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ARCHIV
FÜR DAS
STUDIUM DER NEUEREN SPRACHEN
UND LITERATUREN.
HERAUSGEGEBEN
LUDWIG HERRIG.
XIII. JAHRGANG, 23. BAND,
BRAUNSCHWEIG,
DRUCK UND VERLAG VON G Eü UGE W E STE KM A N N.
185 8.
As
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1.
S
Vorwort.
Die Hoffnungen, welche der Herausgeber bei der Gründung
dieser Zeitschrift im Jahre 1846 aussprach, sind ihrer Erfüllung
immer näher gekommen. Die neuern Sprachen dürfen nicht
mehr als ein blosses Anhängsel, sondern sie müssen als ein we-
sentlicher Theil in dem Organismus des Schulunterrichtes behan-
delt werden.
Viele haben mit Theilnahme wahrgenommen, dass es der
Zeitschrift in den letzten zwölf Jahren gelungen ist , die so leicht
sich zersplitternden Kräfte zu sammeln und zur Pflege eines
früher höchst vernachlässigten wissenschaftlichen (iebietes zu
vereinigen. Gegenwärtig tritt die Zeitschrift in ein neues Sta-
dium. Durch die Bemühungen ihrer Mitarbeiter ist nämlich
gegen Ende des vorigen Jahres in |Berlin eine „Gesellschaft für
das Studium der neueren Sprachen" entstanden, welche sich mit
der Grammatik, Geschichte und Literatur der neueren Sprachen
beschäftigt und bezweckt , das Studium derselben vom wissen-
schaftlichen und pädagogisch - didaktischen Standpunkte zu för-
dern. Die Gesellschaft, welche bereits viele rühmlichst bekannte
Männer zu der Zahl ihrer ordentlichen und correspondirenden
Mitglieder rechnet, wird ihre Verhandlungen in dieser Zeitschrift
veröffentlichen und dadurch das Archiv mehr und mehr zu einem
Centralpunkte der Bestrebungen für unsre gemeinschaftliche
Sache machen. Möchte uns dabei die kräftige Unterstützung
unsrer Freunde nimmer fehlen , damit der Anbau der modernen
Philologie, — wie wir es schon oftmals gewünscht, — wahrhaft
gefördert werde.
Yorsclilag zu einer Encyclopädie der modernen
Pliilologie.
Jeder, der sich auch nur oberflächlich mit den neuern Sprachen
beschäftigt hat, weiss, wie unfertig das Studium derselben noch ist und
wie es fast auf jedem Qebiete noch an der tieferen wissenschaftlichen
Begründung fehlt. Zwar mangelt es nicht an Lehrern für die prak-
tische Erlernung der Sprachen, aber grade die oft zu praktische und
ganz unwissenschaftliche Art dieser Maitres ist es ja , welche zu
bekämpfen das Archiv und unsre Gesellschaft erstanden; und be-
sonders diese Auswüchse haben so oft den classischen Philologen Ver-
anlassung und leider auch guten Grund gegeben, auf die moderne Phi-
lologie mit scheelen Seitenblicken und halb verachtend herabzuschauen.
Um aber ihren Beschuldio:uno:en mit Erfoljj entsregentreten zu ki3nnen
und die moderne Philologie als ebenbürtige Schwester neben die clas-
sische zu stellen, dass sie nicht länger als Aschenbrödel aus den pi'un-
kenden Salons der Wissenschaft in die Küche Verstössen, sondern als
aufblühende jüngere Schönheit der bejahrteren Concurrenz machen
könne — dazu, sage ich, müssen wir von Studirenden der modernen
Philologie strenge Wissenschaftlichkeit fordern, basirt auf genauere
Kenntniss der alten Sprachen, besonders der lateinischen, welche ja die
^lutter und Lehrerin der romanischen war. Es kann nun hier weder
unsre Absicht sein, noch wäre es bei dem Vorhandensein guter Hülfs-
mittel auf allen Gebieten der classischen Philologie überhaupt erforder-
lich, den Studirenden für diese einen Wegweiser in die Hand geben
zu wollen; anders aber stellt es sich für die Wissenschaft, welche
weder einen auch noch so dürren encyclopädischen Leitfaden, noch
selbst, ausser an einigen kleineren Universitäten, Lehrstühle besitzt, auf
denen sie in angemessener Weise gelehrt würde. — Schon seit lägerer
Zeit war es meine Idee, einen Abriss zu entwerfen, welcher in all-
gemeinen Zügen dem Studirenden den Weg und die Hülfsmittel an-
Archiv f. n. Sprachen. XXIII, 1
2 Vorschlag zu einer Encyclopädie der modernen Philologie.
gebe, die bei wissenschaftlicher Erforschung der neueren Sprachen dem
Ziele näher führen und davor schützen könnten, als Autodidact, wie
das bisher wohl geschah, auf den ohne "Wegweiser bald hier, bald
dorthin führenden Seitenwegen zu verirren ; — aber theils Mangel an
Zeit, theils die Ueberlegung, dass bei der geringen Zalil von Hülfs-
quellen oder der Schwierigkeit der schon vorhandenen, aber vielfach
zerstreuten und wenig behandelten Materialien die Kräfte eines Ein-
zelnen nicht ausreichen würden, haben mich veranlasst, mit einem Plane
hier vorzutreten, um mit Gesinnungsgenossen vereint das wichtige
Werk zu Tage zu fördern.
Es ist den ausgesprochenen Grundsätzen ganz angemessen, für
eine Encyclopädie der modernen Philologie an die schon vorhandene
der classischen Philologie anzulehnen, und indem man die in dieser
entwickelten, für beide gültigen Grundbegriffe a priori festhält, anzu-
deuten, wo theils die Sachen selbst, theils die von Bernhardy, *) dessen
•) Es ist mir von mehreren Seiten zum Vorwurf gemacht, dass ich mich
an Bernhardy's Handbuch angeschlossen und sein Werk als dasjenige hin-
gestellt habe, an das sich das unsrige anlehnen solle. Ich habe dabei durch-
aus nicht der vom Verfasser selbst eingeräumten Mangelhaftigkeit in der
Darstellung das Wort reden noch mancherlei Fehler beschönigen wollen,
welche das Werk auch in seiner Anordnung besitzt und die besonders Rei-
chardt in seinem Werke „die Gliederung der Philologie," p. 116 etc. scharf
kritislrt hat; aber es kam mir darauf an, auf ein \\'erk als Grundlage zu
verweisen, das in manchen Disciplinen, die für moderne wie für antike Phi-
lologie dieselben sind, schon eine concreto, leicht zu beschaffende Anleitung
gibt, auf die man sich beziehen könnte, die man im neuen Werke nicht zu
wiederholen brauchte.
Dass Wolf und Bernhardy nur unbedeutend von einander abweichen,
wird eine kurze Zusammenstellung der beiderseitigen Anordnung geben.
Wolf. Bernhardy.
Einleitung über Wesen etc. id. Verhältniss d. Alterth. z. Modernen.
Darstellung der Alterthumswissenschaft. id.
I. Fundamentaltheile. I. Elemente.
A. Granmiatik. A. Hermeneutik:
1. Sprachkunde. formal,
2. Philosophische Grammatik. objectiv,
3. Griechische Grammatik. synthetisch,
4. Lateinische Gi'ammatik. r> »Tr, •*•!,.
B. Hermeneutik, palaeographisch.
C. Kritik. diplomatisch,
subjectivisch.
II. Organon der Philologie.
G. Grammatik:
allgemein,
philosophisch,
rhetorisch.
Vorschlag zu einer Encycl-opädie der modernen Philologie. 3
Werk wir im Auge haben, eingehaltene Anordnung eine Abänderung
und Umstellung erfordere. Ich will demzufolge hier die leitenden Ge-
sichtspunkte angeben und zugleich bei den einzelnen Disciplinen kurz
anführen, was noch einer weiteren Discussion oder der speciellen Aus-
fiUirung bedarl'; die ganze Zusammenstellung kann und soll aber natür-
lich nur ein gedrängter Leitfaden werden, eine Art Repositorium, dessen
einzelne Fächer noch weiter mit dem klar geordneten Inhalt anzufüllen
sein werden, wenn die einzelnen einschlagenden Wissenschaften einer
gründlicheren, allsoitigeren Behandlung theilhaftig geworden sind.
Was bei Bernhardy das ganze Werk einleitet, „ein Ueberblick
über die historische Entwicklung der Philologie," das wird theils, was
das Sprachliche betrifft, als Einleitung in das von den speciellen Gi'am-
matiken handelnde Capitcl zu verweisen sein, theils aber, insofern man
von einer Wissenschaft der modernen Philolologie von den Zeiten eines
Dante an redet, ist diese Disciplin noch so unbearbeitet, so liickenliaft
und schwierig zu übersehen, dass wir sie lieber als ein für die Zukunft
vorbehaltenes Thema, denn als einen integrirenden Theil des encyclo-
U. llaupttheile der Alterthumsw.
IlL
Reale Wissenschaften.
a. Geographie.
a. = c.
b. Pulitisclie Geschichte.
b. = a.
c. Alterthümer.
c. = b.
d. ^Mythologie.
d =
e. Literaturgesoh. d. Wissenschaft.
f. Geschichte der Kunst:
IV.
Beiwerke.
Epigrapliik,
Architektur,
e. Kunst.
Sculptur,
Steinschnitt,
-
Malerei.
Literaturgesch. d. Alterthumswissenj
;ch.
f. =
Ast's Handbuch gibt manchen Stoflf, doch in der Anordniing ist
gar kein geregeltes Princip; aber auch Boekh ist in seiner obenein noch
nicht gedruckten Encyclopädie nicht zu bedeutend von diesem Gange ab-
gewichen, und zumal in den Theilen, welche wir, nur mit Hindeutung auf
altere, beizubehalten -wünschten, der Hermeneutik und Kritik, ist seine An-
ordnung wesentlich dieselbe. Er beginnt den formalen Theil mit der Her-
meneutik, d. h. der a. grammatischen j
b. historischen ( .„ ,„„„„„.
• T • 1 II / Auslegung:
c. mdividuellen l o o ^
d. generischen '
es folgt die Kritik, welche er nach vorherigen Bemerkungen über
^'^f,"'^,, ' derselben, über kritisches Talent und kritische Sicherheit gleich
und \\ crth ) '
der Hermeneutik eintheilt in a. grammatische,
b. historische,
c. individuelle,
d. generische.
In dem materiellen T heile beginnt die allgemeine Alterthumslehre
mit dem, was Bernhardy zu Anfang des Werkes als Einleitung gibt, d. h.
mit der Aufstellung des Begrills vom Antiken, und weist dann jeder ein-
4 Vorschlag zu einer Encyclopädie der modernen Philologie.
pildischen Lehrganges hinstellen möchten. Für unsern Zweck könnte
vorerst im Anschlüsse an die Geschichte der classischen Philologie bei
Bernhardy (Einleitung 2 bis 26 und 395 bis zu Ende) eine Nomen-
datur der bedeutendsten Männer und ihrer epochemachenden Werke
o-enii"-en, welche für eine wissenschaftliche Begründung der neueren
Sprachen gewirkt haben.
Eine Ha upt aus einander setzung der Einleitung wäl-e aber
alsdann im Anschluss an Bernhardy's Capitel „vom Alterthum und
von dessen Verhältniss zum Modernen" eine gedrängte Darlegung
des Modernen, etwa mit Beziehung auf Schiller's Ausspruch:
Die Alten empfanden natürlich, wir empfinden das Natürliche — (cf.
Goethe, XXX, 463), wobei wir nicht wie für die classische Philo-
loo-ie die Zweitheilung in Griechen- und Römerthum, sondern die Drei-
theilun"- festzuhalten haben werden, und sich der germanische und der
romanische Charakter, dieser repräsentirt durch das Französische, ge-
wissermassen als These und Antithese herausstellen und eine Art Syn-
these in dem Englischen finden.*)
zelnen Wissenschaft ihre Stelle an. Die besondere Alterthumskunde
beginnt mit 1. Chronologie; es folgen
2. Geographie,
3. politische Geschichte,
4. politische Alterthümer;
b. Privatleben :
1. Metrologie,
2. Erwerb, Landbau, Handel, Gewerbe, häusUche Oekonomie,
3. innere Familienverhältnisse ;
c. äusseres religiöses Leben und Kunst:
1. Cultur,
2. Plastik,
3. Steinschneidekunst,
4. Malerei,
5. Orchestik,
6. Musik.
Grade b und c, die wesentlich methodischer bei Bockh geordnet sind,
können und müssen wir vorläufig noch unberücksichtigt lassen, ausser in den
kurzen von mir oben bezeichneten Andeutungen. Was aber noch folgt,
Gesammte Wissenschaft der alten Völker:
1. Mythologie,
2. Geschichte der Philosophie,
3. Geschichte der einzelnen Wissenschaften,
a. Mathematik,
b. Naturwissenschaften, ,
4. Geschichte der ethischen Wissenschaften,
5. Geschichte der Literatur,
6. Geschichte der Sprache,
sind theils für unsern Zweck Gebiete, die schon von anderer Seite her den
Stuflirenden zugänglich sind und daher nur angedeutet zu werden brauchen,
theils fallen sie wie 1 und 3 gänzlich für uns fort, oder endlich wir weisen
ihnen wie 5 und 6 eine bedeutendere, andere Stellung in unserm Systeme an.
*) ^V'arunl, fragt man mich, schliessen Sie das Italienische aus, das doch
auch zu den neueren Sprachen gehört? Ich will nicht antworten, dass ja unsre
Vorschlag zu einer Encvclopädic der modernen Philologie. 5
Wir kommen damit zur Auseinandersetzung über die Aufgabe
der modernen Philologie, welche nach unsrer Ansicht die ist:
„ein anschauliches Bild der modernen Völker, zunächst und haupt-
sächlicli der nach Literatur und Wissenschaft am meisten entwickelten,
aufzustellen und die verschiedenen Richtungen ihres geistigen Lebens
bis zur Jetztzeit hin durch und für ein wissenschaftliches Verstehen
ihrer Sprachen kunstmässig und wissenschaftlich zu erfassen." Dabei
kommen dann insbesondere in Betracht diejenigen Epochen, welche als
wesentliche Fermente für die noch nicht für uns gleich den alten
Sprachen abgeschlossenen lebenden Sprachen mitgewirkt haben, aber
doch als mehr oder weniger in sich abgerundete, keiner Fortbildung
mehr fähige Sprachganze der genaueren Betrachtung anheimfallen, die
sich ihnen gegenüber ganz auf dem Standpunkte der classischen Philo-
logie (abgeschlossenen Sprachen gegenüber) befindet; wir meinen die
verschiedenen Ausbildimgen der deutschen Sprache , das Angelsäch-
sische und Altenglische, das Provenzalische und Alt französische; ja,
wir haben mehr Material und auch mehr Veranlassung, als das ge-
wöhnlich beim Studium der classischen Sprachen geschieht, auch die
Dialekte, ihre literai-ische Entfaltung und ihren Einfluss auf das
Ganze des Sprach- und Volkslebens mit in den Kreis unsrer For-
schungen hineinzuziehen.
Gesellschaft auch so exclusiv sei, denn das könnte mir als eine petitio prin-
cipii ausgelegt werden; der Grund ist der, dass wohl in Wahrheit Niemand
behaupten wird, das" liebHche Idiom Dante's und Tasso's habe eine welt-
geschichtliche Bedeutung, welche es mit den drei von uns hervorgehobenen
Sprachen auf eine Stufe stellen hiesse. AVenn ich auch weder den mysti-
schen Standpunkt theile, der die Divina comedia als das Gedicht y.ax
dSo/Tjv anerkannte, noch Petrarca's Sonette über die bedeutendsten lyrischen
Producte stelle, so hat doch die italienische Literatur in älterer wie in
neuerer Zeit viele der edelsten Erzeugnisse aufzuweisen, sie ist die Sprache
der Musik, und in Oesterreich mit Recht, weil dieses Reich italienische Pro-
vinzen besitzt, unter die Unterrichtsfacher mit aufgenommen; aber über-
schätzen wir darum nicht Ihren Werth und lassen wir vorläufig den, welcher
diesem Studium obliegen will, sich anderswo her als aus unsrer Encyclopädie
Raths erholen.
Wenn aber andere Stimmen für das Spanische laut wurden, weil
dieses ja besonders in norddeutschen Städten vielfach im praktischen Ver-
kehr angewandt werde, so scheint mir auch das eine einseitige Ansicht,
welche den zufalligen Gebrauch für mercantile Zwecke mit dem inneren
Werthe und der welthistorischen Geltung verwechselt.
Endlich hat ein werther Freund, auf dessen Beistand für die Behand-
lung des deutschen Gebietes ich bedeutend gerechnet habe, eine Principien-
frage aufgestellt, mit welchem Recht ich die deutsche Sprache mit den
beiden andern verbinde, während sie doch so sehr aus einander lägen?
Mag man auch für die Gegenwart dies zugeben wollen, obwohl sich auch
darüber viel streiten Hesse, so wird doch Niemand verkennen, wie viel in
den älteren Epochen diese drei Sprachen und Literaturen sich gegenseitig
verdanken und welch bedeutendes Licht auf jede einzelne derselben durch
gründlichere Erforschung der andern und ihres Einflusses fallen kann.
6 Vorschlag zu einer Encyclopädie der modernen Philologie.
Wenn wir nun das gesammte uns vorliegende Gebiet überblicken,
so treten uns zuerst als Grundlagen der Philologie im Allgemeinen die
zwei Elemente der Hermeneutik und Kritik entgegen, beide von
formalem Gehalt, beide nicht nur Werkzeuge, sondern auch unentbehr-
liche Führer. Da sie dies aber nicht nur für den classischen Philologen,
sondern auch für unser Gebiet sein und die von uns geforderte clas-
sische Bildung auch für die Behandlung neuerer Sprachen dieselben
Gesichtspunkte als leitend aufstellen wird, so brauchen wir in unserm
Leitfaden die Grundsätze der formalen, der objectiven und der synthe-
tischen Hermeneutik, Avie die der palaeographischen, diplomatischen und
subjectiven Kritik, sie als bekannt voraussetzend, nur mit wenigen
Worten zu besprechen. Bei der letzteren jedoch wird ein Nachweis der
bedeutendsten Quellen für moderne Epigraphik und Palaeographie nach
Montfaucon und der Paleographie universelle, soweit sie unsre Schrift-
steller angeht, ferner eine gedrängte Notiz über die bedeutendsten Ma-
nuscripte und ihre Epochen, endlich im Anschlüsse an ein Hänel ver-
besserndes, wenn auch nicht so ausfürliches Register eine Uebersicht
der Bibliotheken und ihrer Bedeutung für den modernen Philologen zu
geben sein. (Für ein specielles Gebiet, die altfranzösischen Helden-
gedichte, werden die zwei ersten Bände der jetzt von Jannet zu edirenden
Anciens poetes de la France alles handschriftliche Matei'ial genügend
zusammenstellen.) Für die Stütze dieser zwei Elemente sodann und
den Schlüssel zum philologischen Material, die Grammatik, welche
nicht bloss formale Principien zur Ausübung bringt, sondern einen
reichen formalen Stoff in der vollständigsten Breite' verhandelt, werden
wir zunächst einige leitende Gesichtspunkte vom allgemein -philoso-
phischen Standpunkte über die drei Hauptsprachen unsers Gebietes
aufzustellen und dem Studirenden ein vorbereitendes Kesumc aus
Grimm's und Diez's herrlichen Werken zu geben haben, nebst kurzen
Uebersichten über gothische, alt-, mittelhochdeutsche, altprovenzalische,
altfranzösische, angelsächsische, *) altenglische Grammatik ; vorzubereiten
und anzubahnen ist dann auch nach und nach die Ausführung von
Specialgrammatiken der besondern Hauptautoren, welche als Repräsen-
tanten einer grossen Epoche dastehn und besonders dem allgemeinen
Studium anheimfallen. Kurze Lexikographie wird hier den bibliogra-
phischen Zusatz zu vervollständigen haben.
Eine Kritik der hauptsächlichsten Grammatiken des Neufranzö-
sischen und Neucnglischen wie der bedeutendsten Lexica und methodisch-
praktischen Uebungsbüclier gehört darauf in die Methodologie, welche
die betreffenden Arbeiten nach den darin zu Tage getretenen Principien
zu rangiren und, was geleistet ist, zu prüfen hat. Auch hierfür würden
Beiträge willkommen sein, da unmöglich von Einem erwartet werden
*) Ein solches Handbuch bereitet Prof. Herrig vor, auch soll, wie Ich
höre, Prof. Mätzuer's englische Grammatik dieses Gebiet ausführlich behandeln.
Vorschlag zu einer Encyclopiidie iler modernen Philologie. 7
kann, er habe auch nur über die bedeutendsten einschlagenden Werke
sogleich eine genaue für die Kritik genügende Uebersicht.
Wir kommen jetzt zu den realen Wissenschaften, auf
welche der Studircnde aufmerksam zu machen, für deren Studiu>n ihm
die IVIethode und die wichtigsten Ilülfsmittel angegeben werden müssen.
1. Geschichte. Sie ist wesentlich zum Verständniss der jedes-
maligen Geistesrichtung und Bildung des Volkes ; eine kurze Ueber-
sicht über die bedeutendsten historischen Schriftsteller, je nach den Völ-
kern geordnet, wird den gedrängten Bericht über die Ilauptbegeben-
heiten einzuleiten haben, und Geographie, Chronologie, Numismatik
sind in ähnlicher Weise zu skizziren, wobei zum Theil ein derartiger
Versuch als der erste dieser Ai't auftreten muss; doch hat sich der
methodologische Leitfaden fast ganz auf bibliographische Notizen zu
beschränken.
Wo die classische Philologie Alterthümer als besondere Wissen-
schaft aufstellt, haben auch wir ein solches Gebiet in kurzen Umrissen
der Geschichte anzuschliessen ; daneben aber muss der Anfang gemacht
werden, in lebensfrischen Bildern den Charakter der verschiedenen
uns angehenden Völker und Epochen vorzuführen und dem, welcher
als letztes Ziel ein gediegenes Verständniss der neueren Sprachen,
nebst der Fähigkeit, sie praktisch anzuwenden, sich vorgestellt hat,
dasjenige zu gewähren, ohne welches keine Sprache wahrhaft ver-
standen, noch der Sprachgenius erfasst werden kann, nämlich eine aus
eigener Anschauung des Berichterstatters hervorgegangene Darstellung
des geistigen und physischen Lebens der drei Völker nach seinen ver-
schiedenen Momenten, wie es sich für unsre Zeit vor dem Auge des
unparteiischen gebildeten Beschauers abhebt.
Hieran schliesst sich die Darstellung der verschiedenen Litera-
turen, ein Capitel, das noch fast mehr als die andern im Argen liegt.
Die Franzosen haben zwar, wie sie für ihre Geschichte in den
zahlreichen Memoiren unerschöpfliche Schätze besitzen, ohne darum
wahrhaft grossartige, den ganzen historischen Stoff bewältigende Ge-
schichtswerke über ihr Volk aufweisen zu können, in der Histoire litte-
raire de France, in den Werken der Benedictiner und sonst gewaltigen
Stoff für eine dereinstige französische Literaturgeschichte, aber weder
Villemain, Ampere noch Nisard haben Werke geschafien, welche neben
dem Ruhme, zum Theil geistreiche Apercus zu sein, auch das Verdienst
besässen, in allen Theilen tief eindringende Forschungen mit unbefan-
genem, wahrhaft historischem LTrtheile zu vereinigen. Für eine Ge-
schichte der provenzalischen Literatur haben zwar Diez und
Andere mannigfaches Material herbeigeschafft, aber eine eigentliche
Literaturgeschichte gehört auch hier noch zu den Desideraten,
denn Werke wie Miliin, Closset, Mury-Lafon und Bruce- Whyte können
keine Gnade finden, wenn man den Massstab literar-historischer Werke
über die classischen Sprachen anlegen will. Für das Englische aber
8 Vorschlag zu einer Encyclopädie der modernen Philologie.
stellt sich die Sache wenig besser; denn wenn auch hier ausgezeichnete
Reviews fortlaufend die besten Beiträge für die Würdigung der bedeu-
tendsten Erscheinungen bringen, wenn einzelne Autoren auch die liebe-
vollste Behandlung bei ihren Landsleuten erfahren haben, und Werke
wie Warton's history of English poetry besonders für die ältere Periode
unerreicht dastehen , so fehlt es doch auch hier noch an einem nach
allen Seiten hin gerecht werdenden gründlichen, aesthetisch würdigenden
und zugleich mit den nöthigen bibliographischen Notizen ausgestatteten
Werke , und die Hauptgesichtspunkte dafür wie die Grundskizzirung
kann die encyelopädische Uebersicht vermitteln.
Wenn vielfach noch nicht Vorarbeiten genug dafür da sind, so wird
doch täglich mehr Material im Einzelnen an's Tageslicht gefördert, und
wenn auch z. B. für die ältere französische Literaturgeschichte, welche in
Ideler's Leitfaden so dürftig und oft ft^lsch behandelt ist, der durch
Herrn Fortoul's schönen Plan beabsichtigte Aufschwung immer noch
nicht gekommen ist,*) so haben doch auch schon die Vorarbeiten zu dem
enormen von Fortoul beabsichtigten Sammelwerke bedeutenderes Licht
über die altfranzösischen Schätze und ihre Zusammenhänge verbreitet,
so dass eine gedrängte, richtigere Darstellung der altfranzösischen Li-
teratur wohl schon versucht werden kann.
Kurze kritisirende Angaben der bedeutendsten auf diesen verschie-
denen Gebieten existirenden Versuche werden so am Besten dem Stu-
direnden zeigen, was noch fehlt und ihn leichter in den Stand setzen,
aus dem bald hier bald da gebotenen Guten sich vorläufig ein einiger-
massen Ersatz leistendes Conglomerat zusammenzustellen, bis auch die
Wissenschaft der Literaturgeschichte sich weiter entwickelt hat.
Um das Leben der drei Culturvölker nach allen Seiten hin abzu-
schliessen, hat der Studirende endlich sich wenigstens einigermassen
bekannt zu machen mit ihrer Kunstgeschichte, welche ein wichtiges
Glied in der grossen Kette bildet — zuletzt mit der Geschichte der
Wissenschaften bei denselben, welche in grossen Umrissen ent-
worfen den letzten Stein an das grosse Gebäude legen wird, dessen Plan
ich hier, vielleicht mit etwas zu excentrischen Hoffnungen für sein Ent-
slehen vorgelegt habe. Wir wissen Alle, woran es für die gründliche
Heranbildung neuer Studiengenossen fehlt; tragen wir daher Jeder an
seinem Theile dazu bei, fördernd und schaffend mit einzugreifen, damit,
was ich nur dürftig skizzirend anrege und in einem kurzen Leitfaden
zu behandeln gedenke, zu einem scliönen, wohlgeregelten Baue erwachse,
in dem sich der Studirende heimisch fühle und zurecht finde.
*) Man sehe übrigens unsern Bericht über Herrn ^annet's jetzt veröffent-
lichten Prospectus, der wenigstens theilweise Fortonrs Pläne zu realisiren
verspricht.
Dr. C. Sachs.
Una:eclruckte Briefe aus dem Nachlasse
Joh. Arn. Ebert's.
Vor einiger Zelt unternahm ich In „Westermann's Illustrirten
Deutschen Monatsheften" die VerüfFentlichung eines Theils des
Ebert'schen Briefwechsels, der sich im Besitze der Nachkommen
Joh. Joach. Campe's befindet.
Rücksichten auf den beschränkten Raum, den die gedachte
Zeitschrift für derartige Pubhcationen bewilligen kann, machten
eine Unterbrechung des begonnenen Abdrucks nothwcndig, und
da für den ausgebreiteten Leserkreis der Monatshefte ohnehin
nur die hervorragendsten Theile der ganzen Correspondenz von
Interesse sein konnten, so wurden daselbst nur die Briefe von
Klopstock, Lavater, Gleim, sodann einige einzelne Schreiben von
Uz, Hagedorn u. A. gegeben; der Rest dieses brieflichen Nach-
lasses , welcher zur genaueren Charakteristik der unmittelbaren
Vorgänger unserer literarischen Glanzperiode von höchster Wich-
tigkeit ist, liegt noch als ungehobener Schatz der Oeffentlichkeit
fern. Nachfolgend wird nun das Werthvollste daraus zusammen-
gestellt, wobei sämmtliche Briefe ganz unverändert in der ur-
sprünglichen Form und Schreibweise gegeben und mit nöthigen
Erläuterungen versehen werden sollen. Die bereits gedruckten
Theile des Nachlasses, auf welche bereits in einem der früheren
Hefte des Archivs selbst, sowie auch in vielen andern wissen-
schaftlichen Zeitschriften wiederholt hingedeutet wurde, finden
sich in „ Weslermann's Illustrirten deutschen Monatsheften "
Band 2 und 3, Heft 7. 8. 10. 11. 13. — unter dem Titel: „Un-
gedruckte Briefe von Cramer, Gleim, Klopstock, Lavater, Ramler,
Uz u. A. an J. A. Ebert. Zur Charakteristik ihres literari-
schen Verkehrs zusammengestellt und erläutert von Dr. Adolph
Glaser." —
10 Ungedruckte Briefe
I.
Schlichtegroll.
Gotha, d. 24. Oct. 1792.
Wohlgebohrner,
Hochzuverebrender Herr Hofrath!
Die Vollendung dieses neuen Bandes des Nekrologs erinnert mich
lebhaft daran , -welch' schönen Beytrag dazu ich Ihrer Güte verdanke.
Erlauben Sie mir also, dass ich Ihnen das gedruckt zurökgebe, was
Ihnen so schon gehört. Ich habe diesen Theil unter sehr zerstreuen-
den Freuden und Leiden, wie ich sie beyde bis dahin noch nicht empfun-
den hatte, ausgearbeitet, und ich fürchte leider, dass er hie und da die
Spur davon nur zu deutlich an sich tragen wird. Da ich die Ent-
schuldigung Avegen Kürze der Zeit und Uebereilung der Presse nicht
gern einem andern Schriftsteller zu Gute kommen lasse, so nehme ich
auch ungern meine Zuflucht zu ihr; aber es giebt Combinationen , wo
sie doch Grund hat, und ich darf behaupten, dass die Lage, in der
ich mich befand, von dieser Art war. Dem nächsten Theile soll, hoffe
ich, mehr Feile werden, er erfordert es auch um so mehr, da ich für
ihn die Heroen unter den Verstorbenen des vorigen Jahres aufgespart
habe. — Da ich Ihre Güte nun schon so überzeugend erfahren habe,
so darf ich hoffen , dass Sie auch für die Zukunft^ ein freundlicher Be-
förderer meines Unternehmens bleiben werden.
Die politischen Dinge haben seit Ihrem Gothaischen Besuche eine
sonderbare Wendung genommen. Eben heute hat die Nachricht von
der Eroberung von Mainz und von dem Separat-Frieden, den der König
V. Pr. mit den Franzosen geschlossen haben soll hier grosses Erstaunen
erregt. Viele Frankfurter Kaufleute sind seit einigen Wochen schon
in Eisenach und hier, selbst mit ihren Waaren gewesen. — Doch dieser
Stoff ist so reich, dass er fiir einen Brief zu reich ist. Es ist schick-
licher, dass ein friedlicher Schulmann aus seiner stillen Klause einen
mit andern als blutigen Lorbeeren bekränzten und mit dem Stabe be-
schenkten Dichter mit andern Nachrichten und Betrachtungen unter-
halte. — Vor einer Woche ist mein Freund Becker von einer Reise
nach Wien , die er in Gesellschaft meines Schwiegervaters , des geh.
Hofr. Rousseau gemacht hatte, zurückgekehrt, und hat mir gleich das
erste Wiedersehen mit der für mich traurigen Nachricht verbittert, dass
er von hier nach Nürnberg ziehen will. Er hat in Wien ein Reichs-
privilegium für seinen Anzeiger bekommen, und gefunden, dass es unter
diesen Umständen schicklicher für ihn seyn wird, ihn in einer Reichs-
stadt, die fast in der Mitte des deutschen Reichs liegt, zu schreiben.
Schon in G Wochen wird er dahin abgehen ; seine Frau, die ihrer Nie-
aus dem Nachlasse J. A. Eberfs, 11
derkunft nahe ist, wird bis zum Frühjahre noch hier bleiben. Ihr und
den Schwestern geht der Abschied von ihrer sehr artig eingerichteten
ländlichen Wirthschaft sehr nahe. Ich verliere dadurch den Umgang
meines hiesigen vertrautesten und schätzbarsten Freundes ; beyni Ver-
gleiche seiner Lage hier und dort nuiss ich ihm nolhwcndig Glück
Avünschen.
Ihr guter Wirth im Mohren, Frey tag, dessen Sie sich wohl
noch erinnern werden , ist vor 2 AVochen plötzlich am Schlage gestor-
ben. Sein Tod hat hier viel Mitleid mit seiner noch sehr unerzogenen
Familie erregt. — Kurz vorher ging einer der beliebtesten Älitglicder
der Mohrgesellschaft Hr. Zinkeisen von hier weg, u. kam nach Alten-
burg in einen neuen Platz. Man feyerte seinen Abschiedstag mit ei-
nem grossen Feste in der Gesellschaft, deren Secretär er viele Jahre
gewesen war. Unser Gotter machte dabei eine Gesundheit, die die
Freuden des Tags erhöhte , und die ein zu treffliches Product dieses
glücklichen Reimers ist, als dass ich sie Ihnen nicht mittheilen sollte.
Hier ist sie:
Heil sey dem treusten Freund von diesem guten Flause
Und von der Brüderzunft, die hier ihr AVesen treibt!
Dem herrlichen Compan, der nie bey einem Schmause
Vorsetzlich fehlt, und nie dem, der sich an ihm reibt,
Trunk gelt es, oder Witz — die "Wette schuldig bleibt.
Der immer wohlgemuth und immer wohlbeleibt,
Den hübschen Weiberchen die Grillen gern vertreibt,
Und gern als Eremit in seiner stillen Klause
Bald am Klaviere weilt, bald emsig Noten schreibt.
Heil ihm, der unser Freund auch in der Ferne bleibt!
O dass er dort wie hier in steter Freude hause!
Dass nie ein Sorgensturm um seine Fenster brause!
A\'ohl aber, Avenn er sich, wer weiss wie bald, beweibt,
Ein Schwärm von Kindern ihn mit Sang und Klangj umsause;
Dass, wird sein Haar einst weis, und seine Stirne krause.
Auch dann noch sein Humor mit jedem Lenz sich mause,
"Wenn ihn gleich hie und da ein Jugendsündchen kneipt;
Und dass, wenn endlich spiit die allgemeine Pause
Für ihn beginnt, Freund Hain ihm sanft die Kolbe lause.
Vielleicht bekäme ich einen Krieg mit Hr. Gotter, wenn er wüsste,
dass ich ein kleines Scherzgedicht, das halb Impromptu war u. das
seinen vorzüglichsten "VYerth erst durch das Locale, auf das es genau
passte, erhielt, Ihnen mitgetheilt habe; aber ich konnte mir die Freude
nicht versagen , es Ihnen abzuschreiben , und mir dabey Ihr frohes
Lächeln hey den letzten unerwartet — drollicht — glücklichen Reimen
zu denken! In dieser Gattung leichter, "schön gesagter, glücklich ge-
reimter Einfälle ist Golters Muse wirklich unübertrefflich. Man sollte
ihm jeden solchen Einfall sogleich mit der Feder abstehlen , und auf-
heben; denn viele werden verloren gehen, indem er sich selten die
IMüIie nimmt, sie aufzubewahren.
12 - Ungedruckte Briefe
Die sanften Freuden der glücklichsten Ehe, die ich jetzt geniesse,
machen mich zu einem doppelt dankbaren Bewohner dieser, bey allen
Mühseligkeiten doch auch sehr freudenreichen Erde. Hätte ich Ihnen
doch kurz vor dem Junius dieses Jahres geschrieben, ehe meine gute
Auguste meine Gattinn wurde! Da hätte es sich doch noch thun
lassen, Ihnen zu sagen, wie liebenswerth und gut sie ist; jetzt erlaubt
es mir die Schicklichkeit doch nicht mehr so , Ihren Lobredner zu ma-
chen, und ich muss warten, bis ich Sie Ihnen einmahl selbst zuführen,
u. von einem so musterhaft-glücklichen Gatten zu ähnlich-dauerhaften
Eheglück einweihen lassen kann.
Ihrer Frau Gemahlin und Ihnen empfehle ich mich gehorsamst.
Meine Frau, meine guten Aeltern u. meine Schwester desgleichen.
Mit den Gesinnungen der grössten Hochachtung bin ich auf immer
Ew. "Wohlgeboren
gehorsamster Diener
E. Schlicbtegroll.
n.
R a m 1 e r.
Mein Herr und geliebtester Freund,
Ich darf Ihnen diesen heiligen Nahmen ohne Scheu geben, weil
ich weiss dass unser Gleim das ersetzt hat, was erst ein langer Um-
gang schafft. Ich sehe Sie also als einen Freund an, mit dem ich
schon ein vertrautes Fass Wein ausgetrunken habe, denn dieser ist uns
das, was andern Leuten die Metzen Salz sind. O wie freue ich mich,
mein liebster Ebert , dass Sie mein Freund seyn werden , Sie , den ich
schon so lange unter dem HaufFen der witzigen Köpfe in Deutschland
unterschieden habe. Ihr Leonidas hat alle meine Erwartungen erfüllt.
Die edlen Gesinnungen darin sind mit einem Feuer ausgedrückt, das
nur aus meines Eberts Herzen kommen kann. Reine Harmonie herrscht
in jeder Zeile, die Ausdrücke sind ausgesucht schön, die Touren so
neu und so kühn als sie sepi dürfen, und das Gantze so ausgearbeitet,
dass es ein deutsches Original geworden ist. Auch habe ich schon
bemerkt dass unsre Poeten Ihren Leonidas mit gutem Nutzen gelesen
haben. Mich deucht ich habe Spuren davon in Klopstocks beyden
letzten Gesängen gefunden. Ja, dass ich nur alles heraussage, ich
habe selbst in meiner Uebersetzung des Horatz Spuren davon gefunden,
und dieses muss ich doch besser sehen können, als sonst jemand. Ich
werde alles dieses von Ihrem Young sagen , wenn er erst ankommen
aus dem Nachlasse J. A. Ebert's. 13
wird. Wieviel erwarte ich von Ihrer Uebersetzung dieses eintzigcn
Geistes! Ich danke Ihnen für ein Unternehmen von solchem Um-
fange. Wie sehr werden Sie die poetische Sprache bereichern und un-
sern dummen Landsleuten die Prosa verleiden. Und den besten, die
nicht mehr deutsche sondern Weltbürger sind, wie viel Freude wird
es denen machen, wenn sie einen Tlieil ihrer eignen Gedanken von
den besten Engelliindern gedacht und von meinem Ebert so schön nach-
gedacht finden!
Naide, so habe ich hier ein vortreffliches Mädchen getauft, Naide
glaubt dass Ihr Young recht für sie geschrieben sein wird, weil sie
von der schönen Melancholie just so viel hat als ein vollkommnes Hertz
oder ein voUkommner Verstand (ich vermische beydes gleichfalls) haben
muss. Sie hat den Leonidas eingetrunken , was wird sie mit dem
Young machen ? Verschlingen wird sie ihn, wenn ich von einem Mäd-
chen diesen mehr als männlichen Ausdruck wagen darf.
Lassen Sie uns nicht aufhören einander zu schreiben und nicht
aufhören einander zu lieben. Ich bin ewig der Ihrige, ewig
Ihr
getreuer
R a m 1 e r.
Berlin, den 13. May
175L
Hochzuverehrender Herr Professor,
Theuerster und geliebtester Freund,
Wie vielen Dank bin Ihnen nicht schuldig, dass Sie meinen Pro-
pheten Glaucus so gütig commentirt, und, wie ich weiss, so nachdrück-
lich declamirt haben! Ich habe letzteres mit Iliren beiden Grossen
Engelländern, dem Glover und Young, zu verschiedenen malen gleich-
falls zu thun Gelegenheit gehabt, und dabey erinnert, dass es eine
rechte Wohlthat für uns wäre, wenn ein Autor die Mühe, die ein
Original kostet, an das Meisterstück eines Fremden zu wenden sich
herabliesse. In der That sind sie allzugütig, dass Sie die grossen
Engelländer noch grösser machen , da Sie es so vollkommen in Ihrer
Gewalt haben allein gross zu seyn.
Was Hagedorn vor zwanzig Jahren von Ihnen sagen konnte, das
konnte man damals von keinem einzigen auf dem ganzen deutschen
Parnasse sagen. Sechs Bogen nur von Trinkliedern Ihrer 'Art (und so
viel müssen Sie doch wohl in Ihrem Pulte liegen haben) wären mir
ein angenehmeres Messgeschenk, als sechs Tragödien von welcher deut-
schen Feder sie wollen. Aber ich bin bange, Sie möchten auch recal-
citriren, wie der vortreffliche Erbprinz: ich schweige also hiervon, und
14 Uugedruckte Briefe
gelie weiter. Von Herrn Lessing haben wir sein Theater, verbessert
und vermehrt, auf die Michaelismesse zu erwarten. Ihn selbst hoffe ich
bald wieder in Berlin zu sehen.
Auch als Patriot habe ich seine Zurückkunft aus Schlesien ge-
wünscht. Berlin ist für eine so grosse Stadt erschrecklich arm an
guten Scribenten. Ihr Braunschweig ist wirklich reicher. Aus Eigen-
nutz habe ich oft gewünscht, Sie und die Herren Pr. Zachariä und
Gärtner möchten sich entschliessen Braunschweig mit Berlin zu ver-
tauschen. Aber Sie würden nur verlieren, wenn ich gleich gewönne.
Ihr Carolinum ist jetzt noch der beste deutsche Parnass: drey gute
Poeten sind an keinem andern Orte beysammen. Wahrhaftig ich möchte
gern der vierte seyn, wenn ich leben könnte, wo ich wollte.
Ich nehme mir die Freyheit hiebey einen Brief an den Herzog
Ferdinand zu legen. Ich habe geglaubt, der Herzog wäre schon wieder
nach Magdeburg gereist, wohin ich meine Ode an ihn abgeschickt hatte.
Allein er hat den 24ten sowohl als den 30ten März aus Braunschweig
geschrieben, und mit seinem letztern eigenhändigen Briefe mich zugleich
mit einer sehr kostbaren goldenen Tabatiere i-egalirt, für welches Ge-
schenk ich in beyliegendem Briefe meinen Dank abstatte. — Und weil
Sie mich noch immer so lieb haben, wie vor vierzehn Jahren, so kann
ich beiliegendes Paar Dutzend Verse in keine bessern Hände geben,
als in die Ihrigen, Verse, die wenigstens die Antipoden jener langen
Ode sind , die Ihnen Hr. Pr. Zachariä von mir gegeben haben wird.
Vir bone & prudens versus reprehende inertes, oder, wenn Sie glauben,
dass der Durchl. Prinzessin Braut diese Berenice , mit Ihren Erklä-
rungen, gefallen möchte, alsdann stelle ich es in Ihren freundschaftlichen
"Willen, ihr^zu verrathen, wer die Berenice und der Ptolem. seyn sollen.
Gegen den Rosenmond werde ich sie hier drucken lassen — wenn
sie gefällt.
Man hat mir auf der Post gesagt, dass schon eine Menge Ge-
dichte auf dieses hohe Beylager eingeschickt wären. Ich habe mein
Liedchen fein in Vorrath gemacht, weil ich meiner Gesundheit niemals
lange traue. Wenn ich mich nicht nenne, so glaube ich werden mich
unsre Kritiker nicht errathen. Ich grüsse unsern lieben gesunden
Freund Zachariä und bin mit der aufrichtigsten Hochachtung
Theuerster Freund
Ihr
Berlin d. 9. April ergebenster Diener
1765. C. W. R a m 1 e r.
P. S. Grüssen Sie doch auch den Herrn Secretär Kircheisen von mir.
Er war ehemals mein bester Zuhörer, und ist jetzt bey der
Durchl. Princessin Braut Secretaire geworden.
aus dem Nachlasse J. A. Ebert's. 15
Ich ergreife diese Gelegenheit, mein theuerster Freund, Ihnen den
zweyten Theil der lyrischen Blumenlese zu ühersenden. Der Ueber-
bringer ist Herr Nouseul , ein Acteur von dem hiesigen deutschen
Theater. Er ist nur kurze Zeit hier gewesen, und hat sich in einigen
Rollen sehr zu seinem Vortheil gezeigt, auch zugleich seiner Frau einen
so guten Unterricht gegeben, dass sie durch diesen und ihre eigenen
Naturgaben, eine de!" besten Schauspielerinnen geworden ist, die wir
hier gesehen haben. Sie erhielt den Beyfall der ganzen Stadt, und
folglich den Neid ihi-er IMitspielerinnen. Zank ist auf jedem Theater
leicht zu haben, sobald man ihn haben will, und ein solcher Zank nö-
thigt ihn seinen Aufenthalt zu verändern, und, sobald er ihn erst selbst
weiss, seine Frau nachkommen zu lassen. Man sagt hier, (um
diesen Umstand habe ich ihn selbst niemals hefragen wollen) er soll
von Geburt ein Graf seyn , und aus Liebe unter seinen Stand geheu-
rathet haben.
Tausend Dank, mein Liebster, für Ihren vortrefflichen Leonidas,
der künftige "Woche ölfentlich meinen jungen Helden vorgelesen wer-
den soll.
Sie versprachen mir die Nahmen der Verfasser einiger Lieder,
die ich aus den Brem. Beyträgen und den vermischten Schriften ge-
nommen habe. Die meisten weiss ich schon durch die Güte des Hrn.
Pr. Zachariä; doch fehlen mir noch die Nahmen zu folgenden Liedern.
Im ersten Theil. Pag. 419. Herr Robert und Frau Robertiu.
Pag. 79. Ich liebte nur Ismenen. (Ist zwar niclit aus diesen
Sammlungen, soll aber doch in Braunschweig gemacht seyn.)
Pag. '61. 0 wehe mir, du guter Mann. — P. 111. Schon lange
schmeck ich ein Vergnügen.
Im zweiten Theil: Pag. 39. Büsche, die ihr mich versteckt.
P. 50. Es eilt im wilden Kriege. — P. 58. Hört, hört die stren-
gen Sittenlehren. — P. 67. Ich sah die junge Sylvie. — P. 65. Mein
Freund, du kannst mir glauben. P. 86. Endosia, Dein Leben gleiche.
(Steht im Vossischen Musenalmanach 1778 sub littera y.) — P. 53.
Kommt, ihr Frauen auf den Klee. (Gott. Musenalmanach 1774 R.)
Pag. 281. Siehe mein Röschen, der Frühling ist da. (Gott. Musen-
almanach 1774 sub littr. J.)
Vielleicht erfahren Sie durch einen Freund die Verfasser dieser
drey letzten. Herr Göcking wollte sie mir melden ; er wird es aber
vergessen haben. Hätte ich mehr Zeit gehabt, so hätte ich Ihnen zu
Ihrer eigenen Nachricht die Nahmen im Register beigeschrieben. Und
nun einen herzlichen Kuss an Ihre liebe Frau Gemahlin von
Ilu'em
Berlin den 25. Jan. getreuen Freunde und
1771. Milchbruder R.
16 Ungedruckte Briefe
4.
Hochgeehrtester Herr und Freund,
Ob wir gleich beide nicht gern Briefe schreiben, so gebe ich Ihnen
doch mein Wort, Ihnen dieses Jahr wenigstens fiinfe zu schreiben.
Fünf Bücher von Liedern der Deutschen muss ich Ihnen nothwendig
zur Prüfung überschicken; ich habe Sie in einem Briefe an unsern
Lessing damit bedroht. Im fünften, siebenten und achten fehlt mir
noch ein Lied. Diese drey Plätze habe ich mit Fleiss für ein jugend-
liches Lied von meinem Leibdichter Ebert offen gelassen. Im neunten
stehen Ihnen noch zw^anzig Plätze offen. Was Sie in beykommendem
sechsten Buche einer guten Sammlung unwerth finden, belieben Sie
nur mit einem Striche zu bemerken, und es zugleich mit einem ei-
genen Liede zu ersetzen. Eine jede Aenderung von Ihrer Hand , sie
betreffe auch die kleinste Kleinigkeit, wird mir ein angenehmes Ge-
schenk seyn.
Herr Nicolai fodert von mir eine gewisse Ode für Sie. Hier
haben Sie eine für sich , und eine auf den Punsch , für des Erbprinzen
V. Braunschweig Durchlaucht. Liest die Fr. Erbprinzessin auch deutsch,
oder verdolmetschen Sie ihr zuweilen etwas deutsches? Meine Ode
betrifft das Lieblingsgetränk ihres Vaterlandes ; sie müsste also billig
von der Englischen Prinzessin verstanden werden. Meinem Könige
darf ich sie wohl nicht in die Hände zu spielen suchen : die Sprache
möchte ihm zu schwer seyn ; ob er gleich in seiner fabrique einen
schönen Punschnapf stehen hat, den ich mir wohl damit verdienen
möchte! Welch ein massiger Wunsch! Ich stehe nach und nach mit
allen Oden zu Dienste , die ich noch fabrlciren werde , mit der Bedin-
gung , sie in keine Hände kommen zu lassen , die sie drucken lassen
möchten. Herr Nicolai fordert auch noch einen Prologen für Sie;
den hat aber einer meiner Schüler gemacht, und ich nur, ein wenig
stark, corrigirt. Er ist Ihrer Erwartung nicht gemäss, und fällt
also weg.
Morgen wird Koch bey uns sein Theater mit der Miss Sara
Sampson eröffnen. Das ist für mich die beste Neuigkeit, die ich Ih-
nen schreiben kann. Sobald Sie mir mein sechstes Buch der Lieder
wieder zurück senden werden, erwarten Sie das fünfte, und eine kleine
Ode dazu. Ich umarme Sie mit der vollkommensten Hochachtung und
Liebe, als
Ihr
getreuer Milchbruder
Berlin d. 9. Juni und aufrichtigster Freund
1771. Ramler.
aus dem Nachlasse J. A. Ebert's. 17
5.
Mein liebster, mein brüdorUchor Ebert,
Ihren letzten Abschied bey dem Geh. F. Rath B. hätte ich ohne
Thränen nicht aushalten können; ich musste mich also der Gesellschaft
heimlich entziehen, so gern ich Sie auch noch einmal an mein brüder-
liches Herz gedrückt hiitte. Es ist zwar nicht recht, dass Berlin Ihrem
Braunschweig niclit so nahe liegt, wie Ihr Wolfenbüttel, damit ich alle
Woche zweymal bis siebenmal bey Ihnen seyn könnte. Wie tlieucr
sind Sie mir, mein liebster, seitdem ich so viel Gelehrte seit zwanzig
Jahren habe kennen lernen, die nicht Ihi'en Glimpf, Ihr weiches Herz,
Ihre Edelmuth besitzen, aber dagegen oft einen sehr eingeschränkten,
einen sehr eigensinnigen Geschmack besitzen! Wie nöthig ist mir ein
Gelehrter und ein Denker, der das Herz auf der Zunge trägt, und
einen allgemeinen Geschmack des Guten und Schönen hat, und in
dessen Herzen kein P'ünkchen Neid und Eyfersucht aufkommen kann !
— Es ist mit den Menschen wie mit den Waaren: die besten muss
man sich aus der Fremde kommen lassen, und unsre besten gehen in
die Fremde.
Sie erwähnen höchst gütigst eines kleinen Streites unter uns, der
eine Viertheistunde dauerte, und der bey uns beiden gewiss keine Narben
zurückgelassen hat, weil er noch keine Wunden schlug. Ich weiss ge-
wiss, ich Eamler, als Fremder, würde damals eben so vertheidigt ha-
ben, als Sie ; und Sie, als Berlinischer Einwohner, Avürden, nach endlich
erschöpfter Geduld , eben so angeklagt haben , als ich. Wir wollen
beide diesem Menschen zugestehen , dass er die Verskunst ziemlich
versteht, und in der Reimkunst ein wirkliches Genie ist; wenn sich
dieses Genie aber mit unserm Klopstock, dem Genius der Dicht-
kunst, und mit allen andern Dichtern nach der Reihe zu messen,
ja sich gar über sie wegzusetzen fortfährt, und nie demüthiger wer-
den will , so wollen wir es beide wenigstens für ein unverschämtes
Genie halten.
Sie empfangen von unserm Herrn Postrath Gräfe das 7. u. 8.
Buch meiner Sammlung, mit der Bitte, es ja nicht zu verlieren, weil
ich den Verlust nicht völlig wieder ersetzen könnte. Doch diese Bitte
war unnützt; aber diese zweyte taugt desto mehr: Sie werden nehmlich
von Ihrem, bereits A^on vielem Ausbessern ermüdeten Freunde gebeten,
bey frischen Kräften das Mittelmässige, das noch stehen geblieben ist,
in etwas Gutes und das Gute in etwas Besseres umzuschafFen. Die
Stücke, die der Sammlung nicht würdig sind, durch bessere zu ersetzen,
und auch, dieser Rekrutirung wegen, unsern Lessing zu erinnern,
der mir Bcyträge aus zienUich unbekannten Deutschen Dichtern ver-
sprochen hat.
Die aufgeschriebenen Stellen, Avorüber wir uns miteinander ver-
gleichen wollten, mögen immer verloren seyn, ich habe noch Vorrath
hievon, und werde einmal alle zusammen abschreiben und entweder mit
Archiv f. n. Sprachen. XXIII. 2
18 Ungedrucktft Briefe
meiner eigenen Entscheidung sie Ihnen übersenden, oder auch meine
Entscheidung weglassen, um zu sehen, ob wir von einander abgehen
werden, und aus was für Ursachen wir es thun. Ich seufze noch ein-
mal: Ach wäre mein Ebert doch hier! Wie viel vernünftige, wie viel
empfindsame Spaziergänge wollten wir thun ! Wie patriotisch wollten
wir für unsror Enkel Sprache sorgen ! Wie viele halb fertigen Ar-
beiten uns mittheilen! u. s. w. u. s. w.
Sagen Sie mir doch, wie ich es künftig bey einer neuen und ver-
mehrten Ausgabe meiner lyrischen Sächelchen mit meinem so oft be-
sungenen Könige halten soll? Ich habe es noch nicht gewagt, ihm
die Lobgesänge auf ihn selbst zuzuschicken. Die Schwierigkeit der
Materie ist es nicht, warum ich glaubte, die Stücke würden ihm nicht
gefallen ; sondern die Schwierigkeit, die ihm die deutsche Büchersprache,
ja noch mehr, die deutsche Poetensprache machen muss , die er gar
nicht gewohnt ist, so sehr er auch in einer andern Sprache selbst Poet
und selbst Richter der Poeten ist. Ich habe hier keinem Grossen, der
um ihn ist, geschmeichelt, dass ich glauben und hoffen könnte, er würde
mir einen Dienst in dieser Sache leisten. Wäre ich gewiss versichert,
dass er seinen Dichter nur nicht auslachen würde, so schickte ich ihm
die Büchelchen geradezu. Vielleicht ist dieser Weg der beste.
Wissen Sie, juvenum nobilium cliens! einen bessern, so sagen Sie
mir ihn. Wenn nicht, so werde ich wohl darüber sterben, und mein
Opfer niemals bis zum Throne bringen. Wenigstens wird es fein
sonderbar lassen, dass ich gesungen habe , als ob ich dazu gedungen
worden wäre, und mich so sehr gehütet habe, das Gesungene vor mei-
nes Helden Augen kommen zu lassen , als ob ich Strafe deswegen
verdient hätte.
Ich umarme Sie, mein Bester, imd werde diesen Brief dem vor-
trefflichsten unter den Mädchen geben , mit der Sie sich des Boten-
lohnes wegen selbst abfinden mögen. Leben Sie wohl, und überleben
Sie Ihren
Berlin 25 Oct. bis ins Grab beständigen getreuen
1771. Ramler.
6.
Geliebter Freund!
Herr Cacault, ein Französischer philosophischer Kopf, und Freund
unserer Litteratur, ist mir von Herrn Weisse zuerst als sein Freund
empfohlen worden, und nun .empfehle ich ihn wieder als den meinigen.
Er wünscht bey seiner Durchreise durch Braunschweig vor allen
Dingen meinen Ebert kennen zu lernen , von dem ich ihm so viel
Gutes vorgesagt habe, und hiernächst alle die übrigen Herren, die
mein Ebert mit ihm bekannt machen will.
Und nun tausend Glückwünsche zu dem vortrefTlichsten Mädchen,
aus dem Nachlasse J. A. Ebort's. 19
zu Ihrer wohlgerathenen Schülerin. Sie imisste keinen andern haben,
als denjenigen, den sie am meisten zu lieben und zu ehren Gelegenheit
gehabt hatte. Auch wünsche ich Ihnen Glück zu dem Canonicat,
was der Herzog, wie ich höre, Ihnen zum Ilochzeitsgeschenk gemacht
hat. Herr Zachariä, sagte man mir, verhcurathe sich gleichfalls und
habe ein ebenmässiges Geschenk erhalten. Sagen Sie meinem alten
Correspondenten von Kortes Zeiten her, dass ich an Seinem Vergnügen
und Glück den freundschaftlichsten Antheil nehme. Ich kann ihm
nicht selbst schreiben, weil ich die Gicht habe, und überhaupt ein
Correspondent bin, wie mein liebster Milchbruder. Aber auf den einen
Brief, der das wichtigste betraf, was ein Poet wissen muss, nehmlich
wie der Erb-Pr. das übersandte Büchelchen aufgenommen habe, hätte
mir mein Milchbrüderchen doch wohl antworten sollen. Ich muss
also vermuthen, dass mein AVerkchen keinen sonderlichen Beyfall ge-
funden habe. Sie haben mir gewissermasson doch einen Brief geschrie-
ben , wofür ich Ihnen meinen grossen Dank schuldig bin , ich meine
den vortrcti'lichen Gedruckten an Herrn Schmid. Mir nicht allein,
der ich bestochen bin, sondern allen die ihn gelesen haben, hat er
ausserordentliches Vergnügen gemacht. Man sieht einen Athleten,
der zwar lange nicht mitgekämpft hat, der aber zeigt, dass er die
ganze Fechtkunst versteht, sobald er einmal wieder in die Schranken
tritt. "Was gäbe ich nicht für einen zweyten Brief an mich? und für
einen dritten an Lessing, und für einen vierten an — wen Sie wollen.
Ich setze mich zuerst, weil ich gewiss weiss, dass ich mich durch eine
Ode an meinen Ebert lösen wurde. Herr Lessing mag sich durch
eine Comödie lösen, worin er ein Mädchen schildert, dass ausserordent-
lich liebenswürdig ist , und wozu er das Muster von Ihrem Mädchen
nimmt. Aber ist die Hochzeit auch nicht schon vorbey? Damit ich
Frau und nicht Mädchen schreibe, wenn ich Sie künftig ersuche, meine
Grüsse an sie, und, welches ich itzt gleich thue, an Ilu-en Herrn Vater
und Frau Mutter zu bestellen. Vergessen Sie doch nicht, wenn ich
so glücklich seyn soll einmal Ihre Hand Avieder zu lesen, mir zu sagen
ob ich Ihrem E. P. noch ein wenig gefalle?
Principibus placuisse viris non ultima laus est. Ich umarme Sie
und bin ewig und unveränderlich ganz der Ihrige
Berlin den 25 .Januar Ramler.
1773.
7.
Mein geliebter Herzensfreund!
Diesen meinen Gruss wird Ihnen ein junger Musikus, Herr
Reichard einhändigen, den ich unmöglich durch Braunschweig kann
durchreisen lassen, ohne Sie gesehen zu haben. Sie werden an diesem
jungen Manne ein musikalisches Genie und noch andere schätzbare
20 Ungedruckte Briefe
Eigenschaften entdecken, ■worunter auch diese ist, dass er Sie, und
alle, die Ihnen gleichen, bewundert und verehrt. Dass Sie mit Ihrer
geliebten Frau höchst vergnügt und glücklich leben, das v^'ciss ich,
und darf mich also darnach nicht erkundigen ; aber das möchte ich
doch Avohl wissen, was wir das nächstemal von Ihnen zu lesen be-
kommen werden, und wie bald wir es bekommen sollen. Imgleichen,
ob bald ein kleiner Ebert (ein weit besseres Werk, als Ihre besten Ge-
schriebenen) ob bald ein solcher Liebesgott vom Schoosse seiner Mutter
den Vater mit halbgeöffneten Lippen anlachen wird. Ich reisse mich
von meiner neuen Ausgabe des Bathyll (von der ich noch fünf Bogen
nach Leipzig zur Messe schicken soll) mit Gewalt los, um das Ver-
dienst zu haben, Ihnen öfter zu schreiben, als Sie mir. Ich hätte Sie
bey dieser letzten, vermuthlich letzten, Verbesserung in vielen Dingen
zu Rath ziehen mögen: aber immer Briefe desswegen zu schreiben
schien mir keine Erleichterung bey meiner Vielschreiberei zu seyn. Ich
bin durch beyliegendes Gedichtchen, wozu ich mir, nach meiner alten
Gewohnheit, ziemlich viel Zeit nahm, an der Vollendung des kritischen
Buches gehindert worden , welches ich aber fertig zu schaffen eilen
muss. Daher ich mich Ihnen diesesmal kurz und eilfertig empfehle,
einen meiner besten Segenswünsche Ihrer besten Frau gebe , Herrn
Lessing, Zachariä, Eschenburg grüsse und mich mit dem aufrichtigsten
Herzen nenne
Ihren
getreuesten Freund
Berlin den 30 April und Milchbruder
1774. Ramler.
N. S. Die Anmerkungen unter diesem Vorspiel sind für das
einfaltige Berlinische Parterr gemacht, und werden in meiner künftigen
Ausgabe wegbleiben. Zu dieser will ich, nach Ihrem und Ihres Ha-
gedorns Beispiel, andere Anmerkungen machen, die ich grosse Lust
hätte Ihnen noch in diesem Jahre zuzuschicken.
8.
Liebster Freund!
Wir haben hier mit unserm lieben Lessing recht vergnügt gelebt.
Zuerst ihn brav ausgefragt, und, als wir merkten, dass er uns das
meiste und beste geschrieben geben wollte, zu fragen aufgehört. Ich
habe, wie gewöhnlich, von allem mit ihm gesprochen, wovon ich mir
zu sprechen nicht vorgenommen hatte, und alles vergessen, wovon
ich nothwendig mit ihm zu sprechen hatte ; ich werde mich also wieder
aufs Briefschreiben verlassen müssen, eine Sache, worin wir beide gleich
genau und gleich unermüdet sind. — Sie ei'mahnen mich zum Schrei-
ben, — damit Sie, wie Moses sagt, sich mit dem wohllüstigen Lesen
aus dem Nachlasse J. A, Eberfs. 21
einen Zeitvertreib machen kJmncn: eben so mache ichs mit unscrm
Lessing; ich ermahne ihn mit allen rhetorischen Figuren zu cinci- neuen
Komödie, besonders zum Schlaftrunk, weil ich zu dieser den Titel her-
gegeber habe: aber er lässt sich ruhig ermahnen, und folgt seiner
eigenen Laune und der Bequemlichkeit. Ich finde es gleichfalls viel be-
quemer, meine Stunden mit Lesen hinzubringen, als mit Ausarbeitimgen,
wovon der Dank in Kritiken besteht , die so künstlich auf Schrauben
gesetzt werden, dass man denken muss, man habe uns nur aus Gnade
und Barmherzigkeit ungezüchtigt entwischen lassen. Wenn icli einmal,
Avie Pope, wild werden könnte, so würde ich alles, was schon wider
mich grob gesagt und fein gestichelt ist, zusammenschreiben, und es
selbst der Welt zum Geschenke machen. Es würde sich alsdann zeigen,
dass ich nicht eine einzige gute Eigenschaft besässe, sondern noch un-
gliicklicher wäre, wie das schlechteste unter allen menschlichen Ge-
schöpfen ist, wovon doch jedes wenigstens eine oder ein Paar gute
Seiten hat. Freylich weiss die Welt nicht, oder vergisst es auch den
Augenblick, Avas wider unsres gleichen Leutchen, die im Grunde doch
gute Leutchen sind, gewitzelt wird. Schade nur, dass wir es nicht so
geschwinde vergessen. Wir erwarten wenigstens einen warmen Dank,
und erhalten im eigentlichsten Verstände Ungewinn und Schaden.
Meine Gattung von Poesie ist die undankbarste unter allen. Schriebe
ich Fäbelchen oder auch Satiren, so würde ich gelesen und vielleicht
gefiirchtet. Aber nichts, als lauter reiner Weihrauch, den der nicht zu
riechen bekömmt, dem er angezündet wird, und dessen die übrigen,
denen er nicht angezündet Avird , bald überdrüssig werden. — Wenn
man meinem Milchbruder in Schriften auch nur von Ferne eine saure
Miene macht, so werde ich beleidigt; dann denke ich, wen wollen wir
denn einmahl vom Herzen loben und schätzen , wenn wir unsre besten
Männer so kalt und zweydeutig loben? Sie können sich also nur mit
mir trösten. Mündlich und in Briefen bekomme ich die deutlichsten
und oft die ausschweifendsten Lobeserhebungen, damit man es im
Drucke wieder massigen kann. Fehler werden mit bestimmten Worten
und Beweisen angeführt, das Beste wird gar nicht angeführt, sondern
nur mit den abgedroschenen allgemeinen Lobeserhebungen belegt,
die ein jeder bekömmt, dem man nichts Böses sagen Avill. Ich rede
hier fast nur von einem einzigen Kritiker, dessen Aufführung
mir nahe geht ; denn wirklich lese ich zu wenig gelehrte Zeitungen,
als dass ich viel für oder Avider mich erfahren könnte. — Poesien,
Avelche ich nun gern bis in mein 60 Jahr machen möchte, habe ich,
seit meinem 49 Jahr, nicht gemacht; aber fremden Liedern ein Paar
Feilstösse gegeben, das habe ich Avohl. — Zum Exempel: Avenn ich
Avüsste, dass unser vortreffliche Prof. Eschenburg es nicht übel nehme,
Avenn ich eines seiner Lieder, das ich im Almanach d. d. Musen ge-
funden habe, in die Cur nähme, so wollte ich es ihm zur Prüfung und
zur letzten Ausfeilune: übersenden. Nach meiner neuen Leseart würde
22 Un gedruckte Briefe
es, so viel ich es aus dem Kopfe weiss, (denn diesen Brief schreibe
ich bei Herrn Voss, wo Lessing diesen Tag zubringt) ungefähr so
anfangen :
Philet.
So verändert, Freund Elpin?
Was soll dieser Rosmarin,
Da dein jugendliches Ilaar
Sonst umkränzt mit Rosen war?
Elpin.
CWoens Lieb' ist mir geraubt:
Rosen, sprach ich, um mein Haupt
Dürft ihr künftic; nicht mehr blühn!
Darum trag ich Rosmarin. — u. s. w.
Weil ich die Folge nicht mehr im Gedächtniss habe. — Ich wollte
gern in der lyrischen Blumenlese von allen unsern guten Dich-
tern wenigstens ein Stück aufzuweisen haben , und es wäre Sünde und
Schande, wenn ich unsern Eschenburg ausliesse. Klopstocken habe
ich ausgelassen , weil er für diese Sammlung zu hoch ist ; er kann sich
aber mit mir trösten: denn mich selbst habe ich auch ausgelassen.
Ich hoffe zwar von ihm, aber nicht von einigen seiner Schüler,
Vergebung, wenn ich eines seiner leichten Lieder verkürzt. Wenn
Sie uns dieses Jahr besuchen, so wollen wir darüber Conferenz halten.
Ich umarme Sie mit der wärmsten Freundschaft, küsse Ihrer vortreff-
lichen Frau die Hände , — und Mund und AVangen dazu — (es ist
ja fürs erste nur im Briefe!) und bin
Ihr
Berlin 20 Februar ewig getreuer brüderlicher
1776. Ramler.
9.
Mein gellebtester bester Freund!
Der Herr Hofrath Raupach , ein Schlesier , und Ihrem lieben Mi-
nister, dem vortrefflichen Zedlitz, lieb und werth, wird Ihnen seine
Person und diesen Brief bringen. Er liebt die deutsche Litteratur in
ausnehmendem Grade, und ist mit allen unsern alten und neuen Dichtern
so bekannt, wie wir selbst: das ist genug, ihn auf die kurze Zeit, da
Sie ihn in Braunschweig sehen werden, Ihrer Freundschaft zu empfehlen.
Ich lege hier des Prof. Eschenburgs aufgefundenes Liedchen, mit meinen
Varianten bey, mit der Bitte, mir es gütig zu verzeihen, dass ich meine
Feile an sein Gedicht zu setzen gewagt habe, und mit der zweyten
Bitte an ihn, mit seiner eigenen Feile darüber herzufahren. Sein
Lied ist zu einer neuen lyrischen Blumenlese bestimmt, die den zweyten
aus dem Nachlasse J. A. Ebert's. 23
Tlieil und den Schluss dieser mülisainen und vielloicht undankbaren
Arbeit , ausmachen soll. Ich bin in diese Arbeit durch die kloine
Veranlassung hineingezogen worden, dass ich dem Tonkünstler ein paar
Stellen bequemer machon müssen. Bald darauf habe ich immer weiter
um mich gegrillen, und andern das zu leisten gesucht, was ich vielleicht
(wenn ich meinen eigenen Vortheil besser verstanden hätte) mir nur
allein hätte leisten sollen. Ich will sehen, ob ich Ihnen nicht zur letzten
Beurtheilung, das ganze Buch in einigen Wochen hinüberschicken kann.
Sie sind patriotisch gesiimt; Ihnen liegt die Ehre Ihrer zeitverwandten
Dichter am Herzen, und dafür umarme ich Sie auch mit doppolten
Küssen, Ihre liebenswürdige Frau in diese Umarmung mit einge-
schlossen; und bin ewig
Ihr
getreuester Freund und
Berlin den 28 April redlicher Milchbruder
1776. Ramler.
10.
Liebster Freund und theuerster Milch bruder!
Diesen mir so werthen Nahmen muss ich nicht abkommen lassen.
Und nun Avie befinden Sie sich auf Ihrer Reise ? oder wie haben Sie
sich befunden? Herr Reich aus Leipzig wird Ihnen doch, meinem
Auftrage gemäss, die Fabellese übersandt haben? Ich hatte ihm zu-
gleich ein Briefchen an Sie und an viele Mitarbeiter der Fabeln hin-
geschickt, mit der Bitte, zu jedem Briefe ein Exemplar auf Holl. Papier
hinzu zu thun. Wenn er alles getreulich ausgerichtet hat, so wird es
mir lieb seyn, wenn mein Freund, der Nichtschreiber , es mir einmahl
melde. Aber vornehmlich erinnert mich Himburg, dass ich Sie er-
suchen möchte , für ihn eine neue Ausgabe Ihrer Youngischen Nacht-
gedanken zu veranstalten. Ich besorge, dergleichen druckt man sonst
ohne Anfrage; es ist also ein gutes Zeichen, dass er wenigstens es
nicht so macht, wie die Nachdrucker. Auch weiss ich aus Erfahrung,
dass er die versprochenen Autorgebühren richtig zahlt. Schreiben Sie
ihm doch selbst hierüber. Er sagt, Ihr Buch wäre abgegangen, und
es könnte leicht ein Nachdruck in der Schweiz oder in Wien oder
Strasburg oder Manheira gemacht werden.
Ich habe Ihrem gnädigen Herzoge meine Fabellese zugesandt ;
ich wünsche, dass sie Seinen Beyfall erhalten mag. Ich hätte ihm
wohl die Nahmen der Verfasser in das Register schreiben können, icli
wollte aber das Exemplar nicht länger zurück halten. Verslein zum
Anfange habe Ich hineingoschrioben. Die beiden letzten davon habe
ich noch im Gedächtniss :
Auch Thetis Sohn ergriff, entfernt vom Schlachtgewülil,
Des alten Chirons Saitenspiel-
24 Ungedruckte Briefe aus dem Nachlasse J. A. Ebert's.
Das übrige denken Sie sich leicht hinzu.
Wenn Sie doch die Youngischen Satiren von den Nachtgedankon
trennen wollten! Manches Frauenzimmer liebt diese Satiren nicht;
und manche Mannsperson leider! die Nachtgedanken nicht.
Grüssen Sie meine liebe Freundin, Ihre theuerste Hälfte, und
geben ihr in meinem Nahmen den Kuss eines Freundes. Ich bin mit
dem wärmsten Herzen Ihr *)
Berlin d. 21 Dec. ewig getreuer Freund
1783. Ramler.
*) Der in diesen Briefen häufig wiederkehrende Ausdruck Milchbruder
ist nicht gut im gewöhnlichen Sinne zu verstehen, da Ebert zwei Jahre
jünger war als Ramler. Vermuthlich gab die grosse Aehnlichkeit der beiden
Freunde die Veranlassung zu dieser Bezeichnung. Die Karscbin wurde, als
sie Ebert zum erstenmale sah, von dieser Aehnlichkeit so überrascht, dass
sie ihr Erstaunen in folgende Verse ergoss:
Ebert und Ramler.
Ihr Götter was hab ich gesehn,
Durch welchen unter Euch ist dieses Wunder geschehn?
Sie sind nicht einer Mutter Söhne;
Und dennoch hatten wohl nicht
Die Brüder der schönen Helene
Mehr Aehnlichkeit im angesicht
Als Ebert und der Sänger des Süssen Pygmalions.
Von beyder Lippen fliessen
Accente der Musen und des hohen ApoUons,
In beider Auge funkelt
Ein gleiches liebüches Blau,
Wie auf Vergissmeinnicht und Hyacinthen der Thau
Wenn keine Wolke den Morgen Verdunkelt.
Sie haben Einerley
Lächeln und Blick wie der freundliche May,
Und der rosengeschmückte
Nach Ihm folgende Mond.
Ihre Mutter entzückte V
Einer, der den Olimpus bewohnt,
In wollüstigen Träumen
Zu verschiedener Zeit,
Als Ihr Wesen begunte zu keimen.
Ja, Ja — daher entstand die Gleichgeschaffenheiti
Phöbus ist es gewesen,
Beyde sind des Gottes Voll,
und von Ihm
Zu Lieblingen erlesen.
Deren Ruhm nicht untergehen soll.
Braunschweig. Dr. Adolph Glaser.
Beiträge
zur englischen Lexikographie.
(Zweiter Artikel.)
R , the three R's of Sir William Curtis = Lesen , Schreil)en und
Rechnen, davon so genannt, dass Alderman Curtis, der Liebling
Georg's IIL, einst in einem Toaste „roading, writing, 'rithmetic" feierte.
(Nach J. Schmidt, Archiv, Bd. 21, p. 348.)
rabble, to, wurde 1689 von den covenanters gebraucht, in der
Bedeutung: bischöfliche Geistliche aus ihrem Amte vertreiben. Mac-
aulay, Hist. IV, pp. 248, 250, 251 Tchn.
rabbit me = damn me, wiederholt in Goldsraith's Lustspielen,
zu seiner Zeit also wohl eine alltägliche Redensart.
rack. Nach den Dictionnairen sollte man vermuthen, dass es in
der Bedeutung: ziehendes Gewölk nur an den zwei citirten Stellen in
Shakspeare vorkommt. Es wird jedoch noch heute häufig gebraucht,
unter andern von Thos. Äloore, I, p. 391, II, p. 313, III, p. 316
Tchn.
ragged schools, die in neuerer Zeit für die vagabundirönde Ju-
gend Londons gegründeten Armenschnlen.
ramshackle, Substantive. The Newcomes, II, p. 318 Tchn.
ray-dog, eine Fischart. Kingsley, Two years ago, p. 50 Tchn.
read, the, Substantive. On Monday when I arrived and took
ray seat at the head desk, and my first read of the newspaper, as was
my right, the first thing I read was. Thackeray, History of Samuel
Titmarsh, chpt. I.
readership, Correctorstelle in Buchdruckereien.
refugees = cowboys, in consequence of their having taken
refuge under the protection of the crown. Cooper, The spy, p. 199
Tchn.
r e g i s t r a r. Der Civilstandsbeamte. England und Wales zer-
fallen in 624 regis tration-districts.
regulation cap, regulation- suit, regulation sword
u. s.w., beim Militair, die vorschriftsmässige Mütze, Uniform, der vor-
schiiftsmassisre Defren.
26 Beiträge zur cnglisclien Lexikographie.
renowner. So übersetzt Longfellow, Hyperion, p. 66 das
deutsche Renommist.
to r e p o r t one's seif, militärischer Ausdruck : sich melden.
to reread, to read again.
a rheoboam, a shovfi hat.
the rhine, in Somersetshire für Graben. Macaulay, Hist. II,
172 Tchn. Between them and the enemy lay three broad rhines,
filled with water and soft mud. Two of these, called the Black Ditch
and the Langmoor Rhine, Monmouth knew that he must pass. But
the existence of a trench, called the Bussex Rhine, had not been men-
tioned to him by any of his scouts. — Van Dalen hat dieses rein pro-
vinzielle Wort wohl mit Unrecht in sein Vocabulary aufgenommen.
ribbon, Ordensband, wie ruban. Thos, Moore, IV, 101 Tchn.
rieh, reich an guten Einfällen, Schulausdruck. DTsraeli, Co-
ningsby, 8, 1. Log of the Water Lily, p. 42 Tchn.
riddle-me-ree, ein Räthselrefrain, wahrscheinlich corrumpirt
aus riddle-me-right.
to ride (the) Skimmington. Eine Beschreibung dieses Schand-
ritts in Butler's Hudibras, Part II, Canto IL
Right-boys = White-boys. Atlantis, II, 22.
the ring, in Arcansas, ein über dem Hufe des Pferdes fest-
geschnürter seidener Faden, um den Reisenden wegen Lahmheit des
Pferdes zur Umkehr zu zwingen. Marryat, Monsieur Violet, p. 298 Tchn.
to rise, Schulausdruck, einen höhern Platz bekommen.
river-brethren, eine religiöse Secte in Nordamerika (Kohl,
Reise im Nordwesten der Vereinigten Staaten, p. 25).
Roger de Cover ley, ein alter Tanz.
roller, ein Gebäck in den Vereinigten Staaten (Kohl, Reise im
Nordwesten der Vereinigten Staaten, p. 239).
the roly-poly pudding; so schreibt Thackeray, Snobs, chp.
35, gewiss unrichtig für rolly-pooly (von roll in the pool).
the roost, die Meeresströmung. Walter Scott, Pirate, I, 1,.,
rove, in der Seesprache gewöhnliches Participium, das nicht zu
to rive, sondern zu to reeve gehört mit demselben Vocalwechsel wie
hove von to heave. Cooper, Jack o'the Läutern, p, 328 Tchn.
ruffs and rees? Eine Vogelart; nur bei James, stepmother,
II, p. 230 Tchn. und Beauchamp, p. 210 Tchn.
the runner, 1) einer der bei dem Schulfest montem beschäf-
tigten Knaben (siehe die unter montem citirte Stelle) ; 2) der Passa-
giermäkler in New York, ein Betrüger, der über die Einwanderer her-
fällt und sie durch falsche Vorspiegelungen um ihre Habe zu bringen
sucht, von den Deutschen durch das platte Loafer (Läufer) übersetzt.
rush-cart, ein aus Binsen gemachter und bei den Maifesten
gebrauchter Wagen, dessen genaue Beschreibung zu finden ist in Ains-
worth, Lancashire witches, I, p. 113 Tchn.
Beiträge zur englischen Lexikographie. 27
sack. „They were well provided Avith that kind of Sfianish
wine which is called ,sack', though the true name of it be Xeque,
from the province, when it comes." — Mandelsho, travels into the
Indies, London 1G69, p. 5.
sack er, früher der Name einer kleinen Art Kanone. W. Scott,
Montrose, I, p. 39, Schlesinger'sche Ausgabe.
sainted, oft gleichbedeutend mit late, dead, selig.
Saint Swithin. Nach einer abergläubischen Kegel tritt lange
Regenzeit ein, wenn es am Tage des Saint Swithin geregnet hat. Da-
her Punch, n. 819, p. 112: The birthplace of St. Medard, who is
the French St. Swithin, has long been a puzzle to French archaeo-
logists. However, the bibliopile Jacob says that there is every ground
for supposing it was somewhere near Tours, for undoubtedly St. Me-
dard's Province in France was To-Rain (Touraine).
to sali, oft von Personen, stolz einherschreiten.
safe bind, safe find, Sprichwort.
Santiclaus. Longfellow, Outre-mer. Standard Amer. Auth.,
p. 305: The shops were füll of dolls and playthinö;s for tlie Bifana
who enacts in Italy the same merry interlude for children that Santi-
claus does in the North. Dieser Santiclaus ist offenbar der am Rhein
verehrte und von dort durch Einwanderer nach Amerika versetzte
St. Nicolaus.
satisfied in. I was lately satisfied in what I heard of be-
foic .... that the mystery of annealing glass is now quite lost in Eng-
land. Füller, Mixt Contemplations on these times in Fuller's Good
Thoughts, Pickering, 1846, p. 221.
save you, abgekürzt für God save you, die früher sehr gebräuch-
liche Begrüssungsformel.
(God) save the mark, ein immer in ironischem Sinne gebrauchter
Ausruf.
savourly. Damit bezeichneten die Independenten die ihnen
zusagenden Predigten. Macaulay, Hist. of Engl., T, p. 121 Tchn.
scene, Hinterdecoration, im Gegensatz zu side oder wing,
Seitencoulisse.
Scratch er, eine Art schnarrender Rolle, mit denen sich die den
Jahrmarkt zu Greenwich Besuchenden zur Belustigung einander unver-
merkt über den Rücken fuhren (F. A. Flügel).
screw, turfcant, ein schlechtes Pferd. Charles Lever, Arthur
O'Leary, I, pp. 118, 125, 313 Tchn.
scrub, der ,,Busch," Wald in Van Diemensland. James, The
convict, II, p. 104 Tchn.
scruf, der Nacken. Marryat, Jacob Faithful, I, 6. I shall take
you by the scruf of the neck. — Dickens, Little Dorritt, I, p. 310 Tchn.
scuft of the neck, dasselbe in Gaskell, Life of Charlotte Bronte,
I, p. 270 Tchn.
28 Beiträge zur englischen Lexikographie.
sculping, young sculping, seacant (F. A. Flügel).
a scnp, amerik., a swing. The wide, wide world, p. 102 Tchn.
second-scent. Analog dem second sight gebildet von Thos.
Moore in den Fire-worshippers :
With that keen second-scent of death
By which the vulture snuffs his food
In his still warm and living breath.
secret, a, ein unter dem Anzüge getragenes Panzerhemd. Mac-
aulay, Hist. IV, p. 301.
Secularists, heterodoxe Kirchenpartei in England.
selftaught, well taught, Sprichwort.
to send, vor Participien der Verba der Bewegung zur Verstär-
kung angewendet. Warren, Now and then, I. He flung him out into
the open air with such a violence which sent him staggering se-
veral yards. Derselbe, The Thunderstruck. Shall we be at once split
asunder into innumerable Fragments and sent drifting through in-
definite Space. Macaulay, The royal troops instantly fired such a
volley of musketry as sent the rebel horse flying in all directions.
James, The stepmother, II, p. 189 Tchn. As soon as this is all
settled, l'll pay her wages and send her packing.
serpent f e n c e == Virginia fence (Kohl, p. 301).
shaky, exchange cant, faul, in schlechten Umständen. Thakeray,
History of Samuel Titmarsh. Other circumstances occurred in the city
of London which seemed to show that our director was — what is not to
be found in Johnson's dictionary — rather shaky.
shambles, a, als Singularis. Bulwej*, Zanoni, III, 7. Thick
steams of blood rise as from a shambles. Prescott, The whole land
was converted in a vast human shambles.
sham, nach Macaulay, Hist. of Engl., I, p. 253 Tchn., seit der
Zeit Karl's des Zweiten in Gebrauch. Vergl. North's Examen, p, 231.
shamefas tness, die eigentliche Form für shamefacedness, vom
angelsächsischen sceara-feast; es kommt vor in der Bibelübersetzi^g
von 1611, Timoth. I, 2, 9.
shandry, eine Wagenart. Gaskell, Ruth, p. 161 Tchn. und
The Sexton's Hero, scheint nordenglisch.
shandygaff, ein Getränk. Cuthbert Bede, The adventures of
Mr. Verdaut Green, I, chpt. 12.
Sharp, dur, im Gegersatz zu flat, moll.
sheet-lightning, Wetterleuchten.
shooting-gallery, Schule zu Schiessübungen, le tir.
Short whist, eine Art des Whist, wie long whist.
to show fight, Miene machen, sich zu widersetzen.
the shy, der Wurf. Wilkie Collins, Hide and seek, I, p. 126
Tchn. I feel certain that I should enjoy having a shy at Mr. Jubber.
Ferner II, 163. Siehe the smudge.
Beitrüge zur englischen Lexikographie. 29
sight, der Alliteration wegen häuilg zusammengestellt mit sound;
every sight and sound, Alles, was zu sehen und zu hören ist.
to sight, zielen, beim Geschütz. Cooper, Jack o' the Lantern,
p. 405 Tchn. Cpt. Mayne Reid. The hunter's feast, chpt. 23. Scheint
Amerikanism zu sein.
sketching-stool, Malerstuhl.
skip. Trinity College appellation for servant. Charles Lever,
Harry Lorroqucr, I, p. 19G Tchn,
skip per, oft allgemein und scherzhaft für jedweden captain of
a ship.
skirl, the, substantivisch, das Geschrei. Gaskell, Ruth, p. 50 Tchn.
slur, to, namentlich häufig in Verbindung mit over gebraucht, was
Lexika nicht angeben.
smack, to. The smack heisst der Schlag, Klaps; to smack in
der Bedeutung schlagen hat kein Lexikon ; es kommt bei Wilkie Colllns
oft vor, unter Anderem in liide and Seek, II, p. 1 Tchn. The butcher
smacked with triumphant band the fat carcasses that hung arround him.
Ferner daselbst II, p. 208, Tchn.
the smudge, Substantiv, der Schmutz. Marryat, Valerie, chpt. 7.
Für schmutzige Zeichnung kommt es vor bei Cuthbert Bede, the ad-
ventures of Mr. Verdant Green, I, chpt. XII. Ich erwähne hier noch
einmal, was unter clamber schon oben gesagt ist, dass man beinahe als
eine Regel aufstellen kann: Infinitive deutscher Abstammung werden
durch den vorgesetzten Artikel zu Substantiven. Es beweist die hier
mitgetheilte Wörterliste, wie viele Bereicherungen die Wörterbücher
von diesem Grundsatze aus erfahren. Vergleiche unter Anderem : read,
shy, skirl, sj)in, swindle, wrap.
a s n u ff- m u 11 = a mole.
snug to, activ. Oliver Goldsmith. You must know, sir, every
woman carries in her band a stove, which, when she sits, she snugs
under her petticoats.
sod-corn nennen die westlichen Ansiedler das aus dem Urlande
mit blosser Umpflügung des Rasens gew()nnene Korn. Kohl, p. 501
(Rasenkorn).
soddened with wet. Dickens, Litfle Dorrit, I, chp. XI, ein
sehr kühn, wie von einem Verbum sodden gebildetes Wort.
to soll (vom Wilde), in's Wasser laufen. Marryat, The children
of the New Forest, p. 89 Tchn.
sou 'wester, eine Art Hut.
a spade guinea = a clippcd guinea bei James. The stepmother,
I, p. 33G Tchn. Es sollte wohl eigentlich a spaid (spay-ed) guinea
heissen.
spanish merchant, Gesellschaftsspiel. Mrs. Gaskell, Com
pany Mannei'S, the end.
Spanner, Aufpasser in Spielliäusern.
30 Beiträge zur englischen Lexikographie.
spar, ein an der Seite amerikanischer Flussdampfer befindliches
dickes iSteuerholz. Kohl.
a spin, substantivisch in Thos. Moore's Summer fete.
to split legs, mit dem im Wagen Gegenübersitzenden die
Beine kreuzen ; to split straws, ein Kleinigkeitskrämer sein.
spoffish? Boz, Sketches.
spoiled five, ein häufig in Lever's Schriften erwähntes, wahr-
scheinlich irisches Kartenspiel.
the spoor, aus dem Holländischen entlehnter, am Cap gebräuch-
licher Ausdruck für track, Spur. Marryat, The mission in Afrika,
p. 151 Tchn.
squarring? Wilkie Collins, Hide and Seek, T, p. 243 Tchn.
Here Zack came in wilh the gloves on, „squarring'' on the most ap-
proved prize-fighter principles, as he advanced.
to squash, intransitiv bei Dickens, Hard Times, p. 269 Tchn.
squaw-corn, nordamerikanisches Beiwort des Mais, gebildet
nach dem indianischen Worte dafür. Vermuthllch nennen es die In-
dianer so, weil bei ihnen die Maiscultur ausschliesslich ein Geschäft
der Frauen ist und im Gegensatz zu ihrem andern Getreide, dem
„wilden Reis."
to stag, to turn stag, to peach. James, The slepmother, I,
p. 336 Tchn.
stage-direction, Bemerkung für die Schauspieler.
stampeded, Amerikanism. The hunter's feast, Cpt. Mayne
Eead. Horses on their first few days journey are easily „stampeded"'
and will sometimes stray home again.
a stick- fast, ein Mensch, den man nicht loswerden kann.
a stick-out, a strike, eine Arbeitseinstellung. DTsraeli, Sybil,
III, 1.
stilly wird von den Lexikographen nur als Adverbium aufge-
führt, ist jedoch auch ein ziemlich häufig vorkommendes Adjectiv.
Thos. Moore, Oft in the stilly night. James, Heidelberg, p. 300 T;;^hn.
Warburton, Darien, II, p. 79 Tchn. Mrs. March, RavensclifFe, I,
p. 324 Tchn.
a stitch in time saves nine, Sprichwort.
a straddle-bug (?) figure. Longfellow, Hyperion. Standard
Americ. Auth., p. 33.
a striker, in Amerika, Derjenige, welcher einem Candidaten
durch Drohungen Geld abpresst. Atlantis, II, p. 621.
Stroke, ohne Artikel, in boating parlance is the name given to
liim who puUs the stern oar. Log of the Water Lily, p. 3 Tchn.
Dasselbe ist
stroke-oarsm an. Cooper, Excursions on Italy, Letter 16.
s tum p -Candida te, in Amerika, Candidat, der niclit aus pri-
Beitrüge zur englischen Lexikographie. 31
marv elections hervorgeht, sondern sieh selbst empfiehlt. Atlantis, II,
p. 620.
the stun, ein betäubender Schlag, Ruth, p. 100 Tchn.
sucker, der einem Candidaten Geld abpresst, amerikanisch. At-
lantis, II, p. 621.
sucking, burlesk gebraucht vor Substantiven, a sucking Nelson,
ein angehender Nelson; sucking saints (Currer Bell), Heilige in spe.
the sun-burst was the fanciful name given by the ancient Irish
to the royal banncr. Thos. Moore, II, p. 170 Tchn.
the Sunday out, der freie Sonntag der Dienstboten,
the Surround, eine amerikanische Bülfeljagdmethode. The
Ilunter's feast, Cpt. Mayne Reid, chpt. 18, the end.
susurrus. Longi'ellow, Evangelina, II, 4. The chant of their
vespers mingling its notes with the soft susurrus and sighs of the
branches.
the sweep, (aucli) der Strassenfeger,
symphonetic, zur symphony, dem Zwischenspiel, gehörig.
James, The smuggler, p. 344 Tchn.
symphony, die über den Schluss eines Gesangs hinaus gespielte
Instrumentalbegleitung. Warren , Intriguing and madness. Thos.
Moore, II, p. 241 Tchn.
s windle, the, Substantiv. AYilkie Collins, Hide and Seek, I,
p. 149.
to swirl. The crowd (of pigeons) came „swirling" forward.
Amerikanism. The Hunters Feast, Cpt. Mayne Reid, chpt. V.
Tadpole, Spitzname der Einwohner von ]Mississippi, Atlantis,
II, p. 639.
take. to take the chair, den Pi'äsidentenstuhl einnehmen.
to take wine with one, nach englischer Sitte bei Tische
einem Andern zutrinken,
to take on, vulgär, sich Etwas sehr zu Herzen nehmen,
to take credit to one's seif for a thing, sich auf eine Sache
Etwas zu Gute thun.
to take ist der technische, fast slangartige Ausdruck für
Springen eines Pferdes. The horse will take any fence
you'U put it to.
take my word (for it), verlasse dich darauf, häufig drohend,
to take a second, beim Singen die zweite Stimme singen,
taky, Adjectiv, Artist-cant. "Wilkie Collins, Hide and Seek, I,
p. 187 Tchn.
tarnation, amerikanischer Slang für damnation.
