  der  sorgfältig- 
sten Correcturen  als  „grande  pecus"  begrüsst  ist.*) 


*)  Dieses  Beispiel  eines  durch  den  Drucker  veranlassten  Fehlers  wider- 
spricht keineswegs  meiner  obigen  Behauptung  von  der  völligen  Unschuld 
des  Druckers  an  allen  F'ehlern  und  von  der  Unrichtigkeit  des  Ausdrucks 
Druckfehler.  Denn  insofern  hier  der  Drucker  die  Function  des  Setzers 
übernimmt,  ist  er  als  solclier  zu  betrachten,  und  begeht  durch  das  falsche 
Hineinsetzen  des  herausgefallenen  Buchstabens  einen  Setzfehler. 


456  Miscellen. 

Im  Allgemeinen  hat  jedenfalls  in  letzter  Instanz  der  Verfasser  die  Ver- 
antwortlichkeit  des  correcten  Druckes  zu  übernehmen,  wo  derselbe  diese 
dem  Corrector  übertragen  und  ihm  die  Bedingungen  einer  sorgfältigen 
Correctur  gewährleistet  hat,  fällt  dieselbe  natürlich  auf  Letzteren.  Die 
Kritik  möge  aber  bei  ihrer  Beurtheilung  von  Druckfehlern  die  mannigfachen 
Schwierigkeiten  nicht  vergessen,  welche  ihre  Veranlassung  sind,  dagegen 
bei  offenbarer  Leichtfertigkeit  Seitens  des  Verfassers,  des  Correctors  oder 
der  Officin  fortfahren,  im  Interesse  des  Zweckes  von  Druckschriften,  Nach- 
lässigkeiten in  der  Correetheit  auch  fernerhin  mit  aller  Strenge  zu  ahnden. 

Braunschweig.  ^^  ^ ^^^^^ 


Bibliographischer  Anzeiger. 


Allgemeines. 

Hornav,  Ursprung  und  Entwickelunsr  der  Sprache.  Erster  Theil.  (Berlin, 
Wagner.i  IV^Thlr. 

A.  Lüben,  Grundsätze  und  Lehrgänge  für  den  Sprachunterricht.  (Leipzig, 
Brandstetter.)  6  Sgr, 

Roorbach,  Orville  A.,  Addenda  to  the  Bibliotheca  Americana:  a  Cata- 
logue  of  American  Publications  from  May,  1855,  to  March,  1858.  (New 
York.  —  London,  Triibuer.)  lä  s. 


Lexicographie. 

W.  Hoffmann,  Vollständiges  Wörterbuch  der  deutschen  Sprache.  48.  Heft. 
Leipzig,  Dürr.)  l^l^  Sgr. 

R.  V.  Kaumer,  Das  deutsche  Wörterbuch  der  Gebrüder  Grimm  und  die 
Entwickelung  der  deutschen  Schriftsprache.     (Wien,  Gerold.)      6  Sgr. 

K.  J.  Schröer,  Beitrag  zu  einem  W^örterbuche  der  deutschen  Mundarten 
des  ungarischen  Berglandes.     (Wien,  Gerold.)  10  Sgr. 

C.  A.  F.  Mahn,  Etymologische  Untersuchungen  auf  dem  Gebiete  der  ro- 
manischen Sprachen.     9  — 12.  Specimen.     (Berlin,  Dümmler.)     12  Sgr. 

F.  Booch-Arkossy,  Neuestes  und  vollständiges  spanisch-deutsches  und 
deutsch-spanisches  Wörterbuch.    2  Bde.     (Leipzig,  Teubner.)   4  Thlr. 


Grammatik. 

G.  K.  F.  de  Castres,  Das  französische  Verb,  dessen  Anwendung  und 
Formen  aus  Beispielen  älterer  und  neuerer  Schriftsteller  erklärt.  (Leip- 
zig, Violet.)  lö  Sgr. 

Neuer  Lehrgang  zur  Erlernung  der  Flämischen  Sprache  für  Deutsche  von 
W.  Herx.    (Aachen,  Kornicker.) 


Literatur. 