Tar-boilers, Spitzname der Einwohner von Carolina wegen
des Theers, der aus den Ungeheuern Führen wäldern dieses Staates ge-
zogen wird. Atlantis, II, p. 035.
teetotum oder totum. Herrig, Archiv, IX, p. 479. Spiel mit
32 Beiträge zur englischen Lexikographie.
einem Würfel, dessen vier Seiten mit den Buchstaben T, H, N, P be-
zeichnet sind. Die Deutung der Buchstaben ist offenbar: T = Tötura,
Total; H = Half; N=rNought; P = Pay. Fällt T nach oben, so
erhalt der Spieler den ganzen Aussatz, bei H die Hälfte, bei N nichts,
bei P muss er den Einsatz erneuern. Teetotum bezeichnet also: T re-
ceives the total. Es ist also, auf die teetotalists angewendet, ein Wort-
spiel mit einem den Engländern längst vor dem Mathew'schen Mässig-
keitssystem ganz geläufiger Begriff.
telegram, telegraphische Depesche, seit 1857 in Gebrauch. Die
Buchhandlung Mrss. Longman in London hat beschlossen, das Wort in
die von ihr publicirten Wörterbücher aufzunehmen. Es wird dem-
gemäss in dem neuen Johnson sich finden, den Dr. Latham herausgibt,
to tenant, intransitiv gebraucht von Warren, The Lily and the
Bee, p. 208 Tchn. In yonder tree he tenanteth alone.
thank you for nothing, ironisch, danke schön, ergebener Diener.
Thakeray, Vanity Fair, I, p. 334 Tchn. Walter Scott, Ronan's Well,
I, 4. Charles Lever, O'Malley, III, p. 232.
that, oft pleonastisch hinter Conjunctionen, if that, how that,
though that, for that (weil), tili that, since that, when that, wheter
that, whilst that, gewiss eine Einwirkung des romanischen que in
quoique, jusqu'ä ce que &c.
thimble-rig, eine Person bezeichnend bei Thos. Moore, V,
p 124 Tchn.
thrust, to be thrust on bis own resources, on the wide world,
auf sich selbst angewiesen sein.
thwaite, Endung vieler Ortsnamen im nördlichen England,
z. B. Est-thwaite, Cross-thwaite, Apple-thwaite (Thwaite, urbar ge-
machtes Stück Waldland).
tie, Querholz auf Eisenbahnen.
tiff. In den Bleirainen am obern Mississippi Slangausdruck für
carbonate of lead (Kohl, p. 287).
tiled. Thakeray, Book of Snobs, p. 238 Tchn. Come, c^me,
Snob, my boy, we are all tiled, you know. Punch, Nr. 819, p. 117.
All tiled? In beiden Stellen bedeutet es: unter einer Decke stecken,
sich einander verstehen, eigentlich wohl unter einem Hute stecken, von
tile, dem Slangausdruck für Hut.
Tilly = Mathilda.
timber, ganz gewöhnlich als Wald, fehlt in allen Lexicis.
time-tables, der Fahrplan der Eisenbahnen. Wilkie CoUins,
Hyde and Seek, II, p. 222 Tchn.
tingler, a very smart slap. Colman, Vol. 1, 63 u. 64.
tintinnabulum, der Klang der Glocke, angewendet von Co wper
im Table talk: The clockwork tintinnabulum of rhyme.
tip, the, turfcant, die Prophezeiung, welches Pferd gewinnen
wird. Solche Wahrsagungen werden in England gewerbmässig botrieben.
Beiträge zur englischen Lexikographie. 33
a tipsy cake, Thakeray, Snobs, chpt. 30, Biscuitkuohcn mit
Siierry begosson nml glaeirteii Mandebi gespickt (aus dem Brief einer
in England lebenden Danio).
Tityrc T us = Rlohawk. ]\Iacaulay, Ilist. of Engl., I, p. 355
Tchn.
to, zu, im Gegensatz zu open, offen, dem Verbum nachgesetzt
und gewöhnlich mit demselben durch einen Bindestrich vereinigt.
Buhvcr, Lucretia. The loss of the crossing. With ihat Bill clapped-
to the door. Shak., Coriolan, I, 4. Following the fliers at the vory
hcels, with them he enters; when upon the sudden, (dapp'd to their
gates. Dickens, Little Dorrit, Vol. 2, p. 188 Tchn. The wind has
been and blown the door to. — Gesprächsweise bleibt auch ein von
selbst verständlicher Infinitif nach to ganz fort. DTsraeli, Tancred, II, 1.
Your grandfather would never let me travel; I wanted to; bat he
never would. Dickens, Little Dorrit, Vol. 2, p. 269 Tchn. You carry
your projects about, instead of leaving them in the city or seem-
ing to.
toddler, a, ein kleines watschelndes Kind. Mrs. Gaskell, Mary
Barton, p. 3 Tchn.
toe, to toe a linc, naval expression, sich in eine Reihe stellen.
Tom Trots, ein Gebäck. D'Israeli, Coningsby, I, 9.
tom-long, ein in den australischen Goldwäschereien gebrauchtes
Geräth.
tommy to, als Verbum angewendet in D'Israeli, Sybil, III, 1.
We are tommied to death.
touch-and-go (F. A. Flügel).
town and gown, academical expression, Studenten und Nicht-
studenten.
training - school. Schule zur Ausbildung junger Lehrer, den
preussichen Präparandenanstalten entsprechend.
t r a p , the, Versenkung im Theater.
trapesing = trai psing. Goldsmith, She staps to conquer, I, 1.
trapp ers, die in den Minen zum Schliessen der Thüren be-
schäftigten Kinder.
tremble, Subst., John Halifax, Gentleman, II, 267 Tchn. Die
unter smudge erwähnte häufige Substantivirung von deutschen Infini-
tiven ergreift hier einen romanischen Infinitiv.
Triers, the, iiistor., die von Cromwell ernannte Commission, die
über die Vertheilung von Pfründen an die geeigneten Personen wachte.
Macaulay, Hist. of Engl., I, p. 156 Tchn.
trifle, ein tipsy cake mit Schlagsahne.
tripos, the, academical cant, der dreijährige Cursus an englischen
Universitäten.
Archiv f. n. Sprachen. XXlIl. 3
34 Beiträge zur englischen Lexikographie.
to trot out, Geld herausrücken. Warren, Ten thousand a year,
II, 9.
tumble-down, oft als attributives Adjectiv vorkommend, ver-
fallen.
tune, to the tune of, burlesk von Summen, bis zur Summe von.
Cooper, Excursions on Italy, Letter X. He reaped the advantage of
bis intrigues to the tune of about two hundred francesconi, beyond bis
wages. Marryat, The privateer's-man, p. 207 Tchn. We had been rob-
bed to the tune of about four hundred pounds. James, The stepmother,
I, p. 348 Tchn. Oh, ay, answered Bill Maltby, to the tune of two or
three thousand pounds.
to turn the turtle, seemännischer Ausdruck, mit dem Bote um-
schlagen. Marryat, Fercival Keen, p. 266 Tchn. Der Ausdruck ist
vom Schildkrötenfange hergenommen, wie aus Marryat, The privateer's-
man, p. 198 Tchn., hervorgeht.
to turn up, plötzlich zum "Vorschein kommen.
twenty questions, Gesellschaftsspiel, Mrs. Gaskell, Company
Manners, the End.
umstroke, veraltet, circumference. Füller, A Pisgah Sight of
Palestine 1650, part. 1, b. 1, c. 14, p. 46. Such towns as stand (one
may say) on tiptoe or on any part of the utmost line of any map . . .
are not to be presumed placed according to exactness, but only signify
thera there or there abouts.
unattached, militärisch, keinem Regimente angehörig, zur Dis-
position gestellt.
under God, nicht bloss, wie Flügel sagt, unter Gottes Schutz,
sondern auch: nächst Gott. James, Henry Masterton, chp. 8. Under
God, the success of to-day's skirmish is mainly attributable to you.
Macaulay, Hist. I, p. 54 Tchn. That the king was, under Christ, sole
head of the church, was a doctrine, which they all with one voice
affirmed.
undergrad, verkürzt für undergraduate. Cuthbert Bede, The
adventures of Mr. Verdaut Green, chpt. 7.
to underlie a challenge. James, Forest days, pp. 247, 361,
366 Tchn.
unease. What an unease it was to be troubled with the humm-
ing of so- many gnats. Hacket, Life of Williams, part 2, p. 88. Es
hat sich dies Wort also noch lange nach Chaucer erhalten, aus dem
Richardson ein Beispiel anführt.
unshelterable. Bulwer, Night and morning, 11, 10.
unwhisperables = inexpressibles.
' vampoose. Kingsley, Two years ago, I, p. 16 Tchn. Has he
Beitrage zur englischen Lexikographie. 35
vampooscd with the confents of a tili. (NB. Kingsley liebt nova vcrba,
seine Erfindungen sind daher genau zu prüfen.)
vcal, calf, irisch. Lcver, O'Malley, I, p. 87 Tchn.
verminer, veraltet für terrier. Ainsworth, Lancashire witches,
II, p. 192 Tchn.
vista, sehr häufig im figürlichen Sinn, ein Blick in die
Zukunft.
waker, the, in Irland, Jemand, der bei einer Leiche AVaclie hält.
Thos. Moore, I, p. '2i Tchn.
Walker, the, der Colporteur einer Gesellschaft. James, Tha
stepniotlier, I, p. ci04 Tchn.
Walke r = humbug, eine seltsame Anwendung, der wohl die
Interjection augh zu Gi'unde liegt, der eine Personalendung scherzhaft
zugefügt ist. Oder entspringt sie aus irgend einem historischen Factum
und aus welchem ? Die Le> ika ignoriren sie. Gewiss ist sie sehr
vulgär; doch muss sie allgemein verständlich sein, wie die folgenden
Stellen beweisen. 1) Dickens, A Christmas Carol, the End. Scrooge
hat von einem Knaben erfahren, dass ein grosser Truthahn beim Feder-
vielihändler noch nicht verkauft ist. Scrooge: Go and buy it. Walk-er!
(sie) exclaimed the boy. No, no, said Scroge, I am in earnest. —
!2) The man with the carpet bag, a fai-ce. Leipziger Ausgabe, p. 30.
Wrangle: the excuse is very lame. Boots: Not particularly
lame, neither, sir; for it's all Walker. Das Wort findet sich in dieser
mit sonst ganz hübschen erklärenden Anmerkungen von A. Diezmann
herausgegebenen Sammlung nicht erklärt. Die in England gewöhn-
liche Form ist : Hookey-walker.
a Walking gentleman, ein Statist.
a warrantable stag, ein fünfjähriger Hirsch, Marryat, The
Children of the New Forest, p. 3G Tchn.
way. Where there is a will, there is a way. Proverb.
Weasel, Spitzname der Einwohner von Südcarolina. Atlantis,
n, p. 637.
weazen, schmalbäckig. Dickens, Master Humphrey's clock, I,
9 ; gewöhnlich ist es verbunden mit face und foatures. Die Orthographie
ist verschieden. Man liest weasan-faced. Flügel und Lukas geben nur
weasel-faced. Warren in Now and Then, I, schreibt wizened face.
James, Beauchamp, p. 13 Tchn., schreibt wizen-faced und gebraucht
wizened ganz alleinstehend in Arrah Neil, p. 181 Tchn., so auch
Thackeray, Snobs, XXII. Wizened scheint wohl die richtige Form zu
sein als Participium von dem schottischen wizen = to wither; wizen
für wizened hat Willie Collius, After dark, p. 271 Tchn., auch II,
226 u. 227.
3*
36 Beiträge zur englischen Lexikographie.
wed = wedded, zweimal bei Longfellow, An April day. Sweet
j^pril ! — many a thougt is wedded unf o tliee, as hearts are wed. —
Hyperion. In cities there is danger of the soul's becoming wed to
pleasure and forgetful of its high vocation.
westernism, im Westen der Vereinigten Staaten gebräuchlicher
idiomatischer Ausdruck.
whereaway? Nach welcher Richtung?
whetstone-leasings, unverschämte Lügen. Joseph Hall.
white-nancy, der populäre Name einer Blume. Welcher?
John Halifax, gentleman, I, 308 Tchn.
the wide-awake, eine Art Hut.
a widow's cap, eine Wittwenhaube. Eine nonnenhaft aussehende
Haube mit doppelt gerollten Mullstreifen.
wild-cat-bank, Freibank in Indiana. Atlantis, II, p. 551.
winded statt wound von to wind, sehr häufig bei Walter
Scott.
■winkey, Uke winkey (as swift as the vs^ink of an eye). James,
The stepmother, II, p. 180 Tchn.
w int er. Winter never rots in the sky, der Winter bleibt nie
aus; nach Longfellow, Hyperion Standard Araer. Auth. , p. 34, an
cid english saying.
wiry, vom Körper, stark, gedrungen,
wisdom-tooth, Weisheitszahn.
wit. Nach Mrs. Gaskell, Company, Manners, the end, ein be-
kanntes Gesellschaftsspiel.
w i t h o u t , elliptisch für without sugar bei Bestellungen in Wirths-
häusern.
wolf. So wird nach Marryat, a Mission in Africa, p. 152 Tchn.,
dort die gefleckte Hyäne genannt, shard-wolf die gestreifte ; eine andere
Gattung heisst bay-wolf.
Wolfland. Macaulay, Histor. of Engl., IV, p. 136 Tchn. In
William the Third's reign Ireland was sometimes called by the nick-
name of Wolfiand. Thus in a poem on the battle of La Hogue, called
Advice to a Painter, the terror of the Irish army is thus des-
cribed :
A chilling damp
And Wolfland howl runs thro' the rising camp.
Word, militärisch, das Commando (-wort).
workings, Bulwer, Lucretia, I, 7. As she spoke, ehe read
the Avorkings of her sisters' iace. Lever, O'Malley, HI, l'envoi. In
Beiträge zur englischen Lexikographie. 37
the fictitious garb of bis narrative, he lias clothed the inmost workings
of bis beart.
"wrap, the, unmittelbar vom Verbum gebildetes Substantiv in
Ravensclifle, I, p. 83, busy in relieving Miss WharnclifTe from one of
the heavy wraps, — John Halifax, gentleman, I, p. 89 Tcbn., niany
wraps.
y e 1 1 o w j a c k , so nennen die Älatrosen scherzweise das gelbe
Fieber.
Zur Förderung der englischen Lexikographie würde es
gereichen, Monographien über einzelne Lexika zu verfassen,
Avie sie in der Vorrede zu J. G. Flügel's Lexikon und in dem
Aufsatz A. F. Flügel's über englische Lexikographie im Archiv
enthalten sind. Wer die sauere Pflicht gehabt hat, Lexika be-
sprechen zu müssen, weiss, wie oft er in Gefahr steht, statt
einer Eecension dasjenige zu liefern, wofür wir im Deutschen
glücklicherweise kein Wort haben, eine Reclame. Es liegt
daran, dass es wirklich erst nach jährigem oder mehrjährigem
Gebrauche möglich wird, den Werth eines Lexikons richtig zu
schätzen. Sehr selten jedoch ist die sogenannte Recension
mehr als eine Anzeige; gewölinlich ist sie ein kaufmännischer
Puff. Es treten nun aber auch Lexika kleinern Formats mit
dem Anspruch auf, dem einen oder dem andern Zweige der
Wörterbuchkunde eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt zu
haben, den technischen AVissenschaften, dem Handel, den mo-
dernen Schriftstellern, den Amerikanismen u. s. w. Es wäre
nun sehr wünschenswerth, dass durch eingehende Besprechungen
einzelner dieser 15ücher festgesetzt würde, in wie weit sie wirk-
lich der Wissenschaft der Lexikographie in ihrer bescheidenen
Sphäre gedient haben, und wie weit sie über den im besten
Lexikon vorhandenen StoflT hinsichtlich der Anordnung, der Ent-
wickelung der Begriffe, der Orthoepie, des Wortmaterials, der
Etvmologie hinausgegano;en sind. Selbst Vocabularien sind zu
diesem Zwecke nicht aus der Acht zu lassen. (Siehe unter
rhine.) Es ist dem Einzelnen unmöglich, solche Untersuchungen
38 Beiträge zur englischen Lexikographie.
anzustellen; es ist dies nur einem wirklich bestehenden oder
abstract gedachten Vereine für engliche Lexikographie möglich.
Hinsichtlich des Wortvorraths ist warm zu befürworten, dass
Lukas als massgebend angenommen werde, da sich ohne solchen
realen Ausgangspunkt solche Arbeiten leicht in's Blaue ver-
lieren könnten.
G. Büchmann.
S p e n s e r
und seine Fairy Queen.
AVenn ein Mensch sein Leben an die Verwirklichung eines
Gedankens setzt, wenn sie das Wachen seiner Tage, die Träume
seiner Näclite ausfüllt, so ist ein solcher Ernst des Strebens,
ganz abgesehen von Erfolgen, achtunggebietend. Wenn, wie
auf diese Weise fast unausbleiblich, Erfolge erzielt werden, so
sind dieselben, sogar im ungünstigsten Falle ihrer Vollendung,
Denkmäler der Ausdauer, an denen ein verständiger Mensch
mit Eespect vorübergeht. Er thut das auch instinktmässig und
in jedem Falle, selbst bei dem blossen Gedächtniss eines solchen
Schaffens in den Jahrbüchern der Geschichte, und sein Gefühl
der Ehrerbietung bleibt im Wesentlichen dasselbe bei dem aus
einem ^lenschengehirn hervorgewachsenen Reiche, Bauwerke,
Gedichte. Kommt zur Ausdauer noch massenhafte oder ge-
schickte oder gar kunstvolle Ausführung hinzu, so gesellt sich
unwillkürlich und unwiderstehlich zur Achtung die Bewunderung
des ausnahmsweisen Kraftbesitzes eines solchen Urhebers; wir
belegen ihn ohne Rückhalt mit den höchsten Erdentiteln des
„Talents" und „Genies" und sind stolz auf unsere Geschlechts-
verwandtschaft mit ihm.
Solcher Grosswürdenträger sind wenige wie der Bergriesen,
die über Welt und Wolken schauen; aber schliesslich doch
immer noch einige mehr, als es auf den ersten Blick geschienen.
Bei jenen wie bei diesen , um den Vergleich noch weiter zu
führen, hängt die wahre Würdigung von der Genauigkeit der
Messinstrumente, der Schärfe der Rechnung ab. Die erste
Schätzung hat oft getäuscht und zwar meistens ungerecht ver-
40 Spenser und seine Fairy Queen.
kleinert. Dazu hat das Auge des fremden Beobachters meistens
richtiger gesehen als das des Nachbars in Zeit und Ort. Men-
sehen, deren Lebensthaten Geisteserzeugnisse waren, sind oft
da erstanden, wo die Mitwelt nicht fähig war, sie zu begreifen
und zu würdigen; ihre Würdigung fiel darum fremden Nationen
zu, und die Posaune ihres Ruhmes ertönte erst über ihrem
eingesunkenen Grabe.
Beispiele zeitgenössischer Vernachlässigung liefert nament-
lich die englische Literatur und Kunst. Die grössten Namen
derselben bedurften Jahrhunderte zur Enthüllung ihres vollen
Glanzes. Ein Chaucer war allbekannter Weise bei seinen Leb-
zeiten nur darum ein achtungswerther Herr (respectable gentle-
man), weil er eine Anstellung in den Londoner Docks bekleidete,
mit verschiedenen diplomatischen Missionen betraut wurde und
Schwager eines Edelmannes war. Ein Milton dankte die zeit-
genössische Erwähnung seines Namens seiner lebhaften Theil-
nahme an Parteikämpfen, musste aber sein Paradise lost für
armselige L. 5 per Auflage von 1300 Exemplaren verschachern.
Shakspeare war seinen Zeitgenossen im Ganzen und Grossen
nur als ein behäbiger Schauspieler bekannt, der Actien (shares)
in zwei Theatern und ein bequemes Landhäuschen (comfortable
cottage) zu Stratford-on-Avon besitze. Howard endlich (volle
200 Jahre später) sah sich genöthigt, seine Oelgemälde wie
Kattun den Käufern mit der Elle vorzumessen und seine Kupfer-
platten behufs des Absatzes nach der Stadtwage zu schaflfen.
Wie sehr auch gegenwärtig das gebildete England sich der
Thatsache schämt, dass fremde Kritik ihm erst die Augen über
die strahlendsten Juwele seiner Literatur öflTnen musste, wie
sehr es jetzt durch Uebermass und ungeschickte Vertheilung
der Bewunderung bei allem Neuen in seiner Literatur die Aus-
länder überzeugen möchte, dass es stets Kenner und Verehrer
der Kunst gewesen, immer steht ihm starr und höhnisch das
Factum entgegen, dass es von der Lebensgeschichte seiner alten
grossen Schriftsteller nichts weiss, ausser dem, was es in seiner
Beschämung ganz nachträglich noch rasch aus wurmzerfressenen
Kirchenbüchern und Mutterrollen, aus staubigen Amtsarchiven
und dürftigen Familienlegenden zusammengestoppelt hat. Und
Spenscr und seine Fairy (^»ueen. 41
für diese kärgliche Ehrenrettung selbst -wieder schuldet es fast
allen Dank einem einzigen Manne, Dr. Samuel Johnson, der
seine Ohnmacht mit Kücksicht auf Chaucer, Shakspeare, Spenser
dadurch bekennt, dass er sie ganz übergeht.
Der letzterwähnte grosse Name steht zweifelsohne als das
schla2:endste Beispiel zeitgenössischer Gleichtjültiffkeit c:c2fen
Kunst und Literatur da, die sogar bei ihm einen Anstrich von
Lächerlichkeit erhält dadurch, dass Mitlebende auf seinem Grab-
steine sein Geburtsjahr um fast ein halbes Jahrhundert zu früh
angaben und so seine Liebesgedichte, seine grosse Allegorie,
seine Heirath etc. in sein angebliches Greisenalter verlegten.
Einem Chaucer, Shakspeare und Älilton ist nachgrade
volles Recht geworden , auch von den Landsleuten , denn hier
waren die fremden Stimmen aus Frankreich und Deutschland
her zu laut und gewichtig, um nicht nach und nach einen be-
wussten Wetteifer in gerechtem Lobe bei den Insulanern zu
erzeugen; in Betreff Spenser's hingegen, der keine so frühe
und noch nie eine hinreichende Befürwortung; von aussen her
fand, ist, unsrer Ansicht nach, noch immer nicht genug ge-
schehen, um seine grossen Gaben und sein glänzendes Lebens-
werk in das gehörige Licht zu setzen; namentlich ist das Letztere
noch von keiner Seite her so studirt worden, wie es demselben
gebülirt. Man begnügt sich in der Regel damit, Spenser den
Nachfolger Chaucer's zu nennen , obschon er sich zu diesem
etwa verhält, wie Alexander zu Philipp, Avie Karl zu Pipin,
Columbus zu Gama. Man erwähnt ihn nur so zwischen Shak-
speare und Milton, wie einen Knappen zwischen Rittern, wohin-
gegen er doch selbst ein edler Kämpe in blitzender Rüstung
luid mit rulmireichen Schwerte, dem ein ganzer Tross von
namhaften IMitbewerbern nicht werth ist, den Schild zu trasren.
In Wahrheit, bei Spenser vermissen Avir nichts von dem,
was man vom Genie fordert. Hier ist die Ursprünglichkeit in
Stoff und Form; hier ist der grossartige Plan mit strotzender
Raumerfüllung durch Glanz und Schönheit ; hier ist die Unwill-
kürlichkeit der Wirkung; hier ist die Ausdauer des Schaffens
und der ungeschwächte Strahl des echt dichterischen Spring-
quells; hier ist endlich die unaufhörliche Lebensfähigkeit des
42 Spenser und seine Fairy Queen.
Geschaffenen. Ein Dichter — und das ist Im neunzehnten
Jahrhundert der schlagendste Beweisgrund — dessen Werke
noch nach fast 300 Jahren mit den Lieblingsdichtern der Neuzeit
in der Zahl der Auflagen sich messen können , ist ein Meister
gewesen, ein Heros in der Welt der Dichtung, ein Liebling
unter den Lieblingen der Musen.
Traurig, schmerzlich ist es, wenn man, nach einer schwel-
gerischen Fahrt durch die wunderbaren Gefilde seines Feenlandes,
des lebhaftesten Wunsches voll, diesen Mann in seinem Altags-
leben, in seinem Arbeitszimmer, seiner Dichterclause aufzu-
suchen, seine Gestalt zu sehen, so zu sagen, seine Menschen-
stimme zu hören, auf dieselbe Dürftigkeit der Berichte stösst,
wie bei Chaucer und Shakspeare, und nur eines Schattens
habhaft wird, der keine bestimmte Form annehmen will. Aus
den trümmerhaften Notizen eine Lebensgeschiehte herzustellen
ist eben so unmöglich, als die Keconstruction des alten Ninive
aus den Mauerfüssen zu Nimroud und Kouyöndschik, oder aus
den verstreuten Säulensockeln und leeren Piedestalen die der
Pracht der campanischen Städte. Wenn man dabei bedenkt,
dass wir über den anderthalbtausend Jahre früheren Horaz oder
Virgil fast mehr wissen als über Spenser und Shakspeare, so
folgt daraus mit handgreiflicher Augenscheinlichkeit, was von
der sogenannten Blüthezeit der englischen Literatur unter Eli-
sabeth eigentlich zu halten sei, oder, deuthcher gesagt, wie
wenig Letztere sammt ihren Unterthanen mit dieser Blüthezeit
zu thun hatte. )
Gleich beim Beginn einer biographischen Skizze Edmund
Spenser's stösst man auf die Armseligkeit des Materials. Von
ihm selbst nur erfährt man. In einer Zeile des Prothalamion,
dass er in London geboren sei und seine Kindheit dort verlebt
habe ; über das genaue Datum seiner Geburt und über seine
Familie Ist nichts Stichhaltiges anzugeben. Man legt das Erstere
so um 1553 herum, und versucht, wieder bloss auf Andeutungen
des Dichters selbst hin , seinen Zusammenhang mit dem alten
Hause Spenser festzustellen. „Wenigstens," sagt einer seiner
Lebensbeschreiber in seinem echt-englischen Bestreben , einem
unerlässlichen Erfordernisse zu genügen, „wenigstens können
Spenser und seine Fairy Queen. 43
vir annehmen , dass er von anständiger Herkunft (respectably
connected) war. Älit dem Vermögen und der Stellung der
Spenser'schen Familie kann es aber nicht so -weit her gewesen
sein, denn sie brachte ihn um sein 16. Lebensjahr herum (Mai
1569) nach Pembroke College zu Cambridge in der Eigenschaft
eines sizer, d. i. eines der armen Studenten, die bei ihren rei-
cheren Genossen die Stiefelputzer und Stubenkehrer zu machen
hatten und dafür dann die übrigen Brocken verzehren und an
den verschiedenen Curbcn Theil nehmen durften. Aus diesem
Studium mit Plindernisscn erklärt es sich denn auch wohl, dass
Spenser volle sieben Jahre brauchte, um zu seinem zweiten
Grade, M. A. zu gelangen, so wie aus seiner Zahlungsunfähig-
keit seine verfehlte Bemühung um eine fellowship sich begreifen
lassen wird. Andrewes, der nachherige Bischof von Winchester,
siegte trotz aller Tüchtigkeit doch Avahrscheinlich mehr durch
seine Jacobuses als durch seine wissenschaftliche Ueberlegcnheit.
Welcher Art Spenser's Leben und Studien zu Cambridge ge-
wesen seien, wissen wir nicht. Es ist aus dieser Zeit seines
Lebens nur bekannt, dass er wenigstens eine, vermuthlich aber
zwei Bekanntschaften anknüpfte , die für seine spätere Lauf-
bahn von Bedeutung waren. Die eine sicher festgestellte war
die mit dem wissensdurstigen aber phantastischen Harvey, der
sich später der Astrologie zuwandte, die andere zweifelhafte die
mit dem ritterlichen und sehr begabten Sir Philip Sidney, dem
lebenslangen Gönner Spenser's. Der so frühen Bekanntschaft
mit Sidney steht nur eine, wenig glaubhafte Erzähhmg ent-
gegen, die wir sogleich anführen werden. In ziemlicher Miss-
stimmung über die Vereitelung seines Wunsches, seinem erwachten
poetischen Drange in einem behaglichen Universitätsstübchen
und in Sorgenfreiheit Luft machen zu können, ging Spenser
von Cambridge fort zu Verwandten im Norden Englands, wahr-
scheinlich zu einer Familie seines Namens zu Hurstwood, bei
Burnley, Lancashire, aus welcher sein Vater gestammt haben
soll. Dort mag er sich immer ein Jahr, vielleicht auch länger
aufgehalten haben; nur nicht drei Jahre, da wir ihn 1579 schon
in London mit der Herausgabe seiner ersten Gedichte beschäf-
tigt, und bald darauf durch den Earl of Leicester, den Oheim
Sidney's, mit einer nicht weiter bezeichneten Gesandtschaft nach
44 Spenser und seine Fairy Queen.
dem Continente betraut sehen, welcher letztere Umstand immerhin
einen längeren vorhergegangenen Aufenthalt in London voraus-
setzt. In seiner ländlichen Zurückgezogenheit schrieb Spenser
'die eben erwähnte Gedichtsammlung oder den Kranz von Hirten-
liedern, Avelchen er den Shepherd's Calendar (Schäferkalender)
nannte. Das Ganze stellt seine eigene erste Liebe dar in ihren
verschiedenen und wechselnden Bewegungen, freud- und leid-
vollen , die er zum Theil den mannigfachen Eindrücken des
wandelnden und sich wandelnden Jahres beimisst und darum
nach den Monaten abtheilt. Die Schäferin des Dichters, deren
eigentlicher Name uns nicht weiter bekannt geworden ist, führt
den Namen Rosalind, der in der Folge auch bei Shakspeare
und Andern figurirt. Der Schäferkalender, dessen Vorzüge in
dichterischer Hinsicht zwar nicht grade sehr gross sind, ist
immerhin schon ein Zeichen von poetischem Berufe und zeichnet
sich namentlich, wie alles Spätere, durch eine lieblich dahin-
gleitende, klangvolle Sprache aus. Er war Sidney gewidmet. —
Spenser's augenscheinlich erfblgloses Minnen, sein Mangel an
bestimmter Beschäftigung, die Furcht, seinen Verwandten lästig
zu werden, seine Sehnsucht nach dem bewegteren und glänzen-
deren Leben der Hauptstadt, der mit dem Dichterbewusstsein
erwachte Ehrgeiz und zu allem diesem noch besonders der
Rath seines Studienfreundes Harvey bewogen ihn, sich zu der
angedeuteten Zeit (um 1578) nach London „der grossen Babel"
zu begeben und sich dort durch Empfehlungsbriefe eben des-
selben Plarvey zunächst bei Sidney einzuführen. Bei Gelegen-
heit dieser Einführung wird die oben berührte Erzählung von
mehreren Biographen Spenser's eingeflickt, die zugleich das erste
Buch seiner Fairy Queen als damals schon fertig voraussetzt.
Er soll nämlich, nach Leicester House, der Wohnung Sidney's,
gehend, den neunten Gesang des ersten Buches hinaufgeschickt
und gewünscht haben , man möge gefälligst lesen. Da soll
Sidney, nach Durchlaufung einiger Stanzen, voller Begeisterung
seinem Haushalter befohlen haben, dem unbekannten Ueber-
bringer Lst. 50 auszuzahlen, nach einer Stanze mehr die Summe
vordoppelt und ebenso bald vervierfacht haben, mit dem Be-
deuten, dieses Geld rasch auszuzahlen, damit er nicht in den
nächsten Augenblicken versucht werde, sein ganzes Vermögen
Spenser und seine Fair y Queen. 45
an den draussen harrenden Dichter wegzugeben. Was inuner
in dieser Geschichte AVahrheit oder Dichtung sein mag, so viel
ist gewiss, dass Sidney der wärmste Freund und Gönner des
jungen Dichters wurde und ihn bei den einflussreichsten Per-
sonen des Hofes, seinem Onkel Leicester, dem Grafen Essex,
so wie (was als fiist sicher anzunehmen) bei der glänzenden
und o-elehrten Königin Elisabeth selbst einführte. Die hohen
Bekanntschaften müssen sich ziemlich rasch gefolgt sein, da,
Avie bemerkt, Spenser schon im Jahre 1579 einen, wenn auch
vermutldich untergeordneten, Gesandtschaftsauftrag erhielt; und
es ist eben so wahrscheinlich, dass sich der junge Dichter, dem
bald nach Veröffeutlichunj? seines Schäferkalenders die Aus-
Zeichnung des Lorbeerkranzes zufiel, während der ersten Jahre
seines Londoner Aufenthaltes in seinein jungen Kuhme recht
behaglich fühlte , welchem Ruhme auch die goldene Handgreif-
lichkeit nicht ganz fehlen mochte. Auf seiner Studirstube, an
seiner einsamen fireside, avo er die prächtigen Gemälde seiner
Phantasie in den pomphaft-edlen Rahmen seiner Stanzen ein-
fiisste, mochte er seine beste Begeisterung schöpfen in der
Erinnerung an und der Hofifnung auf die huldreichen und koket-
vielsagenden Blicke und AVorte der Herrscherin, deren Feste
in St. James's oder zu Windsor er wohl nicht selten durch
seine schöne Figur und reichen Gelstesgabeu zierte; und es
würde fast nicht zu kühn sein , anzunehmen , dass sich grade
in der ^^'ahl des schmeichlerischen Titels zu seinem grossen
Gedichte eine mehr als gewöhnliche Huldigung gegen die noch
immer ziemlich jugendliche und frische Jungfrau-Königin aus-
spräche. Dass sie es verstand und selbst noch im Alter suchte,
ihren jungen Hofleuten die Köpfe zu verdrehen, ist nur zu
bekannt.*) Wie erfrischend und hebend daneben der Umgang
mit dem glänzend-ritterlichen und geistreichen Sidney auf Spenser
wirken musste, lässt sich leicht denken. Wie genau und welcher
Art derselbe gewesen , geht aus dem zwischen beiden Schrift-
stellern gemeinschafthch mit Harvey verabredeten Plan hervor,
*) Die Annahme, dass Spenser der Königin vor 1590 nicht persönlich
bekannt gewesen , ist ganz unwahrscheinlich , da er durch sie gekrönter
Dichter (poet laurcate = iiofüichterj und Gesandter geworden war.
46 Spenser und seine F.iiry Queen.
die alten Metra in der englischen Poesie einzubürgern und
dafür den Reim aus derselben zu verbannen. Wir können
nämlich hier entschieden annehmen, dass Spenser bloss aus
Freundschaft dem Freunde nachgab, da er selbst mit so sicht-
barer Liebe der naturwüchsigen Maasse und des Reimes pflegte.
— Dass Spenser gewiss einen bewegten und vielseitigen Um-
Q-anrr auch mit andern verwandten Geistern unterhielt und unter
diesen in grossem Ansehen stand, wird sattsam durch den Um-
stand bewiesen, dass eine grosse Anzahl Dichter ihm zum Grabe
folgten und seinen Sarg mit Trauergedichten bestreuten. Wir
können auch ziemlich sicher annehmen, dass zwischen ihm und
Shakspeare ein näheres Verhältniss stattgefunden habe, obschon
eigentliche Beweise eines solchen fehlen; eine auf Shakspeare
gedeutete Stelle in Spenser's „Colin Clout's come home again"
würde höchstens als ein vom blossen Dichter ausgehender Tribut
zu betrachten sein. — So gross und angenehm nun auch an-
fänglich der Contrast zwischen Spenser's gedrückter Studienzeit,
seinem einsamen Aufenthalte im halbwilden Lancashire und dem
glänzenden Dichter- und Hofleben in der Hauptstadt sein mochte,
so wurde derselbe doch sehr bald zum Nachtheile gemildert
durch die Täuschungen, Launen und Wechsel, die von der Ab-
hängigkeit überhaupt, zumeist aber von derjenigen von den
Grossen unzertrennlich sind. Spenser bekam sehr bald bei
Hofe einen Feind und zwar einen solchen , der ihm grade am
empfindlichsten schaden konnte, weil er den Seckel führte; es
war der Grossschatzmeister Lord Burleigh. Wie sich der junge
Dichter diesen Widersacher geschaflfen, ist unbekannt. War
es des Hofmanns Eifersucht auf Spenser's wachsende persön-
liche Gunst bei Hofe; war es bloss der Hass gegen Robert
Devereux (Graf Essex), mit dem er Spenser, den Freund, zu-
sammenwarf; waren, wie man ebenfalls annimmt, einige Anspie-
lungen im Schäferkalender auf Erzbischof Grindal und Bischof
Aylmer, Freunde Burleigh's, die Ursache; kurz, er fügte Spenser
einmal namhaften materiellen Schaden zu, indem er ihm an-
sehnliche Geschenke der Königin entweder ganz vorenthielt,
oder sie nur spät und stark verkürzt an ihn gelangen Hess, und
verbitterte ihm zum andern Ruhm und Freude auf allerlei ge-
hässige Weise. Zu diesen Widerwärtigkelten kamen schliesslich
S p c n s e r u n d s e i n e F a i r y Q u e e n. 47
nocli die Jiäufige Abwesenheit des gewichtigen Freundes Sidney,
den Krieg und Gesandtschaftsposten in den Nicdcrhinden fest-
hielten, und die nachträgliche schmerzliche Entdeckung hinzu,
dass es mit der Avaliren Achtung vor dem Genie eben
nicht Aveit her sei. Sein Gefühl bei der letzteren spricht
Spenser deutlich genug aus in seinen „Tears of Calliopc",
wo er sagt:
Their great revenues all in sumptuous pride
They spend, that nought to learning tliey may spare;
And the rieh fee which Poets wont divido,
Now Parasites and Sycopliants do share.
Seine Stimmung in jener Zeit, wo er tiefer in das grosse Leben
und in die wirkliche Stellung eines damaligen Dichters hatte
blicken lernen, schildert er aber ganz besonders graphisch und
lebhaft in der folgenden Stelle aus „Mother Hubbard's Tale":
Füll little knowest thou tbat hast not try'd,
"What hell it is, in misery long to bide,
To lose good days, that might be better spent,
To waste long nights in pensive discontent;
To speed to-day, to be put hack to-morrow;
To feed on Hope, to pine with Fear and Sorrow;
To have thy prince's grace, yet want her peer's;
To have thy asking, yet wait many years;
To fret thy soul with crosses and with cares;
To- eat thy lieart thro' comfortless despairs ;
To fawn, to croucb, to wait, to ride, to run,
To spend, to want, to give, to be undone.
Doch unser Dichter gab den Muth nicht auf. Aus der schil-
lernden aber für ihn hohlen und undankbaren Wirklichkeit
flüchtete er sich in die Gefilde seines Feenlandes und schöpfte
dort im Anschaun der seiner Phantasie entrollenden Zauberbilder
neue Kraft und Hoffnung auf bessere Tage, welche Iloffiiung
ihn denn auch nicht im Stiche liess. Nachdem er noch vorher
bei mehreren, dem Dato nach nicht weiter nachzuweisenden Ge-
sandtschaften war beschäftigt worden (was, beiläufig gesagt,
in jenen Tagen eben noch keine so grosse Auszeichnung Avar,
als heute), erhielt er zuletzt, gegen 1.583, den ehrenvollen Posten
eines Secretairs bei dem neuen Überstatthalter in Irland, Lord
48 SpenserundseineFairyQueen.
Grey of Wilton. Das war jedenfalls eine in jeder Hinsicht
wohlthätige Wendung im Schicksalsgange Spenser's. Sein ge-
kränktes und gedrücktes Gefühl wurde neu erfrischt und ge-
hoben ; seine äussere Lage wurde ansehnlich verbessert ; die
Einseitigkeit seines bisherigen Dichterschaffens erhielt ein starkes
und zweckmässiges Gegengewicht durch den vielfach bewegten
Verkehr im prosaischen Amte und unter Menschen von Fleisch
und Blut. Er blieb in dieser Thätigkeit Mährend zweier Jahre,
bis zur Kückberufung seines Vorgesetzten nach London, wohin
Spenser ebenfalls zurückkehrte. Eine von soliden Kenntnissen
im Gebiete der Staatskunst zeugende , aber erst lange nachher,
unter Karl I. veröffentlichte Abhandlung, ..Discourse on the
State of Ireland", war höchst wahrscheinlich während seiner
Amtsfülu'unff oreschrieben worden. Die .Bedeutsamkeit dieser
Letzteren, seine Empfehlung durch und Verbindung mit Lord
Grey brachten die alten Bekannten und Freunde zurück, mit
ihnen viele neue, und unter diesen Einen, der Spenser eine
grosse Anzahl anderer aufwog und ihm den fast gleichzeitigen
Verlust Sidney's ersetzte; es war der ritterliche, kühne und
auch geistig ausgezeichnete Sir Walter Raleigh. Gleichzeitige
Thätigkeit unter Lord Grey hatte wohl die erste Annäherung,
Geistesverwandtschaft den engeren Anschluss Beider herbei-
geführt. Schliesslich setzte die Königin den wiederkehrenden
Huldbezeugungen Fortuna's die Krone auf dux'ch Uebermachung
eines schönen Geschenkes an Spenser. Sie gab ihm nämlich
(im Juni 1586) 3028 Acker (acres) Landes nebst dem Schlosse
Kilcolman bei Doneraile in der Grafschaft Cork in Irland (das
Gut gehörte mit zu dem confiscirten Grundbesitz des Earl of
Desmond); Raleigh hatte dort kurz zuvor ebenfalls ein Besitz-
thum von 12,000 Ackern (gleicherweise Desmond'sches Eigen-
thum) als Anerkennung seiner militärischen Verdienste erhalten,
und so wurden die Freunde nachbarliche Grundherren. Dass
es Spenser zur Pflicht gemacht wurde, auf seinem Gute zu
wohnen, war wieder ein günstiger Umstand, dem wir vornehmlich
die glückliche Weiterentwickelung seines unterbrochenen Lebens-
Averkes zu danken haben werden. Heitere Tage gingen dem
Dichter dort auf in seinem stillen Schlosse am blauen See, und
wie ihn die daselbst mit ihm einziehende liebliche Braut,
Spenser und seine Fairv Queen. 49
die gefeierte Elisabeth seiner Sonette, zu seinem schönen und
sangvollcn Ilochzcitsliedc (Epithahimion) begeisterte, so stimmten
die puipurbhiLien Höhen des Horizonts, die murmehiden Wellen
des Mulla, die saftgrünen Farben seiner Felder und Weiden
den Sänger zur glänzenden Fortcntfaltung seiner Fairy Queen.
Er wirkte rasch -weiter an ihrem luftigen Gewebe, und nach
vier Jahren (im Januar 1590) erschienen die ersten drei Bücher,
welche der Dichter selbst nach London brachte und der Königin
in sehr beliebter und gebräuchlicher Weise als „einen geringen
Beweis seiner bewundernden Ehrerbietung-' zu Füssen legte.
Zu der vorläufiscen theilweiscn Veröffentlichuno^ des Werkes
war Spenser durch Ralcigh bewogen worden, der ihn in Irland
in seiner AVerkstätte besucht, dort mit ihm in der Stille der
Natur in ])oetischen Genüssen geschwelgt und ihn überredet
hatte, zum Zwecke einer vollständigeren Begründung seines
Ruhmes mit ihm nach London zu reisen. Bei dieser Gelegen-
heit fand denn auch ganz sicher eine Einführung Spenser's bei
Elisabeth durch Raleigh statt (eine frühere durch Sidney oder
Devereux wird, wie angedeutet, in Zweifel gezogen). Die Kö-
nigin liess es an Gnade abermals nicht fehlen und bekundete
namentlich ihre Anerkennung durch Aussetzung eines Jahr-
orehaltes von Lst. 50, dem heutigen Wertlie von Lst. 200 min-
destens gleichkommend. — Der neue Lorbeer um die Schläfe,
das klingende Gold in der Tasche und vor Allem sicher die
lohnenden eigenen Worte der in ihrer Eitelkeit gekitzelten Herr-
schei'in stachelten denn auch den Dichter zu neuem Schaffen
sowohl, als zur Veröffentlichung von längst Fertigem an. Im
Jahre 1591 erschienen seine „Tears of the illuses" und „Mother
Hubbard's Tale"; die „Daphnaida" wurden 1592, die „Amoretti"
und das ..Epithalamion" 1595 gedruckt und mit ihnen das
schöne Klagelied auf den Tod Sidney's, die ,,Elegy of Astro-
phel". Neben der Redaction dieser älteren Gedichte ging, wie
gesagt, die Weiterführung der Fairy Queen rasch von Statten,
und schon im Jahre 1596 finden wir Spenser Avieder in London,
mit der Herausgabe des vierten, fünften und sechsten Buches
beschäftigt. Ob diesmal eine Erhöhung seines Jahrgehaltes
durch die Königin stattgefunden, ist nicht bekannt; dafür aber
wissen wir, dass sie kurz nachher ihm die Ehrenstelle eines
Archiv f. n. Sprachen. X.XIII. 4
50 Spenser und seine Fairy Queen.
SherifFs der County of Cork zudachte. (Spenser war nämlich
schon bisher öecretair bei dem Council of Munster gewesen,
und verrauthlicli der Königin auch als Beamter lieb, wegen
seiner entschiedenen Anhänglichkeit an Grundsätze unumschränkter
Königsmacht.) Die Aussicht auf diese neue Würde aber, wenn
sie Sjoenser vielleicht noch mehr in seiner den Irländern ge-
hässigen Richtung bestärkte , trug in diesem Falle für ihn wie
für seine Leser traurige Früchte: sie brachte ihn in der Blüthe
seiner Kraft um Eigenthum, Glück und — Leben, und seine
Bewunderer um die Hälfte seiner Kunstschöpfung.*) Im Oc-
tober 1598 brach in Munster plötzlich der Aufruhr aus, welchen
Tyrone schon seit einiger Zeit im Norden angeschürt hatte. Alle
englischen Colonisten, ganz besonders aber diejenigen, welche
durch Stolz und Härte den Hass der Eingebornen sich zuge-
zogen hatten, waren die nächsten Ziele für die Volks wuth.
Spenser soll zu den vorzugsweise als Opfer Ausersehenen ge-
hört haben. Sein Besitzthum wurde von einem bi'üUenden
Haufen Aufrührer überfluthet und verheert, sein Schloss ihm
über dem Kopfe augezündet. Er sammt seinem Weibe und
zwei Söhnen entkam mit genauer Noth, seine Wohnung brannte
aber nieder und in den Gluten endete sein kleinstes Kind (ein
Säugling), das entweder in der Angst vergessen, oder dessen
Kettung unmöglich geworden war. Gebrochenen Herzens, ein
Gegenstand des Jammers, erreichte Spenser London, wo er drei
JVJonate später (16. Januar 1599) in seinem 46. Lebensjahre
starb. Er wurde in würdiger Weise neben Chaucer begraben.
— Wie oben erwähnt, setzte ihm der Graf Essex ein Denkmal.
Wahrscheinlicher ist aber eine andere Angabe, nach welcher Anna,
Gräfin von Dorset, 30 Jahre später seinen Manen diese Ehre
erwies, wahrscheinlicher schon deshalb, dass sowohl Geburts-
ais Todesjahr auf der Gedenktafel falsch angegeben sind, ersteres
um 43, letzteres um 3 Jahre zu früh.
Um nach diesem flüchtigen Lebensabriss nun zunächst ein
allgemeines Urtheil über Spenser auszusprechen, so kann man
•) Dass die fehlenden 6 BücLer der Fairy Queen auch fertig gewesen
und durch die Fahrlässigkeit eines Dieners zur See verloren gegangen
seien, ist blosse Fabel.
Spenser und seine Fairy Queen. 51
unbeschadet des Ruhmes aller seiner seit je ausgezeichneten
Landsleute sas^en: Er ist entschieden der erste enolische be-
schreibende Dichter; er ist der beste englische Versbauer und
vollendetste Sprachkünstlcr; er steht Shakspeare gleich in Betreff
der Ausdehnung und FiUlc schüpierischer Kraft; er ist König
und Meister in den Regionen der Phantasie. Spenser malt,
um vcrgleichungs weise zu reden, mit der Farbcnfiille zugleich
und dem Formcnreichthum eines Rubens, mit der "Weichheit
eines Murillo, mit der Grazie und dem hohen Ernste eines
Raphael, mit der Kühnheit eines Leonardo, der Klarheit und
Durchsichtigkeit eines Reni, der Tife eines Dürer, dessen L^eber-
ladung er auch freilich manchmal theilt.
L^nter den oben erwähnten kleineren Werken Spcnser's
nimmt die erste Stelle unstreitig das Epithalamion ein. Die
Idee des Gedichtes trägt zwar nichts Ungewöhnliches und
Ueberraschendes an sich; es beschreibt bloss sein Hochzeitsfest
und dessen strahlenden Mittelpunkt , die schöne Braut ; aber
die Sprache ist wirklieh vollendet melodisch und liefert namentlich
den Beweis dass Spenser auch ausser der ihm eigenen neunzeiligen
Strophe musikalisch zu schreiben Avusste. Der Schluss-Alexan-
drlner ist zwar auch hier, aber doch in neuer Form, nämlich
als Refrain. Als kleine Probe wollen wir eine der schönen
Strophen mittheilen, diejenige , in welcher der Dichter die per-
sönliche Erscheinung der Braut am Hochzeitmorgen hinmalt:
Loe ! where she comes along with portly pace,
Like Phoebe, from her Chamber of the east,
Arysing forth to run her mighty race,
Clad all in white, that seems a virgin best.
So well it her beseems, that ye would weene
Some angell she had beene.
Her long loose yellow locks lyke golden wyre,
Sprinckled with perle, and perling flowres atwecne,
Doe like a golden mantle her attyre;
And being crowned with a girland greene,
Seem lyke some mayden queene.
Her modest eyes, abashed to behold
So many gazers as on her do stare,
Upon the lowly ground affixed are;
Ne dare lift up her countenance too bold.
52 Spenser unil seine Fairy Queen.
But blusli to heare her prayses sung so loud,
So farre from being proud.
Nathlesse doe ye still loud her prayses sing,
That all the woods may answer, and your eccho ring.
Die kleineren Sachen dürften aber alle entweder gar nicht da
oder nur mittelmässig sein, so würde Spenser's Euhm keines-
weges dadurch beeinträchtigt werden: Er ruht sicher genug auf
der Fairy Queen.
Dieses Gedicht steht nach Stoff und Form einzig da unter
Allem, was je in irgend welcher Literatur der Art nach Aehn-
liches geschaffen worden, denn der Vergleichungspunkte zwischen
ihm und andern Dichtungen verwandter Natur sind immer nicht
viele. Mag auch Spenser in seinem Comraentar für Raleigh
immerhin gestehen, dass er Ariosto und Tasso zu Vorbildern
genommen, so räumt er doch wieder nicht ein, mehr von ihnen
gelernt zu haben, als von Homer und Virgil, die ihm, wie er
sagt, ebenso gezeigt hätten, wie man Charaktere sinnbildlich
darstellen solle. Er will nur eine Kunst von diesen Schrift-
stellern gelernt haben, die der allegorischen Charakterzeichnung,
eine Kunst also, welche offenbar von seinen angeblichen Meistern
nicht ausgeübt worden ist, oder wenn, wenigstens nicht so ab-
sichtlich wie von ihm. Die Anklänge der Fairy Queen an den
Orlando und an die Gerusalemme sind darum wenig zahlreich
ausser der nothwendigen allgemeinen Aehnlichkeit romantischer
Heldenpoesie. Andere wirklich allegorische Dichtungen, die
Spenser gar nicht anführt und nicht gekannt zu haben scheint,
wie die Divina Commedia, der Roman de la Rose von Guillaume
de Lorrls, der Roman du Renard von P. de St. Cloud und
Rutebeuf, die Compositioncn der Spanier Juan Ruiz und Juan
de Mena, endlich unser deutscher T heuer dank stehen der
Fairy Queen eben so fern rücksichtlich des allgemeinen Planes,
des Gegenstandes, der Sprache. Wollte man Unbekanntes
durch Bekanntes erklären, so könnte man allenfalls Wieland's
Oberon ein verwandtes Gedicht nennen. Er würde zwar nicht
mii der ganzen Fairy Queen, sondern nur mit einem Buche
derselben zu vergleichen sein, da jedes, obschon im Zusammen-
hange mit allen andern, einen eigenen Kreis von Abenteuern
Spcnscr und «oino Fa iry Queen. 53
in sich abschlicsst. Dem Obcron fehlt aber wieder die Alle-
gorie, und als solche' namenthch will Spenser sein AVerk auf-
gefasst haben.
Zum allgemeinen Yerstandniss derselben genügt sein (schon
angeführter) Commentar, ein Brief an Raleigh, den er den drei
ersten Büchern beidrucken Hess. Nach demselben war es des
Dichters Absicht, einen vollkommenen Ixltter, d. h. einen in
allen Tugenden ausgezeichneten Mann darzustellen. Als den
Eepräsentanten eines solchen Musters dachte er sich Prinz
Arthur vor seiner Thronbesteigung. Weiter wollte er in zwölf
Eittern, von denen jeder für sich mit seinen Abenteuern ein
Buch füllen sollte, die zwölf Cardinaltugenden , wie sie Aristo-
teles feststellt, personificiren, in den Nebenpersonen geschicht-
liche Persönlichkeiten, und in den Abenteuern selbst geschicht-
liche Ereignisse und Verhältnisse des Lebens schildern. Die
dem Ganzen Einheit und Mittelpunkt verleihende Figur endlich,
die Feenkönigin, sollte Elisabeth, das Ideal aller Vollkommen-
heit, allegorisiren. Erst im zwölften Buche, sagt Spenser, solle
der Zusammenhang nachgewiesen und die Feenkönigin Glo-
riane eingeführt 'werden, wie sie an einem zwölftägigen Jahres-
feste den zwölf Rittern (an jedem Tage Einem) ihre Aufgaben
zuweise; und er entschuldigt diese vorenthaltene Verknüpfung
und Erklärung dem Leser gegenüber mit der Freiheit des
Dichters, der, ungleich dem Geschichtschreiber, gleich mitten
in seinen Gegenstand springen und von dort aus nach allen
Seiten hin entwickeln dürfe. Mit den sechs letzten Büchern
fehlt aber nun auch der erklärende Schluss, über den man sich
darum keine rechte Idee bilden kann. Der Brief an Raleiffh
spricht sich leider auch wieder zu allgemein aus , als dass sich
eine jede der dargestellten geschichtlichen Persönlichkeiten,
namentlich jetzt noch, nachweisen Hesse, und es muss bei den
meisten darum bei der blossen Vermuthung bleiben. Ueber die
personificirten Tugenden sprechen sich die Ucberschriften der
Bücher aus.
Der Reihe nach allegorisirt die vorhandene Hälfte der
Fairy Queen
im -1. Buche: die Heiligkeit im Rothkreuzritter; die
englische Kirche in L"na, den Irr-
54 Spenser und seine Fairy Queen.
glauben in Duessa, König Heinrich IV.
im unolücklichen Ritter, die Schotten-
königin Maria Stuart in Envy, die
Hochherzigkeit oder den Inbegriff aller
Tugenden in Prinz Arthur, den Anti-
christ im Drachen ;
im 2. Buche: die Mässigung in Sir Guyon , die Kö-
nisfin Elisabeth in der Jägerin Bei-
phoebe (Diana);
im 3. Buche: die Keuschheit in Britomantis;
im 4. Buche: die Freundschaft in Cambel und Tria-
mond ;
im 5. Buche: die Gerechtigkeit und zugleich Lord
Grey in Artegal;
im 6. Buche: die Dienstfertigkeit (Huld) in Sir
Calidore.
So wenig hat indessen die Darstellung mit der Allegorie zu
thun, oder vielmehr, so wenig wird die erstere durch die letz-
tere bedingt, dass man gar nichts von dieser zu wissen braucht.
Man möchte fast sagen, der Genuss wäre reiner und vollkom-
mener, wenn man eben blind und gedankenlos dem Dichter
folgen und sich gar nicht um seine geheimen Bedeutungen, seine
„dark conceits" kümmern wollte. Der ganze Verlauf der ver-
schiedenen Abenteuer entwickelt sich so leicht und ungezwungen,
die verschiedenen Figuren treten so natürlich in den Kreis der
Geschichte ein und sind dabei alle so echte Spenser'sche Ideale,
des Guten wie des Bösen, dass man sich nie veranlasst sieht,
zu frao;en: Was soll der? wozu Jener? was bedeutet dieses
Mongtrum und jene Oertlichkeit? Vom leicht hinflies senden
Strome der Erzählung dahingetragen, gibt man sich den Launen
des phantastischen Führers ganz anheim, in der Ueberzeugung
und Voraussicht, dass er uns stets angenehm unterhalten und
unzählio;e Male noch angenehmer überraschen wolle. Man rechtet
mit Spenser eben so ungern, als man mit dem Zauberer thun
würde, der uns zu einer Weltschau durch die Lüfte trüge, oder
mit dem Künstler thut, der vor unsern ergötzten Blicken ein
wandelndes Panorama sich entrollen lässt.
Sp ens Cr und seine Fairy Queen. 55
Was die schon berührte stoffliehe Aehnlichkcit der Fairy
Queen mit dem Orlando mid der Gerusalcmme betrifft, und die
Entlehnung und Nachahmung, die man, auf Spenser's eigener
allgemeinen Aeusserung fussend, ihm hat aufbürden wollen, so
ist es damit nicht anders als mit derjenigen jeglicher anderer
Kunstwerke von verschiedenen Meistern und aus demselben
Material. Der eine Künstler mag dem andern bloss diesen oder
jenen guten Griff", diesen oder jenen wirkungsvollen Zug, diese
oder jene gefällige Form einer unbedeutenden Einzelheit abge-
sehen, dabei aber immer rücksichtlich des Ensemble ganz
selbständig gearbeitet haben, und die allgemeine Gleichfarbig-
keit oder Gleichform der Aussenseite wird uns schon verleiten,
ausgedehntere Nachahmuno; zu vermuthen. Der Heldendichter
ist imumschränkter Gebieter im Reiche der Phantasie. Er bricht
ein in die Magazine und Schatzkammern dessen, was von je
die Einbildungskraft hervorgezaubert und niedergelegt hat.
Himmel, Hölle, Luft, Erde und Meer, alle Districte des gren-
zenlosen Zauberstaates liefern ihm die Personen , die er ent-
weder feierlich und verständig vor uns handeln, oder aber
Fratzen schneiden und Bocksprünge machen lassen w^ill. Er
zimmert aus demselben luftigen und vielgestaltigen Material der
AVunderwelt wie sein Bruder-Heldendichter: was Wunder, dass
sein Gebäude in tausend Dingen an das des Andern erinnert!
]\Ian wird doch in unserm Falle nicht etwa auch noch sagen
Avollen, Spenser habe des Ariosto verworrenen Plan, lockeren
Zusammenhang und edle Sprache, des Tasso Ernst und from-
men Ton nachgebildet, denn das wären am Ende die einzigen
wirklich gemeinsamen Züge. Selbst aber angenommen, Spenser
habe nachgeahmt, so hätte er es wenigstens in derselben Weise
gethan, wie Chaucer bei Lorris, wie Torquato bei dem eigenen
Vater Leonardo, wie Fielding bei Scarron, Walter Scott bei
Ann Radcliff^e; der Jünger wäre besser als der Meister. Spenser
ist viel reicher als Maler, viel fruchtbarer und kühner als Er-
finder, freilich zuweilen auch viel ermüdender (diu'ch crasse
Zusammenstellungen) und manchmal weniger ästhetisch (in sei-
nem übergroesen Hange zur Plastik) als sowohl Ariosto Avie
Tasso. Was schliesslich auch die argwöhnischste Kritik auf
alle Fälle Spenser als unantastbares Eigenthum lassen muss,
56 Spenser und seine Fairy Queen.
ist seine Parallel- Allegorie, die er auf das geschickteste durch-
führt und in welcher er wieder Lehrer geworden ist für John
Bunyan, der in seinem „Pilgrim's Progress" dem Meister mit
Glück nacharbeitet.
Alle oder nur die meisten Schönheiten und Prachtpartien
der Fairy Queen aufzuzählen, würde ein endloses Bemühen
sein, denn ihrer ist eine Legion. Die beiden ersten Bücher
vorzugsweise sind Speicher von Poesie und stehen der Vollen-
dung in demselben Masse nahe, wie die ersten Gesänge des
Paradise lost , wie der Merchant of Venice , Macbeth , Hamlet
und Lear. Wir Avollen nur einige Strophen als Stilproben mit-
theilen, und zwar solche, die daneben am meisten geeignet
scheinen, Spenser in seinen dichterischen Vorzügen wie Mängeln
dem Leser andeutungsweise vorzuführen.
Als Beispiel für einfach schöne Beschreibung wählen Avir
die Einführung Una's, I. Buch, 1. Gesang:
A lovely ladie rode him faire beside,
Upoa a lowly asse more white than snow;
Yet she mucb whiter; but the same did bide
Under a vele, that wimpled was füll low;
And over all a blacke stole sbe did tbrow,
As one tbat inly mournd; so was sbe sad,
And heavie säte upon ber palfrey slow;
Seemed in beart more bidden care sbe bad;
And by her in a line a railke-white lambe she lad.
So poor and innocent, as tbat same lambe,
She was in life and every vertuous love,
And by descent from royall lynage came
Of ancient kinges and queenes, tbat bad of yore
Their scepters strecht from east to westerne shore,
And all the world in their subjection beld;
Till that infernal feend with foule uprore
Forwasted all their land, and them expeld;
Wbom to avenge, sbe bad this knight from far compeld.
Die prächtig-zierliche Beschreibung veranschaulichen unter vielen
andern einige Stanzen aus der Schilderune: des Glücksgartens
(bower of bliss), IL Buch, 12. Gesang:
There the most daintie paradise on ground
Itselfe dotb offer to bis sober eye,
Spenser und seine Fairy Queen.
In which all pleasures plcntiousLy abownd,
And none does otliers happlnesse envye;
The paintcd llowres ; the trees upshootiiig liye ;
The dales for shade; the hilles for breathing space ;
The trembling groves; the christall running by;
And, that which all faire workes doth most aggrace,
The art, which all that wrought, appcared in no place.
One would have tbought, (so cunningly the rüde
And scorned partes were niingled witli the üne,)
That Nature had for wantonesse ensude
Art, and that Art at Nature did repine;
So striving each th'other to undermine, ,
Eacb did the others worke more beautify;
So difT'ring both in willes agreed in üne :
So all agreed, through sweote diversity,
This gardin to adorne with all variety.
And in the midst of all a fountaine stood,
Of riebest substance that on earth niight bee,
So pure and shiny that the silver flood
Through every channell running one might see;
Most goodly it with curious ymageree
A\'as over-wrought, and shapes of naked boyes,
Of which some seemd with llvely iollitee
To fly about, playing their wanton toyes,
Whylest others did themselves embay in liquid ioyes.
And over all of purest gold was spred
A trayle of yvie in his native hew;
For the rieh metall was so coloured,
That wight, who did not well avis'd it vew,
Would surely deeme it to bee yvie trew ;
Low his lascivious armes adown did creepe,
That themselves dipping in the silver dew
Their fleecy flowres they fearfully did steepe,
\Vhich drops of christall seemd for wantones to weep.
Infinit streames continually did well
Out of this fountaine, sweete and faire to see,
The which into an ample iaver feil,
And shortly grew to so great quantitie,
That like a little lake it seemd to bee ;
Whose depth exceeded not three cubits hight,
That through the waves one might the bottom see,
57
5S Spenser und seine Fiiiry Queen,
All paved beneath with jaspar shining bright,
That seemd the fountaine in that sea did sayle upright.
And all the margent round about was sett
With sliady laurell trees, thence to defond
The sunny beames which on the billowes bett,
And those which therein bathed niote offend.
Als Probe pomphafter Schilderung diene die folgende Stanze
aus dem Drachenkampfe, I. Buch, 11. Gesang:
He cryde, as ragiqg seas are wont to rore,
"NVhen wintry storme his wrathful wrcck does threat;
The roUing billowes beate the ragged shore,
As tliey the earth would Shoulder from her seat;
Aud greedy gulfe does gape, as he would cat
His neighbour dement in his revenge :
Then gin the blustring brethren boldly threat
To move the world from oiF his stedfast henge,
And boistrous battaile make each other to avenge.
Fast alle Beschreibungen von Kämpfen sind so rasch, so pla-
stisch-geräuschvoll, dass man den Schall der Waffen, den
Kampfschrei zu hören glaubt. Wie Spenser die blosse Schnel-
ligkeit malt, zeigt die folgende Strophe aus dem 11. Gesang
des m. Buches:
Far as the winged wind his tigre fled,
That vew of eye could scarce him overtake, _
Ne scarce his feet on ground were seen to tred; ■
Through hils and dales he speedy way did make,
Ne hedge ne ditch his readie jjassage brake ;
And in his fiight the villeine turn'd his face,
(As wonts the Tartar by the Caspian lake,
Whenas the Russian him in fight does chace,)
Unto his tygres taile, and shot at him apace.
Schliesslich noch zwei Belege für die Spenser zuweilen zur
Last fallende Ueberladuno; , die lanorweili"; und so^-ar widerlich
werden kann; beide sind aus dem 1. Gesänge des I. Buches.
Der Rothkreuzritter und Una ziehen in einen W^ald, der fol-
geadermassen beschrieben wird:
S p e n s e r u n (1 s e i n e F a i r y Q u e e n. 59
Much can they pralse the trees so straight and hy,
The sayling pinc; the ccdar proud and tall;
The vine-propp ehne; the pojihir nevcr dry;
The builder sake, sole king of forrests all;
The aspine good for staves; the cypresse funerall;
The laurell, meed of niightie conquerours
And poets sage; the firre that weepeth still;
The willow, worne of for lorne paraniours;
The eugh, obedient to the benders will;
The birch for shaftes; the sallow for the mill;
The mirrhe sweete-bleeding in the bitter wound;
The warlike beech; the ash for nothing ill;
The fruitful olive; and the platane round;
The carver holme; the maple, seldom inward sound.
Der Kothkreuzritter fasst in seinem Kampfe mit dem Un-
geheuer (dem Irrthum) dasselbe dermassen an der Gurgel, dass
es den Inhalt seiner Eingeweide von sich speit. Derselbe wird
so dargestellt:
Therewith she spewd out of her filthie maw
A flood of poison horrible and blacke,
Füll of-great lumps of flesh and gobbets raw,
Which Stunk so vildly, that it forst him slacke
His grasping hold, and from her turne him backe:
Her vomit füll of bookes and papers was,
"With loathly frog and toades, which eyes dit lacke,
And creeping sought way in the weedy gras:
Her filthie parbreake all the place defiled has.
Gegen das fünfte und sechste Buch hin lässt sich allerdings
eine Abnahme der poetischen Intensität (so zu sagen) kaum
verkennen , und man hat sogar gesagt , dass es am Ende kein
so grosser Verlust für den Ruhm Spenser's w^äre, die Fairy
Queen nicht haben zum Schlüsse führen zu können ; allein es
mag bei jener Abnahme auch die eigene Abspannung des Le-
sers ihren Antheil an der P^rscheinunfj haben. Es geht ihm
zweifelsohne hier eben so, wie dem Beschauer von Bilderga-
lerien, welcher, nachdem er die Augen erst gesättigt, mit Kälte
und sogar Ueberdruss an Triumphstücken der Kunst vorüber-
eilen kann.
GO Spenser und seine Fair}' Queen.
Wie es immer mit der dichterischen Fülle stehen möge,
ob sie gegen die letzten Bücher hin abnehme oder nicht, die
Hülle ist dieselbe, die Sprache und Form bleiben dieselben
reichen, schönen und edlen. Auch der Ton bleibt stets würdig
und getragen wie der,Tasso's, und steigt nie zur breiten Ge-
schwätzigkeit oder sogar Komik herunter, wie der Wieland's
im Oberon. Um sich den eigenthümlich malerischen Reiz der
Spenser'schen Sprache zur lebendigen Anschauung zu bringen,
braucht man nur, was fi-eihch nicht allzu leicht ist, an beUe-
biger Stelle eine Uebertragung in gewöhnliche englische Prosa
vorzunehmen. Man findet dann durch Subtraction, wieviel die
blosse Form von der Summe der Schönheit beansprucht. Man
behält die Gestalten ohne Colorit, den Carton, den man nun
zur Vergleichung den farbenglühenden Frescobildern gegenüber-
stellen kann. Man zerleo;t den Mosaik und beo-reift erst nun
die sinnvolle Geschicklichkeit des Meisters, der aus feinen und
unfeinen Stückchen eine malerisch nüancirte Fläche zusammen-
zusetzen wusste. — Spenser's eigene Strophe ist ein glänzendes
Zeugniss für seine Versbaukunst. Sie vereinigt Rundung und
Grazie mit Kraft und Pomp. Die Rundung liegt im fünf-
füssigen lambus, die Grazie im halben Reimwechsel der zweiten
Hälfte, die Kraft im männlichen Reim, der Pomp im Schluss-
alexandriner. Man hält mit Unrecht die Spenser'sche Strophe
für eine blosse, leichte Modification der ottave rime der Italiener.
Ein Vergleich zeigt sofort die bedeutende Verschiedenheit.
Die ottave rime haben bloss weibliche Reime; dieselben kehren
in drei Wechselpaaren wieder und machen erst in den beiden
Schlussversen einem ganz neuen Parallelpaare Platz ; der krö-
nende Alexandriner fehlt.
Wir möchten diese flüchtige Darstellung gern mit einem
Vorschlage und Wunsche schliessen. Der Vorschlag Aväre,
die beiden 'ersten Bücher der Fairy Queen zu einem Gegen-
stande der Leetüre und des Studiums in der obersten Classe
einer vollständigen Realschule zu machen; der Wunsch, dass
sich Jemand finden möge, der diese beiden Bücher zu einem
solchen Zwecke bearbeite. Man sage ja nicht, dass der Stoff
der Gegenwart zu fern liege. Er liegt der Jugend stets nahe
und in der That jedem Alter, das jugendfrisch geblieben und
Si)Gns er und seine Fairy Queen. Cl
niclit verkümmert ist. Dass grade lieute, im materiellen und
(wie man meint) prosaischen England, Spcnscr's Dichtung mit
zeitgenössischen Dichterwerken in Auflagen wetteifert, spricht
am entschiedensten gegen die angebliche Entfremdung der
Jetztzeit von romantischer Poesie. Man fürchte auch nicht,
der Jugend ein Buch in die Hände zu geben, das in England,
dem Lande der ängstlichsten Aloralität , der strengbewachten
Jungfrau unbedenklich anvertraut wird und Avcrden kann. Bei
unserm Vorschlage leitete uns aber namentlich die Idee , dass
ein etymologischer Cursus der englischen Sprache einen wür-
digen und nothwendigen Schluss des ausgedehnteren Studiums
derselben bilde, und dass sich zur Basis eines solchen Cursus
die Fairj Queen besonders eigne. Sie würde, in einer zweck-
mässig bearbeiteten Schulausgabe, herrlich dazu dienen, einmal
die enge Verwandtschaft des Englischen mit dem Deutschen
nachzuweisen, durch Vergleichung beider (da die Spenser'sche
Sprache noch eine Masse echt-angelsächsischer AVörter enthält,
die seitdem verschwunden); zum andern, die französische Bei-
mischung in einem Stadium zu zeigen , W'O sie noch nicht so
sehr den Blicken sich entzog als jetzt; schliesslich drittens, die
Entwickelung der englischen Sprache als solcher zu veran-
schaulichen , durch Vergleichung der Spenser'schen Formen
mit denen von heutzutage. Bei Spenser, der, seine Sprache
seinem gothischen Vorwurfe anpassend, noch eine Unzahl von
Wendungen und Wörtern gebraucht, die schon zu seiner Zeit
veraltet Avaren und bei dem gleichzeitigen Shakspeare z. B.
nicht zu finden sind, thun wir einen Blick in die Entwicke-
lungszeit zwischen ihm und Chaucer, also in ein ganzes ihm
vorangehendes Jahrhundert. Bei Spenser haben wir noch die
vollständigsten Schwankungen in der Orthographie , die Oscil-
lationen, so zu sagen, um den Kern und Ruhepunkt, den die
heutige Orthographie darstellt.
Eine Bearbeitung der Fairy Queen zu unserm Zwecke
würde namentlich darin bestehen, ihr stellenweise den moder-
nen Text zu unterlegen, um das Alte dadurch in Relief zu
setzen, dann aber, ihr ein erschöpfendes Wörterbuch beizu-
geben, das, ausser Sinneiklärung, das Nacheinander imd Ne-
beneinander der I^ntwickeluncrsformcn kurz andeute.
62 Spensei- und seine Fairy Queen.
Es versteht sich von selbst, dass bei der vorgeschhigenen
Benutzung der Fairy Queen wir nur an solche Schüler denken,
bei denen die gegenwärtigen englischen Formen sich gehörig
festgesetzt haben.
Görlitz.
H. Schmick.
Das Urteil des Herrn von Schack über Moliere's
femmes savantes.
Es wird wohl Wenigen von denen, die sich etwas näher
mit der Literatur und der Literaturgeschichte der neuern Völker
Europas beschäftigt haben, unbekannt geblieben sein, dass die
überaus reiche dramatische Literatur der Spanier vielfach von
andern Nationen benutzt worden ist, besonders von den Italienern
und Franzosen. Das erste der dramatischen Meisterwerke Cor-
neille's war die Bearbeitung eines spanischen Originals. Vor
ihm hatte ßotrou, nach ihm haben noch manche Andi'e sich
nach spanischen Mustern umgesehen. Wenn sie sich meist auch
in der Bearbeitung des Ganzen von den Spaniern unterschieden,
wie es ja schon die Verschiedenheit in den dramatischen Sy-
stemen der zAvei Völker mit sich bringen musste, für den Stoff
und manche Einzelnheiten, waren sie ihnen verpflichtet.
Nicht weniger war dies mit dem französischen Lustspiel
der Fall. Schon manche Titel der Komödien des P. Corneille
weisen auf spanische Originale hin. Es war daher ganz natür-
lich, dass man diese Sache etwas mehr zu beleuchten suchte;
und Nachforschungen über das Verhältniss französischer Ko-
mödien zu spanischen Originalien konnten dem Freund der
AVahrheit nur angenehm sein, mochten sie die französischen
Arbeiten nun in einem <xuten oder schlechten Lichte erscheinen
lassen. Solche in treuem Sinn unternommene Vergleich ungen
in Beziehung auf Moliere haben wir z. B. in den Werken eini-
ger Italiener und des Franzosen Puibusque vor uns. Je nütz-
licher solche Forschungen in diesem Falle sein müssen, tun so
verderblicher werden sie jedoch, wenn sie, nur vom Partei-
standpunkt aus angestellt, dazu dienen sollen, den einen Dichter
64 Das Urteil dos Herrn von Schack
auf Kosten des andern zu erheben. Dann wird die wahre Sach-
lage nur dadurch verhüllt; und Avenn nun gar das auf Kosten
des französischen Dichters herausgestrichene Original oder viel-
mehr seinsollende Original dem Publicum in keiner Uebersetzun«;
zugänglich ist^ und selbst Manche, die wohl fähig wären, es in
der Ursprache zu lesen, es unterlassen, selbst einen Vergleich
anzustellen, so kann ein Kritiker, der sich eine solche Unge-
rechtigkeit hat zu Schulden kommen lassen, sicher erwarten,
dass sein Verfahren eine Zeit lano- uno;eahndet bleiben wird und
dass sein Urteil manchen Wiederhall hervorruft, besonders wenn
ihn weder die dem Menschen inwohnende Scheu vor der Wahr-
heit, noch die jedem Gebildeten eigene Ehrfurcht vor dem
Grossen im Reiche des Geistes zurückhällt von dem Versuche,
die Wahrheit zu entstellen und den Mangel an Wahrhaftiokeit
durch äusserliche Sicherheit, durch apodiktisches Aburteilen und
durch die rücksichtslose Besudelung eines grossen Mannes zu
ersetzen. Da man nicht gerne einem ordentlichen Menschen so
Etwas zutrauen, und einem Kritiker, den man nicht von der
entgegengesetzten Seite kennt, jenes Prädikat nicht von vorn
herein streitig machen Avird, so muss man solchen dreist aus-
gesprochenen Behauptungen wohl Glauben schenken.
In Deutschland hat, so viel ich weiss, zuerst A. W. von
Schlegel diese Behandlung dem Moliere widerfahren lassen, oder
vielmehr Neigung zu einem solchen Verfahren gezeigt, denn er
kannte die spanische Literatur zu wenig, um solche Verglei-
chungen anzustellen. Er, der den Shakspeare wegen seiner
Entlehnungen pries, suchte Moliere zu verdächtigen durch die
blosse Vermutung, dass er die Spanier bestohlen hätte, und der
Ausspruch Moliere's : Je prends mon bien partout oü je le
trouve, den man übermässig bewundert haben würde, wenn er
von Shakspeare oder Calderon herrührte, er musste gar bewei-
sen, dass jener grosse Dichter ein eigentlicher Dieb gewesen;
hatte er doch nach desselben Kritikers Ansicht seine diebische
Gesinnuns: dadurch an den Tas; «'eleo-t, dass er sog-ar einen
fremden Namen angenommen, eine bei Schauspielern damals
ganz gewöhnliche Sitte. Dieselbe Bahn verfolgt der Herr von
Eichendorff, der in seiner Geschichte des Dramas bemerkt, Mo-
liere habe es verstanden, gestohlene Sachen schlecht zuzurichten.
üb er Moliere's femmes savantes. 65
Solche Ausdrücke einem Manne wie Moli6re gegenüber, scheinen
doch einer Begründung zu bedürfen. A\';u-cn die Herren Schlegel
und von EichendorfF im Stande , sie zu rechtfertigen , so waren
sie verpllichtet, dem Publicum auch den ]5eweis nicht vorzuent-
halten, waren sie dazu nicht fällig, und dies ist wohl das
AVahrschcinlichste , so zeugt jene Kritik von einer Gesinnung,
die ich nicht näher charakterisiren will, da einem Jeden die be-
zeichnenden Ausdrücke wohl von selbst beifallen werden. Sollte
jedoch Jemand in den gehörigen Ausdrücken nicht genug be-
wandert sein, so mag er in der Geschichte des spanischen
Dramas des Herrn von Schack nachsuchen. Wo dieses Buch
auf die Franzosen zu sprechen kommt, leistet es in der Hinsicht
denselben Dienst, wie die Geheimnisse von Paris für die Diebes-
sprache.
Dieser Herr von Schack hat dem äussern Umfange nach
jedenfalls das Bedeutendste über den uns vorliegenden Punkt
zu Tage gefördert. Seine Hauptforce besteht, wie man gleich
beim ersten Blick erkennt, im apodiktischen Urtheilen und in der
Kraft des Ausdrucks. Dazu hat er den Vorzug vor seinen
Vorgängern, dass er sich nicht an Allgeraeinheiten hält, sondern
die Werke nennt, an denen Mohere seine Plagiate verübt haben
soll. Da sich also dieser Kritiker bei seiner wirklich grandiosen
Geringschätzung französischer Schauspieldichtcr und Moliere's
insbesondere, auf wirkliche Thatsachen beruft, so ist es wohl
der ]\[ühe werth, an einem der von ihm genannten Beispiele die
Wahrheit seiner Behauptungen zu prüfen. Hierzu haben Avir
das Lustspiel Calderon's ausersehen: No haj burlas con el
amor, ..Man darf nicht mit der Liebe scherzen," das Molierc
in seinen femmes sayantes nachgeahmt haben soll. Schon der
Franzose Viardot hatte bemerkt, die erste Idee zu seinem Stücke
scheine Moliere durch jenes Schauspiel gekommen zu sein. Ob
der Herr von Schack zuerst durch diesen Ausspruch zu seiner
Ansicht gekommen, können wir nicht beurteilen, es kommt auch
wenig darauf an, denn das, was in der Art, wie es Viardot
ausgesprochen, eine gute Bemerkung genannt werden kann,
deren Kichtigkeit aber auch mit allem Kecht bezweifelt werden
darf, das wird unter den Händen des Herrn von Schack zu
etwas ganz Werthloscm und Verkehitcm, well er einerseits jene
Arcliiv f. n. Sprachen. XXIII. 5
66 Das Urteil des Herrn von Schack
Vermutung als eine Gewissheit ausspricht, und andrerseits,
vorausgesetzt, dass es mit jener Bemerkung auch seine Richtig-
keit hätte, sein Mangel an allem Gefühl für komische Poesie
oder seine Vorliebe für sein Fachstudium ihn so weit getrieben,
das Werk Calderon's in den Himmel zu erheben und die fem-
mes savantes als ein wahres Machwerk zu brandmai'ken. Ist er
also selbst auf die Idee gekommen, so kann man ihm diesen
Ruhm gern gönnen, hat er sie aus dem Viardot, so müsste man
ihm dieselbe Fähigkeit zusprechen, die er und der Herr von
EichendorfF dem Moliere zuerkannt haben, gestohlene Sachen
schlecht zuzurichten.
Da wir uns vorgenommen haben, im Gegensatze zu dem
Herrn von Schack, jede unsrer Aussagen mit Gründen zu be-
legen, so haben wir, bevor Avir an die Betrachtung der genannten
Stücke herangehen, zu zeigen, dass der besagte 'Kritiker nicht
bloss von einer Aehnlichkeit der fenunes savantes mit dem No
hay burlas con el amor spricht, sondern in Wahrheit behauptet,
Moliere habe den Calderon hier bestohlen; ob etwas Wahres an
der Sache sei, werden wir erst untersuchen, nachdem wir dem
Leser den Inhalt des spanischen Lustspiels vorgelegt haben.
Im lU. Bd. S. 448 sagt er nur, neben zwei andern spani-
schen Stücken habe auch das genannte von Calderon dem Mo-
liere als Vorbild gedient. Dieser Ausdi-uck - ist ziemlich gelinde,
und könnte an sich eine der Ansicht Viardot's nahekommende
Deutung zulassen, wenn nicht der verächtliche Ton, in dem er
auf der folgenden Seite von allen den genannten „französischen
Copien" redet, auch jede mildere Deutung dieses Ausdrucks
unmöglich machte. An einer andern Stelle jedoch, avo er die
Chronologie der Calderon'schen Dramen näher zu bestimmen
sucht, S. 293 sagt er, es lasse sich aus äusseren Umständen
beweisen, dass obiges Lustspiel vor 1672 entstanden sei, in
diesem Jahre seien nämlich die femmes savantes auf die Bühne
gekommen. Wenn die Aehnlichkeit dieser Stücke ihn ermäch-
tigt, Folgerungen über die Zeit der Entstehung des einen daraus
zu schliessen, so muss nach seiner Ansicht wohl nicht von einer
allgemeinen Aehnlichkeit, sondern von offenbarer Nachahmung
die Rede sein. Wir thun dem Herrn daher gar nicht unrecht,
wenn wir annehmen, er habe dem Moliere directe Nachahmung
üb Gl" Molicre's femmes s.'ivantes. 07
vorgeworfen. Ein Urteil hierüber möglicli zu maciieii, diene
folgende Inhaltsangabe des Calderon'schen Stücks.
Act I.
Alonzo tadelt seinen Diener Moscatel, dass er nie zur rech-
ten Zeit erscheine, aber wohl, wenn man ihn nicht gerufen, und
wundert sich, ihn seufzen zu sehen. Dieser meint, letztei-es sei
ihm wohl erlaubt, da er eine Seele habe. Alonzo behauptet
dagegen, seinesgleichen hätten keine Seele, um zu seufzen, son-
dern nur imi auf grobe Manier ihren Schmerz auszusprechen.
Seufzen sei aber eine Handlung, einer edlen Leidenschaft wür-
dig. Da kommt nun endlich der Diener damit heraus, dass
grade eine solche, die Liebe nämlich, über ihn gekommen sei.
Alonzo, der von einem wahren Geist des Widerspruchs beseelt
zu sein scheint, zweifelt, wie früher an des Dieners seufzender
Stele, so jetzt an dessen Liebe. Dieser wirft dem Herrn vor,
dass er mit der Liebe überhaupt seinen Spott treibe. Alonzo
will jedoch den Diener, der es wagt, verliebt zu sein, verab-
schieden, obgleich dieser sich weiterhin sehr geistreich mit dem
Schicksal entschuldigt. Dieses habe sich vergriffen, da doch
gewöhnlich auf dem Theater der Herr und nicht der Diener
verhebt sei. Der Neuheit halber solle er ihn doch behalten,
damit die Welt doch einmal einen verliebten Diener und einen
nicht verliebten Herrn sehe. Dieses geistreiche Gespräch wird
durch Juan, einen Freund Alonzo's, unterbrochen.
2.
Er fragt, was es gäbe. Alonzo erzählt ihm, der Diener
habe die schändlichste, niedrigste und e;emeinste That beo;ane:en,
die man sich denken könne, und bemerkt noch dazu, mit Hecht
gebe er ihm diese verächtHchen Bezeichnungen, denn Nichts sei
gemeiner für den Menschen, als sich zu verlieben. Juan meint
freiUch , die Liebe mache muthig etc. , doch Alonzo fährt von
Neuem so dagegen los, dass dieser, der ihn eigentlich in Liebes-
sachen um Rath fragen wollte, gar nicht mehr damit heraus
darf, denn den Freund werde Alonzo doch noch mehr tadeln
C8 Das Urteil des Herrn von Schack
als den Diener. Nach Alonzo's Ansicht ist's aber umgekehrt,
ein Eitter dürfe sich wohl verlieben, nur nicht der Pöbel. Nun
erzählt ihm D. Juan, was er ja schon wisse, dass er nämlich
in Leonor Enriquez, Tochter des Pedro Enriquez, verliebt sei.
Er dürfe nicht um deren Hand anhalten, weil der Vater, da er
die ältere Tochter Beatrix doch erst verheirathen wolle, ihm
dann sein Haus ganz verbieten möchte. Die Beatrix sei sehr
schön und klug, aber eitel auf Beides, treibe Latein und mache
castiHanische Verse, nehme alle neuen Moden an und spreche
so, dass man sie nicht ohne Commentar verstehen könne. Seit
einiger Zeit sei sie immer um die Leonor; so habe sie ihn mit
dieser im Gespräch überrascht und gedroht, es dem Vater zu
sagen. Ob sie ihn erkannt, weiss er nicht. Er wagt nicht,
hinzusehen, fürchtet aber auch Gefahr für Leonor, wenn er sie
nicht unterstützen könne. Er will deshalb durch Moscatel der
Dienerin Leonor's , Ines , einen Brief bringen lassen ; natürhch
ist grade diese Moscatel's Geliebte. D. Alonzo willigt ein.
3.
Sie sehen zwei Edelleute, D. Luis und Diego, herankom-
men, die nach Leonor's Hause sehen. Juan ist dem Luis schon
oft daselbst begegnet und spricht seinen Aerger darüber aus.
Juan und Alonzo gehen ab und Moscatel geht zur Ines.
4.
D. Luis spricht in hyperbolischen Ausdrücken von seiner
Gehebten Beatrix. Sie gehen.
5.
Leonor erklärt der Ines ihre Furcht, Beatrix möchte dem
Vater vom Gespräch mit D. Juan erzählen, beschliesst jedoch.
Nichts zu gestehen.
6.
Beatrix tritt auf, sich im Spiegel betrachtend, und fordert,
dass ihre Handschuhe von ihr genommen werden. Ines soll
den Ovid holen, nicht die Metamorphosen, nicht Ars amandi,
sondern remedium amoris; sie kann aber nicht lesen, worüber
über Möllere' s femnies savantes. 69
sich Beatrix ■wundert, da Ines doch ihren Unisransr creniessc.
Wie Leonor von ihrer näclitlichen Unterredung anfängt, wird
Beatrix zornig, sie sei eine Viper etc. Den Mann hat sie nicht
erkannt, Avill auch den Namen gar nicht von Leonor erfahren,
imd flieht, wie diese ihn nennen wilL
Moscatel bringt der Ines den Brief und spricht von seiner
Liebe. Sie flieht, da sie Pedro kommen sieht.
Pedro fragt Moscatel, was er sei, und Moscatel erwidert,
er sei ein geachteter oder achtungswürdiger Diener, wenn es
deren jetzt gebe. Durch seine dummen Witze erregt er ver-
dientermassen den Zorn des Pedro. Zuletzt sagt er doch, er
sei Alonzo's Diener.
9.
Alonzo und Juan sehen den Zwist und dieser nähert sich.
Moscatel findet zuletzt eine Entschuldigung für seine Anwesen-
heit im Hause, und Pedro stellt sich zufrieden, da er vor D.
Juan keinen Verdacht zeigen will.
10.
Ines vertraut der Leonor ihre Sorgen wegen Moscatel, und
erzählt, was wir gesehen, sie gibt ihr den Brief. Da kommt
11.
Beatrix, die den Brief sehen will. Sie reissen sich darum und
zerreissen ihn in zwei Hälften.
12.
Pedro überrascht sie dabei und nimmt die Stücke: Beatrix
sagt, das Papier werde seiner Ehre wehe thun, und Leonor
meint, wenn sie das wisse, so müsse es wohl ihr Papier sein,
denn sie selbst kenne nicht den Inhalt; sie erzählt nun, dass
sie das Papier in Beatrix Händen gesehen und es habe nehmen
wollen. Diese weiss sich nicht zu vertheidigen. Er lässt Alle
abgehen ausser Ines.
70 Das Urteil des Herrn von Schack
13.
Letztere sagt, sie sei erst gekommen, als der Streit schon
ausgebrochen, wisse also Nichts davon.
14.
Der Brief gibt ihm auch keine Auskunft. Doch hat er
Verdacht auf Alonzo, und beschliesst, ihn zu beobachten.
Act II.
1.
Gespräch ohne Bedeutung zwischen Juan, Alonzo imd
Moscatel.
2.
Ines bringt dem Don Juan eine Antwort. Moscatel stellt
sich so, dass Alonzo die Ines nicht sehe. Wie der sie doch
bemerkt, meint Moscatel, er gebe keinen Dreier mehr für seine
Ehre. Alonzo findet, dass Moscatel's Liebe zu entschuldigen
sei, da seine Geliebte für eine Magd ganz hübsch sei. Mos-
catel gibt in einigen Apartes seine Eifersucht zu erkennen.
Juan, der aus dem Brief ersehen, dass er ohne Gefahr hinein-
gehen dürfe, verschwindet.
3.
Wie Alonzo mit der Ines bekannt zu werden sucht, kommen
Don Luis und Diego wieder. Luis hat natürlich Verdacht, dass
Alonzo die Beatrix liebe, weil er oft in der Gegend sei und
mit der Magd Ines spreche, doch beschliesst er, nicht zu fech-
ten, weil er ein unglücklicher Liebhaber sei. Nachdem er noch
mit Diego gestritten, ob die Eifersucht edel sei, Wahrheit rede,
gehen Beide ab.
5.
Alonzo geht auch. Moscatel soll die Ines begleiten. Im
Auftrage seines Herrn sagt er ihr, indem er deuthch seine Eifer-
sucht zu erkennen gibt, wenn sie des Morgens zu seinem Herrn
über Moliere's ferames savantes. 71
gehe, werde sie ein Frühstück, des Abends ein Vesperbrot be-
kommen. Erzürnt sagt Ines, sie lasse sich nicht bezahlen, und
Moscatel befiehlt ganz betrübt seinen Augen, zu weinen.
G.
Juan erfälu-t von Lconor, wie es ihr mit dem Brief er-
gangen, und dass der Vater Nichts wisse.
Beatrix reflectirt darüber, dass sie der Lüge Leonor's ihr
Unslück verdanke, den Flecken an ihrer Ehre.
Leonor kommt zu ihr, und imter vier Augen bekennt sie,
dass der Brief für sie war.
Don Pedro hat sie grade belauscht, wie sie sagt: ich liebe etc.
Sie sieht ihn aber kommen und thut, als tadle sie die Beatrix.
Wie? sagt sie, „ich liebe" wagst Du mir in's Angesicht zu
sagen? Das rauss der Vater wissen etc. Sie thut ganz erzürnt
und macht sich fort.
10.
Die arme Beatrix, ganz erstaunt, fragt, w^er Avohl je so
Etwas gesehen? Auf diese nur rhetorisch gemeinte Frage er-
scheint der Vater mit der Antwort: Er habe Alles gehört.
Ihre vermeintlichen Irrungen schreibt er ihrer Beschäftigimg mit
den "Wissenschaften zu. Frauen sollten den Männern diese
überlassen, von Latein Nichts wissen, ein Gebetbuch wäre
genug füi" sie; sie müsstcn sich bloss mit Arbeiten abgeben.
Beatrix verspricht gleich, gehorsam dies zu befolgen.
11.
Alonzo erfährt von Moscatel, dass Ines Nichts mit ihm zu
thun haben will. Es folgen weitere Verhandlungen über Liebes-
anffelcerenheiten , die hätten wegbleiben können, mit einzelnen
Anreden des Moscatel an seine Eifersucht gemischt.
72 Das Urteil des Herrn von Schack
12.
Um den Verdacht Pedro's auf Beatrix zu stärken, wünscht
Don Juan , dass Alonzo sich in diese verliebt stelle. Erst em-
pört, willigt er doch ein, da Alles nur Spass sei.
13.
Beatrix beschreibt der Ines ihren Schmerz über den unver-
dienten Verdacht, und freut sich zuletzt, in so einfacher Sprache
es gethan zu haben. Der Vater würde sie loben, wenn er es
gehört. Da Ines immer noch einige Ausdrücke daran zu tadeln
findet, wünscht Beatrix, jedesmal, wenn sie fehle, von ihr am
Kleid gezupft zu werden.
14.
Alonzo und Moscatel werden von Leonor hereingeführt.
Diese geht wieder ab, um mit Juan zu sprechen und "W^ache
zu halten. Beatrix ist empört, einen Mann in ihr Schlafzimmer
treten zu sehen. Da sie wieder ein italienisches Wort gebraucht,
wird sie am Kleid gezupft. Alonzo erzählt ihr, das durch den
Moscatel gebrachte Papier sei von ihm und für sie bestimmt
gewesen. Sie glaubt AUes, wünscht aber, er möge sich ent-
fernen. Da sie von Neuem wegen eines lateinischen Ausdrucks
gezupft wird, verlangt sie, Ines soUe es sein lassen, sie scheine
sie ganz stumm machen zu Avollen. Sie hören Pedro, Leonor
und Juan kommen. Alonzo muss sich mit Moscatel verbergen.
15.
Pedro fragt Juan, wann er nach Hause gehen wolle. Die-
ser versteht die Bedeutung, sagt: früh, und geht, obgleich be-
sorgt für Alonzo.
16.
Pedro geht auf sein Zimmer mit Leonor und Beatrix. Diese
flüstert Ines zu , die Männer solle sie entfernen , damit Leonor
Nichts davon merke.
17.
Ines lässt Beide hervorkommen, und sie entfernen sich,
nachdem Alonzo sie erst umarmt und Moscatel wueder seine
Eifersucht ausgesprochen hat.
über Moliere's femnies savantes. 73
Act IIl.
1.
Als Beatrix vernimmt , dass Alonzo beim Fortgehen von
Jemand angefallen und verwundet Avordcn, will sie ihm durch
Ines eine kleine Erinnerung zuschicken, eine Schärpe. Sie
geht, dieselbe zu holen. I^eonor darf es aber nicht wissen und
Alonzo soll auch nicht erfahren, dass sie ihm die Schärpe zu-
schickt.
2.
Leonor erfährt es von Ines, und Ines geht, die Schärpe
in Empfang zu nehmen.
3.
Don Juan hat gesehen , Avie zwei jMänner den Alonzo an-
griffen; da Beatrix keine wirkliche Liebschaft hat, weil Leonor
ihr ja eine unterschieben muss , so glaubt er , es stecke eine
Untreue der Leonor dahinter.
Alonzo, der sich urplötzlich in die Beatrix verliebt hat,
glaubt natürhch seinerseits, dass es der Beatrix gegolten habe.
5.
Ines kommt von der Beatrix zurück und gibt in einem
Aparte den Entschluss zu erkennen, ein Wenig die Eifersucht
des Moscatel zu erregen. Zwischen ihr und Alonzo geht's
gleich an ein Umarmen. Sie -wünscht sogar, mit Alonzo allein
zu sein. oVIoscatel soll die Thür bewachen ; da er nicht fort
will, wird er mit Gewalt weggeschafft.
6.
Nun, meint Alonzo, solle sie ihn erst recht umarmen. Da
sie aber jetzt erklärt, sie sei nicht aus eignem Antrieb zu ihm
gekommen, ist der feurige Liebliaber, der nebenbei freihch auch
in die Beatrix verliebt ist, gleich wieder beruhigt. Er ist ganz
erstaunt, dass Beatrix ihm eine Schärpe zuschicke.
74 Das Urteil des Herrn von Schack
7.
Moscatel kommt zurück, weil es nicht so schrecklich sei,
sein Unglück selbst zu sehen, als es sich auszumalen, und
Alonzo entfernt sich auf einen Augenblick, um ein ßillet an die
Beatrix zu schreiben. Der erzürnte Moscatel beruhigt sich, da
Ines sagt, es sei Alles nur Scherz gewesen.
Sie tritt ab, nachdem Alonzo ihr den Brief überreicht, und
Moscatel belustigt sich jetzt über seinen verhebten Herrn , er
wolle ihn verlassen, Aveil er nicht auf seinen Diener höre, die
niedrigste und gemeinste That begangen etc.
9.
Damit Alles dem Anfang entspreche, erscheint auch hier
Don Juan, und der Diener spricht gegen ihn von seinem Herrn,
wie im Anfang der Herr vom Diener. Zwischen den Herren
hat sich auch das Verhältniss umgekehrt. Juan will Nichts
mehr von Leonor hören, sie weder sehen, noch sprechen, er sei
A'on seiner Liebe curirt. Da Alonzo ihn nun nicht bewegen
kann, mit ihm zu Beatrix und Leonor zu gehen, gesteht er ihm,
er müsse zur Beatrix, und jetzt solle Juan nebst Leonor seinen
Rücken decken. Da willigt denn Juan ein, wie früher Alonzo.
10.
Don Diego und Don Luis treten Avieder auf; später kommt
Pedro und bietet Don Diego die Hand seiner Tochter an. Diego
Aveist es jetzt mit einem Scheingrund von sich.
11.
Beatrix fragt die Ines, wie Alonzo dazu gekommen, ihr
einen Zettel an sie zu übergeben. Sie fürchtet, Ines möchte
dem Alonzo entdeckt haben, dass sie von ihr beauftragt gewe-
sen, ihm die Schärpe zu überbringen. Ines leugnet es, Beatrix
belauscht sie aber gleich darauf in einem Gespräch mit Leonor,
wo sie sich rühmt, es gethan zu haben.
über Moliere's fenimes savantes. 75
12.
Juan erscheint mit Alonzo und Moscatel, erklärt jedoch
gleich der Leonor, dass er nicht um ihretwillen hergekommen.
Er geht und sie folgt ihm.
13.
Beatrix tritt auf, und Alonzo sucht, sich bei ihr zu recht-
fertigen.
14.
Leonor unterbricht sie mit der Nachricht, dass der Vater
komme. Alonzo und Moscatel müssen sich wieder verstecken.
15.
Don Pedro beklagt sich bei Beatrix, dass Luis sie nicht
mehr habe zur Frau nehmen wollen.
16.
Don Juan bittet Pedro um Schutz und Beistand gegen
einige Leute, die ihn bei des Letztern Hause angefallen hätten,
und sagt der Leonor leise, sie solle indess die Andern ent-
fliehen lassen.
17.
Wie Pedro sich mit Juan entfernen will , hört er Lärm
und Gepolter nebenan , und Alonzo und Moscatel lassen sich
sehen. Nun verlangt Pedi*o, dass Juan ihn gleichfalls gegen
diese unterstütze. Da aber Alonzo die Beatrix zu heiraten
bereit ist, und Juan, den inzwischen Leonor von seiner Eifer-
sucht curirt hat, die Leonor, so endet Alles zu allgemeiner
Zufriedenheit.
Da wir weder unsre, noch unsers Lesers Zeit durch un-
nütze Auszüge verschwenden wollen, und voraussetzen können,
dass Jeder, den diese Frage interessirt, Moliere und seine fem-
raes savantes kennen Averde, so wollen wir es bei diesem einen
Auszuge bewenden lassen.
Der L^nterschied der zMci Stücke springt bei der ober-
flächlichsten Betrachtung: klar in die Augen. Die Komödie
76 Das Urteil des Herrn von Schack
Moliere's ist eine Charakterkomödie, die einzig und allein den
Zweck hat, die Blaustrümpfe in den verschiedensten Abstufungen
der Lächerlichkeit preiszugeben. Schon der Titel deutet es hin-
liinglich an. Das Caldcroii'sche Stück ist eine reine Intriguen-
komödie. Der Titel: „Man darf nicht mit der Liebe scherzen"
zeigt allein schon, dass dem Dichter nicht die Schilderung der
Blaustrümpfe als Hauptgegenstand vorschwebte. Der Inhalt
des Stücks zeigt klar, dass hier überhaupt nicht von Charak-
teren die Eede sein kann. Die beiden Liebhaber unterscheiden
sich nur dadurch von einander, dass der eine anfangs mit der
Liebe seinen Spott treibt; am Schluss, wo beide verliebt sind,
hört aller Unterschied auf. Don Pedro unterscheidet sich von
Beiden nur durch seine Stellung als Vater. Als Liebhaber
würde er sich ebenso benehmen wie sie, und als Väter würden
jene sich gar nicht von ihm unterscheiden. Der Don Luis und
Don Diego sind erst recht ohne alle Farbe. Sie dienen nur
dazu, die beiden Liebhaber eifersüchtig zu machen und dadm'ch
die Sache zum Schluss etwas mehr zu verwickeln. Welchen
Werth das Stück als Intriguenlustspiel beanspruchen dürfe,
wollen wir hier nicht näher untersuchen. Wir haben es zwei-
mal durchgelesen und selbst beim zweiten Lesen ward es uns
sehr schwel-, die verschiedenen Personen auseinander zu halten;
obgleich die Intrigue im Grunde höchst einfach ist, wird sie
doch unklar durch das Farblose der Charaktere. Da das Stück
uns von Anfang bis zum Ende gelangweilt hat, und da wir
es dem Leser durch die Inhaltsangabe möglich gemacht haben,
sich selbst ein Urteil zu bilden, so wird er uns hoffentlich der
Mühe gern überheben, ein solches Werk noch ausführlich zu
kritisiren. Wie hoch es hinsichtlich der eigentlichen Komik zu
stellen sei, Avas es an wahrer Komik biete, ist wieder eine
andre Frage. Wie in den meisten andern Calderon' sehen
Stücken beschränkt sich die Komik ganz auf die Dienstboten.
Alle schlechten Witze des Moscatel konnten wir nicht wieder-
geben. Damit der Leser aber einen "Vorgeschmack davon be-
kommen könnte, haben wir ims in der ersten Scene und an
einigen andern Stellen etwas dabei aufgehalten. Sie sind nicht
besser und nicht schlechter als die Bedientenwitze in der von
Schlegel übersetzten und vielgepriesenen „Andacht zum Kreuze."
über Moliere's femmcs savantes. 77
Sie sind Avirklicli geeignet, ein Gciiilil des Mitleids für die
ai-men Bedienten oder vielmehr für den Dichter zu erreo-en,
denn man merkt gleich, dass ein Avirkhcher Dienstbote nie
solche Witze machen Avürde. Sollte Jemand jedoch die von
uns gegebene Probe gefallen haben, so steht es ihm immer frei,
auch die übrigen Witze an der Quelle aufzusuchen.
So viel über das Stück im Allgemeinen. Herr von Schack
nennt es III. S. 24(3 eine Posse, zählt es also auch nicht ohne
Weiteres zu den Charakterkomödien, bemerkt jedoch, dass das
Bild einer gezierten und mit ihrer höheren Bildung prahlenden
Dame mit unvergleichlicher Kraft der Komik ausgeführt sei.
Da nun Moliere's Komödie im Ganzen mit der Calderon's gar
keine Aehnlichkeit hat , so muss sich die ISachahmung auch
nach der Ansicht des Herrn von Schack wohl ganz auf diesen
Einen Charakter bcscin-änkcn. Wir wollen daher diesen Ciia-
rakter in den einzelnen Scenen näher betrachten. Vorher erlaube
man uns nur noch die Bemerkung, dass der Herr von Schack,
obgleich er nur acht Zeilen auf die Beurteilung des Calderon'-
schen Stücks verwandt hat, in diesen acht Zeilen sich eines
Irrthums schuldig gemacht hat, der die Vermutung ei-weckerr
möchte, er habe das Stück gar nicht ordentlich gelesen. Er
behauptet nämlich, Don Juan, der, in die Leonor verliebt, die
Gegenbemühungen der Beatrix zu fürchten habe, stelle sich in
letztere verliebt und fördere so seine wahre Neigung zum er-
wünschten Ziele. Aus der Inhaltsangabe wird der Leser er-
sehen haben, dass nicht Don Juan sich in die Beatrix verliebt
stellt, sondern dass Alonzo Liebe gegen sie heuchelt, um sie
von der Beobachtung der Leonor abzuhalten, und dass sich
Alonzo dabei wirklich in sie verliebt, woher denn auch der
Titel des Stücks herrührt, man solle nicht mit der Liebe scher-
zen. Der Herr hat also die beiden Personen Juan und Alonzo
vollständig mit einander verwechselt, er hat sie nur für eine
einzige Person angesehen, Alonzo scheint für ihn gar nicht da-
gcAvesen zu sein. Das ist einerseits ein klarer Beweis von der
Charakterlosigkeit beider Charaktere , die wir so eben gerügt
haben, andrerseits zeigt es auch den Charakter des Kritikers
in einem nicht grade vorthcilhaften Lichte, da er zugleich von
der Intrigue behauptet, sie sei mit einer unvergleichlichen Kraft
78 Das Urteil des Herrn von Schack
der Komik durchgeführt. Er hat sich nicht einmal von dem
Inhah des Stücks eine klare Anschauung verschafft und erlaubt
sich, ein Urteil darüber auszusprechen, es über alle Gebühr zu
preisen, und die femmes savantes von Moliere, die er vielleicht
gar nicht einmal gelesen hat, als eine schlechte Nachahmung
dieses Stücks zu brandmarken.
Doch jetzt zu dem Charakter der Beatrix. In der zAvei-
ten Scene des ersten Acts erfahren wir durch Don Juan,
dass sie schön und klug, aber auf Beides eitel sei, dass sie
Latein treibe und castilianische Verse mache, alle neuen Moden
annehme, und so spreche , dass man sie nicht ohne Commentar
verstehen könne. Daraus, dass sie die Leonor zu bewachen
sucht, lässt sich auch etwas auf ihren Charakter schliessen;
wir erfahren freilich weder durch die andern Personen, weshalb
sie es thue, Don Juan sagt, er wisse es selbst nicht (yo no
se Si es necia envidia , 6 si zelo) , noch direct von ihr selbst.
Aus den Vorwürfen, die sie ihrer Schwester macht (I. 6), lässt
sich jedoch schliessen, dass das Ehrgefühl sie treibt. Ihre
Eitelkeit geht aber, wie Don Juan sagt, so weit, dass sie nie-
mals einem Mann in's Gesicht sieht, weil sie fürchtet, der, den
sie ansehe, würde gleich vor Liebe todt hinfallen.
I. 6. Wahrscheinlich um zu zeigen, dass der Dichter
Recht gehabt hat, sie eitel zu nennen, erscheint sie gleich bei
ihrem ersten Auftreten mit einem Spiegel in der Hand, in dem
sie sich betrachtet. Länger sich darin besehen will sie doch
nicht. Dieselbe Absicht scheint bei den Handschuhen zu Grunde
zu liegen, denn diese will sie auch nicht länger behalten. Man
könnte freilich annehmen, sie wäre draussen gewesen und hätte
deshalb Handschuhe angezogen gehabt, die sie jetzt zu Hause
Avieder ausziehen wolle. Aber woher dann der Spiegel? Den
würde sie doch nicht mit auf die Strasse genommen haben.
Sie scheint daher von ihrem Zimmer zu kommen und hat ohne
Zweifel dem Dichter zu Gefallen Handschuhe angezogen, den
Spiegel mitgenommen, um sie gleich wieder an die Dienerin
abzugeben. Das thut sie dann in ihrer gesuchten Eedeweise:
„Nimm von meiner freigebigen Rechten diese Handbedeckungen
und das Fabricat oder Zaubermittel von Glas." Ihre Gelehr-
samkeit und ihren Stolz im Punkt der Liebe zeigt sie dadurch,
über Moliere"s feinmcs savantes. 79
dass sie grade nicht die ars amandi, sondern remedium anioris
lesen will, Heilmittel gegen die Liebe. Doch auch dies scheint
sie nur dem Dichter zu Gefjdlen zu thun; dadurch, dass sie
ausdrücklich verlangt, die Ines solle ihr nicht „die Kunst ^u
lieben," sondern die „Heilmittel gegen die Liebe" holen, will
sie oder will vielmehr der Dichter uns glauben machen, dass
sie in diesem Punkte sehr strenge sei. Die Beatrix scheint
aber trotz ihrer grossen Gelehrsamkeit das Buch nur dem Titel
nach gekannt zu haben , denn im Grunde ist das letztere Buch
ebenso wenig erbaulich wie das erste. Will man daher nicht
an ihrer Gelehrsamkeit oder gar an ihrer Sittsamkeit zweifeln,
so muss man annehmen, auch dies habe sie nur auf ausdrück-
liches Geheiss des Dichters und nicht aus eigenem Antrieb ge-
than. Sie scheint selbs^t auch weiter wenig Gewicht darauf zu
legen; denn wie sie hört, dass die Ines nicht lesen und das
Buch ihr daher nicht aussuchen kann, redet sie nicht weiter
davon. Obgleich sie an der Leetüre Ovid's Gefallen zu finden
scheint, geht sie, ihrer Schwester gegenüber, in ihrer Sittsam-
keit so weit, dass sie von ihr nicht einmal den Namen des
Liebhabers hören will und sich erzürnt davon macht. Selbst
dies scheint ihr der Dichter in's Ohr geraunt zu haben, denn,
damit in der folgenden Scene der Diener Moscatel der Ines den
Brief für Leonor übergeben konnte, musste erst freies Feld
gemacht werden. Aus freien Stücken würde sie es sicherlich
gethan haben; denn sie drohte einen Augenblick vorher der
Ines, sie wolle dem Vater die Sache offenbaren, damit der
Schande vorgebeugt werde, und dazu konnte es ihr docli von
grossem Nutzen sein , wenn sie den Namen des Liebhabers
ei-führe.
I. 11. Dieselbe Beatrix, die früher nicht einmal den Na-
men des Liebhabers wissen wollte, überrascht jetzt Leonor, Avie
letztere im Begriif ist, den Brief Don Juan's zu lesen, und Avill
durchaus diesen Brief sehen. Da sie ihn niclit durch Güte er-
halten kann, versucht sie es mit Gewalt, und eine jede bekommt
ein Stück davon.
I. 12. In dieser Scene benimmt sich die Beatrix bei aller
ihrer Gelehrsamkeit sehr einfältig. Die schuldige Schwester
weiss alle Schuld auf sie zu wälzen, und sie, Avelche die nacht-
80 Das Urteil des Herrn von Schack
liehe Zusammenkunft ihrer Schwester mit Don Juan behauscht
hat, denkt gar nicht daran, ihrem Vater jetzt das Gesehene zu
entdecken. Freilich mag der Herr v. Schack einwenden, dass
Gelehrsamkeit und Belesenheit nicht immer mit gesundem Men-
schenverstand gepaart geht, und leider möchte es ihm leichter
werden, diese Behauptung, als manche andere, mit Beispielen
zu belegen; doch eine solche Einfsilt geht doch etwas zu weit.
Führt sie uns der Komiker vor, so darf er es nur im Lichte
der Komik thun, daran hat aber Calderon am allerwenigsten
gedacht.
II. 7 — 10. Auch hier erscheint der Verstand der Beatrix
wiederum nicht im vorteilhaftesten Lichte. Einen Augenblick
scheint es , als werde der Vater jetzt den wahren Stand der
Dinge erkennen, aber auch das diente nur dazu, seinen Ver-
dacht gegen sie zu stärken. Wiederum steht die Beatrix stumm
und verwirrt da ; komisch wird sie aber auch hier nicht. Unsre
I. 6 ausgesprochene Vermutung, dass es auch mit der Gelehr-
samkeit der Beatrix nicht besonders aussehen müsse, findet hier
noch neue Nahrung. Der Vater verbietet ihr, sich mit den
Wissenschaften zu beschäftigen, und sie ist gleich bereit, seinem
Gebot Folge zu leisten. Ihre Begeisterung für Literatur und
Kunst muss nicht weit her sein, sie weiss wenigstens den
Worten des Vaters, dass Frauen sich um solche Sachen nicht
kümmern müssten. Nichts zu erwidern. Man könnte vielleicht
glauben, dies sei nur eine Folge ihrer augenblicklichen Verwirrung.
II. 13 zeigt sich jedoch, dass es ihr wirklich damit Ernst
ist. Sie spricht , in Gegenwart der Ines , ihre Freude darüber
aus", dass es ihr gelungen, in einfacher Sprache ihren Schmerz
über den unverdienten Verdacht ausgesprochen zu haben. W^ir
wollen 3veiter kein Gewicht darauf legen, dass ihr Schmerz
doch nicht sehr tief sein muss, wenn er ihr Zeit lässt, solche
Betrachtungen darüber anzustellen. Da es ihr aber natürlich
doch schwer wird, auf einmal ihrer gesuchten Eedeweise zu
entsagen, so bittet sie die Ines, sie jedesmal, wo sie sich ver-
gehen sollte, am Kleide zu zupfen, eine ganz eigenthümliche
Art, sich zu curiren. Das geschieht nun auch mehrmals in der
IL 14 folgenden Scene, wo sie denn schliesslich der Ines
gebietet, es sein zu lassen. Hier scheint nun gleichfalls, wie
über RIoliöre's femmes savantes. 81
wir anfangs vermutheten, ihre sti-enge Sittsamkeit mit ihrer
Gelehrsamkeit gleichen Schritt zu halten. Anstatt ihrem Vater
zu sagen, dass ein Fremder in's Haus eingedrungen, sucht sie
es ihm zu verbergen; furchtet sie vielleicht, der Vater Avürde
sich nur dadurch in seinem Verdacht bestärkt fühlen ? Das wäre
doch sehr sonderbar. Sie fühlt ohne Zweifel, dass der Dichter
erst beim zweiten Act ist, dass der Knoten also noch niclit ge-
löst werden darf, und dass Alonzo sie heiraten soll, um den
Titel zu rechtfertigen : ..J\lan darf nicht mit der Liebe scherzen."
Sie kann vielleicht auch so gehandelt haben, um Blutvergiessen
zu vermeiden, oder weil sie sich urplötzlich in Alonzo ver-
liebt hat. Sicher aber ist, dass ihr äusserliches Benehmen nicht
die Strenge zeigt, die sie früher gegen ihre Schwester an den
Tag gelegt hat, und dass man, bei dem Mangel an aller festen
Charakteristik, nicht weiss, zu welcher der genannten Erklä-
rungen man sich hinneigen soll.
III. 1. Ob Beatrix den Alonzo liebt, erfahren .wir auch
hier noch nicht ganz bestimmt. Sie reflectirt ein Langes dar-
über, ob sie sich über den ihrer Ehre angethanen Schimpf ärgern,
oder ihm für seine Liebe Dank wissen soll. Sie entschliesst
sich zu letzterem, und schickt daher die Schärpe.
III. 11. Diese Scene gibt weder einen neuen Beitrag zur
Charakteristik der Beatrix, noch ist etwas Komisches darin
enthalten.
III. 13 — 15. Dasselbe gilt von diesen. In der 14, erklärt
sie endlich der Leonor, dass sie jetzt Alles dem Vater ent-
decken wolle, sie gibt aber doch nach; weil Leonor droht, allen
Verdacht wieder auf sie zu lenken, glaubt sie, es bliebe ihr
kein Mittel, sich zu retten; also auch hier scheint Liebe nicht
der Beweg-o-rund zu sein. In den letzten Scenen des Stücks
OD
bleibt sie auf der Bühne, spielt aber weiter keine Rolle.
So viel ist aus dieser Betrachtung klar geworden, dass das
Stück, so weit es sich auf den Charakter der Beatrix bezieht,
in zwei Teile geteilt werden kann. Zuerst erscheint sie als
eine Frau, die sich besonders mit Wissenschaften beschäftigt,
und durch eine gezierte Sprache absichtlich diese Gelehrsamkeit
zur Schau trägt. Das geht bis zur 10. Scene des II. Actes,
'Archiv f. n. Sprachen. XXIU. 6
82 Das Urteil des Herrn von Schack
WO der Vater sie deswegen tadelt. Von da an bemüht sie
sich, diesen Fehler abzulegen.
Der letztere Teil kann gar nicht bei einer Vergleichung
mit Moliere's femmes savantes herbeigezogen werden, denn da
helfen alle Ermahnungen des gutmütigen Chrysale an seine
Frau und Familie ^ar nichts. Keine ist von ihrem Irrtum zu
heilen. Das, was sich auf die Eitelkeit der Beatrix bezieht,
ebenso wenio; denn die g-elehrten Frauen Moliere's halten wirk-
lieh zu viel von der Wissenschaft, um einerseits sich von der
Beschäftio-ung mit derselben abhalten zu lassen oder andererseits
auf ihre körperliche Schönheit viel Gewicht zu legen. Dass
Beides bei der Calderon'schen Beatrix der Fall ist, zeigt allein
schon, dass es ihr mit ihrem wissenschaftlichen Treiben nicht
sehr Ernst ist, dass es eigentlich nicht mit ihrer innerri Natur
so fest verwachsen, sondern höchstens nur eine Spielerei oder
gar etwas ihr vom Dichter Angeklebtes ist.
So, hat denn auch ihre Beschäftig-unoj mit den Wissen-
Schäften auf ihr Benehmen in Allem, Avas Bedeutendes im Stücke
vorfällt, nicht den geringsten Einfluss; oder man miisste denn
annehmen, der Dichter habe zeigen wollen, dass die Gelehr-
samkeit die Frauen verdumme, und ihre Unbehülflichkeit und
Verlegenheit in den bedenklichen Lagen, in .die sie hineingeräth,
daher schreiben wollen. Das wird man dem Calderon doch
nicht zumuten. Moliere wirft man vor, dass er durch die Ca-
rikirung de\' gelehrten Frauen die Wissenschaft lächerlich zu
machen gesucht habe, obgleich er sich doch sehr gehütet hat,
so etwas zu behaupten. Man müsste daher Calderon erst recht
diesen Vorwurf machen. Auch kommt Nichts in dem Stück
vor, woraus man auf jene Absicht des Dichters schliessen könnte.
Fast überall ist ihr Benehmen durchaus passiv. Sie hat das
Geheimniss ihrer Schwester belauscht, sagt ihrem Vater aber
gar nichts davon; sie entreisst ihrer Schwester den Brief, doch
ohne Erfolg. Dasselbe Schweigen beobachtet sie, als Alonzo
in ihr Gemach eingedrungen. Auf Befehl ihres Vaters beschliesst
sie, den Wissenschaften zu entsagen und den Alonzo zu hei-
raten. In alle dem zeigt sich Nichts von Charakter, und am
wenigsten der Einfluss ihrer Bildung, und das sind doch die
einzigen Handlungen von Bedeutung, die im Stück vorkommen.
über Moliöre's l'emmes savantes. 83
Höchstens köuntc man den Streit um den Brief mit ihrer
Schwester aus sittlicher Entrüstung über deren Betragen und
diese Entrüstung, Avie gesagt, aus ihrer wissensehaitlichen Bil-
dung herleiten. Dafür spricht aber auch Nichts; denn sie liest
den Ovid, und durch dessen Leetüre konnte schwerlich ihr
sittlicher Charakter gestärkt werden. Der Einfluss ihrer Bil-
dung zeigt sich also in keiner einzigen bedeutenden Handlung,
sondern nur in ihrer Sprache, darin, dass sie den Ovid lesen
will und doch nicht liest, und dass sie der Magd Vorwürfe
macht, weil sie nicht lesen könne. Da möchte man nun, ohne
selbst dies Stück gelesen - zu haben, versucht sein, von vorn
herein dem Calderon dies Recht und die Fähigkeit abzusprechen,
die gezierte Sprache einer gelehrten Dame, wie Beatrix, lächer-
lich zu machen, da er selber fast in allen seinen Stücken das
Grösste in diesem Punkte geleistet hat. Sein Gongorismus
wird selbst von Herrn v. Schack nicht oeläuo-net. Sollte der-
selbe Dichter, indem er sonst von Ausdrücken wie Schneevulkan
imd Flarameugletscher wimmelt , der die Nachtigallen befiederte
Trompeten, die Trompeten eherne Nachtigallen, der das Schiff
einen Fisch ohne Schuppen, den Fisch ein Schiff, ohne Segel
nennt , sollte der Dichter fähig gewesen sein , diesen Fehler
komisch darzustellen; sollte er nicht in den andern Personen
des Stücks, die er nicht tadeln will, dieselbe Ziererei und Ge-
suchtheit an den Tag legen, die er an der Beatrix tadelt; das
war mein erster Gedanke, als ich die rühmende Kritik des
Herrn v. Schack las, und meine Erwartung hat mich nicht ge-
täuscht. Diese Gesuchtheit und Ziererei tritt uns gleich in der
ersten Scene in den Witzen des Alonzo und seines Bedienten
entgegen; man erkennt gleich, dass man es nicht mit Menschen
von Herz, Verstand und Charakter, sondern mit reinen Phan-
tasten zu thun hat. Selbst der Vater, der der Beatrix dt^ch
über ihr gelehrtes Treiben Vorwürfe macht, befleissigt sich
nicht sehr einer recht natürlichen Sprache. ^Vir wollen nur
einige Beispiele anführen, da die Sache eigentlich für Jeden,
der den Calderon aus andern von Schlegel, Schack und Dohrn
übersetzten Werken kennt, gar keines Beweises mehr bedarf.
Als D. Pedro 1. 12 den zerrissenen Brief in den Händen hält,
sagt er, er wünsche die Teile dieser Viper, dieser Schlange,
c
84 Das Urteil des Herrn von Schack
die das Gift in zwei Hälften getrennt enthalte, wieder zu ver-
einigen. Der Liebende, D. Alonzo, macht es III. 13 nicht
besser. Um sich bei Beatrix zu entschuldigen, sagt er,
freilich habe er anfangs nur sich in sie verliebt gestellt, sei
aber darüber Avirklich verliebt geworden. Er vergleicht da sein
Unternehmen mit dem eines Seefahrers, der sich ohne Scheu
auf's Meer begebe, das ihm erscheine wie ein Garten von
Schaum, wie ein Wald von Schnee, weshalb er es denn auch
nicht für gefährlich halte. Wie aber mit dem Meer, so solle
man auch nicht mit der Liebe scherzen. Zweitens vergleicht
er sich mit einem, der sich aus Spass oder Lernbegierde mit
Brennstoff und Feuer abgebe und dabei umkomme, wie aber
mit dem Feuer, so solle man auch nicht mit der Liebe scherzen.
Drittens mit einem, der zusammen mit einem Freunde sich im
Gebrauch des Degens üben will und ihn tödtet, als wäre er
sein Feind, wie aber mit dem Degen, so solle man auch nicht
mit der Liebe scherzen. Viertens mit einem, der, ein wildes
Thier für gezähmt haltend, sich in dessen Nähe begebe. Die
Liebe sei aber auch ein wildes Thier, und wie mit einem Avilden
Thier, so solle man auch nicht mit der Liebe scherzen. So,
schliesst er nun, habe er sich aus Spass auf's Meer begeben,
Feuer entzündet, mit einem Degen sich geübt, mit einem wilden
Thiere gespielt ; und so sei er auch im Meere ertrunken , habe
sich an Feuergluth verbrannt, die Wuth des Erzes und des
Wildes gefühlt ; wenn daher wilde Thiere , Erz , Feuer und
Meer einem das Leben nehmen könnten, solle man nicht mit
der Liebe scherzen. ,
Don Juan bleibt auch nicht zurück. Er sagt III. 16 zu
D. Pedro, er wisse, dass D. Pedro's Brust der Aetna sei, der
inwendig glühe, obgleich er von aussen mit Schnee bedeckt sei.
Diese nach der Schablone verfertigten Redensarten, von denen
Calderon's Stücke wimmeln, sind ebenso gesucht wie die Sprache
der Beatrix. Komisch ist aber das eine ebenso wenig wie
das andere.
Herr von Schack, der behauptet, dass hier das Bild
einer gezierten und mit ihrer höheren Bildung prahlenden Dame
mit unvergleichlicher Kraft der Komik ausgeführt sei, würde
uns daher einen grossen Dienst leisten, wenn er nachweisen
über Moliere's femmes savantes. 85
wollte, wo dies ci^'entlich o-eschelicn. AYir haben im ganzen
Stück keine Spur dieser Komik entdecken können.
Nun soll aber das Stück Moliere's gar nur eine elende
Nachahmung dieses herrlichen AVerkes sein. Wir halten es für
eine schwere Aufgabe, das Calderon'sche AVerk zu verschlech-
tern, es möchte selbst dem Herrn v. Schack, bei all seinem
Sinn fih' die Komik, schwer fallen, sie zu lösen. Wir wollen
uns daher nicht bemühen zu zeigen, dass das Werk Moliere's
besser ist, es könnte auch dann noch sehr schlecht sein, sondern
wir begnügen uns, die Hauptpunkte anzugeben, wodurch sich
Moliere gänzlich von seinem angeblichen Vorbild unterscheidet.
Wie Aristophanes , sah Moliere ein, dass jeder komische,
wie tragische Charakter, sich durch Handlungen offenbaren,
dass er daher ein Gebiet haben müsse, auf dem er sowohl sel-
ber frei seine innere Natur entfalten, als auch die aus ihr her-
vorgehenden Lebensansichten in dem Leben Anderer praktisch
zu verwirklichen suchen könne. Bei den Athenern durfte Jeder
im öffentlichen Leben mitsprechen und ein Jeder machte sich
diese Freiheit im vollsten Masse zu Nutze. Zu Moliere's Zeiten
M'ar das anders. Seit Richelieu war es nicht bloss gefährlich
geworden, sich zu sehr um die öffentlichen Angelegenheiten zu
kümmern, sondern man spürte auch wenig Neigung dazu. Nur
die Grossen, deren Macht immer mehr geschwächt wurde,
suchten von Zeit zu Zeit darauf einzuwirken. L^nter Ludwig XIV.
waren sie aber schon zu sehr geschwächt, um es mit irgend
einer Aussicht auf Erfolg zu versuchen. Der Bürger hingegen.,
der von den frühern innern Streitigkeiten so viel zu leiden ge-
habt hatte, freute sich, einen tüchtigen, kräftigen Herrscher
am Ruder zu sehen, der die Grossen im Zaume zu halten
wusste. Er wusste es ihm Dank, dass er in seinem Privat-
leben sich einer Ruhe und Sicherheit erfreuen konnte, die man
früher nicht gekannt hatte. Die glänzende Stellung des Vater-
landes dem Auslande gegenüber, die selbst die Grossen mit
ihrer Lage versöhnte, musste dem Bürger erst recht schmeicheln.
Warf er bisweilen einen Blick in die Politik, so war es sicher
nicht, um Klagen zu führen. Darum stimmen auch die ver-
schiedenartigsten Schriftsteller der damaligen Zeit in der Be-
wunderung des Königs überein, selbst seine politischen Gegner,
86
Das LJrteil des Herrn von Sc hack
wie z. B. St. Simon in seinen Memoiren. Anstatt Boilenu,
Racine, Moliere u. A. wegen ihrer Begeisterung für den König
zu tadeln, hätte man diese Begeisterung sich deshalb lieber aus
den Verhältnissen erklären sollen.
Moliere durfte und konnte also nicht daran denken , die
Politik rfiuf's Theater zu bringen. Der Bürger begnügte sich,
auf seinem Gebiet, in der Familie, dieselbe Plerrschaft auszu-
üben, wie der König auf dem seinigen; und da fielen denn
auch wohl Kämpfe vor, die für ihn nicht weniger Interesse
haben mochten, als die seines Königs mit den fremden Mächten.
Auch büsste Moliere Nichts dadurch ein, denn dieselben gei-
stigen ivlächte, die sich zu Aristophanes' Zeit um die Plerr-
schaft im Staatsleben stritten, mussten sich auch hier wieder-
finden. Daher spielen die meisten Charakterkomödien Moliere's
im Familienleben, der TartufFe, der Avare, der Bourgeois gen-
tilhorame, les femmes savantes, le malade imaginaire, also seit
1667 alle ohne Ausnahme, die frühern l'ecole des maris, l'ecole
des femmes, le misanthrope wenigstens in Beziehung darauf.
Ausser dem vorliegenden Stück finden M'ir seit 1667 überall
einen Familienvater, der, nirgend einer Einseitigkeit verfallen,
nach seinen Ansichten sein Leben und das der Familienglieder
zu regeln sucht. Er stösst bei ihnen auf Widerspruch, und
dadurch entsteht der komische Conflict.
Dasselbe finden wir in den femmes savantes. Da hier
aber eine Schwäche der Frauen komisch behandelt werden
sollte, so finden wir hier eine Hausfrau, die ihre Ansichten vom
Leben im häuslichen Kreise zu verwirklichen sucht. Da ein
Mann von energischem Charakter sie aber von vorn herein an
diesem Versuche gehindert haben würde , so hat Moliere der
gelehrten Frau einen Mann zur Seite gestellt, dem es an aller
Willenskraft mangelt. Wie in den frühern Stücken den Mann,
so sehen wir also hier die Frau das Regiment führen. Der
Hausvater sieht wol die Thorheit seiner Frau ein, in ihrer Ab-
wesenheit fas^t er den Entschluss , ihr kräftig entgegenzu-
treten; sobald sie erscheint, stehen ihm nur Worte zu Gebote.
Hätte er den Muth der That, so würde er es nicht einmal so
weit haben kommen lassen. Da Calderon sich in seiner Ko-
mödie damit begnügte, die Beatrix in gesuchten Auedrücken
über I\I o li e r tv s f 0 in ni es s a v a n t e s. 87
reden zu lassen, da es ihr gar nicht einfällt, ihre Ansichten
auch im Leben Anderer praktisch durchzusetzen, da sie nur,
um ihre Phantasie zu ergötzen, zum Zeitvertreib sich mit den
alten Schriftstellern beschäftigt ; das Bewusstsein von dem hohen
Werth der Wissenschaften geht ihr ganz ab , daher sie auch
auf Befehl des Vaters, gleich davon ablässt ; da es ihr mit einem
\^^orte gänzlich an Verstand und Willenskraft fehlt : so war sie
durchaus nicht geeignet: die Partei der gelehrten Frauen auf
die gehörige AA'eise zu vertreten, sie gegen etwaige Angriffe zu
rechtfertigen und ihr im Leben Geltung zu versehafien. Der
Philaminte Moliere's mangelt es hingegen ebenso wenig an Ver-
stand wie an Willenskraft ; sie weiss nicht bloss ihren Willen
durchzusetzen, sie versteht es auch, ihre Sache mit Gründen
zu verfechten. Es ist daher unbegreiflich, wie Herr v. Eichen-
dorff hat behaupten können, Moliere greife in diesem Stücke
die wahre Wissenschaft an. Wahrscheinlich hat es den Herrn
irre gemacht, dass Moliere die Philaminte eine durchaus nicht
verächtliche Kolle spielen lässt, und dennoch ihre Schwächen
angreift. Er hat geglaubt, in ihr eine Vertreterin der Wissen-
schaft überhaupt zu entdecken. Bei dem Calderon'schen Stück
könnte man nicht auf den Gedanken kommen, da die Beatrix
eine ^^ärrin ist , in der sich schwerlich irgend ein Blaustrumpf,
ge'schweige denn eine Frau, der es mit der, Wissenschaft ernst
ist, wieder erkennen wird. Grade hieraus hätte aber der Herr
V. Eichendorff schliessen sollen, dass Moliere einen viel höhern
Begriff von einer gelehrten Frau hatte, sie besser nach ihrem
wahren ^^'erthe zu schätzen wusste, als Cakleron, dass er es
also am wenigsten auf eine Herabsetzung der Wissenschaft
überhaupt abgesehen haben konnte. Zu Moliere's Zeit fassten
es nicht einmal diejenigen, die sich am meisten durch dass Stück
hätten getroffen fühlen können, von dieser Seite auf. Menage,
der für das Urbild des Gelehrten Vadius gehahen wurde, sagte
selbst: J'ai vu la piece, on n'y peut trouver rien ä redire ni k
critiquer, und Frau de Sevignd, die doch selbst für eine ge-
lehrte Frau galt, urteilte nicht weniger günstig über das Stück.
^loHere hat sich selber an mehreren Stellen deutlich genug
darüber ausgesprochen, dass er" nicht die Wissenschaft als solche
herabsetze, auch nicht einmal sie den Frauen verschhessen
88 Das Urteil des Herrn von Schack
wolle. Clitandre, ein junger Mann, der eine Tochter der ge-
lehrten Fi*au, Henriette heiraten will, sagt dieser 1. 3:
Je consens qu' une femme ait des clartes de tout:
Mais je ne lui veux point la passion choquante
De se. rendre savante afin d'etre savante; — — —
De son etude enfin je veux qu'elle se Cache,
Et qu'elle ait du savoir sans vouloir qu'on le sache,
Sans citer les auteurs, sans dire de grands mots,
Et clouer de l'esprit h ses moindres propos.
Je respecte beaucoup madame votre mere. — —
Es Hessen sich noch andere Stellen ähnlichen Inhalts anführen,
doch diese genügt schon, um zu zeigen, dass Moliere die Be-
schäftigung der Frauen mit den Wissenschaften nicht durchaus
tadelt. Er ist hierin viel milder als Cald^ron, der den Don
Pedro zu Beatrix sagen lässt, IL 10, die Frauen sollten nur in
einem Gebetbuch lesen, das Studium den Männern überlassen.
Moliere hat also von vorn herein das Thema ganz anders
aufgefasst als Calderon. Er tadelt es nicht, dass die Frauen
sich in ihren Mussestunden auch mit wissenschaftlichen Sachen
beschäftigen, er tadelt es aber, dass sie sich die Wissenschaft
zum Hauptziel ihres Lebens machen. Er sah ein, dass das
eigentliche Gebiet der Frau das häusliche Leben ist, dass sie
ihre Freude und das Glück ihres Lebens darin suchen muss,
in diesem engen Kreise durch Arbeit in der Haushaltung und
durch Sorge für die Ihrigen, durch gute Erziehung der Kinder,
das geistige und leibliche Wohl ihrer Angehörigen zu beför-
dern, und suchte daher in den femmes savantes zu zeigen, dass
eine Frau, die die Wissenschaft zur Hauptbeschäftigung ihres
Lebens macht, ihre wahre Bestimmung verfehlen muss, dass
sie die eigentlich weiblichen Tugenden einbüsst, und dass das-
jenige, was sie dafür in anderer Hinsicht gewinnt, doch nicht
im Stande ist, dafür zu entschädigen. Wir wollen den Cha-
rakter der Philaminte, wie ihn der Dichter darstellt, nach beiden
Seiten durchgehen.
Zuerst betrachten wir, wie sie sich der eigentlichen Be-
stimmung des Weibes gegenüber verhält. Die Frau soll für
das leibliche Wohl der Familie sorgen, sie soll, Avenn sie auch
nicht selbst in der Haushaltung Hand anlegt, doch wenigstens
darauf sehen, dass durch Andere gethan Avird, was sie selbst
über Moliere's femmes savantes. 89
nicht Avahrnehmcn kann oder mag. Selbst denkt sie natürlich
gar nicht an die Haushaltung. j\Ian höre darüber den unglück-
lichen Ehemann I. 7 :
Et Ion sait tout chez moi, hors ce qu'il fout savoir.
On y sait conime vont lune, etoile jiolaire — —
Et dans ce vain savoir, qiron va chercher si loin,
On nc sait comme va mon pot, dont j'ai besoin. — —
L'un me briile mon rot, en lisant quelque histoire ;
L'autre reve k dos vers, quand je demande ä boire,
Enfin je vois par eux votre exemple suivi,
Et j'ai des serviteurs et ne suis point servi.
Hieraus sieht mau zur Genüge, wie sie sich ura's Hauswesen
kümmert; selbst verrichtet sie Nichts, und die Dienstboten ma-
chen es ihr nach. Nur eine alte Magd Avar noch nicht von dem
Uebel ergriffen ; diese suchte gut zu machen , was die Andern
versäumten. Man hätte sie also zu bewahren suchen müssen.
Aber unglücklicher AVeise hat sie keine Grammatik studirt, und
so wird sie denn von der Madam, der schwache Ehemann kann
es nicht hindern, aus dem Hause getrieben ; nicht, Aveil sie viel-
leicht Etwas zerbrochen, durch Unachtsamkeit Etwas hat ent-
Av enden lassen, das wäre ja nicht so schlimm gewesen, nicht,
Aveil sie selber etwas entwendet oder sich sonst etAvas zu Schulden
kommen lassen; nein, ihr Vergehen ist Aveit ärger, selbst nach-
dem man ihr 30 Stunden Unterricht gegeben, beleidigt sie noch
das Ohr der Madam durch niedrige Ausdrücke, die von den
Grammatikern verpönt sind, und versündigt sich an der Gram-
matik, der selbst Könige gehorchen müssen (H. G.). So AA^eit
über die Beziehung, in der Philaminte zum HausAvesen steht.
Nebenbei bemerken Avir, dass diese beiden Scenen (H. 6. 7.)
die einzigen sind, die mit zAvei andern Stellen in Calderon ent-
fernte Aehnlichkeit haben (I. 6. und H. 10.). Dass Moliere
diese Stellen vorgeschAvebt, lässt sich gar nicht behaupten. Beide
Scenen mussten schon ohne AA'eiteres aus dem Plan, der ihn
leitete, hervorgehen ; aber selbst derjenige, der, Avie ohne Zweifel
Herr v. Schack, hier Nachahmung Avittern Avollte, Avird gestehen
müssen, dass er den Calderon Aveit hinter sich gelassen hat.
Die Beatrix begnügt sich ganz einfach damit, ihr Erstaunen
darüber auszusprechen, dass die Ines nicht lesen könne, obgleich
sie ihren Umgang genossen, nnd Don Pedro sagt seiner Tochter
90 Das Urteil des Herrn von Schack
nur, dass die Frauen die Wissenschaften den Männern überlas-
sen müssten. Von der Komik, die in den beiden Scenen Moliere's
herrscht und die aus der derben Sprache des Ehemanns, aus
dem Mangel' an Bildung und den daraus hervorgehenden Miss-
verständnissen bei der Magd, so wie aus der übertriebenen
"Wichtigkeit, die Philaminte den Studien zuschreibt, und aus
der Schwäche des Ehemanns, der wider seinen Willen doch
die Magd fortschicken muss, hervorgeht, wollen wir hier gar
nicht weiter reden.
Um das innere Wohl ihrer Familie kümmei't Philaminte
sich eben so wenig. Ein ehrenhafter junger Mann bewirbt sich
um die Hand ihrer Tochter Henriette. Ungeachtet der Liebe,
mit der sie sich gegenseitig zugetan sind, verwirft ihn die Phi-
laminte, weil er nicht mit ihren Ideen über Frauenbildung übei'-
einstimrat und unfähig ist, ihr zu schmeicheln. Sie hat ihr
hingegen, einen an Jahren schon etwas vorgerückten Gelehrten
aüsersehen, den die Tochter verabscheut. Die Sch^väche des
Plausvaters, der gern seine Tochter glücklich sehen will, und
in Abwesenheit seiner Frau stets fest entschlossen ist, sich
ihren Absichten zu widersetzen, aber, sobald sie erscheint, un-
willkürlich sich zurückzieht, gibt wieder Stoff zu manchen ko-
mischen Scenen. Zum Schluss sieht sie freilich von ihrem
Plane ab, aber nur, weil der Gelehrte sich selber zurückgezogen,
da er vernimmt, dass die Familie ihr Vermögen verloren hat.
Sie hat also über ihrem Studiren das wahre äussere und
innere Wohl ihrer Angehörigen aus dem Auge verloren. Sie
gibt sich aber alle mögliche Mühe, das was in ihren Augen
für das einzig wahre Wohl gilt, in ihrem Kreise zu befördern,
den Ihrigen dieselbe Lust zum Studium einzuflössen, von der
sie selbst erfüllt ist. Bei ihrer ältesten Tochter ist es ihr teil-
weise gelungen, bei der Henriette stösst sie auf unbeugsamen
Widerstand. Desshalb wünscht" sie, dieselbe auch an einen Ge-
lehrten zu verheiraten. Mit der ungebildeten Magd geht's ihr
noch schlimmer, obgleich sie sich herabgelassen hat, sie in
Grammatik etc. zu unterrichten. Ihr Mann legt gar mehr Ge-
wicht auf einen guten Braten, als auf alle Gelehrsamkeit. Sie
sucht gelehrte Leute in ihren häuslichen Kreis hineinzuziehen,
so zuerst den Trissotin; sie und die gleichgesinnte Schwester
über Molierc's l'emmes savantcs. 91
und Tochter bewundern die von diesem Poeten gemachten Verse.
Die jüngere Tochter, Henriette, findet keinen Gefallen daran,
diesen Zusammenkünften beizuwohnen, Avird aber von der jMutter
dazu gezwungen. Hier zeigt sich nun, wie sich die gelehrte
Frau auf dem Felde des Geistes zu bewegen w^eiss. Schon
früher IL 7. ha])en wir von dem Hausvater gehört, dass es
mit der wissenschaftlichen Bildung seiner Frau nicht blosser
Schein sei; ..man weiss Alles," sagt er, „nur nicht das, was
noth thut;" an Kenntnissen scheint es ihr also nicht zu fehlen,
aber über alle dem Trachten nach Gelehrsamkeit hat sie den
natürlichen einfachen Sinn eingebüsst. Sic findet keine Freude
am Einfachen, sondern was ihr gefallen soll, muss den Stempel
der Forschung, der Gelehrsamkeit, des Gesuchten an sich tragen.
Diese Fehler zeigen sich schon in ihrer eigenen Sprache, aber
vor Allem in der des Gelehrten, den sie begünstigt, der nur
Ein Ziel im Auge hat, geistreich zu sein. Das von ihm vor-
gelesene Sonnet, das von den Damen bewundert wird, trägt
den Stempel der Gesuchtheit auf der Stirn. Das Epigramm
ist ein inhaltsloses Wortspiel. Da die Frauen aber bei ihrem
Suchen nach Gelehrsamkeit die einfiiche Ursprünglichkeit der
Aveiblichen Natur eingebüsst haben, sind sie auch nicht mehr
im Stande, diese Eigenschaften in der Poesie zu schätzen. Ihr
Gemüt ist durch den Verstand verdrängt; sie suchen daher auch
wie in der Poesie nicht die Sprache und die Gefühle des Herzens,
sondern nur Combinationen des Verstandes. Ueber die eigentlich
geistige Bildung des Trissotin werden wir HI. 5. aufgeklärt,
wo er einen grossen Gelehrten, Vaduis, in den Kreis der Phi-
laminte einführt, und beide j^ich gegenseitig auf die unverschäm-
teste Weise herausstreichen, um sich zum Schluss der Scene,
eines kleinen Missverständnisses wiegen, Aveil nämlich der Vaduis
das eben besprochene Sonnet, dessen Verfasser er nicht kennt,
getadelt hat, auf eine noch w'cit unverschämtere Weise herunter-
zumachen. Doch der Bildung ist ja Alles erlaubt, das denkt
Avenigstens Philaminte, die gleich nach diesem Vorfall dem
Trissotin ihre Tochter anbietet. -Zuletzt stellt sich aber heraus,
dass Trissotin nur das Vermögen der Henriette hat heiraten
Avollen, und da verliert sie alle Achtung vor seinem Charakter.
Sie hat ihn aber bis dahin Avegcn seiner sein sollenden Poesie,
92 Das Urteil des Herrn von Schack
-wegen seiner prosaischen und poetischen Werke, in denen er
sich mit den Federn des Horaz, Virgil, Terenz und Catull ge-
schmückt hat, ausserordentHch bewundert und geschätzt.
So zeigt sich denn, dass Philaminte, gemäss dem franzö-
sischen Sprichwort
Qui n'a pas l'esprit de son äge, ^
De son äge a tous les malheurs,
grade deshalb, weil sie sich durch das Streben nach Gelehr-
samkeit der echten Weiblichkeit entäussert hat, auch den ein-
fachen gesunden Sinn für die Leistungen auf dem Felde ver-
loren hat, auf dem sie sich vorzugsweise bewegt. Sie sieht die
werthlosen Leistungen eines trocknen Pedanten, eines geistlosen
Plagiators für reine Poesie an. Ebenso ist es zu unsrer Zeit
der G. Sand in der Politik ergangen.
Selber hat sie in der Poesie oder vielmehr in Versen sich
noch nicht versucht, doch wol in der Prosa (111. 2.). Entrüstet
darüber, dass die Männer den Frauen die Fähigkeit absprechen,
auf Geistigem Gebiet Bedeutendes zu leisten, wall sie eine
Frauenakademie stiften, und den Plan derselben hat sie in Prosa
zu Papier gebracht. In dieser Akademie sollen alle möglichen
Seiten vertreten sein und ihre neuen bedeutenden Entdeckungen
auf wissenschaftlichem Gebiete besprochen werden. Philaminte
hat schon eine solche Entdeckung gemacht. Sie ist fest über-
zeugt, Menschen auf dem Monde gesehen zu haben. Dann
will sie mit ihren Gesinnungsgenossen die Sprache von manchen
unzarten, zu materiellen Ausdrücken reinigen ; alle neuern Wex'ke
sollen vor das Forum dieser Akademie gezogen werden und
nur die gleichgesinnter Freunde sollen Gnade finden.
So artet denn das Streben nach dem Geistigen in einen
auf die Spitze getriebenen. Hass der Materie aus, Avie wir be-
sonders bei ihrer ältesten Tochter Armande sehen Averden. Diese
Verachtung der Materie zeigte sich schon in der Vernachlässi-
gung alles dessen, AA^as auf das HausAA^esen Bezug hat, und
zeigt sich zum Schluss auf eine für den Charakter der Phila-
minte, so Aveit die Sache sie allein angeht, ehrenvolle Weise in
dem Gleichmut, Avomit sie die Nachricht von dem vöUigen
Ruin ihres Vermögens aufnimmt. Aber auch hier ist ihr Be-
nehmen als Hausfrau und als Mutter nicht ganz zu billigen.
über Moliere's femmes savantes. 93
Wenn sie die Gefühle einer Mutter füi- ihre Kinder beAvahrt
hätte, würde sie bei der Gelegenlieit die Ruhe eines Stoikers,
für deren Moral sie eine besondere Vorliebe hat , nicht be-
wahrt haben.
Ungeachtet ihrer Verachtung alles dessen, was nur irgend
an Materie erinnert, hatte die Philaniinte sich verheiratet und
da sie den Herrn im Hause spielt, an Nichts Mangel leidet,
musste sie sich äusserlich glücklich fühlen. Wie es nun we-
sentlich leichter ist, bei wolbesetzter Tafel als mit hungrigem
Magen und vor leeren Schüsseln eine Lobrede auf die Massig-
keit zu halten , wie man erst durch die Entbehrung etwas recht
schätzen lernt, so musste das äusserliche, materielle Glück, dessen
sich die Pliilaminte erfreute, ihr die Verachtung aller Materie
so wie das Hinaufsteigen zu den Ideen Plato's und zu den
Dogmen der Stoiker bedeutend erleichtern.
Anders verhält es sich mit der ältesten Tochter Armande.
Auch diese hat sich lobenswerthe Mülie gegeben , dieselben
Höhen zu erklimmen. Sie hat es aber noch nicht vermocht,
sich zu der ruhigen Verachtung der Materie zu erheben, die
ihre Mutter charakterisirt. Sie fühlt unwillkürlich ihre Flügel
im Fluge zu dem Reiche der Ideen erlahmen. Innerlich ver-
schmäht sie durchaus nicht das häusliche Glück, dessen ihre
IMutter sich erfreut, in der Philosophie hat sie sich erst zu den
Sätzen des Epikur erhoben, sie merkt zu ihrem Schrecken, dass
sie nicht reiner Geist ist, sondern dass der Geist in einem ma-
teriellen Körper wohnt; und daher ist ihre Verachtung aller
Materie mit einer Bitterkeit verknüpft, die erkennen lässt, dass
sie sich noch nicht rühmen kann, mit ruhigem Siegesbewusst-
sein auf den Feind, den sie verfolgt, herabzusehen. Wäre ihr
dasselbe häusliche Glück beschieden, wie ihrer Mutter, so würde
sie e& mit grösserer Ruhe geringschätzen können und sich ohne
Zweifel auch zu den platonischen Ideen erheben. Ihr Charakter
offenbart sich vorzüglich in ihrem Verhältniss zu Clitandre, der
lange Zeit um sie geworben hatte. Sie Avar von Natur dem
jungen Mann gar nicht abgeneigt. Ueber ihrem gelehrten Trei-
ben, über ihrem Streben nach den idealen Regionen hatte sie
jedoch ihre Weiblichkeit eingebüsst. Das Familienleben er-
scheint ihr nicht mehr als die eigentliche Bestimmung des Weibes.
94 Das Urteil des Herrn von Scliack
Das blosse Wort „Heirat" flösst ihr einen wahren Horror ein.
Das eheliche Leben widert ihre nach dem Reinen, dem Idealen
strebende Seele an. Sie fühlt sich zu gross , mii in der Lei-
tung des Hauswesens, in der Liebe eines Gatten und gar kleiner
Meerkatzen, wie sie die Kinder nennt, ihre Befriedigung zu
finden. Das sei nur etwas für materielle Geister. Sie will
nicht als Sclavin einem Manne dienen, sondern sich lieber mit
der Philosophie verbinden , um durch diese die Welt und die
Materie zu beherrschen (L 1.). Es war ihr nicht unangenehm,
sich von dem jungen jNIann geliebt zu sehen; seine Liebe war
ihr "aber zu materiell; wenn er von Heirat sprach, so hielt sie
ihm die platonischen Ideen entgegen. Dies Verhältniss dauerte
einige Jahre, bis sie durch ihr wunderliches Benehmen die Liebe
Clitandre's verscherzte, der sich dann der liebenswürdigen, echt
w^eiblichen, nicht so gelehrten Schwester Armande's, Henriette
zuwandte. In dieser Lage finden wir sie im Anfang des Stücks.
Clitandre will die Henriette, welche seine Liebe erwiedert, hei-
raten. Da zeigt sich denn, dass es der Armande doch noch
nicht gelungen ist, sich ganz von der Materie los zu inachen
und sich zu der Höhe der Abstraction zu erheben, auf der w^ir
ihre Mutter erblickt haben. Sie sucht mit aller Macht ihrer
Beredtsamkeit die Schwester von der Heirat zurückzuhalten.
Sie ist sogar bereit, selbst auf die materiellen Ideen Clitandr'e's
von Heirat einzugehen; aber jetzt ist es zu spät; sie hat seine
Liebe unwiderruflich verloren. Da sucht sie durch ihre Mutter
die Heirat zu hintertreiben; und diese, die ja die Henriette für
einen Gelehrten bestimmt hat , geht auf ihre Gedanken ein
(IV. 2.). Ihre Pläne scheitern aber an der Treue der beiden
Liebenden. So verscherzt sie durch ihr gelehrtes Treiben das
häusliche Glück, das sich ihr an der Seite Clitandre's darbot.
Sie verfehlt ihre Bestimmung als Weib, und zeigt sich doch
auch Avieder unfähig, auf dem Standpunkt der Ideen, den sie
erreicht zu haben stolz ist, zu verharren, da sie doch ihre
.menschliche Natur nicht verleugnen kann. Die Erklärung, die
sie zuletzt abzugeben genöthigt ist, dass sie bereit sei, den
Clitandre zu heiraten, jetzt, da er seine Liebe ihrer Schwester
zugewandt hat; die Leidenschaft, mit der sie die Heirat zu
verhindern sucht, zeigen, dass die äusserlich zurückgedrängte
über Moli ere "s femnios savantes. 95
Materie weit mehr Gewalt über sie liat, als über die bescheidene
Henriette , da dieselbe sie zwingt , aller weiblichen Sittsamkeit
und allem Anstand zu entsagen. Sie hat also sowohl das Ziel
verfehlt, was sie sich selbst , als das Avas die Natur ihr vorge-
steckt hatte. Sollte sie sich späterhin doch noch in's häusliche
Leben begeben, so wird sie ohne Zweifel ganz dem Beispiel
ihrer Mutter folgen, wenn es ihr die Umstände erlauben. Dann
wird ihr Geist nicht mehr mit der Materie zu kämpfen haben;
sondern von hohem philosophishen Standpunkte aus auf alles
Niedrige und Materielle herabsehen.
iSollte ihr das aber nicht geboten werden, so wird sie wahr-
scheinlich eine solche Närrin werden, w^ie wir sie in der dritten
Gelehrten, Belise, vor uns sehen. Diese mag vielleicht als jun-
ges Mädchen in derselben Lage gewesen sein und durch ein
ähnliches Benehmen ihre Bewerber verscheucht haben. Wir
finden sie jetzt als alte Jungfer. Man sollte denken, sie hätte
nun Müsse gehabt, ihren Geist von allen^ Banden der Materie
zu befreien, sie würde in dieser Beziehung ihre Schwiegerin
Philaminte weit überbieten; aber grade umgekehrt. Letztere
brauchte sich nicht nach dem Glück des häuslichen und ehe-
lichen Lebens zu sehnen, konnte es daher mit Ruhe verachten,
die Belise. hingegen fühlt sich unwillkürlich unglücklich in
ihren Yein wissenschaftlichen Beschäftigungen, obgleich sie es
nirgends direct ausspricht, im Gegenteil, sie raisonnirt ebenso
arg wie die Andern; aber ihr durch diese Gelehrsamkeit nicht
befriedigtes Herz spielt ihr einen argen Streich. In ihrer Phan-
tasie sucht sie sich für das häusliche Glück, das sie entbehren
muss, zu entschädigen. Ihre Phantasien gehen so weit, dass
sie ihren Verstand, der doch durch die Beschäftigung mit den
Wissenschaften gestärkt sein sollte, gänzlich umnebeln. Wie
Clitandre ihr seine Liebe zu Henriette bekennen und sie um
Fürsprache bei deren Mutter bitten will, glaubt ihr liebebedürf-
tiges Herz, sobald er von Liebe spricht, er wolle ihr selber
eine Erklärung machen. Da sie aber nur von einer rein gei-
stigen Liebe etwas wissen will, gebietet sie ihm, im Stillen zu
seufzen. Er beteuert ihr, dass er nur an die Henriette gedacht
habe, aber Alles umsonst, sie hält es nur für reine Verstellung
(L 4.). Auch späterhin , da sich Clitandre wirklich um die
9G Das Urteil des Herrn von Schack
Hand Henriettens bewirbt, glaubt sie, es wäre nur eine Folge
seiner Verzweiflung (IL 3, V. 3.)- Von dem Gelehrten Tris-
sotin glaubt sie dasselbe (III. G.). Da ihr Streben nur dahin
geht, ihre Liebhaber still für sie seufzen zu sehen, so vermutet
sie Liebe selbst bei Solchen, die nie von Liebe zu ihr geredet
haben. Ein zufällig auf sie geworfener Blick scheint ihr zu
genügen (IL 3.). So glaubt sie von Damis, Dorante, Cleonte,
Lycidas geliebt zu sein. Damis kommt freilich fast nie in ihr
Haus. Das ist aber nur ein Beweis grösserer Achtung. Do-
rante macht allerorten seine Witze über sie. Das ist nur eine
Folge der Eifersucht. Cleonte und Lycidas haben sich verhei-
ratet. Die Verzweiflung hat sie zu diesem Schritt getrieben.
In ihren wissenschafdichen Entdeckungen bleibt sie nicht hinter
der Philaminte zurück. Sie hat freilich keine Menschen, aber
doch Kirchthürme auf dem Monde s-esehen. Kicht wenio-er
empört als jene zeigt sie sich über die Sprachfehler der Magd»
(IL 6.). Als schliesslich der Notar die Aussteuer der Henriette
in französischem Gelde berechnet hat, und Philaminte sich be-
klagt, dass der Contract in so ungebildeter Sprache abgefasst
sei, bittet sie ihn, statt Thaler, Pfund, Franken, den Ausdruck
Minen und Talente zu gebrauchen, und statt der gewöhnlichen
Ausdrücke für die Zeitrechnung nach Iden und Kaienden die
Zeit zu bestimmen. In ihrer Bewunderung der schlechten
Verse des Trissotin bleibt sie auch nicht hinter ihrer Schwie-
gerin zurück.
So hat der Dichter, der uns nicht nach dem System Shak-
speare's ein- ganzes menschliches Leben in einem Lustspiel auf-
rollen wollte, uns an drei verschiedenen Personen gezeigt, wohin
die einseitige Beschäftigung der Frauen mit der Wissenschaft
führt. Von Natur dazu angewiesen, im häuslichen Kreise den
Mann und die Kinder durch ihre Liebe und Fürsoro;e zu be-
glücken, suchen sie das Glück auf einem Wege, wo sie es
niemals finden werden. Sie suchen in ihrem Dünkel zu ver-
gessen, dass der Mensch nicht reiner Geist oder Verstand ist,
nnd bilden sich daher von ihrer Bestimmung und ihren Pflichten
eine ganz falsche Vorstellung. Das Gefühlsleben suchen sie
ganz in sich zurückzudrängen. Anstatt den Körper und den
Geist in inniger Verbindung zu sehen und das Körperliche
über Moliere's femmes savantes. 97
durch das Geistige zu adeln, reissen sie es gewaltsam ausein-
ander. Den kalten Verstand stellen sie überall als Richter hin;
was nicht reiner Verstand ist, wird als Materie verachtet; daher
die Bewunderung einer rein gekünstelten Poesie; daher die ganz
falsche Auffassung der Liebe und Ehe, der wir bei allen drei
Frauen begegnen. Als rein geistige Wesen dürfen sie sich die
Liebe wol gefallen lassen, sie niuss aber selbst rein geistig sein,
darf sich nur in Seufzern und Sonetten äussern ; in der Ehe
sehen sie nur das Materielle ; daher denn die Armande von
ihrem Standjjunkt aus ganz mit Recht einen wahren Abscheu
davor ausspricht. Da sie aber natürlich nicht aus reinem Ver-
stand besteht, reagirt der Körper seinerseits dagegen; und darin,
dass sie, ungeachtet ihrer Ansicht von der Ehe, doch sich be-
reit erklärt, auf eine solche Verbindung einzugehen , zeigt sich,
dass sie bei ihrem vermeintlichen Aufschwung in die abstracten
Regionen des Verstandes erst recht der eigentlichen durch kein
Geistiges geadelten Materie anheimgefallen ist. Sollte sie nun
in eine solche füi' sie rein körperliche Verbindung treten, und
und nicht so viel geistige Gesundheit und Gemüt bewahrt ha-
ben, um auf den richtigen AVeg wieder zurückzukommen, so
wird sie, wie die Philaminte, sowold. ein einseitig materielles
wie ein einseitig geistiges Dasein fristen, von einer auf der
engen Verschmelzuno; von Leib und Seele beruhenden Liebe
zu ihrem Manne und zu den Kindern kann nicht die Rede
sein. Für das körperliche Wohlbefinden ihres Kreises wird
sie keine Sorge tragen, für ihr eigentlich inneres Wohl
eben so wenig, nur die Ausbildung des Verstandes wird sie
einseitig zu befördern suchen, den echt weiblichen Sinn, wie
wir ihn bei der Henriette finden, gar nicht zu schätzen wissen.
Fehlt es ihr dabei nicht an Energie, so wird sie, wie die Phi-
laminte, als kalte Despotin in ihrem Hause herrschen, und das
Glück ihres Mannes und ihrer Kinder ihren einseitigen An-
sichten vom Leben zum Opfer bringen. Tritt sie hingegen
nicht in den heiligen Stand der Ehe, so kann es ihr eingehen
wie der Belise. Die einseitige Verstandesthätigkeit rächt sich
an dem Verstand selber. Herz und Gemüt finden bei der
kalten Beschäftigung nichts, woran sie sich anklammern können,
sind auch schon durch die Entwickelung ihrer Natur zu sehr
Archiv f. n. Sprachen. XXUI. 7
98 Das Urteil des Herrn von Schuck
daran gewöhnt, sich von der Materie, d. h. von der Wirldichkeit
abzuwenden, um sich dort an einen wirklichen Gegenstand lialten
zu können. Da bleibt ihr denn nichts übrig, als sich durch
erträumte Liebschaften zu entschädigen, und diese laufen dann
natürlich auf eine blosse Spielerei der Phantasie hinaus. Da
ihre ideellen ganz körperlosen Vorstellungen von Liebe aber
von dem Liebhaber vor Allem Achtung und rein geistige Hul-
digung verlangen, selbst in Worten darf er nicht einmal seine
Gefühle vor ihr aussprechen, nur aus der Ferne darf er für
sie seufzen, so wird es ihr leicht in einem Jeden, der sie an-
sieht oder gar mit ihr spricht, einen stummen Liebhaber zu
erkennen, und so zerstört denn die einseitige consequent durch-
gefürte Verstandesbeschäftigung nicht bloss Herz und Gemüt,
sondern auch das verständige, von der Wirklichkeit getragene
Denken und endet in einem halben Wahnsinn. Das ungere-
gelte Denken, die Phantasie, hat Alles überwuchert und jede
geistige Gesundheit untergraben.
So geben uns diese drei Frauencharaktere ein vollständiges
zusammenhängendes Bild dieser Krankheit. Als Mädchen sind
die Philaminte und B(^lise der Armande ähnlich gewesen. Als
verheiratete Frau wird die Armande es ihrer Mutter gleich
machen, als alte Jungfer bedroht sie dasselbe Schicksal, das
über die Belise hereingebrochen ist. So kann man, dem Aus-
spruch unsers Goethe gemäss , aus den in dem Stück selbst
gegebenen Andeutungen die Vorgeschichte so wie die weitere
Entwickelung der einzelnen Charaktere in der Zukunft verfolgen.
Ob dies Stück nun in irgend welcher Beziehung eine Nach-
ahmung und irgend eine Verschlechterung des Calderon'schen
Machwerks zu nennen sei, hoffen wir, dem gesunden Urteil des
Lesers überlassen zu können. Das Thema ist von Moliere
auf eine psychologische Weise aufgefasst und durchgeführt,
von der Calderon's gepriesener Geist nicht einmal eine Ahnung
gehabt hat. Da wir jetzt den Leser mit dem Charakter der
BeHse bekannt gemacht haben, können wir schliesslich noch
auf einen Berührungspunkt dieses Charakters mit dem der
Beatrix aufmerksam machen. Die Beatrix glaubt auch, dass
Jedermann sich gleich beim ersten Blick in sie verlieben müsse.
Wir wissen das aber bloss von Hörensagen. In der ganzen
über Moliere 's f emmes savantes. 99
Rolle merken wir Nichts dcavon. Ausserdem steht diese Eigen-
schaft nicht in der geringsten Verbindung mit ihrem gelehrten
Treiben, sie geht bloss aus ihrem Bcwusstsein von ihrer Schön-
heit hervor, das mit Eitelkeit gepaart ist. Auf ihre Schönheit
konnte in dem Moliere'schen Stück höchstens Armande eitel
sein, da sie noch jung ist. Bei ihr finden wir aber keine Spur
davon. Noch weniger , avo möglich , bei der Philaminte. Die
B^lise hingegen macht unwillkürlich den Eindruck, als wenn
sie die älteste Person im Stück wäre, älter selbst als die Phi-
laminte. An Jahren vorgerückt ist sie sicher und hübsch kei-
neswegs. Man sehe nur das Erstaunen ihrer beiden Brüder,
des Chrysale und xYriste, wo sie ihnen berichtet, dass Clitandre
in sie verliebt sei (TL o, 4.). Sie glauben fast, sie wäre ver-
rückt geworden, um so etwas denken zu können. Dass bei ihr
nicht von Schönheit die Rede sein kann, ist also klar. Dass
sie von Natur eitel sei, davon hören wir auch Nichts. Wir
sehen in ihrer Narrheit einfach die letzte Stufe jener einseitigen-
Verstandesbildung.
Wir wollen nicht wieder auf eine Würdi<Tuno- der v. Schack-
o o
sehen Kiitik zurückkommen, wir ersuchen nur den Leser, eine
noch hierher gehörige Stelle aus einem frühern Aufsatz in die-
sem Blatt (1845 oder 1846, p. 95 etc.) ansehen zu wollen, und
wenden uns schliesslich an den Herrn v. Schack mit der Bitte,
uns doch seine Weisheit nicht vorenthalten zu wollen. Wir
verlangen von ihm keine Kritik beider Werke, d. h. keine
neuen Schimpfwörter auf Moliere und seine Freunde, darin hat
er schon das Genügende geleistet, sondern eine poetische
Uebersetzung des herrlichen Calderon'schen Werks. Wir haben
es über uns vermocht, der Wahrheit und Moliere zu Liebe,
das Stück zweimal durchzulesen, um einen Auszug daraus ma-
chen zu können , es von Neuem durchgelesen , um es näher zu
kritisiren, obgleich es uns viel Ueberwindung gekostet hat, für
den Herrn wird es sicher ein poetischer Genuss sein ohnegleichen,
die herrliche Poesie des Spaniers auch dem deutschen V^olke
gcniessbar machen zu können, und dann wird man auch nicht
mehr über den Werth des Werkes und den Geschmack des
Uebersetzera streiten.
7*
100 Moli^re und der Conventionelle
n.
Moliere und der conventioneile Standpunkt
seiner Zeit.
a. In moralischer Hinsicht.
Die Selbständigkeit, die Moliere seinen Vorgängern gegen-
über sich zu walu'en wusste, lässt von vornherein erwarten,
dass er auch einen über die moralischen und intellectuellen Vor-
urteile seiner Zeitgenossen erhabenen Standpunkt eingenommen
habe. Wenn daher echte Originalität, den Vorgängern wie den
Zeitgenossen gegenüber, das Hauptkennzeichen des Genies ist,
so scheint es, man werde ihm diese Eigenschaft nicht streitig
machen können. Dennoch wird ihm von manchen Seiten das
Genie abgesprochen durch die allgemein gültige deutsche Kritik,
und zwar nicht bloss wegen seiner vorgeblichen sclavischen
Nachahmung, sondern auch wegen seiner Befangenheit in den
moralischen und intellectuellen Vorurteilen seiner Zeit. Wie
überall sonst, so hat auch hier zuerst Schlegel die Bahn ge-
brochen, und seine Nachtreter haben nur mit andern Worten
seine Gedanken wiederholt. In Beziehung auf den sittlichen
Standpunkt Moliere's, den wir zuerst näher betrachten werden,
haben wir es natürlich, ausser mit Schlegel und Kreyssig, be-
sonders mit der katholischen Richtung des Herrn von Eichen-
dorff zu thun. Am redlichsten ist überall Herr Kreyssig zu
Werke gegangen, der sein Urteil möglichst mit Gründen zu
belegen sucht und dadurch zeigt, dass er die von ihm beurteil-
ten Sachen auch wirklich gelesen hat.
In der allgemeinsten, am schwersten verständlichen, und
deshalb für uns Deutsche am meisten imponirenden Form hat
den Vorwurf auf indirectem Wege Hr. Prof. Laun ausgesprochen
in einem Artikel über Komödie in einer hannoverschen Zeitung,
wo es heisst, es sei bloss dem Genie Shakspeare's gelungen,
die Komödie zu einem Weltspiegel zu erheben. Darin liegt
natürlich, Moliere habe es nicht gekonnt. Soli dies heissen,
Standpunkt seiner Zeit. 101
Shakspeare habe in einer Komödie die Welt abgespiegelt, so
möchte ihm das wohl kaum Herr Dr. Sievers glauben ; meint
er einen Teil der Welt, so hat das Moliere auch getan. Herr
' Laun hat aber Avahrscheinlich gemeint, Molifere gebe im Gegen-
satz zu Shakspeare nur einen Spiegel der Gesellschaft, und
zwar der Gesellschaft der damaligen Zeit. Der Vorwurf scheint
also darauf hinauszukommen, als habe Moliere nicht die allge-
mein ewige Natur des Menschen geschildert, sondern nur die
Conventionelle Seite desselben. Es wäre demnach dasselbe, was
der Herr von Eichendorf meint, wenn er sagt, Moliere habe die
Stoffe hofmässig zugerichtet; und wie sich später zeigen wird,
hat der Angriff der Herren Schlegel nnd Kreyssig vom Stand-
punkt der Moral aus denselben Inhalt. Da jener Ausspruch
Laun's möglicherweise auf zweierlei Art gedeutet werden kann,
einerseits so, dass Moliere seine Motive grade vorzugsweise aus
dem Conventionellen, nicht aus der allgemeinen menschlichen
Natur hergenommen, andrerseits dass er beliebige Motive vom
Conventionellen Standpunkt aus behandelt habe , so wollen wir
diese Frage nach beiden Seiten betrachten, und zwar zuerst
von der w^ichtigsten: ob Moliere die Welt vom con-
ventionellen höfischen Standpunkt angesehen.
Hier Avird iluu nun von allen drei Kritikern, den Herren
Schlegel, von Eichendorff und Kreyssig, eine gewisse Kammer-
dienermoral vorgeworfen. Bei Schlegel enthält dieser Ausdruck
eine Anspielung auf MoHere's Stellung am Hofe ; diejenigen, die
nach ihm sich dieses Ausdrucks bedient, haben ihn wahrschein-
lich in aller Unschuld von Schlegel entlelint.
Das vom Herrn von Eichendorff hierüber Gesagte wollen
wir nicht wörtlich citiren, da es dem Leser vielleicht schwer
werden möchte, Alles gleich zu verstehen. Uns wenigstens ist
es so ergangen. Nachdem er die französische Tragödie abge-
fertigt, fährt er Seite 87 fort: „So war denn aus einer ober-
fläclilichen Poesie (ohne Zweifel unter Ludwig XIV.) die Ir-
religiosität entstanden (mit Voltaire u. A.) ; aus ihr entstand eine
allgemeine Sittenlosigkeit, und aus ihr das französische Lust-
spiel." Das Lustspiel entstand also erst nach der Zeit Voltaire's.
Die Shakspeare'schen Anachronismen scheinen auch in der Kritik
Mode zu werden. Darauf bemerkt er, dasselbe lehne sich le-
102 Moliere und der conventioneile
dio-lich an die Corruption der höhern Stände; der Inhalt der
darauf folgenden Auseinandersetzung zeigt, warum die untern
Stände nicht dagegen reagirt. Er gibt zwei Gründe an : erstens
den Mangel aller Franzosen an schaffender Phantasie; zweitens
Nationaleitelkeit. Dass die Franzosen mehr als andre Nationen
an diesen Fehlern leiden, beweist er nicht. Er hat es seinen
Vorgängern geglaubt und darf also mit Recht verlangen, dass
man es ihm wieder glaube. Wir bemerken nur, dass man
dasselbe, was man bei den Franzosen als Eitelkeit tadelt, bei
den Engländern und Spaniern als Nationalstolz zu rühmen pflegt.
Wie der Mangel an Phantasie mitgewirkt, zeigt er auch nicht
weiter; jene Eitelkeit hatte aber nach ihm zur Folge, dass die
untern Stände sich nach dem Adel, dieser nach Paris und Paris
nach dem Hofe richtete, also Alle nach dem Hofe, weil dieser
die Regeln des Anstands gegeben und Niemand habe lächerlich
erscheinen wollen. So habe das Lustspiel mit eitler Selbst-
gefälligkeit die Verkehrtheit des Hofes als einzig fashionable
Welt zur Schau getragen. So fühlt er denn auch bei Moliere
schon den fatalen Druck der Hofatmosphäre. Da aber damals
die Sittenlosigkeit noch durch Scheinheiligkeit notdürftig gebun-
den gewesen , habe Moliere den Spass , was hier nur die Un-
sittlichkeit bedeuten kann, mit Salbung versetzen müssen, so
im Tartufe und dem misanthrope. Auf diese Weise habe sich
bei ihm eine Kammerdienermoral entwickelt, eine beständige,
verdeckte Concession an die Prätensionen der hochadligen Ver-
derbtheit. So nehme er in den femmes savantes Partei für die
Unwissenheit. — Im Tartufe, glaubte man bis jetzt, sei Mo-
liere grade jener Scheinheiligkeit oflTen entgegengetreten. Viel-
leicht ist aber der Tartufe wirklich ein HeiUger, und Moliere,
der ihn als einen Schuft schildert, ist der wahre Scheinheilige.
Er hat den frommen Mann verleumdet und ihn nur so geschil-
dert, um die wahre Frömmigkeit gehässig zu machen; und das
empört natürlich das Gefühl des Kritikers, der den Tartufe
besser gekannt hat als der Verfasser des Stücks selbst. Ueber
diese Schlauheit unsrer Kritiker wird nachher bei Herrn Kreyssig's
Urteil über den Misanthrope weiter die Rede sein. Ferner sagt
Herr von EichendorfF, MoHere feiere im Dandin die Vorrechte
der höhern Stände durch den Triumph ihres Uebermuts ; und
Standpunkt seiner Zeit. 103
äo seien seine meisten Stücke veraltet, weil sie nnr den höfi-
schen Schein der menschlichen Natur abspiegeln. Dieser letzten
grundlosen Behauptung gegenüber, dass Moliere's Stücke ver-
altet seien, wollen wir nur an den Ausspruch Goethe's erinnern,
(Bd. 33 S. 106), „dass dem INFoliere schon über ein Jahrhun-
dert seine Stücke das beste Zeugniss geben, die ja noch, seiner
persönlichen Darstellung entbehrend, die geistreichsten Künstler
aufregen , ihnen durch frische Lebendigkeit genug zu thun."
Der gelelu'te Herr Kritiker, der dem Moliere vorwirft, für den
Stolz auf eigne Ungewissheit Partei zu nehmen, sollte sich doch
so Etwas nicht zu Schulden kommen lassen. Aus dem ersten
besten in Frankreich über Moliere erschienenen Buch hätte er
sehen können, dass die Achtung vor ihm wo möglich noch im-
mer im Wachsen begriffen ist. Wenn er aber keins gesehen
und nur dem Scldegel nachgebetet, so hätte er nicht den Schein
annehmen müssen, als spräche er aus eigner Erfahrung. Me-
liere gilt in Frankreich so wenig für veraltet, dass z. B. noch
in diesem Jahre innerhalb vierzehn Tagen die femmes savantes,
der Tartufe, der avare, der malade imaginaire, jedes zweimal
bei vollem Hause aufgeführt worden sind. Herr Kreyssig
stimmt im Allo-emeinen mit dem Herrn von Eichendorff und
Schlegel überein, nur beurteilt er die femmes savantes günstiger
als beide, und den Tartufe günstiger als Eichendorff, denn die-
ser steht in seiner Kritik des Tartufe ganz allein da. Kreyssig
bemerkt, dass Moliere die „Gesellschaft" richtig beobachtet,
aber doch von Shakspeare geschieden sei durch die Kluft, die
selbst das wunderbarste Talent vom Genie trenne; denn die
Grundvorurteile seiner Zeit habe er in vollem Masse geteilt und
das Lächerliche nur in dem Widerspruch gegen die Meinung
der Mehrzahl gefunden, deren Moralphilosophie darauf hinaus
komme, fremde Vorurteile zu schonen und daraus auf verstän-
dige Weise so viel Vorteil als möglich zu ziehen. Als Beweis
dafür muss auch ihm besonders der Misanthrope dienen. Mit
einer Selbstgefälligkeit , die nicht selten aus den Löchern der
Diogenesmäntel unsrer Kritiker hervorguckt, bemerkt er S. 175,
dass das ganze Stück zu sehr die Versailler Hofluft atme, als
dass wir Deutsche diese philosophie morale nach unserm Ge-
schmack finden könnten ; und mit einem Seitenblick auf die
104 Molifere und der conventionelle
französische Kritik der alten Schule setzt er hinzu, es verstehe
sich übrigens von selbst, dass jene den Misanthrope allen Stücken
Moliere's vorgezogen. Bei Dandin, bemerkt er, könne man
sich eines peinlichen Gefühls nicht erwehren, wenn man be-
denke, dass es einem bourgeois gut genug war, ohne den
geringsten Sarkasmus die bittern Demütigungen zu schildern,
zu denen die Herrschaft der „Ehre" seinen eignen Stand ver-
urteilte.
In diesen Worten von EichendorfF's und Kreyssig's liegen
die Hauptpunkte der Anklage vor. Da der Misanthrope am
meisten hat herhalten müssen, auch bei Schlegel, so erlaube
man uns, um so vielen Autoritäten nicht bloss die mitleidig be-
lächelte Kritik Laharpe's gegenüberzustellen, wiederum an
Goethe zu erinnern, der doch ein Deutscher war, und auf eine
seltsame Weise, ganz im Widerspruch gegen das Urteil des
Herrn Kreyssig, jene Sorte von pliilosophie morale, die dem
Misanthrope zu Grunde liegt, ganz nach seinem Geschmack
gefunden zu haben scheint. Dieser Goethe wagt es , wo mög-
lich, in seinem Lob noch über Laharpe hinaus zu gehen.
Er sagt 33, 108: „Ernstlich beschaue man den Misanthrope und
frage sich, ob jemals ein Dichter sein Inneres vollkommener
und liebenswürdiger dargestellt habe. Wir möchten gern Inhalt
und Behandlung dieses Stücks tragisch nennen; einen solchen
Eindruck hat es wenigstens jederzeit bei uns zurückgelassen,
weil dasjenige vor Blick und Geist gebracht wird, was uns oft
selbst zur Verzweiflung bringt und wie ihn aus der Welt jagen
möchte. Hier stellt sich der reine Mensch dar, welcher bei ge-
wonnener grosser Bildung doch natürlich geblieben ist, und wie
mit sich, so auch mit andern, nur gar zu gern wahr und gründ-
lich sein möchte; wir sehen ilin aber im Conflict mit der so-
cialen Welt, in der man ohne Verstellung und Flachheit nicht
umhergehen kann." Er meint, im Vergleich mit ihm wäre Ti-
mon ein bloss komisches Sujet; ein Ausspruch, gegen den sich
Gervinus natürlich in seinem Shakspeare sehr nachdrücklich
erhoben hat. Da die Herren Kreyssig und von Eichendorff
hier also nicht mit einem Franzosen, den sie allerdings gering-
schätzen durften, sondern mit einem ebenbürtigen Deutschen in
Conflict geraten, so werden sie doch notgedrungen ihre Aus-
Standpunkt seiner Zeit. 105
sage begründen müssen. Herr von EiclicndorfF hat sich wie
gewöhnlich nicht auf solche Klcinigkeit(>n eingelassen. Herr
Dr. Kreyssig hat seine Ansicht mit lieden des Philinte, der
im Stück die Partei der Gesellschaft vertritt, belegt, ebenso Avie
man manche seinsollende Ansichten Gocthe's bald mit Aus-
sprüchen des Mephistopheles , bald mit solchen des Faust zu
belegen gesucht hat. Da verfällt der deutsche Kritiker wieder
in den an Franzosen so selir gerügten Fehler, sich an Einzel-
heiten anzuklammern, anstatt den Eindruck des Ganzen zum
iNIassstab zu nehmen. Mit demselben Rechte, mit dem Herr
Kreyssig die Reden des Philinte als Beweis für die Richtigkeit
seiner Ansicht -anführt, könnte man die des Misantlu'open Al-
ceste als Beweis anfülu-en , dass Moliere grade der entgegen-
gesetzten Ansicht gewesen. Es kann daher nur der Eindruck
des Ganzen entscheiden.
Da begründet Herr Kreyssig nun seine Behauptung damit,
dass der jMisauthrope, ein rechtschaffener, verständiger Mann,
die lächerliche Person des Stücks vorstelle, Aveil er sich lieber
auf die Gerechtigkeit seiner Sache als auf heimliche Ränke ver-
lasse, weil er nicht schmeichle, und an die 'freue einer coquet-
ten, sonst aber liebenswürdigen Dame glaube. Wie Herr
Kreyssig behaupten kann, der Misanthrope zeige sich als einen
verständigen Mann, können wir nicht begreifen. Rechtschaffen
ist er durch und durch, er ist sogar zu rechtschaffen, um in
seinem Umgange mit Menschen verständig zu erscheinen, da
er von Allen dieselbe Rechtschaffenheit und Offenheit erwartet,
die ihn selber auszeichnet. Kreyssig hat übrigens selbst gut
eingesehen, dass er nicht überall verständig handelt; denn er
bemerkt, dass Alceste's Charakterzeichnung, wo er wirklich
lächerlich werde, über alle Wahi-scheinlichkeit hinaus übertrieben
sei. Wenn der Dichter einen verständigen Mann hätte dar-
stellen wollen, so wäre das freilich richtig, dann wäre die Schil-
derung übertrieben, grade aus dem Grunde hätte aber Herr
Kreyssig einsehen sollen, dass es hier nicht auf einen Verstän-
digen abgesehen Avar. Dies hatte ja Moliere auch schon durch
den Titel angedeutet; denn einen INIisanthropen wird Niemand
verständig nennen. Anstatt also den Dichter missverstehen zu
wollen und anzunehmen, dass er, um einen verständigen Mann
lOG Moliere und der Conventionelle
lächerlich zu machen, aus ihm einen Misanthrope gemacht hätte,
durch dessen Schilderung ja nimmermehr jener Verständige
lächerlich werden könnte, der sich grade durch seine Verstän-
digkeit von einem Misanthropen unterscheidet, hätte der Herr
Kritiker lieber dem Moliere, der es doch wohl am besten ge-
wusst hat, was er wollte, glauben sollen, dass wir es mit einem
Misanthropen zu thun haben. Dann wird er die Charakter-
zeichnung nicht übertrieben nennen, und der hierher für seine
Ansicht genommene Beweis fällt in sein Nichts zusammen. Mit
grösserm Rechte könnte man Cervantes vorwerfen, er habe in
seinem Don Quixote, dessen Irrtum wohl eine reine Unmög-
lichkeit ist, die Charakterzeichnung über alle Wahrscheinlichkeit
hinaus übertrieben, um die Tugend lächerlich zu machen, denn
der Don Quixote ist im Grunde auch ein ehi-licher Charakter;
verständig ist er aber noch weniger als Alceste. Dass Moliere
nicht übertrieben, ward Jeder einsehen, der den Rousseau kennt
und aus Taschereau's vie de Moliere w^eiss , dass ein Herr von
Montausier, der für einen Misanthropen galt, sich gefreut haben
soll, für das Urbild des Alceste gehalten zu werden, und wie
er es erfuhr, den Moliere vor Freude umarmte. Nun bleibt
nur noch die Frage zu beantworten, ob man über die Tugend
des Misanthropen lache, wie Herr Kreyssig behauptet. Auch
dies können wir durch seine eigenen Worte widerlegen. Indem
er in dem Alceste durchaus einen verständigen Mann erkennen
will, sagt er, natürlich um Moliere zu tadeln, überall, wo dieser
Alceste lächerlich werde, sei sein Charakter, nämlich der des
verständigen Mannes, übertrieben, also nicht mehr ver-
ständig. Das Stück ist daher so sehr das Gegenteil von dem,
was man hat daraus machen wollen, dass die Worte der Tadler
unwillkürlich in ihrem eignen Munde sich zu einem Lobe ver-
kehren. Man lacht also nicht über ihn, weil er gerecht ist,
nie schmeichelt u. s. w., sondern weil er bei seiner Tugend
nicht verständig ist. Daher kommt die Kritik des Herrn Kreyssig
zu demselben Resultat, das der von ihm so mitleidig belächelte
Laharpe ausgesprochen : que la sagesse et la vertu ont besoin
d'une mesure. Das Gemüt des Alceste ist edel , er will das
Rechte; das lässt sich aber einmal in der Gesellschaft, wie sie
besteht, nicht durchführen. Dies meinte ja auch Goethe, wenn
Standpunkt seiner Zeit. 107
er sagte , dasjenige werde hier vor Blick und Geist gebracht,
was auch ihn oft hätte aus der AYelt jagen mögen.