H.  Vieh  off,  Goethe's  Leben.    3.  Auflage.    (Stuttgart,  Becker.;     ä  Lfrg. 

C  Sgr. 
C.  Tomaschek,   Schiller'a  Wallenstein.    Ein  Vortrag.     (Wien,    Gerold.) 

8  Sgr. 


458  Bibliographischer  Anzeiger. 

E.  Palleske,  Schiller's  Leben  und  Werke.   Erster  Band.   (Berlin,  Besser.) 

2  Thlr, 

W.  Menzel,  Deutsche  Dichtung  von  der  ältesten  Zeit  bis  auf  die  neueste. 

5.  u.  6  Lfrg.     (Stuttgart,  Krabbe.)  h  T'/a  «gr. 

F.  Paldaraus,  Deutsche  Dichter  und  Prosaisten  von  der  Mitte  des  fünf- 

zehnten Jahrhunderts  bis  auf  unsre  Zeit,  nach  ihrem  Leben  und  Wirken 
geschildert.     6.  Lfrg.     (Leipzig,  Teubner.)  5  Sgr. 

I.  W.  Loebell,  Die  Entwickelung  der  deutschen  Poesie  von  Klopstock's 
erstem  Auftreten  bis  zu  Goethe's  Tode.  Zweiter  Band.  (Braunschweig, 
Schwetschke  u.  Sohn.)  1  Va  Thlr. 

K.  Kliipfel,  Gustav  Schwab;  sein  Leben  mid  Wirken.  (Leipzig,  Brock- 
haus.) .  1  Thlr.  24  Sgr. 

Oeuvres  de  Rabelais  collationnees  pour  la  premiere  fois  sur  les  eJitions 
originales  p.  Burgaud  des  Marets  et  Rathery.  T.  IL  (Paris, 
Didot.)  1  Thh".  .5  Sgr. 

J.  Vogel,  Augustin  Thierry  als  Geschichtschreiber  und  Politiker.  Eine  bio- 
graphische Skizze.     (Zürich,  Meyer  u.  Zell  er.)  12  Sgr. 

Shakspeare'sche  Dramen.  Uebersetzt  von  Heinichen.  L  Cymbeline.  (Bonn, 
Marcus.)  15  Sgr. 

W.  Hamm,  Shelley.     Biographische  Novelle.     (Leipzig,  Thomas.)     25  Sgr. 

G.  M.  Thomas,    lieber  neuaufgefundene  Dichtungen  F.  Petrarca's.     Vor- 

trag.    (München,  Franz.)  T'/o  Sgr. 


Hilfsbücher. 

C.  H.  Wich  man,  Leitfaden  für  den  Unterricht  in  der  deutschen  Sprache. 
2.  Cursus.     (Hamburg,  Jowien.)  ,  6  Sgr. 

J.  H.  Mowing,  Aufsatzschule,  Sammlung  von  Stoll  zu  Aufsatzübungcn 
für  geübtere  Schüler.  (Langensalza,  Schulbuchhandlung  d.  Thür. 
L.  V.)  1  Thlr. 

G.  Geppert,  A.  Gutsche  und  G.  Schütze,  Deutscher  Styl,  oder  metho- 
disch geordnetes  Aufgabenbuch  zum  Unterricht  im  mündlichen  und 
seh  iftlichen  Gedankenausdrucke.     (Breslau.  Hainauer.)  T*/^  Sgr. 

F.  W.  Burbach,  Praktisches  Sprachbuch  für  die  mittleren  und  oberen 
Classen  der  Elementarschule.  2.  Auflage.  (Bielefeld,  Velhagen  und 
Klasing.)  T'/a  Sgr. 

L.  Ger  lach.  Kleine  deutsche  Sprach-  und  Rechtschreibelehre.  (Dessau, 
Neubürger.)  2'/^  Sgr. 

C.  Graf,  Lehrgang  und  Lehrstoff  für  den  Unterricht  in  der  deutschen 
Sprache.    Satzlehre  und  Stylübungen.    (Leipzig,  Klinkhardt.)    12  Sgr. 

A.  B  o  1 1  z ,  Neuer  Lehrgang  der  französischen  Sprache  nach  der  Robert- 
son'schen  Methode.    Erster  Theil.     (Berlin,  Peters.)  */3  Thlr. 

W.  Crurap,  Reading  made  easy.  Neuestes  englisches  Lesebuch  nach  dem 
Robertson'schen  System  bearbeitet.     (Berlin.  Wagner.)  11  Sgr. 

L.  Herr  ig,  The  British  Classical  Authors.  Select  specimens  of  the  na- 
tional literature  of  England  from  G.  Chaucer  to  the  present  time.  With 
biographical  and  critical  sketches.  Poetry  and  prose.  Achte  Auflage. 
(Braunschweig,  Westermann.)  1  Thlr.  10  Sgr. 


Inhalts  -  Yerzeichniss  des  XXIIL  Bandes. 

A  b  h  a  n  d  1  u  n  ff  e  D.  Seite 

Vorschlag  zu  einer  Encyclopädle  der  modernen  Philologie.   Von  Dr.  C. 

Sachs 1 

Ungedruckte  Briefe  a.  d.  Nachhisse  J.  A.  Ebert's.  Von  Dr.  A.  Glaser  9 
Beiträge     zur  englischen  Lexikographie.     (Zweiter   Artikel.)     Von     G. 

Büchmann 25 

Spenser  und  seine  Fairy  Queen.     Von  H.  Schmick 39 

I.  Das  Urtheil  des  Herrn  von  Sehack  über  MoKeres  femmes  savantes  03 
IL  Moliere    und  der   Conventionelle  Standpunkt    seiner  Zeit.     Von  Dr. 

C.  Humbert 100 

Bemerkungen  über  den  VIcar  of  Wakefield.  Von  Ad.  Wagler.  .  .  141 
Sitzungen    der   Berliner    Gesellschaft    für    das    Studium    der    neueren 

Sprachen 155 

L  Was  spricht  die  Sprache? 221 

IL  Was  bedeuten  die  Töne?    Von  Krüger 228 

Charakterbilder  aus  Lessings  J^milia  Galotti.     Von  Dr.  Niemeyer      .  237 

Ueber  das  Französisch -Sprechen  auf  Schulen.  Von  Dr.  Weigand  .  2.')9 
Zur  Erläuterung  von    W.   Shakspeare's  Antony   and    Cleopatra.     Von 

Carl  Blumhof. 2C9 

Zur  Kritik,    P>klärung    und    Uebersetzung    Shakspere's.     Von    H.    J. 

Heller 291 

Martinus  Folonus  Chronik  der  Kaiser  und  Päpste,  herausgegeben  von 

San  Marte  (A.  Schulz) 337 

Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft  für  das  Studium  der  neueren  Sprachen  40-t 

ßeurtheilungen   und    kurze  Anzeigen. 

Parcival.     Rittergedicht  von  W.  v.  J2schenbach.     Aus    dem  Slittelhoch- 

deutschen  übersetzt  von  San  Marte.  (B.  Büchsenschütz)  .  .  IGl 
Der  Harlner  am  Heerd.  Ein  lyrischer  Cyclus  von  A.  Schults  .  .  .  1C4 
Gedichte  von  Carl  Stelter.     (Dr.  Kruse) IGG 

A.  Das  ethnographische  Verhältniss  der  Gelten  und  Germanen  von  Dr. 

H.  B.  C.  Brandes.     (Dr.  Mahn.) 170 

B.  Gelten  und  Germanen  von  A.  Holtzmann.     (Dr.  Mahn.)    .     .     .     .  l'O 

Zur  Shakspeare  -  Literatur.     (Dr  S.) 174 

Grammalres    proven^ales   de    Hugues    Faidit   et  de  Rajinond  Vidal  de 

Besaudun.     Par  F.  Guessard.     (Dr.  S.) 177 

Flowers  of  poetry.  By  Dr.  M.  Luedecking.  (Dr.  Oswald.)  .  .  .  178 
Die    Schauspiele   Calderons,    dargestellt    und    erläutert   von  F.  W.  V. 