Man lacht also nicht über die Tugend des Alceste an sich,
z. B. wird er nie lächerlich, wo von seiner Liebe zu Celimcne
die Rede ist, wenigstens hat ihn Moliere da nicht lächerlich
dargestellt, iin Gegenteil lässt er, was das Verhältniss zu
C^limene betrifft, die andern männlichen Personen des Stücks,
Avelche doch die Gesellschaft repräsentiren, die Sache ebenso
ernst nehmen, wie den Misanthrope selbst, und auch sonst lässt
er Alle sich um die Freundschaft des Alceste bewerben und
ihm Achtung bezeigen. Wir müssen überhaupt ein für allemal
bemerken, dass Moliere nie absichtlich seine Charaktere lächer-
lich erscheinen lässt. Wenn sie uns so erscheinen, so liegt das
an uns und jenen Charakteren selbst. Goethe bemerkt Wahr-
heit und Dichtung III. 137, „die wahre Darstellung habe keinen
didaktischen Zweck. Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern
sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge
und dadurch erleuchtet und belehrt sie." ^^'^enn also der Mi-
santhrope dem Herrn Kreyssig wie auch uns an einzelnen Stellen
Lachen erregt, so kommt das nicht daher, dass Moliere, wie er
sagt , gemäss „jener eleganten, aber oberflächlichen und be-
schränkten sociabilite fran^aise das Lächerliche nur im Wider-
spruch gegen die Mehrzahl fand;" denn in dem Falle hätte nur
Moliere allein über ihn lachen können, sondern weil der Alceste
auch uns ein Lachen abnötigt, obgleich wir ihm in der Haupt-
sache Recht geben müssen, so scheinen auch wir, der Herr
Kreyssig sowohl wie ich, nicht weniger an jener leidigen, für
uns Deutsche so oberflächlichen sociabilite fran(;aise zu leiden,
für die das Lächerliche wesentlich in dem Widerspruch gegen
die Meinung der Mehrzahl besteht. Vom absoluten Standpunkt
aus wird es wohl schwerlich etwas Lächerliches geben.
Dass Moliere nicht gesucht hat, die Tugend lächerlich zu
machen, sondern selbst da, wo sie im Conflict mit der Welt
Lachen erregt, ihre Würde zu bewahren gewusst hat, das zeigt
sich nirgends deutlicher als in der Vorliebe der Herren Kritiker
selbst für den Charakter des Misanthropen. Wenn sie es Mo-
liere zuschreiben, dass sie über ihn lachen, so müssen sie es
ihm doch wohl auch zuschreiben, dass sie nichts desto weniger die
108 Moliere und der conventioneile
Achtung vor ihm bewahren. Sie stehen sich freiHch persönlich
besser dabei , wenn sie jenes dem Dichter allein zur Schuld
legen , und dies allein von ihrer eignen Tugendhaftigkeit her-
schreiben, die sich so vorteilhaft von der sociabilite fran^aise
Moliere's unterscheidet. Die Anklage der Herren enthält also
zugleich die Verteidigung Moliere's eingeschlossen. Das Lachen,
das der Misanthrope erweckt, thut seiner Würde keinen Eintrag;
es ist vielmehr mit einer gewissen Freude und einem gewissen
Wohlgefallen an seiner moralischen Natur verbunden, an jener
Offenheit, mit der er den Hofmenschen die Wahrheit grade in's
Angesicht sagt, so dass man ihn eigentlich gar nicht im ge-
wöhnlichen Sinne lächerlich nennen kann. Ein französischer
Kritiker, Namens Aime Martin, hat nicht ohne Grund vermutet,
Moliere habe in dem Alceste sein eignes Innere verkörpert,
eine Meinung, die der jener Kritiker grade entgegengesetzt
wäre, und die auch Goethe geteilt zu haben scheint, wenn er
sagt, kein Dichter habe sein eignes Innere vollkommener und
liebenswürdiger offenbart, als Moliere in seinem Misanthrope.
Diese Ansicht findet keinen geringen Halt an dem, was Moliere
1654 auf die Anfrage des Prinzen Conti, eine Secretä,rstelle bei
ihm anzunehmen^ erwiederte: „Pensez-vous qu'un misanthrope
comme moi soit propre aupres d'un grand? Je n'ai pas les sen-
timents assez flexibles pour la domesticite." Ich bin auch stets
der Ansicht gewesen, selbst bevor ich gesehen, dass jene beiden
Kritiker dasselbe ausgesprochen, und der Umstand, dass Mo-
liere zu seiner Frau in demselben Verhältniss stand, wie Alceste
zur C^limene, muss mich hierin bestärken.
Es scheint also, als w^olle der Tadel, den man ihm wegen
des Misanthropen gemacht, grade in sein Gegentheil umschlagen.
Da Moliere selber sich in der Hofluft nicht behaglich fühlte,
so suchte er, ähnlich unserm Goethe, sich dieser Gefülile zu
entledigen, indem er sie sich verobjectivirte, und auf diese Weise
seine Gedanken, denen er im Leben keinen Ausdruck geben
durfte, in einem Schauspiel niederlegte. Sollte der Dichter
selbst befangen gewesen sein in der Schalheit jener geselligen
Kreise (die, obgleich unsre Kritiker es nicht zu wissen scheinen,
in Deutschland nicht weniger zu finden ist als in Frankreich),
da er sie doch im Munde des Alceste mit solcher Kraft in
Standpunkt seiner Zeit. 109
ihrer Leere aufgedeckt hat? Hätte er das thun können, wenn
er selber an dem Uebel gcUtten? Woher hätte er jene wahren
kräftigen Herzenslaute der Liebe nehmen sollen, die er Alccste
leiht, gegenüber der Celimene, Avcnn er sie nicht in seinem
Herzen gefunden? woher jene kernhafte Sprache in der Schil-
derung der Laster seiner Zeit? und welche Thorhcit wäre es
gewesen, hiermit einen Charakter auszustatten, den er lächerlich
hätte machen wollen I Wenn wir bedenken , mit welcher Frei-
mütigkeit er die Verderbtheit und Nichtigkeit des Hoflebens
schildert, so müssen Avir den Menschen achten, der es wagte,
einen solchen Spiegel seiner Zeit vorzuhalten und das Genie
des Dichters bewundern, der mit solcher objectiven Wahrheit
seine eignen Gefülile verkörperte, imd von einem Standpunkt
aus, auf den nicht jene Kritiker, aber wohl der gleichgeartete
Geist unsers Goethe ilim folgen konnte, sine ira et studio die
Tiefen seines eignen Innern und die Schäden der Gesellschaft
offen darzulegen vermochte.
Um den Dichter vom Standpunkte des Komischen überhaupt
zu rechtfertigen, diene noch Folgendes. Die ungerechten Ur-
teile über den Misanthrope scheinen mir daherziu'ühren, dass
man das Wesen und die Erscheinung eines Gegenstandes mit
einander verwechselt. Von diesem Standpunkt aus beurteilt,
müsste Moliere, wenn er die Tugend, wie man behauptet, im
Misanthrope Lachen erwecken lässt, diese Tugend selbst in
ihrem Wesen lächerlich gemacht haben. Jener Standpunkt ist
aber ganz fälsch. Kein menschliches Laster und ebenso keine
menschlichen Tugend kann ihrem Wesen nach lächerlich
oder komisch sein, jenes wird immer verächtlich, dieses ehren-
haft bleiben. Das Lächerliche und Komische entsteht erst,
wenn eine solche Eigenschaft in die Erscheinungswelt eintritt.
Die Art, wie sie erscheint, kann komisch sein, und es ist die
Pflicht des komischen Dichters , sie auf diese Weise erscheinen
zu lassen. Wenn das Laster, z. B. der Geiz, bloss seinem
Wesen nach ganz rein dargestellt würde, und desgleichen die
Heuchelei, so würde sie nur Widerwillen erwecken, in diesen
Gegenständen liegt an sich gar nichts Komisches. Dieses
Laster muss aber der Dichter läutei'n , indem er es in das
Reich der Kun^t und des Scheines erhebt. Durch den Schein,
110 Moliere und der conventionelle
durch die äussere Erscheinung, die er dem Gegenstand anhängt,
muss er den unangenehmen Eindruck, den er in der Wirklich-
keit macht, verwischen. Die komische Form, in der er ihn
zeigt, als solche, darf Nichts mit seinem moralischen Werth zu
thun haben. Die Form, in der ein Dichter, wie Moliere, uns
den Geiz zeigt, ergötzt, erfreut uns, das Laster an sich stösst
uns nichts desto weniger ab. Diejenigen, die nun diese Form
mit dem Wesen verwechselten, haben geglaubt, sie lachten über
das Wesen des Geizes ; und weil der Geiz keine Tugend ist,
haben sie Isichts daran auszusetzen o-efunden. Wie aber Mo-
liere auch das seinem Wesen nach Tugendhafte mit jener Form
zu umhängen versuchte, da mussten sie aus jenem Grundirrtum
glauben, hier lache man über die Tugend, wie sie früher über
das Laster gelacht, und dies wollte ihnen natürlich nicht be-
hagen. Freilich, wenn sie ihrem natürlichen Gefühle gefolgt
wären, so würden sie sich selber haben sagen müssen, dass der
Misanthrope Alceste darum nicht weniger liebenswürdig und ach-
tungswürdig bleibe; vor ihrem kritischen Gewissen konnten sie
es aber nicht verantworten. Wären sie jenem Gefühle gefolgt,
und hätten nachgeforscht, weshalb sie am Misanthropen Alceste
als einem edeln Mann Freude fänden, und dennoch über ihn
lachten, so dass Keines dem Andern schadete, so wäirden sie
erkannt haben, dass sie sich freuten an seinem Innern Wesen,
lachten über die äussere Form, in der es sich offenbart. Sie
w^ürden dem Dichter nur dann Vorwürfe gemacht haben, w^enn
er, um durch die Form Lachen zu erwecken, das Wesen be-
einträchtigt und entstellt hätte. Aber im Gegenteil, während
Moliere da, wo er das Laster komisch behandelte, wenn auch
nie das Wesen entstellte, so doch mit Recht, um den unange-
nehmen Eindruck zu vermeiden, es ganz durch die komische
Form in den Hintergrund zu drängen suchte, hat er hier, weil
jene edle Natur an sich Gefallen erregen muss , das Wesen
grade hervortreten lassen, und, wo es sich bei Alceste um wirk-
lich ernste, hohe Interessen handelte, in seiner Liebe, nichts
Komisches eingemischt; nur an solchen Stellen, wo es sich
mehr um gleichgültige Dinge handelte, die fiü- sein Lebensglück
von keiner Bedeutung sind, da lässt der Dichter sein Inneres
in komischer Form sich entfalten ; da aber auch hier hinter die-
Standpunkt seine iZeit. Hl
ser Form sich immer ein edles Wesen zeigt, ist das Lachen
über ihn kein solches , das mit Verachtung verbunden wäre ;
ein solches Lachen kennt die gute Komödie, daher auch Mo-
litjre, überhaupt gar nicht (denn auch das Unangenehme des
Lasters soll grade durch die komische Form besiegt werden);
er wird daher nie lächerlich, wie Kreyssig meint, da ja mit
dem Lächerlichen immer etwas Geringschätzendes verknüpft ist:
sondern er wird nur komisch, er erregt ein Lachen, das von
aller moralischen Verachtung frei bleibt; und nicht einmal das
allein, sondern indem die Form, in der sich sein Wesen offen-
bart, uns erheitert, zwingt uns das AYesen, das dieser Form
zu Grunde liegt, Liebe und Bewunderung ab. Vischer sagt in
seiner Aesthetik I. 367: „Je wahrhafter erhaben der Gegen-
stand, desto echter, je mehr nur scheinbar erhaben, desto ge-
ringer die Komik. Das ist nicht Frivolität, denn durch das
wahre Lachen wird der verlachte Gegenstand in's lachende Sub-
ject gerettet — , nicht das Erhabene in den Staub gezogen."
Dasselbe sagt Herr von Eichendorff, wenn er meint, bei
der tiefsten Komik liege der Ernst im Hintergrunde. Wenn
auch beide hierbei nicht an Moliere gedacht haben, denn Eichen-
dorff ist ja ein heftiger Gegner und Vischer wenigstens kein
grosser Bewunderer Moliere's, da er ihn in seiner ganzen
Aesthetik kein einziges Mal erwähnt hat, während Shakspeare
und Aristophanes und andre weniger bedeutende Komiker und
Hmnoristen öfter vorkommen ; wenn sie also hierbei auch gar
nicht an Moliere gedacht haben, in ihren Worten, die auf keinen
komischen Charakter so ihre Anwendung finden, w^ie auf den
IVIisanthropc, liegt klar ausgesprochen, dass es keine echtere Ko-
mik geben kann, und keine tiefere als die des Misanthrope.
Und dies stimmt wieder ganz mit dem Ausspruch Goethe's
überein, der gerne Inhalt und Behandlung dieses Stücks tragisch
nennen mochte. Sie sind freilich nicht tragisch und auch nicht
bloss komisch , sondern beides zusammen , humoristisch. An
sich ist Alceste wie ein wirklich tragischer Held von einem
echten Pathos erfüllt. Nun liegt in allem Pathos , selbst be-
wusstlos , der Hochmut, sich allein im Rechte zu glauben.
Daher gehen im Tragischen diese vom Pathos erfüllten Cha-
raktere unter, weil sie sich gegen andre auch berechtigte Seiten
112 Moliere und dpr Conventionelle
des realen Lebens vergehen. So Antigene und Romeo und
Julie und die idealen Charaktere in den Wahlverwandtschaften.
Weil sie sich nicht mit der Wirklichkeit vertragen können, ver-
lieren sie selbst ihre wirkliche Ezistenz. Creon dagegen und
die andern Hauptcharaktere stehen mit der Wirklichkeit im Ein-
klang und bleiben am Leben. Dasselbe Verhältniss haben wir
im Tasso, wo dieser selbst unterliegt, weil er sich nicht mit
dem Leben ausser ihm in Einklang setzen kann, der Weltmann
Antonio siegt. Ebenso wird nun auch Alceste, weil er in sei-
nem Pathos das äussere Leben, die Sitten und die geselligen
Regeln nicht anerkennt, diesen Regeln gegenüber komisch, wäh-
rend Philinte, weil er grade dieselben vertritt, ohne Alceste
Unrecht zu thun, unmöglich komisch werden kann, da er von
keinem einseitigen Pathos befangen ist. Denn was der Tod im
Tragischen, das ist das Komischwerden im Komischen.
Das zweite Stück, in dem Moliere sich zum Vertreter der
Vorurteile seiner Zeit gemacht haben soll, ist der Dandin. Wie
peinlich es dem Herrn Kreyssig gewesen, zu sehen, wie ein
bourgeois da ohne den geringsten Sarkasmus die bittern De-
mütigungen schildern konnte, zu denen die Herrschaft der Ehre
seinen eignen Stand verurteilte, haben wir schon gehört. W^ie
viel peinlicher würde es noch für ihn sein, wenn er wüsste,
dass, wie Moliere den Dandin schrieb, seine Frau schon lange
mit Andern coquettirt hatte. Aehnliches bemerkten wir schon
beim Misanthrope, der 1666 erschienen, während Dandin 1668
zuerst aufgeführt ward. Hier vermochte er also ohne den ge-
ringsten Sarkasmus zu schildern, wie eine Frau ihren Mann
zu betrügen sucht, obgleich er sich selbst in derselben Lage
befand. Das würde dem Herrn Kreyssig gewiss das Herz
brechen. Herrn von EichendorfF, der ja bemerkt, Moliere feiere
hier den Triumph der höhern Stände, würde es wahrscheinlich
nicht besser ergehen. Er glaubt also wirklich, dass Moliere,
der selber immer von dem Hochmut der höhern Stände zu lei-
den hatte, sowie von den Liebschaften seiner Frau, die er
leidenschaftlich liebte, dass dieser MoUere fähig gewesen wäre,
in diesem Punkt die Partei jener galanten Marquise und Hof-
leute zu ergreifen, die er in andrer Hinsicht stets den Muth
hatte, der Lächerlichkeit preiszugeben. Das heisst doch, die
8t iin (Ipuiik t seiner Zeil. 113
Alenschenkenntniss auf die Spitze treiben. Schon seit der ecok;
des femuies hatte Molierc den KrieLT iceiicn jene vornehmen
Herren angeiangen ; in der ersten Scene des improniptu de ^'er-
sailles bemerkt- er ausdrücklich : Le marquis est aujourd'hui le
phüsant (der Hanswurst,' Lächerliche) de la comedie. Er sagt,
wie früher der valet bouffun, so müsse jetzt ein marquis ridicule
die Gesellschaft erheitern. Er schonte die Vornehmen daher
nicht im Geringsten und sollte hier ihre Partei ergriffen haben?
Woraus erkennt man, dass er es gcthan? Weil er nicht sar-
kastisch wird? Schlegel hat ihm wohl vorgeworfen, er morali-
sire, hier wirft man ihm vor, dass er es nicht gethan. Du
nuiss ich Avieder an Goethe erinnern in Wahrheit und Dichtung
III. 173: „Die wahre Darstellung billigt nicht, tadelt nicht etc."
(cfr. oben). Am wenigsten gar darf es der Komiker, von dem
man noch ain ehesten erwarten kann , dass er frei über seinem
Gegenstand schwebe. Vertuscht aber Moliere vielleicht die Un-
sittlichkeit der Ilofleute? Man lese, was Dandin selbst 1. 1
und sonst darüber aussagt. AVir sehen hier in einem durchaus
objectiven Bilde, dass es für einen Bürger nur schlechte Folgen
haben kann, wenn er eine vornehme Dame heiratet. Moliere
stellt das Leben dar, wie es ist; für den einsichtigen Leser
ergibt sich die Moral von selbst. Anstatt von Befangenheiten
in Vorurteilen zu reden, sollte man ihn preisen, dass er hiej-
dem Bürger den Uebermut und den Egoismus der Hofleuti,'
vorhält und seine eigne Thorheit, nach einer Verbindung mit
ihnen zu streben. Von allen Stücken Moliere's wird wohl keiiis
mehr genützt haben als grade dies; denn mancher Bürger, der
es gesehen, mag sich vor ähnlichen Schritten gehütet liaben.
Dass Dandin schlecht wegkommt, ist dei" natürliche Lohn für
seine Thorheit und für seinen iloclimut. Den Kekruten in
Heinrich IV. , sowie den einfältigen Figuren im ßeineke geht
es Nichts besser; und doch hat Keiner dem Shakspeare vorge-
worfen, dass er jene lächerlich mache, man hat ihn bewundert,
dass er für den Falstaff sich interessire, der doch ein ebenso
ausgemachter Taugenichts ist, wie Clitandre. Shakspeare Avirft
man da keine L'iunoralität vor, dem iVIoliere aber wohl, der
doch nicht im Geringsten für die Liebschaften der Frau Dan-
din's interessirtc. Grade in dem letzten Punkt zeigt sich (kr
Arclijv r n Sprachen. XXni.
114 , Äloliere und der conventioneile
i'eine Sinn Molieie's zu seinem grossen Vorteil, wenn man
andre ähnliche AYerke herbeizieht, so z. B. Macchiavelli's ]\Ian-
dragola, den Boccaccio und Ariosto, wie le manage de Figaro,
und was für uns Deutsche am meisten Gewicht in die Wag-
schale legt, Troilus und Cressida von Shakspeare. In Vergleich
mit diesen erscheint Moliere's reine, ganz objective Darstellung
im glänzendsten Lichte. Er hat sogar streng gemieden, dem
Clitandre irgend etwas Geistreiches und Witziges in den Mund
zu legen, wodurch man öfter in England für Ehebrecher zu
interessiren gesucht hat. Nirgends ist die Heiligkeit der Ehe
durch witzi«e Ansriffe verhöhnt. Xur die Thorheit und der
Hochmut Dandin's erhalten ihre natürliche Strafe. Es ist kein
Zweifel, dass Moliere's eignes Unglück in der Ehe ihn zu der
Bearbeitung dieses Stoffes getrieben, dass er, ganz wie im Mi-
santhrope, auf diese Weise sich über seinen tiefen Schmerz zu
erheben versuchte; denn nicht genug, dass man für Dandin's
Frau sich gar nicht interessirt, dies ganze Verhältniss ist so
vom Dichter dargestellt, dass man gradezu für den Dandin
Partei ergreift und ihn von Herzen bedauert.
Also weit entfernt davon, dass Moliere in diesen beiden
Stücken sich als einen befangenen Höfling gezeigt hätte, erkemit
man grade aus ihnen, dass er den Zustand seiner Zeit mit einem
freien, offenen Blick betrachtete, dass er ebenso wenig oder viel-
mehr noch weniger die Fehler der Hof leute als die des Bürgers
verdeckte. Anstatt also zu zeigen, welche Kluft sein Talent
von Shakspeare's Genie trenne, legen sie von seiner Unabhän-
gigkeit das glänzendste Zeugniss ab, besonders der Misanthrope,
indem er sein eignes Innere mit einer sonst von Keinem er-
reichten Objectivität darlegte, so dass er in den Stunden poeti-
schen Schafl^ns derselben Freiheit und Klarheit in Beziehung
auf sein eignes Innere sich erfreut haben muss, wie gegen die
Aussenwelt. Moliere zeigt sich hier und besonders im Misan-
thrope als einen Humoristen, mit dem sich selbst Shakspeare
nicht messen kann. In dem Alceste schilderte er sich selbst
auf eine so objective Weise, dass es unsern Kritikern, ausser
Goethe, gar nicht einfiel, er habe sich selber geschildert, so dass
sie ihn gegen seine eigne Darstellung verteidigten. Sonst legt
nocii der bourgeois gentilhomme ein Zeugniss von seinem Humor
Standpunkt seiner Zeit. 115
ab. Es wundert mich, dass selbst Herr Zeising gar keine Ah-
nung hiervon geliabt hat, da doch der INIisanthrope ganz seinem
melancholischen (S. 457), der bourgeois seinem barocken Humor
entspricht (S. 451). Man vergleiche seine ganze Darstellung
des Humors in seinen ausofezeiclmeten ästhetischen Forschungen.
Bei einem Franzosen konnte man freilich keinen Humor ver-
nmten.
Dieselbe Kammerdienermoral, dieselbe höfische Bildung Avill
Herr von EichendorfF an den femmes savantes entdecken, ob-
gleich grade das Gegenteil darin liegt. Da wir aber nicht
für Quintaner schreiben, so möge uns erlaubt sein, uns nicht
weiter hierauf einzulassen. Andern möchte die Sache langweilig
werden. Damit man jedoch erkenne , dass er so ziemlich wohl
der einzige Anhänger dieser natürlich Schlegel'schen Ansicht
ist, rathen wir nur, Herrn Kreyssig darüber zu lesen, oder
was Herr Laun in Herrig's Archiv darüber geäussert.
Auf jener falschen Ansicht des Herrn Kreyssig über Mo-
liere's Standpunkt beruht auch, dass es eine Folge jener ober-
flächlichen sociabilite francaise sein soll, wenn Moliere das Lä-
cherliche nicht in der Eitelkeit an sich, sondern in der Eitelkeit
verbunden mit Pedanterie finde, und dies habe Moliere in der
ecole des maris und des femmes darstellen wollen. Ich muss
gestehen, dass ich, obgleich ich diese Stücke manchmal gelesen,
nicht scharfsichtig genug gewesen bin, um die geringste Spur
von Eitelkeit in ihnen zu entdecken, Pedanterie ebenso wenig;
oder man müsste sich die Eifersucht als eine solche deuten.
Damit verschwindet also auch die beschränkte Weltansicht, die
sich darin zeigen soll. Wenn es sich übrigens mit dem Grund-
satz , den Herr Kreyssig hier ausgesprochen , richtig ver-
hielte, so würde er eher daraus schliessen können, dass das
Talent Shakspeare's durch eine weite Kluft von Moliere's Genie
getrennt sei; denn die eiteln Leute in Shakspeare's Komödien
sind, so weit sie mir jetzt gegenwärtig sind, alle Pedanten ; ich
erinnere nur an den Malvolio , an die karrikirten Figuren von
love's labour's lost. Wenn wir also Heri-n Kreyssig beim
Wort nehmen wollten, so müssten wir annehmen, er werde jetzt
Moliere über Shakspeare stellen. Wir sind aber nicht so grau-
sam, da wir einerseits erkennen, dass jene Ansicht nur Mittel
1 1 G M 0 1 i e r « und d e r c o n v e n t i o n e 1 1 e
zum Zweck gewesen, und daher nicht mehr stichhaltig sein wird,
sobaki sie Moliere zum Vorteil, Shakspearc zum Nachteil ge-
reicht, andrerseits selber sie nur als eine Grille betrachten kön-
nen. Es dih^ftc nämlich nach Herrn Kreyssig's Ansicht kein
KcMuikcr mehr einen eiteln Pedanten darstellen , ohne in den
V^erruf zu kommen , als ob er in den uns Deutschen so ober-
Hächlich erscheinenden servilen, höfischen Grundsätzen eines
Franzosen befimgen Aväre. Wie sehr Moliere die Hofleute ver-
hasst waren, zeigt sich besonders noch im bourgeois gentil-
hommc. Durch den eitlen Glanz derselben verblendet, sucht
ein sonst ehrenhafter, aber nicht grade sehr kluger Bürger, den
Kdelmann zu spielen. Das benutzt ein Höfling, um ihn imi
sein Geld zu prellen. Auch hier .intcressirt maii sich für den
Bürger, obgleich man oft über ihn lachen muss. Der Höfling
hingegen hat keine einzige Eigenschaft, durch die er unser
Interesse in Anspruch nehmen könnte, Aveder Witz, noch List
und Schlaulicit, ganz wie der im George Dandin; und das sind
doch die Eigenschaften, die uns in andern Werken, so im
Heineke Fuchs zum Beispiel für den Betrüger einnehmen. Es
scheint demnach, als ob es mit JNIoliere's sogenannter Kammer-
dienernioral gar nicht so schlimm aussähe , dass es aber der
Moi'al seiner Kritiker nicht schaden könnte, wenn sie die be-
kannten lettres provinciales von Pascal zur Hand nähmen, oder
sich bescheiden lernten, wenigstens nicht über Sachen zu ur-
teilen , die sie nicht verstehen , und ihren eignen Mangel an
Einsicht einem Dichter nicht als moralischen Fehler anzurechnen.
Wer einen Dichter, als solchen beurteilen will, sollte erst ge-
wissenhaft ihn zu verstehen suchen, noch mehr, wenn er zugleich
mit dem Dichter den Menschen verdammt. Wie eine solche
Ilandlungeart zu beurteilen, und welche Gesinnung ihr zu
Grunde liege, hat Lessing in Beziehung auf die Verleumder
des Horaz genügend ausgesprochen. Sein Vade mecum für den
Herrn Pastor Lange verdient noch jetzt von unsern Kritikern
beherzigt zu werden.
Nachdem ^y'n' den einen Teil der Frage erörtert, ob Moliere
die Welt vom höfischen Standpunkt aus betrachtet, kommen wir
auf die andre Seite, ob er seine Motive aus der allgemeinen
ewägen Menschennatur genommen, ob er die Gesellschaft ge-
S taii(l))unk I soinor Zeit. 117
zeichnet, .^o dass sie sich immer in ihm wieder erkennen wird,
oder ol) er nur eine vergün<i;liciie Seite derselben geschildert,
wie sie sich d.unals gestaltet. Auch auf diesem Punkte basirt
die Beschuldi<iung der Herren \ou Eichendorff und Schlegel,
dass seine Stücke veraltet seien. Herr Kreyssig räumt den
Vordersatz ein, ohne jedoch die daraus notwendig fliessende
Folgerung anerkennen zu wollen; wenigstens scheint CvS mir so;
deutlich hat er sich nicht darüber ausgesprochen. Vielleicht hat
er selber nicht recht eingesehen, wie viel es zu bedeuten hatte,
wenn er in Moliere nur ein Bild der „Gesellschaft" fand.
Ebenso steht es vielleicht mit Herrn Laun. Schlegel sagt,
(yharaktörzeichnung und Anlage des Plans seien auf Sitten
Eines Zeitalters gebaut, seine Stücke in Ton und Sitten veraltet,
zu seinen Porträten die Urbilder verschwunden. Da er keine
Gründe angibt, könnte ich einfach erwidern, dass ich in meinem
zwölften Jahre den ganzen Moliere durchgelesen, und mich
nichts Derartiges im Genuss störte, obgleich ich doch Nichts
von der alten Sprache und von den Sitten der damaligen Zeit
kannte, luid ausserdem die verschiedene Nationalität den Ein-
druck hätte schwächen können. Das scheint jener Behauptung
sehr zu widersprechen. Da wir es aber in der Kritik nicht
mit Privateindrücken zu thvtn haben, mancher mutwillige Kritikei'
mir vielleicht auch keinen Glauben schenken möchte, so wollen
Avir weder hierauf, noch auf den schon im Anfang angeführten
Ausspruch Goethe's (Bd. 33 S. lOü) weiteres Gewicht legen.
Einzelne Ausdrücke und Wendimgen in Moliere's Sprache
sind wii-klich veraltet , sie verhindern al>er nicht das Verständ-
niss für den, der das jetzige Französich versteht; auch sind
deren weit \\'oniger als bei Shakspeare. Kann man aber das
dem Schriftsteller als Fehler anrechnen? Ist doch die Sprache
des Sophokles und Virgil ausgestorben; sind sie deshalb weni-
ger gross in sprachlicher Beziehung? Es wäre nach Schlegel's
Ansicht, conscquent durchgeführt, nur der ein grosser Dichter,
der in einer Sprache geschrieben , die nie veraltete , und von
allen Nationen in allen Zeiten verstanden winde. Es könnte
daher wohl von grossen Musikern imd Malern , aber nicht von
grossen Dichtern die Rede sein. Grade wahrhaft volksmässigc
Dichter nehmen ni:inchen Ausdruck, ni;uicho ^W-nduno" au* dem
118 Mo Höre und der ton veiitio nelle
Volke, mu] das gibt ihnen ein frisches Aussehen, so pflegt man
Tjü Fontaine, der darin noch viel weiter gegangen als Moliere,
deshalb zu rühmen; und wenn unsre Kritiker Gefallen daran
gefunden haben, Racine u. A. zu tadeln, weil sie, wie es heisst,
sich eine eigne hofmässige Sprache gebildet; wenn sie sich weit
erhaben fühlen über den Franzosen, der seine Sprache, wie sie
meinen, durch die Akademie habe knechten lassen, so kann
man es keineswegs als consequent loben, wenn dieselben Kritiker
einen Dichter, der am meisten aus der Quelle schöpfte, als ver-
altet tadeln. Racine und Andre Averden getadelt, weil sie hof-
mässio; greschrieben , Moliere wird getadelt, weil er nicht mit
den Regeln der jetzigen Grammatik übereinstimmt, da man doch
diesen Regeln vorwirft, dass sie die Sprache hofmässig schulen.
Man muss des Dichters Sprache vom Standpunkt seiner Zeit
beurteilen, und da erinnere ich an seine Kritik jener gezierten
bombastischen , aus Spanien und Italien herübergekommenen
Conversation in den precieuses ridicules , soAvie an die femmes
savantes, wo er jenen feinen höfischen Sprachreinigern, die man
in Deutschland sonst lächerlich macht, offen entgegentritt, des-
gleichen an die Scene mit dem Sonett im Misanthrope. Er op-
ponirte stets gegen alle Gesuchtheit und Ziererei , Avährend
Shakspeare nicht selten die einfachsten, alles Inhalts haaren
Gedanken auf eine selbst Engländern unverständliche Weise
ausdrückt, und das sogar da, wo er noch jetzt gebräuchlicher
Wörter und Wendungen sich bedient. Moliere's einfache, volks-
mässige Natürlichkeit hat, wie die Sprache Goethe's, darin
einen grossen Vorzug vor der des freien Britten, sowie vor dem
des freien Spaniers Calderon, diesen so gepriesenen Vertretern
der Unabhängigkeit ihres Volkes. Uebrigens ist noch zu be-
merken, dass Schlegel II. 245 das Lob, das man in Frankreich
Moliere's Sprache spende, zurückweist, Aveil sie in einem Schau-
spiel nur ein untergeordnetes Erforderniss sei ; er tadelt es also
als ein Kleben der Franzosen an Kleinigkeiten; hier macht er
sich desselben Fehlers schuldig. Vorher sagt er, das Urteil
hierüber müsse er einheimischen Kennern überlassen, hier er-
kühnt er sich, im Widerspruch mit der Wahrheit und jenen
Kennern, Moliere's Sprache zu verdammen.
Dass Moliere ferner die Sitten seiner Zeit schildert, kann
Standpunkt .«einer Zeit. 119
man ihm nicht übehiehmcn, denn die jetzigen konnte er wohl
nicht schildern, ebenso wenig wie Aristophanes und die spani-
schen Dramatiker, denen Schlegel denselben Vorwurf in weit
höherm Maasse hätte machen müssen. Solger hat das wohl
eingesehen und grade das - Gegentheil als Princip aufgestellt,
mn jene zu verteidigen, und zwar mit I\echt; nur drängen im
Spanischen die Sitten die allgemeine menschliche Natur oft in
den Hintergrund, während sie selbst nur der Plintergrund sein
müssen , auf dem diese hervortritt. Bei den Spaniern haben
wir nur ein Bild der Sitten und mit diesen veraltet auch das
Bild: Moliere gibt uns nicht dies äusserlich durch KationaHtät
und Zeit an den Menschen Angeklebte, sondern die allgemeine
menschliche Natur, wie sie sich in dieser Hülle bewegt; er
zeichnet Charaktere.
Aber grade diese Charaktere sollen wieder veraltet sein,
Aveil sie nur aus dem damalioen Leben aufaeoriffen sind. Woher
soll denn ein Dichter seine Motive nehmen? Racine und Andre
fädelt man, weil sie mit Vorliebe Römer geschildert. Wahr-
scheinlich hätte also Moliere, wie unsre Philosophen, apriorisch
verfahren und aus seinem eignen Gehirn eine neue Welt fabri-
ciren sollen, die damals nicht existirte; und wenn diese aprio-
rische Welt nicht mit der im Gehirn unsrer Aesthetiker ausge-
breiteten übereinstimmte, so Avürde er auch dann vor, ihnen nicht
Gnade ojefunden haben. Jede Dichtung, die wahre Lebenskraft
enthalten soll, muss in der Zeit und in der Nationalität des
Dichters wurzeln, weil er selbst darin lebt, wirkt, und nur sie
aus eigner Anschauung kennt, nur das, was sie erfüllt, selbst
durchleben kann. Daher ist es natürlich , dass auch Moliere,
ganz wie Goethe, seine Stoffe meist aus der Gegenwart und der
eignen Erfahrung nahm. Im Grunde haben das alle grossen
Dichter getan, von Homer an bis jetzt; Corneille nicht weniger
als Moliere. selbst da, avo er Römer schildert; Racine ebenso
gut wie Calderon und Shakspeare, wenn auch unsre Kritiker
beteuern, die Römer des letztern seien wirklich die alten und
Hamlet sei sogar eine Ahnung des jetzigen Deutschlands. —
Wenn der Dichter nur nicht die Mängel seiner Nation als Ge-
setz hinstellt, wie es die von den Tadlern Moliere's, den Herren
Schlegel, Eichendorff, Schack so gepriesenen Spanier, und bo
! :'n i\I()lier(! und (Kt com venlio u eile
s(jn(lers C'ak'ieron, auf eine für jeden gesunden Sinn (iniusen
(UTCgende Weise getan haben ; so kann man ihm nicht einen
Vorwurf daraus machen , dass er sich in seinen Charakteren an
seine Zeit und Nation lehnt. Stellt er diese Mängel mit freiem
Geist, vom allgemein menschlichen Standpunkt aus dar, wie es
Cervantes mit der phantastischen Richtung des spanischen Gei-
stes getan, so werden seine Charaktere nicht veralten. Ver-
schiedene Zeiten offenbaren freilich verschiedene Seiten der
ujcnschlichen Natur, bald herrschen diese, bald jene Fehler,
aber da sie alle nur verschiedene Ausartungen, Abweichungen
der Einen allgemein menschlichen Natur sind, so werden sie
jedenfalls stets vorständlich bleiben, einerlei, welchen Eindruck
sie auf uns machen mögen, sei es mm den der Liebe, oder den
der Verachtung oder des Grauens; denn grade das Gefühl, das
sie in uns wecken , können sie nur wecken durch ihr inneres
Wesen : und dass w^ir uns von diesem Wesen angezogen oder
abgestossen fühlen, ist der deutlichste Beweis, dass wir sie zu
beurteilen wissen, dass sie uns verständlich sind ; so können
z. B. die Andacht zum Kreuz und der Arzt seiner Ehre von
Calderon, jenes einen Katholiken, dieses einen unruhigen, mehr
mit Phantasie als mit Verstand begabten Menschen entzücken,'
in einem Protestanten und besonnenen Gemüt Grauen erregen;
von beiden werden sie verstanden, nur von jedem in seiner
AVeise. Der ^ahre Komil^er, der von vorn herein einen von
<len Fehlern, die er darstellt, freien Standpunkt inne hat (denn
sonst könnte er sie nicht komisch behandeln), wird also da-
durch nicht unverständlich, dass die Fehler, die er darstellt,
seiner Zeit ynd Nation besonders angehören. Die von der Kri-
tik getadelten Advocaten , Philosophen , Aerzte und Bedienten
Moliere's können also nicht bloss deshalb veraltet, d. h. mis
unverständlich geworden sein, weil sie jetzt vielleicht nicht mehr
so existiren. Wenn Moliere in ihnen nicht bloss die Bedienten-
livree, die_ Aeusscrlichkeiten der Advocaten und andre Stände
seiner Zeit geschildert hat, sondern wirklich ihre Charaktere,
nicht bloss ihre äussern Manieren, sondern das Wesen, das
ihren) Benehn)en zu Grunde lag, so hat er nur eine besondere
Alodification der allgemeinen Menschennatur geschildert; und
wenn er das 'Ani' eine wahrhait koiiiisciie Weise getan hat, i-(^
St:in(l|>un kl .•^ciiht Zeit. 121
wenloii sie noch jetzt den koinisjcheu Kindnick nicht veHchlen.
Anstatt zu beliauptcn, sie seien venütet, avcü aus dein dainaliii;en
Leben gegriften, hätte also die Kritik zeigen müssen, dass Mö-
llere nur das Aeusserliciic des Lebens, nicht das Innere, die
Charaktere geschildert hat. Die Advocaten, J*hilos(H)hen, Aerzte,
IJediente etc. nK)gcn wohl nicht mehr überall so zu finden sein,
w ie jMoliere sie uns vorführt ; und m enu der Stand dieser Leute
:!.llein Gegenstand seiner Komik gewesen, so wären sie vielleicht
veraltet ; aber es waren ihre Eigenschaften , die er komisch
darstellte; und diese sind auch jetzt noch da; sind sie nicht
mehr als Advocaten, Aerzte und Philosophen vorhanden, so
liaben sie sich nur eine andre Wohnung ausgesucht, sie er-
scheinen in andrer Kleidung, sonst sind sie dieselben geblieben;
die Philosophen Aloliere's sehen gar manchen unsrer Philosophen
und Kritiker noch zum Erschrecken ähnlich. Jene räsonniren
in's Blaue hinein, reden in ihren terminis technicis und sjirechen
dein gesunden Menschenverstand Hohn. Ebenso Avenig wie jene
kümmern sich manche unsrer Philosophen um die wirkliche
Welt : sie construiren sich eine Welt für sich, wie sie behaupten
a priori, ohne alle Voraussetzungen, während sie in der That
von beschränkten Ansichten ausgehen, und niemals ihre Vor-
r.rteile verleugnen. Ebenso unsre Kritiker, besonders diejenigen,
die Meliere tadeln; sie construiren sich eine Aestlietik a priori,
(1. h. in der Kritik von Shakspeare's FalstafF aus, ohne irgend-
wie auf Möllere Rücksicht zu nehmen ; und wo dieser daher
<las Unglück hat, von Shakspeare abzuweichen, wird er ohne
Gnade verurteilt: weiterhin construiren sie sich einen voll-
kommenen Shakspeare a priori, und anstatt, wie Ger-
vinus sagt, dem Speererschütterer seine Küstung abzuneh-
nien, legen sie ihm eine neue an, eine ganz philoso})hiscli ge-
bildete, so dass es dem armen Shakspeare oft selbst schwer
werden möchte, sich in diesem Anzüge wieder zu erkennen.
Jene Philosophen Moliere's, die auf eine ergötzliche Weise die
Selbstüberhebung der Wissenschaft personificiren, sind also noch
gar nicht ausgestorben, und grade unsre Kritiker, die Molierc
jenen Vorwurf machen . sind der lebendige BcAveis , dass die
Philosophen und Aerzte Moliere's nie aussterben werden. Ganz
wie sie haben die Aerzte Moliere's sich ein System l)creitet,
122 Moliöre und der con v entionelle
wonach sie Alles behandeln ; kann der Kranke nicht danach ge-
nesen, stirbt er gar dadurch eines gewaltsamen Todes, nun, so
war Nichts an ihm verloren, die Würde der Wissenschaft ist
aber aufrecht erhalten worden; es ist besser für einen Men-
schen, dass er den Gesetzen der Wissenschaft gemäss umkomme,
als dass er im Widerspruch mit ihnen sich am Leben erhalte.
Brüstet sich nicht auch in Deutschland mancher Aesthetiker mit
einer Unfehlbarkeit, die niemals einem Einzelnen zu Teil wer-
den kann , und glaubt sich berechtigt in Folge dessen , über
Sachen abzuui'teilen , um die er sich bloss oberflächlich geküm-
mert; wagt man nicht, einer ganzen grossen Nation alle Phan-
tasie abzusprechen, sich über ihre Sprache und ihre Metrik
lustig zu machen, ohne durch einen einzigen Grund für diese
Behauptungen seine Berechtigung zu einem Urteil darüber nach-
zuweisen, und meist wirklich nur aus dem Grunde, Aveil man
die besten Sachen nicht gelesen hat und die Verse selbst nicht
zu lesen versteht? Dieselbe Kritik also, die behauptet, jene
Charaktere seien veraltet, ist ein lebendiger Beweis dafür, dass
jene von Moliere dargestellten Fehler nicht aussterben können,
sondern nur in etwas veränderter Gestalt noch jetzt sich breit
machen. Schaden kann also jene zeitliche Hülle der allgemeinen
Bedeutung nicht, wenn nur der Dichter, wie Moliere es vor
Allen verstand , erstere zu einer blossen Hülle , durch die in
jedem Augenblick das Allgemeinmenschliche hervorleuchtet, zu
verklären vermag.
Den Gegenstand seiner Behandlung aus der Gegenwart zu
entnehmen, ist aber der Dichter, wie wir besonders an Goethe
sehen, nicht bloss durch sein Herz getrieben, sondern weil er
nur dies Selbsterlebte wirklich sich zu Herzen nehmen kann,
so ist er auch nur fähig, dies in seiner vollen Bedeutung zu
ergründen. Man denke nur an Goethe's Hauptwerke, den Götz
und Faust, wie an Werther und Wilhelm Meister, desgleichen
an die Iphigenie und Hermann und Dorothea. Das allgemeine
Wesen der menschlichen Natur kann er daher am besten grade
in der individuellen Form darstellen, die er selber vorgefunden
oder selbst erlebt hat. Wer sich dagegen als Dichter ganz von
seiner Nation ablöst und eine früher dagewesene Welt oder gar
eine phantastische Märchenwelt darzustellen unternimmt, der
8 tan (1 piink f seiner Zeit. 123
läult (icfalir, Menschon zu scluldern, die nie existirt haben und
auch nie existiren Averden, weil sie mit der all<^enieinen niensch-
Hchen Xatur im ^^'iderspl•ueh stehen. Das beste Beispiel hier-
von liel'ern die dramatischen Märchen von Platen. Im Schatz
des Khampsinit z. B. heiratet die Königstochter den Dieb, der
des Königs Schatz bestohlen. Eine solche Handlungsweise, die
man sich in einem wirklichen Kindermärc^hen , wo man der
Phantasie die Zügel schiessen lässt, wohl gefallen lassen kann,
muss auf den Brettern, welche die Welt bedeuten, wenn der Dichter
sich nicht durch komische Behandlung über seinen Gegenstand
erhebt, ganz unnatürlich erscheinen und den Zuschauer kalt lassen.
Die dem Shakspeare nachgemachten Vorspiele in diesen Mär-
chen sind nun sar das Frostiirste , was man sich denken kann.
Das deutsche Volk hat daher ganz mit Recht diesen Sachen
keinen Geschmack abgewinnen können. Es sind Kunstwerke
der Zukunft, die nie eine ihnen entsprechende Gegenwart finden
werden. Wenn aber Herr von Schack diese Stücke wie
]\Iustcr für unsre Dichter aufstellt, während er die französischen
Stücke als elende Machwerke brandmarkt, so beweist dies nur,
dass seine Vorliebe für die phantastische spanische Katur ihn
gänzlich unfähig gemacht hat, Avahre Komik zu geniessen. —
Geht hingegen der Dichter von der Gegenwart und dem wirk-
lich Nationalen aus, und w^ejss er nur, sich über den einseitig
nationalen Standpunkt zu erheben, so dass er nicht auch die
Schwächen seiner Nation für Tugenden hält, so fällt ihm die
allgemeine Wahrheit von selbst zu, und das individuelle
Leben, das diesen aus dem Volksleben hervorgewachsenen Ge-
stalten anklebt, Avird nur dazu dienen, einerseits jene allgemeine
Wahrheit zu erhöhen , andrerseits dem Zuschauer den Glauben
einzuflössen, als habe er wirkliche Gestalten vor sich. Man
denke mu* an Kleist's zerbrochenen Krug. Dass jene Charak-
tere zu Moliere's Lebzeiten wirklich existirten und sich auch
im gewöhnlichen Leben durch Würde in der Tracht und im
ganzen Benehmen von Andern zu unterscheiden suchten, das
musste das Ergötzliche dieser Figuren für das damalige Publi-
cum bedeutend erhöhen. Da aber Moliere sie nicht bloss
äusserlich copirte, sondern sie zwang, in seinen Komödien ihr
Inneres in jedem Gedanken und jeder Handlimg noch weit voll-
124 Miiliei-e und der conveiiti oiiclle
ständiger und dazu rbiner komisch darzulegen, als dies im ge-
wöhnlichen Leben zu geschehen pflegt, so braucht man sie auch
jetzt gar nicht vorher als wirklich gekannt zu haben, uin an
ihrem Bild bei Moliere sich zu ergötzen. Ein wahres Kunst-
werk bedarf wohl eines lebendigen Volkslebens, das ihm zur
Basis diene, um entstehen zu können, und grade darum musste
Moliere seiner eigenen Zeit den Spiegel vorhalten, wie ja auch
Hamlet zu den Schauspielern sagt ; aber anstatt von demjenigen,
der es gemessen will, zu verlangen, dass ihm die Nation und
Zeit des Dichters bekannt seien, gibt es selbst ein viel reineres
Bild davon , Avie es der Geist eines Dichters auffasst , als man
sonst durch jahrelange wirkliche Anschauung hätte gewinnen
können.
Wh glauben, hiermit gezeigt zu haben, dass jene aus dem
damaligen Leben aufgegriffenen Motive nicht veraltet sind und
nicht veralten werden, und bemerken schliesslich, auf das zurück-
kommend, wovon wir ausgingen, dass eine solche Behandlung
zeitgemässer StoflTe nur dadurch eben Moliere möglich war, dass
er sich über jene Vorurteile und Einseitigkeiten seiner Zeit er-
hoben, und nicht von dem conventioneilen Standpunkt, den ihm
seine Kritiker vorwerfen, sondern von dem rein menschlichen
Standpunkt aus die Schwächen seiner Nation, seiner Zeit, wie
seine eigenen, dargestellt hat. Er hat die allgemeine CAvige
Natur abgesjDiegelt in der Form, die ihm sein Jahrhundert an
die Hand aab.
b. In künstlerischer B e z i e h u n g.
^ Indem wir Moliere in seinem Verhäitniss zu ilen moraii-
jr^chen Ansichten seiner Zeit betrachteten, ob er die Welt von
dem höfischen Standpunkt aus dargestellt oder statt der Welt
uns in seinen Komödien nur einen Spiegel des Hofes oder der
damahgen Gesellschaft vorgehalten , haben wir uns auch schon
etwas aul' seinen Standpunkt in intellcctueller Hinsicht einlassen
Standpunkt seiner Zeit. 125
ii\üsseii , da sirli das Moralische und Intcllcctuclle unwillkürlich
vermischt und Freiheit von moralischen Vorurteilen auch eine
grosse Entwickcluno- der Intelliirenz voraussetzt. Im Foly-enden
jedoch Averden wir uns bloss auf das Intellcctuelle einlassen,
indem wir jetzt einen andern Vorwurf zu beseitigen suchen
müssen, welcher mit allen vorhergehenden dasselbe Ziel gemein
hat, ihm den ursprünglichen Trieb zur l*oesie, das Genie strei-
tig zu machen, diesmal aber nicht von Plagiat moralischer Be-
fangenheit ausgeht, sondern davon, dass Moliere in den künst-
lerischen Vorurteilen seiner Zeit befangen gewesen und bloss,
um auch unter den grossen Dichtern mitgerechnet zu werden,
tun correcten Ruhm zu erlangen, seine feinern Charakterkomödien
gedichtet haben soll. Der letzte Grund nämlich, durch den
Schlegel Moliere's Ansprüche auf Genialität zurückzuweisen
sucht, ist, dass er nicht aus wirklichem innern Antriebe seine
Charakterkomödien gedichtet habe, sondern aus blossem Ehr-
geiz. Herr von Eichendorff stimmt natürlich auch in diesem
Piuikte mit seinem Lehrer überein, denn darin, dass Moliere
ohne Erfindungsgabe befohlene oder gestohlene Stoffe hofmässig
zugerichtet haben soll, liegt jene Beschuldigung deutlich ausge-
sprochen. Da das Genie seine Werke mit innerer Notwendig-
keit aus sich selbst hervortreibt, nicht durch eine blosse Ope-
ration des Verstandes, so würde man, Avenn jener Aussprucii
wahr wäre, Moliere's Komödien nicht als Werke eines schöpfe-
rischen Genius betrachten können. Natürlich müssen wir nach
der nähern Begründung dieses Satzes uns nicht bei Herrn von
Eichendorff umsehen, der sich bekanntlich mit solchen Kleinig-
keiten wenig abgil^t. Um diet-e zu finden, müssen wir auf die
Quelle zurückgehen , aus der jener Herr seine Behauptung ge-
schöpft hat. In der Posse, gesteht Schlegel, habe Moliere aus
wirklich innerm Antriebe Ausgezeichnetes geleistet. Gegen die
unerschöpfiiche gute Laune, die er da bewährt (IL 230), konnte
selbst ein Schlegel sich nicht wehren. ' Er denkt also nur an
das, was man feinere Charakterkomödie genannt hat.
Der erste Grund, den er anführt, ist indirect: Moliere habe
nämlich in seinen letzten Jahren lose Possen, Zeichen von Mangel
an künstlerischer Keife , leichtsinnig hingeworfen , da er doch
wohl Müsse gehabt hätte, die Nachwelt zu bedenken (\l. 244- 45).
r2ti Moliere und der conventionelle
Wir könnten diesen Umstand einfach daraus erklären, dass er
wirklich im Gegenteil keine Müsse gehabt hätte, an die Nach-
welt zu denken, dass sein Geschäft als Thfeaterdirector , sein
Leben am Hofe ihn sehr in Anspruch genommen , und dass er
ausserdem auch schon um das Bestehen seiner Truppe willen
verpflichtet war, Possen zu verfertigen. Er würde also die
losen Possen aus dem Grunde haben schreiben können, wie ja
auch Lope de Vega Manches hingeworfen, und, seinem eignen
Geständniss zufolge, alle seine Schauspiele ohne Rücksicht auf
die Regeln geschrieben hat, bloss um des leidigen Geldes willen.
Daraus würde dann aber noch keineswegs folgen, dass die feiner
ausgearbeiteten Charakterstücke bloss mit dem Verstand erdacht
wären, aus blosser Sucht nach Correctheit. Bei Lope u. A.
würden weder Herr Schlegel noch sein Schüler diese Logik
gelten lassen, sie M'ürden den Dichter, wo möglich, noch desto
mehr bewundern, weil er inmitten aller äusserlichen Nötigungen
so viel Kunstsinn bewahrt hätte, und daraus, dass er 1672, ein
Jahr vor seinem Tode , noch eine solche Charakterkomödie ge-
dichtet, die femmes savantes, würden sie schliessen, dass er bis
an seinen Tod jenen Kunstsinn bewahrt ; das wüi-den sie thun,
man verstehe mich wohl, wenn Moliere ein Engländer oder
Spanier wäre; sein Franzosentum muss er büssen. Diese Ant-
wort allein würde schon genügen. Aber Moliere bedarf der-
selben nicht, wenn Aehnliches auch bei Lope der Fall sein
sollte. Um von diesen losen Possen einen freilich sonst schon
unlogischen Schluss auf die Charakterkomödien schliessen zu
können, müsste man erst zeigen, dass jene Possen, die er in
den letzten Jahren dichtete, Avirklich lose gearbeitet sind. Das
hat Herr Schlegel leider zu beweisen vergessen. Hält er viel-
leicht die Posse überhaupt für eine lose Arbeit? Nach seinen
Ausdrücken scheint es fast so. Das müsste aber auch doch
erst bewiesen werden. Daran hat Schlegel ebenso Avenig ge-
dacht. Im Gegenteil scheint er der Posse, weil mehr Phantasie
darin herrsche, vor der Charakterkomödie den Vorzug zu geben
(natürlich an andern Stellen, vmd auch bloss um den Charakter-
stücken Moliere's als solchen ihren Werth zu schmälern), und
er gibt zu, dass Moliere im Possenhaften ausgezeichnet ge-
wesen, dass grade darin seine vorzügliche. Stärke bestanden
Standpunkt seiner Zeit. 127
(IL 230— ;^3). Üa er also den Possen vorzüglichen poetischen
AVerth zuspricht und gar Moliere in dieser Hinsicht sehr preist,
so bleibt nur noch der Ausweg übrig, dass die von ihm in den
letzten Jahren gedichteten besonders schlecht wären; und auch
dann wäre nur gezeigt, dass JMolicre in diesen keinen Kunst-
sinn an den Tag gejegt habe. Von der einen damals geschrie-
benen Charakterkomödie Aväre noch Nichts bewiesen, und die
vielen andern wären doch alle früher geschrieben Avorden. Hat
Herr Schlegel sich nun die Mühe gegeben, zu zeigen, dass
jene Possen schlecht und lose hingeworfen sind? In den fünf
letzten Jahren schrieb Moliere deren vier , den Pourceaugnac
16G9, bourgeois 1670, Scapin lüTl, Malade imaginaire 1673.
Vor dem bourgeois scheint Schlegel grossen Respect zu be-
sitzen. Er, der sich sonst nicht sehr vor apodiktischen Be-
hauptungen scheut, wagt es nur in Form einer Frage, ihm den
miles gloriosus gleichzustellen. Von den übrigen hat er Nichts
bewiesen, nur dem Malade imaginaire gibt er im Vorbeigehen
einen Hieb, indem er sagt, dass Moliere hier die ekeln Zustände
eines eingebildeten Kranken geschildert. Kr scheint zu ver-
gessen, dass es nicht auf das AVas, sondern das Wie ankommt,
dass der Gegenstand des Tartufe noch viel widerwärtiger ist
und grade bei solchen Gegenständen die Kraft eines komischen
Genies sich am besten offenbaren kann. Körperliche Zustände
eignen sich freilich an sich gar nicht für die Poesie, die es nur
mit dem Geiste zu thun hat, und sind diese Zustände gar noch
krankhaft, so machen sie einen widerwärtigen Eindruck, wie
z. B. in dem vielgepriesenen ,.Armen Heinrich.'' Körperliche
Kränklichkeit hat aber gewöhnlich geistige Krankheit zur Folge,
und die letztere eignet sich sehr gut zu einer komischen Be-
handlunj;. In seiner Aesthetik sagt Vischer I. 340 und 11.168:
Krankheit müsse geistig behandelt werden. Ich erinnere nur
an den PhUoktet und den Wahnsinn des Lear und der Ophelia.
Shakspeare hat Schlegel aus dem Stoff keinen Vorwurf ge-
macht. An sich durfte also Schlegel Moliere deshalb nicht tadeln.
Er musste beweisen, dass Moliere die Krankheit bloss körperlieh
aufgefasst hat. Er schildert aber nie bloss äusserliche Zustände,
sondern das Innere des Menschen kehrt er heraus, und so auch
hier. Ausführlicher hat er sich nur über die fourberies de
128 Molierc und der c onvi; ntionelle
Scapin ausgesprochen, die er in der Kürze mit dem lateinischen
Original , dem Phormio des Terenz , zusammenstellt. Wir be-
halten uns vor, später eine genaue Vergleichung beider Stücke
anzustellen. Derselbe Schlegel, der bei Shakspeare- jede Un-
wahrscheinlichkeit, selbst in ernstern Werken, zu verdammen
vermochte, der den Franzosen sonst Mangel an Phantasie vor-
wirft, wo es gilt, die spanischen Intriguenstücke mit ihren Un-
wahrscheinlichkeiten zu verteidigen, legt hier an eine Posse den
Massstab der Wahrscheinlichkeit an. Wo er von Aristophanes
spricht, meint er, die komische Handlung dürfe sogar unzu-
sammenhängend und widersinnig sein, wenn sie nur komisch
wäre. Die tölpelhaften Handwerker im Sommernachtstraum und
in andern Werken Shakspeare's , die doch anspruchsvoller auf-
treten als eine bk)sse Posse, finden seinen vollen Beifall, und
doch wird es sicherlich weder in der wirklichen Welt, noch in
der Literatur irgendwo so ganz erbärmliche Tölpel gegeben
haben und jemals geben als sie. Mit diesen verglichen sind die
beiden Alten im Scapin wahre Genies. Uebrigens ist keine
einzige Posse Moliere's so lose hingeworfen, wie die Merry
wives von Shakspeare, in denen dreimal hintereinander dieselbe
Handlung wiederkehrt. Bei diesem Stück weiss aber Schlegel
natürlich des Lobes kein Ende. Ueber den Scapin bemerken
wir nur noch, dass Schlegel meint, seine Streiche machten ihn
unliebenswürdiger, als der Phormio des Terenz sei; diesem
sähe man es gern nach , weil er ein Sclave wäre , zu Moliere's
Zeiten wären- aber die Bedienten besser gestellt gewesen. Hier
bringt derselbe Kritiker, der dem Moliere vorwirft, sich zu, sehr
an die prosaische Wirkhchkeit gehalten zu haben, diese Wirk-
lichkeit selber in das Stück hinein, während Moliere sich ab-
sichthch davon entfernt und die Scene nach Italien verlegt hat.
Seine in den wirklichen Verhältnissen der damaliaen Zeit im
socialen Leben sich bewegenden Stücke, wie der bourgeois,
haben auch Diener, die diesem Leben angemessen sind. In
den reinen Phantasiestücken, wie z. B. auch im medicin malgre
lui, gilt nur das Pecht des Stärkern. So droht im Scapin der
Herr seinem Diener, ihn zu tödten , so dass der arme Scapin
da gar Nichts vor dem Phormio voraus hat. Man muss übri-
gens gestehen, dass diese Beweisführung des Herrn v. Schleo-el
S tun dp unkt sointir Zeit. 1'2'J
sehr sehlau eingerichtet war ; denn er tadelt die Possen , sie
vom Standpunkt der feinern ("liarakterkoniüdie aus als lose
Arbeiten behandelnd, und zugleich verdächtigte er die Charakter-
stücke selbst, indem er aus der den Possen eigentiunlichen freiem
Haltiuig den Schluss zog auf Mangel an Kunstsinn im Allge-
meinen. Auf einige Widersprüche und logische Sprünge
kam es ihm nicht an. Die directen (iründe, die er anführt,
sind durch dieselbe Taktik erfunden, nur die Anwenduno" ist
umgekehrt. Er wendet hier nämlich auf die Charakterkomödic
den jNIassstab der Posse, der freien Lustigkeit an (II. 253 — 54).
Daher rührt erstens Klage über Einzelheiten, correcten Spass,
gravitätisches Lächeln. Schlegel hat aber kein Beispiel citirt
und ich glaube, selbst Herrn Schack und Eichendorff möchte
es schwer werden, welche aufzufinden. Calderon, der Liebling
dieser beiden Herren und Schlegel's, hat solche Spässe in Fülle,
man sollte ihm eigentlich dafür dankbar sein , denn man sieht
es ihnen an, dass sie ihm Mühe gemacht haben. Die Witze
Calderou's findet Schlegel zierlich, ein sehr zweideutiges Lob
für einen Witz, wofür man oft geziert sagen könnte. Gesun-
dere Witze hat wohl noch nie Einer gemacht als Moliere, kernifr
und derb, ohne aber, wie Shakspeare, den xVnstand zu über-
schreiten ; obgleich er, wo die künstlerische Absicht es mit sich
brachte, die Grenze zu berühren sich nicht scheute. Dazu sind,
seine Witze stets nach den Charakteren verschieden.
Der zweite Vorwurf über Vereinig-uno; von Würde und
Lustigkeit, die nach Schlegel unmöglich sein soll, kann mehr
auf das Ganze der Stücke gehen. In dem Sinne, wie man bei
Shakspeare Beides in einem Stücke vei:einigt findet, wird er es
aber nicht verstanden haben, denn dann fiele der Tadel auch
auf diesen. Er tadelt daher wohl nur die Vereinigung beider
in Einer Person, so im Misanthrope. Aber Napoleon sagte mit
Recht: du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas; und wenn
der Misanthrope auch nicht eigentlich lächerlich wird, so hat
Moliere doch hier Würde und Komik vereinigt, und nach Schle-
gel's Ausdruck das Unmögliche geleistet, und zwar so sehr
Beides verschmolzen in Einer Persönlichkeit, dass Schlegel, wie
er selbst sagt, niclit die Grenzlinie hat entdecken können.
Ueber diese Grenze wie über die Berechtigung Moliere's. im
Arcliiv f. n. Siira<licii. XXUl. !)
130 Moliere und der conventionelle
Misanthrope das scheinbar Widerstrebende zu vereinigen, wozu
ihn sein Thema zwang, siehe das schon frülier Gesagte. Man
erlaube uns, eine Stelle aus Herrn von Eichendorff's Geschichte
des Dramas zur Verteidigung Moliere's gegen diesen Herrn
selbst anzuführen. „Das Komische,'" heisst es da S. 24, „ist
überall nur da von Bedeutung, wo es auf einer grossen sitt-
lichen Grundlage beruht, der es zur Folie dient, wie bei Aristo-
phanes, bei Shakspeare's Narren, bei dem wesentlich tragischen
Don Quixote." Im Grunde ist der Misanthrope noch viel tra-
gischer als der Don Quixote, der eigentlich so gut wie verrückt
und somit eines eiirentlich tramschen p]indrucks nicht fähiff ist.
Dass man in INIoliere's meisten Charnkterstücken die Lustigkeit
nicht findet , die in seinen Possen herrscht , ist ein Beweis von
dem Kunstsinn, mit dem er Alles am gehörigen Orte anwandte,
und, verschieden l;ierin von Shakspeare , bei dem die Witze
stets derselben Art sind und oft an ungehöriger Stelle auftreten.
Alles dem Charakter des Ganzen, sowie der einzelnen Personen
imterordnete. Die Fähigkeit, gute Witze zu machen, hat er in
den Possen genugsam offenbart. Soll ihm nun die ausgelassene
Heiterkeit in der Posse als Mangel an Kunstsinn , die Ein-
schränkung darin aus künstlerischen Gründen in den Charakter-
stücken als Gesuchtheit ausgelegt werden? Gehören doch seine
ecole des femmes und der avare auch zu den letztern, und wel-
ches Stück enthielte wohl herrlichere Komik als diese beiden?
Hat Moliere doch in jenem Charakter der Agnes , nach Schle-
gel's eigner Ansicht, wieder das Unmögliche geleistet, Würde
und Lustigkeit zu voreinen. Da Herr von Eichendorff den
Vorwurf SchlegeFs nur mit andern Worten wiederholt hat, ohne
irgend^ Etwas zu beweisen, so werden seine Ausstellungen in
dem Gesagten auch ihre Würdigung finden.
Zuletzt tadelt Schlegel das Zwanghafte in Anlage und Aus-
führung. Da auch hier keine Beispiele von ihm angeführt wer-
den, so müssen w'ir suchen, was er wohl "-emeint haben mao-.
Die ecole des femmes tadelt er bloss wegen der etwas willkür-
lichen Auflösung durch Wiedererkennung. Dasselbe lässt sich
auf den avare anwenden. Das sei ein fremder Hebel imd zu-
fällige Einmischung. Ebenso in dem Tartufe und den femmes
savantes. Gewiss versteht es kein Dichter besser als Moliere.
Standpunkt seiner Zeit. 131
Alles iiiis flon Charakteren dei- Personen herzuleiten. Keiner
hat dem blossen Zuflill so wenig zugeteilt wie er. Wenn die
llerrsehaf't des Zufalls zu tadeln wäre, so würde hingegen die
spanische Komödie fast ganz /usannnenstürzen. An einem an-
dern Orte sagt aber Schlegel selbst, in der Komödie herrsche
Durchkreuzung der Absichten und Zufalle (I. 342). Moliere
scheint mir hier grade seinen feinen Kunstsinn bewiesen zu
haben. Durch die ganze Länge des Stücks hindurch lässt er
hauptsächlich die C'hax'aktere hervortreten, Alles dient nur die-
sem Zweck. Am Schluss war der Zweck der Charakteristik
erreicht, und die Personen brauchten sich in der Benutzung des
Zufalls nur ihrem Charakter gemäss zu zeigen. Letzteres ist
aber stets bei ihm der Fall. Der Tadel über die Wiedererken-
nung löst sich auf in ein Lob, wenigstens nach Schlegel's Sinn,
wenn man liest, was er S. 375 über die Griechen und Kömer
sagt: „Die verflochtene Intrigue spielt in der Gegenwart, aber
der seltene, unwahrscheinliche Vorfall, worauf sich ihre Anlage
gründet, ist in die Ferne der Zeiten und Oerter gerückt, und
so hat oft das aus dem täglichen Leben aufgefasste Lustspiel
dennoch einen gewissermassen wunderbaren, romanhaften Hinter-
grund." Die Auflösung der femmes savantes wird übrigens
nicht durch einen Zufall herbeigeführt. Vom Tartufe wird
später die Kede sein. Wir bemerken hier nur, dass ein Heuclder
zu widerwärtige ist, als dass man sich mit einer orelinden Busse
bei ihm hätte begnüg-en können. Indem Älolifere ihn durch die
Polizei einstecken lässt, kommt er dem Wunsch des Zuschauers
entgegen. So sagt denn auch Goethe 33, 109: „Der Tartufe
des Moliere erregt Hass, es ist ein verbrecherischer Mensch,
der Frömmigkeit und Sitte heuchelt, um eine bürorerliche Fa-
milie in jedem Sinn zu Grunde zu richten; deshalb uns denn
auch der jjolizciliche Ausgang willkommen erscheinet."
Vielleicht hat Schlegel auch an die satirische und didaktische
Ader gedacht, die der komischen Gattung i'remd sei, von der
er schon in den Advocaten und Aerzten der prosaischen Stücke
Andeutungen findet, wo Moliere wirklich rügen, nicht belustigen
wolle. Ich muss hier wieder die Gewandtheit bewundern, mit
der Schlegel einen Vorzug Molicrg's, das individuelle Leben
jener Gestalten, das sie grade ihrem Hervorgehen aus dem
9*
132 Moliere und der c onventionel le
wirklichen Leben verdanken, zu einem Fehler zu verdrehen
weiss. Weil jene Figuren wirklich existirten , wittert er hier
gleich eine satirische Ader, denn da er gar keine andern Gründe
vorbringt, so können wir es uns nur auf diese Weise deuten.
Durcii das Wesen , das besonders seinen Aerzten zu Grunde
liegt, muss Moliere freilich wohl belehren für den, der über
dieses Wesen nachdenkt, ebenso wie beim Geizhals, dem Mi-
santhropen etc. ; jede Poesie , die wirklich Menschen darstellt,
und nicht blosse Gestalten der Phantasie, wie manche spanische
Komödie und der Sommernachtstraum , enthält einen ernsten
Sinn, und das ist es ja auch grade, was PleiT von Eichendorff
gleichfalls von der Komödie fordert. Dieser hinter dem Spiel
verborgene Ernst ist also nie ein Tadel, wenn die ernsthafte
Tendenz nicht in der Form hervortritt; thut sie das, so ist
freiliclr die komische ^Virkung dahin. Moliere's Advocatcn etc.
bleiben aber stets komisch , nie tritt die satirische Tendenz als
solche hervor, und das rührt zwar daher, dass er nie hinter
seinen Personen steckt, sondern einen Jeden seiner eignen Natur
nach reden lässt. Am meisten ist diese reine Komik, die alle
Tendenz überwindet, in dem Medicin malgre lui zu bewundern,
wo leicht etwas Satirisclies und Sarkastisches hätte hineinkom-
men können, da ja der iNledicin da nicht selbst auf dem Stand-
punkte der Aerzte steht, sondern nur den Arzt selbst spielt.
Dieser hätte leicht in Versuchung kommen können, sich Avie ein
selbstbewusster, lustig übertreibender Komiker zu gebehrden.
Im Grunde hat er natürlich etwas davon, in der Form weiss er
aber so die angenommene Rolle durchzufülu-en , dass auch da
von dem Selbstbewussten Nichts durchschimmert. Da bei' einer
Satire, wie bei einer Komödie, wenn beide sich an die Wahr-
heit halten sollten, das Wesentliche dasselbe sein musste, z. B.
dass die Aerzte ihre Kranken um's Leben bringen , so kann
sich der Unterschied nur in der Form offenbaren. Die Satire
macht die Aerzte gehässig, zeigt sie als furchtbar, Moliere hin-
gegen macht sie zu Gegenständen des Wohlgefallens, hüllt
sogar den Gedanken, dass sie morden, in ein komisches Ge-
wand, so im Medicin IIL 1 und 2, woraus wir nur citiren :
,,I1 y a parmi les morts une honnetcte, nne discrction la plus
grande du monde; jamais on n'en voit sc plaindre du mcdccin
Stan(l[)unkt seiner Zeit. 133
qui l'a tue. — II est vrai que les luorts sont fort honnetes geiis?
sur cette imitiere. '* Ist das der Ton der Satire oder nieht viel-
mehr Ernst im Hintergründe, verhüllt durch komische Form?
Es ist ein AVunder, dass unsre so moralisch gesinnten Kritikei
Moliere nicht auch hier getadelt, dass er über solche Sachen
habe spassen können, ebenso Avie beim Älisanthrope und Dandin.
Unsre lieben Kritiker sind grade nun einmal seine Komiker.
Man muss hier am meisten Molicrc's komisches Talent bewun-
dern; je mehr der Gegenstand aus dem Leben gegriffen war,
um so schwerer musste es sein , das naheliegende Tendenz-
massige des Stoff's von allen prosaischen lleflectionen rein zu
halten, Alles in das Reich des^Schcins und der komischen Eorm
hinüber zu spielen. Moliere hat dieser Forderung, so viel ich
weiss, stets genügt. So hat er z. B. die Aerzte nicht so gt^
hässig dargestellt , w'ie sie in der Wirklichkeit sind. Die mei-
sten Pfuscher unter ihnen treiben doch wohl nur ihr Geschäft,
um Geld zu verdienen. Damit ist aber den Aerzten Moliere's
ausser im medecin malgre lui , wo es übrigens seinen guten
Grund hat, gar nicht gedient. Er legt ihnen bei ihrer Dumm-
heit ein edles Pathos bei, nämlich die Begeisterung für die
Wissenschaft, der sie auch ihr eignes Leben opfern würden.
Dadurch erwecken sie in uns gleich die Idee der wahren Wis-
senschaft und erscheinen als die ergötzlichsten Karrikaturen.
Moliere hat sich also hier w^eit über das Gehässige, was ihnen
in der Wirklichkeit anklebt, erhoben , und ebenso hat er es bei
den Advocaten etc. geniacht. Wenn aber ein Leser nicht so
A-iel ästhetisches Gefühl hat, dass er, wo der Ernst des Lebens
im Hintergrunde Hegt, an der Form sich ergötzen kann; wenn
er sich überall durch eigne Reflection und prosaischen Sinn den
poetischen Genuss stört, so fehlt es ihm selbst an der wahren
Gesundheit des Geistes, um ein komisches Kunstwerk ruhig zu
«leniessen. Bei Moliere wird es einem solchen natürlich leicht
unbehaglich, Aveil da überall das wahre Leben im Hintergründe
liegt; da wird ihm stets die Illusion gestört werden; dagegen
werden leichte Gebilde der Phantasie, wo keine wirklich aus
dem Leben geariffenen Menschen ihn an's Leben erinnern, seine
Do
Bewunderunir erregen. Dadurch ist aber ein solcher Romantiker
nicht berechtigt, anzunehmen, dass deshalb der Dichter, der
134 Molieie und der couventionelU-
wahre Menschen schildert, hinter dem phantastischen zu-
rückstehe; er muss erst nachsehen, i)b die verschiedene Wirkung
beider Dichter auf ihn nicht viehiiehr die Folge seiner eignen
Natur sei, ob das Prosaische, Tendenzartige, das er dem einen
vorwirft, nicht in ihm selber lieg-e.
Besonders sind es die feinern Charakterkomödien, in denen
Schlegel absichtliche Didaktik und Satire wittert. Die ecole
des femmes ging natürlich frei aus, Aveil da das Ganze sich
um die naive Agnes dreht, und also dort die Darstellung eines
moralischen oder intellectuellen Fehlers nur nebenbei im Arnolpe
direct hervortritt. Da konnte Moliere weniger in den Schein
der Didaktik verfallen. Im avare hätte es wohl G:eschehen
können, wie das Beispiel des Plautus zeigt; es herrscht aber
(^ eine solche Komik, dass Schlegel sogar auf den Einfall ge-
rathen konnte, das Stück eine Posse zu nennen. Dass im Mi-
santhrope, den femmes savantes und dem Tartufe nicht so sehr
das Komische herrscht, lag im vStoffe begründet. Das Streben
des Alceste, wie das der femmes savantes, geht nicht auf etwas
Aeusserliches , sondern auf Intellectuelles; daher konnte der
Natur des Gegenstandes nach das Komische sich nicht direct
als Handlung entwickeln, sondern in Reden. Die Handlung ist
mehr innerlich. Dass aber Moliere in diesen Keden oder viel-
mehr Gesprächen stets wo möglich das Komische hat vorherr-
schen lassen, spricht ihn auch hier von aller absichtlich satiri-
schen Tendenz frei, da sich diese ja nur in der Behandlung
des Gegenstandes zeigen kann. Wenn er seine Tendenz in der
Behandlung zu klar hätte hervortreten lassen, so würden die
Ansichten über seine Tendenz in beiden Stücken doch nicht so
weit haben auseinandergehen können, dass z. B. die eine Paitei
behauptet, er habe im Misanthrope die Tugend lächerlich ge-
macht, in den femmes savantes Partei ergriffen für die Dumm-
heit, die andre beides gradezu leugnet und sogar behauptet, im
Misanthrope habe er sein eignes Innere auf die liebenswürdigste
Weise offenbart. Im Tartufe zeigt sich am meisten die künst-
lerische Kraft, mit der er dem widerlichsten Gegenstande eine
komische Seite abzugewinnen vermochte; man vergleiche ihn
nur mit den ekelhaften Heuchlern englischer Humoristen, so in
des vielgepriesenen Thackeray vanity fair^ und Boz' Martin
StiiiKlpii u k t seiner Zeit. 135
Clmzzlewit; dann wird man die Kunt<t des Dichters bewundern
lernen. Auch hier sind die Urteile der Kritiker das beste Zeug-
niss i'ür die Objectivität und i endenzlosigkcit der Darstellung.
Innige haben behauj)tet, jNloliere mache die Kcligiosität und die
Frönnnigkeit lächerlich, zu diesen scheint Herr von EichendorfF
auch zu gehören. Andre haben das Gegenteil behauptet. So
schrieb Saint-Evremont einem Freunde: „Si je me sauve je lui
dcvrai mon salut. La devotion est si raisonnablc dans la beuche
de Cleante, qu'elle me fait rcnoncer a toute ma philosophie . . .
Sainte piete que vous allez apporter de bien au monde!" Eeue-
lon meinte dasselbe und viele Andre nach ihm. Diese wider-
sprechenden Urteile legen für Moliere's (^bjectivität die besten
Zeugnisse ab. lu) Hintergrunde liegt freilich die Tendenz oder
Ansicht des Dichters klar zu Tage für Jeden, der das Ganze
unparteiisch betrachtet, in der Form tritt sie zurück. Molierc
ist daher ganz , was Schlegel II. 235 von einem Dichter ver-
langt, und ebendaselbst bei Moliei*e vcrmisst, ^Moralist, ohne zu
moralisiren. Letzteres werden Ilerr von Eichendorff und Andre
ohne Zweifel leugnen, Schlegel hat schon das Gegenteil durch
einzelne Stellen zu beweisen gesucht, und so sehen wir den
deutschen Kritiker, der, im Widerspruch gegen die Franzosen,
nur an einem Ganzen Gefallen finden kann , sich wieder an
Einzelheiten heften. Moralisirt Goethe nicht auch im Faust?
<
Rcfiectii't Shakspeare nicht im Hamlet, und moralisiren ist doch
wohl weiter Nichts als über Moral reflectiren? Da Shakspeare
auch reflectirt hat, wird jeder deutsche Kritiker, der es sonst
nicht eingesehen, auf der Stelle erkennen, dass es nicht überall
zu tadeln sei, dass gs auch hier eigentlich auf das Wo und M'ie
ankomme.
Da sind nun die Erörterungen, die Schlegel besonders am
Misanthropc tadelt, nicht kalte Abwägungen des Für und Wider,
sondern aus den Charakteren und Situationen hervorgegangen.
So sind die im Aniänge des ]\Iisanthro])e hitzigen Ausbrüche
der Leidenschaft, die in der Situation bcgiündct, uns gleich
seinen Charakter offenbaren und auf den L^rsprung seiner Mi-
santhropie deutlich hinweisen, nämlich den Zorn eines edlen,
aber leidenschaftlichen Gemüts über die Vcrwurlenheit der Zeit,
so das^ Heir liaun mit I iircclit <lie Motiviruni; derselben ver-
I3ü Moliere und der convu iitiuuelle
inisst, und (jroethe's Ansicht, dass man ohne Weiteres die Vor-
geschichte der Moliere'schen Charaktere aus Andeutungen in
den Stücken selbst entziffern könnte, sich auch hier bewährt.
Auch ist die Kunst zu bewundern in der Sprache des Misan-
thrope, die durch ilu'e originelle Kraft ergötzt, und somit den
Widerwillen besiegt, den die dargestellten Gegenstände sonst
erregen möchten, so in der energischen, unübertrefflichen Schil-
derung des Heuchlers in dem : Non, eile est generale etc. Durch
diese Scene werden uns gleich der Zustand der Gesellschaft,
die Natur des Misanthropen und seine Verhältnisse, in denen sie
sich nachher vor uns entwickeln wird, vor Ausen gebracht.
Für einen deutschen Kritiker auf dem Dreifuss bleibt freilich
in solchen Erörterungen Nichts zu erraten, wie Schlegel selbst
sagt (II. 235), denn ein solcher thront zu hoch und sieht am
leichtesten, was nicht dasteht, wie bei Shakspeare; was dasteht,
bleibt ihm verborgen; für den aber, der an der Scholle klebt,
wie Jene sich ausdrücken würden, der auch solche Kleinigkeiten
einer nähern Betrachtung wiü-digt, für den ist auch in diesen
Sachen Etwas zu erraten. Wenn also nach Schlegel die grösstc
Feinheit darin besteht, „dass sich die Charaktere unbewusster
Weise kundgeben durch Züge, die ihnen unwillkürlich ent-
schlüpfen," so gehören diese Erörterungen, wie es scheint, zum
AUerfeinsten, denn ihre Bedeutung ist selbst Schlegel verborgen
geblieben. Wenn er ferner tadelt, dass diese Erörterungen das
Thema nicht erschöpfen, so widerspricht er sich selbst, denn
darin grade zeigt sich, dass Avir hier nicht den moralisirenden
Dichter sehen , der ohne Zweifel zu einem Resultat gekommen
wäre, sondern zwei lebende Wesen, die uns ihr Inneres ent-
hüllen, dass es keine kalten Erörterungen des Für und Wider
sind. Wenn er ferner meint , es fehle die dramatische Bewe-
gung, weil kein Resultat herauskomme, so ist da nur einzu-
wenden, dass die dramatische Bewegung bei solchen Reden in
der Leidenschaftlichkeit der Personen liegt, die grade jene Ver-
einigung zu Einem Resultat für sie selbst unmöglich macht,
selbst am Schlüsse des Stücks, wo der Dichter, wenn er wirk-
liche Menschen darstellt , das Resultat nur den Leser erraten
lassen darf; mau denke an die Antigonc und den Tasso im Ganzen,
wie an die einzelnen Gespräche zwischen Antigone und Ismene,
8t autlj» unkt seiner Zeit. 137
Kreon und Antigone, Ilaenion und Kreon. Wenn sie selbst
zu einem Ivesultat kämen, so müssten sie ihre Natur verleugnen,
und das Aväve nicht dramatische Bewegung, sondern die logische
Bewegung eines Aufsatzes. Grade dann hätte man den Fehlei-
des kalten Abwägens, den Schlegel an INIoliere rügt, und dass
solche Personen nicht dramatisch wären , kann man daraus er-
kennen, dass jeder Conflict unmöglich und mit der ersten Scene
Alles zu Ende sein, würde; oder Molicre müsste denn ein spa-
nisches Intriguenspiel haben schreiben wollen, wo Puppen durch
die Intrigue bewegt werden , wie Kegel beim Kegelschieben.
Moliere ist also glücklich zu schätzen, dass er sich besser auf
seine Sachen verstanden hat als sein Kritiker. Alle Gespräche
in den Moliere'schen Charakterkomödien sind der Art , in den
Umständen und Charakteren begründet , weshalb sie denn auch
nie zu Einem Residtat sich vereinigen. Daher rührt denn auch,
dass jene Kritiker unfähig gewesen sind, den Dichter zu ver-
stehen. Sie, die dem Franzosen prosaischen Sinn und Mangel
an Phantasie vorwerfen, dringen überall auf ein Resiütat, wie
bei einem Rechenexempel, ein Resultat, das am Schluss jeder
Scene und des Ganzen genau ausgesprochen würde. Bei Mö-
llere und allen wahren Dichtern ist es jedoch wie in einigen
der dramatischen platonischen Dialoge, das Residtat ist nirgends
ausgesprochen, und ist doch überall zu entdecken. So haben
die Herren von Schlegel und von Eichendorff, weil sie diu'chaus
das Resultat an einzelnen Stellen ausgesprochen finden wollten,
inid unfähig waren, das Kunstwerk als ein Ganzes zu beur-
teilen, aus einzelnen Stellen des Misanthrope und der femraes
savantes geschlossen, dass dort die Tugend lächerlich gemaciit,
hier die Dummheit verteidigt werde. Aber grade durch dies
l rteil beweisen sie, dass Moliere ganz dramatisch zu AYerke
gegangen, und, statt selbst zu moralisiren, seine Charaktere
sich hat frei vor uns entfalten lassen.
Somit wären auch die Vorwürfe über Tendenz, Sucht zu
belehren und Streben nach correctem Ruhm zurückgewiesen,
und so fällt denn auch dieser Grund zusammen, mit dem man
hat beweisen wollen, dass Moliere seine Charakterstücke nicht
aus innerm Antriebe gedichtet, sondern aus blossem Ehrgeiz.
Als positiven Grund dagegen könnten wir selbst den von
138 M o 1 i e r e und d e r c o n v e n t i o n e 1 lo
Schlegel ihm gemachten VorAvurf der Tendenz gebrauchen;
denn wo eine Tendenz war, wird der innere Antrieb nicht ge-
fehlt haben. Wenn sich auch in der Form das Tendentiöse nie
bemerklich macht, so lagen doch meistenteils positive Erfah-
rungen, wie Erscheinungen des Lebens, seinen Werken zu
Grunde. Der Gegenstand, den er behandelte, lag ihm am Her-
zen; daher finden wir einige zweimal bearbeitet, so die Blau-
strümpfe und die Heuchelei. Im Misanthro})e schildert er sein
eignes Innere. Im" bouroeois III. 9 findet man eine Schildc-
runff seiner eisrnen Frau und seiner Liebe. Seine Kränklichkeit
lässt uns glauben, dass er im malade imaginaire sich über seine
eignen Sorben zu erheben suchte. Dass 1670 eine satirische
Komödie auf ihn erschienen war, Elomire hypochondre, bestärkt
uns in dieser Ansicht. Hierher gehört auch, dass er, wie
Schlegel ohne Grund tadelnd bemerkt, den seinen Stücken wi-
derfahreneu Tadel, die schlechten Manieren andi-er Schauspieler,
ja die Verlegenheit, nicht so schnell, als es der König verlangte,
eine theatralische Vorstellung herbeischaffen zu können, dass er
das Alles als Stoff der Belustigung behandelte. Den Dandin
rechnen Avir auch hierher. Dass er so überall die '""Stoffe aus
wirklichen Ei-lebnissen hernahm, zeigt, dass die Wahl der Stoffe
aus innerm Antrieb hervorging ; dass jeder solche Stoff sich
unter seinen Händen zu einem Lustspiel bildete, zeigt, dass er
auch in der Wahl der Form einem Innern Antriebe Folge lei-
stete. Es bliebe also bloss noch zu erörtern, ob er bloss aus
Willkür den einen Stoff als Posse, den andern als feinere Cha-
rakterkomödie behandelte, bloss aus falscher Euhmsucht diese
Form wählte, oder auch seinem innern Genius folgend. Dies
lässt sich eigentlich zur Genüge nur durch eine eigne Betrach-
tung seiner Werke darthun, durch eine Auseinandersetzung der
Principien, die er hierin befolgte. Das Unbegründete dieses
Vorwurfs können wir jedoch gleich hier an einigen Beispielen
zeigen, die auf Einzelheiten gehen, aus denen man erkennt,
dass Moliere gar nicht nach dem Ruhm einer falschen Correct-
heit strebte. Ich verweise hier erstens auf die ecole des fcm-
mes, die doch eine feinere Charakterkomödie ist, wo I. 1 das
faire les enfants par les oreilles, I. 4 les puces, qui m'ont In
nuit inquietce, IL 3 die Definition von Jalousie, IL (> das il
8 tiiiuli) Uli kt «ciiiur Zeit. 139
in'a i»ii,s, Liiul nachher nocli Andres, gegen (his, was mau bei
litis unter jener französischen Correctheit und falschem Anstand
verstellt , gradezu Verstössen. Dass Mulierc hier stets aus
Kunstsinn so geschrieben , und was er von jenen Regeln des
Aristoteles gehalten, kann, wer will, aus seiner critique kennen
lernen. Er sagt ausdrücklich VII. : „La grande regle de toutes
les reglos est de plaire ... Je regarde seulemcnt si les choses
me touchent ... et je ne demande point si les regles d'Aristote
ine dcfendaient de rire;" und darauf führt er seine Sache mit
Gründen. In den femmes savantes kommen einige Charaktere
vor, die eher in die Posse als in die feinere Charakterkomödie
zu gehören scheinen , nämlich die alte Jungfer Belise und der
Gemahl der Philaminte. Daraus sieht man , dass Moliere niclit
nach jenen Convention eilen Regeln arbeitete, die Posse und Cha-
rakterkomödie so scharf trennten. ' Er folgte seinem feinen
Kunstsiim , und der hat ihn stets sicher geleitet. In dem me-
decin malgi'e lui und Don Juan verletzte er sowohl die Regeln
des Orts, wie die der Zeit , und selbst im Misanthrope, auf den
jener Vorwurf wohl am meisten gemünzt ist, weigerte er sich,
auf den Wunsch von jVIadame die Stelle zu streichen vom grand
tlandrin de vicomte qui crachait dans un puits pour faire des
ronds , weil er sich um die falsche Correctheit nicht kümmerte,
obgleich Jene meinte, diese Stelle verunziere ein so schönes
Werk. Dieser feine Kunstsinn, diese (Geringschätzung aller
falschen Reji'eln, die sich selbst in solchen Kleinio-keiteu offen-
harte, ist zugleich, weil in einer geringfügigen Sache, ein Zei-
chen von Unabhängigkeit, das Schlegel hätte abhalten sollen,
von ilmi wie einem Lustigmacher zu reden, und das Lob des
Königs im Tartufe als eine untertänigste Huldigimg zu bespöt-
teln. Wenn man weiss, wie ihn die Frömmler verfolgten, selbst
nach seinem Tode, und dass der König nachher selbst ein
Frömmler ward und das Edict von Nantes widerrief, wird
man diesen Mann nicht servil schelten , wie es Herr Kreyssig
und Andre getan, sondern den Mut bewundern , mit dem er so
der Stimme seines Genius zu folgen wagte und Werke hervor-
brachte, bei denen es einer solchen Kmpfehlung bedurfte. Seine
deutschen Kritiker werden wohl niemals eine solche nötig ge-
habt haben. Einen thutsächlichen Beweis seiner Unabhänuiu'kcit
140 Moliere und Jer conventioneile etc.
und seiner Begeisterung für die Kunst gab er grade dadui'ch,
dass er sich auf dem Theater selbst Schläge göfallen Hess, wie
im Scapin. Boileau that es weh, ihn in solchen Lagen zu sehen,
ihn, l'auteur du misanthrope, und Schlegel würdigte ihn deshalb
zu einem Lustigmacher herab. Moliere fühlte aber zu sehr
seine innere Würde, ganz wie unser Lessing, als dass er sie
dadurch in seinen eignen Augen verloren hätte. Er, dem man
vorwirft, nach correctem Ruhm gestrebt zu haben, verschmähte
es, in. die Akademie einzutreten, weil man die Bedingung daran
knüpfte, er solle die Bühne verlassen. Ob seine deutschen Kri-
tiker , die sich über ihn lustig machen , diese Probe bestanden
haben, ob sie überhaupt vorurteilsfrei genug gewesen sein wür-
den, um in den verachteten Stand eines Schauspielers einzu-
treten, wie er, das mögen die Herren selber entscheiden.
Moliere lernte also von seinen Vorgängern , ohne seine
Selbständigkeit aufzugeben, und nicht weniger frei zeigte er
sich von der moralischen und künstlerischen Befangenheit seiner
Zeit. Die Grösse seines Genies bewährt sich also überall da
am glänzendsten, wo man am meisten geglaubt hat, es antasten
zu können.
Elberfeld.
Dr. C. Humbert.
Bemerk u ii g e n
über den V i c a i* o f W a k e f i c I cl.
Der Vicar of Wakefield, mit dem man die englische Leetüre
früher zu beginnen pflegte, gehört ohne Zweifel zu den schönsten
Erzeuü'nissen der ganzen englischen Literatur und wird vorzus's-
weise in unsrem Vaterlande sicherlich immer viele Freunde
finden. Scliönlieit der Form und Reichthum des Inhaltes ver-
einigen sich hier zu einem harmonischen Ganzen von seltener
Vollenduno; und Lieblichkeit. Die Darstelluno; des Buches ist
ruhig, schlicht und schmucklos und doch lebendig und von be-
zaubernder Anmuth , die Sprache überall kraftvoll , kernig und
volksthümlich und doch edel und keusch. Was uns aber das
Buch vor Allem werth macht, ist der edle und gesunde Geist,
der das Ganze durchweht, sowie die Wahrheit und Lieblichkeife
des Familiengemäldes , das vor unsern Augen entfaltet wird.
Unser Wohlgefallen an den dargestellten Charakteren trägt sich
hier ganz unwillkürlich auf das Buch selbst über, und zwar
um so entschiedener, je grösser die Meisterschaft des Verfassers
in der Darstellung jener Charaktere ist. Um dabei" die allge-
mein verbreitete Vorliebe für das Buch richtio- würdigen zu
können, haben wir unsern Blick zunächst auf die dargestellten
Charaktere zu richten, vor Allem auf den Vicar of W. selbst,
der den Mittelpunkt des Gemäldes bildet und in welchem der
Geist des Ganzen am reinsten und klarsten ausgeprägt ist.
Der schiinste Zug in dem Charakter des Dr. Primrosc,
des eifrigen ^Nfonosra misten, ist wohl die treue Liebe zu seine
Familie, die er überall als seinen grössten Schatz bezeichnet.
AVenn er nach längerer Trennun«; sich seiner stillen Wohnung
wieder nähert, dann ist alles Leid imd Unglück vergessen, und
-sein Herz schwillt von unauss[)rechlicher Glückseligkeit. Wie
142 Bemerkungen über den Vicur of Wakefield.
ein Vogel , der aus seinem Neste aufgescheucht worden ist , so
eilt seine Sehnsucht seinem Schritte voraus und umschwärmt
seinen kleinen Herd mit allem Entzücken der Erwartung" (S.
800 fl.)-*) J^"i schönsten Lichte zeigt sich diese I.(iebe da, wo
er nach seiner verlorenen Tochter auszieht und sie endlich in
Elend und Schande wiederfindet. „Welcome, any way welcome,
my dearest lost one, my treasure, to your poor old father's bosom,"
ruft er (S. 290) der Unglücklichen entgegen, indem er sie aus
den Händen der unbarmherzigen Schenkwirthin befreit, von der
sie eben an den Haaren aus dem Hause geschleift wird —
„though the vicious forsake thee, there is yet one in the world
that will never forsake thee; - though thou hadst ten thousand
crimes to answer for, he will forgive them all." Und als bald
darauf während der Nacht sein Haus mit Hab' und Gut in
Flammen aufgeht und er seine beiden Kleinen vermisst, die,
zu spät erwachend, in dem brennenden Hause zurückgeblieben
sind, da kann nichts ihn von dem kühnsten Rettungsversuche
zurückschrecken. „Where, where aremychildren?"ruft er (S.302),
indem er sich in die Flammen stürzt und bis zum Schlafgemach
der Kinder vordringt, dessen Thür er sprengt. „Where are my
little ones?" Schnell reisst er sie aus dem schon brennenden
Bette, imd kaum hat er sie durch die Flammen, die ihn selbst
bereits erfasst und seinen Arm bis zur Schulter hinauf schreck-
lich versengt haben, wohlbehalten in's Freie gebracht, als auch
das Dach des Hauses zusammenbricht. Doch nun mag Alles
verbrennen, da sie gerettet sind. „Now, cried I, holding up
my children, now let the flanies burn on and all my possessions
perish; - — here they are, I have saved my treasure" cet. Wahr-
haft rührend aber i:<t die Langmuth und Selbstverleugnung,
w^omit er die Schwächen und Thorheiten seines Weibes und
seiner Töchter erträgt, die auch in der Armuth den Schein
einer gewissen Wohlhabenheit retten und die vornehmen Ge-
wohnheiten einer besseren Zeit nicht ganz aufgeben möchten.
Zwar thlit Dr. Pr. Alles, sie von dieser lächerlichen Sucht zu
heilen und hört nicht auf, sie zur Einfachheit, Demiith und
Genügsamkeit zu ermahnen (S. 26. 48. 58. 60 etc.), aber wenn
*) Ausgabe von Dr. C. M. Winterling, Nürnberg 1833.
BemorkungtMi iiher den Vicnr of Wakofield U.*?
trotz seiner Lehren und W:irniingen die Familie wieder einmal
in den alten Fehler zurückfallt , dann macht er sich stets zum
Mitt^chuldicjen der beoaniienen Thorheiten und erzählt dieselben
stets in der Art, dass er sich mit einschliesst.*) Die Fa-
milie (Primrose nennt sie stets the family, xhi' i'^o/i]u, nicht
my family), die Familie erscheint ihm ül)erall als untrennbai'es
Ganzes , wo jeder für alle einstehen muss. Wie Pr, überhaupt
„an admirer of happy human faces" ist, so sieht er vor Allem
diejenigen gern glücklich, die ihm am nächsten stehen, und
stört daher nie die harmlosen Illusionen, an denen sie ihre
Freude finden (S. 42). „To say the truth, I was tired of being
always w'ise and could not help gratifying their request, because
I loved to see them happy," sagt er, als seine Töchter von ihm
Geld verlangen zu einem Zwecke, der in seinen Augen eigent-
lich läciierlich genug war (für eine Avahrsagende Zigeunerin),
doch weiss er ihnen gleich darauf das Thörichte in ihrem Thun
mit köstlichem Humor bemerklich zu machen. Als ihm nämlich
die Mädchen voll Jubel erzählen, welches hohe Glück ihnen
die Sibylle verkündet habe und dass die eine von Ihnen einen
Squire, die andere gar einen Lord zum Mann bekommen soll,
da fragt er sie, ob das Alles sei, was sie für Ihre zw^ei Schil-
linge bekommen hätten. „Only a lord and a squire for two
Shillings? You fools, I could have promlsed you a princc and
a nabob for half themoney." Manclmial weiss er diesen milden
Spott auf sehr wirksame Welse gegen etwaige thörichte Ge-
lüste seines Weibes oder seiner Töchter In Anwendung zu
bringen: vgl. S. 48 fl. 58.*) Wo es ihm nöthig scheint, setzt
*) We now began to think ourselves destined by the stars to something
exalted — we now endeavoured to cope with our betters — we looked
upon our fortunes as once niore rising — the family resolved to hold np
their. heads cet. — diese mid ähnliche Wendungen kehren häufig wieder.
**) Trotz aller seiner sumptuary edicts erscheint Deborah mit ihren
Töchtern doch gleich am ersten Sonntag nach der Uebersiedlung in die
neue Pfarre wieder mit all dem Flitter aus einer bessern Zeit, mit Schmink-
pflästerchen, langen Schlt'ppkleidern etc. I could not help smiling at their
vanity, sagt Pr., particularly that of my wife, frora whom I expected more
discretion. In this e.xigence therefore, fährt er fort, ray only resoiirce was
to Order my son , with an important air, to call our coach. The girls
144 Bemerkungen über den Vicar of Wakefield.
er aber seinen Willen oft auch mit' Ernst und Entschiedenheit
durch, ohne sich an die niissbilligenden Seitenblicke oder Winke
seines Weibes oder an die Bitten seiner unerfahrenen Töchter
zu kehren: vgl. S. 100. 104. 106. 108. 306. 326. — Eine ähn-
liclie Gesinnung wie gegen seine Familie zeigt Dr. Pr. gegen
seine Gemeinde, wie gegen alle, mit denen er in Berührung
kommt: vgl. S. 12. 32. 330. 344. 372. Seine Menschenfreund-
lichkeit ist stets zur Hilfe bereit und sucht auch im Kerker
noch Segen zu verbreiten. In my opinion, sagt er S. 354.,
the heart that is buried in a dungeon, is as precious
as that seated upon a throne. Darum lässt es ihm keine
Ruhe: er muss sehen, ob er vielleicht eine verirrte Seele vom
Abgrunde retten kann. Denn, sagt er, gibt es wohl ein köst-
licheres Kleinod auf der Erde als die menschliche Seele? Und
S. 334 bezeichnet er es als a constant rule in his life never to
avoid the conversation of any man, who seemed to desire it;
for if good , fährt er fort, I might profit by his instruction , if
bad, he might be assisted by mine. — Ein andrer Grundzug
in dem Charakter des Dr. Pr. ist seine kindliche Frömmigkeit
und sein unerschütterliches Gottvertrauen, das ihn auch im
were amazed at the command, but I repeated it with more solemnity
than before. Nun merkt Deborah endlich den Spott. Surely, my dear,
you jest, cried my wife, wc can walk it pcrfectly well; we want no coach
to carry us now. — You mistake, child,\ returned I, we do want a coach;
for if we walk to church in this trira , the very children in the parish will
h'oot after us. Deborah wendet ein, sie habe geglaubt, ihr Mann sähe seine
Kinder immer gern reinlich und nett um sich. You may be as neat as you
please, unterbricht er sie, and 1 shall love you the better for it, but all
this is not neatness, but frippery cet. — Schon am andern Tage ist der
Flitter verschwunden, und die Töchter sind damit beschäftigt, aus den
langen Schleppen Sonntags westen für Dick und Bill zu machen.
— ■ An den andern Stellen hat Deb. wieder Luftschlösser für die Zukunft
ihrer Töchter gebaut und spricht dann die Ansicht aus, sie sehe keinen
Grund, warum die beiden Miss Wrinklers reiche Hciratlien machen sollten
und ihre Töchter nicht. As this last argument was directeil to me, fährt
der Erzähler fort, I protested I could see no reason for it neithcr, nor
why Mrs. Simpkins got the ten thousand pound prize in the
lottery, and we sat down with a blank. Diese Art von Beweisen ist
aber der guten Deborah sehr zuwider und sie beklagt sich bitter, dass ihr
Mann auf solche Weise stets ihren und ihrer Töchter Frohsinn dämpfe.
Bemerkungen über den Viour of Wakefield. 14r>
aussersten Unglück nicht vorlässt. „We may yct bc happy, nuiy
yet see happier days" — das hlciht sein Wahlaprucli, wenn Alles
um ihn her verzweifeln will. Uebrlgcns vgl. über seine Fröm-
migkeit: S. 46. 74. 208-10. 340. 344. 354. 374. 386. 451.
472 fl.*). Im innigsten Zusannncnhangc mit seiner Frömmig-
keit steht sein Edelmuth und seine Versöhnlichkeit, die selbst
dem bittersten Feinde zu vergeben bereit ist: S. 366. 372. 386.
Nur ein oder zwei ^lal überwältigt ihn auf Augenblicke der
Zorn, so dass ein Fluch seinen Lippen entschlüpft, aber schnell
gewinnt die Versöhnlichkeit in seinem Herzen wieder die Ober-
hand: S. 210. 384. Die vorherrschende Stimmung seiner Seele
ist der Friede einer heitern Sonntagsstille, wie er nur in schuld-
lösen und reinen Gemüthern wohnen kann. Selbst im schwer-
sten Unglück milchte er deshalb nicht mit dem reichen, mäch-
tigen, aber schuldbeladenen Squlre, seinem Unterdrücker, tauschen.
„Observe this bed of straw and unsheltering roof, sagt er S. 316
zu seinem Sohne, those mouldering walls and humid floor, my
wretched body, thus disabled by fire and my children weeping
round me for bread — you have come home, my child, to all
this, yet here, even here you see a man that woidd not for a
thousand worlds exchange sltuatlons (sc. mit dem Squlre). O
my children, fügt er dann hinzu, If you could but learn to
conmiune with your own hearts, and know what noble Company
you cau make them , you would little regard - the elegance and
splendour of the worthless." — "^^'ahrhaft erhebend ist die Art
und Weise, wie er sich und seinen Sohn Georg zum nahen
Tode vorbereitet. ,,I am no\v raised above this world and all
the pleasures it can produce, sagt er S. 386; — from this mo-
ment I break from my heart all the ties that held it down to
earth , and will prepare to fit us both for eternity. Yes , my
son, I will point out the way, and my soul shall guide yours
in the ascent; for we will take our flight together" cet. — Des
Dr. Primrose ..weak aide" (S. 14) ist bekanntlich seine Schrift-
*) Sehr bezeichnend für den ernsten Sinn, mit dem er ernste Dinge
bebandelt wissen will, ist die Stelle, wo er sich darüber ausspricht, wie sehr
ihm das Gelächter der glücklichen Brautpaare vor der Trauung missfallcn
habe (S. 352 fl.) und wie er sie wiederholt zu einem ernsten und würde-
vollen Benehmen habe mahnen müssen.
Aflitv f. n PprachPii. XXill. 10
146 Bemerkungen über den Vicar ol' Wakefield.
steller-EItelkeit , die auch von dem Gauner Jenkinson bei dem
Pferdehandel mit grosser Schlauheit benutzt wird, um den
armen Pfarrer zu betrügen: vgl. S. 62. 158. Mit seiner Schrift-
steller-Eitelkeit hängt wieder zusammen der Stolz auf seine
Ueberlegenheit im Disputiren. In diesem Punkte ist der Dr.
Pr. sehr empfindlich: vgl. S. 62.*) Aber diese seine Schwäche
macht uns den Pfarrer nur um so liebenswürdiger, wenn wir
zugleich bemerken, wie er für seine Ueberzeugung alle äusseren
Vortheile zu opfern bereit ist: vgl. S,. 20 — 22.
In Primrose's Weib, Deborah, sehen wir das Urbild einer
treuen, verständigen Hausmutter, die nur in und für ihre Fa-
milie lebt. Sie ist von sehr beschränkter Bildung (S. 1.), be-
sitzt Avenig Erfahrung und Menschenkenntniss, hält sich aber
nichts destoweniger für sehr weltklug, schlau und umsichtig
und sucht diese ihre Eigenschaften zum Nutzen der Familie bei
verschiedenen Gelegenheiten, aber in der Regel mit wenig Glück,
geltend zu machen: vgl. S. 114. 130. 182. 188 fl.**) Sie ist
*) Bless me! cried my wife, here comes oiir good friend Mr. Burchell,
that saved our Sophia and that run you down fairly in the argunient.
Piese in aller Unschuld gesprochenen Worte werden von ihrem Manne sehr
übel aufgenommen. Confute me in argument, child! cried I; you mis-
take thcre, my dear. I believe there are but few that can do that. I
never dispute your abilities at making a goose-pie, and I beg
you will leave argument to me.
**.) Sehr ergötzlich ist besonders die letzte Stelle, wo sie es übernimmt,
den Squire Thornhill hinsichtlich seiner Absichten auf Olivia zu sondiren.
Sie entwickelt dabei ihrer Meinung nach eine bewunderungswürdige Schlau-
heit und ist fest überzeugt, dass kein sterbliches Auge ihre Absichten zu
durchschauen im Stande sei. — Wenn sie ilir Ziel erreicht zu haben und
etwas recht Kluges ausgeführt zu haben glaubt, dann versäumt sie nie, ihr
Verdienst gebührend hervorzuheben und sich dessen gegen ihren Mann zu
rühmen: vgl. u. A. S. 132, wo sie ihren Töchtern die guten Stellen bei den
„vorm;hmen Stadtdamen" durch ihre Klugheit und Entschlossenheit verschafft
zu haben meint. When they came to talk of places in town, sagt sie zu
ihrem Manne, you saw at once how I nailed them. Teil me, my dear,
fügt sie hinzu, don't you think I did for my childreu thete? — In ihrer
ganzen Glorie aber zeigt sich Deborah's Schlauheit S. 114 fl., wo sie im
Einverstiiudniss mit ihren Töchtei-n gegen ihren Mann selbst zu oi^eriren
anfängt, von dem sie gern „das Füllen" und seinen einäugigen Geführten
ßlackberry zum Ritt nach der Kirche geliehen haben möchten. Mit un-
nachahmlichci- Geschicklichkeit weiss der gute Pfarrer den wohlberechneten
Bemerkungen über den Viear ol" Wakelieh). 14V
stets voll stolzer lIofFiiungeii und IMäne l'iir die Zukiuil't Ihrer
Töchter und liebt es, diesellxMi durch allerhand unbestinuute
und iieheimnissvoll klingende Kedensarten anzudeuten , die uns
zugleich eine hohe Meinung von ihrem prophetischen Scharf-
sinn beibringen sollen. „Who knows how this may end? AVho
knows wliat niay happen? AA^lio knows Avhat Olivia may be able
to do? Stranger things happen every day und andre geistreiche
Bemerkungen hat sie stets zur Iland, um iiire Hoffnungen zu
rechtfertigen. Dr. Pr., der den Sinn jener Bemerkungen ge-
wöhnlich wohl durchschaut, Aveiss doch in der Regel nicht recht,
was er darauf erwidern soll und hilft sich manchmal damit, dass
er die Worte seines Weibes wiederholt, aber in anderem Sinne :
,,Ay, who knows tliat indeed ! answered I with agroan; for my
part, I doii't nmch like it" cet. cet. ■ — Zu clen charakteristischen
Eigenthüinlie'likeiten der Deborah gehört l'erner die schon oben
erwähnte Vorliebe für vornehme Sitten und Lebensgewohhheiien,
unter denen sie «ern die Dürftigkeit ihrer Verhältnisse verber-
gen möchte: 4b fl. 58. 110. 114 und i)fter. Diese Erhebung
über ihren Stand, dieses Streben nach eitlem Flitter ist es aucli,
was dem schlichten Pfarrer die meiste Xoth macht und A\omIt
er am häufigsten in seiner Familie zu kämpfen hat, aber weder
Belehrung, noch Strenge und Spott sind im Stande , das Uebel
ganz zu beseitigen: 50. 60. 108. 110. 112. IIG fl. 144.*) Was
Angriffen seines. Weibes auszuweichen und sie dadurch fast zur Verzweiflung
zu bringen. Als sie sich gar nicht mehr zu hellen weiss , springt sie plötz-
lich von ilirem bisherigen Angriffs - Systeme ab und geht ohne Umschweif
auf ihren Gegner los. Plioo, Charles, interrupted she, all that is very true,
but not what I would be at... You know, the church is two niiles off,
and I protest I don't like to see niy daughters trudging up to their pew
all blowzecJ" and red with Walking and looking for all the world as if they
had been winners at a smock-race. Und diesmal setzt Deb. ihren ^^'ilIen
wirklich durch.
*) Such as are poor and will associate with none but the rieh, are
hated by those they avoid and despised by those they follow, sagt er S. 144.
Unequal combinations are al>vays disadvantageous to the wcaker siiie, tlie
rieh having the ])leasure and the iioor the inconveniencies — eine Behaup-
tung, die little Dick durch die Fabel von dem Riesen und dem Zwerge, die
ei« Bundniss mit einander schliessen und zusamnuMi auf Abenteuer ausgehen,
näher eriiiutern niuss.
] i) *
148 Bemerkungen über den Vicar of WakefioliI,
uns aber mit dieser Schwäche der Deborah aussöhnt, das is«
ihre treue Liebe zu ihren Kindern und zu ihrem Manne. De-
borah ist stolz auf ihre Söhne wie auf ilire Töchter. Sie ist
glücklich, wenn jemand dieselben lobt und hat ihre Freude
daran , die Vorzüge derselben aufzuzählen und in's günstigste
Licht zu stellen; 82. 130. 182.*) Wenn es gilt, ihnen irgend
einen Vortheil zu sichern, da ist sie schnell zur Hand und zeigt
nicht geringe Beredtsamkeit : 128. 430. lieber Alles aber geht
ihr ihr Mann: wenn sie ihn behält, will sie gern jeden andern
Verlust verschmerzen, selbst den ihrer Kinder: 376. — Neben
dieser treuen Liebe aber und in auffallendem Gegensatze dazu
bemerken wir bei Deborah eine gewisse Härte gegen ihre Kin-
der, die oft sehr plötzlich zum Ausbruch kommt, sobald eins
von ihnen sich irgendwie vergangen oder ihre hohen Erwar-
tungen getäuscht hat. Wir erinnern hier bloss an den Empfang,
der dem vom Markte zurückkehrenden Moses zu Theil wird,
als seine Mutter entdeckt, dass er betrogen ist: S. 140 fl. Der
arme Moses, den sie eben noch als den verständigsten und ge-
wandtesten Burschen gerühmt hat (I'll warant, sagt sie von ihm,
we'll never see him seil his hen on a rainy day cet.),
der erscheint ihr nun auf einmal als der ärgste Dummkopf und
Tölpel und muss sich die gröbsten Schimpfwörter gefallen lassen.
Den schönsten Contrast o:e2ren die leidenschaftlich aufbrausende
Mutter bildet in solchen Fällen das ruhige und besonnene Be-
nehmen des Vaters. So auch hier. Deborah will in ihrem
Aerger die kupfernen Brillen sammt den Futteralen ohne Wei-
teres in's Feuer werfen, Dr. Pr. aber bemerkt ganz trocken,
auch darin habe sie nicht Recht, da kupferne Brillen j eden-
falls besser seien als nichts. — Bei einer andern Gele-
genheit streift das Benehmen der Mutter gegen eins ihrer Kinder
*) They can read, write, and cast accounts, they understand their
needle, broad stitch, cross-and-change and all manner of piain work, they
can pink, point and frill, and know something of music, they can do up
small clothes and work upon catgut; my eklest can cut paper, and my
youngest has a very pretty manner of telling fortunes upon the cards.
Aehnlich S. 182: If the cakes.at tea ate sbort and crisp, they were made
by Olivia; if (he gooseberry-wine was well knit, the gooseberries were of her
gathering; it was her fingers which gave the pickles their peculiar green cet.
Bemerkungen über den Vicar of Wakefield. 149
an Grausamkeit. Es ist da, wo die tiefgebeugte, kranke Olivia
im IJewusstsein ihrer Schukl bleich und zitternd Vor die Mutter
tritt und nicht wagt, ihr Auge zu ihr emporzuheben. „Ah
madam, ruft sie ihr spöttisch entgegen (S. 306), this is but a
poor pkice you are conie tu after so much finery. My daugliter
Sophia and I can afFord but little entertainment to persona who
have kept Company only with people of distinction" cet. VgL
S. 212. „Never, cricd she, shall that vilest stain of our faniily
again darken these hannless doors. I will never call her dauohter
more. No , let the strumpet live with her vile seducer" cet.
Man würde der Deborah aber sehr unrecht thun, wenn man ihr
deswegen die Liebe zu ihren Kindern absprechen wollte, viel-
mehr ist auch diese leidenschaftliche Härte im Grunde nur ein
Ausfluss der Mutterliebe, die keinen Makel an ihren Kindern
dulden will.*)
Die bedeutendste Rolle neben dem Aelternpaar spielen in
dem Werke die beiden Töchter Olivia und Sophia. Es sind
dies zwei einfaciie, unschuldige, unerfahrene, in jugendlichem
Frohsinn aufwachsende, mit Schönheit des Leibes wie mit den
edelsten geistigen Anlagen ausgestattete Landmädchen, die
fleissig in der Wirthschaft mit angreifen müssen und selbst
härtere Arbeiten nicht scheuen dürfen (S. 66). Doch haben
auch sie grosse Vorliebe für Putz und schöne Kleider und
lassen sich leicht durch den Schein verblenden : vgl. S. 56 fl.
124 fl. Dabei sind sie abergläubisch und legen viel Gewicht
auf Wahrsagereien und Träume: vgl. S. 110. 112. 114. Ueber
die Verschiedenheit in der Erscheinung wie im Charakter der
beiden Mädchen gibt uns Dr. Primrose selbst einige Andeu-
tungen (S. 10). Olivia ist schön und üppig gewachsen wie Hebe,
lebhaft und für alle äusseren Eindrücke leicht empfänglich.
Sie gewinnt die Herzen wie im Sturm, während die Vorzüge
ihrer stilleren und sanfteren Schwester erst bei genauerer Be-
kanntschaft nach Verdienst gewürdigt werden. Aber trotz ihrer
Lebhaftigkeit besitzt Olivia doch auch einen grossen Stolz und
♦) Der Erzähler erklärt sich diese Härte aus dem Erfährungssatze, dass
Weiber über weibliche Fehltritte viel strenger zu urtheilcn pflegen als
Männer eine Erklärung, die hier wohl nicht ganz ausreichen möchte.
150 Bemor klingen über den Viear of Wakefiel d.
viel Selbstbeherrschung und Aveiss die Eegungen ihres Innern,
wo es ihr nöthig scheint, sehr geschickt zu verbergen. Dies
beweist sie namentlich durch ihr Verhalten gegen den Squire
Thornhill und den Pachter Williams (S. 194 fl.). In gradem
Widerspi'uch mit ihrem wahren Gefühl wendet sie alle ihre
Aufmerksamkeiten dem letzteren zu und erscheint heiter und
unbefangen, während ihr Inneres von Sorge und Schmerz zer-
rissen ist. Aber die Verstellung wird ihr schwer , und wenn
die beiden Nebenbuhler fort sind, dann sucht sie die Einsam-
keit, und bittere Thränen brechen aus den eben noch lächelnden
Augen (S. 19G). Ihre jüngere Schwester ist schon von Natur
zurückhaltender, und ihre Seele ist nicht so leicht aus dem ru-
higen Gleichgewicht, zu bringen, doch ist ihre Empfindung
darum nicht weniger lebhaft und tief: vgl. S. 70 und be-
sonders 448.
Eine sehr liebenswürdige Erscheinung, obwohl von ganz
andrer Art, ist auch ihr zweiter Bruder Moses. Moses ist
ernst, altklug und gesetzt; er hat eine ganz besondere Vorliebe
für gelehrte Gespräche und wissenschaftliche Disputationen, auf
die er zu jeder Zeit mit grossem Eifer einzugehen pflegt. Er
fühlt sich nicht wenig geehrt und geschmeichelt, wenn er dabei
Gelegenheit findet, seine Kenntnisse an den Mann zu bringen,
aber er lässt sich leicht aufs Glatteis führen und von irgend
einem oberflächlichen Schwätzer zum Besten haben. Wir sehen
dies u. A. bei der höchst ergötzlichen Disputation , zu welcher
ihn der Squire herausgefordert hatte, um der Gesellschaft auf
seine Kosten einen Spass zu bereiten. Im stolzen Bewusstsein
seiner Würde und der ihm Aviderfahrencn Ehre schaut poor
Moses rings im Kreise umher und geniesst schon Im Voraus
den Triumph seines Sieges, als er aber endlich bemerkt, dass
er von seinem Gegner auf das schmählichste düpirt worden ist
und dass dieser die Lacher auf seiner Seite hat, da geräth er
ganz aus der Fassung, und pr, der sonst so gesprächig ist,
gibt während des ganzen Abends keine Silbe mehr von sich
und spielt In dem frohen Kreise der Andern eine sehr un-
glückliche Figur, üebrigens hat Moses ein sehr lebhaftes Ge-
iÜhl für Recht und Unrecht, und es wird ihm schwer sein
Ui'theil zurückzuhalten. Selbst sein Vater muss sich manch-
Bemerkungen über den Vicar of Wakefield. 151
mal von dem strengen Moralisten zurechtweisen lassen: vgl.
S. 68 fl. 208 fl.
Der älteste Sohn Georg, der früh das väterliche Haus
verlassen hat, um selbständig sein Brot zu suchen, greift erst
gegen Ende der Erzählung handelnd in den Gang der Begeben-
heiten mit ein und ist daher für das Ganze Aveniger wichtig
als seine Geschwister. Er zeigt sich uns als ein offener, edler
und ritterlicher Charakter, der freudig sein Leben für die Ehre
der lamilie zu opfern bereit ist: S. 382 fl. Die Geschichte
der vielen Widerwärtigkeiten, mit denen er auf seinen Wande-
rungen zu kämpfen hatte, erfahren wir durch ihn selbst S.
242 fl., und dieser Abschnitt belehrt uns auch am besten über
seinen Charakter.
Damit unsre Bekanntschaft mit der liebenswüi'digen Fa-
milie des Landpredigers zu Wakefield vollständig sei, dürfen
wir auch die beiden Jüngsten , die little ones , nicht ganz mit
Stillschwei";en übero;ehnj zumal da auch sie von dem Verfasser,
De? ^ '
selbst in den unbedeutendsten Kleinigkeiten, mit unverkenn-
barer Vorliebe gezeichnet sind. Dick und Bill, die Lieblinge
ihres Vaters und die zärtlichen, aber zuweilen etwas zudring-
lichen Freunde des gingerbread spendenden Mr. Burchell, wissen
ihre Stelle in der Familie durch mancherlei nützliche Dienste
auszufüllen, z. B. als Vorleser am Krankenbett ihres Vaters
oder als Neuiofkeitsboten und Ankündin-er nahender Besuche:
CS O
vgl. S. 100. 172. 208. Bei dem älteren, Dick, tritt als
charakteristisch am meisten hervor eine gewisse Dienstfertigkeit.
Wenn ein Fremder in's Zimmer tritt, gleich ist der artige Dick
mit einem Stuhl zur Hand (S. fi2); auch ist er erbötig, sein
Bett abzutreten, als man wegen der Unterbringung eines Gastes
für die Nacht in Verlegenheit ist (S. 64). Der Kleinste, Bill,
ist ebenfalls artig und gefällig, wartet aber mit seinen Artig-
keiten gewönlich erst so lange, bis Dick das Beispiel dazu ge-
geben' hat. Diesen Unterschied erkennt auch der Vater ge-
bührend an, wenn er bei einer solchen Gelegenlieit (S. 66)
seinem AVeibc befiehlt, jedem der beiden Kleinen als Lohn für
ihre Dienstfertigkeit ein Stück Zucker zu verabreichen, dem
Dick aber das grössere zukommen zu lassen, weil er ..zuerst
gesprochen habe''. Wie in ihrer Dienstfertigkeit gegen Fremde,
152 licmerkungeu über den Vicar of Wakefield.
SO wetteifern Dick und Bill auch in der Liebe zu ihrem Vater,
die feie namentlich während seiner Gefangenschaft mehrmals in
kindlich rührender Weise bewähren. Sie sind mit der ganzen
Familie dem Vater in's Gefängniss gefolgt, und dieser hat
ihnen in einem Winkel seiner Zelle ein dürftiges Laijer zurecht
machen lassen, fürchtet aber, die Kleinen würden sich durch
die düstre Umgebung des Kerkers Avohl allzusehr schrecken
lassen. „Well, cried I, my good boys, how do you like your
bed? I hope, you are not afraid to lie in this room dark as it
appears?" — „Nopapa," antwortet ihm Dick, ,, 1 am not a fraidto
lie any where where you are. And I, says Bill, who was yet
but four years old, love evexy place best that my papa is in."
Als Dr. Primrose die (allerdings falsche) Nachricht von dem
Tode seiner geliebten Livy erhält, trösten ihn die Kleinen in
kindlicher Frömmigkeit (S. 370). „And is not| my sister an
angel now, papa? cried the eklest, and why then are you sorry
for her? I wish, I were an angel, out of this frightful place,
if my papa were with me. — Yes, added my youngest darling,
heaven, where my sister is, is a finer place than this, and
there are none but good people there, and the people here are
very bad." —
Ein näheres Eingehen auf die übrigen (nicht zur Familie
des Landpredigers gehörenden) Persönlichkeiten müssen wir
uns versagen, um noch einige Worte über den Gebrauch des
Vicar of W. als Schulbuch hinzufügen zu können. Wir sind
nämlich der Ansicht, dass der Vicar sich zur Lektüre für
jüngere Schüler durchaus nicht eignet, und zwar aus fol-
genden Gründen :
1. wird man mit Anfängern immer nur einen kleineren
Theil des Ganzen lesen können, dies ist aber bei einem
Kunstwerke von so fein berechneter Gliederung
wie der Vicar of W. immer ein grosser Uebelstand.
2. bewegt sich das Werk in einer Sphäre, die
eigentlich nur dem Verständniss von Erwachsenen
zugänlich ist, denen eine reiche Lebenserfahrung und neben-
bei auch einige Bekanntschaft mit manchen Eigenthümlichkeiten
der enghschen Nation zu Gebote steht. Das Buch ist voll von
Beziehungen auf politische, kirchliche und literarische Verhält-
B üiiicikungen über den Vi cur ot' Wsikiifield. 153
nisse, die gnn/ ausserhalb des Horizontes von Knaben liegen:
vgl. S. 86. 220 f1. 22(1 -;^(k 248 fl. 356 fl. 360. 388. Dasselbe
gilt von vielen der hin und wieder eingefiochtenen Keflexionen
und Betrachtungen. Abei* auch abgesehen von solchen Ein-
zeluheiten ist die ganze Kntwieklung des Romans von der Art,
dass zu einem mehr als obertlächliehen Verständniss ein tieferes
Eindringen in psychologische Vorgänge und in die innersten
Regungen des menschlichen Herzens erforderlich ist. Jeden-
falls werden jüngeren Schülern gerade die eigenthünilichcn
Schönheiten des Buchs ganz verloren gehen. Denn nicht der
Verlauf der Begebenheiten an sich ist das Interessanteste am
Vicar of W., sondern die Entfaltung der Charaktere in und
mit den Begebenheiten und die Wechselbeziehung, in welche
die verschiedenen Charaktere zu einander und zur Aussen-
welt treten.
3. kommt auch Vieles in dem Buche vor, was sich aus
sittlichen G runden zur Lcctüre für Knaben n i c h t r e c h t eignen
will. Dahin gehört u. A. das Verhältniss zwischen Olivia und
dem Squire Thornhill, welches sich durch einen grossen Theil
des Buchs hindurchzieht und zu mancherlei für Knabenohren
nicht passenden Bemerkungen Veranlassung gibt. Endlich
4. ist noch aufmerksam zu machen auf eine Eigenthüm-
liehkeit in der Darstellung des Vicar of W., die einen nicht
ü'erinfren Antheil an dem zauberhaften Reize des Buchs hat,
für die ein Knabe aber noch gar keinen Sinn haben kann.
Wir meinen den feinen Humor, der einen ganz eigenthümlichen
Duft über das Gemälde verbreitet, etwa wie die Abendbeleuch-
tuuff über eine Landschaft. Durch diesen Humor erhält der
Erzähler sich selbst und in Folge dessen auch seinen Leser
stets über den Bef^ebenheiten und erzeugt dadurch in
unsren Seelen jene heitere Stimmung, die uns auch da nicht
verlässt, wo Bilder des Elends und der Leiden an uns vor-
überffef ührt werden. Eben dieser Humor aber, w^ i e das V e r -
ständniss desselben, ist immer nur das Erzeugniss rei-
ferer Jahre, wo man einerseits die Nichtigkeit menschlicher
ßesti'ebungen durch eigne Erfahrung kennen gelernt, andrerseits
aber auch einen Standpunkt erreicht hat, der hoch und fest
genug ist, um von <lf)rt aus mit Ruhe in dacj wechselnde Spiel
154 Bemerkungen über den Vicar ol Wakefielil.
des Lebens hinabschauen zu können. Wie kann man aber
Sinn für eine solche BetrachtungSAvcise von dem erwarten,
der seine Fahrt auf dem Ocean des Lebens kaum noch be-
gonnen hat? —
Nacli dem Allen lässt sich der Vicar of W. zur Leetüre
für Anfänger durchaus nicht empfehlen, und wir würden zu
diesem Zwecke einer guten Chrestomathie den Vorzug geben.
Luckau.
Ad. Wähler.
Sitzungen der Berliner Gesellseliaft
für das St u d i u m der neueren Sprache n.
, Nach Festsetzung der Statuten und Wahl des Vorstandes hielten
in der Sitzung am 1. December 1857 die Herren Sachs und Andresen
Vorträge, ersterer über eine Encyklopädie der modernen Sprachen,
letzterer über ein Verzeichniss von Wurzelwörtern in Becker's Gram-
matik. Beide Vorträge sind in diesem Hefte des Archivs abgedruckt.
Am 1."). Deceinl)er berichtete Herr Kleiber über die auf den Unter-
riebt im Deutschen bezüglichen Bücher des Herrn von Thraemer. —
Herr Herrig besprach die Remarques sur la langue fran^aise von Vauge-
las. In der Einleitung zeigte er die Wichtigkeit, welche ein eingehen-
des Studium der bekannten Remarques für jeden Freund der französi-
schen Sprache überhaupt haben müsse, eines Werkes, dessen Verfasser
gleichsam die Doctrin derjenigen Epoche in sich zusammenfasst, welche
mehr als jede andre von nachhaltigem Einflüsse auf die ganze Enwicke-
lung der französischen Sprache gewesen sei. Der Vortrag skizzirte
hierauf die gesellschaftlichen Verhältnisse , welche zur Zeit des V. be-
standen, und schilderte den lebhaften Antheil , welchen damals jeder
Gebildete an grammatischen Untersuchungen genommen. Hierauf
wurden die beiden Sammlungen grammatischer Bemerkungen von Vauge-
las näher in's Auge gefasst und die Echtheit der von Aleman im Jahre
IG 90 veröffentlichten Remarques nachgewiesen. Es ergab sich, dass
der Styl und die ganze Denk- und Ausdrucksweise in beiden Arbeiten
ganz dieselbe sei, und in dem untergeordneten Interesse, welches der
Inhalt der zweiten Sammlung hat, wurde der Grund gefunden, wes-
halb Vaugelas diese Bemerkungen nicht selbst in den Druck gegeben.
Hierauf fasste der Vortrag die eigentliche Methode des V. näher
in's Auge und analyslrte die Grundsätze, nach denen er bei seinen
grammatischen Untersuchungen verfahren. Als Cardinalpunkt seiner
ganzen Methode ergab sich die Theorie des Gebrauchs, einer Auto-
rität, welche nach V. frühere und höhere Geltung hat als die Gram-
matik. In seinem Vorwort schildert V. freilich den Gebrauch als ver-
änderlich , aber er sei doch nicht eigentlich Modesache und treibe nicht
''twa auf der Bahn des Zufalls; er ist, sagt er. nicht eigentlich incon-
156 Sitzungen der Berliner Gesellschaft
sequent, und wenn gleich man nicht immer im Stande ist, das geheim-
nissvolle Ziel zu erschauen , welchem er zustx-ebt , so liegt das doch
meistentlieils an der Schwäche unsrer Einsicht. „Die Grammatik hat,
wie die Geschichte, ihre Philosophie, durch welche sich viele Ereig-
nisse vollständig erklären lassen, welche beim ersten Anblick ganz selt-
sam erscheinen, aber doch nur Resultate einer instinctmässigen Logik
der Sprache sind." Der Vortrag erläuterte hierauf ausführlich die
Mittel, deren sich V. bediente, um den richtigen Gebrauch zu consta-
tiren, wobei er stets die Werke guter Schriftsteller, der Sprachgelehrten
seiner Zeit und die Ausdrucksweise des Hofes sehr gewissenhaft zu
Rathe zog. Sodann ward, die Art charakteinsirt , mit welcher V. in
Beziehung auf den Gebrauch neuer Wörter verfuhr. Nach der eignen
Angabe des Grammatikers wird ein neues Wort nicht improvisirt.
„Es kommt nicht in voller Rüstung aus dem Haupte des Schriftstellers.
Wäre das der Fall, so würden wir bald mit gewagten und unbekannten
Ausdrücken ganz überschwemmt sein." Eine gewisse Anzahl von
Wörtern, welche V. aventuriers nennt, sind in der Welt in Circulation,
deren man sich bedient, „ohne eigentlich recht zu wissen, wo und wann
sie querst gebraucht wurden." Sie sind vorhanden und warten auf
Beschäftigung; es gibt demnach in der gewöhnlichen Sprache eine lan-
gue expectante, welche in Nothfällen aushilft. Einzelne Wörter, welche
man für schlecht oder mittelmassig erkennt, lässt man vegetiren und
duldet s'fk vielleicht höchstens in der Sprache des gewöhnlichen Lebens,
aber in stylistischen Arbeiten dürfen sie nicht vorkommen ; andre da-
gegen nimmt man nach und nach auf, weil man ihre Anwendung für
nützlich häl,t. Um die Probezeit neugewagter Wörter abzuschliessen,
müssen sie mehrere Bedingungen erfüllt haben. Sie müssen dem Geiste
der französischen .Sprache angemessen sein , sich leicht unter eine der
grösseren Wortfamilien classificiren lassen, einen präcisen Sinn haben
und das Mittel gewähren, irgend einen Begriff kurz zu bezeichnen, wo-
für früher eine Umschreibung erforderlich war. Der Vortrag würdigte
am Schluss das Verdienst, welches sich V. um die französische Spraclie
erworben, und rechtfertigte ihn gegen manche Anschuldigungen, welche
einzelne Granmiatiker gegen ihn ausgesprochen. — Herr Büchmann
berichtete über den Plan der philologischen Gesellschaft in London, ein
Lexikon der englischen Sprache zu veranstalten und üb"5r die Vor-
arbeiten dazu. — Herr Mahn besprach zwei Bücher : Brandes , das
ethnographische Verhältniss der Gelten und Germanen, und Holzmann,
Gelten und Germanen.
In der Sitzung vom 12. Januar ward von Herrn Saclis noch ein-
mal das Bedüi'fniss einer Encyklopädie der modernen Philologie in Er-
örterung gebracht. — Herr Andresen trug Bemerkungen über die
Benennungen der Spielkarten vor. — Herr Herrig unterzog das Diction-
naire de l'Academie einer scharfen Kritik. — Herr Mahn theilte dar-
auf aus seinem, nur in zweihundert Exemplaren abgezogenen Buche:
für (las Studium der neuoren Sprachen. 157
Denkmäler der Baskiselicii Sprache mit einer Kiitlfifnn;r, welehe von
dem Stiidium der E^a.-^kischen Sprache Jiandelt und /n^^leich ehie Beschrei-
bung und Charakterititik derselben enthält , eine Kritik dieser Sprache
mit, welche selir günstig für dieselbe ausi'ällt imd sich an Steinthal's
Eintheilung der Sprachen anlehnt. „Ihrer intelleotuellen Anlage ent-
spreche ein angemessenes morphologisches Element ; sie scheide StoH"
und Form; Ncmen und Yerbum trenne sie schärfer, als andere hcrab-
gekommene Sprachen, wie das Deutsche und Romanische; die in iiir
gehandhabte Agglutination komme der Flexion im weiteren Sinne fast
gleich." Im Gegensatz zu Willielm von Humboldt weist er darauf vielfa-
chen Einfluss des Baskischen auf das Romanische sowohl in lautlicher als
grammatischer Beziehung nach. ,.Das spanische Verfahren, in gewissen
Fällen das persönliche Fürwort pleonastisch und zwiefach darzustellen,
sei dem Baskischen entlehnt; ebenso die doppelte Bezeichnung des Zeit-
wortes sein durch ser und estar." Endlich setzt er die baskische
Sprache mit den sanskritischen Sprachen in Parallele. Diese hätten,
so weit sie analytisch geworden, durch Abstreifung der Formen immer
mehr Aehnlichkeit mit an sich und von vorn herein unvollkommeneren
Sprachen gewonnen. Namentlich erörtert er, wie durch solche Fornien-
veiluste das Englische immer mehr zu einer Sprache würde, in der es
unmöglich sei, den Sinn des Satzes ohne Nachhülfe der Reflexion, die
sich die nöthigen Beziehungen aus dem Zusammenhan"; aufsuchen muss,
an der blossen Form zu erkennen. Wichtige und nothwendige Rede-
thcile. wie das Relativum und die Conjunction, würden launenhaft und
willkürlich aufgegeben. Wichtige Verba hätten ihren Infinitiv verlo-
ren; ein Conjunctiv existire nur in zwei Formen. Das Englische wäre
in grammatischer Beziehung so ziemlich wieder auf dem Standpunkte
angekommen, auf dem das Chinesische stets blieb. Natürlich kann
sich der Vortragende nicht mit J. Grimm's Ansicht, das Pünglische sei
die vorzüglichste Sprache zum zweckmässigen Ausdruck des mensch-
lichen Gedankens, einverstanden erklären.
Am 2. Februar hielt Herr Andresen einen Vortrag: Zur Logik
der deutschen Sprache. — Herr Sachse las darauf über Aufnahme
und Behandlung fremder Wörter, vorzugsweise der Länder-
und Völkern amen im Deutschen. Er fand sich dazu angeregt durch
die Wahrnehmung, dass in der neiiesten Zeit manche deutsche Gelehrte
ohne Princip, ohne Beruf und Geschick Fremdwörter aufnahmen, daher zn
den vorhandenen oft mancherlei Nebenformen sich einzuschleichen such-
ten, z. B. neben Phönizier, Perser und Araber: Phönikier, Phoinikior,
Phoiniker, Pliöniken , Persier, Arabicr. Unter Berücksichtigung von
Angaben J. Grimra's im 10. Bande der Wiener Jahrbücher von 1835,
gab er beispielsweise eine Uebersicht über die Veränderungen und
Umwandln n ge n des Wortes Roma bei den deutschen und roma-
nischen Völkern. Dann theilte er aus einem ihm angehörenden Glos-
sarium, einem Manuscrii)t dos 13. oder 14. Jahrhunderts,
158 Sitzungen der Berliner Gesellschal't
eine Uebersicht über die verschiedenen Arten von Länd(;rnainen mit,
z. B. Judenland, WulclicnUmd (Italia), Wcliischland (Gallia), Pnllen-
land (Apnlia), Deutschland inid Teutsland, Liftland, Morenland ; neben
Frankreich, Osterreich, Dannemark auch Franken (Franconia), Lam-
parten, Payrun, Durgen (Thuringia), Hessen, Norwegen, Durcken,
Caldeen (Chaldaea), Egipten und ferner Arragon, Pigardia, Portugal,
Westval, Praband (Brabancia). Endlich besprach er noch nach Ab-
weisung des unhistorischen und geschmacklosen Verfahrens in Leo's
neuestem geschichtlichen Werke eine interessante Behandlung
des Gegenstandes von A. Seh melier aus dem Jahre 1846
und verlangte möglichste Consequenz in der Aufnahme fremder Wör-
ter, und zwar dergestalt, dass, abweichend vom Verfahren der Englän-
der und Franzosen , dem Worte sein ursprünglich nationales Gepräge
erhalten bleibe , dass aber bei Wörtern , die uns durch das Griechische
oder Lateinische überliefert sind, der Umbildung des Wortes durch das
eine oder andere Volk Rechnung getragen werde. Namentlich vei'langt
er die Ausstossung des i in allen Wörtern, in denen es sich ursprüng-
lich nicht findet, z. B. in Galler, Makedoner, Phöniker u. a. m., so wie
für die Beibehaltung desselben in Aegyptier, auch wohl in Böotier
u. dgl, m.
Der Vortrag bezweckte mehr das Interesse für den Gegenstand
zu erregen, als denselben auch nur übersichtlich erschöpfend zu behandeln.
Herr Heller sprach darauf über den griechischen Metaf)hrasten
der Commentarien des Julius Caesar. Das Resultat seiner Forschun-
gen ist: Der Metaphrast ist eine nach der Ausgabe des Robert Stepha-
nus vom Jahre 1544 angefertigte, in manchen Stellen gelungene, häufig
aber fehlerhafte griechische Uebersetzung eines wahrscheinlich in Paris
gebürtigen Franzosen, vielleicht des Parlamentspräsidenten Paulus Pe-
tavius; denn aus der Bibliothek des letzteren war er hervorgegangen.
Jungermann, der denselben 1606 zu Frankfurt a. M. in seiner Aus-j
gäbe des Caesar zuerst herausgab, schreibt ihn mit Scaliger dem Pla-
nudes zu, luid Casaubonus nannte die LTebersetzung eine glückliche
Nachbildung der einfachen Schreibweise Caesar's". . Der Vortragende
stellt nun das allmälige Sinken der Achtung dar, zu der dem Metai-
phrasten das glänzende Unheil jener berühmten Philologen verholfen
hatte. Schneider sprach zuerst aus, dass der Metaphrast nicht nach
Manuscripten, sondern gedruckten Exemplaren des 16. Jahrhunderts
verfertigt ist. Diese Behauptung erhebt Herr Heller zu wissenschaft-
licher Gewissheit durch eine genaue Vergleichung des Jungermann-
schen Metaphrasten mit dem Caesar des Robert Stephan us. Darauf
weist er an Sprachschnitzern nach , dass der Verfasser kein Grieche
gewesen sein kann. Dass er ein Franzose, gewesen sein müsse, wii'd
darauf aus den vielfach zu rügenden Gallicismen , aus der Verwechse-
lung des französischen Genus mit dem griechischen Genus, aus fehler-
haften griechischen Constructionen , denen eine richtige französische zu
für dus Studium der neueren Sprachen. 15(i
Grunde, liegt und aus der franz()sirenden Sclircibung der Eigennamen
augenfällig bewiesen. Derartige Felder sind: al innoi (jumenta)
wegen la junient, ötqvti^ (deforniia) wegen dillornie, oKiyrnv s-ato-; (per-
paucis vulneiatis) Avegen hors, das soAvoLl dem TiVi^t' als dem ixrhf,' ent-
spricht, ev lavTCü fitivävroav totio) (qui in eodem occiderint castello) we-
gen rester sur la place, tavtov iTreaü-ai wegen suivre quelqu'un, ij m'va^
wegen une table, iöslzo avtov wegen "il le pria u, s. w. Der Voi'trag,
der der Auszug einer ausführlicheren Abhandlung im 1. Helle des
Jahrgangs 1858 des Göttinger Fhilologus ist, beschränkte sich natür-
lich auf eine geringere Auslese der in jener Zeitschrift aul'gef iihrtcn
Belegstellen, genügte jedoch vollständig, die Behauptung des Vortragen-
den zu rechti'ertigen , dass hier eine Frage der classischen Philologie
durch die Beihülfe einer neueren Sprache zum Abschluss gebracht wor-
den ist. — Herr Regierungsrath Schulz (San Marte) , den die Gesell-
schaft die Ehre hatte , an diesem Abend zu ihren Gästen zu zählen,
ergriff darauf das Wort , um seine Ansicht der Namen im Parzival zu
begründen. Die überwiegende Mehrzahl dieser Namen sei französi-
schen Ui'sprungs; schon dadurch widerlege sich die Annahme, dass der
Inhalt der Dichtung auf Wales zurückzuführen sei ; einige Namen seien
allerdings keltisch, einige deutsch. Eine streng wissenschaftliche Zurück-
führung dieser Namen auf ihre Grundform nach den Gesetzen der Laut*
Verschiebung und des Umlauts sei kaum räthlich ; ihre Deutung wür-
den sie meistens einem glücklichen Zufalle der Divination zu verdan-
ken haben , wobei die allegorische Bedeutsamkeit des Namens in dem
seinem Wesen nach allegorischen Gedichte einen Anhaltepunkt gewähre.
In der fünften Sitzung am 16. Februar stellt Herr Andresen eih
i-eichhaltiges Yerzeichniss von Wortpaaren zusammen, die aus derselben
AVurzel einer fremden Sprache fliessen , wie Probst , Profoss — Papst,
Pfatfe — Pact, Pacht — Parole, Parabel — Triumph, Trumpf —
Tunica, Tünche u. s. w. Herr Sachs referirt 1) über die neueste
Shakespearliteratur (Dingelstedt , Kreissig, Bodenstedt) , 2) über die
von F. Guessard, Professor an der Ecole des Chartes, correspondiren-
dem Mitglied unsrer Gesellschaft, herausgegebenen, alten provenzalischen
Grammatiken : Donatz Proensals des Uc Faydit und Las rasos de tro-
bar von R. Vidal. — Herr Heller unterzieht, mit Anknüpfung an
Herrn Herrig's frühere Vorträge über Vaugelas und die Academie beide
Gegenstände einer nochmahgen Untersuchung.
Am 2, März trägt Herr Andresen eine Arbeit über die Anleh-
nung und das Anwachsen des Artikels an das Substantiv um im Roma-
nischen und Germanischen vor. — Herr Mahn widerlegt die nament-
lich von Macaulay behauptete Herleitung des W^ortes Kabale aus den
Anfangsbuchstaben des englischen Ministeriums dadurch, dass er das
Vorkommen des Wortes vor 1670 in Racine (11 laut aliaiblir la ca-
bale, 166U_) und in Moliere (Tout marche par cabale, Misanthrope)
niu-hweist. — Herr liiichrnann rocrt eine Besprechung des Prüfungs-
IGO Sitzungen der'Berlint'.r Gesellschaft etc. '
reglements für das Abiturientenexaraen der Realschulen, so weit sieh
dasselbe auf den Nuchweis von Kenntnissen in der französischen und
englischen Literaturgeschichte bezieht, an. Im Anfange dieser Sitzung
überreicht der Vorsitzende das erste der Gesellschaft eingesendete Buch,
eine Abhandlung über die Namen im Parzival von dem ordentlichen
Mitgliede dei- Gesellschaft, dem Regierungsrath Schulz.
Am 16. März vortheidigt Herr Heller von ihm gemachte Emenda-
tionen zu vier Stellen aus Shakespear. — Herr Pröhle, stellvertreten-
der Schriftführer der Gesellschaft, spricht über seine Sammlungen nord-
deutscher Volksüberlieferungen. Nachdem er der Thätigkeit anderer
Sammler (-Sommer's, Kuhn's und Schwartz's) lobende Eivvähnung ge-
than, setzt er auseinander, welches Verfahren er selbst einschlug, um
die Sagenschätze unmittelbar aus dem Munde des Volks zu gewinnen,
hebt hervor, dass es ihm nicht bloss um mythologische Zwecke zu thun
ist, sondern dtiss er bei seiner Thätigkeit auf diesem Gebiete zugleich
die Absicht verfolgt, Denkmäler für die AufFassungsweise und die Art
,der Gedankenentwicklung unsers heutigen Volks ^u geben, und geht
dann, indem er ausdrücklich betont, dass man seine Arbeiten
ausser der: „Aus dem Harze," nicht als belletristische betrach-
ten möge, zu einer Charakteristik der sieben von ihm veröffentlichten
grössern Schriften über. Wir erfahren dabei zu unsrer Freude, dass
schon seit einer Reihe von Jahren das Ministerium der geistlichen
Angelegenheiten in Folge des lebhaften Antheils des Henn Geheime-
rath Johannes .*">chultze an denselben, die Sammlungen auf eine dankenf?-
werthe Weise immer in etwas gefördert und von Jahr zu Jahr einen
Bericht über das Fortschreiten derselben erhalten hat. — Herr Andre-
sen, Stellvertreter des Vorsitzenden, erörtert darauf an einer Reihe von
Beispielen den häufigen Uebertritt von ft im Deutschen in cht. — Himt
Mahn theilt eine etymologische Untersuchung über labarum und couard
mit; das erstere leitet er aus dem keltischen lavar, Wort, Ausspruch.
„Die neben dem Kreuze gesehene Inschrift, ja, selbst der Befehl dazu,
diese in die Fahne zu setzen, war ein Ausspruch Gottes, und so nannte
Constantia nun die ganze Fahne." Er nahm die Benennung aus der ihm
durch langjährigen Aufenthalt bei den Kelten in Britannien und Kelten
geläufigen keltischen Sprache, weil sein Heer aus Kelten, Britten und
Galliern bestand. Couard sei aus der Thierfabel entlehnt, wo couard
(Kurzschwanz) Bezeichnung des Hasen gewesen sei, so dass das AVort
eigentlich: Hase bedeute, in demselben Sinne, in dem wir letzteres
Wort für Feisline anwenden.
Beurthoilungen nnd kurze Anzeigen.
Parcival. Rittergodicht von Wolfram von Eschenbach. Aus
dem Mittelhochdeutschen zum ersten Male übersetzt von
San-Marte (Albert Schulz). Zweite verbesserte Auflage.
Leipzig 1858. 2 Bde.
.Seit (lern ersten Erscheinen dieser Uibersetzung, welche dem c^^rösseren
Publicum den Parcival ^\'olfi•am's zuerst zugänglich zu machen suchte, sind
mehr als zwanzig Jalire verflossen, eine Zeit, welche für das Stutiium der
mittelhochdeutschen Literatur nicht ohne wesentlichen Einfluss geblieben ist,
so dass auch die Ansprüche, welche man an eine Uebersetzung wie die eben
genannte jetzt stellen darf, weit höhere sein müssen, als die waren, mit
welchen man die erste Ausgabe der vorliegenden Arbeit aufnahm. Der Herr
Verfasser, von dessen unablässigem Studium in dem einschlagenden Gebiete
noch vor kurzem zwei Aufsätze in Pfeiffer's Germania (II, S, 84 und S.
286 ff.), betreffend das richtige Verständniss einzelner Stellen im Parcival
und die Bedeutung der Eigennamen in demselben, Zeugniss ablegten, hat
sich auf das sorgfältigste bemüht, diesen Anforderungen zu entsprechen.
Die vorliegende neue Aullage ist von dem Verfasser nur als eine verbesserte
bezeichnet worden, während sie, wie schon eine oberflächliche Vergleichung
zeigt, eine gänzHch umgearbeitete ist, freilich mit Ausnahme der Einleitung,
welche bis auf einige Aenderungen, die jedoch nur den Ausdruck, nicht die
Sache treffen, beibehalten worden ist. Neu hinzugekommen ist eine Ueber-
sicht des Inhaltes, sowie die Lachmann'sche Verszählung zur Seite des
Gediclites.
Die Uebersetzung selbst hat gegen die erste Auflage den entschiedenen
Vorzug des genaueren Anschliessens an das Original; aus dem .sinngemässen
üebertragen, das sich niclit bloss sehr grosse Freiheit in der Walil des
Ausdruckes, sondern sogar Auslassungen imd Erweiterungen gestattete, ist
jetzt eine Uebersetzung geworden, (1er man das Streljen nach mötzlichster
Treue auch im Ausdruck und in den Worten überall deutlich anmerkt.
Freilich beruht dieses Streben auf anderen Grundsätzen und ist auf ein
anderes Ziel gerichtet, als dasjenige ist, welches sich Simrock in seiner
Uebersetzung gesteckt hat; denn während Letzterer die eigenthümliche
F'arbe des Originals in möglichster Frische dadurch wiederzugeben suchte,
dass er die dem Mittelhoclideutschen eigenen Redewendungen, ja sogar
Worte, die der jetzigen Sprache fremd geworden sind, beibehielt und auch
im Versmasse dem Urtexte gleichzukommen suchte, hat der Verfasser der
vorliegenden Uebersetzung es vorgezogen, dem jetzigen Sprachgebrauche so
wenig als möglich entgegenzutreten und in fliessender Sprache und nach
den jetzt üblichen Kegeln der Metrik sein Vorbild zu üb(>rt.ragen. Dajs er
.•\r(liiv f. n. Spiarhen. XXIII. ]]
162 Beu I tlieilunge n und kurze Anzeigen.
dennoch bei Simrock vielfache Belehrung gefunden, erkennt er in der Vor-
rede selbst an, obgleich er, wie er sagt, die Grundsätze, die jenen leiteten,
nicht zu theilen vermag. Ich glaube auch, er tliut recht daran, dass er es
dem Geschmacke der Leser überliisst, zwischen beiden Arbeiten zu wählen,
da doch ein unumstosslicher Grundsatz, in welcher Art eine solche Ueher-
tragung anzufertigen sei, schwerlich sich wird aufstellen lassen. Es wird
stets Leser geben, denen die San-Marte'sche Uebersetzung auch in ihrer
jetzigen Form zu modern ist, während Andern die Simrock'sche, ich will
nicht sagen zu alterthümlich, sondern wegen der eigenthiinilichen Mischung
von altem und neuem zu fremdartig sein wird.
Nun ist es ein grosses Lob, das die Simrock'sche Uebersetzung ver-
dient, dass sie an den meisten Stellen, allerdings in der ihr eigenthiinilichen
Weise, mit sicherem Tacte den rechten Ausdruck gefunden hat, so dass es
einem Uebersetzer nach ihm, auch wenn er jene alterthiimliche Färbung für
seine Arbeit nicht angemessen erachtet, an vielen Stellen doch nicht leicht
werden wird, einen entsprechendem Ausdruck zu treffen. Es ist aber längst
auf anderem Gebiete anerkannt worden, dass es ein falsches Streben nach
Originalität sei, wenn ein Uebersetzer, nur um seinem Vorgänger keinen
Ausdruck zu entlehnen, einen andern wählt als den, welchen jener gebraucht,
selbst wenn er sich sagen muss, dass der seinige kein Fortschritt, ja viel-
leicht ein Rückschritt ist. In richtiger Erkenntniss dieses Satzes hat Herr
A. Schulz öfter die von Simrock gegebene Uebersetzung, soweit .«ie seinem
Principe nicht zuwiderlief, unverändert oder mit geringen Abänderungen auf-
genommen; natürlich kann, eben bei der Verschiedenheit der (irundsätze,
diese Uebereinstinimung sich nur über wenige Zeilen, öfter kaum über eine
Zeile, ja meistens nur auf einen einzelnen Aufdruck erstrecken. Zuweilen
gab auch der Urtext selbst, wo er sich mit geringen Abänderungen in unsre
Ausdrucksweise übertragen Hess, Veranlassung zur Gleichheit beider Ueber-
setzungen.
Die Sprache der vorliegenden Uebersetzung ist überall angemessen
und fliessend ; nur selten wird man den Zwang bemerken, den Versmass und
Reim auf dieselbe ausgeübt haben, aber bei einer so schwierigen und um-
fangreichen Arbeit, wie diese Umarbeitung der ersten Uebersetzung war,
konnte wohl Manches der sorgsamen Aufmerksamkeit des Verfassers ent-
gehen. Ich will einige Bei«piele für das Gesagte anführen. Es heisst 74, 2
Lachm. im Text:
waz do taeten di sin?
die beschütten in mit swerten :
die beide strites gerten.
Die Uebersetzung lautet:
Was thaten die Seinen? Mit Streitbegier
Sie deckten ihn .schirmend mit Schwertern schier.
So auch die erste Ausgabe, nur dass dort schützend statt schirmend steht.
Abgesehen davon, dass der lebhafte Rhythmus dem einfachen Gange des
Originals nicht entspricht, bilden die Verba deckten und schirmend eine
dem Urtexte fremde Tautologie, die durch das offenbar durch den Reim
herbeigezogene Wort schier noch mehr hervorgehoben wird. — 74, 19 heisst
es in der Uebersetzung :
Ihn schirmten Die, die mit ihm stritten,
Und ward manch' heftiger Gang geritten.
Im letzten Verse verlangte man doch entweder: und es ward manch'
heftiger Gang geritten, oder und mancher heftige Gang ward
geritten, wenn der Uebersetzer die Partikel da des Originals: da wart
gröz hurten niht vermiten nicht aufnehmen wollte. Solche Umstellungen der
Beurthoilungen und kurze Anzeigen. 103
gewöhnliolien Wortfolge, die allerdings :iurh in unsrer neueren Original-
diehtung eine grosse KoUe sjjiclen, niaehen, wenn sie nicht besondere Griinde
haben, gewtihnlieh den Kindruek, als habe der Dichter im Kampfe mit dem
Versm;isse (he Worte niclit zu bezwingen verstamhm. Ich will und kann dies
nicht gradezn von der vorliegenden Uebersetzung behaupten, da ich der-
jileichen untrewdhuliche Wortstellun.^en auch zuweilen gefunden habe, wo der
Vers die gewöhnlichere ebensowohl zuUess, z.H. 118, 7: Doch schoss er
«'iivcn ihrer nieder, und ebenso 120, 28: Der Knabe wähnte sonder Spott
Ein jeder ihrer sei ein Gott! — 121, 10:
Wer sein Geschick in diesen beiden Landen
Zur AVeit mitbringt — ein Wunder ist vorhanden.
INIan vermisst in diesen Worten, die in beiden Auflagen gleich lauten, durch-
aus die Construction, so dass man selbst über den Sinn im Zweifel sein
kann, während das Original ganz deutlich sagt:
swer in den zwein landen wirt,
gefuoge ein wunder an im birt.
Aehnlich verhält es sich 122, 13:
Aller Rlännerschonheit Blüthenkranz,
Den Knappen fragt Karnahkarnanz.
Man ist ungewiss, ob die Apposition im ersten Verse zum Subject oder Ob-
ject des Satzes gehört; im Urle.xte fehlt das Wort Knappen, und indem
dadurch das AVort den die Bedeutung des Pronomen demonstrativum erhält,
ist jedes Bedenken über die Beziehung des ersten Verses umnöglich gemacht.
In der ersten Auflage stand klarer, freilich dem Sinne des Originals unan-
gemessen: „Bezwungen von der Schönheit Glanz des Knaben, drauf Karnah-
karnanz."
Ich will ohne besondere Auswahl noch ein ähnliches Beispiel anführen :
172, 8:
AVenn Gott nun Streit
Zu würd'gen weis, muss ohne AVahl
Er mich ernennen, und beim Gral
Die Schaar wird bald bei mir entdecken,
Dass mich kein Kampf zurück kann schrecken.
Die Ausdrücke beim Gral und bei mir sind für den mit dem Original
unbekannten Leser kaum verständlich ; vergleicht man das Original, so findet
man, dass dort einerseits das ernennen näher bestimmt ist, andrerseits das
ohne AVahl fehlt, die Schaar beim Gral nur eben angedeutet ist, und
der Sinn der letzten A'erse khir und deutUch ist:
ist got an strite wise,
der sol mich dar benennen,
daz si micli da, bekennen :
min hant da strites niht verbirt.
Doch es ^n genug mit den Ausstellungen, die keineswegs einen Tadel
oder eine A'^erkleinerung des höchst verdienstlichen AVerkes bezwecken,
sondern nur dazu dienen sollen , die Schwierigkeiten des Unternehmens
deutlicher zu zeigen, die selbst ein jahrelanges eifriges Studium nicht ganz
überwältigen konnte. Der höchsten Anerkennung werth ist das Streben des
Verfassers, mit dem er zuerst für einen grösseren Leserkreis Wolfram's
Werk, das wir unter die Perlen deutscher Dichtung zählen müssen, zu-
gänglich machte, und mit dem er unablässig gearbeitet hat, um aus jenem
ersten Versuche ein vollkomnmeres und lebendigeres Abbild jener alten
Dichtung herzustellen.
Ik-rliu. B. Büchsenschütz.
11*
J64 B eurtliei lungL' 11 and kurze Anzeigen.
Der Harfner am Heerd. Ein lyrischer Cyclus von Ad. Schuhs.
Weimar, Hermann BoWau, 1858.
Ein neues Bändchen unsers lieben Ad. Schults, des in der deut-
selien Lesewelt rühmlich bekannten Dichters, bedarf keines einführenden
Wortes, denn es findet eine bereite Stelle neben den früheren Gedichten,
von denen einzelne in mehreren Auflagen erschienen, componirt und illustrirt
sind und jetzt in schönem Gewände auf dem Schautische zur Hand liegen.
Der „Harfner am Hoerd" erscheint im bescheidenen häuslichen Ge-
wände, dem Titel und Inhalt angemessen und schliesst sich an des Dichters
frühere, zur Zeit bei ihrem Erscheinen und auch jetzt als Theil der dritten
Auflage seiner Gedichte sehr günstig aufgenommene, unter dem Titel „zu
Hause" bekannte Samnilungan, unterscheidet sich aber von jenen und zwar nicht
zu ihrem Nachtheil durch eine weniger melancholische Färbung und durch eine
Stimmung , welche mehr die Sonnenseite des Familienlebens hervorkehrt. An
Wärme der Empfindung, bescheidener Weltanschauung, durch die ein sanfter
Zug der Wehmuth das Gemüth ergreift, so wie an klarer Abrundung des
lyrischen Gedankens stehen sie ihnen aber völlig gleich, und der Ausdruck
ist so frisch, natürlich und kernig, dass die Lieder, welche oft wie hinge-
haucht scheinen, sich spielend in Herz und Kopf des Lesers einschmeicheln,
und doch so durchaus frei von aller Absichtliclikeit und Gesuchtheit sind,
dass man von ihnen sagen kann: sie gefallen in ihrer Einfachheit, Natür-
lichkeit und Innerlichkeit.
Wir schlagen , um eine Probe zu geben, gleicli die erste Seite auf und
finden das Gedicht:
Gottes Segen, siebenfach.
Gottes Segen, siebenfach
Ist herabgekommen :
AU' mein enges Wohngemach
Hat er eingenommen.
Mägdlein drei und Knaben vier —
Sieben blühende Reiser!
Schön'rer Stammbaum grünte schier
Selten einem Kaiser.
Knaben vier und Mägdlein drei —
Sieben schwellende Hanken !
Und sie regen sich frisch und frei,
Keine siechen und kranken.^
Send', o Sonne, den hellsten Schein
Nieder auf die Lieben,
Dass sie wachsen und gedeih'n.
Meine blühenden Sieben!
Gönn', o Erde, den frelesten Kaum
Allen zum Entfalten,
Dass sie reihen sich, Baum an Baum
Um den Stamm, den alten!
und noch siebenzehn andere herzliche Familienlieder, die unter dem ersten
Theil „Siebenfacher Segen" zusammengefasst sind und sich im letzten ab-
runden: „Sieben, Sieben galt die Zahl!" Sie sind eigenthümlich, diese Lie-
der, die keine andere Ueberschrift haben und brauchen, als die erste Zeile,
und die das Herz des Vaters und der Mutter seltsam ergreifen. Ein frommer
Sinn von echt deutscher imd christlicher Art ist in wohlthuender Durch-
dringung in dem „Du liebst das Händefalten" gepaart mit reger Thätigkeit
im Leben.
15 eu rtheilungfii und kurze Anzeigen. löS
\
Die Iliintle sollst Du rcpen.
Drum liast Du sie enipfiilin!
Sie falten, bringt erst Segen,
A\ enn Du Dein Werk gethiin.
Die zweite Abtheilung „Neue Jugend" ist in niihcster poetischer Be-
ziehung zum Sänger, der von einer langwierigen Krankheit, in der mehrere
seiner elegischen Lieder geschatlen sind, wir wollen von Herzen hofi'en, so
völlig und so dauernd hergestellt ist, wie er sich in Irischer Jugendkraf't
genesen fühlt in den Liedern „O und sollt ich auch nicht jung." Ü dass
\vieder Sang und Klang und dass dann ihm bliebe, was er in dem schönen
Liede wünscht:
Jugendmuth, o, bleib' mir treu.
Jugendmuth. o, bleib' mir treu
In der ^Yelt, der alten!
Jugendgluth, o, steh mir bei
In der Welt, der kalten!
Jugendgluth ! und mnss ich arm
Auch durch's Leben wandern,
Halte Du das Herz mir warm
Für das Loos der Andern!
Jugendmuth! und steh ich klein
Vor der Gro.'^sen Blicken,
Lehre Du mich stolz zu sein,
Nicht mich feig zu bücken.
Jugendgluth 1 o, lasse heiss
Für das Schöne glüh'n mich!
Jugendmuth, des ^^'ahrcn Preis
Lehre laut und kühn mich.
Jugendgluth! o, gieb mir Muth,
Dass ich steh ftir's Rechte.
Jugendmuth ! o, gib mir Gluth,
Dass ich hass' das Schlechte.
Jugendgluth, o steh mir bei
In der Welt, der kalten!
Jugendmuth, o, bleib mir treu
In der Welt der alten I
In der dritten Abtheilung Leid und Lust entrollt sich eine ganze Familien-
Idylle von der Krankheit der Gattin bis zum Familienfest:
Nun nimm aus Deinem Schrein
Dein bestes Feierkleid,
Und hol' den Schlauch mit Wein
Und halt ein Wahl bereit.
Der echt deutsche Sinn für den Wertli des Familienlebens, den Ad.
Schults in seinen Irühern Gedichten ausspricht, namentlich in seinen Liedern
aus Wisconsin, tritt hier in seiner eigensten ^^'cisc lebendig hervor und diese
ist so melodisch wie jedes wahre Lied, das nur auf den rechten Tonsetzer
harrt, um sich ihm ganz zu ergeben. Lieder aber, wie
Treuer Liebe A\'erth zu preisen,
Welche Weisen heb' ich an?
werden nicht lange zu harren bauchen, die Melodie sihlununcrt schon im
rieiste des Künstlers.
166 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Gedichte von Carl Stelter. Leipzig, Carl Cnoblauch. 1858.
Wir können zur Einführung dieser schönen Lieder keine bessern Worte
wählen , als diejenigen , welche der Dichter selbst auf der ersten Seite aus-
gesprochen hat, indem er seines „Herzens Lieder, welche die Blumenpfade
den Knaben füln-ten. dem Jungling die Brust schwellten, den Mann bisher
durchs Leben geleiteten" nicht mit stolzem Namen und in prunkendem Ge-
wände, sondern in anspruchsloser, aber in desto mehr ansprechender Weise,
zuversichtlich in die Welt führt, und ihnen zuruft:
Geht euern Weg nur einfach und bescheiden.
Sucht euch die stille Welt der Herzen auf
Hort theilt die Lust — dort weint, wenn bitt're Leiden
Das Leben reicht im wechselvollen Lauf.
Ihr kennt ja Beides, habt in langen Jahren
Des Herben wie des Guten viel erfahren.
Wir führen auch unsern Lesein keinen fremden, sondern einen heimath-
lichen Sänger vor, wenn auch Manchem vielleicht unter einem neuen Namen;
aber dieser findet Anklang, wenn wir sagen, dass Oscar Lester, dessen Ge-
dichte hier schon Viele erfreut, wenigen ganz unbekannt geblieben sind, der
Pseudonym Stelter's ist ; dass in dieser Sammlung daher liebe Remininis-
cenzen vorkommen und Stimmungen angeregt werden, welche das Gemüth
schon in poetische Schwingungen gesetzt haben: denn die Lieder sind der
Brust entstiegen und dringen deshalb auch in verwandte Herzen.
Wie nachfolgende Liedchen, so greifen viele in die Seele:
Ein grünes Blatt.
Am Tage, wo ich ungekannt
Dich, Blume aller Blumen fand :
Da sprosst' aus meinem Lebensbaum
Ein blatt- und blüthenreicher Traum.
Und um den jungen Stamm sogleich
Schlang sich ein junger Epheuzweig,
Der trug zur Lenz- und Winterzeit
Sein immergrünes Hoff'nungskleid.
Ein welkes Blatt.
Das war der Tag, an dem ich schied.
Als thränenschwer mein Augenlied,
Als stumm ich in Dein Aug' geblickt
Und fortgewankt, von Schmerz geknickt.
Da fiel von meinem Lebensbaum
Ein grünes Blatt mit rothem Saum;
Dies Blatt, seitdem verwelkt und fahl,
Birgt ewig der Erinn'rung Qual.
Diese erste Sammlung des unter uns lebenden Dichters enthält Lyrisches,
Episches und Didaktisches, wenn wir die mitgetheilten recht artigen Räthsel
in die letzte Gattung rechnen wollen, aber das Lyrische überwiegt, wie denn
auch Stelter vorzugsweise lyrischer Dichter ist und eine einfache reine Em-
pfindung in sinniger Anschaulichkeit ausdrückt. Aber sein Gefühl ist nir-
gends überschwänglich, seine Auffassung nie überspannt, ein wohlthuendes
Mass tritt in jedem Gedichte entgegen und wirkt um so lebhafter auf den
gleichgestimmten Leser, je seltener in unsern Tagen Gefühl und Phantasie
der lyrischen Dichter in besonnener Gedankenreihe gehalten werden und je
häufiger gerade geniale Naturen sich in ihren Leistungen darin gefallen, für
B eurt hei lang eil und kurze Anzeigen. 167
das zu gelten, was man im gewöhnlichen Leben ein Genie nennt. Von
dieser Manie ist in Stelter keine Spur, wie auch schon aus den Gedichten
erkannt wurde, die von ü^kar Lester Beil'all fanden: ein edles treues Ge-
niüth, ein klarer ollcner Sinn und eine znrte cinplindende Seele spi'icht sich
in feiner, runder und gefalliger Form mit keinem andern An.«pruch aus, als
tk'u aulrichtigen Wohlwollens und reger Theilnahme. Daher sind seine
Stoffe solcher Natur, die allenthalben Anklang linden, wie er selbst be-
zeichnet :
Lieder Stoff.
Mir ist so manches liebe Lied
Wie über Nacht im Traum gekommen,
So manches Lied, ilas nicht verrieth,
\Voher es seinen Stoff genonmien.
Und doch ist so ein sinnig Lied,
Das aus der tiefsten Brust erklungen.
In manches Herz, sobald es schied,
Mit seinem Zauber eingedrungen.
Lind wieder andre Lieder hab'
Geschöpft ich aus des Denkens Quelle —
Die fanden ein vergessen Grab,
Gleich wie im Strom die leichte Welle.
Das echte Lied allein erklingt
^Vie Harfenton im Waldesrauschen.
Es strömt mit Allgewalt und zwingt
Die Geister, seinem Ton zu lauschen.
Doch wie es geht — woher es stammt —
Willst Du des Liedes Heimath kennen?
Die Herzen frag", die es entflammt.
Ob sie Dir ihr Geheimniss nennen.
Ein nicht geringer Vorzug eines lyrischen Gedichtes ist seine Kürze
und Anschaulichkeit. Nur eine Empfindung soll geweckt , nur ein Gedanke
erzeugt werden. Je frischer dies geschiebt, desto tiefern und bleibendem
Eindruck macht das Gedicht, je anschaulicher, desto leichter schmiegt es
.«ii.'h an Seelenzustände an, die in Tönen und in Bildern den entsprechenden
Ausdruck finden. Viele Lieder sind wirklich recht sangbar und viele Situa-
tionen wahre Genrebilder, wie in dem „Wahnsinn" oder dem sinnigen Sonnet:
dem Achtzigjährigen. Die schönsten und gelungensten dieser lyrischen Er-
güsse finden sich unter den Naturbildern und Blumen, von denen wir gleich
die ersten als Trüben folgen lassen:
Regenbogen.
Regenbogen, Himmelsbogen,
Deiner Farben Pracht
Hast den Blumen Du entzogen.
Heimlich über Nacht.
Blumen, wie sie auf den Fluren,
In den Beeten sind —
Aller Blumen Farbenspuren
Trägst Du Ilimmelskind.
Hast sie sorglich schön gestaltet.
Künstlerisch gewählt.
Allen Schmuck und Glanz entfaltet,
Der Dein Bild beseelt,
168 Bt'urthoiluugen und kurze Anzeigen.
Wenn der Sonne Feuerstrahlen
Sich im Tropfen Thau
Brechend, Deniantbogen malen
Wie der Aether blau.
Blau der Himmel, blau die Fluthen,
^ Die Dein Spiegel sind —
Deines Glanzes StrahUngluthen
Löscht kein rauher Wind.
Regenbogen, Himmelsbogen,
Deiner Farben Macht
Hat um mich ein Band gezogen
Märchenhafter Pracht.
Und das Land, es zieht mich nieder
In der Blumen Reich,
Und da find' ich immer wieder,
Dass die Farben gleich.
Blumen am Wege.
Mir armen Blum' am Wege,
Mir wird kein Freundschaftsgi-us^s,
Wo ich das Köpfchen rege.
Tritt mich des Wandrers Fuss.
Ich blühe unbeachtet
Die kurze Sommerzeit.
Vor Sonnengluth verschmachtet,
Im staubbestreuten Kleid.
So sinkt mein junges Leben
In's ungeschmückte Grab,
So sterb' ich, wenn ich eben
Mich erst erschlossen hab'.
Wer gleicht der Blum' am Wege,
Wem wird ein solches Loos? —
Dem, dessen Herzensschläge
Für diese Welt zu gross; —
Der mit der reinen Seele
Möcht Allen Muster sein —
Die Seele ohne Fehle
Schläft unbeachtet ein.
Wenn wir oben die charakteristischen Merkmale Carl Stelter's in seiner
echt lyrischen Stimmung erkannten, so müssen wir nicht minder treffliche
Züge aus den lyrisch - epischen Gedichten hervorheben, die der zweiten Ab-
theilung der Sammlung der Romanzen und Balladen entlehnt sind. Den
Uebergang zu denselben bilden die sieben Wanderlieder, und den sinnigen
Schluss macht „Spielmanns Lebenslied", welches in acht Romanzen die
schlichten Wanderklätige in Scene setzt. Dass die Gedichte unserer Zeit
angehören, spricht unter Andern die Romanze „der Zuave" aus und dass sie
vom Wupperthale ihre örtliche Färbung hergenommen, ist in manchem un-
verkennbar, und daher für den von besonderem Reiz, der die poetische
Seite unserer Berglandschaft — im wahren Sinne des Worts eine Mannig-
faltigkeit in der Einheit — auch im Vergleich mit weitern und grossartigern
Gegenden zu würdigen weiss. So heisst die erste Strophe:
Ii iMirt h ei 1 iiu^i'ii und kurze Anzeigen. IGO
Nebelscliichten undureh(Irinj;lieli
Deckend das geschiift'pe Tlial,
(ilauht ihr wohl euoli unbezwinglieh
Selber von der Sonne Strahl '?
nnd die letzte, welche von den Vorhergehenden bedeutsam entwickelt wird:
Sonnenstrahl für Nebcl?eliiehten —
Klarheit für des Zweifels Wahn —
Jedes Dunkel niuss sich lichten,
Ebnen jede steile Balni ! ''
Spricht eine elegisclie Stimmung in dem Gedichte „das einzige Kind"
durch die rührende Wehmuth an, die der Situation entnommen, so (lurch
den ergreifenden Gegensatz in dem Abschiede, den wir uns nicht enthalten
können, mitzutheilen:
Abschied. I.
Es war ein Abschied wortch^er,
Sie konnten nicht mehr sprechen.
Die Augen nass, das Herz so schwer,
Als woUt's der Kummer brechen.
So standen sie im herben Leid —
Ein letztes stummes GVüssen,
Ein Händedruck, noch lange Zeit
Seh' diese Thrän' ich fliessen.
Ob die im Herzen wohl sich lieb,
Ob Treue sie gehalten? —
AVo sa der Schmerz an's Herz sich schrieb,
Dann kennt man kein Erkalten.
n.
Es war ein Abschied wortereich
Von "NViederseh'n und Liebe,
Ein Herzen, Küssen und zugleich,
Dass nicht zu lang er bliebe.
Er grüsste lächelnd, winkte fern
Noch immer Abschiedszeichen,
Sie ebenso, und möchte gern
Nochmals die Hand ihm reichen.
Ob die im Herzen sich so lieb,
Ob sie die Treu gehalten?
Ich hörte, dass er lang' nicht schrieb,
Es sei nicht mehr beim Alten !
Nachdem wir nun einzelne Gedichte selbst mitgetheilt haben, hiesse es
dem Urtheil der Leser vorgreifen, wollten wir uns weiter über Sprache, Vers-
bau und poetischen Ausdruck äussern, die wir in vollem Einklang mit dem In-
halt finden. Dagegen wird es uns gestattet werden, schliesslich der schönen
Ausstattung Erwähnung zu thun, die den Gedichten durch den rühmlich
bekannten Verlag zu Theil geworden ist.
Elberfeld. Dr. C. A. W. Kruse.
170 Beur theilungen und kurze Anzeigen.
A. Das etlinographische Verhältniss der Celten und Germauen
nach den Ansichten der Alten und den sprachlichen Ueber-
resten dargelegt von Dr. H. B. Chr. Brandes. Leipzig,
1857.
B. Celten und Germanen. Eine historische Untersuchung von
A. Holtzmann. Stuttgart 1855.
Die In No. B. aufgestellte Meinung, dass die Celten Germanen, oder
dass Celten und Germanen eins, und dass die für Celten gehaltenen Britten
und Iren keine Celten, sondern etwas anderes Unbekanntes seien, wird wohl
hier und da, durch Holtzmanns gewandte und bestechende Sophistik verführt,
einige einzelne Anhänger gewonnen haben, im Allgemeinen hat sie jedoch
überall mit Kecht lebhaften und motivirten Widerspruch hervorgerufen. Zu
den Gegnern der Holtzmannschen Ansicht gehört auch der Verfasser von No. A.
Schon früher hatte sich derselbe in einer Recension der Holtzmannschen Schrift
gegen ihn erklärt. In dieser neuen Schrift lässt sich der Verfasser sowohl
auf die historischen als auf die sprachlichen Beweismittel für seine der Holtz-
mannschen entgegengesetzte Ansicht ein. Er liefert hauptsächlich eine sehr
gründliche Kritik aller Stellen der Classiker, die für die Verschiedenheit des
Celten- und Germanenthums sprechen. Man kann wohl sagen, dass er in
dieser Beziehung fasst überall den Sieg gegen Holtzmann davon trägt und
dessen paradoxe Sophistik aus dem Felde schlägt. Viel schwächer ist aber
der linguistische Beweiss, auf den hier das meiste, ja alles ankommt. Hier
stützt er sich weder auf Zeuss noch Diez, obgleich er sie namhaft macht,
sondern auf die unzuverlässigen und unkritischen Arbeiten eines Edwards
und Chevallets und auf eigene Ergänzungen. Man wird es uns ersparen, dass
wir ihm die Fehler seiner Etymologien, die jedem Kenner sogleich in die Augen
springen, nachweisen. Denn wer wird z. B. Wörter wie franz. ambre, bätard,
changer, chaque, cogner, coint, conte, couper, debar, delai, derriere, diner, fal-
loir, gener, gu^de, nappe, oignon, parole, payer, perche, perle, quitte, rage,
rincer, riz, robe, röder, sac, suie, talent, tiede und viele andere für celtisch
halten? Im Linguistischen, d. h. hier im Celtischen, ist Brandes also schwä-
cher als Holtzmann. Sehr naiv rückt ihm Holtzmann dieses auch vor, ob-
gleich er selbst im Celtischen doch auch durchaus nicht stark ist. Holtzmann
hat auf eine gewiss absichtliche Weise nicht alle von den Alten flir celtisch
gehaltenen Wörter angeführt, sondern nur solche, die sich mit Hülfe einer
gewaltsamen Verrenkung allenfalls gezwungen aus dem Deutschen erklären
liessen. Eine solche Tendenz findet sich leicht ein, wenn man in einer Sprache
stark, in der andern aber schwach ist. Im Deutschen ist Holtzmann olfenbar
stärker als im Celtischen, das sieht man gleich auf den ersten Blick. Mit
seinem Verfahren wäre es ihm auch gelungen, eben so viele dieser Worte
für Slavisch auszugeben, wenn er des Slavischen eben so mächtig als des
Deutschen gewesen wäre. Wenn jedoch auch sämmtliche Stellen der Alten
das beweisen sollten, wie sie es eben nicht thun, was Holtzmann dadurch
bewiesen zu haben wünscht, so wird der vollständig und richtig geführte
linguistische Beweiss eben sowohl die unrichtige Ansicht der Alten widerlegen
als auch Holtzmanns mühsam errichtetes Sophistengebäude über den Haufen
werfen, und ihn selbst für immer darunter begraben. Aber einzelne unter
den Alten waren viel klüger und besser unterrichtet als Holtzmann glaubt.
Im Anfange zwar vor Cäsar konnte man Celten und Germanen noch nicht
gut unterscheiden; damals war der Ausdruck Celten noch ein grosser Ge-
sammtname und die Germanen steckten mit darin. Später aber, nachdem
man diese Celten in ihren einzelnen Bestand theilen näher kennen lernte und
einsah , dass man einen ganz verschiedenen Volksstamm mit einer ganz ver-
schiedenen Sprache mit dazu gerechnet hatte, so schied man denselben unter
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 171
dem Namen der Germanen, der ihnen von den Gelten selbst gegeben worden
war und der Nachbarn bedeutet, aus, und benannte nur den Rest noch ('el-
ten, der sich durch eine verscliiedene Sprache, durch Körperbau, Haut- und
Gesichtsfarbe, Religion, Sitten und Gebräuche von den Germanen unterschied,
tlie grösser, blonder und wilder waren. Obgleich nun aber die meisten Alten
die zwei grossen Völkerschaften fast immer gehörig unterscheiden, so ver-
wechseln doch auch einzelne minder unterrichtete dieselben wieder, oder
fassen den Unterschied derselben nicht genau und allgemein genug, sondern
nur relativ auf, so dass sie den Gelten oft eine hellere Farbe zuzuschreiben
scheinen als ihnen in \Virklichkeit zukommt. Die Gelten zerfielen in zwej
grosse Stänune, in den altern gadhelischen, der auf einer geringeren Bildungs-
stufe stand , und sirh mehr an die Römer anschloss, und den jüngeren kym-
rischen, der gebildeter war und in einem gewissen verwandtschaftlicheren
Verhalt niss zu den Griechen stand. Die Theile des kymrischen und gadhe-
lischen, die in Gallien wohnten, waren wiederum civilisirter als die in Bri-
tannien, die mehr in ihrem iilteren roheren Zustande verharrten. Ganz ver-
kehrt ist die Ansicht, dass die noch heut zu Tage übrigen Gelten in der
Basse Bretagne alle aus Britannien erst eingewandert seien. Eine solche
partielle Einwanderung fand Statt, als ein Theil der Britten vor der barba-
rischen Grausamkeit Hengist's seine Zuflucht in Armorica nahm, dem sie aller-
dings dadurch den Namen Nieder- Britannien mittheilten; aber es war nur
ein neuer Zuzug 2)u ihren alten Brüdern und nahen Verwandten. Eben so
unrichtig und verkehrt ist es, wenn Holtzmann glaubt, dass alle britischen
Städte erst in der Zeit der Römerherrschaft gegründet wurden und ihren
Namen von den gallischen Soldaten des römischen Heeres und den gallischen
Ansiedlern erhielten, die von den Römern auf britischen Boden verpflanzt
wurden, wie es z. B. mit Gamulo dunum unter Claudius der Fall war. Hier
nimmt eine zügellose Einbildungskraft den Theil für das Ganze, und denkt
sich, das einzelne Spätere muss auch das frühere Allgemeine sein. Wir ver-
stehen <laher, im Gegensatz zu Holtzmann, unter Gelten diejenigen Völker,
welche die Alten, so oft sie klar in der Sache sahen, so nannten, d. h. die-
jenigen, die im Wesentlichen und Ganzen die unter sich eng verwandten
Sprachen redeten, deren Ueberi'este in Niederbritannien, Wales, Hochschott-
land und Irland noch fortleben, und durch deren Sprache sich alles was da-
von in den geographischen Namen der für celtisch gehaltenen Lander, wozu
Gallien, Hispanien, Oberitalien, ein Theil der Schweiz, das südliche Deutsch-
land und Grossbritannien und Irland gehören, so wie in den Sprachen ihrer
Nachfolger, der Romanen, Engländer und zum Theil auch der Deutschen,
steckt, ausschliesslich und einzig regelrecht und befriedigend erklären lässt.
In Beziehung auf diesen letzteren Punkt stimmt Holtzmann einen Triumph-
gesang an, indem er zu seiner Unterstützung anführt, dass eine so grosse
Autorität wie Diez aufs entschiedenste läugne, dass die sogenannten celtischen
Sprachen einen erheblichen Antheil an der Bildung der romanischen hätten,
und dass derselbe sich in der neuen Auflage des ersten Bandes seiner Gram-
matik sogar der Benennung celtisch für die britischen Sprachen enthalte,
zum deutlichen Zeichen, dass er die Iren und Schotten, die Walliser und
Bretagner nicht für Gelten hält. Es ist wahr, in seinem etymologischen
Wörterbuche spricht Diez noch vom celtischen Element der Romanischen
Sprachen, und bringt auch eine nicht unerhebliche Anzahl von Wörtern her-
bei, die er für celtisch hält; aber in der neuen Auflage seiner Grammatik
steht nur p. 134 die Bemerkung, dass die V)ritischen (und iberischen) Be-
standtheile so spärlich sind, dass sie nur zu einzelnen Bemerkungen, nic^ht zu
einer systematischen Darstellung Stoff gewähren würden, so dass es allerdings
scheint, als wenn Diez für Holtzmaim's Ansicht gewonnen wäre. Schon in
der ersten Auflage seiner Granunatik hat Diez dem celtischen und iberischen
Element der Romanischen Sprachen keine grosse Bedeutung beigelegt, indem
er es bis dahin eigentlich auch noch gar nicht untersucht hatte. Später für
172 L) eurtheiluiige II und kurze. Anzeigen.
sein ^^'örte^buch hat derselbe das Celtische bloss nach Zeuss einer Prüfung
unterworfen, und doch sclion manches gefunden, was nicht ganz unbeträchtlich
genannt werden kann. Aber im Ganzen kann man jedoch sagen, dass bis
jetzt weder das Celtische noch das Iberische von Diez so vollständig und
umfassend untersucht worden ist wie der allerdings beträchtlichere deutsclie
Bestandtheil des Romanischen, und dies gibt Diez in der Vorrede zu seinem
Wörterbuche gewissermassen selbst an und zu. Aber Diez führt zugleich auch
selbst an, dass, nach Abzug aller Elemente, die den grössten Theil des ro-
manischen SprachstoH'es ausmachen, immer noch ein kleiner Theil üljrig bleibe,
der sich nicht erklären lasse. Nun, wohlan, man mache sich einmal ernst-
lich daran, den Gegenstand ausreichend zu untersuchen, und man wird finden,
dass dieser rebellisciie Bestandtheil sich zum Tlieil nur aus dem Celtischen er-
klären lässt. Ich will zum Beweis aus Mangel an Kaum nur ein Beispiel anführen :
das spanisclie Wort colmena, der Bienenkorb, wurde von den Etymologen auf die
Tortur gesjiaimt, um aus ihm etwas herauszupressen, und nach langer Folterung
gab es als seinen Vater das arabische kuär men na'hal, Bienenkörbe von Bie-
nen, an. Diesem Worte sieht man die Foltenjualen an, um das zu werden, was
es soll, und obendrein ist es nicht einmal recht arabisch. Im Niederbri-
tannischen dagegen heisst der Bienenkorb unter anderen kölöenwenan, von
köloen, Korb, und gwenanen, Biene, pl. gwenan, dem in Zusammensetzungen
sein g nach einem Gesetz der celtischen Sprache verloren gehen muss. Zalil-
reiche Beispiele sind vorhanden, dass sich ein b, p und v im Iberischen und
Celtiberischen Munde zu m gestaltet. Ist ein solches auf natürlichem Boden
erwachsende Product wie ein Bienenkorb, den die Araber nicht erst in Spa-
nien eintühren und der Bevölkerung desselben ihren Namen dafür aufzwingen
konnten, abgesehen von der Formschwierigkeit, hier nun nicht viel natürlicher
aus einer celtischen Sprache erklärt, da es aus der Geschichte bekannt ist,
dass celtische Völkerschaften in Spanien in Masse waren, und dass sich einige
derselben so mit den Iberern mischten, dass neue Völkerschaften, die Celti-
berer genannt wurden, daraus entstanden? Alle Bomanisclien Sprachen und
auch das Spanische enthalten viele celtische Ausdrücke, d. h. Wörter, die
sich imr mit den für celtisch gehaltenen Sprachen in Grossbritannien und
Frankreich ei-klären lassen ; aber natürlich liegen sie versteckter und sind in
geringerer Anzahl vorhanden als die deutschen oder gar lateinischen. Sie
lassen sich daher auch nicht gleich wie Kieselsteine auf der Landstrasse auf-
lesen, sondern wollen wie Diamanten, die roh und unscheinbar im Staube
liegen, scharf angesehen und dann hinterdrein polirt und geschliffen werden.