Schmidt.     Herausgegeben  von  L.   Schmidt 184 

Anleitung,   dichterische  Sieisterwerke  auf  eine  geist-  und  herzbildende 

Weise  zu   lesen  und  sich  dauernd  anzueignen.     Von  Dr.  Eckardt. 

(Dr.  Sachse.) 185 

Bibliothek   gediegener    und  interressanter   französischer  Werke.     Von 

Dr.  A.  Göbel.     (Dr.  Weeg.) 180 

Vollständiger  Lehrgang  zur  Erlernung  der  englischen  Sprache,  von  H. 

Plate.     (IL  Schmick) 187 

Elementarbuch  der  Iranzösischen  Sprache,  von  Dr.  C.  A.  Wittenhank. 

(F.  Brockerhoff.; 188 


Hand-   und  Hülfsbuch  der   Spanischen  Sprache  und  Literatur  im  19. 

Jahrhundert.     Von  F.  Booch-Arkossy.     (Dr.  Buch  mann.)    .     .     .     192 

Neuer    Lehrgang   der    Spanischen  Sprache    nach    der   Robertsonschen 

Methode  von  Dr.  A.  Boltz.     (Dr.  Buch  mann.) 195 

Spanisch  -  Deutsches    Lesebuch   zum    Schulgebrauch.     Gesammelt   von 

Guillermo  de  Duve  y  Huebener.     (Dr.  Büchmann.) 19C 

Deutsche  Studien.     Von  H.  Plate.     (Dr.  Büchmann.) 197 

Ulfilas.  Die  heiligen  Schriften  alten  und  neuen  Bundes.  Von  H.  F. 
Massmann.  —  Ulfila,  oder  die  uns  erhaltenen  Denkmäler  der  gothi- 
schen  Sprache.     Herausgegeben  von  F.  L.  Stamm.  (Dr.  Sachse.)     415 

Lehrbücher  der  englischen  Sprache 416 

1.  Französische  Fibel  und  erste  französische  Grammatik.  Von  Dr. 
M.  R.  Friedmann.  —  2.  Französisches  Elementarbuch  von  Dr.  B. 
Schmitz.  —  3.  Aufgaben  über  die  Regeln  der  französischen  Sprache 
von  A.  Frege.  —  4.  Die  regelmässigen  und  unregelmässigen  franzö- 
sischen Zeitwörter  von  Stolzenburg.  —  5,  Französisches  Uebungs- 
buch  von  F.  Rempel.  —  C.  Cours  de  syntaxe  fran9aise  (Crouze)     418 

Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit 422 

Programmenschau. 

Schiller's  Wallenstein.     Von  W.  Winterstein.    (Dr.  Büchsenschütz)  198 

Des  reformes  litteraires  operees  par  Malherbe,  von  Prof.  Borel   .     .     .  200 

Französische  Etymologien  vom  Oberlehrer  Langensiepen      .     ...     .     .  200 

Beiträge  zur  Lexikographie  des  Altfranzösischen.     Von  Dr.    Jensch      .  202 

Henry  Wadsworth  Longlellow  von  G.  Büchmann     (H.) 203 

The  English  Prepositions  Compared  In  theirs  use  with  those  of  other 

languages.     By  Dr.  E.  Thieler.     (C.  Saclis.) 204 

Die  freie  deutsche  Arbeit  in  Prima.     Von  Dr.  H.  Wendt 425 

Ueber  die  Einwirkung  der  vergleichenden  Grammatik  auf  die  Methode 

des    französischen    Unterrichts    an    Gymnasien.      Von    W^    Horn- 

bostel  (H.) 441 

Ueber  die  drei  ältesten  süd-  und  nordfranzösischen  Grammatiken.  (J.)  442 
Des  Grafen  Bernardino  ReboUedo  Selvas   Danicas.     Von  L  Bendixen. 

(Dr.  Büchsenschütz) 442 

MI  s  Celle  n. 

Seite  205  —  218.  444  —  45G. 
Bibliographischer  Anzeiger. 

Seite  219  -  220.  457  —  458. 


PB       Archiv  für  das  Studium 
3  der  neueren  Sprachen 

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Bd. 23 


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