Es ist auch natürlich, dass je älter ein Sprachbestandtheil in Sprachen, die
mehrere Mischungen und Umwälzungen erfahren haben, ist, desto geringer ist
er vorhanden, und desto mehr ist er verändert und schwieriger zu entdecken.
Aber vom Verstecktliegen und in geringerer Anzahl Vorhandensein ist noch
ein weiter Schritt bis zum gar nicht Vorhandensein. Es wäre zwar eine mühe-
volle, aber dankbare Aufgabe, erst negativ alles Regelwidrige, Unhaltbare
und Ungenügende in den linguistischen Beweismitteln von Brandes und Holtz-
mann nachzuweisen und zu entfernen, und dann positiv das glänzende und
stattliche Gebäude des untergegangenen Celtenthunis linguistisch aufzuführen
und den verwunderten Augen der Ungläubigen und jetzt in der Sache nicht
klar Sehenden darzulegen. Denn so lange der vollständige und regelrechte
linguistische Beweis nicht geführt ist, wird das Zweifeln und Hin- und Her-
rede auf diesem Gebiete kein Ende nehmen; denn es werden sich immer Leute
finden, die die historischen Zeugnisse der Griechen und Römer, die nach den
Zeitaltern verschieden und nicht alle gleichen Werth haben, indem sie nicht
immer auf genügender Sach- und Selbstkenntniss, sondern auf bloss äusserem
Schein und Hörensagen beruhn, anzuzweifeln und nach ihren vorgefassten
I\I einungen auszulegen verstehen. Die Linguistik wird noch von den meisten
Historikern, die sich auf primitivQ Völkerverhältnisse einlassen, nur mit
schelem und halbem Auge angesehen und wie die sauren Trauben des Futh-
Ueu it heilun<ieii und kurze Anzoigen. 173
ses behandelt, indem sicli allerdings auf diesem Felde mit dauerndem Erfolg
nicht so leicht etwas iniprovisiren lässt, als auf dem eigentlichen historisclien
Felde, wo selbst Tliatsaciien, die vor unseren Augen geschehen, von deui
einen so und von dem amleren so aufgefasst werden kdnnnen. Ilolfzniann
nennt schon das vortreflliche und meisterhafte l'ucli von Zeuss, woraus er
eine grosso wissenschaftliche Kenntniss der Celtischen Spruche in verhällniss-
mässig geringer Zeit schiipftn konnte, ein dickes und trockenes Buch. Wie
sollten sich also Leute wie Iloltzmann und die ihm gleich denken, dj.zu ent-
schliessen, ein Dutzend anderer noch dickerer und trocknerer \^'erke durcli-
zugehen, und deren Kern und Inhalt in sich aufzunehmen V
Zum Schluss erlaube ich mir, nur an einem IJeispiel unter den ^ielen die
Art und Weise der Iloltzniannschen celtisclien Sprachforschung darzulegen,
deren Charakter man resuuiirend und kurz so bestimmen kann: a) Iloitz-
mann's Kenntniss des Celtischen ist mangelhaft und ungenügend, b) Er ver-
schweigt eine Menge der von den Alten erwälinten celtischen Wörter, weil
er sie auch mit den allergevvaltsamsten Mitteln nicht in germanische hat ver-
wandeln können, c) Bei denen, die er auj-zuwähien für gut findet, verschweigt
er auch oft doch die ähnlichen celtisclien W^örter, entweder weil er sie nicht
kennt, oder absichtlich, um seinen aus dem Germanischen hergeholten Zeugen
keine unbequeme Gegenzeugen gegeniiberzustellen. Eine solche Beschaflen-
heit und ein solches Verfahren ist aber nicht dazu angethan, der bisherigen
Ansicht über Gelten und Germanen auf die Länge getährlich zu werden:
Holtzmann hat wohl aufgeregt, aber niclits erschüttert. Die Säulen des
("eltenthums nach der Aorholzmannschen Auffassung stehen fester als je.
Jetzt also das Beispiel. Das celtische AVort für Meile findet sich in allen
romanischen Sprachen, im Englischen, und im Spät- und Mittellateinisehen,
franz. Heue, prov. lega, legua, ital. lega, span. legua, port. legoa, engl, lea-
gue, spät- und mittellat. leuca, leuga, lega, lewa, levia. Es wird als galli-
scdies Wort nn't der Bedeutung eine gallische Meile (leuga) von lüüO Schrit-
ten zuerst von Ammian (im 4 Jahrh. p. Chr.) erwähnt, dann von Hieron^iuus
(leuca), von Hesychius: '/.ev-yr; iiixQOv t/ raXay.Tiy.6v. Das W^ort findet sich In
allen celtischen DIalecten, den Bretannischen ausgenommen, der es eingebüsst
hat. Es bedeutet ursj)rünglich einen platten Stein. Die Meilen wurden wie
bei den Römern (lapis) und zum Theil auch bei uns durch Stein (daher
^Meilenstein) bezeichnet Irisch heisst das Wort leac, gälisch leac, leachd,
kymrisch Uech. Sogar das Geschlecht stimmt: überein; denn sie sind alle
weiblichen Geschlechts. Verwandt damit sind Irisch leug, leig, ein Edelstein,
ein Kieselstein. Von diesem Worte sagt nun Holtzmann Folgendes aus: das
Wort leuca ist nicht britisch ; denn Bretonisch leo Ist doch wohl erst aus
lieue entlehnt. Man hat aber auch bis jetzt kein deutsches Wort herbeizu-
ziehen gewusst. (Ganz natürlich, weil noch niemand diesem Irrwahn huhh'gte,
das Celtlsche und (germanische für Identisch zu halten.) Ich glaube das Wort
zu finden im veralteten deutschen Wort lachu, divislo, bei Graff 2, löO.
Dazu gehört angels. leove, das ich übrigens nur aus Graff" unter leuga kenne.
So weit Holtzmann. Das Wort lleoune steht aber nicht bloss bei Graff, son-
dern auch bei Bosworth und In jedem angelsächsischen W()rterbuche, ist aber
weiter nichts als die germanisirte Form des mittellateinischen lewa. Und
damit glaubt Iloltzmann nun, indem er alles oben von mir Beigebrachte
nicht kennt oder mit Fleiss ignorirt, den celtischen Ursprung Im frühereu
Sinn beseitigt und i.\<:\\ germanischen fcstges^ilit zu haben. Das Bretonische
leo, lev, leu, ist allerdings entlehnt, eben weil es sciion Mieie, und nicht
Stein bedeutet, und seine Form verdächtig Ist, Indem sie zu dem- Fran-
zösischen, aber nicht zu den übrigen drei celtischen Sprachen stimmt; aber
warum erwähnt Iloltzmann das irische, gälische und kymrische Wort gar
nicht? Also, um seinem seltenen germanischen lachu, welches nur in der
mittellateinischen Form lachus bekannt ist, und welches incisio arborum, divi-
slo, seil, ngroruin, ([iii hisce incisionibus t(!rniin;intur. bedeutet, und wohl als
174 Beurtlieilungen und kurze Anzeigen.
Greuzbestimmung , aber nicht als Zeichen einer Entfernung, eines Masses
diente , das im Milttellateinischen und den Romanischen Sprachen mit der
Bedeutung Meile vorkommenden Wort zuzuweisen, gibt er den drei Zeugnissen
der Alten, die ausdrücklich sagen, dass es ein Gallisches oder Celtisches
Wort sei, einen anderen Sinn, und kennt die Formen des Worts in den drei
celtischen oder doch bei Andern für celtisch geltenden Sprachen, im Irischen,
Galischen und Kymrischen, nicht oder ignorirt sie absichtlich. Dagegen
kennt er sonderbarer Weise die niederbretannische Form, vielleicht eben,
weil er sie mit Recht verwerfen kann, und die anderen nicht.
Dr. C. A. F. Mahn.
Zur Shakspeare-Literatur.
Referent braucht sich nicht wie Adolf Stahr in einem den gleichen
Gegenstand behandelnden Artikel der Nationalzeitung vom 24. December
1857 gegen den bekannten Goethe'schen Vorwurf „Shakspeare und kein
Ende" zu vert heidigen , wenn er über drei verdienstvolle Werke berichtet,
deren zwei sich direct mit dem grossen Barden beschäftigen, während das
dritte ihn aus seinen Zeitgenossen zu erklären bezweckt. Ich spreche zu-
nächst von „Dingelstedt, Studien und Copien nach Shakspeare.
Pesth, Wien, Leipzig 185S," durch welches der Verfasser eine innigere
Aneignung Shakspeare's für die deutsche Nation anzubahnen strebt, als dies
bisher geschehen, und zwar auf doppeltem Wege: 1) durch eine neue
Reproduction in künstlerischer üeberl ragung, 2) durch vollständige ange-
messene Vorführung auf der Bühne. Um die Nothwendigkeit der ersten zu
beweisen, zählt Dingelstedt S. 6 die bisherigen zehn Uebersetzungen auf,
von denen genau genommen die von Benda, Mayer und Döring, Körner,
Böttger, Ortlepp, Keller und Rapp, sowie die literarhistorische Curiosität
der Wieland-Eschenburg'schen Arbeit nicht mehr mitzählen, während Voss
einem Holzschnitt, Schlegel-Tiek einem Kupferstiche, Kaufmann aber einem
Lichtbilde verglichen wird, das jede Warze und Sommersprosse treulich
wiedergibt. Die beste der genannten Uebertragungen, die Schlegel-Tiek'sche,
reicht bei dem jetzigen Stande der Wissenschaft nicht mehr aus und kann
bei der Fülle neuer Lesarten und Commentare und bei der vorgeschrittenen
philologischen Kenntniss jetzt sehr wohl übertroffen werden. Die Lösung
einer solchen Aufgabe bezweckt nun Dingelstedt im Verein mit den tüch-
tigsten üebersetzern, die er auffordert, sich unter Gervinus Fahne zu schaaren,
recht bald in's Werk zu setzen, um so das fünf hundertjährige Geburtsfest
Shakspeare's im Jahre l8r»4 mit einem würdigen Geschenk zu begrüssen.
Von diesem hofft er die wesentlichste Anregung für unsre dramatische Ori-
ginalpoesie und erbten Durchbruch und Aufsc hwung zu neuem und wahrem
jLeben, und schlägt, ein solches Unternehmen zu fördern, einen Shakspeare-
Verein und ein Shakspeare-Jahrbuch vor, welche einen mehr poetischen
Zweck zu verfolgen haben würden als die Londoner Shakspeare-Society,
bemüht für Auffindung und Wiederzugänglichmachung alter Shakspeare-
Quellen und ihn erläuternder Schriften. — In Bezug auf seinen zweiten
Plan, eine Bearbeitung Shakspeare's für die deutsche Bühne, bespricht er
zunächst frühere Bearbeiter, von denen Schröder den Dichter originalisirt,
Schiller ihn idealisirt, Goethe realisirt, Schlegel-Tiek ihn nationalisirt haben.
Er soll nun universalisirt werden. Wie das geschehen und dem bei den
jetzigen Shakspeare -Aufführungen oft noch fühlbaren Mangel abgeholfen
werden könne, darüber gibt der kenntnissreiche Theaterintendant (19, 20)
die praktischsten Winke und schliesst daran eine eigene Bearbeitung des
Macbeth und des Sturmes „nicht als Muster, sondern als einseitige Vor-
läufer, mundrecht, bühnengei-echt, praktisch." Seite 146 — 165 enthalten
Heurtheilungen iinc] kurze Anzeigen. 175
höchst interessante Noten mit dramaturgischen Winken, auch eine Kritik
von Schillers Behandlung des Dramas, 1G5 — 254 folgt der Sturm, der in
ähnlicher ^Veise für die Bühne zurecht gemacht ist und durch eine bis 27G
gehende Geschichte seiner Aufführung und Inscenesetzun'g abgeschlossen
wird.
Das zweite Werk ist das auch nach Gervinus noch höchst verdiensthche
„Shakspeare, seine Zeit und seine Werke; Vorlesungen von
F. Kreyssig. Berlin, Nicolai, 1858. Erster Band, von dem Stahr enthu-
siastisch sagt, es sei ein würdiges Gegengeschenk, das die deutsche Literatur
der englischen für J.,ewes' vortreffliches Werk über Goethe entgegenbringe.
Diese Vorlesungen rechnen darauf (VI), der Verurtheilung als Dilettanten-
arbeit auch vor dem Forum billigdeiikender Fachmänner wohl zu entgehen
— sie bekennen aber offen, dass sie vorzugsweise an strebsame und gebildete
Dilettanten (im guten Sinne) sich wenden, an Männer und Frauen, welche
ihrem Shakspeare, ohne die Müsse und die Hülfsmiltel zu langjährigen,
strengen Studien zu besitzen, doch einen nachhaltigem Genuss verdanken
möchten, als die unvermittelte und unvorbereitete Leetüre ihn gewähren
kann. Wie das hesin-ochene Dingelstedt'sche Werk will Kreyssig das ethische,
echt humane Lebenselement der Shakspeareschen Dichtungen flüssig machen
für die Befruchtung unsers nationalen Bewusstseins, Shakspeare in möglichst
ausgedehnte Kreise einführen als einen Anreger zu männlichem Denken unj
Wollen, zu klarer und scharfer Beobachtung der wirklichen Welt nicht we.
niger als zu einem reinen und hohen Cultus des Erhabenen und Schönen.
Er beginnt zu dem Ende in seiner ersten Vorlesung mit einem lebensvollen
Bilde von Shakspeares Zeitalter und Volk, denn Shakspeare ist (23) keine
Ausnahme von der Kegel, dass man Feigen nicht lesen kann von den Dornen,
noch Trauben von den Disteln. Wie jedes echte Genie war er erst ein
guter, vollbürtiger Sohn seiner Zeit, ehe ihm, weniger vielleicht der Ge-
danke und Plan, als die Kraft und die Nothwendigkeit kam, sich kühnen
Schwunges über sie und über alle Zeit zu erheben. Seine Kunst steht im
iimigsten Zusammenhange mit dem Leben und der Bildmig seiner Epoche.
Er war kein Revolutionär auf dem Gebiete des Dramas, sondern vielmehr
ein Reformator und genialer Schöpfer. Dies deutlicher zu zeigen, gibt
Kreyssig in der zweiten Vorlesung eine kurze Geschichte des mittelalter-
lichen Dramas, seiner Entwicklung in England bis auf Shakspeare und einen
Ueberblick über die englische Bühne zu seiner Zeit, ihre sociale Stellung,
Technik, Publicum und Hülfsmittel, wesentlich nach Thomas Nash's von
Sillig (in Shakspeare, sein Leben, seine Werke und seine Zeit. Leipzig 1855)
benutzten Werke: Shakspeare and his times. Die dritte Vorlesung stellt
die dürftigen Nachrichten von Shakspeare's Biographie zusammen, die
vierte behau'Ielt Wiedererweckung, Ausbreitung und Wirkungen des Shak-
speare-Studinms und stellt die Grundzüge zur Würdigung der künstlerischen
und sittlichen Bedeutung des Dichters auf, den Kreyssig (S. 127) „als den
sittlichsten, männlichsten und geistig gesundesten Dichter verehrt, wie er
als der phantasiereichste, anziehendste, lieblichste und erschütterndste längst
von Beurtheilern und Lesern aller Bildungsstufen und Farben aner-
kannt und genossen wird." Als P^inleitung zu den nun folgenden histn.
Tischen Stücken (denn Kreyssig hat nicht die doch nur unsichre chrono-
logische Ordnung belölgt, sondern nach imiern Gründen die verschiedenen
Stücke zusammengestellt) gibt er ein Gesammtbild des in ihnen dargestellten
Zeitraums und handelt von den Quellen, besonders Holinshed und Sackvillcs
Mirror, denen Skaks))eare folüte, ohne wie Schiller handelnde Hauptcharaktere
zu erfinden; zum Schluss dieses Abschnitts weist er mit Recht die Ansicht
zurück, Shakspeare sei kein Engländer gewesen, wie Christus kein Jude, er
arbeitete und dachte vielmehr für sein Vaterland. Die sechste bis zwölfte
Vorlesung behandeln nun in präciser und dabei kerniger Sprache die sieben
grossen englischen historischen Dramen, mit Richard IL beginnend und ab-
176 B eurth (Mlnngen uiul kurze Anzeigen.
schliessenc] mit dem in niehrfaeher Beziehung den andern fern liegend-cn
König Joliann. welches Stück besonders geeignet ist, Shakspeares histo-
rischen Standpui kt, sowie die Methode seiner Schöpfungen auf diesem Ge-
biete zu erkennen und resumirend zusammenzufassen AVir wolU'n nicht
weiter eingehen in das mit 492 Seiten abgeschlossene Buch, das entschieden
zu dem Bedeutendsten zu rechnen ist, was die Shakspeare-Literatur aufzu-
weisen hat, und wir wollen hoffen, dass die Nicolai'sche Verlagsbuchhand-
lung, welche durch die Veröffentlichung von Kaulbach's herrlicher Shak-
speare-Galerie und Carrieres Conmientar dazu sich schon so grosses Verdienst
um alle Freunde des grossen Dichtess erworben hat, recht bald die zwei
übrigen Bände von Kreyssig's geistreichem Werke nachfolgen lassen werde.
Wir kommen jetzt drittens zu der Besprechung eines ersten Bandes
von einem Werke, dessen Autor dem Publicum als Dichter schon länger
bekannt ist, der aber bisher wie ein flüchtiger Schmetterling an den duftigsten
Blüthen des Orients seine Nahrung gesogen hatte, wir meinen — Shak-
speare's Zeitgenossen und ihre Werke. In Charakteristiken
und Ueberset Zungen von Fr. Bodenstedt. (Erster Band. John
Webster. Berlin 1858. 8. Oberhofbuchdruckerei.) Das Buch ist bestimmt,
durch vergleichende Charakteristiken der hervorragendsten Zeitgenossen
Shakspeare's und Uebertragungen ihrei*^ eigenthümlichsten dramatischen
Schöpfungen neue Beiträge zur Kennt niss der altenglischen Bühne zu liefern,
und in den vier ersten Bänden ausschliesslich Uebersetzunpen und über-
sichtliche Auszüge der vorzüglichsten Dramen, nebst Nachrichten über das
Leben ihrer Dichter zu bringen, während es dem fünften Bande vorbehalten
l)Ieibt, den Zusammenhang dieser Dichter mit Shakspeare und seinen Vor-
läuferir nachzuweisen, endlich in grossen Zügen ein anschauliches Bild der
altenglischen Bühne zu geben, mit Hinblick auf die Ursachen ihres Auf-
schwungs und Verfalls. Die Stücke sind je nach ihrem Werthe mehr oder
weniger vollständig gegeben, am Ausfidirlichsten aber ein Ueberblick über
das Scenische. Mit Ausnahme des Faust ven Marlowe ist keins der ge-
gebenen Stucke bisher vollständig übertragen, da Tiek, Baudissin, Kanne-
giesser, Bülow mit wenigen Ausnahmen grade die besten Dramen weniger
beachtet haben ; viel verdankt Bodenstedt bei seiner Auswahl dem Urtheil
des in altenglischer wie in spanischer Dramatik überaus bewanderten-Schack ;
dass er übrigens sein ^^'erk grade mit Webster eröffiiet, hat seinen Grund
darin, dass dieser Mann am wenigsten in Deutschland bekannt ist und es
doch zu sein verdient. In der Einleitung gibt Bodenstedt über Webster,
dessen Werke er nach der neuesten Ausgabe von Dyce zu Grunde legt, die
wenigen, bei ihm wie bei den meisten Zeitgenossen überaus spärlich aus-
fallenden biographischen Notizen; es folgt dann nach genauer Angabe der
älteren Ausgaben und anderweitiger Behandlung desselben Sujets, nach drei
poetischen zum Lobe des Stückes an den Autor gerichteten gleichzeitigen
Zuschriften und \\'ebsters Zueignung seines Dramas an den Baron Berkele\
S. 27 — 200 die Herzogin von Amalfi in vollständiger, theils poetischer,
theils prosaischer Uebersetzung, die sich bis auf einige (absichtlich?) un-
vollzählige Quinare ganz gut liest und den gewandten Uebersetzer, als den
sich Bodenstedt schon so vielfich bethätigt hat, wieder von Neuem be-
kunde-t.. ^\'eshalb Bodenstedt grade dieses Stück gewählt hat, erklärt er
S. 8 der Einleitung, avo er bemerkt, Appius und Virginia sei unstreitig die
reinste und edelste Schöpfung Webster s, und er würde dieses Werk statt
der Herzogin, die sich in Reinheit des Stils und Einfachheit der Compo-
.sition damit nicht messen kann, nicht gewählt haben, wenn es sich hier
darum gehandelt hätte, dem regelrechtesten und nicht vielmehr dem eigen-
thümlichsten Stücke des Dichters den Vorzug zu geben. Nach 22 exege-
tischen, meist auf Parallelstellen hinweisenden Noten folgt S. 210 eine aus-
führliche Inhaltsangabe nebst längeren Stücken aus .,Vitti)ria Accorombona,
der weisse Teufel," welche wieder durch bibliogra'diische Notizen ('ingeleitet
vu !■ 1 li e 1 1 II li iii' 11 11 n(
i kiii/c Anzcluen. 177
wird; wir erfalutui, diiss das Siück von den lueisten Literarhistorikern ausser
Büchner mit Unrecht herabgesetzt ist, und in der That bcstiiti<ien die gut
gewählten Auszüge des Autors Urtheil. 2i!5 — 285 f'olgl eine viel abgerisse-
nere Uebcrsicht des unbedeutenderen Stückes: Des Teufels Recht-handel,
287 — 322 eine mit zerstreuten Uebertragungen ausgestattete Inhaltsangabe
von Appius und Virginia, „das nicht nur zu den besten Dramen Webster's,
sondern überhaupt zu den besten Dramen der englischen Bühne gehört"
(S. 290), und dessen verhältnissmüssig geringere Behandlung wir daher nur
iiedanern können. 323 folgt Sir" Thomas Wyatt, ein nur unvollständig er-
haltenes Stück, das aber zu Webster's gelungensten Schöpfungen gehört;
endlich Westward IIo. eine ideale Koniödie, die es mit der Wahrseheinlicli-
keit nicht so genau iiiimiit und der Phantasie des Zuschauers weiten Spiel-
raum lässt, und Nortlnvard Ho (S. 3G1), das wie jenes fünfactig und in
Prosa, derselben niedern Sphäre angehört, aber geringern poetischen \\'ertli
hat. Den Schluss machen drei Stücke, welche Webster in Gemeinschaft
mit Andern schrieb: S. 367 Eine Kur für einen Hahnrei, von Webster und
W. Rowley, ein Stück, dem es nicht an Witz und Laune fehlt. Der Unzu-
friedene, von Webster und John Marston (S. 37 7—384) und endlich Das
thrazische Wunder, das aber höchst wahrcheinlich nur in Folge eines ISliss-
verständnisses John Webster zugeschrieben ist, da William VVebster 1617
den Ruwlev'schen Lustspielstoff poetisch behandelte. Das an lyrischen
Schönheiten reiche, als Drama nur unbedeutende Werk mit höchst mangel-
hafter Charakteristik und mehr epischer als dramatischer Behandlung des
Stoffs schliesst die Gesammtausgabe von Webster's Werken und den ersten
interessanten Band von Bodenstedt's Arbeit. r\ «^
Grammaires proveneales de Hugiies Faidit et de Raymond
Vidal de Besaudun (Xllle siecle). Deuxieme edition revue,
corrigee et considerablement aiigmentee par F. (niessard.
Paris. Frank. 1858.
Es ist ein auffallendes Factum, dass, während unsre deutschen Buch-
händler hier wie in Leipzig einen wahren Horror vor der Verlegung eines
provencalischen Werkes haben, da dergleichen Sachen nicht gehen und die
Kosten nicht heraus bringen, während sie glauben, schon als Märtyrer der
AVissenschaft aufzutreten, wenn sie ein derartiges Werk, ohne Hoüorar zu
zahlen, nur drucken — es ist auffallend, sage ich, dass daneben Guessard
.-eine Vorrede mit folgenden Worten des Dankes für seinen Verleger
schliessen musste, der sein Werk in Braunschweig bei Westermann drucken
Hess: II faut encore, pour m'acquitter entieiement (dies bezieht sich auf einige
Worte über Galvani, der die (Grammatiken nach Guessard edirte, ohne ihn
zu erwähnen, und über den verstorbenen Minister Fortoul, dessen Andenken
dieses Bucii gewidmet ist), que j'adresse des remerciments ä mon courageu.x
editeur. Ceux des libraires mes compatriotes ä qui jai demande timidement
s'ils voulaieut bien consenür k se charger de cette publication, se sont em-
presses de me repondre non. Le premier editeur allemand auquel jai eu
recours m'a repondu ja wohl avec une e.xtreme courtoisie. Gräces lui en
soient rendues, ä lui et ä la docte Allemagn.e, qui etudie plus que nous et
parfois mieux que nous les origines de notre langue et de notre litterature.
Aehnliche Gefühle haben den .Autor bewogen, die im Jahre 1840 im ersten
Bande der Bibliotheque de l'ecole des chartes nach dem unvollständigen
Pariser Manusc.ip'.e (nlirtcn Grammatiken jetzt nach genauen Collationen
in den italienischen BibHotheken vi-rbesseit und dtn-ch ein Reimlexikon ver-
mehrt herauszugeben, nach einer sehr mühsamen Arbeit des vielfältigsten
CoUationirens, von dem man auch gewöhnlich in Frankreich behauptet, que
Aicliiv r. II. S|.rii-li(U. XXIII. 12
178 Hpiirt he ilun jj;eii und kurze Anzeigen.
e'est au.x Allemancis que revient de droit cette täche penible et fastidieuse.
Die neuen Forschungen haben in Verbindung mit einer Stelle der erst nach
1840 edirten Leys d'arnor die früher von Guessard ausgesprocliene Verniuthunu;,
dass Raymond Vidal de Besäudun, der als Lyriker und besonders als Autor
von Novellen bekannte Troubadour, der Verfasser des zweiten Tractates sei,
zur Gewissheit erhoben. Die beiden Grammatiken vorangehende ausfuhrliche
Vorrede ist im Wesentlichen dieselbe als die der früheren Ausgabe, nur mit
Auslassung einzelner unwesentlicher Punkte und Hinzufügung neuer wichtiger
Notizen; sie legt zuerst die leitenden Grundsätze des Verfassers vom Donat
proensal dar und entwickelt die daraus abzuleitenden grammatischen Regeln
für die verschiedenen Hauptbestandtheile der proven^alischen Sprache; auf
S. XLIII geht er auf die Rasos de trobar des Vidal über, der nicht bloss
Grammatiken ist wie Faidit , sondern Literator und Kritiker, und seine
grammatischen Lehren mit höheren Vorschriften über Composition und Stil
und mit Betrachtungen üi^er den \\'erth der langue lemosine untermischt.
Sehr wichtig ist besonders die Stelle (S. 71): La parladura francesca val
mais et es plus avinenz a far i-omanz et pasturellas, mas cella de Lemosin
val mais per far vers et cansons et serventes. Nach einer Nachweisung der
benutzten Manuscripte (LVII — LXIV) folgt S. 2 — 39 der Donatz proensals,
links der provenyalische Text, rechts die lateinische Uebersetzung, unten
wenige, meist kritische Noten; 40 — 65 der zum Donat gehörige Abschnitt
de las rimas, ein höchst interessantes Reimlexikon, welches den Hauptwerth
der neuen Ausgabe bildet; endlich 69 — 86 der provencjalische Text der
Rasos de trobar mit zahlreichen Nachweisungen der Stellen in den Trouba-
dours, wo sich die vielfach citirten Verse hnden. Möge der Herausgeber
nicht durch seine Betheiligung an der Publication der Anciens poetes de la
France verhindert werden, seine weiteren Arbeiten auf dem Gebiete des
Proven9alischen zu veröllentlichen, und Ihm ein gleich freundliches Jawohl
in diesem Falle zugerufen werden. ,-. ^
Flowertj of poetry. A selection of english poems chiefly modern by
Dr. M. Luedecking. Wiesbaden, Kreidel& Wiedner 1857.
Der Herausgeber führt uns in chronologischer Folge eine grosse Anzahl
Dichtei- und Dichterinnen vor. Auch von weniger bekannten Dichtern gibt
er eine oder einige Proben ihres Geistes. In Bezug auf den Inhalt ist viel
Mannichfaltigkeit. Balladen, wie „John Barleycorn," Nationallieder, „Rule
Britannia," the mariners of England, kraftig- fröhliche Seemannslieder, wie
das von Allan Cunningham mit dem englischen Haupt-Gedanken „The world
of waters is our home — And merry men are we," sanft melancholische
Getühle und Melodien von Moore und Gedichte mit religiösem Schwünge
von Mrs. F. Hemans, sind geeignet, die Seele eines empfänglichen Schü-
lers mannichfach anzuregen. Die englische Poesie oder die englische
Literatur überhaupt hat, wie die der beiden grossen Staaten des Alterthums
etwas sehr Patriotisches. Dem Jünglinge oder schon dem Knaben wird dies
durch lyrische Gedichte iim deutlichsten, am fühlbarsten.
Die vom Herausgeber gewählten Gedichte sind aber wegen ihrer Rein-
heit ebenso geeignet, auch gereifteren Mädchen eine gesunde Nahrung zu
geben. Nur ein einziges Gedicht oder die im Gedichte ausgesprochene An-
sicht eines Dichters klingt mir wie ein Misston ih die schöne Harmonie.
Davon weiter unten.
Die chronologische Zusammenstellung bringt aber bei einem Schulbuche,
wie vorliegendes, einiges Unangenehme oder etwas Störendes mit sich. Wenn
auch die poetischen Talente , welche in verschiedenen Zeiten aufstehen, mit
der Rntwikeluug und Fortbildung der Jahrhunderte Im Allgemeinen höhere
Hi'iirt li i'i 1 u 11 jn' it 1111(1 kurze Anzeigen. 17tf
Autgalien haben liauptsae.hlieh in Bezug auf die Erforschung der Seele, mo
musseil doch die verschiedenen Aufgaben, welche die Einzelneu sich wählen,
sehr verschieden behandelt werden. Der eine Dichter unifasst mehr, was»
die höhern Stände bewegt, ein anderer ergründet das Gemiith des Volkes.
Der letztere muss natürlich, weil er wieder zu den unteren Ständen sprechen
will, einfacher sein in seiner Darstellung und leichter verständlich. Ein
Dichter nun, welcher in einer früheren Zeit die Tiefe des Menschen auf dein
Tlirnne, im Felde, im Cahinet, etc. ergründet hatte, muss in einer solchen
(Tedicht-Sanniilung mit seinen Schöpfungen früher aufgestellt werden, als
<ler spätere Dichter, welcher nur ein kleines Theilchen des Menschen zn
seiner poetischen Thätigkeit sich ausgewählt und weil er etwa hauptsächlich
das Dorfleiien schilderte, einer deutlicheren Darstellung sich beHeissigon
niusste. weil er von den Dörflern wollte verstanden werden. Das Schwerere
muss also der Chronologie wegen früher in diesem Falle mitgetheilt werden,
als das Leichtere, für Schüler Verständlichere, was in einer späteren Zeit
erst geschrieben wurde.
Unter solche leicht verständliche Gedichte gehört das irisch- komische
(lediclit S. 1 83 „die alte Frau und ihre Eier''. Eine Bäuerin , welche wahr-
scheinlich an kalten Tagen ein Schlückchen nahm, schlief nach einem Jahr-
markt auf der Chaussee ein. Ein Spas.svogel schneidet ihr ein gutes Stück
von ihrem Kleide ab. Der Frost weckt sie auf In dieser beschnittenen
Ausgabe ihres Kleides kommt sie sich gar nicht mehr als dieselbe vor. Sie
entdeckt aber mit ihrem Scharfsinne ein Mittel, zu ergründen, ob sie wirk-
lich dieselbe Fer.-on ist. Sie hat ein Hündchen welches knurrt, wenn eine
fremde Person kommt, aber schmeichelt, wenn die Besitzerin selbst kommt.
In ihrem Eifer Aisst sie das Hümlchen unsanft an, so dass es knurrt. „Nun
sehe ich, dass ich es nicht bin," d. h. die Beschnittene. Ebenso gehört in die
für Knaben verständliche Ahtheilung der Gedichte „König Johann und der
Abt von Canterbury''. Die Pfiffigkeit eines Knechtes, weh.'her dem Abt aus
seinen Nöthen hilft, spielt darin die Hauptrolle. Unser Volksdichter Bürger hat
die Hauptsache beibehalten und nur anstatt Canterbury St. Gallen gesetzt.
Aber wenige Seiten weiter unten werden der chronologischen Folge wegen
zwei Stellen aus Shakspeare eingereiht.
Die erste dieser Stellen ist eine Anrede an den Schlaf. Der Ivnabe,
welcher bei der Pfiffigkeit des bischöflichen Knechtes ganz Ohr war. wird das
^hakspearische Gedicht sehr langweilig finden und am Ende eher dem Schlafe
in die Arme sinken, als dass er mit dem Dichter darüber nachdenkt, warum
der süsse Schlaf die schwellenden Polster der Vornehmen vermeidet und da-
für in die niedrigen oft, nicht sehr sauberen Hütten der Dürftigkeit sich
desto mehr einzunisten den Eigensinn hat. Um Shakspeare bei seinem
Forschen des menschlichen Geinüthes folgen zu können, muss der Leser
selbst schon mehr beobachtet haben. Der Leser oder Hörer von Shakspeare
muss wissen, wie manche Vornehme geistig und leiblich leben, um des
natürlichen Geschenkes des Schlafes verlustig zu gehen. Einem Knaben
kann aber der Lehrer In der Schulstube die Gründe nicht erklären. Ich
vermuthe nämlich aus dem Inhalt mehrerer Gedichte, dass diese Sammlung
schon Knaben von dreizehn Jahren in die Hände gegeben werden soll.
Was wir von den Betrachtungen über den Schlaf sagten, gilt auch von
einem andern aus Shakspeare gewählten Stücke, Polonius ertheilt seinem
nach Frankreich reisenden Sohne Verhaltungsmassregeln, welche aber für
ein schon reiferes AI 'er berechnet sind. Eine gewisse vornehme Zurück-
haltung, welche der abreisende .Sohn sieh als Norm vorhalten soll in dem
Zusanmientrefi'en mit Menschen, wird von dem gemüthlichen Knaben nicht
verstanden und wenn sie verstanden werden könnten, würde sie verabscheut
werden. Denn bei einem ki'äftigen Knaben will das volle Gemüth rück-
sichtslos durchbrechen in Liebe und Ilass.
Der abreisende ."^olln des Polonius (etwa sechsundzwanzfg Jahre ali)
12*
ISO H(Miit lici luii tien iiiui kur/i' Anzeioen.
wiirJe sich an der Pfiffigkeit des bischöfliciien Knechtes nicht so sehr ergötzt
haben als ein dreizehnjähriger Knabe. Und der Knabe wird an den väter-
lichen Ermahnungen des Folonius kein Interresse finden, weil er sie nicht
versteht. Die nahe an einander stehenden Gedichte sind also nicht für die-
selben Leser, nicht für dieselben Jahre geeignet.
Eben so verschieden ist z. ß. „der wandernde Knabe" ^Vhite's von
Byron's „Childe HaroMs Abschied von England". Der wandernde Knabe,
der seine Eltern verloren, von Allen, denen er begegnet, hart beh;tndelt
wird, dem, mitten im Winter, der harte Hüttenbewohner die Thüre ver-
schliefst, und der, weil er nirgends Mitleid ßndet, sich nach dem Grabe
sehnt, wo seine Eltern liegen, dieser verlassene, wandernde Knabe ist sicher,
dass er die Sympathie eines Lesers von dreizehn Jahren erregt und sehr
lebhaft erregt.
Auf der folgenden Seite lesen wir Byron's AVorte „Mit dir, meine
Barke, will schnell uih gehen durch die schäumende Fluth, unbekümmert,
zu welchem Lande du mich bringst , wenn es nur nicht zur Heimath ist "
Die Liebe, die Anhänglichkeit an den heimischen Boden, wo wir „die erste
Lust, den ersten Schmerz empfanden," ist Allen angeboren und es ist höchst
aulFallind und schwer zu hegreifen, wie ein Byron mit solchem Hasse von
seinem Vaterlan<le sprechen kann. Einem Schüler, welcher an dem Geschick
des_ „wandernden Knaben" der keine Heimath hat, aber eine sucht, den
innigsten Antheil nimmt, ist die Stimmung des stolzen, sein Vaterland ver-
Hcliteiiden oder hassenden Britten g,mz unverständlich. Was hilft das Ueber-
se'.zen (1er Wörter, wenn der Sinn nicht erfasst wird! Ich bin überhaupt
der Ansicht, dass niciits dem Schüler geboten werden darf, wozu er nicht
reif ist und was er nicht nach allen Seiten hin durchdringen oder durcii-
tühlen kann. Ich finde bei zu schweren Aufgaben der Leetüre dieselbe
Ungerechtigkeit ausgeübt, deren man sich so oft schuldig macht, wenn man
etwa serhzi-hnjährigen Schillern Aufgaben zu deutschen Aufsätzen gibt, welche,
wenn sie gut behandelt v,-erden sollen, die Erfthrung und den erweiterten
geistigen Kreis eines Fünfnndzwanzigjährigen erfordern.
Ein Jüngling von siebzehn oder achtzehn Jahren muss mit der engli-
schen Geschichte schon vertrauter sein, er muss die Vorzüge, aber auch die
Schattenseiten dieser Inselbewohner kennen gelernt haben. Einem solchen
wird es begreifliih werden, wie Byron, fast identisch mit seinem Helden
Childe Harold, ein Vaterland, dessen Bürger zu sein Viele für ein Gliick
halten würden, hassen konnte, weil seine Landsleute neben vielen guten
Eigensi'haften auch grosse Neigung besitzen, bei grösseren Unternehmungen,
wie in den letzten Napoleonischen Kriegen, mehr ihren materiellen Vortheil.
als die Humanität, die Menschenrechte oder das rein Menschliche zu berück-
siolitigen. Ausserdem belieibergen die englischen Gemüther, was dem frei-
smnigen Byron besonders widerlich sein musste, ein ziemlich grosses Quan-
tum von Pedanrismus, namentlich in religiösen Dingen. Der Buchstabe gilt ihnen
mehr, als der Geist, eine Beobachtung, die man eben so in der Handhabung
der engiisciien Justiz nur zu oft machen kann. Seiner Ansichten wegen war
Byron von pedantischen Landsleuten vielfach angefeindet worden. In Bezug
auf seine Person , seine Herzensneigungen hatte unser Dichter ebenfalls
Bitteres in seinem Vaterlande erlebt. Tn seiner ersten Liebe war er spröde
zurückgewiesen worden. Die zweite Geliebte wurde zwar ehelich mit ihm
verbunden , aber ein rechter ICinklang der Seelen wollte sich nicht zeigen.
Dazu kam noch eine bitterböse Sieben von Scliwiegermutter.
Dergleichen Gründe der Abneigung gegen sein Vaterland, von der
Handlungsweise des Volkes, von der engherzigen Beurtheilung in Religions-
sachen und zuletzt von persönlichen Begegnissen hergenommen, können wohl
einem achtzehnjährigen Jünglinge deutlich gemacht werd;>n; ein Knab(! von
dreizehn Jahren wird aber die Gründe nicht verstehn, und also auch das
Gedicht selbst nicht. Die beiden Gedichte „der wandernde Knabe" von
B«iirt lieilungeu und kurze Anzeigen. 181
White und „der Abschied an England" stehen in der Sanindung unmittelbar
neben einander, aber in Bezug auf das Verständniss derselben liegt in der
Seele des Sohiders ein Unterschied von wenigsten vier Jaliren.
Indessen wird dieses durch die Beachtung der Chronologie herbei-
geführte Veriiältnlss, dass sehr kindliche und sehr männliche Gedanken
neben einander stehen, dem Gebrauche des Buches keinen Eintrag tliun.
Der Lehrer wird dem Bedürfnisse gemäss für jüngere Schüler die leich-
teren Gedichte auslesen und die schwereren, grosserer Reife des Urtheils
zum Verständniss erheischenden, den reiferen Schülern aufheben.
Der IJerausgeber hat den Gedichten das Geburts- und Sterbejahr der
Dichter, soweit solches bekannt, beigefügt. Das scheint mir nii'ht zweck-
mässig, weil es zu mager ist. Wäre es nicht zweckdienlicher gewesen, wenn
der Herausgeber noch einige Seiten dazu anuewendet hätte, eine kurze
Biographie oder einige Notizen aus dem Leben oder von den ^^ erken (\er
Dichter zu geben? P^ine solche gelegentliihe Angabe nach dem Vorausgang
einiger Gedichte bleibt besser im Gedächtnisse, als wenn in einer besonders
angeordneten Stunde die Literaturgeschichte im Zusammenliange gelehrt wird.
Die Literaturgeschichte hat überhaupt für Schüler, die noch nicht das sieb-
zehnte Jahr eri-eicht haben , und die niciit leicht dahin geführt werden
können, den grossen Entwickelungsgang in den fortschreitenden Jahrhunderten
zu verfolgen, etwas Langweiliges. Ein Grund dieser Langweiligkeit für
Knaben liegt mit darin, dass während ein Dichterleben sehr reich sein kann
an Freuden und Genuss, aber ebenso auch gequält durch herben Schmerz
und nicht bloss wegen der eigenen Person, dass doch in Bezug auf das
äussere Leben oft sehr wenig Interessantes angegeben werden kann. Des-
wegen ist es wohl zweckmässig, dem Schüler, wenn er einige Gedichte gelesen
und durch die ausgesprochenen Gedanken , Ansicliten und Gefühle etwas
mit dt>m Dichter btkannt geworden ist, nun demselben einige Notizen über
des Dichters Leben und \\ irken mitzutheilen. Diese Mittheilung würde am
zweckmässigsten nach dem letzten Gedichte gegeben. Denn je mehr wir die
Ansichten einer Person kennen gelernt haben , desto mehr interessiren wir
uns für ihre Lebensverhältnisse. (Der Herausgeber hat nämlich das Geburts-
und Sterbejahr immer nach dem ersten Gedichte angegeben.) Werden in
<ien unteren Classen auf diese Weise einzelne Notizen über Dichter oder
Schriltsteller überhaupt mitgetheilt und dem Gedäciitnisse einverleiijt, so ist
es dann in der obersten Classe ein Leichtes, eine Uebersicht über die
Entwickelung der ganzen Literatur zu gewin*nen.
Ich weiss nicht, ob Andere in dieser Hinsicht mit mir übereinstimmen,
vielleicht ist es nur eine Liebhaberei von mir, literarische Notizen den gele-
senen Stücken beizufügen, wie ich es in einem Schulbüchelchen (Anecdotes,
Jena, Frommann 57) gethan habe. In demselben hatte ich noch die Neben-
absicht, durch die deutsch beigefügten Notizen im Uebersetzen ins Eng-
lisc-he zu üben. — Wenn Andere auch anders urtheilen. eins wird sich nicht
abstreiten lassen , dass Knaben und angehende Jünglinge so auf eine an-
genehme, weniger auf ermüdende Weise zu einiger Kenntiss di*r fremden
Literatur geführt werden können.
Das Gedicht, von welchem wir oben sagten, es sei wie ein Misston in
der allgemeinen Harmonie, ist von Cowper, Seite 3.3. Die Ueberschrift
..Mitleid füi' die armen Africaner" ist von dem, wie mir scheint, ziu' Unzeit
spasshaften Dichter fast spöttisch angewenrlet. „Ich bemitleide sie liöchlich,
aber doidi muss ich scliweigen: demi was sollten wir thun ohne Zucker und
Rum? Besonders ohne Zucker, der so nöthig uns ist. Wie sollten wir missen
den Nachtisch, den Kaffe und Thee!"
„Wenn andere Nationen," singt der erhabene Dichter in eimr anderen
Strophe „wenn Andere Reichthümer sich sammeln durch den Handel mit
Schwarzen, warum sollten denn wir nicht unser Theilchen uns nehmen?"
Dieses Gedicht ist nacli meiner Ansicht aus einer solchen Sannnltmg
1S2 B(Mi rtliel! niig(!n iiml kurz(> Anz(>i gen.
Hiis zwei GriiiiriiMi zu verbannen, er.sten.s, weil es einen Handel vertheiditrf,
welt'her jeden nnver<iorbenen Menschen mit Ingrimm erfüllt, und zweiten?;,
M-eil der Dichter (hiiiiber noch scherzen kann, dass die Menschenrechte der
Africaner mit Füssen getreten werden. Man weiss, dass moralische Bedenk-
lichkeiten auf eine spasshafte ."Weise bei Seite gelegt, auf muntere, mitunter
ubermiithige Knaben oder Jünglinge eine sehr üble Wirkung äussern. Zu-
erst werden solche Ansichten von ihnen nur bei Scherzen angewendet, aber
unvermerkt gehen sie ins Leben über; für Knaben ist namentlich der im
Gedichte gebrauchte Vergleich besonders schädlich. Der nicht edele Dichter
sagt : Es waren einmal Knaben, welche in einem Obstgarten stellen wollten,
Sie forderten einen Kameraden auf, bei der Unternehnmng sie zu begleiten
und Theil am Raube zu nehmen. Dieser, gewissenhafter, als die Ein-
ladenden, stellt jenen vor, dass der Garten einem armen Manne gehöre und
dass jener die Früciile für seine Familie sehr nothwendig brauche. „AVenn
du nicht mitgehen willst, so thun wir es allein." Der Gewissenhaftere denkt,
einmal wird doch gestohlen, also ist es am besten, du ninmist auch einen
Theil. Die stehlenden Knaben werden mit den anderen Staaten, welche
Sklavenhandel treiben, vergliclien , der gewissenhaftere, aber doch nach-
gebende Kamerad, mit den Engländern. Passt ein solches Gedicht, mit einer
solchen Moral für SchiUer?
Aber nicht hlos der Schulmann muss mit der Wahl eines solchen Ge-
dichtes unzufrieden sein, ein Engländer aus unseren Tagen wird es ebenso
sein, die Grundsätze, welche Cowper predigt, sind ja nach den napoleonischen
Kriegen geradezu verpönt worden. Ob nur Humanität die Inselbewohner
bewogen, den Sklavenhandel zu verbieten, oder ob das Ahnen einer Gefahr
mit dazu gewirkt hat, wollen wir hier nicht untersuchen, aber verboten ist
der Sklavenhandel und zwar hauptsächlich durch die Engländer.
Wenn die spanische Regierung sagt, der Sklavenhandel könne nicht
aufgegeben werden , weil er dem Staate ein gewisses Einkommen sichere,
so ist ein Land und ein Volk zu bedauern , das durch politische und kirch-
liche Verhältnisse gehemmt wird, durch regere Benutzung einer ergiebigen
Natur auf andere Weise Wohlhabenheit zu erzeugen, und die Finanzminister
mögen diess mit ihrem Gewissen abmachen, immer aber bleibt der Sklaven-
handel ein schreckliches, an der Menschheit geübtes Unrecht. Daher meine
Meinung, dass bei einer zweiten Auflage das Gedicht über den entschuldigten
Sklaverihaildel zu vernichten sei! Besser wäre es, die Gesinnungen eines
Ministers, wie Canning zu schildern, als die Gefühle und Ansichten eines
solchen Dichters.
Bei der schönen Schilderung unseres Rheinthaies sagt Byron : „Und Hügel
reich mit blühenden Bäumen, und Felder versprechend Korn und Wein,
zerstreute Städte die Felder begrenzend, deren Mauern fernhin erglänzen
gewähren ein Schauspiel, das mit doppelter Freude ich sähe, wärest du bei
mir." Der Herausgeber gibt in einer Note an, die vertraute Seele, deren
Gegenwart dem Dichter den Genuss an dem schönen Rheinthale verdoppeln
würde, sei dessen Tochter Ada. Gewinnt diese Behauptung Wahrscheinlich-
keit, wenn wir erwägen, was das sich sehnende Herz des Dichters verlangt?
Er verlangt nach einer Seele, welche ihm gleichsteht, welche Erfahrung ger,
macht hat, wie er selber, welche über den Werth des Lebens fest-
erworbene Ansichten hat, welche oft unzufrieden mit den Menschen, zu einea
höheren Vvelt sich erhebt und in der Schöpfung den Schöpfer ahnet, kurz,
der Dichter selint sich nach einer Seele , welche entwickelt ist und als eine
selbstbewusste Welt ihm entgegentritt. Kann diess die Tochter sein? Das
Verhältniss des Vaters zur Tochter bleibt immer das des Beschützers zur
Beschützten. Der Vater würde wohl dazu beitragen, dem edleren (iefühle
der Tochter Nahrung zu geben. Er würde auch Freude empfinden , wenn
er die Seele der Tochter sich heben sähe durch Eindrücke, welche auch
auf ihn mächtig gewirkt haben. Aber gleichsam in Eins zusammenfliessen,
wie es 7;wisclKn zwei vertrauten Seelen , welche zusammen jung gewesen,
Beul iheil ungen iiiul kuizr An zeij^f ii. 183
möglich und, gewölinlkh ist, kann bei dem Verhältniss des V;itcrs zur Toch-
ter nicht angeuonuaen werden. Dazu kommt, dass Byrons Tochter oder
richtiger Töchterchen zu der Zeit, als er unser Rheinthal besuchte,
noch ein Kind war. Da wäre das Sympathisiren vollends unmöglich (ge-
wesen.
Diess sind die inneren Gründe, welche gegen (He Behauptung des Heraus-
gebers sprechen. \\'ir wissen aber auch aus Byrons Briefen selbt^t und
durch das Zeugniss eines Freundes des Dichters , dass das Gedicht „Der
DraclienfcL-" nicht an sein Töchterchen, sondern an seine Schwester gerich-
tet ist. Es ist bekannt , das.s ein sehr inniges Band die beiden Geschwister
unischhing.
I^ebel habe ich es dem Herausgeber genommen, dass er dem Americancr
Longf'ellow siebenzehn Seiten in der Samndung eingeräumt hat, während rler
durch ein volles G'emüth und eleganten Styl anziehende Goldsmith mit einer
halben Seite abgespeist wird. Der Herausgeber hat freilich hauptsäcldich
die neuesten Dichter berücksichtigen wollen, aber, was gediegen ist, wird
nie alt. 'Wenn ich von Longfellows „urkräftiger poetischer Fülle" auch nicht
hingerissen, freilich aucli noch nicht überzeugt bin, so leugne ich doch nicht,
dass einzelne seiner Schöpfungen schön sind, z. B. das hier aufgenommene
Gedicht „das offene Fenster", aber manchmal ist seine Poesie langweilig, wie
eine ohne Hügel und Berge sich gleichgültig hinziehende, americanische
Ebene. Langweilig finde ich es , wenn er in seinem „Dorfschmied" singt :
.„Am Sonntag geht er in die Kirche und sitzt unter seinen Knaben; er hört
den Pfarrer beten und predigen etc." Ist denn das so etwas Ausserordent-
liches, dass man am Sonntag einen Pfarrer predigen hört! Sehr geschmack-
voll scheint mir auch folgende Stelle nicht: „Man kann ihn hören schwingen
den schweren Schmiedehammer mit abgemessnem Schlag, wie der Küster
läutet des Dorfes Glocke, wenn die Abendsonne versank!" Das Läuten der
Abendglocke, welches auf das Geraüth des am Tage angegrirtenen Erden-
bewohners einen so wohlthätigen, beruhigenden Einfluss hat, wird verglichen
mit dem einförmigen mechanischen Gepoch eines Schmiedes ! So etwas Un-
passendes, Geschmackloses schreibt Mrs. F. Hemans nicht. Unpassend, ich
möchte fast sagen, läppisch finde ich folgenden Vergleich des Americaners:
,,Der Tag ist vorbei und die Dunkelheit fällt von den Flügeln der Nacht
wie ein'e Feder nieilergeweht wird von einem Adler in seinem
Flug." Die Nacht wird sonst als Göttin vorgestellt, welche den Schleier
sinken lässt oder über die Erde breitet, welchen sie am Morgen wieder auf-
hebt , aber die Feder , die niedergeweht wird, — bleibt doch auf der Erde.
Also müsste ewii:e Nacht herrschen nach dem Falle der i*eder ! In solchen
Gleichnissen kann ich nichts Geniales finden. Wenn ich nicht befürchtete,
als Abtrünniger von unserem Geschlechte angesehen zu werden, so würde
ich dem Herausgeber vorschlagen , bei der zweiten Auflage den Damen
Hemans, Cook und Norton mehr Platz einzuräumen und dem Aniericaner
etwas wegzunehmen. Der Herausgeber hat bei seltener vorkommenden
Wörtern die Bedeutung beigefügt. Er hätte damit noch etwas freigebiger
sein dürfen. Manchmal übersieht er es aber, wenn ein seltenes Wort zum
erstenmal vorkommt, die Bedeutung beizufügen und thut diess erst, wenn
das AVort das zweite oder drittemal vorkommt. Diess ist aber ein Verschen,
<lergleichen bei ersten Auflagen häufig vorkommen und welche bei zweiten
Auflagen wegt:dlen, auch wenn die Herausgeber nicljt vorher darauf auf-
merksam gemacht worden sind.
Das Einzige also, was wir aus pädagogischen Gründen tadeln zu müssen
glaubten (das Andere betrifft Kleinigkeiten) , war das Gedicht über den
.Sklavenhandel. Die Blüthensammlun^ al)er hat im Ganzen auf uns einen
sehr wohlthuenden Eindruck gemacht und wir können aus voller 1,'ebei-
zeugung das Buch dem Englisoli-Lernenden, liauptsäi-ldicli höheren Töchter-
184 15 tnirtlieilungon im li kurze Anzeigen.
schulen ciiiptVliliMi. Der Verleger selbst muss von dem Dufte dieser Bliithen
an,i,'enolHn affieirt worden sein, denn er hat das Buch sehr geschmiickvoll
ausgestattet.
Meiningen. Dr. Oswald.
Die Schauspiele Calderon's, dargestellt und erläutert ^on Friedr.
Wilh. V^al. Schmidt. Aus gedruckten und ungedruckten
Papieren des Verfassers zusammengesetzt, ergänzt und her-
auf-gegeben von Leopold Schmidt. Elberfeld. 1857. Verlag
von K. L. Friderichs.
Am 12. October 1831 starb Valentin Schmidt, einer der gründlichsten
Kenner Calderon's, der sein schon im Jahre I8i9 in dem Büchlein: „üeber
die Kirchenirenuung von England, Schauspiel des D. Pedro Calderon de la
Barca" gegebenes und später mehrfach erneuertes Versprechen, eine Schrift
über Calneron's sämmtliche Werke herauszugeben, zu lösen durch seinen für
die ^^'iss(■^schaft viel zu früh erfolgten Tdd verhindert worden ist. Wir
verdanken seiner Feder eine 1820 erschienene Untersuchung: Ueber die
italienischen Heldengedichte aus dem Sagenkreise Karl's des Grossen, womit
er in Form eines Zusatzes eine Darstellung des letzten Erzeugnisses Cal-
deron's, Hado y divisa de Leonida y Marfiso, verband, einen 1822 im An-
zeigeblitt der A\'iener Jahrbücher erschienenen Aufsatz: Kritische Uebersicht
luid Anordnung der Dramen des Calderon de la Barca, eine 1828 Bd. XLIII,
8. 84 ff. veröffentlichte Recension der grossen Keil'schen Ausgabe des spa-
nischen Dichters und manche wichtige Aufklarung in dem Gebiete der roma-
nischen Literatur (siehe u. A. Diez, Poesie der Troubadours, S. 2121. Glück-
licherweise ist es seinem Sohne, Leopold Schmidt, möglich geworden, durch
eine kritische und geistvolle Sichtung der hinterlassenen Papiere des Vaters
diesem ein schönes, unvergängliches Denkmal in dem hier besprochenen
Buche zu setzen. So weit es thunlich war, hat er des Vaters ursprüngliche
Rediction benutzt, und wo, wie und warum er davon abgewichen ist, dar-
über erstattet er in der Vorrede die eingeliendste Rechenschaft Die meisten
Bemerkungen jedoch, mit denen er in Hinblick auf den seitdem fortge-
schrittenen S:au(l der Wissenschaft das von dem Verfasser in den zwanziger
Jahren Geschriebene zu begleiten für zweckmässig erachtete, hat er als
Zusätze am Schlüsse folgen lassen. Leider Hessen ihn die Manuscripte des
Vaters, wo es sich um eine Einleitung zu der Classe der geistlichen Dramen
handelte, g;inz im Stich. Dafür entschädigt uns jedoch der Herausgeber mit
einem von ihm herrüiu'enden, S. XXV der Vorrede beginnenden eingehenden
Aufsatz über diese Dichtungen, aus dem wir leider nur den Anfang citiren
können: „Diese Classe pflegt man in neuerer Zeit als die tür Calderon vor-
zugsweise charakteristische anzusehen, und wer unter uns nicht näher über
ihn unterrichtet ist, pflegt bei seinem Namen den sorgfältigen dramatischen
Techniker der Intriguenstücke, den in die Vergangenheit seines Landes ver-
tieften Patrioten der historischen Schauspiele, den sinnigen Nachbildner
antiker Mythen beinahe zu vergessen über dem strenggläubigen Katholiken
des siebenzehnten Jahrhunderts, den man dann je nach der verschiedenen
Ansicht preist, verurtheilt oder mit der allgemeinen Tendenz seiner gleich-
zeitigen Volksgenossen entschuldigt. Und gewiss würde zum Verständniss
Calderon's ein sehr ^^'esentliches fehlen, wenn man seine religiöse Stellimg
ausser Acht lassen wollte ; allein damit ist es noch keineswegs gerechtfertigt,
die in dieser unmittelbar wurzelnden Werke, bei deren Gesammtbetrachtung
man die hier als Comedias divinas zusammengefassten nicht wohl von den
Heiligenkomödien und den Autos trennen kann, ohne Weiteres als den
Beur tlieilungc 11 und kurze Anzeigen. 185
Mittelpunkt seiner Poesie zu betrachten, noch viel weniger aber ihn für
den Repräsentanten des eigenthümlich excentrischen Glaubensgeistes der
damaligen Spanier zn halten, wie so hiinfig aus l'nkiuide geschieht. Eine
Geschichte der reiigid;<en Dichtung der Siianier wäre eine Aufgabe von
hohem, culturhistorischeni Interesse, zu der es fast noch an jeder Vorarbeit
fehlt, aber von welchen Voraussetzungen dieselbe auch unternommen werden
und welche Resultate sie sonst ergeben möge, sich(!rlich wird sie in Calderon
nicht den Brennpunkt sehen können, in dem alle Strahlen der gesaminten
!• ntwickelung zusammenlaufen. Soweit sich nach einer ganz allgemeinen Kennt-
niss des (iegenstandes urtheilen lässt, scheint vielmelir L(i])c; de Vega an diesen
Platz gestellt werden zu müssen, wenigstens tinden sich bei ihm kindliche
Glauben.snaivetät, träumerische iM\stik, zugespitzte Dialektik in der Pudiand-
lung dos Dogmas und finstere Verfolgungssucht in gleich hohem Grade."
Es wird dann ausgeführt, wie Calderon sich, liess er Engel und Teufel
zahlreich erscheinen, nur der stehenden Gewohniieit seiner Zeitgenossen ge-
fügig gezeigt habe, wie er viel zu verständiger Natur fiir die Mystik sei, wie
er häufig liebevolle Vertiefung in andre Religionsformen zeigt, wie ihm stets
Religiosität, Sehnen unil Suclien nach dem Erlöser weit über dem Dogma steht.
Das Werk des Herausgebers ist von mancher Seite her theilnelimend
gefördert worden. So hatte \'al. Schmidt die Parallelstellen, welche er zur
Erklärung einzelner Verse oder ^\'orte Calderon"s anführen wollte, häutig
am Rande eines ihm zum Handgebrauch dienenden Exemplars der Apontes-
schen Ausgabe der Comedias notirt, und dieses war mit dem grössten Tlieil
seiner Bibliothek verkauft worden. Der gegenwärtige Besitzer, Herr Ge-
heimeratb Johannes Schulze, ein in dem Dichter bewanderter Freund der
spanischen Literatur, vertraute dem Herausgeber mit der humansten Bereit-
willigkeit das erwähnte Buch für seine Zwecke an Auch N. Delins ist mit
manchem Rath und Wink an dem A\'erke betheiligt. Die königliche l)iblio-
thek zu Berlin und die Universitätsbibliothek zu Ciöttingen haben ebenfalls
dem Herausgeber anerkennungswerthe Unterstützung geleistet; nur Zu-
sendung von Büchern aus der kaiserlichen Hofbibliothek zu
Wien wurde nicht gewährt, obwohl sich die preussische Regierung auf
das Liberalste dafür verwandte. Der Abschnitt: Einleitendes, enthält: Zeit
der Abfassung und Sprache, Calderon und Shakspeare, Ueber den Scherz,
Ausgaben, Literatoren. Dann folgt die Erläuterung der 108 unzweifelhaft
echten Schauspiele Calderon's mit der Eintheilung nach den Stoffen in zehn
Classen (S. 1—44 7), dann als Anhang: Nachtrag zur kritischen Uebersicht
dir Dramen des Calderon, die Bemerkungen des Herausgebers und Register.
Das für das Studium des spanischen Dich ers hinfort wohl unerlässliche
Buch, das wir als eine der hervorragendsten Fublicationen auf dem Gebiete
der romanischen Literatur empfehlen miissen, zeichnet sich ausserdem durch
treffliche Ausstattung aus.
.\nleitung, dichterische Meisterwerke auf eine geist- und herz-
bildende Weise zu lesen und sich dauernd anzueignen.
Der Schule und dem Hause gewidmet von Dr. Ludwig
Eckardt. Jena 1857.
Nach einer etwas stürmischen Vorrede über die Tendenz der Schrift,
welche weit über die friedliche Sphäre eines harmlosen Gelehrten hinaus-
greift, die Generation der Zukunft im Auge liat und die Schranken zwisrhen
Gelehrtenstand und Volk nicdeneissen will, die die Literaturgeschichte oder
die historische Entwicklung der Dichtung (?) aus mehreren Gründen aus
allen .Schulen, die nicht Universitäten he.issen, verbannt wissen will, geht der
18G Beiii-t Heilungen Ulli! kurze An/tigcii.'
Verfasser zur eigentlichen Aufgabe seines Büchleins über. Er gibt ziiers
8. 14 allgemeine Andeutungen über das Lesen und fordert nach kurzer Be-
trachtung über die Wichtigkeit guter, besonders dichterischer Leetüre:
«1. Lies täglich etwas Poetisches, wenn auch nur wenig, aber Gediegenes;
2. je beseligender die Poesie und je tiefgreifender die Wirkung sein soll,
desto wühlerischer und sparsamer geniesse sie; 3. fliehe frühzeitig jedes
Lesen, das bloss der Zerstreuung wegen getrieben wird."
Nach einigen speciellen Vorschriften darüber, wie man lesen solle, die
ebenso wie die vorige Forderung nichts Neues bieten, aber sich wohl nie
allgemein praktisch bewähren werden, sucht er an Beispielen seine Theorie
näher darzulegen. Von S. 27 — 49 bespricht er kurz die lyrische Poesie
und wählt Schillers Ideale, durch Fragen und erläuternde Antworten den
Inhalt des Gedichts von allen Seiten zu erfassen. Von S.-.5Ü — 72 stellt er
die „Fragen, welche beim Lesen einer epischen Dichtung (schriftlich!) zu
beantworten sind." Er bezieht sich hauptsächlich auf Goethe's Hermann
und Dorothea und würdigt auch noch von S. 72 — 77 als Beispiel einer di-
daktisch-epischen Schiller's Mädchen aus der Fremde einer eingehenden
Behandlung. Auf S. 78—134 wird die dramatische Poesie behandelt.
Wohl wegen der Wichtigkeit des Gegenstandes werden mehrere Dramen
mit einzelnen Bemerkungen bedacht. Der Verfasser schliesst mit einem
auch jetzt noch bei richtigem Vers ändniss sehr beherzigenswerthen W'orte
,Fr. Schlegel's: „Wenn wir nur recht viele classisclie Leser hätten, einige
classische Schriftsteller fänden sich wohl noch." Ein Verzeichniss der in
dem Buche besprochenen Dichter und Dichtungen ist recht zweckmässig am
Schlüsse beigefügt.
Was Gebrauch und Werth des Buches betrifft, so glaube ich, dasselbe
wird Anfängern einer ernsten gediegenen Leetüre oder angehenden Lehrern
des deutschen Unterrichts in den mittleren und oberen Classen der höheren
Schulen von Nutzen sein. Diesen darf man es zur Anregung und Belehrung
mit gutem Gewissen empfehlen.
Berlin. Dr. Sachse.
Bibliothek gediegener und interessanter französischer Werke,
zum Gebrauche höherer Bildungsanstalten ausgewählt und
mit den Biographien der betreffenden Classiker ausgestattet
von Dr. A. Goebel, Studiendirector an der rheinischen
Ritter-Akademie zu Bedburg. Münster, im Verlage der
Theissing'schen Buchhandlung.
Es ist eine von den meisten Lehrern der französischen Sprache aner-
kannte W^ahrheit, dass nur wenige Chrestomathien den Bedürfnissen höherer
Lehranstalten vollständig entsprechen und man bei der Wahl einer passenden
französischen Schullectüre in grosse Verlegenheit geräth. Besonders schlimm
ist man aber daran, wenn man gern ganze Werke mit vorgerückten Schülern
lesen möchte. Letzteren muss eine Leetüre geboten werden, wodurch eine
gesunde deutsche Erziehung, wahre Bildung des Geistes und des Herzens
gefördert wird, zugleich eine Leetüre, zu der sich die Jugend hingezogen
fühlt. Nur gediegene, dabei interessante Werke von anerkannt grossen
Classikern können diesen Anforderungen entsprechen. Welche Werke dieser
Art aber, 4ie aus sprachlichen, ästhetischen und pädagogischen Gründen zu
empfehlen sind, stehen uns in correcten, schön ausgestatteten und
billigen Schulausgaben zu Gebote? Diesem Mangel will der Heraus-
{«eber obiger Bibliothek abhelfen. Sie wird .zunächst eine Reihe von zwölf
Bf ur t heilun gen und kurze Anzeigen. 187
Haudchen umfassen, von denen vier historischen, vier belletristischen und
vier oratorischen Inhalts sind. Bereits erschienen sind:
1. llistoire de Theodoso le Grand par Flechier. 2. Histoire de
Charleniagne par Capefigue. 3. Histoire de iTi premifere Croisade par
Michand. 4. iVIort de Louis XVI. par Lamartine. .5. Choix de Nou-
velles du XIX. siecle (contenant : L'Ours de la Maledetta par Legouve;
Kartlieleniy et lEtoile polaire par Bouilly; Le Lepreux de la citd
d'Aoste par X. de Maistre; Le Grand Saint-Bernard par TöpfTer).
6. Histoire d'Aladdin. Conte arabe trachiit par Ant. Galland. 7. Choix
de Contes et de Recits (contenant: Dasaratlia par De Chczy; Morman
par Thierry; Blanche et Isabelle par Legouve; La torabe de riiomme
uiort par Is^odier, Le Cure de Saint-Lyphar par de Walsh; L'Apprentl
par Souvestre).
Jedes Bändchen bringt eine kurze, gediegene Biographie des betrefT'enden
Classikers; die historischen Werke enthalten ausserdem historische und geo-
graphische Erläuterungen in alphabetischer Ordnung. Die oratorischen sind
mit kurzen Erklärungen in französischer Sprache ausgestattet.
Wir enthalten uns einer Kritik der genannten Schriften; denn jeder
Lehrer der französischen Sprache kennt sie als Pex-len der französischen
Literatur; wir lügen nur hinzu, dass der Herausgeber mit ängstlicher Sorg-
falt Alles ausgeschieden hat, das irgendwie lieligion, Sitte oder deutschen
Sinn verletzen kömite. Dr. Weeg.
\'ollständiger Lehrgang zur leichten, schnellen und gründlichen
Erlernung der englischen Sprache, von 11, Plate , ordent-
lichem Lehrer an der Bürgerschule in Bremen. Hannover,
bei Louis Ehlerniann. 1858,
Das Archiv hat schon früher, im nennten Bande, S. 245, des obigen
Buches lobende Erwähnung gethan und damals kurz die Vorzüge desselben
hervorgehoben. Seine schnelle Verbreitung, die seit seinem Erscheinen viele
neue Auflagen erforderlich machte, liefert den Beweis, dass eine grosse An-
zahl von Schulmännern diesem Werke den thätigsten Beifall zollte. Wir
haben in diesem Augenblicke nur die Elementar- und Mittelstufe vor uns,^
da die Schlussstufe kaum die Presse verlassen haben wird. Bei Vergleichung
dieser beiden Curse in ihrer jetzigen Gestalt mit den früheren Auflagen
wird man sich sehr balil überzeugen, dass der Verfasser mit umsichtiger
Sorgfalt gearbeitet hat. Der organische Zusammenhang ist durch passende
Auslassungen hier, durch neu Hinzugebrachtes dort, durch Umstellung an
einer dritten Stelle möglichst vollkommen hergestellt. Die der Elementar-
schule neu vorgesetzte Leseschule, das derselben angehängte Wörtcbuch,
sowie die in der Miitclstufe getroffene Anordnung des Stoffes zum Zwecke
des Gebrauchs in Anstalten mit sechsmonatlicher Aufnahme von Zöglingen
sind sehr gute und dankenswerthe Zusätze und Neuerungen. Bei der Lese-
.schule jedoch möchten wir eine Ausstellung machen. Der Verfasser
würde nämlich bes.ser gethan haben, die von den deutschen abweichenden
englischen Vocallaute durch beigesetzte deutsche oder französische Wörter
oder Silben mit möglichst entsprechenden oder ähnlichen Lauten zu ver-
sinnlichen, anstatt einfach durch <leutsche Vocale. die doch nun einmal nicht
die englischen sind: ä ist kein a, ö ist kein u, o ist kein o. Stellt man
dem Schüler nun etwas Derartiges ein für allemal gedruckt vor Augen, so
inhrt man ihn von vornherein auf etwas P'alsches, das durch kein Kaisonne-
inent wieder wegzubringen, oder wenn, wenigstens nutzlos ist.
(jörlilz. H. Schmick.
188 Beurt helluiigon und kurze Anzeigen.
Elementarbiich der französischen Sprache für die erste Stufe
des Unterrichts von Dr. C. A. Wittenhank, Rektor der
hölieren Bürgerschule in Rheydt. In zwei Abtheilungen.
Erfurt, 1857. Verlag von Karl Villaret.
Vielleicht^ erinnern sich die Leser flieser Zeifsclirift noch fies Artikels,
in wek'heni wir ihnen, vor einem Jahre etwa, die für die zweite Stufe fies
Unterrichts bestimmten Theile des vorliegen Elementarbuches empfahlen.
Wir sprachen damals den Wunsch aus, dass der Verf die in Aussicht ge-
stellte erste Abtheilung seines Werkes recht bald veröffentlichen, imd damit
der zweiten die nothwendige Grundlage geben möge. Diese Ergänzung isr,
nun erschienen, und freut es uns, sie als eine treifliche, ihrem Zwecke in
hohem Grade entsprechende Arbeit bezeichnen zu können.
Das Buch zerfallt, wie schon der Titel sagt, in zwei Abtheilungen, die
indess nicht nur äusserlich verbunden sind, sondern in einem inneren Zu-
sammenhange stehen. Was den Verf. zu dieser Anordnung bestimmt hat,
hören wir am Besten von ihm selbst. Er sagt darüber (im Vorworte): „Da
die zweite Stufe des Unterrichts, wenn von einer sechsklassigen Schule aus-
gegangen wird, für die Quarta bestimmt ist, so niusste die erste Stufe das
Pensum für Sexta und Quinta enthalten Das vorliegende Buch besteht daher aus
zwei Abtheilungen, von welcher die erste die leichteren Abschnitte der
Formenlehre und durchweg nur das behandelt, was im Deutschen ebenso vor-
handen ist; die zweite aber, unter steter Zurückweisung auf die erste Ab-
theilung, die schwierigeren Abschnitte hinzufügt. Doch werde in Schulen, wo
der fninzösische Unterricht erst in Quinta beginnt, und in solchen, welche
aus weniger Classen bestehen, beide Abtheilungen, bei grösserer Reife der
Schüler, in einem Jahre durchgenommen werden können."
Man sieht, die beiden Abtheilungen stehen keineswegs unvermittelt neben-
einander. Die zweite f^ingt nicht einfach fla an, wo die erste aufhört; sie
setzt einerseits den Inhahlt derselben voraus, während sie ihn andrerseits er-
weitert und vervollstänfligt. Eine solche Theilung des Stoffes ktmn, scheint
uns, nur gebilligt werden. Der stufenweisse Fortschritt ist für den sprach-
lichen Unterricht, namentlich in seinen Anfängen, von der grössten Wichtig-
keit, wir möchten sagen eine conditio sine qua non seines Erfolges. Der
Geist des Kindes ist nicht so schwach, wie' Manche glauben, die sich deshalb
bemühen, ihm möglichst wenig zu bieten. Man kann ihm recht viel zumuthen :
es darf nur keinen Augenblick ausser Acht gehissen werden, dass die Ent-
wif^klung des Geistes an das Gesetz des allinäligen Fortschritts vom Ein-
fachen zum Coinplizirten gebunden ist. Allerdings gibt es gegenwärtig nicht
wenige Lehrbücher auch für den sprachlichen LTnterricht, die nach diesem
Principe ausgearbeitet wurden. Die Durchfülirung indess lässt noch Vieles
zu wünschen übrig. Unseres Erachtens hat dies besonders darin seinen Grund,
dass die Gliederung des Unterrichtsstoffes noch nicht hinlänglich durchgeführt
ist. Man vertheilt ihn zwar an eine Mehrheit von Stufen oder Cursen, doch
ist die Zahl derselben nicht gross genug, was zur Folge hat, dass der ihnen
zugewiesene Stoff' nicht bloss zu vielschichtig und zu mannigfaltig, sondern
auch, und das ist viel schlimmer, bald mehr, und bald weniger verständlich
wird. Die Gleichartigkeit in Bezug auf das Verständniss ist aber nur durch
Besf:hränkung zu erreichen. Es muss, wie der Verf dies versucht hat, der
für jeden Cursus bestimmte Stoff' mit steter Rücksicht auf das vorhin er-
wähnte Gesetz in. mehrere Abtheilungen gebracht werden.
P'reilich wird eine solche Forderung immer ihre grossen Schwierigkeiten
haben. Was einfach und fnsslich, und was nicht, ist oft nicht leicht zu unter-
scheiden: man hat es hier eben mit relativen Begriffen zu thun. Der Verf.
hat in dieser Beziehung einen Gesichtspunkt geltend gemacht, der soviel
wir wissen, bisher wenig beachtet wurde, aber jedenfalls ganz am Orte ist.
lU'urthe i liiiiui'ii und Icurzo Anzeij^iMi. 18!)
wir im-iiuiii die grüssero oder geringjei-e Uebereiiistiininung der fremdftii mit
der Muttorspnn'he. Es verstellt sich von selbst, dass der Schüler si h das
am Leiclitesten aneignet, was von dem ihm liekaniiten am Wenigsten abweicht,
und ist es daher ganz zweckgemäss. dass namentlich im Beginne des Spracii-
unterrichts das Verwandte vorzugsweise l)etunt und das Fremde möglichst
ferngehalten wird. Selbst auf lien hohem Stufen dürfte der in Rede stehende
Unterschied eine grössere Beachtung verdienen, wie ihm gewöhnlich geschenkt
wird. Es wäre ohne Zweifel sehr wünsehenswerth , dass auch in den syn-
taktischen Lehrbüchei-n diejenigen sprachlichen Erscheinungen, welche dem
fremden Idiome eigenthümlich sind, sowohl bei der Erkläi-ung wie in den
zugehörigen Uebungen ganz entschieden in den Vordergrund träten.
■Was die Methode in der Behandlung des Einzelnen betrifft, so stimmt
diese im Wesentlichen mit der überein, welche der Verf. in dem früher er-
schienenen zweiten Cursus befolgt hat. Nun ist er, und ganz mit Recht,
bestrebt gewesen, den leitenden (inindsatz „soviel Material als möglich, von
llegehi aber nur das Unentbehrlichste zu geben,,, hier noch consequenter
(Unchzufuhren. So beginnt denn jeder Abschnitt mit einer Reihe französischer
Sätze, welche die in Rede stehende sprachliche Erscheinung dem Schüler zur
Anschauung bringen. Ihueji folgt die Erklärung oder die Regel, und dieser
die deutschen Uebungen. Die Zahl der letzteren i.st sehr beträchtlich; auch
kann die Auswahl der Sätze im Ganzen als eine gelungene bezeichnet werden.
Dass der Verf. ..den deutschen Sätzen der französischen Construktion zu
iJebe nirgends Gewalt augethan hat," verdient alle Anerkennunir; der ab-
geschmackte Galimathias, den manche übrigens recht werthvolle Elementar-
bücher darbieten, ist in der That unerträglich. Die Regeln wurden dies Mal
In deutscher Sprache abgefasst, womit wir uns nach dem, was wir früher über
diesen Punkt sagten, nur eiuveKStanden erklären können. Wichtiger ist, dass
sie fast durchgängig kurz, präzis und leicht verständlich sind — Eigen-
schaften, die man in andern Werken dieser Art nur zu oft vermisst. Auch
wird ihre Anzahl dem nicht zu gross ersiheinen, der die Aufstellung von
Regeln auf den ersten Unterrichtsstufen überhaupt billigt. Wir unsererseits
glauben nicht, dass sie gut zu entbehren sind. Gäbe es nur tüchtige Lehrer
und begabte Schüler, so möchten sie vielleicht dem mündlichen Unterrichte
ausschliesslich überlassen bleiben können. Da sich aber die einen nicht ge-
rade häufig und die andern nur selten finden, halten wir es für unbedinüt
besser, dass sie den Beispielen, in welchen sie zur Anwendung kommen,
hinzugefügt werden. Koch wollen wir bemerken , dass der Verf. , sobald es
sich eben thun lä'sst, zusammenhängende französische Lesestücke einflicht, auch
deren einige am Schlüsse der zweiten Abtheilung angehängt hat. Es sind Anek-
doten und kleine Erzählungen, die sich durch ihren interessanten Inhalt der
hier in Fi-age konnnenden Altersstufe empfehlen, auch, da der Verfasser alle
schwierigem Constructionen entfernt oder durch einfachere Wendungen er-
setzt hat, idv sie leicht verständlich sein werden. Wir würden dies nicht
besonders hervorgehoben haben, hätten wir uns nicht der läppischen Geschichten
erinnert, mit welchen selbst die gangbarsten Elementarbücher die liebe Ju-
gend langweilen.
Wir wollen nun den Inhalt des vorliegenden Werkes etwas genauer (iureh-
gehen; man wird sich so am Besten über seinen Werth ein Urtheil bilden
küinien. — Die ersten fünf (}. der ersten Abtheilung beschäftigen sich mit
der Aussprache, die der Verf mit allem Rechte in dan Kreis der „metho-
disclien" Behandlung gezogen hat. Allerdings wird für sie der mündliche
Unterricht immer das Beste thun müssen. Aber daraus folgt keineswegs,
dass man sie in den Lehrbüchern übergehen oder nur nebenbei, etwa in
einem Aniiange, abfertigen darf. Auch ist die Art und Weise, in welcher
sie gewöhnlich behandelt wird, durchaus nicht zu billigen. Der Regeln sind
meist zu viele, der Beispiele zu wenig; überdem stellt man die ersteren in
ununterbrochener Folge zusammen, ohne sich um den Unterschied des Leich-
190 H e urthpil nngeii und kurze Anzeijjen.
teren und Schwierigeren sonderlich zu kümmern. — Dcir Verf. verfahrt in
anderer Weise. Er stellt zunächst eine beträclitliciie Anzahl von Woltern
auf, an welchen die Aussprache der zu bestimmenden Laute praktisch ein-
geübt werden kann , und fügt dann die nothwendige Erklärung hinzu. Die
NVörter sind so gewählt, dass sie nur solche Laute enthalten, die entweder
schon bekannt sind oder es durch die betreffende Uebung werden sollen.
Wir müssen es überhaupt als einen wesentlichen Vorzug unserer Schrift be-
zeichnen, dass der Verf. durchgängig bestrebt gewesen, erst dann zu etwas
Neuem überzugehen, wenn die Voraussetzungen desselben vollständig gegjehen
sind. /Uebrigens beginnt er mit denjenigen Lauten und Lautverbindungen,
welche den Si'hülern die wenigsten Schwierigkeiten darbieten und kommt
dem Ueberdrusse, den Uebungen dieser Art, zu lange fortgesetzt, stets erregen,
dadurch zuvor, dass er sie möglichst bald unterbricht.
Schon §. 6 enthält das Present der ersten Conjugation und zwar wird
hier der einfachen Aussage sogleich die Frageform zur Seite gestellt. Dass
es zweckmässig sei. das Verb sobald schon einzuführen, kann nicht füglich
bestritten werden. Nur mit seiner Hilfe ist es möglich, die wünschenswerthen
Uebungssätze zu bilden. Doch hat der Verf mit Recht zunächst nur die
einfachen Zeitformen aufgestellt und eben darum die Hilfsverben erst später
behandelt. — Aber auch mit dem Verb lässt sich nicht viel anfangen, so
lange die substantivischen Subjekte und Objekte fehlen. Der Verf. lässt
diese daher alsbald folgen, was um so eher geschehen konnte, da ihre For-
men im Singulier wie im Pluriel dieselben sind. Ueber die Bildung des Plu-
riel werden natürlich nur die einfachsten Grundlehren mitgetheilt; die Aas-
nahmen kommen in diesem wie in allen andern Fällen erst in der zweiten
Abtheilung und auch hier in beschränktem LTmfange zur Sprache. — §. 12
gibt die Formen des Imparfait und Defini, die ganz zweckmässig, wie uns
scheinen will, nebeneinandergestellt werden. Es versteht sich von selbst, dass
der Gebrauch dieser Zeitformen hier nicht erörtert wird ; der Verf gibt in
den Uebungsstücken jedes Mal an, wo das Imparfait angewandt werden soll.
— §.16 wird eine Reihe von Präpositionen aufgeführt, die vielleicht Manchen
nicht an ihrer Stelle zu sein scheinen. Man kann nicht verkennen, dass der
Verf. hier seinem Principe in Etwas untreu wird, sofern der an sich sehr ein-
fache Gebrauch der tran^ösischen Präpositionen doch dadurch für den Schü-
ler sehr schwierig M'ird, dass die entsprechenden deutschen mit anderen, oft
sogar mit mehreren Casus 'construirt werden. Andrerseits ist freilich zuzu-
geben, dass die gleichartige Construktion der französischen Präposition, wenn
man sich einmal bis zu einem gewissen Grade an sie gewöhnt hat — und das ist hier
um so eher möglich, da die Bildung des Genitiv und Dativ noch nicht be-
kannt ist — ihre Anwendung überaus leicht nuiclit. Auch wird durch ihre Ein-
fuhrung der Weg zum Verständnisse der Casuspräpositionen du und ä gebahnt,
die der Verf mit Recht zunächst in ihrer präpositionellen Bedeutung kennen lehrt.
In den folgenden §. werden, wie bisher in stetem Wechsel, die noch
übrigen Sprachlaute, Plural- un<l Verbalformen erörtert. Zugleich wird für
eine weitere Vermehrung des Wortvorrathes Sorge getragen. Es ist sehr
möglich, dass der Eine oder Andel-e an dieser gleichzeitigen Behandlung
verschiedener Gegenstände Anstoss nimmt. Uns scheint sie, namentlich auf
ilen untersten Stufen des Unterrichts, wo die wechselnde Stimmung des
Kindes die längere Beschäftigung mit ein und demselben Gegenstande nur
gezwungen erträgt, ganz am Orte zu sein. Es konmit nur darauf an' dass
die einzelnen Objekte nicht willkürlich zusammengestellt, sondern in eine
nähere, auch äusserlich erkennbare Verbindung gebracht werden. Und das
ist in dem vorliegenden Buche überall versucht und meist auch erreicht worden.
Auch so freilich wird es eines Lehrers bedürfen , der mit einer gewissen
lebendigen Frische des Geistes eine genaue Kenntniss und sichere Beherr-
schung des Stoffes verbindet. Wo diese Eigenschaften fehlen, nmss nv.ai
eben sehen, wie man ohne sie fertig wird.
Kr u 1 t lie i 1 n iigtMi unii kürzt' An/eigeili 191
§. 3 2 bringt das prononi possesif, §. 4G das ddinonstratif, doch werden
beide nur in den einlachen Casus vorgeführt. Dann folgen die Formen des
Hilfsverbs avoir (§. 52 fgg.), die durch ein vollständiges Paradigma abge-
schlossen werden. Der Verfasser hat unseres Erachtens sehr Recht, wenn er
hier wie später, nachdem die einzelnen Zeitformen eingeülit sind, sie zum
Schlüsse nochmals in geordneter Folge zusammenstellt. Der Schüler kann
solcher Paradigmen nicht wohl entbehren. Abgesehen davon, dass er ohne
sie mit dem Nachschhigen viel Mühe und Zeit verliert, hat auch die Totalan-
schauung einer durchgeführten Conjugation einen selbständigen Werth. Nach-
dem das Zeitwort avoir bekannt ist, können nun auch die zusammengesetzten
Zeiten des regelmässigen Verbs zur Sprache gebracht werden. Verf be-
handelt sie §. 60 fgg. und zwar mit steter Herücksichtignng der Frageform.
§.79 kommt das Verb etre an die Reihe, zunächst in den einfachen Zeiten.
Daran schliesst sich die vollständige Deklination zunächst des Possesiv- und
Demonstrativpronomens, dann des unbestimmten und bestimmten Artikels —
eine Aufeinanderfolge, die ohne Zweifel sehr geeignet ist, das Verständniss
zu erleichtern. — Den zusammengesetzten Zeitformen von etre folgen die
Verba der zweiten und dritten Conjugation (123 fgg.), zwischen welche
(§. 140) die Cardinalzahlen eingeschoben sind. — Aus der Lehre vom Ad-
iectif, zu welrhem der Verf nun übergeht (§. iGl fgs:), wird hier mit Recht
nur das Einfiichste, die (Trumlregeln über Stellung, Bildung der weiblichen
Form und Comparation, angeführt Nachdem dann noch die Negation, auch
in Fragesätzen, erörtert worden, womit zugleich ein natürlicher Anlass zur
wiederholten Einübung sämmtlicher Zeit- und Verbalformen gegeben war,
schüesst die erste Abtheilung mit einer Reihe von Uebungsstücken, in wel-
dieu die bis dahin vorgekommenen sprachlichen Erscheinungen nochmals In
mannigfach wechselnden Verbindungen vorgeführt werden.
Repetitio est mater studiorum — das ist ein alter, ewig wahrer Grund-
satz. Nur muss dafür gesorgt werden, dass die Wiederholung nicht lang-
weilig wird. Und das geschieht gar leicht, wenn sie so schlechthui, ohne
Hinzufügung eines Neuen, das immer am Besten in der weiteren Ausführung
des schon Bekannten bestehen diu-fte, vorgenommen wird. Indem der Verf.
seinen .Stoff' in zwei Abtheilungen brachte, hat er die zweite so eingerichtet,
dass sie einerseits eine beständige Gelegenheit zur Repetition darbietet,
während sie andrerseits die nothwendigen Ergänzungen des ersten Theils
liefert. Sie beginnt mit einer Anzahl von Hebungen über die drei Conjuga-
tionen und gibt dann die Formen der pronoms pei-sonnels. Was den Gebrauch
derselben angeht, so hat sich der Verfasser auf das Nothwendigste beschränkt.
Er gibt einige wenige leicht verständliche Regeln über die Anwendung der pr.
disjoints, während er das Uebrige, namentlich die sciiwierige Lehre von der
Stellung und Folge der pr. conjoints, dem zweiten Cursus vorbehält. — Folgt
§. 231 die „Bildung der Formen des Verb", die allerdings bekannt sein muss,
wenn die Conjugation der nun sich anschliessenden „gebräuchlichsten Verbes
irreguliers", von welchen der \'erf. nur die unregelniässigen Zeitformen in der
ersten Person angibt, vom Schüler selbstthätig durchgeführt werden soll.
$. 270 handelt vom Participe passe, welches einen natürhchen Uebergang zu
den Formen des Passivs bildet. Der noch übrige Theil des Buches hat vor-
wiegend den Charakter der Ergänzung. Es kommen hier die unregelmässigen
Pluralbildungen, die Theilungsdeklination, die unregelmässige Comparation,
das Adverb, sowie die l)is dahin übergangenen Pronomialformen zur Sprache.
Ohne auf" das Detail näher einzugehen, bemerken wir nur im Allgemeinen,
liass der Verf auch in diesen Abschnitten nicht über das wünschenswerihe
Mass hinausgegangen ist. — Von den französischen Uebungsstücken, welche
diese zweite Abtheilung enthält, war schon oben die Rede. AVir schliessen
daher mit der Notiz, dass die zu ihr gehörigen Vokabeln, nach §. geordnet,
am Schlüsse des (ianzen iingehängt .sind. i> o i i n-
>- >^ 1-, Brockerhoff.
192 I» eil rt li eilungen und kurze Anzeigen.
Iland- und Hülfsbuch der Spanischen Sprache und Literatur
im 19. Jahrhundert, Mit wort- und sachgemässen Erläu-
terungen so wie einer kritisch-literarischen Einleitung her-
ausgegeben von Friedrich Booch-Arkossy. Leipzig. Brock-
haus 1857.
Es möge mit Bezug auf später zu besprechende wie auch in diesen
Heften bereits besprochene spanische Hülfsbücher die allgemeine Bemeikung
vergönnt sein, dass sich die Verfasser derselben in einer einerseits erfreu-
lichen, andrerseits misslichen Stellung befinden. Erfreulich, weil sich die-
selben auf einem noch wenig bebauten Felde bewegen und so genöthigt
sind bei dem Mangel an ausreiclienden Vorarbeiten sich auf eigne Beobach-
tung der grammatischen Gesetze und auf eigene Tbätigkeit im Sanuneln der
literarischen Musterstiicke einzulassen. Es ist auf diesem Gebiete kaum
möglich, dass, wie es im Französichen so häufig der Fall ist oder \var —
(denn jetzt scheint bereits auch hier die »Scheu vor der in früheren Zeiten ja
kaum, wenigstens in einem eigens dazu bestimmten Organe, vorhandenen
Kritik heilsam gewirkt zu haben) — aus vier mittelmässigen Grammatiken
oder Anthologien eine fünfte noch mittelmässigere Grammatik oder Antholo-
gie gemacht werden kann, und daher kommt es denn auch, dass die Lei-
stungen auf dem Gebiete des Spanischen fast nur Erfreuliches bieten. Miss-
lich ist die Stellung der Verfasser aus einem andern Grunde. Wie immer
die Einfuhrung einer Sprache in die Schulen eines Volkes nicht aus dem
Innern Charakter jener Sprache, sondern aus einem historischen in der
Entwicklung des Volkes wurzelnden Grunde hervorgegangen ist, so auch
hier. Es gehört das Spanische zu jenem Kranze von modernen Sprachen,
der ganz Deutschland umgibt, von Sprachen, die nur an den Glänzen Deutsch-
lands schulmässig gelernt und gelehrt werden , wie polnisch , italienisch,
holländisch, dänisch. Eine allgemein und allenthalben in Deutschland in
Schulen eingeführte neuere Sprache ist nur die französische. Das Englische
wird auf österreichischen Schulen kaum gelehrt, und es tritt das Italienische
an seine Stelle. Neben dieser allgemein gelehrten neueren Sprache, dem
Französischen, gibt es fast allenthalben eine moderne Nebenspraehe, deren
Aufnahme in die Schullehrpläne dem praktischen Bedürfnisse des entsprechen-
den Landstriches genügen will. So ist denn das Spanische die moderne
Nebensprache des nordwestlichen Randes von Deutschland geworden, nament-
lich aber die moderne Nebensprache von Hamburg und Bremen. Die über-
wiegend commercielle Richtung des genannten Landstriches begünstigt nun
auch in geistigen Dingen alles dasjenige, was sich durch die Art seiner Be-
handlung als praktisch anwendbar und verwerthbar empfiehlt. Während man
auf preussischen Schulen darüber einig ist , dass die rein praktische Fertig-
keit in der Handhabung der modernen Sprache weder erzielt werden soll
noch kann, schaden die kenntnissreichen Verfasser spanischer Lehrbücher
gerade dadurch ihren Büchern, dass .sie sie stets mit der grösstmöglichen
Rücksicht auf ihre sogenannte praktische Brauchbarkeit anlegen. Schon
irüher ist in diesen Blättern erwähnt worden, wie selbst ein so geistvoller
(jrrammatiker , wie Kotzenberg, es doch nicht vermocht hat, die spanisclie
Sprache als etwas mehr als eine blosse Verkehrsprache anzusehen. Dass der
kenntnissreiche Verfasser der vorliegenden Schrift ebenfalls durch die Rück-
sicht auf das Praktisclie verhindert worden ist, seinem Buche ein einheit-
licheres Ansehen zu geben, wird in Folgendem ersichtlich werden.
Zuerst gebührt jedoch dem Verfasser der lebhafteste Dank für seineu
Sammlerfleiss, mit dem er Geschmack und Sorgfalt in der Auswahl verbindet.
Er ist der erste, der eine Anthologie der spanischen Schriftsteller unsres
U(Mir t hei luii ^e i\ und kui/.e Anzeigen. J9.>
.liilirluiiuk'i ts fiir Deutselihiiul zu.s;unnien<;estelU hat, in der er nicht nur dem
Bedürfnisse des wissenschailhelien Lesers genii<:;t , sondern aueh der Schule
^'in reichhaltiges und interessantes Material liefert. Wenn in neuerer Zeit
f'iir Chrestoniatliien der Grundsatz ausjjcspi'ochen worden ist, sie iniissten
nicht nur allgemein Richtiges und allgemein Interessantes zur Anschaimng
bringen, sondern zugleich ein Bild des Lehens und Treibens der Nation
geben, so hat der Verfasser auch diesen Grundsatz gewissenhaft betolgi .
Kndlich hat sein Bucli auch insofern eine grosse \Vichtigkeit, als es uns in
vielen Artikeln ein lebendiges Bild der heutigen Umgangssprache und fiimi-
lieren Ausdrucksweise liefert und uns gewissermassen den moralischen Ton
der heutigen spanisciien (4ese]lschaft reproducirt: leider müssen wir bekennen,
dass dieser Ton im (lanzen ein selir laxer und frivoler zu sein scheint, und
dass aus diesem Grunde das Buch als Schulbuch mit nicht geringer Vorsicht
gebraucht werden nmss.
Wir sind ferner dem Verfasser für die biographisch -kritischen Notizen,
«He er den einzelnen Stütken voraussendet, und die von nicht geringer
Wichtigkeit sind, da sie viel Unbekanntes aufhellen, sehr dankl)ai-.
Möge uns nach diesem aufrichtigen Lobe der Verfasser gestatten, zu
«len Mangeln seines Werkes überzugehen, die nicht geringe sind. Zuerst hat
der Verfasser dem oben gerüjiten Drange, ein recht praktisches Buch zu
liefern, nicht widerstehend, sein Buch zu einer Öammiunfr allerlei sehr hete-
rogener Dinge gemacht. WMr finden nach einem Vorworte und einer kri-
tisch-literarischen Einleitung in einem ersten Abschnitte Anekdoten und
(deutsche) Lesestücke, in efnein zweiten namentlicih dem Gil Blas von
Sentillana entlehnte grössere Uebungstücke, darunter wiederum deutsche,
in einem dritten Schilderungen und Skizzen aus dem heutigen Spanien, eine
sehr dankenswerthe Zusammenstellung. Der vierte Abschnitt: Muster-
stücke aus den ^\' e r k e n spanischer Schriftsteller in der ersten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ist der wahre Kern des Buches,
die „nata" desselben. Dann finden wir noch in einem Anhange die Syn-
onyme von Don Juan Mari'h, syntaktische Bemerkungen, Prosodie und Accen-
tuation und eine Notiz über spanische Orthographie
Die beiden letzten Abschnitte des Anhanges: Prosodie und .Vccentuation,
und Orthographie sind uns sehr willkonnnen. liecensent hatte Archiv XX,
p. 451 bei Besprechung der Grammatik von Kotzenberg sein Bedauern dar-
über geäussert, dass in keiner spanischen Grammatik von Länge und Kürze,
die Rede sei. Booch-Arkossy stellt hier folgende Kegel auf: Die lange Silbe
eines \Vortes hat zugleich den Redeton, alle übrigen sind kurz, mit andern
W'orten : die betonte Silbe allein ist lang. Ueber die Richtigkeit der kurzen,
prägnanten Regel vermag ich nicht zu rechten; jedenfalls ist doch endlich
eine Regel aufgestellt, die die Grammatiken von nun an aufzunehmen Ofier
zu bestreiten und zu berichtigen haben. — Ebenso ist dankenswerth anzu-
erkennen, was der Verfasser über das Vermeiden der schwanken<len Fälle
in der Orthographie, namentlich das g (j) und des x (s) seit der Feststellung
der Rechtschreibung durch die Akademie von isi.^ sagt. In vorliegendem
Buche hat er bereits den Fortschritt in der Vereinfachung derselben zur
Anwendung gebracht. Eigentlich hätte dieser beiden Notizen oben Erwäh-
nung gethan werden müssen , wo es sich um die löblichen Eigenschaften
unseres Buches handelte.
W^ir gehen jetzt auf die einzelnen Abschnitte ein. Die kritisch-litera-
rische Einleitung, die den ungebührlichen Raum von 76 Seiten einnimmt, ist
wenig mehr als eine uimiiize Paraphrase und Amplification der gegebenen
Musterstücke und trägt kaum irgend etwas zu dem Verständiüss der letzteren
bei. Was hin und wieder daselbst über das Lesben der Schriftsteller gesngi
wird, könnte füglich in den Hauptabschnitt des Buches gestellt sein. Dt'r
Abschnitt: Anekiloten und Lesestucke, ^.t Seiten, mcichte ans einem weiter
unten zu entwickelnden (»runde gleich ub(,-rfhissig sein. ^\ ir benn'rken hin.
Anliiv t. 11. Spia. li,n. XXIII. 1 ;i
194 B euF theiilungen und kurze Anzeiij;c'ü.
dagg die in diesem und' im' folgenden Abschnitte enthaltenen zwölf deutschen
Lesestücke doch auch nur aws dem Wunsche, das Buch möj;lichst nach jodei'
Richtuii<f liin brauchbar zu machen, entstanden sind, und dass sie, von iler
liberwiegenden Masse spanischen Lehrstoffes wie zerdrückt und zerquetscht»
die Buntscheckigkeit des Buches nur vermehren helfen.
Damit aber diese noch in ein grelleres Licht trete, werden nach jetzt
beliebter Mode den einzelnen Uebungsstücken Fragen beigefügt, durcli die
die Uebung im mündlichen Gebrauche erzielt wird. M^n überlässt wohl
schon der Raumersparniss halber solche Fragestellungen am Besten dem
Lehrer. Es folgen endlich die Grössern ücbungsstücke, die dadurch,
dass sie älteren Schriftstellern entlehnt sind, im schreienden Gegensätze zu
dem ausgesprochenen Zwecke des Buches stehen, ein Hand- und Ilillsbuch'
der spanischen Sprache und Literatur im neunzehnten Jahrhundert zu sein.
Dieser Abschnitt nimmt alsdann wiedernm 48 Seiten ein, deren Weglassung
wiederum ein nicht unwesentliches Raumersparniss geliefert haben würde.
Referent hat seinen guten Grund, dem Verfasser dergleichen Weg-
lassungen dringend anzurathen. Es würde nämlich die also frei werdende Sei-
tenanzahl, gepaart mit weiser typographischer Benutzung des nachbleibenden
Lehrstoffes dein Verfasser Raum genug zu einer andern Arbeit lassen, deren
Ausführung ein BedUrfniss ist, und die nach der Meinung des Referenten
nicht leicht in dazu tauglichere Hände, als die des Verfassers, gelegt werden
kann. Es sind jetzt Vorarbeiten genug da, und dabei gedenke ich vor-
aus des Ticknorschen Buches, die es möglich machen, auch für das Spanisciie
in der Weise der französischen Herrig- Burguy'schen Chrestomathie ein Buch
zu liefern, das zugleich mit gewählten Musterstücken ein zusammenhängeniies
Bild von der geschichtlichen Entwicklung der gesammten spanisclien Lite-
ratur gibt. Möge der Verfasser sich hiemit für öffentlich aufgefordert an-
sehen, seinem Buche bei einer zweiten Auflage, die man ihm wohl mit Zu-
versicht voraussagen darf, diese wesentliche Umgestaltung zu geben. Viel-
leicht dürfte sich alsdiinn auch der Abschnitt III, dessen Reichhaltigkeit und
Nutzen in die Augen springt, etwas methodischer in Abschnitt IV verweben
lassen. Es folgt endlich die ausgezeichnete Sammlung der Musterstücke aus
den Schriftstellern dieses Jahrhunderts, vertreten durch mehr als 30 Namen,
von denen wir nur Breton, Hartzenbusch, Ochoa, Larra. Marfinez de la Rosa
und Zorilla anzuführen brauchen, um die Aufmerksamkeit auf diesen Abschnitt
zu lenken. Nicht klar ist uns jedoch, warum der Verfasser diesen Theil mit
einem im hohlsten Pathos geschriebenen Zeitungsartikel zu schliessen beliebt.
Dass dieser Artikel ausserdem ununterzeichnet ist, lässt eine Vermuthung
über seinen Ursprung aufkommen ,^ die wir lieber verschweigen. In einer
spanisch geschriebenen Anmerkung äussert sich alsdann unser Autor selbst
über Spaniens Zukunft. Besser hätte er wohl diesen Schlusssatz, indem er
wie einer der jüngsten spanischen Schriftsteller nach so vielen glorreichen
Namen auftritt, ganz fortgelassen.
Gehen wir jetzt zu den erläuternden Anmerkungen und zum Texte selbst
über. Auf die Correctur desselben ist sehr wenig Sorgfalt verwendet worden.
Nur wenige Bogen, eigentlich nur die ersten und letzten, sind von sinnent-
stellenden Druckfehlern frei. Selbst den erläuternden Noten ist oft so wenig
Aufmerksamkeit geschenkt worden, dass durch sie der Text oft eher unklar
als^ klar wird. Ueberhaupt vermag man nicht zu ermessen, nach welchem
Princip der Autor seine lexikalischen Anmerkungen (und es sind nur wenige
andre vorhanden) unten an der Seite angebracht hat. Dieses Princip war
doch durch den dermaligen Stand der spanisch-deutschen Lexikographie von
vornherein gegeben, so dass nur solche Wörter aufzunehmen waren, die der
deutsche Leser vermittelst der vorhandenen Wörterbücher nicht zu entziffern
vermochte. Umgekehrt finden wir dagegen manche von diesen nicht erklärt,
viele leicht zu lösende Schwierigkeiten jedoch erklärt. Wir lassen Beispiels
halber einige Berichtigungen folgen; dieselben um mehrere hundert zu vcr-
lU'iirtlipi I an «roii und kurze Anzeigen. 195
mehren, würde eine geringe Mülie sein, die wir (Jem Verfasser selbst überlnssen.
j). 175 ist las f'ajas y entorehailas para los militares durch Bimlen statt
Schärpen übersetzt. 1 79 ist poor pa iiianeja durch poncr para manejar statt
poder para manejar erklärt. '.88 niuss die Note '24 iüid' Zeilen tiefer stehen.
208 wird zu aino y jaca, der Herr und sein Pferd durch „(Panzerlienid),
Schutz, Sicherheit" erläutert. 319 libelo, Bittschrift statt Schmähschrift. '^:<>
nuestra statt nuiestra. 388 caudal statt raudal; eben da reboso Ueberlaufen
statt überlaufen. 340 atice hetzen statt schüren. 341 la viril caterva un-
ordentlicher Haufe Menschen statt männlicher Pöbel. 342 bicn für cien,
dcrro char statt dorrochar, 351 lea statt tea. '359 wird sogar el solano
durch schwarzer Nachtschatten statt „Ostwind" erklärt! Ein schlagender Be-
weis, wie wenig der Verfasser den Zusammenhang der betreffenden Stelle
im Sinne hatte. 533 cuantiosos pechos muthvoUe Herzen statt ungeheure
Auflagen. Es folgt nun noch, nach dem Principe der praktischen Brauchbar-
keit, unter dem Titel: Einige syntaktische Bemerktmgen über die richtige
Anwendung des spanischen Zeitwortes, eine Anmerkung über das presente,
preterito absolute und imperfecto, wie der Verfasser sagt, nach Salva's Lehr-
buch. Wie es der Verfasser sagt, ist es weder neu, noch überhaupt klar.
Eine Aeusserung wie: „Das Presente zeigt an, dass das, wovon eben ge-
sprochen wird, im Begriffe steht gethan zu werden oder überhaupt zu ge-
schehen, vorzufallen" wird diu-ch fast jedes 15eispiel, das man beibringen könnte,
widerlegt. Eben so unklar ist: Wenn man das preterito anwendet, darf nie
von einer Gegenwart mehr die Rede sein, und die Handlung muss bestimmt
in der entschieden der Vergangenheit angchörigen Epoche, nicht früher und
niclit später, vorgefallen und beendigt sein. Eine Epoche, die früher ist als
die Vergangenheit? Man hat eine dunkle Ahnung von dem, was der Verfaser
meint. Dass er aber irgendwie mit seinen Worten die Sache aufkläre, wird
niemand behaupten. Und was soll dieses Bruchstück aus der Grammatik?
Die spanischen Grammatiken bietfen doch der Schwierigkeiten so viele dar,
und ausserdem ist gerade jene Schwierigkeit von deutschen Grammatikein so
lichtvoll behandelt worden.
Dann endlich ist noch der Märchschen Synonymik zu erwähnen. Dass diese
sich durch Schärfe auszeichne, wird auch niemand, der sie kennt, zu ver-
theidigen unternehmen, obwohl sie fasslich und hübsch geschrieben ist. Auch
der Raum, den sie einnimmt, möge sich der Verfasser für jene nützlichere
und verdienstvollere Arbeit ersparen, die Referent sich ihm oben zu bezeich-
nen erlaubt hat, zu der er berufen zu sein scheint, und für die man ihm
grossen Dank wissen wird. 0^_ Büchmann.
Neuer Lelirgang der spanischen Sprache nach der Robertsonschen
Methode von Dr. August ßöltz. Erste Abtheilung.
Berlin. Peters. 1857.
Der Verfasser, bekanntlich einer der eifrigsten und glücklichsten Ver-
fechter der Robertsonsclien Methode, versichert uns in der Vorrede ausdrück-
lich, dass er es „an emsigem Fleisse, eiserner Beharrlichkeit und der bedächtig
stcn Verwendung jeder seiner freien Stunden" nicht fehlen lasse, tmi seinen
Lehrbüchern die grösstmiigliche Vollkommenheit zu geben. F2s bedarf wirk-
lich solcher Aeusserungcn nicht. Auch ohne dieselben räumt man gern ein,
dass es wohl kaum ein nach Robertsons Methode verfasstes Buch geben
möge, das den durch diese eingeschlagenen Weg mit solcher IJebe zur Sache
und mit solcher fast unerbittlichen Consequcnz verfolge. Es wird in den
Raum von 140 Seiten eine solch»' EüUe des Lehrstoffes, dem das Lustsjiiel
von Hartzenbusch: La coja y el encogido zu Grunile Hegt, in le.Nikalischer
pl)raseologi-8cher, etymologischer und syntaktischer Hinsicht zusammengepresst,
1 3 *
196 r> eurthtMl nngen irnd kurze Anzeigen.
dass , wer sich denselben in der im Buche seihst mit pädagogischer Kinsk-ht
vorgeschriebenen Weise angeeignet hat, eine nicht unverächtliche Kenntniss
des SpanivAien besitzen nuiss, die er durch die zu erwartende zweite Abthei-
lung zu vertiefen begierig sein wird. Der innere Werth des Buches wird
durchdie in solchen Lehrbüchern unerlässliche Correctheit des spanischen Textes
bedeutend erhöht.
Erlaube uns der Verfasser folgende Anmerkungen. Ist er der Meinung,
dass es von wirklichem Nutzen sein könne, wenn er zur Aufklarung der Wurzel
eines Wortes die entsprechende irländische, rus-sische oder sanskritische Be-
zeichnung des Wortes bringt? Ist es wirklich ganz correct ausgeilrückt, wenn
er Seite 19 die Präposition in ä la derecha, junto ä ^1, de frente für adverbialisch
gebraucht erklärt? Die ganze Phrase d la derecha, etc. ist allerdings adverbia-
lisch; schwerlich lässt sich das aber von der in derselben figurirenden Präposition
behaupten. Meint der Verfasser wirkh'ch : que sei ein Demonstrativum in el que,
la que? Eben so gut nuisste es doch Demonstrativum sein in el hijo que.
Er wird wohl que hier ein Relativiim sein lassen müssen. Mitunter versucht
der Verfasser neue Etymologien. Das spanische dejar leitet er ohne Weiteres
von descrere ab und erwähnt noch die Diezsche Ableitung von desinere. Je-
doch verfährt Diez etwas überlegter; er leitet dejar nicht von desinere, son-
dern von einem desitare, gebildet aus desitus, dem part. perf. von desinere
ab Aus desitare wird destare, st geht aber mitunter in spanisches x (mo-
dernes j) über, vorüber Diez Beispiele beibringt. Letzteres scheint
doch sehr wesentlich. Der Verfasser geht dagegen über das etymologische
Herumrathen nicht hinaus. Eben so leitet er wo anders izquierdo ohne irgend
welchen Beleg von scaevus ab Selbst die Richtigkeit der Vermuthung ein-
mal zugegeben, wie soll der Lernende irgend das Entstehen des spanischen
aus dem lateinischen Worte begreifen? Abermals leitet er trabajo V(nn slavi-
schen AVorte rab ab. Daraus wird aber das t vor r in dem romanischen
Worte nicht erklärlich. „Die kritische Methode der Etymologie unterwirft
sich schlechthin den von der Lautlehre aufgefundenen Principien und Regeln,
ohne einen Fusshreit davon abzugehen." Also Diez.
Dr. Büchmann.
Spanisch - Deutsches Lesebuch zum Schulgebrauch. Gesaramelt
von Guillermo de Duve y Huebener. Leipzig.
Brockhaus. 1857.
Man ersieht aus dem Titel, dass der Verfasser, ein seit langer Zeit in
Malaga lebender Deutscher mit sehr hispanisirtem Namen, sein Buch sowohl
für Deutsche wie für Spanier geschrieben hat. Möchte eine solche Zwitter-
gestaltung nicht von vornherein ein Fehler sein? Das Buch zerfällt in drei
Theile. Der erste besteht aus abwechselnd deutschen und spanischen Anek-
doten, von denen viele herzlich abgeschmackt sind, und wie deren seit lan-
gen Jahren die Lehrbücher für neuere Sprache veralteten Schlages füllen;
man findet sie in italienischen, englischen, polnischen, französischen u. s. w.
Grammatiken wieder, und sie bilden gewissermassen eine eigene, nicht sehr
geistbildende Literatur für sich. Eben so alterniren im zweiten Theile, der
längere Auszüge aus Classikern enthält, deutsche und spanische Stücke.
\\ älirend im ersten Theile die Vokabeln einem jeden Stücke beigefügt sind,
leiden sie bei dem zweiten Theile ganz. Wenn nun auch der Verfasser hier
den Gebrauch eines \\ örterbuchs voraussetzen mag, so wird es dem über-
haupt besser bedachten spanischen Schüler kaum möglich sein, nachdem er
sich durcii die Anekdoten hindurch gearbeitet hat, selbst mit Hilfe eines
W (»rtcibuchs ohnt- weitere Anweisung Fragmente aus Götz von Berliclüiigen
Beurthciliingeii und kurze Anzeigen. 197
Zriny und den Regulus von CoUin zu übersetzen. Der dritte Theil enthält
nur Proben deutscher Lyrik, ebenfalls ohne jegliche Anweisung zu rich-
tiger üebersetzung. Der Verfasser scheint ein Bewusstsein über die Plan-
losigkeit des Buches darin zu äussern, dass er uns dasselbe ohne jegliche Vor-
rede in die Hände gibt. Doch lässt sich allenfalls ob der anerkennenswerthen
Correctbeit des deutschen und spanischen Textes dem Verfasser sein Buch
vergeben, da man schliesslich aus jedwedem correct gedruckten Lesebuche
in sprachlicher Hinsicht zu lernen vermag. j^ Büchmann
Deutsche Studien. Methodisch geordneter Lehrgang zur schnel-
len und leichten Erlernung der deutschen Sprache. Bear-
beitet und der spanischen Jugend gewidmet von H. Plate.
Bremen. Heyse. 1857.
Obwohl dies Buch den deutschen Unterrichtskreis eigentlich nichts an-
geht, so möge dennoch hier erwähnt werden, dass es nach demselben ver-
ständigen Plane entworfen ist, wie die bekannte englische Grammatik des-
selben Verfossers, dem es hauptsächlich darum zu thun ist, durch anschauliche
und leichte Sätze von vornherein den Schüler in den sichern Besitz der
Formen zu setzen und ihn zur Reproduction kleiner und leichter Sätze zu
veranlassen, daneben ihm aber zugleich einen kleinen Schatz unentbehrlicher
Wörter methodisch zuzuführen. Dieser erste Theil enthält die gesammte
Formenlehre. Dr. Büchmann.
Programmenschau.
Schiller'e Walleßstein , für den Unterricht behandelt. Vom
Oberlehrer W. Winter stein. Programm der Realschule
zu Burg. 1858.
Die oben benannte Abhandlung ist nach Angabe des Verfassers haupt-
sächlich dazu bestimmt, den Collegen desselben eine Mittheilung zu machen
über die Art und Weise, wie einzelne Stücke unsrer deutschen Classiker
in der Schule, an welcher er unterrichtet, behandelt werden, um einen Bei-
trag zu geben für die Beantwortung der Fragt: Wie soll der Lehrer bei
der vollständigen Leetüre eines Drama's in dem Unterrichte verfahren?
Der Verfasser legt mit Recht den grössten Nachdruck auf die Einsicht
m den Zusammenbang der einzelnen Auftritte eines Drama und in deren
Bedeutung für das Ganze; den Gang, welchen er nimmt, um die Schüler zu
einem solchen Verständniss zu führen, gibt er in folgender Weise an: ge-
schichtliche Einleitung (Vortrag eines Schülers); Vorlesen der einzelnen
Aufzüge von Seiten des Lehrers (nänilicii inmier nur ein Aufzug und dann
erst die vollständige Besprechung desselben) ; sprachliche und sachliche
Erläuterungen von Auftritt zu Auftritt; Auffassen des In' altes der einzelnen
Auftritte und dabei besondere Berücksichtigung des Zusammenhanges des
Einzelnen ; Hervorhebung der Bedeutung jedes Auftrittes für das Ganze ;
Zusammenfassung von dem Hauptinhalt eines ganzen Aufzuges; Lesen der
so durchgearbeiteten Acte von der ganzen Classe nnt Kollenvertheilung;
^V iederholung des Hauptinhaltes sämmtlicher Acte; Zusammenfassung der
llaupthandlung des Ganzen; nochmalige Betrachtung des Ganzen nach sei-
nen Hauptm(;menten (Act für Act) zum Behuf der Auffassung der innern
Entwicklung der Handlung; und zum Schluss Besprechung des Gehaltes.
Nach dieser Methode hat nun der Verfasser mit Uebergehung der
sprachlichen und sachlichen Erklärungen Schiller's Wallenstein bearbeitet,
und zwar so, dass er den Inhalt jedes einzelnen Auftrittes in kurzen VVorr
ten angibt, dann hinter einem jeden Auftritt die Bedeutung des Einzelnen
für das Ganze, am Schlüsse jedes Aufzuges dessen Bedeutung für das
Ganze darstellt; nach der ganzen Trilogie folgt die Andeutung der ganzen
Handlung; nachdem noch eine Uebersicht der Aufzüge gegeben ist, dann
die Entwicklung der Handlung und schliesslich noch eine Zusammenfassung
derselben.
Von dem letzteren Tbeile des Aufsatzes, der übrigens der bei weitem
•grössere ist, können wir gänzlich absehen, da er eben nur die wirkliche
Ausführung des vorgezeiclineten Ganges enthält, und für den Lehrer nicht
von besonderer Bedeutung sein kann. Denn wenn er die hier empfohlene
Metlioiie befolgen will, so kann er sich ohne grosse Mühe aus dem Drama
selbst den Inbiilt der einzelnen Aultrittt^ ausziehen, ohne des hier gebotenen
Wegwiisers zu bedürfen; soll die Ausführung als eine Probe dienen, wie
Pro gram nicn s chau. 19!)
der Verfasser selbst beim Unterricht damit verfahrt, so ist diesel"be nicht ganz
jiusreichend, (Icnn die mit wenigen Worten gegebenen Inhaltsverzeichnisse kön-
nen doch in dieser Weise den Schülern unmöglich vorgetragen werden. Von
grösserem Interesse ist nun die Methode seihst, und ülx^r diese wollen wir
einige Hemerkungen machen.
Ich setze natürlich voraus, dass die Schüler nn't dem zu erklärenden
Drama, wenigstens zum Theil, unbekannt sind, eine Voraussetzung, deren
Richtigkeit j^elbst für Schiller's Drama die tiigliche Erfahrung bestätigt.
Zuerst soll nun ein Schüler in einem Vortrage eine gesdiiclitliclie Einle -
tung geben. Dazu nniss man schon einen Schüler wählen, der den Inhalt des
Stückes genauer kennt, damit er die historischen Grundlagen desselben ange-
ben kann; aber doch bleibt es sehr zweifelhaft, ob er den Zweck, den eine
solche Einleitung haben soll, erreicht und erreichen kann, zumal wenn man
bedenkt, dass der betreffende geschichtliche Zeitraum den übrigen Schülern
vielleicht ganz fremd ist. Will aber der Lehrer überall ergänzend nach-
helfen, so wird durch die zahlreichen Unterbrechungen weder die klare Ein-
sicht der übrigen Schüler gefördert, noch die Uebung des Vortragenden
von erheblichem Nutzen sein. Ich glaube, am zweckmässigsten gibt der
Lehrer selbst, so gedrängt als möglich, eine solche Einleitung. Nun soll
*ler Lehrer je einen Aufzug vorlesen, dann sachliche und sprachliche Erläu-
terungen nreben, die nach der verständigen Ansicht des Verfassers nicht
über das Nothwendige hinausgehen dürfen, dann soll der Inhalt der einzel-
nen Auftritte aufgefasst werden. Die Schüler werden aber, wie ich fürclite,
nicht im Stande sein, nach der einmaligen Vorlesung eines ganzen Aufzuges
den Inhalt der einzelnen Auftritte im Gedächtniss zu behalten und zu ent-
wickeln: zweckmässiger möchte es sein, nach jedem einzelnen Auftritte den
Inhalt entwickeln zu lassen, und zwar nachdem die Schiller selb.st den Te.xt
gelesen haben, nicht mit verteilten Rollen , um die (lefahr zu vermeiden,
dass nur ein Theil der Schüler mit voller Aufmerksamkeit den Worten
folgt. Wer die Schwierigkeiten kennt , welche vielen Schülern das genaue
Auffassen des Inhalts selbst bei Absclmitten von geringem Umfange macht,
wird die Richtigkeit dieser Bemerkung nicht bestreiten. Höchst misslich
scheint mir nun die folgende Hervorhebung der Bedeutung jedes Auftritte«
für das (janze zu sein, da die Schüler eben das G.mze noch nicht kennen ;
nach der Ausführung, die der Verfasser gegeben hat, scheint er jedoch
iiuch nichts weiter damit zu bizwecken als eine kurze Zusammenfassung des
Inhaltes wobei dann freilich noch grösseres (jcwicht auf den Zusammenhang
«ler einzelnen Auftritte und die fortschreitende Entwicklung der Handlung
zu legen wäre \\':is endlich die zum Scliluss des Ganzen gegebene Uebei-
.'^icht der Aufzüge, die Anga-be der Handlung, die Entwicklung der Hand-
lung, die Zusammenfassung betrifft, so möchte wohl die Vereinigung aller
<Iicser Betrachtungen in eine einzige zweckmässiger sein, <ia ja im (Trunde
in jedem dieser Abschnitte immer wieder dasselbe gesagt werden inuss.
Fragen wir nun, was ist am Ende einer solchen liehandlung des Dra-
nia's erreicht, so ergibt sich als Resultat nur eine genaue Keimtniss des In-
haltes und des Ganges der Ilandlun;:,. Die ganze Entwicklung des Ver-
fassers ergibt nichts weiter, als eine Disposition. Es lässt sich nicht leug-
nen, dass dadur(rh die \'erslandesthätigkeiL des Schülers gebihlet und seine
AufTassungskrafi gcschurCt wiid, aber warum zu einer solclien Uebung gerade
<'in Dichterwork wählen? Viel aniieme.ssener dürfte es sein, zu solchen
l'eljungen prosaist-he Schriften zu wählen, die zum Zwek allein die Beschäf-
tigung des Vei-stanrles haben und deren Inhalt auf Belehrung gerichtet ist.
Die \\'erke unsrer grossen Dichter sollen von d(>r Jugend mit der Phantasie,
crfasst werden und h;iiipts:ichlich Eindruck auf die jungen (li^niiither machen,
nicht .aber einen Gegi'nsland bilden, der mit dem Mess(>r dei- Analyse in
Stücke /erschnittcu \\ir<l. Weit entfernt, ilas entgegengesetzte Extrem dei'
für Schüler unversiandliehen und unnützen ästhetischen Behandhm'i erslrc-
200 P ro gram lue 11 seh au.
zu wollen, verlangen wir dennoch, dass eine Dichtung hauptsächlich auf das
Gemüth und das sittliche Gefühl der Jugend wirke, und diese Seite bleibt
bei der besprochenen Behandlung unberücksichtigt.
Berlin Dr. Büchsenschütz.
Des reformcs littcraires operees par Malherbe, von Prof. Borel.
Programm des Gymnasiums in Stuttgart, 1857.
Der Verfasser dieser Abhandlung, welcher sich durch seine trefflichen
Arbeiten in weiteren Kreisen vortheilhaft bekannt gemacht hat, liefert hier
eine geistvolle, sehr gut geschriebene Darstellung jener bedeutungsvollen
Uebergangsepoche der französischen Literaturgeschichte, welche in Malherbe
iln-en Absciiluss fand. Wir empfangen zuvörderst eine scharf charakterisirte
Darstellung jener neuen antinationalen poetischen Schule, die es sich zur Aufgabe
gemacht hatte, neue Wörter und Wendungen in unendlicher Menge aus den
alten Sprachen zu entlehnen und ganz unpassend sie dem Französischen
aufzupfropfen, — ein Bestreben, welchem merkwürdiger Weise der allge-
meinste Beifall zu Theil ward. Die Abhandlung motivirt hierdurch, wes-
halb der versiändige und kräftige Malherbe mit dem falschen Geschmack
seines Jahrhunderts brechen und den abscheulichen Missbräuchen mit fester
Stirn entgegentreten musste. Die ausführliche Darstellung der verschiedenen
Veränderungen , welche durch Malherbe's Bemühung in der französischen
Poesie festen Fuss fassten, gibt zwar nichts Neues, aber sie empfiehlt sich
durch Klarheit und gibt dem Leser ein sehr anschauliches Bild der frühern
Zustände. Eeferent bpgnügt sich damit, statt aller weiteren Auslassungen
das Resume der von Herrn Borel gemachten Bemerkungen hierherzusetzen,
welches gleichsam als Ergehniss des Ganzen Alles in folgenden Sätzen zu-
sammenfasst: „Sans etre un grand poete, car limagination et surtout le seii-
timent lui faisaient defaut, il a, le premier, par Tinstinct du bon sens et
par la r^flexion, trouve dans ses vers les formis de langage dont It s
grands poetes qui allaient paraitre, devaient revetir Icurs inspirations sub-
limes; prosateur mediocre, il opöra dans le style, par la seule puissancc
d'une critique inflexible autant qu'eclairee, une revolution bienfaisante et
durable; enfin, si par l'usage d'une doctrine qui procedait surtout negative-
ment, il a peut-etre appauvri le langage, il l'a du moins epur^, en elaguant
les Clements antipathiques au caractere national, que la manie de l'imitatioM
^trangere avait fausse si long-temps. Apres le succes decisif obtenu par
Malherbe, une surprise de cette nature ne pouvait plus inspirer de craintes
sdiieuses, et si l'esprit versatile de la nation semble, un moment encore,
imiter l'emphase espagnole apres l'affeterie italienne, rette phase de servi-
lisme litteraire glisse plus rapidement encore, pour faire definitivement place
ä la littcrature franchement nationale, qu'allaient inaugurer Corneille et
Pascal."
Französische Etymologien vom Oberlehrer Langensiepen. Pro-
gramm der höheren Bürger- und Realschule zu Siegen,
Ostern 1858.
Antr. Dem Verfasser ist ainsi antesio lal-so), aise antesium (vo;I.
fl n c 1 e ri = antes-ianus), und er erklärt m a u v a i s für malabantesius, syncopirt
riialbansius, unser; unvortheilhatl.
rrof^ramineiischau. 201
Aprious. Gegen Diez' Behauptung: „Was die Sonne bescheint, ist
und bleibt unbedeckt," bemerkt der Verfasser, dass die Bedeutung von
Abri, „Obdach," erst fiir eine abgeleitete gelten könne: eigentlich s(!i
abri das Sonnige, Freie, Trockene, und etvv. a l'abri sei ganz unser: „im
Trocknen sein.*' Das ^\'ort abricot, lugt er hinzu, sei, wie orange,
auranea auf aurum, so auf aprious zuriickgeführt worden, wenn auch alber-
cocco von praecox zu Grunde liege.
Aptus. Von diesem Worte wird atteler, aptulare, und deteler, de-
aptnlare, hergeleitet, wie der Verfasser schon in seinem lateinisch-deutsclieii
Vocabularinm : Originationis latinae liber memorialis (Leipzig, Teubner, 1857),
dem eine französische VVörtersamnilung in etymologischer Ordnung bei-
gegeben ist, vorgeschlagen.
Arire. Dies ist dem Verfasser das Primitiv von Ap-erire und op-erire.
Die Herleitung des Verbums ouvrir von deoperire als addeoperire, welche
Diez behauptet, wird in Frage gestellt inid vielmehr adaperire, dissimilirt
und nach platter Aussprache aduperire, für das Stammwort gehalten.
Articulus Unter Vergleichung von orteil, articulus, prov. arteil,
Festungswerk, altfranz. artillier, befestigen, wird artillerie als machina
(ars, cohors) articularia genommen, eigintlich eine gegliederte Wurf-
maschine.
Augur iura. II n'y a quheur et malheur dans ce monde — nn't
diesem Sprichworte beginnt der Verfasser, um auguriuni als das Stammwort
von heureux einzuführen (augurium corvo, laeva cornici omina Phaedr.
.?, 18, 12), welche Ableitung der von hora weichen musste. Er selljst er-
klart orgneil für auguri-olum, etwa: Glückhaftigkeit, d. i. hohe Art,
ilofiarth
Bajulare. Dem Verfasser ist travailler trahajulare; er vergleicht
bailli, Landvogt u. s. w.
Bulla. Boulanger, bullanearius. erklärt der Verfasser als ,.Teig-
verarheiter. Teiger," mit Vergleichung des Verbums boulanger, Teig
kneten, so dass das unvorhandene ho u lange eigentlich la päte levante sei.
Cernere. Dem Verfasser ist craindre crinere = cernere , y.oiieii;
wie moindre, niin'r, tendre, ten'r: er vergleicht „scheuen" yon „schauen"
und hält cernuus auch für eigentlich „scheuend."
Fragium. Frais wird als fragia, unser „Brüchte" = Geldstrafe, ge-
deutet; fraise als fragasia statt fragaria, wie chaise für chaire steht.
Iste. Tot ist dem Verfasser toto isto sc. tempore, tout-k-Fheure,
vite ab Ista sc. hora.
Lixus. Von li.\us ist prolixus, lixus vielleicht Part, zu liqui = lique-
fieri, also lisse wäre lixus i. e. litjuidus, Inbricus, levis, glisser, collixare,
mit dem Glatten zusammenkommen.
Luscus. Von luscinus wird luscinare gebildet, dies in lurcnare,
lorgner, euphonisch umgewandelt und orfraie, berlue u. s. w. verglichen.
Migrare scheint dem Verfasser das Primitiv von marchrir, das man
nicht als mercari zu nehmen bniuche. Er fügt als leicrhtere Vermuthungen
hinzu: chagrin, Adj., carricinus, charge de depit; crapaud, cara-
baldus, krebsartig schleichend; ecrevisse scarabissa; envelnpper, invol-
vere, woraus involpere, invloperc, invelopare (vgl. flacon aus vasculum).
Nodus, nicht odium, erklärt der Referent für das Stammwort von
ennui, das also innodium oder Annoflium, Gebundenheit, sei; das passendste
Bild für die Langeweile, die sich nicht zu helfen wisse.
Parcus. Aehnlich wie lorgner aus lascinare, wird epargne aus
exparcina gedeutet, parc aber nicht „Schonendes," „Schützendes," sondern
..Zusammenhaltendes" übersetzt, indt'm comperccre, compescere zu ver-
gleichen ist.
Pntare heisst eigentlich schneiden: daher ist amputarc, „beschneiden,"
auch wohl Primitiv von cntur, da das Pfropfen ja ein „Beschneiden," nicht
202 l'rograiuuieiischau.
bloss ein „Einschneiden" ist. Putus ist „beschnitten," daher petit, pii-
tettus, pii'ce, putiuni (put-amen, prae-putium).
liapere. Regretter ist recorreptare, immer wieder in Gedanken
vornehmen (vgl. exempter von exemptus u. s. vv.)
Seeundare. Von diesem Worte soigner, sonder und seconder:
esoin ist gewiss mit bis zusammengesetzt: „Bedürfniss" ist, (juod bis se-
quitur, was einem doppelt nahe geht. Wegen sonder, das kein subundare
sein könne, wird sondeur, secundator navis (kein subundator), besonders
angeführt. (Wegen besoin vgl. noch ital. bistentare zu stentare von ab-
stentum.)
JSenior. Concierge steht wohl für consieurge, consenioreus , der
Mitherrliche, Mitherrschaftliche.
Serenus. Suzerain ist vielleicht sus-serein, superserenus , Serenis-
simus, oberlandesherrlich.
Subitus, nicht das rabbinische schotteh, scheint das Primitiv von sot.
Tutare. Nicht „abwehren" ist die Bedeutung, aus der „tödten" für
tuer gewonnen wird, sondern „sicher, still, unschädlich machen."
Vadari. Gage könnte auch vadaticum sein, wiewohl vadium nicht
grade abgewiesen wird. Guider scheint dem Verfasser, indem er gu auch
für andere als deutsche Wörter anlautend gelten lassen will, coadjutare,
also: coaider, cu'ider; beiläufig nimmt er jambe für genua pl., genba;
gueux ist vielleicht aus votosus, plein de voeux, contrahirt. — Auch
aspirirtes h ist durchaus nicht bloss ileutsch; heurter könnte hurtari in
ursprünglicher Bedeutung sein, wie dem Verfasser auch couper, culpare
(alapare, clap-are, niederschlagen) und galoper dasselbe, versetzt, clupare,
clopare, ca-lopare, vom Klopfen der Pferdelmle, zu sein scheint; hanneton
ist vielleicht hinnetto, von hinnus, wiehernd = schwirrend, summend. —
Endlich wird brave als ravus gedeutet, indem die Ileimath des Wortes der
Südwesten sei, wo man die guten Kampfstiere so benannt habe und braviar
ja „brüllen" heisse: braver, rabrouer, s'ebrouer, enrouer sind zu
vergleichen.
Beiträge zur Lexikographie des Altfianzösischen, Abhundluiig
vom Lehrer Dr. Jensch. Piogranun der höheren Gewerb-
und Handelsschule zu Magdeburg, 1858.
Wenn wir auch vollständig das vom Verfasser citirte Wort Mätzners
über den noch sehr niedrigen Standpunkt der altfranzösischen Lexikographie
billigen, so scheint uns doch eine derartige Beschränkung, wie Jensch sie
in seiner Arheit vorgenommen, wenig geeignet, diesem MiUigel abzuhelfen,
und eine derartige Arbeit, die unter ihren vorzüglicheren Hülfsmitteln nicht
einmal Raynouard angibt, während sie fast nur aus zwei Romanen den \\\)rt-
vorrath entlehnt und gelegentlich statt der Quellen sellist Ideler's schlechte
Sprachproben cilirt, kann nicht recht befriedigen. Die P^rklärung der ^^ orte
•■strument, escargaite, geste, muer, paile, wankerans z. B. winde durch
Proben grösserer Belesenheit in der altfranzösischen Literatur gewonnen
haben: emblar (aus involare von vola, altlateinisch =: paunie, cf. Jubinal 23
manieres und schon Diez, eskin, <las als eissil, essil oft mit mort zusanmieji
steht und mit ocas confundirt scheint (cf. (luill.'unne dorange, .S, 119,'), de
fi (18), (bis nicht fidcs, sondern fin ist, tristor, das nicht nach Analogie der
Substantive auf tor, sondern wie amor, baudor, gebildet ist, u. A. würden
so leichter und richtiger gedeutet worden sein. NVährend manche sehr be-
kannte Sachen erklärt werden, sind andrerseits eine Anzahl Worte ganz ohne
rrograuimcn schau. 203
Auslegung geblieben. Recht lobenswerth sind die Zusammenstellungen (wie
17 von den Anwendungen des Verbs faire, 2.'5 niettre, 15 Zusammensetzungen
mit entrc', obwi^hl auch hier noch keine Vollständigkeit erreicht zu sein
scheint.
Henry Wadsworth Longfcllow von G. ßüchmann, Programm
der städtischen Gewerbeschule in Berlin, 1858.
Es kann nicht Wunder nehmen, dass ein so liebenswürdiger Schrift-
steller wie Longfcllow, den man am Rhein und an der Elbe eben so genau
keimt, wie am Mississippi und am Ohio, und der mit unsrer Literatur so
bekannt ist wie mit der seiner Ueiniath, bereits hundert deutsche Federn in
Bewegung ge.'^etzt hat, um ihn zu übersetzen und zu commentlren, und dass
sich zu diesen hundert Federn noch eine fügt, um eine an Longfcllow wenig
beachtete Seite seines dichterischen Wirkens in's rechte Licht zu setzen.
Der Verfasser hätte über sein Programm „Ethnographische Dichtungen Long-
fellow's setzen sollen, und er würde uns von vornherein gezeigt haben, dass
es ihm nicht bloss auf eine möglichst eingehende Schilderung des Privat-
lebens des Dichters ankam, sondern dass er dessen Dichtungen: Die goldene
Legende, der spanische Student, Hyperion und Outre-mer gegen die Ver-
unglimplüngen solclier lUurtlieiler scliützen wollte, die mit den hergebrachten
Ansichten über das \\ esen des Dramas und des Romans an diese Werke
treten und sie nach dem Schema der überkommenen Poetik zu lesen bestrebt
sind. Zweitens wollte er aus der absichtlich dürrer beliandelten Lyrik des
Dichters wiederum diejenigen Gedichte hervorheben, in denen Longfellow's
Meisterschaft weder von ihm selbst noch von der Kritik hervorgehoben wird,
jene beschreibenden Geschichten, ,.jene Stillleben, die das flüchtige Bild
einer lieblichen Naturscene festzuhalten suchen," und die eine der duftigsten
Blüthen am Lorbeerkranze unsers amerikanischen Amtsbruders sind. Da
der Verfasser im Besitze des hier seltenen Buches: the Poets and Poetry
of Europe ist, so vermochte er auch einige nähere Data über dies Buch niit-
zutheilen. Am Schluss fasst er die vorhergegangenen Analysen zusammen,
um so ein Urtheil über Longfellow's Wrdicnste abgeben zu können. Ueber-
schwängliches Lob ist dem amerikanischen Dichter hinlänglich gezollt
worden, andrerseits ist er absprechenden und wegwerfenden Beurtheilungeu
nicht entgangen. Der Verfasser sucht diese Erscheinung durch die ver-
schiedenartigen Neigungen des Dichters, die lyrische, epische, dramatische
und die gelehrte zu erklären, die ein Ineinanderspielen der Gattungen her^
vorrufen, das dem Sänger des Gesangs des Hiawatha manchen herben Tadel
zugezogen hat, während ihm Niemand einen Mangel an Reinheit und Adel
der Seele jemals vorgeworfen hat. Man wird wohl mit dem Verfasser (hm
europäischen Patriotismus, wenn wir uns des seltsam zusanmiengefiiglen
Ausdrucks betlienen dürfen, so weit treilien köiuien, auszurufen: Longfcllow
hat grade deswegen die Rolle, die er sich (wie eine Stelle im Hyperion be-
deutungsvoll andeutet) auf der Bühne des Lebens zu spielen vorgenommen
liatie, ein Erzieher seines V^olkes zu sein, glücklich zu Ende gefuhrt, weil
er der eiu-opäißchste unter den amerikanischen Schriftstellern ist.
IL
204 Progra 111 nie lisch au.
The English Prepositions Compared In their use with those
of other languages. By Dr. E. Thieler. Programm der
höheren Bürgerschule zu Leunep, 1858.
Das etwas nachlässig gedruckte Programm, auf dessen 15 Seiten eine
grosse Menge Druckfehler stehen geblieben sind (wie happend 3, Js. statt
ilacob Grimm, 8 neminit l'ür meminit, oly.trcov statt oikctojv, 9 a^'SQcönon,
10 ad, thy statt and, they, le^coo, 11 ye'vesdru, 12 arest statt arrest, crinch
statt cringe, 13 accross neben across zwei Mal, lenght, 15 elipsis, 16 exits
für exists, pero de las mas curiosas für los mas curiosos, 17 sind zwei ganze
ISätze doppelt gedruckt), gibt in einem Styl, von dem wir annehmen, dass
er gleichfalls in Unachtsamkeit' des Druckers seinen Grund habe (4 tili to
(iay, and that the less, as . . . , 5 and this in a double regard, der Schluss
der Seite ist kein Satz, 6 at least it is explicable . . . , 8 the idea lies at the
basis, 12 with respect to that, what follow, 14 in as much it executes etc.),
einige Notizen nicht über englische Präpositionen, sondern über die Bedeu-
tung der Casus zunächst in den alten Sprachen, wie sie freilich eine jede
einigermassen rationelle Grammatik auch bringt; alsdann werden mit je in
der fremden Sprache und in der englischen Uebersetzung gegebenen Bei-
spielen aus der griechischen, lateinischen, deutschen, französischen, italie-
nischen und spanischen Syntax einige der hauptsächlichsten Präpositionen
aus diesen Sprachen durchgenommen und in recht eingehender Weise ge-
zeigt, wie die eine Sprache ein bestimmtes Verhältniss anders auffasst als
die englische bei ihrem doch nur eben ohngefähr entsprechenden Ausdrucke :
S. 10 it would far exceed the limits of this dissertation, if I would investi-
gate the particular use of every preposotion in different languages; I can
only notice some peculiarities in their use in general, and principally with
respect to thcir fundamental signification. Manche der dabei ausgesprochenen
Ansichten haben uns nicht befriedigen können, so die etwas schiefe Defini-
tion von en und dans (14), wo die zwei Beispiele bestimmt nichts erläutern;
die Ansicht ebendaselbst über den Einfluss des Wohllautes auf die Bildung
der italienischen Präpositionen, als ob fra, tra etc. ein Wort wären; die
Verurtheilung der Constructionen mit da als Barbarismen (S. 15), cf. Diez
Gram. III, 148; die Erklärung von api-ende de carpintero, S. 16 cf. Diez
III, 152, und die ziemlich ausführliche Auseinandersetzung über por und
para gehörte nicht recht hierher. Was der Verfasser noch zu geben beab-
sichtigte, sagt er in den Schlussworten, mit denen wir auch unsre Anzeige
beschhessen wollen: After having thus examined the chief peculiarities in the
use of the prepositions of the principal languages, it would be perhaps (?)
not without interest to say something about their capability offorming com-
pounded words ; of their different force, of enriching the language with new
ideas; in what degree formal thinking is promoted by it, and what advan-
tages result from it for poetry, philosophy and thinking in general, but it
is time to finish this dissertation.
C. Sachs. ,
M i s c e 1 j 0 11.
(xoethe in Ilmenau im Anfange des Septembers 1783.
Haben wir auch Grund genug, alle Angaben über <lie Abfassung Goe-
t bescher Gedichte einer genauen Prüfung zu unterwerfen, so müssen wir
»ms doch vor allem hüten, solche ohne Nöthigung durch kühne An-
nahme zu verwerfen, und immer ilen Thatbestand auf's schärfste im Auge
halten.
Das bekannte Lied „\\'anderers Nachtlied", das mit den Worten be-
ginnt „Ueber allen Gipfeln ist Ruh", schrieb Goethe auf dem Gickelhahn
bei Ilmenau am 7. ISei)tenibc'r 178;^ nach der gleichzeitigen Inschrift, deren
undeutlich gewordene Zuge der Dichter selbst am 29. August 1813 mit Blei-
stift von neuem überzog.*) Das herrliciie Gedicht auf des Herzogs Geburts-
tag „Ilmenau den 3. September 178:^", muss an diesem Tage zu Ilmenau
gedichtet sein. Nun hat aber Gödeke**) neuerlich behauptet, das letztere
Gedicht sei zu Weimar gedichtet, das erstere gehöre dem 6. September 1 780
an, was voraussetzen würde, der Dichter habe später die Zahl 1780 als 1783
verlesen. Der Grund, den Gödeke anführt, ist einzig der, dass Goethe im
ganzen Monat ."^cptember 1/83 nicht in Ilmenau gewesen. Allein dies ist
eine durchaus haltlose Vennut huug, wenn wir auch unbedenklich zugeben,
dass der Dichter am 7. September 1783 nicht auf dem Gickelhahn sich
befunden, da er am 6. Sept. in \\'eiinar war, am 9. Sept. in Langenstein
zwischen Blankenburg und IJalberstadt bei der Branconi. Am 30. August
schreibt Goethe an Frau von Stein: „Ich bin noch nicht weg, und sehne
mich schon wie'ier zu Dir. Wie wird es erst weiter gehn! Lebe wohl, Du
süsse Freundin und Gehebte. deren Umgang mich allein glücklich macht.
Wenn es möglich ist, sclireibe ich dem Herzog ein Gedicht auf seinen
Geburtstag. Nochmals Adieu. Ewig der Deine." Diese Worte kann dei-
Dichter offenbar nur kurz vor der Abreise an die Freundin gerichtet haben,
und wenn er am tj. September derselben schreibt: „Nun Adieu, liebe Lotte,
und Dank für Deinen lieben Abschied, der mir unvergesslich i.st. — Lebe
wohl, ich bin der Deitiige u. s. w.". so kann dies unmöglich dieselbe Heise
sein. Die ."^ache klärt sich ganz einfach so auf. Am 30. August oder am
folgenden Tage reiste Goethe nach Ilmenau, da der Herzog seinen Geburts-
tag diesmal zu Gotiia zubrachte. Wie vor drei Jahren verblieb er hier die
Nacht in dem zweistöckigen Jagdhause auf dem (iickelhahn; hier schrieb
er in der Nacht vom "2. auf den 3. Sept. „Wanderers Nachtlied" und am
folgenden Tage das Gedicht auf des Herzogs Geburtstag, wenn er dasselb
*) Vgl. das Jahrbuch der Berliner (iesellschaft für deutsche Sprache
\', '^€> f Riemers Mittheilungeii über Goethe II, 173.
**) Gi-undriss zni- (icschicbtc der Deutschen Dichtung S. 7.57, 7fi5.
206 Miscellen.
nicht bereits um 1. oder 2. Sept. begonnen. Hiernach würde Goethe im
Jahre 1813 nur in der Tagesanjcfabe 7 statt 2 verlesen haben, alles übrige
als richtig bestehn bleiben. Der 'I'hatbestand dürfte sich jetzt vielleicht noch
urkundlich an jener geweihten Stätte nachweisen lassen. Gödeke muss so-
wohl in der Tags- wie in der Jahrszahl ein Verlesen Goethe's annehmen
Am 4. oder 5. September 1783 war Goethe von Ilmenau in Weimar zurück,
von wo er am 6. oder 7. Sept. mit dem jungen Fritz Stein die Reise nach
• lern Harz antrat. Dass er in dem Briefe an Knebel vom 29. August der
kleinen Reise nach Ilmenau nicht gedenkt, ist gar nicht auffallend. Ilmenau
war damals der Ort, wo ihn die Muse freundlich anwehte, wie später Jena.
H. Düntzer.
Neapolitanische Spruch w orte r.
1. Male e bene a fine vene. ')
2. Pietto^) forte vence mala sciorta. ^)
3. Chi s'auza') mattino, guadagna no carrino.^)
4. A ppazze e ppeccerilleß) Dio l'ajuta.
5. Passa crapa') zoppa
Se non trova, chi la 'ntoppa.»)
G. Che se propone Tommo, Dio despone.
7. A barca storta lo puorto deritto. ^
8. Ammaro^) chi a soje spese'") se castica.")
9. N'ora'^) de buon puorto fa scordaro cient' anne de fortuna.
10. Bella zita 'nchiazza'') se marita.
11. Dio te guarda de riceo 'mpoveruto '^) et de pezzente, quanno e
rresagliuto. 's)
12. Chi fa bene, sempre aspetta bene.
13. Chi 'ntroppeca "^) e non cade, avanza de cammino.
14. Quanno l'onmio manco se lo ppenza, le grazie soje chiovelleca '"')
lo cielo.
15. Non ha lo doce'») a ccaro, chi provato non ha 'mpriramo "»)
l'ammaro.
IG. Quanno lo malanno vö venire, trase^i) pe le spaccazze^') de
la porta.
17. Vene cchiü-'-) 'ntra n'ora, che'n cient' anne.
18. La pena de n'ommo tristo assaje tricare^s) pote.^i) m^ „on
manca maje.
19. Dio manna^s) le vescotte'-«) a chi n' ha diente.^v)
20. Sempre co lo tiempo e co la paglia vide che s'ammaturano le
nnespole.
21. Chi Sputa 'n cielo, le retorna 'n faccie.
22. Jova^s) sempre l'essere cortese.
23. Cane, ch' e scottato^s) d'acqua cauda.^o) ha paura perzi*') de
l'acqua fredda.
24. Chi striglia lo cavallo sujo, non se p6 chiammare muzzo'-) de
stalia.
•) viene. ^) petto. ^) sorte. ^) s'alza. ■'■) carlino. «'•) picciolelli, fan-
ciulli. 7) capra. s) intoppa. ") amaro. '") a sue spese. ") castiga. '•^) una
ora. 13) in piazza. •') impoverito. 's) risalito. '") intoppa. ") piove.
'") dolce. '9) in primo. ^o) von trasire =r transire. -') spa'catura. 22) pjü.
2*) tardare. ^s) pu5. 25) manda. s") biscotti. 27) denti -«) giova. 29) cotto.
^^) calda. 3') pursi, pure. ^-) mozzo.
Miscolloii. 207
25. Chi ped'') autro lavora, pe se mannuca. '')
26. ('hi sparagna, giiaiiairna.
2 7. A cavallo^"') h mvallo se fa lo tornese.
2S. Chi stipa, trov;u
29. Stipare che pappe, non fare che s faccie. '■""•)
30. Buöne so^') ranimice e le pariente, trista la ca.sa, dove nun c'ö
niente.
31. Coiiime a j e Tentrata, cossi fa le spese.
32. Comine te sient«,^**) cossi niena le diente.
33. La oucina ])iccola fa la casa granne.
34. La lengua non ave^'-*) uosso '") e rompe lo duosso.
35. Aude/'H vide e tace, se vuoje vivere 'n pace.
36. Chi troppo parla, spisso falla.
37. IMüglio soiio le iTave, che durano, che le confiette, che fenis-
c o n o. ■'-)
38. Meglio de lo pooo gandere, che de l'assaje trivolare.
;?0. Chi non pö avere la carne, veva") lo bruodo.
•10. Chi non pö avere la porpa,''*) .s'attacea all' uosso.
41. Dimme con clii vage,'^) ca te dico chello che faje.
42. Chi jiratteca co lo zuoppo, 'n capo dell' anno zoppeca.
43. Clii doniie co ccane, non se n' anza senza pulece.
4.x La inniahi compagnia porta l'ommo alla forca.
l.^. l'enzate e po fatite, th' e mmala cosa chiudere la stalla, quanno nne
so sciute''"') le vuoje.'")
40. Quanno la votte'*) e cchiena,'-*) appila,"'") appila; quanno e
bacante,'') non aje eh' appilare.
47. Mazzeca-'-) 'npriiumo e po gliutte , "'3) ca la gatta pe la pressa
i'eoe le figlie cecate.
48. Chi camniina adaso,^*) fa bona Jörn ata. ''5)
40. Cavallo caueetaro,''''') chiu nne leva ca nne dace. ^")
50. Chi de greffio fere, de cortellaccio'"*) more.
51. Taiito va la lani'ella a lo puzzo pe nfi ches») nee lassa la lua-
neca."")
52. La forca e fatta pe lo sb entorato.^')
53. Maji fü bona la casa che fece fumnio.
ö4. Chi se 'nipace-ia, resta 'mpacciato.
55. Amore de signure, vino de fiasco: la mattina e buono, la sera c
gguasto.
56. Chi ave"-) arte, ha parte.
57. A buon cavallo non le manca la sella.
öS. Non e possibele ad avere grieco'"-') e ccappuccie.
59. Non e j'ossihele ad avere la votte chiena e la chiava mbriaca.'")
GG. Lo fare bene non se perde maje.
fil. A la barca desperata Dio le retrova puorto.
62. Chi fa piacere, ne trova.
63. Sempre che ]iuoje, fa bene, e scordatenne.
64. Chi troppo lira, spezza.
65. Figlia de la soperbia c la roina.
3S) per. ^'•) manduca. ^') keine Kupfermünze. ■'"'') ti vcrgogni. •''") sono.
■'-) senti. 30j ha. '•") osso. '') audi. ■'-) finiscono. '•^) bea, trinke. '') polpa.
'■) vai. '") sono usciti. '") bovi. '«) botte. ''>>) piona. •'>") oppila. •'•') va-
cante. ■•-> mastica. ■■*) ingiiiotti. S') adagio. ^•') giornata. '•'''') chi tira
calci. '"') da. '•'») coltellacci ). ■'") (per) infinclie. '") il nianico. •"'■) sven-
turato. "-) ha. ''^) d. h. wo jener Wein wächst, den man grieco (greco)
nennt, wäch.st kein Salat. '■') ubbriacta.
SOS MiscelliMi.
C6. Ogii' impiedeco"-') e spisso jovaiuionto.
67. Chi gabba, non se doglia, s' e gabbato.
08. A clii Ventura teue, quanno dorme, perzl cbiove'") lo bono.
69. Fra cluje litecante, sempre lo tierzo gaude.
70. Non dire, quanto saje, ne fare quanto puoje.
71. Non vaga") scauzo,''«) chi semmena spiiie.
72. Chi se coverna'''3) da pazzo, da sapio'") se dole.
73. A commannamiento") di feie non se pö obedire de zuccaro.
74. E mala cosa de cercare meglio pane che de grano.
75. Non lassa la via vecchia pe la nova; che saje chello'^j che las.se,
e non saje chello che truove.
76. Abbesogna 'ngrassä,'^) lo puorco, p' ave bbona 'nzogna. '')
77. Perde lo tempo e lo sapone, chi lava capo all' aseno.
78. La votte te da de chello vino, che d'ha.
79. Lo cucchiajo non sa le facenne^') de la pignata. ^")
80. Tre cose non de veno niancare a Napole: farina, feste e forche.
81. No cunto fa lo gliutto'") e n'autro lo tavernaro.
82. N' avinimo n'autro aseno alla stalla?^**)
83. Non nee meglio misso de te stisso. '
84. Lavare lo capo senza sapone.
85. Cunte^-') spisse e amicizia longa.
86. Ommo avisato e miezzo sarvato.*")
87. Laudo lo mmaro^') e tienete a terra.
88. Meglio e mniarito porciello ch' annnico "mparatore.
89. Chi ha paura, se fiiccia sbirro,
90. Jo ne faccio cliillo cunto, che fa lo Todi.sco**-) de l'acqua fresca.
91. La lengua va lä, dove lo diente dole
92. Chi ha mamma, non chiagne. **^)
93. Lo sopierchio'*') i-ompe lo copierchio.
Wittenberg. Dr. Wentrup.
Lexicalische Pläne der Londoner Philologischen Gesellschaft.
In einer im Laufe des Jahres 1857 gejialtenen Sitzung dieser Gesell-
schaft wurde die Unzulänglichkeit selbst der besten englichen Lexika —
als solche wurden die von Richardson und (Todd's) Johnson ausdrücklicli
bezeichnet — besprochen, und es wurde anerkannt, das bisher kein Lexi-
kon der Alt vorhanden sei, das man als ein Lexikon „totius Anglicitatis"*
anzusehen vermöge. Es wurde darauf der höchst wichtige und folgenschwere
Beschluss gefasst, gemeinschaftlich zu der Anfertigung eines solchen Wörter-
buchs zuschreiten und ölfcntlich zu der Betlieiligung an dem grossen Werke
aufzufordern. Schliesslich wurde ein Comite, bestehend aus drei Mitgliedern,
den Herren Ti'ench (bekannt durch sein Werk: Study of words und viele
andre Schriften), Furnivall und Coleridge, ernannt und mit den Vorarbeiten
zu dem grossen Plane, dem wir das erfreulichste Gedeihen wünschen,
beauftragt.
Dies Comite hat folgende, hier in aller Kürze mitgetheilte , vorläufige
65) impedimento. '^''■) piove. ''■■) vada. ""'S) scalzo. •"») governa. "o) saggio.
'I) comando. "-) quello. '^) ingrassare. ''') lardo. ''.■.) le facenda. ■""') pig-
natta. ''') ghiotto. ^») d. h. gibt es nicht noch andere Dinge der Art?
■'S) conti. «Ol mezzo salvato. ^') il mare. «-) Tedcsco. "'■<) piange. '^^) so-
verchin.
M 1 s 0 e 1 1 e u. 209
Beschlüsse 'gefasst und veröffentlicht: Erstens. Das Aufsuchen unverzeich-
neter Wörter soll für's Erste namentlich auf die weniger gelesenen Schrift-
steller des IC. und 17. Jahrhunderts gerichtet werden, indem die Ueber-
setzungen von Philemon Holland, Henry More's Werke, Hacket's Life af
Williams u. s. w., eine unglaublich grosse und mit verhältnissmässig geringer
Mühe herbeizuför^lernde Menge Stoff bieten. Zweitens. Ist ein Schrift-
steller oder das Wort eines solchen zu dem Range einer lexikalischen Auto-
rität einmal zugelassen, so sind ohne Ausnahme alle in demselben enhalte-
nen, bisher unverzeichneten Wörter nachzutragen. Drittens wird Jedweder
zu Beiträgen aufgefordert. Viertens wird jeder Mitarbeiter ersucht, sich
den nachfolgenden Bestimmungen des Comite's fügen zu wollen.
Aufgenommen sollen werden a. Wörter, die in den neuesten Ausgaben
von Todd's Johnson oder im Richardson nicht zu finden sind. Wir erlauben
uns, hier immer die vom Comite gegebenen , als Richtschnur des einzuschla-
genden Verfahrens dienenden, höchst interessanten Beispiele folgen zu lassen.
Umstroke = circuniference. ,Such towns as stand (one may say) on
tiptoe, on the very umstroke, or on any part of the utmost line of any map
. . . are not to be presumed placed according to exactness, but only signify
them there or thereabouts." (Füller, A Pisgah Sight of Palestine 1C50,
part I, b. 1, c. 14, p. 4G.
b. Wörter, die in den genannten Lexicis allerdings enthalten sind, bei
denen aber eine Angabe der Quelle fehlt, wie das Wort fashionist, in Rieh,
und Johns, ohne Quelle, zu finden in Füller, A Pisgah Sight part H, p. 133.
c. Wörter, zu denen sich ältere Quellen als die angegebenen citiren
lassen. Als Beispiel dient hier yacht, das in Johns, und Rieh, mit einem
Citat aus Cooks Reisen belegt wird. In folgendem Citat aus Evelin's Diary,
Oct. I, IGCl wird fast das Datum der Einführung dieses holländischen Wor-
tes in's Englische angegeben. I sailed this morning with his Majesty in one
of his Yachts (or pleasure-boats), vessels not known araong us tili the Dutch
East India Company presented that curious piece to the king, being very
excellent sailing vessels.
d. Wörter, die noch in einem andern Sinne vorkommeü als die Lexika
angeben, wie baby = Bild in einem Buche. Diese Bedeutung wird von
Halliwell allerdings, aber ohne Quelle angegeben. Iri Sylvester's Dubartas,
ed. London 1C21, fol. p. 5 heisst es:
We gaze but on the babies and the cover,
The gaudy and flowers edges painted over, ,
And never further for our lesson look
Within the volunie of this various book.
(Es ist aus dieser Bedeutung auch das bekannte to loök babies verständ-
licher geworden.)
e. Jetzt veraltete Wörter, für welche spätere Quellen angegeben wer-
den können, als in Johns, oder Rieh. So citirt Rieh, das Wort unease als
bei Chaucer vorkommend, während es viel später in Hacket Life of Williams,
part 2, p. 88 gebraucht wird.
f. Wortformen, die andeuten, dass ein (romanisches) Wort noch nicht
Heimathsrecht erlangt liat, wie extasis, spectrum für extasy und spectre bei
Burton, interstitium für interstice in Füller.
g. Unverzeichnete Phrasen und Constnictionen, wie at the next grass
für next sumraer, in Nordengland nocli heute gebräuchlich und zu finden in
Sylvester's Dubartas, p. 228. Es kommt später bei Swift vor. To satisfy
in statt of bei Füller. Good Thoughts, Pickering 18n, p. 221.
h. Citate, die die Etymologie eines Wortes erhellen oder seine erste
Einführung in die Srhriftsprache. So leitet Füller fanatlc von fanuni in
Mixt Contemplations in Better Times, I, p. •.'12, ed. 1841. — Es heisst in
Mandelsho, Travels into the Indies, London 10(j9, p. .'> also: They wen- well
Archiv f. n. Sprarhen. XXUI. 11
210 Miscellen.
provided with that kind of Spanish wine which is called ,sack' though the
true name of it be Xeqtie from the province whence it comes. Diese Ety-
mologie klingt nach etwas. Aber wo in aller Welt ist die spanische Provinz
Xeque zu finden??
Alle Mittheilungen der geehrten Mitarbeiter sind an den Schriftführer
des Comite's, Herrn Herbert Coleridge, N. 10, Chester Place, Regents Park,
London zu richten.
Eine Mittheilung über die Sitzung des 5. November, an welchem das
Comite der philologischen Gesellschaft einen Bericht über die von ihm in
dieser Angelegenheit entwickelte Thätigkeit und deren Erfolge abzustatten
hatte, behalte ich mir für ein späteres Heft des Archivs vor und bemerke
hier nur, dass Coleridge in dieser Sitzung einen Aufsatz; On some deficien-
cies in our English dictionaries vorlas, der bei John W. Parker and Son
im Druck erscheinen wird.
Dr. Büchmann.
\
Peire Vidal's Lieder ed. Dr. Bartsch.
Unter obigem Titel hat der schon durch mehrere recht sorgsame Arbei-
ten auf dem Gebiete der provenzalischen Literatur (Lesebuch 1855 und die
leider seltene Publication des Stuttgarter Vereins 1857) bekannte Conser-
vator der Bibliothek des Germanischen Museums zum ersten Male versucht,
einen der interessantesten Dichter aus der Reihe der Troubadours selbständig
zu behandeln and eine recht verdienstli che Monographie geliefert. Auf eine
gut geschriebene, nach DIez' Manier reich mit Ueberselziingen von des
Dichters Versen durchstrente Biographie (LXV Seiten) folgt eine Bespre-
chung des Formellen, in dem, wie Bartsch mit Recht sagt, ein Hauptreiz
der provenzalischen Poesie liegt, wenn wir auch ihm vollständig in seinem
gegen Thaies Bernard im Vorworte ausgesprochenen Urtheile beistimmen
müssen und durchaus nicht der noch allzu oft hingeworfenen Ansicht hul-
digen können, die provenzalische Poesie sei vom ästhetischen Standpunkte
aus null. Auf Seite LXXXVI etc. folgt der Nachweis der Manuscripte, in
denen sich \'idars Lieder finden; es sind dies die bedeutendsten provenzali-
schen Manuscripte Frankreichs, Italiens und Englands, doch fehlen noch
einige in der Zahl, welche, wie es scheint, dem Verfasser unt)ekannt sind
und in dem nächstens von Guessard erscheinenden vollständigen Verzeich-
nisse aller provenzalischen Lieder benutzt werden sollen ; es sind dies ausser
einem noch in Frankreich befindlichen, früher H. Giraud gehörigen 1) Manu-
scriptum Saibante in Verona, Copie von Vatic. 5232. 2) Manuscript von
Bologna 1290, 3) Florenz Laurent. XLL 43, 4) id. XC. inf. no. 2.^. 5) Bibl.
Riccardi, die übrigens in Florenz, nicht wie Bartsch sagt, in Rom ist,
2981 und G) id. 2814. 7) VaMc 3205. 8) Barberini 27V7. !)) Venedig
Marc. XL CIV. 7. Das Manuscript F. der Bibliothek Chigi soll wohl LIV,
100 sein? Als unecht werden vierzehn Lieder angemerkt, deren Anfänge
allein hier erwähnt werden, während acht andre zweifelhafte am Schlüsse
der Anmerkungen Aufnahme gefunden haben. Nach der XCVT langen Ein-
leitung beginnt die provenzalische vida d'En Peire Vidal, auf welche die
sechsundvierzig echten Lieder mit (87 — 1-28) reichlichem kritischen Apparate
folgen. Ein zum leichteren Auffinden der Lieder angefertigtes Verzeichniss
der Strophenanfänge und ein sämmtliche Eigennamen, sowie die im Glossar zum
Lesebuche noch nicht aufgenommenen Worte enthaltendos Glossar schliessen
das empfehlenswerthe Buch, das hoffentlich von Neuem beitragen wird, der
provenzalischen Literatur Freunde zu erwerben, deren sie noch sehr bedarf
und so würdig ist.
Misoelleii. 211
Berichtigung.
In der Mittlieilung „Friedrich Ferdinand Adolf Sack" (Archiv
1857, 22. Band, 1. und 2. Heft, S. 131 — 141 heisst es S. 131 von
F. A. Sack:
„Er nahm am Befreiungskriege Theil."
F. A. Sack, der Dicliter des Gedichts „An meine Mitbürger. Für den
l.Febr. 1S14," nahm jedoch am Befreiungskriege nicht Theil. Die S. 141 aus
B. G. Nicbuhr angetührten Worte beziehen .^iich auf K. II. Sack, welcher
am Befreiungskriege 'Theil nalnn. Mit F. F. A. Sack wie mit K. II. Sack war
B. G. Nicbuhr von Berlin aus übrigens schon vor dem Befreiungskriege
bekannt.
Mühlheim. Dr. H. Pröhle.
Die Gattin des Asan-Aga.
(Serbisch.)
Dieses zarte Serbenlied mag als Ergänzung meiner unter dem Titel
„Wila" gegebenen Sammlung serbischer Gedichte gelten. Es blieb damals
weg, weil Goethe uns schon in seinem „Trauergesang der Frauen des Asan-
Aga" eine treftliche Verdeutschung davon gegeben. Er fand den Stofl' in
Forti's Reisen nach Dalmatien. Wer seine Uebertragung nach dem italieni-
schen Texte mit der hier mitgetheilten vergleicht, wird erstaunen, wie der
grosse Meister auch hier in Form und Ausilruck das Originelle der zu jener
Zeit noch wenig gekannten serbischen Heldenlieder herauszufühlen wusste.
Was ist Weisses dort auf grünen Hügeln?
Sollt' es Schnee sein, oder sind es Schwäne?
Schnee^ der wäre schon hinweggeschmolzen ;
Schwäne? fortgeflogen wären Schwäne.
Schnee nicht ist es, keine Schwäne sind es:
'S sind des Aga, Asan-Aga Zelte;
Jammernd liegt er dort an schweren Wunden.
Seine Mutter, seine Schwester kamen:
Doch, von Schüchternheit zurückgehalten,
Kam nicht, ihn zu pflegen, seine Gattin.
Als der schweren Wunden Schmerz gestillet,
Lässt er seiner treuen Gattin sagen :
„Sieh nicht wieder mich in meinem Hofe,
Nicht im Hofe mich noch bei den Meinen!"
Als die Aermste diese ^^'orte höret,
Da verschliesst sie still sich in ihr Zimmer
Traurig und vom Kummer tief gebeuget.
Plötzlich schallen draussen Pferdetritte,
Und da läuft das Weib des Asan-Aga,
In der Meinung, dass ihr Gatte komme.
Auf den Tschardak, sich herabzustürzen.
Doch ihr folgen nach die beiden Töciiter:
,.Halt, o halt doch! unsre liebe Mutter!
Nicht der Vater Asan-Aga ist es,
Sondern Pintorowitsch-Bey, der Oheim!"
Und da hält sie ein, die Ungliickserge,
Drückt den theuern Bruder in die Arme:
..Welche Schmach, o Bruder! Er v«Tsfösst mich,
Mich, die iloch fünf Kinder ihm geschenket!"
14*
?lw Miscelleii.
Finster schwelgend hört er diese ^^'orte;
Aus dem Beutel drauf von rother Seide
Zieht der Bey hervor den Brief der Scheidung.
Wenn' sie wieder kehrt zum Väterhause
Kiinn sie sich mit neuem Brautkranz schmücken
Als sie drauf den Scheidebrief gelesen,
Küsst sie beide Knaben auf die Stirne,
Auf die pothen Lippen beide Mädchen,
Aber von dem Jüngsten in der Wiege,
Von dem Jüngsten kann sie sich nicht trennen.
Ohne Mitleid reisst sie weg ihr Bruder,
Reisst mit Mühe sie vom theuern Kinde,
Setzet sie auf seines Pferdes Rücken,
Kehrt mit ihr zurück zum Vaterhause. —
Lange blieb sie nicht im Vaterhause;
Reich an Schönheit und von hoher Abkunft,
Suchten sie die Edelsten des Landes ;
Und der Edelste von allen Freiern
War der mächt'ge Kadi von Imoski.
Und da fleht das Weib den lieben Bruder;
„Bruder! — möcht' ich dich nicht überleben! —
Ich beschwöre dich, o gib mich Keinem !
Kummer würde mir das Herze brechen;
Sah' ich meine Kinderchen verWaiset."^
Doch es hört sie nicht der Ali-Bejo,
Gibt sie an den Kadi von Imoski. —
Und da that sie noch die letzte Bitte;
Mindestens ein Briefeben möcht" er senden,
J)as dem Kadi von Imoski sage:
„Herr, die Neuverlobte lässt Dich grüssen.
Bittet dich durch dieses weisse Briefchen :
Wenn du kommen wirst mit Deinen Swateny
Einen Schleier Deiner Braut zu bringen,
Lang genug um ganz sie zu bedecken,
Dass nicht ihre Waisen sie erblicke,
U'enn vorbei sie zieht am Haus des Aga."
Als der Kadi diesen Brief gelesen,
Da versammelt er die edlen Swaten,
Zog mit ihnen aus die Braut zu holen,
Kehrten dann mit ihr von ihrem Hofe
Nach dem seinen unter lautem Jubel.
Ging der Zug vorbei am Hof des Aga;
Beide Töchter standen auf dem Tschardak.
Und erkannten ihre liebe Mutter;
Beide Knaben kamen ihr entgegen,
Riefen also ihrer lieben Mutter:
„Halt, o halt doch, unsre liebe Mutter!
Komm herein und iss mit deinen Kindern.'^ —
Und zum Stariswaten rief die Arme:
„Stariswat! o du in Gott mir Bruder!
Lass vor diesem Hof die Rosse halten,
Dass Ich meinen Waisen etwas schenke!"
Miscellen. 313
Bei dem Hofe hielten an die Rosse,
tJnd Geschenke gab sie ihren Kindern,
Gab den Knaben goldgestickte Schuhe,
Beiden ]M;i(1chen gab sie bunte Kh^ider,
Und dem Kleinsten, dass noch in der Wiege,
Sandte sie hinein ein schönes Hemdlein.
Seitwärts schaute diess der Asan-Aga,
Schaute Alles, rief bewegt den Knaben :
„Kommt zu mir, ihr Waisen! lasst die Mutter!
Denn sie hat kein Herz, die euch verlassen !" -
Siehe! da erbleicht die arme Mutter,
Sinkt zu Boden, höret auf zu athmen.
Denn zu heftig drückte sie der Kummer,
Ihre Kinderchen verwaist zu sehen. —
V\ . Gerhard.
Lied eines alten Seemanns.
"(Siehe Collection of British Authors, Vol. 383, j>. 273.)
Schwerern Sturm hab' ich gesehen,
StärkVe AVindsbraut traf mein Ohr.
Schjft'bruch litt ich nah bei Algier,
Sechsunddreissig Jahr zuvor.
Jung war ich, doch alte Seeleut'
Nicht, wie ich, in fester Ruh'.
Einen Schatz ja bot das Leben,
Der das Sterben nicht liess zu.
Kämpft' um's Leben, auch es rettend,
Leben nur, nichts And'res mehr.
Wund, halbtodt, allein und bülflos.
Trieb ich an das Ufer her.
Harte Meeresfelsen schaut' ich
Bei so hohem Wellenschlag;
Wie aus Freundesschoos wai-f Fluth mich,
Hart an Menschenbrust ich lag.
Starr und öde zog die Bergkett'
Schwarz von Schluchten durch das Land,
Bis dahin, wo öde Wüste
Breitet aus den glühn'den Sand.
In den Schluchten dieser Berge,
Nahe an des Meeres Rand,
"Wohnten Ilorr'u mir, hart und grausam,
I Schwarze Mohr'n am Berbernstrand.
Zehn der Jahr' litt dort ich Mühsal,
Hoffnungslos, so sagt' ich dort.
Doch nun weiss ich's, Hoffnung flammte
Jeder neue Tag sofort.
Jene Zeit der Muh' und Schmerzen
War ein TrMum, den Nacht gebar.
Nur ein Tag des bangen Warten.s,
Nun ist jeder Tag ein Jahr
Wie ich flucht', dem Land, dem Kerker,
Und dem schlangenful.-chen Meer,
214 MisccIIcn. '
Und ilem Dämon Schicksal, giessend
Alle Schrecken :iuf mich her!
Rasend war ich, Gott verzeihe
Reden, schrecklich und voll Siind'.
Dies sollt' sein die letzte Reise,
Liess ich dort ja Weib und Kind.
Nimmer schwand das holde Bildniss,
Nimmer weg von meinem Blick ;
Keinmal, selbst im Sclavenstande,
Blieb's bei Tag, bei Nacht Zurück.
Labend in der Seele, wehrt es
Der Verzweiflung düst'rer Macht;
Nicht war ganz mein Herz gebrochen,
Da ihr Leben Heil mir bracht'.
"Wenn zur Nacht mein Werk gethan war,
Eilt' ich an des Meeres Strand;
AHes war so fremd, so fern dort,
Nichts, wie ich's vorher gekannt.
Seltsam blickten öde Gipfel,
Rothe Tag'sgluth, schwarze Nacht,
Und die Oleander, winkend
Zum Geräusch, vom Quell gebracht.
Auf die Fhith dann blickt' ich starrend,'
Und mir ward zum Freunde sie;
Da sie ja Altengland netzte,
Air mein Leid ich ihr verzieh'.
Droben mahnte Himmelswölbung
Mit der weissen W'olkchen Flaum,
Und die Sterne, hier nur heller,
An der Heimath Zeit und Raum.
Und es überkam mich Stille,
War auch wohl erschöpft und matt.
Wilde Sehnsuchtsqual verliess mich,
Ruhe ti'at an ihre Statt.
Auf des W'assers Silber blickt' ich.
Zu des Himmels fernem Blau,
Und daneben fluthet' schmerzlich
Traum von Lieb' und Heimathsau.
Ein Gesicht, so schön, doch traurig,
Augen blau, von Thränen schwer,
Zarte rothe Lippen, zitternd,
Lächelnd als ob Furcht nicht war'.
Meinem Arm das Kindlein bietend —
Blickt auf mich von Himmelshöhn,
So wie ich, zu Schiffe gehend,
Sie zum letztenmal gesehn.
Manchmal — dann befiel mich Wehmuth
Ob der Jahre schnellem Fliehn -
Älalte ich'sie mir verändert,
Und des Kindleins Jugend hin.
Sie, nicht mädchenhaft mehr blühend,
llatt' das Kindlein neben sich,
Ihr Gesicht nun blass und trübe
Durch des Kummers Qual um mich.
Misccllen. 215
Sah' sie dann, wie nu-lir es dunkelt,
Zeigend ihm, wif's beton soll,
Seine zarten 1 Linde faltend,
Für des fernen Vaters AVohl;
Fühlte stärker ihren Kummer,
Als ich meinen je empfand,
Ihren kurzen Lc-bensfrijliling,
Und wie schnell ihr Glück entschwand,
Bis auf meine Hände, hart nun
Von der Arbeit jahrelang,
Aus dem Traum" mich schmerzlich weckend,
Bitt're Thrän' vom Auge drang;
Dann erwacht' ich, ein Verstossner,
Von der lleimath fern, ein Sclav',
Ein von Mecrestief Umschlungner;
^^' einend sank ich dann in Schlaf.
Jahre flössen so! Mein Kummer,
Kuhiger, doch wachsend noch.
War mein Schild für alle Schmerzen,
Schwächer, als die ihren, doch.
Meines Herrn grausame Härte
War vergebens angethan.
Doch die Kunde uns'rer Leiden
Ueberschritt den Ocean.
Ihr vernahmt aus ferner Gegend
\'ou freiwilligem Verband,"
Loszukaufen Christensclaven,
Leidend in Barbaren-Land.
Diese mildgesinnteu Fremden,
Jährlich gehn von Rom sie aus,
Tragend schwer erworb'ne Lösung,
Die Verbannte brächt' nach Haus.
Ich ward frei. Sie brachten frcundhch
Mir die frohe Kunde hin —
Stund' verfloss um Stund', ich wiisst' nicht,
Was da sei der Rede Sinn.
Besser noch ist's wohl, wenn Sorge,
Die dem Ird'schen näher liegt.
Anstrengt alle Herzensfasern,
Als wenn Freude ganz sie bricht. x
Endlich hatt' ich es bcgnifen ;
Schnell uiul stark schlug mir das Herz.
Was war nun die Zeit des Wartens,
Was all' der vergang'ne Schmerz,
Gegen das gewalt'ge Sehnen,
Das nun iiber's Meer mich trieb,
Gegen dieses Zeitraums Länge,
Der mir bis zur Heimalh bheb?
A\'ic, die Reise ging, nicht weiss ich's ;
Seltsam war's, so da/.ustehn.
Um mich lier die Lamlsgenosscm,
Mich an ICnglamls Hand zu sehn.
Doch mein Herz war inmier träumend
216 Miscellen.
Von des ersten Wortes Klang,
Jener süssen Stimme Nachhall,
Die zum Herzen einst mir drang.
Würd' ich sie verändert finden,
Plötzlich fassend, was geschehn,
Schau'n der Wang erröthend Leuchten
Ihres Auges Glanz •erhöh'n?
Würd' belauschen Furcht und Zweifel,
Regen dann das tiefe Weh
Und den Wogenschlag der Freude,
Bis in Fried' es übergeh'?
Und das Kind! Doch was erwäh'n ich,
Wie Gedanke war ein Thor!
Jeder Baum trat, jede Hecke,
Aus Vergangenheit hervor.
Meine liebe Hütte malt' ich.
Flamme strahlend drin umher,
Und die zwei, daneben sitzend,
Harrend meiner Wiederkehr.
Endlich kamen wir zum Hafen.
Nichts weiss ich, bis dort ich stand
In des wunden Herzens Weinen,
Auf dem Thürschloss ruht' die Hand.
Ein nun hielt ich, hört' sie sprechen,
Leise sprechen murmelnd Wort;
Jetzt begriff ich erst den Schrecken,
Dacht' ich tof^t sie mir noch dort.
Abend war's im späten Herbste,
Rauher Wind durchblies das Thal,
Um mich fielen welke Blätter,
Roth der Hügel war vom Strahl.
Sechsundzwanzig Jahr seitdem sind's,
Alt bin ich und grau zur Zeit —
Doch verrieth ich Menschenohre
Niemals, was ich sah', bis heut.
An des Heerdes Flamme sass sie,
Ihr im Arm ein Kind sich schmiegt*,
Schweichelworte sprach sie flüsternd
Sah' dann lächelnd auf vergnügt.
Lächelnd dem, der nah dabei stand -
Ach! die Wahrheit Ing enthüllt —
Mit des Auges trauter Milde,
Die mir sonst das Herz gefüllt.
Auf stand sie, zu nur sich wendend,
Wartend stand ich, stumm und kalt —
Mit des Schreckens Schrei, erblassend
Von Verzweifelungsgewalt.
Er, ein alter Schiffsgenosse —
Keiner gab ein Wort von sich,
Wie wir aufeinander blickten;
Er war lebend, todt war ich.
Näher trat ich, zu ihr näher,
Fasst der Zitternden die Hand,
Miscellen. 217
Sah' ihr in's Gesicht, in's blasse,
Bis ilir Herz das ganz verstand,
NVas von Liebe, was von Mitleid
Nicht die Lippe sprechen mag.
Doch Gott Dank! Nur Schmerzempfindung
Kam uns an, bis diesen Tag.
Bitt're Thriiiicn dann wir weinten,
Wir gebroch'ner Herzen drei.
In des Augenblicks Bedrängniss;
Lächelnd schlief das Kind dabei.
Tliränen nur, und keine Rede,
Bis mir kündeten die Zwei,
Dass mein Knabe — fast vergessen
Hatt' ich ihn — dahin schon sei. —
Endlich stand ich auf, mich wendend,
Drückt' die Hand ihm ohne Wort,
Sie doch küsst' ich auf die Stirne,
Als ob mein sie sei noch fort.
Keine Sylb' sagt' ich von Abschied;
Nur gebrochen sprach ich's aus,
Dass der Gott der Lieb' sie segne ~~
Dann verliess ich still das Haus.
Sechsundzwanzig Jahr durchschwimm' ich
Nun der Meere weiten Schrein.
Air die alten Zeitgefahrten
Nahm zum Tod' die Heimath ein.
Heimath I Ja, ich werd' sie finden,
Einst find' ich der Ruhe Lust,
Sie dort treff" ich, meiner wartend.
Unser Kind ihr an der Brust.
Crefeld. Risler.
Pat ois.
Man hat bisher drei 'Versuche gemacht, dies Wort zu erklären. Man
behauptet erstens, es sei entstanden aus dem altfranzösischen pai's thiois,
wörtlich: deutsches Land. 1) ist dabei nicht recht einzusehen, warum man
eine Sprache ein Land genannt haben solle, oder warum man nicht kür-
zer tiois, deutsch im Gegensatze zu französisch gesagt habe. 2) begreift
man auch nicht, warum die Bezeichnung patois gerade nur sich auf das
Deutsche beziehen solle, da es doch jeden provinciellen Dialect gegenüber
der gemeingültigen Sprache bezeichnet, obgleich das specielle Wort aller-
dings ein generelles geworden sein könnte, wie ja baragouin ursprüng-
lich von der breton. Hennung bara Brot und gwyn Wein nur bretonisches
Kauderwälsch, jetzt Kauderwelsch überhaupt bedeutet. 3) ist es eine starke
Zumuthung sich das viersylbige pais thiois in ein zweisylbiges patois zu-
sammengezogen denken zu sollen, so dass die betonte Sylbe i in pais gänz-
lichen Wegfall erleide, und tiois in toi zusammenlaufe. (Sonst fällt im
Roman, zur Vermeidung des Hiatus der 2. Vokal aus.) Diese drei Gründe
haben Diez auch wohl bewogen, dieser Etymologie in seinem Wörterbuche
auch nicht einmal die Ehre der Erwähnung angedeihen zu lassen. Ebenso
geht er mit Stillschweigen über die AVjleitung des Wortes patois von pa-
trius seil, sermo, also Sprache des väterlichen Hauses, oder vielmehr, wenn
wir patrius von patria herleiten, Sprache des \'aterlandes, hinfort. II parle
I)atois, wäre alsdann, er spricht vaterländisch. Diese Etymologie vergisst
218 Miscellen.
nur, dass das Französische wie das Provenyalische vor der Endung ms und
eus Scheu haben, ferner, dass gar kein Grund vorhanden ist, warum r in
patrius ausgefallen sein sollte, da sonst in tr vielmehr t ausfüllt, nourrir
(nutrire), pierre (petra), arriere (adretro), verre (vitrum) , dann dass es ge-
wagt ist, aus dem proparoxytonon patrius ein auf der letzten betontes
patois zu machen. Ich weiss wold, dass es in dem Charakter einer roma-
nichen Endung liegt, syllabisch zu sein und den Ton zu haben und dass
deswegen romanische Sprachen gar nicht anstehen, ein kurzes i in Inus in
cristallino zu einem langen, oder aus der Endung lolus, iölo, filiolus, figliuölo,
also aus pätria, patrie zu machen; aber gerade in der Endung ius scheint
das Romanische von dieser Sitte keinen Gebrauch gemacht zu haben ; aus
ebrius, proprius, sapius, nescius (und damit wird sich der Vorrath derer auf
ius wohl erschöpft haben), ivre, propre, sage, nice, prov. ivre, nesci, sage,
so dass man also kein ebrius, nescius gebildet hat, und doch sollte man
patrius gebildet haben, bevor daraus patroie, dann patois hervorgehen konnte,
wie aus via, voie. Aber wäre dem auch so, so steht uns hier noch im Wege,
dass sich die französische Adjectivendung ois oder ais niemals auf latei-
nisches ius zurückführen lässt, sondern nur auf die Endungen iscusund ensis.
So stehen wir denn rathlos vor diesem Worte, und selbst unser hoch-
geschätzter Altmeister Diez weiss kein Auskunftmittel als, wie er in seinem
^Vü^terbuche thut, das hennegauische pati-pata, Geschnatter anzuführen, um
auf Grund dieses Wortes von patois zu sagen , es sei also wohl ein Natur-
ausdruck. Dies „also wohl" ladet ein auch nach Diez noch zu versuchen,
ob sich nicht für patois eine einfachere Ableitung auffinden lasse, um so-
mehr als er selbst in der Vorrede zu seinem Wörterbuche sagt: dem Natur-
ausdruck als Bildungsmittel der neuen Sjn-achen ist kein zu weites Feld ein-
zuräumen ; manches Wort, das man auf diesem A\'cge entstanden wähnt, kann
sich noch als Sprössling eines alten Stammes ausweisen. Bekanntlich ist
,pays, früher pais von pagense herzuleiten. Der Uebergang fand nach all-
gemeinen Lautgesetzen also statt: n vor s erleidet Syncope, wie schon,
ich citire Diez, im Lateinischen passus für pansus, tusus für tunsus steht
und wie es in maison für mansio, coüter für constare, metier für ministe-
rium, mois für mensis geschieht; wir hätten also pagese , g fällt aus und
lang e geht in i über, wie in cire aus cera, raisin aus racemus, venin aus ■
venenum. Ebenso gut, oder vielmehr nach eigentlicher Regel geht langes e
in oi über, wie in avoine aus avena, moi aus me, soir aus sera, holr aus
herus, avoir aus habere. Es steht also gar nichts entgegen , dass wie man
sich carthaginois aus carthaginiensis , bordelols aus burdegalensis , orlenois
(altfranzösiscli) aus aurelianensis, hervurgequollen zu denken hat, man sich
aus pagense die Doppelformen pais unil paoi's ableitet, und diesem letzteren
ein im französischen nicht ungewöhnliches euphonisches t zusetzt, wie (ich
citire Diezj abriter für abrier, cafetier für cateier, caillouteux für cail-
loueux steht. Lautlich und begrifflich lässt sich diese Ableitung also recht-
fertigen, denn patois würde demnach wörtlich ländliche, provincielle Sprache
bedeuten. Als fernere Unterstützung dieser Herleitung möge noch erwähnt
werden, dass die Endung ois öfter zur Bezeichnung einer Ausspracheweise
dient; so heisst im altfranzösischen clenjunis gelehrte Sprache oder Latein
und von narquois, das Diez mit Friscli von dem in den Isidor'schen Glossen
enthaltenen nario, Naserampfen ableitet, sagt die Akademie : Parier narquois,
parier un certain jargon, un cortain langage qui n'est entendu que de ceux
qui sont d'intelligence ensemble pour tromiier quelqu'un und in demselben
Sinn, wie man von einem ungehobelten und sich in einer neuen gesellschaft-
lichen Stellung nicht zurechtfindenden Menschen sagt: II sent son pays, citirt
Bescherelle aus Brantonie in demselben Sinn: II sent son patois, so dass
also in beiden Redensarten pays und patois so identisch gebraucht werden,
wie sie es etymologisch sind. (^j_ Büchmann.
Bibliographischer Anzeiger.
Allgemeines.
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ÄS
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Was spricht die Sprache?
„Die Sprache ist der Ausdruck des Gedankens." — Die-
sem Satze begegnen wir in vielen Büchern unsrer Zeit, und
er hat sicli die Gehung eines Spruches erworben ; doch ist er
unzulänghch. Ist die Sprache der Ausdruck des Gedankens,
so Hegt in dieser Behauptung, dass ausser ihr nichts den Ge-
danken auszudrücken fähig sei. Doch auch der Bildner drückt
seine Gedanken in einem Stoffe aus , der der Sprache unzu-
gänglich ist ; viele andere menschliche Thätigkeiten, vor Allem
die eigentlich sogenannte Handlung, die freie sittliche That, sind
Ausdrücke des Gedankens.
Aber der Begriff des Gedankens soll ein höherer sein,
sagt man. Das Wort Gedanke, heisst es, bedeute eben nur
die höchste Entwicklung aller Geistesfähigkeit, nämlich die
freie selbstbewusste, und für diese sei kein Mittel adäquat, als
die Sprache. — Es mag Avohl der Zwiespalt des gemeinen und
wissenschaftlichen Sprachgebrauchs Schuld sein, dass man sich
über den Begriff des Wortes Gedanken selbst nicht einigen
kann. Das Denken, so sagt die neuere Philosophie, ist das
Wesentlich-Menschliche, die allein wahre Thätigkeit des Geistes;
der Gedanke ist bald ein Act des Denkens, bald der Com-
plex alles Gedachten zusammen. Wie sich Gedanke von Be-
griff und Idee scheiden, bleibe hier noch unberührt.
Wir finden dagegen Veranlassung, unbeschadet der Rechte
philosophischer Synonymik, dem gemeinen Sprachgebrauche uns
anschliessend in den Worten: „Gedanke, Denken" die allge-
meinste Thätigkeit des Geistes zu erkennen, diejenige, welche
alle übrigen Gestalten und Entfaltungen begleitend sowohl
Archiv f. n. Sviraclien. XXUI. ' j5
222 Was spricht die Sprache?
Quelle als Ziel der Geistesarbeit sei, also die niederste wie
die höchste seiner Thätigkeiten bezeichne. Damit sind wir
einstweilen der weitern Unterscheidung überhoben von Ver-
nunft, Geist, Gedanken, Begriff etc., deren logische Bedeutung
dem Streite der Schulen angehört. Vernunft und Selbstbewusst-
sein, heisst es, sei des Menschen Vorzug vor dem Thiere; des-
gleichen die Religion etc. Diese syncretistischen Behauptungen
haben uns so lange beunruhigt, bis wir erkannten, dass der
specifische Standpunkt des Sprachlebens , der archimedische
Angelpunk't der Sprachphilosophie, durch jene Gemeinplätze
noch nicht berührt, kaum geahnt sei. Denn wenn alle jene
Dinge des Menschen Vorzus^ sind und alle auch ihrerseits
Geist und Gedanken in sich tragen: was ist denn nun das
Sonderreich der Sprache?
Die Sprache ist nicht einziger Ausdruck des Gedankens.
Es fragt sich weiter, ob sie ausser dem Gedanken etwas
auszudrücken fähig sei. Es könnte so scheinen, wenn man die
Region des Gefühles und den Gebrauch des täglichen Lebens
als solche Gebiete ausserhalb des Gedankens betrachten wollte.
Hiergegen ist freilich zu erwiedern, dass das bloss in thierischen
Tönen offenbarte Gefühl noch nicht zur Sprache geworden, so-
bald aber dieses Gefühl oder jene Bedürftigkeit in's Bewusst-
sein trete, so beginne die acht menschliche Ausdrucks weise,
indem die freie Geistesthätigkeit, der Gedanke, zu wirken sich
entschliesse, in Wirklichkeit ausbreche: und dieses eben sei die
Sprache.
Doch ist hiermit wenig gewonnen. Zugegeben nämlich,
dass alles Gespi-ochene Gedachtes enthalte: so tritt eine zweite
Frage hinter jener ersten auf: drückt die Sprache den Gedan-
ken ganz, drückt sie den ganzen Gedanken aus? Es braucht
nicht erinnert zu Averden, wie viele Gedanken unausgespi-ochen
bleiben ; wenn man auch gewohnt ist , in Worten zu denken,
so ist doch allezeit ein Ueberschuss, der nicht in Worte auf-
geht, und dieser nicht gedankenlos, sondern oft ein bestes
Theil des Gedachten. ' Auch die gewaltigsten Denker und
Meister des Wortes haben nicht Alles ffesao-t , was sie dachten
und konnten es nicht. Oft vernehmen wir Klagen selbst jener
Gewaltigsten, von der Unzulänglichkeit des Wortes, von Miss-
Was spricht die Sprache? 223
deutung, Missverstancl und I lalbver stand, *j wo wenn das Wort
den Gedanken erfüllte, kein Zweifel, keine Klage zu erwar-
ten wäre. Es hilft niclits, sich mit der Ausrede zu trösten, nur
die unvollendeten Gedanken hätten unvollkommenes Wort, und
der werdende Gedanke suche sein Wort, und erst das gelun-
gene deutliche Wort sei ein abgeschlossener wahrer
Gedanke, liiero-eo-cn aber ist zu erwiedern , dass die Unzu-
länglichkeit, die Nicht-Congrucnz von Wort und Gedanke
dennoch überall, sogar bis in die Bezirke des absoluten Ge-
dankens hinein, sich erstreckt. Wenn z. B. der Philosoph die
Idee des Schönen, des Rechtes etc. entwickelt, so setzt er
nicht nur für das Verständniss voraus , dass theilnehmende
Hörer sich ihm geifetig hingeben mit imispannender Aufmerk-
samkeit, die Späteres und Früheres im Ein verstand mit dem
Sprecher zu verknüpfen wisse: er erwartet noch ein Grösseres,
damit die Sprache Sprache werde, nämlich selbstthätiges
Erleben des Hörers, Mitleben im begonnenen Gedankenkreise,
überhaupt einen U e b e r s c h u s s geistiger MitAvirkung als
Antwort auf seine eigene Anwirkung — was Alles das ge-
sprochene AYort allein, das heisst, die Sprache an sich, nicht
hat, nicht geben kann. Es ist immer ein An- und Gegen-
wirken wie Freiheit und Nothwendigkeit , Avas aller Sprach-
wirkung vorher-, mit- und nachgeht, und ohne welches die
Sprache eine tönende Schelle ist.
Die Sprache gibt tönende Abbilder des Inneren, des
Geisteslebens. — Der Ton ist ein Verschwindendes, Werdend-
Vernichtctes ; wie dieses ihr Grundelement, so ist die Sprache
ebenfalls nur als geschehende, thätige, verfliessende zu denken.
Auch der Gedanke zwar hat thätig fliessende Theile oder
Aeusserungen in sich. Aber dies ist nicht sein Ganzes, nicht
er selbst im Ganzen ; er hat auch fixirte Anfangs - und End-
punkte, die ausserhalb der Bewegung stehen, nicht als be-
wegte gedacht werden. Dieser Art sind alle Abstractionen,
alle reine Ideen , das ganze transcendente Jenseits , die Idee
*) Dass auch die Lüge , das Stottern und Stanunchi zum Gebiet der
Sprache gehören, ja Sprache sind, sei hier nur gelegenthch erwähnt, viel-
leicht anderswo auszuführen.
15*
224 Was spricht die Sprache?
Gottes selbst und der Glaube an alles Fertige, Seiende im Be-
wusstsein.
Will nun die Logik nicht zugestehen ein ruhendes Denken
so Avenig als eine ruhende Thätigkeit: so ist doch dieses deut-
lich, dass Vorstellung und Gedanken von Kuh en dem im
Geiste sind. Obgleich Gedanke vuid Tliat des Lebendigen nie-
mals in reiner stillstehender Ruhe ist, so unterscheidet doch das
Bewuastsein zwischen Ruhe und Bewesuno;, Ruhendem und
Bewegtem, Seiendem und Werdendem; es hat von beiden
Gliedern der Existenz Vorstellungen, es gebraucht sie beide
abwechselnd als wesentliche Factoren seiner ganzen Thätigkeit;
und so sind Ruhe und Bewegung in ihm. Auch ist klar, dass
der menschliche Geist Coexistirendes denken, aber die
menschliche Rede niemals Coexistirendes vollkommen aus-
drücken kann, eben weil sie wesentlich Succession, Bewe-
gung ist.
Von dem Ruhenden kann das Bewegte kein vollkom-
menes Abbild geben. Jene Anfangs- und Endpunkte des
Gedankens, Angelpunkte aller geistigen Bewegung, — keine
Sprache ist fähig, sie vollkommen auszusprechen. Alle Sub-
jectbegriffe sind unsagbar. Die Sprache sagt nicht das
Subject, nicht was es selber ist, sie bildet nicht ab, was vor
der Thätigkeit als Seiendes beruht: sie sagt nur, was an dem
Subjecte ist, -^was es thut, was von ihm ausgeht; sie sagt die
Folge des Subjects, nicht sein Wesen, nicht es selbst. In
Hegel's Phänomenologie (S. 18) sind unfreiwillige Zeugnisse für
diese Unsagbarkeit; das schlagendste von Allen ist die Un-
möglichkeit der vollkommenen Definition. — Denn
jede Definition kann nur sein entweder LTmschreibung, Wieder-
holung, Anderssagen {uXh]yoQiu) des Subjectes, und dann ist
sie identisch, tautologisch , indem einem unverstandenen Seien-
den ein anderes verstandenes Seiendes vergleichend, nicht er-
füllend , unterlegt wird ; oder sie gibt von dem Subjecte eine
Reihe Thätigkeiten an, die, wie vollzählig sie auch seien, doch
niemals das ganze Subject wiederholen, sondern nur eine mög-
lichst vollständige Reihe von Erscheinungen am Subject, Prä-
dicate. So wenig der Philosophie die adäquate Umdenkung
der Welt gelingt, so wenig gelingt auch der bewegten Sprache
'\^'as spricilt die Sprache;? 2"25
die vollkommene Deckung dos Kulienden und Seienden. —
Diese Unzulänglichkeit aller Definition ist das erste Beispiel
einer Reihe von Unsiiglichkcitcn , die der kühne Denker (Phil-
nomenoiogie S. 88) mit grossem Unrecht in das Gebiet der
Unvernunft verdanunt hat. Neben, in und über allem Gesag-
ten Avaltet überall und uiuibcrwindlich das Unsagbare, was
eben Quelle und Ausgang alles Sagbaren ist.
Die Unzulänglichkeit aller Definition erweist sich vorzüg-
lich an folgenden Erscheinungen. Derselbe Begriff — richtiger
wohl: dasselbe Wort — wird nicht nur bei verschiedenen Den-
kern, sondern auch in verschiedenen Gebieten des Wissens
anders definirt; die Worte: .,Gott, Geist, Salz, Leib" erfordern
verschiedene Besclu'cibungen, je nachdem sie in der Logik, der
Etymologie, der Synonymik, Physik etc. vorkommen. Wenn
nun dasselbe Wort in verschiedenen Wisscnsgel)ieten ungleiche
Geltung hat, so mag man zwar erwiedcrn , dass jede Auf-
fassung einen Thcll der Wahrheit entfalte und der andei'n doch
nicht wesentlich widerspreche : aber eben hier beweist sichs,
wie das Wort den Gedanken nicht erfüllt, nicht voll-
kommen deckt, und eben darum ist eine absolute Definition
an sich selbst unmöglich. — Keine Definition kann dem L^n-
bekannten Unbekanntes darstellen; die scheinbar festeste Form
des Gedankens verlangt unendliche Voraussetzungen ausser dem
Worte. ..Schmerz, Ton, Thier, Himmel" — wer sie nie ge-
sehen und empfunden , dem macht das W^ort sie nicht begreif-
lich. Sagt man etwa: „Der Schmerz ist die Empfindung des
Widerwärtigen, die negative Empfindung des Natürlichen," so
sind das Alles Prädicate, nicht Avirklich deckende Ausdrücke
des Gedankens. (Wer kann dem Blindgeborenen die Farbe
durch Sprache d. h. Reden, Definition, Demonstration — be-
greiflich machen, den „Gedanken der Farbe ausdrücken?-)
Die Sprache ist also weder der einzige Ausdruck des Ge-
dankens noch drückt sie den ganzen Gedanken aus ; was sie
abbildet ist die Beweffunof des Gedankens. Diesen Le-
benspunkt hat Lessing im Laocoon angedeutet, und von hier
aus den Gegensatz zwischen bildenden und redenden Künsten
entwickelt. Im Bilde ist der ruhende, im Tone der bewegte
Gedanke (oder sage man Geist, Idee, Vernunft etc.) ausge-
^^'as spricht die Sprache?
sprochen. Keines von Beiden spricht den Gedanken ganz aus :
sie ergänzen einander. Deshalb fehlt dem Blinden wie dem
Tauben ursprünglich ein Mittel der Gedankcnäusserung; AA'enn
beide dennoch denken lernen, so geschielit es nur, indem sie
aus der äusseren Welt Ersatzmittel hinzubringen , der Blinde
das Tasten ruhender Gestalten, der Taube die bewegte Ge-
berde ; beide haben dazu als inneren Ersatz die menschliche
Anlage des Denkens , und zwar der Taube die ruhende wort-
lose Seite desselben. Weil aber, wie alle Thätigkeit, so be-
sonders die Arbeit des Gedankens ursprünglich BcAvegung ist,
so hat der hörende Blinde den unermesslichen Vortheil vor dem
Tauben, dass ihm die innere Bewegung lebendiger erkenn-
bar ist.
AYas ist es nun, was die Bewegung des Gedankens an den
Dingen bewegt? Wir gehen einen Augenblick zurück, um die
Grundthätigkeiten der Seele an eines Kindes Entwicklung zu
beobachten. Die erste Thätigkeit der Seele ist Empfindung.
Diese leidet und freuet, scheut und suchet bis sie die erste
Stufe des Geistes gefunden, die Anschauung. Diese ist
von der ersten Empfindung geschieden durch die Doppelthätig-
keit des Empfangens und Schaffens; indem sie leidend empfängt,
wirkt sie zugleich nährend, befestigend, wählend: sie erschafft
die Unterschiede von Ruhe und Bewegung, P^ntstehen und
Schwinden , Grösse und Grenze. Die Reihe der Thätigkeiten
wiederholt sich: sie Avird hiemit Gewohnheit, Einprägung, Er-
innerung. Die Erinnerung, eine eingeprägte und verkürzte
Anschauung, erneut sich in willkürlicher Bewegung als Vor-
stellung. Hier wiegt die schaffende Thätigkeit über der
empfangenden; Grösse und Grenze werden zu Gestalt und
Maass. Die Reihe der Vorstellungen verdichtet sich zu be-
stimmten bewussten teleologischen Aeusserungen der Geistes-
thätigkeit. Die angeschaute, erinnerte Vorstellung arbeitet in
sich und den Gegenständen, um das Ich und die Dinge in Be-
ziehung zu setzen. So den Dingen nehmend und gebend vom
Ich, in sich selbst verdichtet, wird sie Gedanke. Der Ge-
danke schliesst die niederen Thätigkeiten des Anschauens und
Vorstellens in sich, um aus ihnen die bewusste Selbstthätigkeit
des Bindens und Trennens zu bilden. Indem er die erinnerten
^ AVas siiricht die Sprache? 227
Vorstellungen mit fi'eier Willkür fasst, begreift er sie als Eigen-
heit, Eigenschaft der Dinge , bezieht sie wechselseitig. Dieses
Avillkürliche Ziehen und J^eziehen der Dinge und ihrer Eigen-
schaften, grammatisch prädiciren genannt, geht zu seinem
Gegensätze, dem "Wegnehmen des Priidicates, mit der-
selben freien A^'iIlkür hinüber und iierüber; das ist die erste
Bewegung des Gedankens an luid wider die Dinge: Affir-
mation und Negation, welche den Kategorien der Logik:
Sein und Nichts, entsprechen.
Jene ersten Gegensätze, die Avir als polare Thätigkeiten
von Empfangen und Schaffen , Bejahen und Verneinen , Sein
und Nichts, erkannt haben, fliesscn aus dem geheimnissvollen
Vorgange des AVerdens, der eine ewige Voraussetzung ist
gleich der ewigen Vernunft. Das Werden selbst wird nicht
begriffen, kann nicht logisch dargestellt werden: so auch die
Glieder des Werdens, mögen sie nun natürlich erscheinen als
Empfangen und Schafl'en, oder geistig als Erinnern und Vor-
stellen. Werden, Bewegen, Verändern sind ebenso Ur-
begriffe wie Sein und Nichts: Werden ist das Erste und
Dritte zu den Gegensätzen: die ganze Kette des sogenannten
Causalnexus schwebt immer zwischen diesen Beiden: entweder
schauen wir ein AVerdendes an, dessen Glieder Sein und Nichts
sind, oder wir schauen die beiden Glieder, die in dem Einen,
dem Werden , zusammengehen. So kehren wir unbewusst
jeden Augenblick zu dem Urquell alles Denkens und Seins zu-
rück, rufen ihn zu Hülfe, benutzen ihn auch widerstrebend,
selbst wenn wir ihn undankbar läugnen, d. h. zu läugnen ver-
suchen.
Schon in dem ersten Leben des Kindes, das sich der
Thierheit entringt, offenbart sich derselbe Gang. Dem Kinde
ist eine Welt von Gegenständen ringsum gebreitet, ruhenden
und bewegten. Es rührt sie an, wird von ihnen berührt. Die
lebendige Seele wirkt aus unbekanntem Triebe. Sie ist nicht
begnügt mit anschauendem Empfangniss; sie wirkt gegen,
störend und schaffend. Dieses Gegenwirken, die erste Ver-
neinung des Lebenden, noch unentschieden zwischen sinn-
lieber und geistiger Thätigkeit schwebend, entschliesst sich, be-
wegt und ändert die Dinge. Das erste Spiel des Kindes ist
228 Was bedeuten die Töne?
Bewegung, Veränderung beweglicher Dinge. Nicht lange ist
es mit der bloss tastenden Bewegung begnügt; da tritt der
Ton hinzu, seelenbcAvegend , wirkend und gegenwirkend, in
sinnlicher Lust geistiges Bedürfniss verhüllt andeutend. Der
Ton will vernommen sein, wiederklingen, beantwortet werden.
Die seinesgleichen sind, die ihn umgeben, will der Wollend-
Tönende anwirken. Was in Geselligkeit lebt und mit munter
Avallender Seele begabt ist, gibt und vcrninmit gegenseits Ton
und "Widerton; diese sind Bild und Abbild, Spiegelbild der wir-
kenden Seele. — Das thierisch kindliche Leben sucht mit Tönen
die Dinge zu bewegen , zu berühren : dies ist der Anfang der
Sprache. Und das specifische Leben, das Sonder reich der
Sprache ist: Succession und Negation aus dem Seelen-
grunde kund zu geben, Bewegung und Verneinung der Dinge
und Gedanken auszudrücken. Dies ist das deutlich umzirkelte
Gebiet der Sprache gegenüber allen andern bild- und tonhaften
Ausdrücken des menschlichen Seelenlebens. Denn die Bildkunst
hat Ruhendes ohne Bewegtes, die Tonkunst Bewegtes ohne
Ruhendes darzustellen : Beiden fehlt die Negation, der An-
fang des Denkens.
IL
Was bedeuten die Töne?
Auch das Thier hat eine Ausdrucksweise in Tönen, die
sich von der menschlichen zwar geistig und sinnlich unter-
scheidet, aber als Vorläufer und Schattenbild bewusster Sprache
eine Betrachtung verdient. Die Thierspraphe hat Töne, die
nach Stärke und Schwäche, Höhe und Tiefe, Klang und Arti-
culation unterschieden sind. In diesem sinnlichen Element ist
sie dem menschlichen Tone verwandt; auch in der Zweck-
Was bedoiiton die Töno? 229
niässigkeit ihrer Wirkung, indem das Thier seine Seelenbedürf-
nisse in Lust und ►Schniorz: zunäclist für seinesgleichen kund
gibt. Hohe reine Töne deuten gehobene, dumpfe unreine deuten
gedrückte Stimmungen an, so dass sich hier schon die Sym-
bolik des Tones offenbart, Abbild der S eelonbe w egung
zu sein.
Unterschieden sind die thierischen Töne von den mensch-
lichen auf der leiblichen Seite darin, dass sie erstlich Aveniger
Klarheit besitzen, zweitens einzelne Töne und Tonreihen ihnen
fehlen, die der Mensch hat. Die Klarheit der Vocale zu-
nächst, d. h. die bewnsste Scheidung von Höhe und Tiefe der
Articulation, das a, i, u fehlt allen Thieren. Die Vogclstimmen,
fälschlich oft für eine höhere Stufe geachtet, erweisen sich dar-
in als niedere, dass sie auch nicht den Versuch, den Ansatz
zu geschiedenen Vocalcn haben, wie auch musicalisch ihre Töne
so schwer zu fixircn sind, weil sie bald in sich regellos schwei-
fen, bald für alle menschliche Commensurabilität zu hoch cr-
Iclingen : denn die meisten Yogeltöne befinden sich über der
vierwestrichenen Octave. Die Stimmen der edleren Säuo-cthiere
nehmen eine höhere Stufe ein ; ein Ansatz zu festen Vocalen
findet sich bei Kindern und Hunden; deutlich articulirt sind sie
zwar nicht, aber das mu und wau tritt doch soweit hervor,
dass der Mensch es verständlich nachahmend auffassen , auch
wohl die Tonhöhe bezeichnen kann. Undeutlicher noch ist die
Stimme des Rosses , doch ist das hi ziemlich vernehmbar, und
in vielen Sprachen onomatopoetisch zu Grunde gelegt. — Diese
drei Stimmen: mu, wau, hi sind wohl die deutlichsten aller
Thierstimmen; sie zeigen sich auch hieiin als die ältesten Ge-
nossen des Menschen , die mit ihm aus dem Paradiese ausge-
zogen sind luid am meisten und klarsten einen bestimmten
Seelendi-ang aussprechen vor allen andern Thieren. Die Kinder
sind die minder begabten, leiblich träge, langsamer Seele: sie
sprechen fast nur Hunger und Sättigung mit Tönen aus , die
Mutter auch wohl Sehnsucht nach dem Kinde. Des Hundes
Natur ist lebhafter, lieftiger, beweglicher: sein Bellen bedeutet
den Angriff, die Stimme geht nicht wie beim Kinde im lang-
samen Crescendo von imten berauf, sondern in schnellem Zucken
von oben herab. Das edle Ross bezeugt ganz klärlich seinen
230 Was bedeuten die Töne?
Adel darin, dass es nur vor Freude wiehert, im Schmerz stumm
ist, einem Dichter gleich, der die höchste Lebenslust in Tönen
aushallt, AvUhrend kränkhche, passive Menschen nur stille Lust
haben und lauten Schmerz gleich den Schweinen. — Die be-
sonderen Töne des Todesschmerzes, die allen, auch den stum-
men Thieren, eigen sein sollen, sind zwar vernehmlich durch
ihre Wildheit und höchste Ueberspannung der Lebenskraft, aber
im Seelenausdruck doch unverständlicher, da ihnen die plastische
Kraft des verweilenden bildkräftigen Lebens fehlt. Sie erlauben
daher, eben so Avie die Schmerzenstöne des Menschen, keine
deutliche Betrachtung und sind ein Räthsel wie Geburt und Tod.
Aus den lebenden Tönen gesunder Thiere können wir aber
manches Bedeutsame lernen über die Elemente der Articulation.
Der Vocal ist beim Rinde am deutlichsten, der Consonant beim
Hunde, der Lebensausdruck überhaupt, doch ohne schärfere
Articulation, beim Rosse. Das Rind ist ein Bild bequemer,
stillvergnügter Sinnlichkeit, der Hund hat feine geistige Unter-
scheidungsgaben, das Ross ist vorzüglich mit Muth und Lust
begabt. Dem Rinde mangelt die leichte Beweglichkeit, dem
Rosse die geistige Feinheit, dem Hunde die stille Genügsamkeit.
— Diese drei Punkte: der Ton, die Begabung und der Mangel,
die sich der Beobachtung ergeben haben, leiten uns in die
Elemente der Symbolik des Tones.
Der tiefe Ton des Rindes, meist eintönig und feststehend
in gemessener Höhe, ist von einem geringen, doch vernehm-
baren Lippenlaute begleitet; die geistige Eigenthümlichkeit des
Rindes ist abgeschlossene, gleichsam ruhende Sinnlichkeit. Der
von oben herabstürzende und schlagende Ton des Hundes ist
nicht vom geschlossenen, sondern vom hauchenden und schnau-
fenden Lippenlaute begleitet; aber der Hund hat mannigfaltigere
Töne, bellt nicht immer in gleicher Höhe, winselt und heult
undeutlicher, fast rein vocalisch, aus Schmerz oder Freude, In
der Freude hohlstimmiger als im Schmerze, und knurrt, fast
rein consonantisch, wenn er die Ueberlegung des Angriffs,
einen überlegten Zorn fasst. Ihm ist von allen Thieren die
schärfste Unterscheidungsgabe gegeben: er kann überlegen mit
einem Schein von Verstand, träumen mit einem Schein von
Phantasie. Dieser geistigen Mannigfaltigkeit dienen mannig-
Was bedeuten die Tone? 231
faltigere Töne. Das Koss hat heftige brausende Töne tief aus
der Brust mit einem Ansatz zum hauchenden Consonantcn, der
sich doch nicht ganz zum Gaumenlaut verdichtet; seine Ton-
stufen sind mannigfaltiger als die des Kindes, ärmer als des
Hundes.
Bei einigen Thiercn treten die Gaumenlaute deutlicher
hervor: die Henne sagt ga, gä, gö, der Bär och, uch. Andere
Anklänge von Consonanten kommen bei Thieren nicht vor, als
diese des Gaumens und der Lippe; denn das Zischen der
Schlange ist ein völlig unbestiuunter, mehr vogelartigcr Ton.
Allen Thieren fehlt der klare Zungenlaut, alle
Menschen liaben ihn.
Im Zungenlaut (dental und lingual) spricht sich vorzüglich
das Menschliclie aus, nämlich die bewusste Scheidung.
Die Zunge vermittelt und scheidet Gaumen und Lippe, sie ist
ein Symbol der Diremtion, Avelche die geistige L^ntcrscheidung,
das Bewusstsein des Gegensatzes ist. Bedeutsame Zeugnisse
für diesen ersten Satz der Symbolik sind zweie: erstlich dass
der überwiegende Theil der grammatischen Flexionen — also
des geistigen Sprachgebildes — in allen Sprachen dental vmd
lingual gebildet ist (durch d, t, tli, s, n, (m) u. s. w.) ; zwei-
tens dass manchen Völkern, z. B. der Südsee, eine Lautreihe
zu fehlen scheint, etwa die labiale oder gutturale, aber niemals
die lingual-dentale.
A^'a3 bedeuten aber die Laute des Gaumens und der Lippe,
die erst mit der Zunge zusammen die volle Articulation aus-
machen? Gaumen und Kehle sind die Pforten des Leibes,
durch welche das Aeussere in das Innere aufgenommen wird;
der Athem zieht hindurch auf und nieder, der höchste Sinnen-
reiz des Geschmackes ruhet dort ; AVeinen und Lachen rührt
vorzüglich an diese Pforte, die sogar von heftigen Thränen und
Gelächter wund und krampfhaft werden kann. So ist dieses
die Stelle, wo das Innerliche äusserlich wird, das Aeussere vom
Innern empfangen, berührt imd bekämpft. Diese Eräusserung,
das Hervorquellen der Subjectivität, zeigen die uralten Wvu-zeln
ich, ego, anochi (hebr.), ach, ja. (Quelle.)
Auch die Lippe ist eine Mauer von Innen nach Aussen,
aber milderer Art, ein Vorhof des Vorhofes ; da sie die Mund-
232 Was bedeuten die Töne?
höhle verschliesst, so umfasst sie das bereits Eingenommene.
Wie sie leiblich bestimmt ist, inne zu halten, was der Mund
ergriffen, Luft und Wasser, Flüssiges und Festes: so bedeutet
sie auch in ihrem Seelentone Erhaltung, Umfassung, Sicherung,
Hemmung; sie hemmt den wallenden Strom, der aus der Tiefe
des Schlundes hervorbricht ; während die Kehllaute das Ent-
äussern der Tiefe abbilden, so deuten die Lippenlaute das
ruhend Erhaltende, dem Brunnen gleich, der die Wasser der
Tiefe fasst und schirmt. Die Kehle jauchzt in Schmerz und
Lust, ist reicher an Nerven, Bändern und lebendig wirkenden
Werkzeugen; die Lippe ist Aveniger erregbar, mehr ruhend
empfangender Art — und so sprechen alle edelsten Sprachen
den süssen Namen der Mutter mit dem Tone der Lippe; das
kühne, trotzige Ich dagegen, das sich von der Mutter losreisst,
nimmt seinen Anlauf aus der Kehle. (Brunnen.)
Beide Organe stehen so in einem Natur- Gegensatze, das
heisst einer Doppelexistenz, welche nicht feindlich nicht freund-
lich, ohne geistige Scheidung und Fixirung des Unterschiedes,
ohne Frage und Antwort mit einander bestehen : sie können
einander aufheben, aber nicht auflösen; sie können einander
zerstören, aber nicht deuten und verstehen. Dieses neue Leben,
die eigentlich menschliche Scheidung des Lebendigen und
Todten, das Bewusstsein des Gegensatzes deuten die mittleren
Organe an: Zunge und Zähne sind die scheidenden, schnei-
denden, vermittelnden und lösenden, der Ausdruck des Geistes,
der die Natur versteht. Die Trennung von Quelle und
Brunnen, der Scheidepunkt zwischen Ichheit und Hingebung
liegt vorbedeutet in dem scharfen kalten Zugwinde , der durch
die Zähne hindurchschiesst: er ist das Messer zum Schneiden,
die " Spitze zum Scheiden ; darum sind die Negationen und
Flexionen vorzüglich an dieses Organ geknüpft. (Scheide.)
Fassen wir diese drei Grundwirkungen zusammen, so er-
scheint als Grundlage der Symbolik, dass Kehle, Lippe und
Zunge aussprechen: die thätige, die leidende, die ver-
neinende Seite der Sprache — Subject, Object, LidifFerenz
(Copula) — oder: Activ, Passiv, Neutralität (Negation).
Was bedeuten die Tiine? 233
Ein anschauliches symbolisches Tonspiel ist dieses , dass
in vielen Sprachen die urspriingliclion S ach- Gegensätze in den
Wurzeln durch verwandte, nah anklingende Laute
bezeichnet werden, meist nur in Einem Laute verschieden,
womit schon die Ursprache die Gegensätze bezeichnet als polai'e
Glieder einer höhern Einheit, z. B. :
ßQudvg — 0()a(7t^g — (st. d^^uÖvg"^.).
dtd'og — dfllog — (lebendig, herrlich — und: feig, zum
Tode reif).
tQfin(o — igtidco — (wie das deutsche: stützen und stürzen).
(Q(og — tQis — i^-Q'^ vorzüglich Blutsfeindschaft, daher
fQiüo, fon'vg. — tQiog vorzüglich
Bluts- und Geschlechtsliebe).
r^/iieQog — t^tj/nog — (mild, reif, menschlich — gegenüber
dem verlassenen, leblosen. Mit
tQ-Tjfiog gleichstammig TjOiau).
))/vg — i]övg — {^i/vg Stamm zu aiaypg, daher der compar.
d-uf(i) — xTuuo) — (passiv und activ).
xuy.og — xc'los — (nicht logische, aber natürliche Gegen-
■ sätze).
"kMßuü} — hoffuiü — (wie das Vorige, kein logischer Ge-
gensatz).
fiuy.Qog — /iuxQog.
ufi^(oy — [.liioyv.
ntKug — niqa — (nah und fern, jenseitig: sonderbar ver-
mittelt in 7iXaLoj.iu.i).
ntriTco — Qtnjto — (Wurzel eigentlich: ntro) — ^tnto; —
schnell und langsam bewegen; —
activ und passiv, mx. neiuftui.
neruyy.).
(ftyyog — (fd^ty/o/iiui — (Licht und Ton, wie Auge und
Ohr im Goth. entgegengesetzt).
/uQuTTd) — uQuTTio — (ruhigc und unruhige Bewegung an
den Dingen).
Unter den altdeutschen sind mehrere, die den logischen Ge-
gensatz stärker zeigen als die griechischen; auch scheinen sie
meist ursprünglicher; die mir bekannten sind folgende:
234 Was bedeuten die Töne?
Augo — auso — (Auge und Ohr, die höchsten Sinne, als
reale, fast logische Gegensätze),
eile — weile.
fiant — friant — (alte Participien: feind, freund, letzteres
noch in dem Verbum freyen ent-
halten. Holld. fyant).
fliessen — friezen — (fliessen und frieren, flüchtig und
starr werden),
menic — wenic — (manche — wenige, kein logischer Ge-
gensatz; auch nicht ganz dem
Gothischen entsprechend),
mild — wild. (ij/iiiQog — (Qtjjnog?)
Schiff — fisch,
sende — saelde — (Sehnsucht, Schmerz — Seligkeit,
Genuss).
stützen — stürzen, {i^eidco — i^einco.^
wage — zage.
Andere theils verbildete , theils spätere Wurzeln sprechen den
Gegensatz mehr spielend und witzig aus, als: black — blank
(von blicken und blinken; jenes erste ist gebildet wie blind,
gleich dem lucus a non lucendo, oder welk (S. Grimm's Gr.);
p rasser — p racher (von unbekannter Herkunft?); sick —
quick.
Aus dem Lateinischen sind mir nur bekannt: divus —
dirus ; (hostis — hospes). Codes, Poples. — (Codex, Podex.)
Die Erkenntniss der Wurzeln muss sich gründen auf die
Symbolik des Tones und die Topik des Gedankens. Hier
haben wir es mit dem ersteren noch zu thun, und gehen nun
von der Quelle weiter zu den Bächlein und Rinnen, zur weiteren
Bestimmtheit der Articulati.on. Die Thätigkeit der Organe
ist Stark oder schwach, rein oder gemischt; hiernach unter-
scheiden sich die bekannten Stufen der Articulation;
deren sind drei, die stumpfe, gehauchte und die näselnde,
jede wiederum getheilt in starke und milde Art oder hart und
Aveich ; diese mit den unentschiedenen Mischtönen zeigt fol-
gende Tafel im Verhältniss :
Stumpf
(einfach, ur-
sprünglich'.''
trocken ?>
Gehaucht
Nasal
Ilalbvocale
(schmelzende)
Was bedeuten die Töne?
Gutturales Labiales
235
Dentales
hart k
V
t
Aveich g
b
d
hart eh (h, hh)
f (ph)
sz (z, ss)
weich j (gh)
w
8 (s. holl. z)
hart nk
nt
mp
weich 57 (gg, ng)
n
m
r 1
Die Bedeutung der Articulationstufen scheint zunächst
diese, dass mit dem weichen Laute angehoben, mit dem harten
geschlossen wird. Der stumpfe und gehauchte Ton scheidet
sich vornämlich in Mundarten, in räumlicher und zeitlicher
Entfaltung.
Die Bedeutung der Organe ist, in sinnlichen Tönen die
Be\ve2:uno:en der Seelenbilder nachzubilden: sie sind das kör-
perliche jNIaterial, daraus die Seelcnbilder in Worte sich fügen.
Nach der oben versuchten Erklärung thierischcr Töne lassen
sich die Aeusserungen der drei Hauptorgane etwa so aus-
sprechen :
Die Reihe der Kehllaute (gutturales, palatinae) bedeutet
Affirmation, Position, Aeusserung hervorbrechenden Lebens,
Sturm und Drang, subjective Spannung und Ueberspannung. Die
Lippenlaute (labiales) deuten Abschluss , Rückkehr, Umfas-
sung, Milde. Die Zungenlaute (dentales, linguales) deuten
schneidende Trennung, Bewegung, Schärfe, Verneinung. —
Diese Symbolik sprechen, soweit sie bekannt sind, die ältesten
Wurzeln aus.
Wenio-er klar, d. h. minder in loo;ische Bestimmung fass-
bar, sind die (Grundbedeutungen der Vocale, weil in dmen
das Leben und AA'erden mehr hervortritt, wälu-end die Con-
sonanten Erstarrtes, Gewordenes darstellen, daher sich der
ruhigen Betrachtung williger erweisen. In allen Sprachen findet
sich, dass die Wandlung der Wortformen mehr die Vocale er-
greift, als die Consonantcu; weshalb die Meinung entstehen
konnte, dass die Vocale mehr Formen, die Consonanten mehr
236 Was bedeuten die Töne?
Inhalt aussprächen. Diese Meinung geht weiter in's Logische
hinein, als wir der organischen Betrachtung der Sprache er-
spriesshch halten; doch sagt sie Aehnliches, wie wenn wir die
beiden Lautreihen als Werdendes und Gewordenes bezeichnen.
Im wirklichen Leben sind sie untrennbar, wie Form und Inhalt
auch in keinem Wesen getrennte Dinge sind. Deutlich zeigt
sich die Nähe des Werdenden und Gewordenen in dem U eber-
gange von u in av , von i in j , eh. Und so erkennen wir die
drei reinen Vocale innig verwandt mit den drei (consonan-
tischen) Articulationen, indem
a guttural, u labial, i dental
sich erAveist. Aelteste Wurzeln bezeugen diese Nähe, wie: ach
(«/o?),_uf (up), js (ist).
Die drei reinen Vocale treten beim lallenden Kinde wie in
der Thiersprache nicht kkar hervor, sondern trübe Mischungen
bilden den Anfang, fast in der Mitte aller Vocale schwebend in
unbestimmtem ae = oe. Die reinen Vocale sind wie die reinen
Consonanten menschliches Erwerbniss, helleres Bewusstsein
in Tonen abbildend , in deutlicher Scheidung deutliche Umrisse
gestaltend. Wie aber die Consonanten sich uiiter einander
nähern, indem die Articulationsstufen nicht allein weich und
hart, stumpf und gehaucht in einander übergehen, sondern sogar
verschiedene Organe in einander verschmelzen (mn, pt griech.,
seh romanisch): so ist auch in die bereits geschiedenen, scharf-
gestaltigen Urvocale eine Milderung getreten, die sich theils in
Mischtönen, theils in Doppeltönen offenbart: daher
zwischen u und a das o schwebt,
zwischen i und a das e schwebt,
wie es auch einige Sprachen schriftlich durch au Und ai be-
zeichnen. Grimm findet, wie in den Consonanten so in den
Vocalen, je drei mal drei Gestaltungen; für uns nicht ganz
genügend, und mehr als wir an Grimm gewohnt sind, in's Lo-
gisch-rhythmische hinüberstreifend, während folgende Keihe
naturgemäss sich darstellt und allen Sprachen genügt; die Vo-
cale sind :
1. a. ursprüngliche a — i — u,
b. abgeleitete e — o.
2. a. getrübt, eintönig ä — ö — ü,
b. gefärbt, doppeltönig au — ei — eu (ul — oi).
3. a. hochklingend e (ä) — i — ei (ai),j
b. tiefklingend ö — ü — eu.
Der Gegensatz Nro. 3 wichtig wegen der deutschen Mund-
arten.
Aurich. Krüoer.
Charakterbilder
Lessing's Emilia Galotti.*)
I. Oraina.
Die Gräfin Orsina, eine durch Schönheit, Geburt und
Geist ausgezeichnete Dame, hatte den Prinzen von Guastalla
zum Anbeter, den sie mit aller Gluth der Leidenschaft liebte.
Doch bald wurde ihr Ilerz auf das Empfindlichste von ihrem
fürstlichen Liebhaber betrogen. Noch in der Wärme des En-
thusiasmus hatte er ihr Bild bei dem grossen Maler Conti
bestellt, aber kaum waren zehn Wochen seitdem verstrichen,
als Orsina die quälende Bemerkung machte, dass sie von dem
Prinzen mit immer zunehmender Zurücksetzung behandelt
wurde. Diese schreckliche Entdeckung kränkte ihr liebendes
Herz tief und beleidigte zugleich ihren Stolz höchlich. Mari-
nelli, der Kammerherr des Fürsten, wollte ihr zwar einreden,
dass der Prinz wegen seiner bevorstehenden Vermählung mit
der Piinzessin von Massa den Liebeshandel mit ihr abbrechen
müsse. Aber Orsina durchschauete gleich, dass dies bloss eine
elende Ausflucht war, denn da dem Prinzen die Gemahlin nicht
die Liebe, sondern die PoUtik zuführte, so glaubte sie, ihr
Herz nicht zurücknehmen zu müssen, weil neben einer Gemah-
lin die Geliebte immer noch ihren Platz sähe. Nicht so einer
Gemahlin also fürchtete sie aufgeopfert zu werden, sondern
einer neuen Geliebten. Dass Emilia Galotti die neue Geliebte
*) Vgl. „Untersuchungen über Lessing's Emilia Galotti" Archiv XII,
309 — 384. Vgl. das Charakterbild Appiani's in Körner's „Höhere Bürger-
schule" Jahrgang 1856, S. 257— 2C1; Angelo's ebendaselbst Jahrgang 1857,
S. 201—204.
Archiv f. n. Sinachcn. XXIII. 1(5
238 Charakterbilder aus
des Prinzen war, wusste sie noch nicht ; ihr Verdacht schweifte
auf einer ganz andern Fährte.
Nicht lange konnte Orsina diesen qualvollen Zustand aus-
halten : sie kam eines Tages von ihrer Villa in die Residenz,
um ihr Schicksal zur Entscheidung zu bringen. Marinelli er-
schien bei ihr, doch ihr Stolz litt nicht, dass sie ihm ihre bren-
nende Liebe zu dem Prinzen, aus der die Flamme der Eifer-
sucht emporschlug, verrathen mochte. Sie wollte also mit dem
Kammerherrn über ihre Angelegenheit mit dem Prinzen gar
nicht sprechen; sie wollte sich ganz gelassen, ganz kalt stellen;
sie schien weit entfernt, dem Fürsten jemals wieder unter die
Augen zu kommen. Aber mitten in dem gleichgültigsten Ge-
spräche entfuhr ihr eine Wendung, eine Beziehung über die
andere, die ihr gefoltertes Herz verrieth. Mit dem lustigsten
Wesen sagte sie die melancholischsten Dinge und wiederum die
lächerlichsten Possen mit der allertrauriosten Miene. Die Treu-
losigkeit des von ihr mit aller Kraft ihrer tiefen Empfindung
geliebten Prinzen hatte den Schwerpunkt ihres Lebens verrückt,
sie war beinahe närrisch geworden und nahm in ihrer melan-
cholischen Gemüthsverfassung Avieder Zuflucht zu den Büchern.
Während der Nacht war ihr Entschluss gefasst: sie schickte
am andern Morgen ihren Läufer mit einem Briefe an den Für-
sten, worin sie ihn um eine Zusammenkunft auf seinem Lust-
schlosse Dosalo ersuchte. Ihr Bote wartet auf Antwort, aber
der Prinz lässt den Brief hinlegen und dem Läufer durch den
Kammerdiener sagen , er werde die Antwort senden , wenn- es
einer bedürfe, und da die Gräfin in der Stadt selbst sei, so
brauche der Läufer um so weniger zu Avarten.
Mit diesem zweideutigen Bescheide kehrt der Diener zu
seiner angstvoll harrenden Gebieterin zurück. Sie weiss nicht,
dass der Prinz ihren Brief nicht einmal liest; dass er ihr Por-
trait, welches ihm Conti bringt, nachdem Orsina während dreier
Monate grade einmal sich hatte entschliessen können, zu sitzen,
mit der grössten Gleichgültigkeit aufnimmt; ja dass er die Be-
stellung ihres Gemäldes überhaupt vergessen hat. Bei weitem
verletzender als durch die Aufnahme jenes Briefes wird nun-
mehr ihr Herz getroffen, als sie durch ihre Kundschafter er-
fährt , dass der Prinz wenige Minuten darauf in der Halle bei
Lessing's Eiiüliu (Jiilotti. 239
den Dominicanern ein Langes und Breites mit einer Emilia
Galotti, ihrer Nebenbuhlerin, deren Namen sie jetzt erst kennen
lernte, gesprochen und was er gesprochen hatte.
Sie war nun fest entschlossen, der ganzen Angelegenheit
eine entscheidende Wendung zu geben und da sie hörte, dass
der Fürst, obgleich er ihr keine Antwort ertheilt hatte, kurz
nachher wirklich nach Dosalo abgefahren war, so bewaffnete
sie sich mit Gift und Dolch und fuhr ebendahin ab, um sich
im äussersten Falle an dem verhassten Verräther mit dem
Dolche zu rächen und sich dann selbst durch Gift aus einer
Welt zu schaffen, welche für sie keinen Werth melir hatte,
wenn der von ihr trotz der schmählichsten Ti-eulosigkcit heiss
Geliebte nicht mehr lebte. Orsina war nicht sobald aus der
Stadt heraus, als sie dem Wagen begegnete, auf welchem der
Leichnam des Grafen Appiani lag, welcher von Räubern er-
schossen sein sollte; aber sie ahnte noch nicht, welchen Zu-
sammenhang diese Katastrophe hatte, und war zu sehr mit sich
selbst beschäftigt, um der Sache eine grössere Aufmerksamkeit
zu widmen.
Die Gräfin kommt zu Dosalo an, aber an dem Orte, wo
ihr sonst ein ganzes Heer o-eschäftio-er Auo-endiener entgegen-
stürzte, wo sie sonst Liebe und Entzücken erwartete, musste
ihr Stolz jetzt die empfindliche Erfahrung machen, dass sie
eine gefallene Grösse war, da die Sonne der fürstlichen Gunst
ihr nicht mehr lächelte. Niemand kommt ihr entgegen ausser
dem Bedienten Marinelli's , Battista, welcher dem Befehle des
durch ihre unerwartete Ankunft überraschten Prinzen gemäss
ihr lieber gar den Eintritt verweigert hätte. Sie will in das
Zimmer, wo sie ein weibliches Kreischen hört und wo sie den
Prinzen vermuthet, aber der Bediente tritt hindernd in den
Wesf. Jetzt wird sie auf dem Vorsaale den Kammerherrn
gewahr. Zuerst ist sie zufrieden, dass der Fürst ihn mit-
genommen hat , denn der Gedanke fährt ihr durch den Kopf,
dass sie durch jNIarinelli , der ein Vertrauter des Prinzen war
und der ihre Partei zu nehmen schien, weil er nicht wusste,
ob nicht sein Avankehnüthiger Herr zu der verlassenen Ge-
liebten zurückkehren würde, ihren Zweck fördern könne. Aber
bald verwarf ihr Stolz das unwürdige Mittel, sich der Hülfe
IG*
240 Charakterbilder aus
eines Höflings zu bedienen, den sie ohnehin wie das ganze
elende Hofgeschmeiss gründhch verachtete. Denn was sie mit
dem Prinzen auszumachen hatte, glaubte sie nur mit ihm aus-
machen zu müssen. Sie will hastig in das Zimmer, wo sie
ihn vermuthet, denn sie hält es nicht für schicklich, mit dem
Kammerherrn hier in dem Vorgemaöhe einen elenden Schnick-
schnack zu halten, während der Prinz in dem Gemache auf sie
warte. Wie schrecklich enttäuscht wird sie aber, als sie von
Marinelli erfährt , dass der Fürst nicht auf ihren Brief zu
Dosalo sei, da er ihn nicht gelesen habe! Die Heftigkeit, mit
welcher sie zuerst diese Nachricht aufnimmt, löst sich allmälig
in Wehmuth auf und der Schmerz über diese lieblose Behand-
lung presst ihr eine Thräne und die Worte aus: „Nicht" ein-
mal gelesen?" Hatte Orsina schon vorher durch ihre uner-
wartete Ankunft, welche als ein sonderbarer Zufall erschien,
den Kammerherrn verblüfft, so brachte ihre Gemüths Verfassung
den Höfling immer mehr aus dem Gleichgewicht. Als Marinelli
versichert, dass sein Herr nicht aus Verachtung die Lesung des
Briefes unterlassen habe, weist die Gräfin die MögHchkeit einer
Verachtung mit stolzem Selbstgefühl zurück und straft den
unverschämten Tröster mit gebührendem Nachdruck. Aber so-
gleich wird sie wieder ein Raub der schwermüthigen Empfin-
dung, dass der Prinz sie offenbar nicht mehr liebe, welche sie
durch den Gedanken zu beschwichtigen sucht, dass es ja nur
Gleichgültigkeit zu sein brauche, was bei ihm an die Stelle der
Liebe getreten sei. Doch bald hat ihr dialectischer Geist aus-
geklügelt, dass Gleichgültigkeit ein leeres Wort ist, dem nichts
entspricht. Freilich bereuete sie nun, dass sie den Kammer-
herrn in einer Art von Geistesabwesenheit wie eine Philosophin
über das Wesen der Gleich gültigkeit belehrt hatte. Auch kam
es ihr zum Bewusstsein, dass sie die Verachtung des Prinzen
wohl mit verschuldete, weil sie öfters den weltlustigen Genuss-
menschen die Ueberlegenheit ihres denkenden Geistes hatte
fühlen lassen. Sie hätte nichts als lachen sollen, um immerdar
ihren Herrn bei guter Laune zu erhalten, und während der
Blüthezeit des Liebesverhältnisses hatte sie dies auch vermocht,
denn sie machte den Prinzen, wie er selbst sagt, leicht, fröh-
lich, ausgelassen; aber sobald sie sich ihre Gelehrsamkeit hatte
Lessing's Emilia Galotti. 241
merken lassen, sah der Liebhaber darin eine Narrheit, welche
ihn der büelicrlcsenden Schwärmerin mit entfremdete. Diese
tragische Entdcckmig, dass sie nicht genug gelacht habe, regt
in der verlassenen GeHebten die Sucht auf, das Lachen se-
Wissermassen nachzuholen, und nun zwingt sie sich zu einem
krampfhaften Gelächter über den sehr sonderbaren, sehr närri-
schen Zufall, dass sie dem Prinzen schreibt, er solle nach Do-
salo kommen, dass der Prinz ihren Brief nicht Hest und dass
er doch nach Dosalo kommt. Doch indem sie nachdenkt bis
zur Rührung, findet sie, dass das, worüber sie sich zum Lachen
zwingt, wie Alles in der Welt, auch seine sehr ernsthafte Seite
habe. Ihr ahnungsvoller Geist sagt ihr, dass hier kein Zufall
obwalten könne. Das Wort Zufall sei Gotteslästerung. Nichts
unter der Sonne sei Zufall, am wenigsten das, wovon die Ab-
sicht so klar in die Augen leuchte. In der frommen Reüuna:
ihres Gemüths bittet sie die allmächtio-e, allgütio-e Vorsicht, ihr
zu vergeben, dass sie mit dem albernen iSiinder Marinelli einen
Zufall genannt habe, was so offenbar das Werk, wohl gar das
unmittelbare Werk derselben sei. Der Glaube an das Walten
der Vorsehung ist so lebhaft in ihr, dass sie den Höfling hart
anlässt, weil er sie zu dem Fehltritt verleitet habe, von einem
Zufall zu sprechen.
Die Gräfin erlag beinahe unter der Gewalt dieser mannig-
fach sich durchkreuzenden Gefühle und durch die dauernde
Aufregung ihres Geistes war ihr Kopf so angegriffen, dass sie
sich init der Hand die Stirn halten musste und den Kammer-
herrn bat, sie bald den Prinzen sprechen zu lassen, Aveil sie
es sonst wohl gar nicht im Stande sei. Denn sie ist überzeugt
richtig zu deuten, dass sie sich sprechen sollen und müssen.
In diesem Augenblicke tritt der Prinz aus dem Cabinette.
Die Gräfin wird überrascht, als sie ihn erblickt, und ist un-
entschlossen, ob sie auf ihn zugehen soll. Doch bald soll sie
merken, dass ihre Erscheinimg den Fürsten nicht mehr fesselt.
Sie muss nun aus dem Munde ihres treulosen Anbeters selbst
hören , was sie dem Kammerherrn nicht glauben wollte : dass
er sich die Ehre ihres Besuchs heute nicht zu Nutze machen
kann; dass er beschäftigt, dass er nicht allein ist; dass sie sich
ja nicht aufhalten soll.
242 Charakterbilder aus
Orsina ist iiocli ganz betäubt, als sich der Prinz schon
wieder entfernt hat, und traut ihren Ohren nicht, denn eine
so schnöde Zurücksetzung hatte sie nicht für möglich gehalten.
Mit einer Kührung, welche unser Mitleid mit der Unglücklichen
in hohem Maasse steigert, fragt sie, ob sie solche elenden Ent-
schuldigungen verdiene, mit denen man jeden Ueberlästigen,
jeden Bettler abweise. Sie, die frühere Geliebte eines Prinzen,
könne doch wohl trotz der Resignation, zu welcher sie verur-
theilt sei, erwarten, dass man um ihretwillen eine einzige kleine
Lüge mehr als Entschuldigung vorbringe. Aus Barmherzigkeit
soll ihr Marinelli nur auf eigene Rechnung eins vorlügen, dann
will sie ja gern gehen. Unter dieser Bedingung sagt ihr der
dienstbeflissene Günstling des Fürsten nun wirklich die Wahr-
heit, dass die Braut des erschossenen Appiani und die Mutter
der Braut, mit welchen der Graf nach Sabionetta zu seiner
feierlichen Verbindung fahren wollen, sich nach Dosalo gerettet
haben und bei dem Prinzen befinden. In aufkeimendem Arg-
wohn wirft Orsina die Frage auf, ob die Braut schön sei,
welche Marinelli durch die Aeusserung, dem Prinzen gehe ihr
Unfall ungemein nahe, zu bejahen scheint. Einen Augenblick
versetzt sie sich in die unglückliche " Lage der Braut , mit
welcher sie die ihrige im Gedanken vergleicht. Aber dann setzt
sie hastig ihre Nachforschungen fort und fragt nach dem Namen
der Braut, da sie so lange aus der Stadt sei, dass sie von gar
nichts wisse. Marinelli spricht den verhängnissvollen Namen
„Emilia Galotti" aus — und sofoi-t hatte Orsina mit ihrem
durchdringenden Verstände, gleichsam als ob eine höhere Macht
sie inspirirt hätte, das Bubenstück des Fürstendieners durch-
schaut. Der Bräutigam ist erschossen, Emilia Galotti hat der
Prinz heute Morgen in der Kirche mit grosser Vertraulichkeit
und Inbrunst angeredet, jetzt ist die Braut bei dem Prinzen —
dies Alles reimt Orsina mit einer Verstandesoperation von
räthselhafter Geschwindigkeit zusammen und im Nu ist das
fein gesponnene Netz Marinelli's zerrissen, die verbrecherische
Absicht des Prinzen entdeckt. Schrecklich ist die teuflische
Freude, welche die betrogene Geliebte darüber empfindet: sie
klatscht triumphirend in die Hände und ruft einmal über das
andere Bravo ! Sie sagt dem Kammerherrn grade heraus , dass
Lessing's Emilia Galottl. 243
er der Teufel sei, der den rrinzen dazu verleitet habe, und
schreit ihm laut in's Ohr, dass sein Herr ein Mörder sei.
Vergebens wendet der ganz aus der Fassung gebrachte Schurke
ein, sie sei nicht bei Sinnen, denn ßle ist selten oder nie mit
ihrem Verstände so wohl zufrieden gewesen, als eben jetzt und
sie bleibt dabei, den Appiani haben nicht Räuber, den haben
Helfershelfer des Prinzen, den habe der Prinz umo-ebracht.
Furchtlos will sie dies morgen auf dem Markte ausrufen und
wenn sie sich dadiurh um den Hals reden sollte.
Eben will Orsina fort, da kommt der alte Odoardo. Er
ist sehr willkommen, da sie hört, dass er der Vater Emilia's
ist, denn in ihm sieht sie sofort das Werkzeug, das ihrer
Rache dienen kann. Es hilft nichts, dass Marinelli, welcher
die Gefahr dieses Zusammentreffens gleich überschauete , die
Gräfin zu entfernen sucht : sie bleibt. Nach dem Abnanae des
Kammerherrn, der den Obersten melden will, betrachtet sie mit
dem innigsten Mitleid den unglücklichen Vater, den lieben outen
Mann, den sie sich selbst zum Vater wünscht, und will treu-
Hch Schmerz und Wuth mit ihm theilen. Sie hatte nicht so-
bald angefangen, ihm sein Unglück anzudeuten, als er auch
schon merkte, dass er es mit keiner Wahnwitzigen zu thun
hatte, wie ihm Marinelli beim Weggehen hatte einreden wollen,
damit Odoardo den Reden Orsina's keinen Glauben schenke.
Und doch fühlte sie so was von Wahnwitz, denn wer über
gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu
verlieren. Tropfenweise reicht sie dem Alten das Gift ihrer
Entdeckungen dar: sie entdeckt ihm allmälig, dass Appiani
todt und Emilia auf des Prinzen Lust-Lustschlosse ist, bis der
alte Vater vor Wuth schäumt und nur bedauert, ohne Gewehr
gegen den Mörder zu sein. Da reicht sie ihm ihren Dolch, ja
sie dringt ihm denselben auf und ermahnt ihn, er solle die
erste beste Gelegenheit ergreifen, um von ihm Gebrauch zu
machen. Jetzt wird Orsina noch einmal von Schmerz , Hass,
Wuth, Rachedurst und Verzweiflung ergriffen. Diese dämo-
nischen Mächte steigen unwiderstehlich aus ihrem Gemüthe auf
und machen sie zu einer von bösen Geistern Besessenen , zu
einer Furie. Denn unaussprechlich , überschwänglich und un-
begreiflich ist und wird sie von dem Prinzen beleidigt, sie is
244 Charakterbilder aus
die betrogene, verlassene Orsina, und mit bacchantischem Jubel
sieht sie voraus, vs^ie auch Emilia, so wie alle Uebrigen, von
dem Prinzen verlassen werden wird. Welch' eine dämonische
Freude empfindet sie darüber, wenn sie in visionärer Ent-
zückung das ganze Heer der Verlassenen als Furien das Herz
des Verräthers zerfleischen sieht!
Nach dieser Scene ist die Gemüthskraft der Unglücklichen
gebrochen, der Vulcan ist ausgebrannt und sprüht nur noch
wenige Funken. Wir erfahren bloss noch, dass sie auf Bitten
Odoardo's die unterdessen herausgetretene Mutter Emilia's in
ihrem Wagen mit nach Guastalla nimmt. Aber sollte es Avohl
zweifelhaft sein , dass wir uns die Gräfin nach solchen Erfah-
rungen in Wahnsinn verfallen denken müssen, besonders da sie
schon von Natur einen Ansatz zu trübsinniger Schwermuth
hatte?
n. Odoardo.
Odoardo Galotti, Oberster, von bürgerlicher Herkunft, ist,
wie sein Feind der Prinz ihn richtig charakterisirt , ein alter
Degen, stolz und rauh, sonst bieder und gut. Man kann
denken, dass jene Feindschaft auf dem unbeugsamen Rigorismus
des Biedermannes beruhte, welcher dem Fürsten unbequem war,
zudem war es Odoardo, welcher sich seinen Ansprüchen auf
Sabionetta am meisten widersetzte. Odoardo also M'ar nicht der
Mann, um die Rolle eines Höflings zu spielen und sich als
gehorsamer Diener vor dem Fürsten zu bücken: er hatte sich,
ohne sich den Hass des Prinzen anfechten zu lassen, %ielmehr
ganz auf sein Landgut bei Sabionetta zurückgezogen, während
seine Gemahlin mit der Tochter in Guastalla lebte. Aber heute
freilich, wo sein Liebling Appiani mit seiner Tochter getraut
werden soll, hält es ihn auf seinem Landsitze, wo erst am
Abend die Hochzeit stattfinden wird, nicht zurück: er kommt
plötzhch in den Hof seines Hauses in Guastalla gesprengt und
Lessing's Emilia Galotti. 245
überrascht seine Gattin auf die angenehmste Art. Das Glück
des heutigen Tages hatte ihn so früh geweckt ; der Morgen war
so schön , der Weg so kurz ; er vermuthete seine Familie so
geschäftig; er dachte, sie könnten leicht etwas vergessen. Mit
einem Worte : er will nur sehen, um alsbald wieder zurückzu-
kehren.
Die glückliche Stimmung des Alten wird aber sogleich
getrübt, als er erfährt, dass Emilia ganz allein nach der Messe
gegangen ist ; denn obgleich es nur wenige Schritte sind , so
hält doch der besorgte Vater Einen genug zu einem Fehltritt
und macht seiner Gemahlin deshalb ein sti-enges Gesicht.
Claudia sucht zwar seinen Unmuth zu beschwichtigen und ihn
durch eine Einladung in ihr Cabinet, wo er ein wenig ausruhen
und eine Erfrischung nehmen könne , auf andere Gedanken zu
bringen, aber Odoardo brütet noch immer über den Gegenstand
und wiederholt den Avarnenden Vorwurf, Emilia sollte nicht
allein o^eo-angen sein, aus welchem wir den sittlichen Ernst des
Mannes erkennen und seine Reizbarkeit ahnen.
Nach einer Weile sehen wir den Obersten mit Claudia
aus dem Zimmer, wohin er ihr gefolgt war, wieder in den
Saal treten. Vergebens hat er bis jetzt auf seine Tochter ge-
wartet, die er gern gesehen hätte; aber sie bleibt ihm zu lange
aus und nur wenige Augenblicke lässt er sich noch zurück-
halten. Denn er fühlt sich gedrungen, auch bei dem Grafen
Appiani noch vorzusprechen. Kaum kann er es erwarten, diesen
würdigen jungen Mann seinen Sohn zu nennen, an dem ihn
Alles entzückt, besonders der Entschluss, in seinen väterlichen
Thälern sich selbst zu leben. Wie ganz fand sich Odoardo
in dieser Denkungsart Appiani's wieder, da er selbst die länd-
liche Zurückgezogenheit fern von dem Getümmel der argen
Welt liebte ! Es ist ihm , dem uneigennützigen Vater , ganz
unbegreiflich , dass seine Frau ihr Vergnügen an Emilia mit
dem Glücke ihrer Tochter verwechselt und dieselbe zu ver-
lieren fürchtet, wenn sie sie doch in den Armen der Liebe
weiss. So steigt in ihm der alte Argwohn wieder auf, dass
es mehr das Geräusch und die Zerstreuung der Welt , mehr
die Nähe des Hofes war, als die Nothwendigkeit , der Tochter
246 Charakterbilder aus
eine anständige Erziehung zu geben , was Claudia bewog , in
der Stadt fern von einem liebevollen Gatten und Vater zu
bleiben. Freilich musste er einräumen, dass nur in der Nähe
des seiner strengen Tugend so vorhassten Hofes Appiani und
Emilia sich finden konnten, aber grundsätzlich hielt er doch
die Ueberzeugung von den Gefahren des Stadt- und Hoflebens
fest und wollte durchaus nicht zugeben , dass seine Gemahlin
E,echt hatte, weil ihr der Ausgang Recht gab. Er ist froh,
dass es mit dieser Stadterziehung so abgelaufen , und wünscht,
dass Claudia die Brautleute ziehen lässt. Mit beredten Wor-
ten, die ihm aus der Seele strömen, vertheidigt er nun Appiani's
Entschluss, in seinem Heimathlande sich selbst zu leben. Wie
betroffen, ja erschreckt ist er aber, als er von seiner Gattin
erfährt, dass der Prinz sich in der letzten Vegghia (Abend-
gesellschaft) bei dem Kanzler Grimaldi sehr gnädig gegen
Emilia bezeigt , sich sehr lange mit ihr unterhalten , von ihrem
Witze und ihrer Munterkeit sehr bezaubert geschienen und von
ihrer Schönheit mit sehr vielen Lobeserhebungen gesprochen
habe! Der Ton der Entzückung, mit dem Claudia dies Alles
erzählt, ist ihm ganz unbegreiflich, sein Blut geräth in Wallung
und er kann sich nicht enthalten, der eitlen, thörichten Mutter
strenge Vorwürfe zu machen. Ein Stein fällt ihm vom Herzen,
dass auch dies so abgelaufen. Aber, wenn er sich einbildet,
dass dies Folgen haben könnte — (der Unglückliche ahnte
nicht, was unterdessen geschehen war), so geräth er ausser
Fassung, denn das ist grade der Ort, wo er am tödtlichsten
zu verwunden wäi*e. Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt
— dör blosse Gedanke setzt ihn in Wuth. Er macht seiner
Gemahlin ernste Vorwürfe, dass sie es nicht sogleich gemeldet
hatte. Doch möchte er ihr heute nicht gern etwas Unangeneh-
mes sagen, aber er würde es unfehlbar, wenn er länger bliebe.
Darum reisst er sich von ihr los , empfiehlt sie dem Schutze
Gottes und scheidet mit dem Wunsche, der nicht in Erfüllung
gehen sollte, dass alle drei Glieder der Familie glücklich nach-
kommen mögen.
Odoardo geht nunmehr zu Fuss zu Appiani, denn sein
Pferd hatte er schon vorher durch Pirro, seinem Bedienten, vor
Lessing's Emilia Galotti. 247
des Grafen Haua bringen lassen. Unterdessen hat sich das
von dem Vater besorgte Unglück verwirklicht und der beglei-
tungslose Kirchgang Eniilia's als ein vcrliängnissvoller erwiesen:
Emilia ist dabei von dem Prinzen mit Liebesversicherungen
bestürmt und verfolgt worden. Wenn das ihr Vater jetzt von
der in höchster Verwirrung zurückgekehrten Tochter erfahren
hätte, wie es ihre Älutter erfuhr, er hätte sich selbst niclit ge-
kannt vor Wuth , er hätte in seinem besinnungslosen Zorne
Emilia, den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens, mit dem
Verbrecher selbst verwechselt , und auch Claudia hätte ihm in
seiner blinden Hitze geschienen, das veranlasst zu haben, was
sie weder verhindern noch vorhersehen konnte.
Aber zum Glück erfährt Odoardo nichts : schon hatte er
sich aus den Umarmungen seines künftigen Schwiegersohnes,
der in ihm das Muster aller männlichen Tugend verehrt, ge-
rissen, sich auf sein Pferd gesetzt und ist nach seinem Land-
gute zurückgeritten. Seine Seele war durch die Zusammen-
kunft mit seinem geliebten Appiani in die glücklichste Stimmung
versetzt, als sie auf einmal aus der wiedergewonnenen Ruhe in
die aufregendste Besorgniss geworfen wurde. Ein Bedienter
nämlich kam ihm entgegengesprengt mit der Nachricht , dass
in der Nähe von Dosalo die Seinigen in Gefahr wären. Er
fliegt herzu und hört , dass der Graf Appiani verwundet wor-
den, dass er nach der Stadt zurückgekehrt und dass seine Frau
und Tochter sich in das Schloss gerettet haben. Eiligst tritt
er also in Dosalo herein , ohne sich anmelden zu lassen , denn
er ist in der grössten Bestürzung über das Schicksal seiner
Familie. Hastig fragt er Marinelli nach den Seinigen und kann
es nicht begreifen, dass der Kammerherr ihn erst bei dem Prin-
zen melden will , gibt sich aber zuvörderst zufrieden , als ihm
der Höfling andeutet, dass sein unvermutheter Anblick dem
Fürsten, mit dem er nicht auf dem freundschaftlichsten Fusse
stehe , nicht gelegen sein könne. Auch darin sucht er nichts
Arges, als er von Marinelli bei Seite gezogen und leise ge-
warnt wird, auf die Reden der noch verweilenden Gräfin Or-
sina Gewicht zu legen, da es mit ihrem Verstände nicht richtig
aussehe. Denn Avas gehen ihm jetzt die Reden einer Wahn-
248 Charakterbilder aus
witzigen an ? Für ihn ist jetzt das Wichtigste, so bald als mög-
lich angemeldet zu werden.
Nachdem nun Marinelli sich zu dem Zwecke entfernt hat,
betrachtet er die „Wahnwitzige" mit einer flüchtigen Neugierde,
wird aber sofort aufmerksam, als er sich von Orsina einen Un-
glücklichen nennen hört. Von ihr erfährt er in folternden Ab-
sätzen, dass noch andere Nachrichten auf ihn warten, dass er
noch nichts weiss , dass er bald Schmerz und Wuth mit ihr
theilen wird, dass seine Tochter ein unglückliches Kind ist,
dass er bald den Verstand verlieren wird. Zwar möchte er
ihren Reden keinen Glauben beimessen, aber er kann sie nicht
für die Reden einer Wahnwitzigen halten und die warmen Her-
zensergiessungen Orsina's, welche ihn einen guten, lieben Vater
nennt und an seiner entschlossenen, ehrwürdigen Miene Ver-
stand sieht, ketten seine bange Aufmerksamkeit unwiderstehlich
an die W^orte der Gräfin. Die blosse Angst wegen der Eröff-
nungen, die ihm Orsina machen will, könnte ihn schon um den
Verstand bringen und nun muss er von ihr erfahren, dass
Appiani, sein geliebter Appiani, nicht bloss verwundet, sondern
todt ist: dies bricht ihm 'das Herz. Aber das einzige Wort,
das ihn um den Verstand bringen soll, hört er nun erst, denn
das Gift der Enthüllungen wird ihm von Orsina tropfenweise
beigebracht: des Morgens sprach der Prinz seine Tochter
in der Messe und des Nachmittags hat er sie auf seinem
Lustschlosse. Es ist nun klar, dass Appiani meuchlings er-
, mordet ist, und Odoardo ist überzeugt, dass seine Tochter,
deren Gesinnung er kennt, nicht freiwillig nach Dosalo ge-
flüchtet, sondern nur gewaltsam dorthin entführt sein kann.
Aber obgleich ihm dies einen kleinen Trost gewährt, so ist er
doch von der schmerzlichsten Wuth ergriffen, blickt wild um
sich und stampft und schäumt, dass Claudia's Unvorsichtigkeit
und Eitelkeit seine Befürchtungen hat zur Wahrheit werden
lassen. Dass Emilia nun wirklich in den Händen des begeh-
renden Wollüstlings ist, bringt ihn ganz aus der Fassung und
der einzige Gedanke, der ihn jetzt stachelt, ist Rache. Aber
da steht er nun vor der Höhle des Räubers und vergebens
schlägt er den Rock von beiden Seiten auseinander und fühlt
Lessing's Emilia Galotti. 249
an alle Schubsäcke: er sieht sich ohne Gewehr, was er aus
Eilfertigkeit vergessen hatte. Doch dafür ist Rath: Orsina,
die ihn zugleich als Werkzeug ihrer Rache an den Prinzen
gebrauchen will, dringt ihm einen Dolch auf und er dankt ihr
dafür mit den wärmsten, zutraulichsten Worten, indem er ihn
geschwind bei Seite steckt.
Der Besitz des Racheinstruments imd der Anblick seiner
Frau, welche eben aus dem Gemache des Prinzen heraustritt,
macht den ergrimmten Vater wieder gefasster und mit Ruhe
fragt er nach denr Ereignissen. Aber seine Fassungslosigkeit
erneut sich, als er die schrecklichen Angaben Orsina's durch
Claudia bestätigen hört, er bricht in bitteres Lachen aus und
tobt, indem er wild hin und her geht, dass er noch nicht wahn-
witzig ist. Doch auf ernstes Bitten Claudia's zwingt er sich
wieder zur Ruhe und verabredet besonnen die Anordnunsfen,
die jetzt zu treffen sind. Da er selbst zu Pferde ist, bittet er
Orsina, seine Frau in ihrem Wagen mit nach der Stadt zu
nehmen. Von Guastalla soll dann Claudia soo-leich für ihn
und Emilia den W^agen herausschicken. Er ist fest entschlossen,
seine Tochter nicht wieder nach der Residenz zu bringen: sie
soll mit ihm , und er duldet keine Einwendung der Mutter,
welche sich nicht gern von dem Kinde trennen will. Denn der
Vater bleibt ja in der Nähe der Tochter und er hofft, dass man
ihn endlich doch vorlassen wird. Er führt also Orsina und
Claudia zum Wagen und ist nunmehr allein auf den Kampf-
platz gegen den Prinzen gestellt , an dem er sich, wie er der
Gräfin, seiner Freundin und W^ohlthäterin, noch bei ihrem Ab-
gange leise zuflüstert, zu rächen gedenkt.
Noch ist Odoardo nicht mit dem Prinzen zusammenge-
troffen, sondern geht die Arkade auf und nieder; eben biegt er
em und will kommen, aber dann kehrt er wieder um, denn
ganz einig ist er mit sich noch nicht, aber um ein Grosses
ruhiger scheint er zu sein.
Endlich kommt der Oberst auf den Vorsaal, aber noch ist
Niemand hier. Doch ist ihm dies ganz lieb: er sieht darin ein
Zeichen, dass er noch ruhiger, kälter werden soll, und das hält
250 Charakterbilder aus
er für ein Glück, denn jetzt kommt er Avieder zu dem Bewusst-
sein , dass nichts verächtlicher ist als ein brausender Jünglings-
kopf mit grauen Haaren, wie er sich dies oft schon gesagt hat.
Darum bedauert er sogar, dass er sich hat fortreissen lassen
von einer Eifersüchtigen, von einer vor Eifersucht Wahnwitzigen.
Denn er hat allein die gekränkte Tugend zu retten und mit der
Rache des Lasters nichts zu schaffen. Die Sache Appiani's
aber, seines geliebten Sohnes, überlässt er getrost der Gerech-
tigkeit Gottes, des höchsten Eichters. Jetzt will er sich damit
begnügen, wenn Appiani's Mörder die Frucht seines Verbre-
chens, Emilia, nicht geniesst. Nichts wünscht er, als dass dies
den Prinzen mehr als das Verbrechen selbst martere und dass,
wenn nun bald ihn Sättigung und Ekel von Lüsten zu Lüsten
treiben, die Erinnerung, diese eine Lust nicht gebüsst zu
haben, ihm den Genuss aller vergällen möge.
Doch noch immer bekommt der Vater seine Tochter nicht
zu sehen, denn der, welcher jetzt in den Vorsaal tritt, ist Ma-
rinelli, nachdem der Prinz schon einmal vergeblich daselbst er-
schienen war-, während Odoardo die Damen nach dem Wagen
begleitet hatte. Dem Marchese entdeckt der ehrliche Alte so-
fort unumwunden, dass er nur den Wagen aus Guastalla er-
wartet, um seine Tochter an einen andern Ort zu bringen,
denn sie solle nicht mehr nach der Residenz. Unbegreiflich
ist es ihm, wie Marinelli ihm, dem Vater, zum Trotze behaupten
kann, dass Emilia dennoch nach Guastalla gebracht werden
müsse; er geräth sofort wieder in Hitze, als ihm der Höfling
zumuthet zu erwägen, wo nach seiner Ansicht nichts zu er-
wachen ist, und wiederholt mit leidenschaftlichem Nachdruck:
„Sie soll, sie muss mit mir."
Auch als Marinelli fortgegangen ist, um, wie er sagt, den
Prinzen entscheiden zu lassen, d. h. um eine Schlinge zu
flechten für den starrköpfigen Vater, ist Odoardo's Wuth noch
nicht verraucht: im Gegen theil ist er im höchsten Grade ent-
rüstet darüber, dass man ihm vorschreibt, wo seine Tochter hin
soll, und dass man sie ihm vorenthalten will! Ja, er ist ent-
scl^lossen, wenn der Prinz dies wolle und dürfe, der hier Alles
dürfe, was er wolle, blutige Rache an ihm zu nehmen und dem
Lessing's Eiuilia Galotti. 251
kurzsichtigen Wüthericli zu zeigen , diiss wer kein Gesetz
achtet, eben so mächtig ist, als wer kein Gesetz hat. Doch
plötzlich besinnt er sich, dass ihm der Zorn schon wieder mit
dem Verstände davon gerannt ist, und findet sein Toben vor-
eilig, so lange nicht das Gefürchtete wirklich geschehen sei.
Denn er stellt es sich als möglich vor, dass i\Iarinelli's Behaup-
tung bloss auf Rechnung der Plauderhaftigkeit ialle, wie sie
Hoföchranzen eigen. Odoardo bereut es nun sogar, dass er
den Kammerherrn nicht hat plaudern lassen imd seinen Vor-
wand, warum Emilia wieder nach Guastalla soll, nicht hat
hören wollen. — Denn diese Uebereilung macht es ihm un-
möglich, sich jetzt auf eine Antwort gefasst zu machen. Zwar
getraut er -sich , auf jeden Vorwand eine Antwort zu geben,
und wenn sie ihm auch felilen sollte, so weiss er doch, was er
zu thun hat , denn als äusserstes Mittel bleibt ilun immer noch
der Dolch. ,Sclion wieder also ist er der „alte Knabe", der er
nicht sein wollte, und er muss in dem Augenblicke, wo er den
Prinzen und Marinelli kommen hört , seinem aufgeregten Ge-
müthe erst Kühe gebieten.
Vergebens bemüht sich der Landesherr, den Vater Emilia's
durch den schmeichelhaften Vorwurf zu gewinnen, dass er sich
gar nicht bei ihm sehen lasse: Odoardo erklärt ihm mit Würde,
er halte es in allen Fällen für unanständig, sich zu seinem
Fürsten zu drängen, denn wen der Fürst kenne, den werde er
fordern lassen, wenn er seiner bedürfe. Ebenso entschieden
weist er die vermeintliche Gnade des Prinzen zurück, welcher
Emilia im Triumphe nach der Stadt zurückführen will. Denn
er ist gesonnen , dem unglücklichen Kinde alle die mannigfal-
tigen Kränkungen zu ersparen, die Freund und Feind, Mitleid
und Schadenfreude in Guastalla für sie bereit halten. Zwar
macht sich der Prinz anheischig, dass die Kränkungen des
Feindes und der Schadenfreude sie nicht erreichen sollten.
Aber Odoardo will seine väterliche Sorge nicht gern theilen.
Er glaubt zu wissen, dass seiner Tochter in ihren jetzigen
Umständen nur Entfernung aus der Welt geziemt: sie soll, bis
sie in ein Kloster gebracht wird, unter den Augen ihres Vaters
weinen. AVirklich sciieint der Prinz nachzugeben , denn er
252 Charakterbilder aus
stellt dem Vater anheim, seine Tochter zu bringen, wohin er
wolle. Odoardo kann sich den Triumph, den er in Folge der
prinzlichen -Erklärung über Marinelli errungen zu haben glaubt,
nicht versagen und gibt zu verstehen, dass Marinelli, nicht er,
sich in dem Prinzen geirrt habe. Allerdings hatte Odoardo in
gefassterer Stimmung es nicht für möglich gehalten, dass der
Fürst ihm seine Tochter vorenthalten würde, und glaubte diese
Ueberzeugung jetzt bestätigt zu sehen. Aber er ahnte nicht,
dass die Erklärung des Prinzen bloss ein Gaukelspiel war.
Denn Verabredetermassen tritt nunmehr Marinelli den An-
sprüchen des Vaters auf Erailia entgegen. Mit welchem Er-
staunen über die lügnerische Frechheit des abgefeimten Höf-
lings erfüllt es Odoardo, als er ersehen muss, dass der
Kammerherr von Appiani, als von seinem intimsten Freunde,
zum Rächer bestellt sein will! Zwar kann er auf einen Augen-
blick vergessen, dass es eben ein Schurke ist, welcher das
Rächeramt übernimmt, und in dem blossen Gedanken an die
in Aussicht gestellte Bestrafung der Mörder selbst wieder mehr
Beruhigung finden. Aber bald sollten ihm die Augen schreck-
lich aufgehen. Mit Hohn und Bitterkeit begleitet er noch den
gleisnerischen Bericht Marinelli's von dem Verdacht, dass es
nicht Räuber gewesen, welche den Grafen angefallen, dass ein
Nebenbuhler ihn habe aus dem Wege räumen lassen ; — denn
der Verdacht war dem Unglücklichen schon längst die schreck-
lichste Gewissheit. Der empörte Vater kann sich nicht ent-
halten, gegen den Nebenbuhler als gegen einen meuchlerischen
Buben einen Fluch auszustossen. Ein neuer schmerzlicher
Gedanke wird in seine Seele geworfen: Marinelli erwähnt eines
Gerüchtes, dass der Nebenbuhler ein begünstigter sei. Odoardo
kann es nicht glauben, will es sich nicht als möglich denken,
dass seine Tochter einen Nebenbuhler habe begünstigen können.
Wenn aber doch? Er hat nicht Zeit, diesem Zweifel nachzu-
hängen , denn endlich fängt das Bubenstück an, sich in seiner
nackten Blosse zu zeigen: Emilia muss darüber vernommen
werden, ob es ein begünstigter Nebenbuhler gewesen sei, und
das kann nur in Guastalla geschehen; darüber sind Marinelli
und der Prinz einverstanden. Diese Eröffnung presst dem
Vater verzweiflungsvolle Schmerzensrufe aus, denn er durch-
Lessing' s Emilia Galott i. 253
schaut nun, wo das alles hinaus will, und bitterer Aerger er-
greift ihn, dass er es nicht vorausgesehen, was er nun sieht.
Er ergibt sich in die unvermeidliche Nothwendigkeit : Emilia
soll wieder nach Guastalla; er will sie Avieder zu ihrer Mutter
bringen, und bis die strengste Untersuchung sie freigesprochen,
will er selbst nicht aus Guastalla weichen. Aber so harmlos
war das Complott ISIarinelli's mit dem Prinzen nicht gemeint.
Die Form des Verhörs erfordert ja schlechterdings, dass Mutter
und Tochter und Vater getrennt werden. Wenigstens muss
Emilia in eine besondere Verwahrung gebracht werden. Odoardo
merkte sogleich den Avahren Sinn dieser jNIassregel: er wusste,
dass dann Emilia i*ettungsIos der Willkür des prinzlichen Wüst-
lings preisgegeben sein würde, und fuhr deshalb in der ersten
Wuth über diese „feine Gerechtigkeit" schnell nach dem Schub-
sacke, in welchem er den Dolch hatte. Aber die schmeichel-
hafte Art, wie der Prinz auf ihn zutrat und ihn zu beruhigen
suchte , erstickte mit eins die aufflammende Rache. Freilich
war das, womit der Fürst den Obersten über das Schicksal
seiner Tochter zu beruhigen gedachte, für den Vater gar nicht
beruhigend. Odoardo soll bei Verwahrung nicht an Kerker
und Gefängniss denken , sondern der Prinz will Emilia selbst
in das Haus des Kanzlers Grimaldi bringen und sie dort der
Aufsicht einer der „würdigsten Damen'" übergeben. Aber
Odoardo will seine Tochter lieber in dem tiefsten Kerker ver-
wahrt wissen , als in der Familie der Grimaldi , welche er als
die sittenloseste der ganzen Residenz kannte. Deshalb bittet
er sogar den Helfershelfer des Fürsten darum , darauf zu drin-
gen, dass Emilia lieber in ein Gefängniss gebracht werde.
Doch diese Bitte konnte der Unglückliche nur in einem Anfall
von Verwirrung an einen Marinelli richten, denn bald wurde
es ihm wieder bewusst, dass Beide, der Prinz und Marinelli,
teuflische Verbündete waren. Er sieht ein, dass er ein Thor,
ein alter Geck war, als er den Kuppler bat, und es ist ihm
zu Muthe, als ob er den Verstand verlieren müsste, da er keinen
Ausweg aus diesem Labyrinthe erblickt. Er versinkt in tiefe
Gedanken, aus welchen er erst erwacht, als der Prinz, welcher
die Nachdenklichkeit Galotti's für ein günstiges Zeichen hält
und in beredten Worten sich der Zustimmung des Obersten
Archiv f. n. Simichen. XXm. 17
254 Charakterbilder aus
vollends zu bemächtigen sucht, mit Marinelli sich entfernen will.
Es befremdet den Vater, dass er seine Tochter gar nicht, auch
hier nicht sprechen soll, und er wundert sich über sich selbst,
dass er sich Alles gefallen las st, dass er Alles ganz vortrefflich
findet. Indessen ist sein Entschluss gefasst; er Avill eine Zu-
sammenkunft mit seiner Tochter, aber, um diese zu erreichen,
muss er die Maske der Nachgiebigkeit aufstecken. Nunmehr
soll also der Prinz Emilia ungehindert in das Haus des Kanz-
lers bringen können, denn das Haus eines Kanzlers sei natür-
licherweise eine Freistatt der Tugend. Aber splrechen will sie
der Vater doch gern vorher. Dieses an sich natürhch schei-
nende Verlangen weiss Odoardo noch durch Vorwände zu unter-
stützen. Der Tod des Grafen sei ihr noch unbekannt, Sie
werde nicht begreifen können, warum man sie von ihren Aeltern
trenne! Ihr jenen auf gute Art beizubringen, sie dieser Tren-
nung wegen zu beruhigen, müsse er seine Tochter durchaus
sprechen. Der Prinz will ihn zu ihr führen, aber die Tochter
kann ja auch wohl zu dem Vater kommen. Hier, unter vier
Augen ist er gleich mit ihr fertig. Odoardo bittet also den
gnädigen Herrn, sie ihm zu senden.
Der Wunsch des mit Marinelli abgehenden Prinzen, den
Obersten zum Freunde, zum Führer, zum Vater zu haben,
bringt dem Unglücklichen wiederum das Schicksal in Erinne-
rung, welches seiner Tochter bevorsteht. In einem Anfalle von
wahnsinnigem Hohn über die Kupplerrolle , die ihm damit der
gnädige Prinz im Grunde zuertheilt, bricht er in ein gräss-
liches Gelächter aus. Und so geistesabwesend ist er, dass er,
sich von einem Andern verhöhnt glaubend, wild um sich her-
blickt und die Frage herausdonnert: „Wer lacht da?" Als er
nun zur Besinnung kommt, dass er selbst es gewesen, hält er
sich doch in dieser tragisch -ironischen Stimmung fest und
muntert sich selbst zur Lustigkeit auf, denn das Spiel gehe zu
Ende — so oder so. Aber, fällt ihm plötzlich ein, wenn sie
mit dem Prinzen sich verstünde? wenn es das alltägliche Pos-
senspiel wäre? Bei dieser Gelegenheit entschlüpft ihm die Er-
wähnung eines dunklen Vorsatzes, den er in Beziehung auf
Emilia gefasst hatte. „Wenn sie es nicht werth wäre, Avas ich
Lessing's Emilia Galotti. 255
füi' sie thun will?" Er hat nicht das Herz, es sich zu sagen,
Avas er für sie thun will. — Da denkt er so was I So was,
was sich nur denkeA lässt! Er schaudert zurück vor dem
grässlichen Vorsatze, will sich selbst entrinnen und seine
Tochter nicht erwarten, um nicht durch die Gelegenheit zu
einem furchtbaren Verbrechen an ihr verführt zu werden. Der
Himmel selbst, der sie unschuldig in diesen Abgrund gestürzt
habe, soll sie wieder herausziehen. Da er aber, indem er gehen
wull, Emilia kommen sieht, glaubt er seine Hand vom Himmel
selbst zum Werkzeug ausersehen.
Zunächst nimmt der Vater mit seiner Tochter eine Prü-
fung vor, um zu sehen, ob sie es auch werth ist, was er für
sie thun Avill. Je unruhiger er selbst ist, desto mehr fällt ihm
ihre grosse Ruhe auf. War es Wahrheit, wenn Emilia ver-
sicherte, sie sei ruhig, Aveil sie ruhig sein müsse, da Alles ver-
loren sei? Ein Mädchen und Odoardo's Tochter sollte eine
solche Gelassenheit besitzen, während der Mann und Vater sich
nicht fassen kann? Und er selbst sollte sich also vor seiner
Tochter schämen müssen? Das will ihm nicht in den Kopf.
Wenn Erailia's Fassung sich bloss auf den Tod ihres Bräuti-
gams bezieht, dann kann sie als Seelen stärke, also als ein Vor-
zug betrachtet werden. Aber auch dann, w^enn sie den ver-
brecherischen Zweck des Mordes kennt? Gewiss nicht. Ueber
diesen Punkt muss sich also der prüfende Vater erst volle Auf-
klärung verschaffen. Er setzt deshalb seine Prüfung fort mit
der Frage, was sie Alles verloren nenne. Emilia's Antwort
lässt ihm über ihre Gesinnung keinen Zweifel: nicht bloss weil
der Graf todt ist, sondern wegen des lasterhaften Beweggrundes
zu dem Morde nennt sie Alles verloren. Wenn nach dieser
Antwort dem Vater das ruhige Verhalten seiner Tochter um
so bedenklicher erscheinen musste, so durfte er es doch als ein
günstigeres Zeichen betrachten, als sie ihn aufforderte mit ihr
zu fliehen, denn nunmehr konnte er ihre Ruhe als das Ergeb-
niss ihrer Hoffnung auf Flucht ansehen. In der That, wenn
Fliehen möglich wäre, was hätte es dann für Noth? Da aber
Flucht unmöglich ist, so muss Odoardo abwarten, welchen Ein-
druck diese Eröffnung auf Emilia macht; er muss ausforschen,
17*
256 Charakterbilder aus
ob sie auch dann noch ruhig bleibt, wenn er ihr einredet, dass
sie allein, ohne Vater und Mutter, in den Händen ihres Räu-
bers sei und bleibe. Verhielt sie sich auch dann noch ruhig,
so war ihre Ruhe unzweifelhaft Trägheit, Schwäche, Wider-
standslosigkeit. Diese Prüfung führt in der That zum Ziel.
Denn als nun Emilia erklärt, dass, falls ihr Vater sie wirklich
auf unväterliche Weise in den Händen des Räubers lassen
wolle, sie doch keinen Zwang dulden werde, da erst überzeugt
sich Odoardo, dass die Ruhe Emilia's die Ruhe der Ent-
schlossenheit ist, welche nicht die Hände in den Schooss legt
und sich kein Unrecht gefallen lässt. Entzückt umarmt er
seine Tochter und hat in ihrer Ruhe die seinige wiedergefunden.
Er entdeckt ihr nun, dass man sie unter dem Vorwande einer
gerichtlichen Untersuchung zur Grimaldi bringe; aber sie spricht
nur seine eigenen Gedanken aus, wenn sie auf die Willens-
kraft hinweist, die dies verhindern könne. Mit der Art, wie
Odoardo dies höllische Gaukelspiel beinahe zu Schanden ge-
macht hätte, w^ar Emilia freilich nicht einverstanden. Er er-
zählt ihr nämlich, er sei über jenen teuflischen Plan so wüthend
geworden, dass er schon nach dem Dolche gegriffen habe, um
einen von Beiden — Beiden! — das Herz zu durchstossen.
Dieser Ausweg, den der Vater versäumt hatte, wird also jetzt
von der Tochter noch ausdrücklich verworfen. Bei jener Er-
zählung hat Odoardo den Dolch herausgezogen. Emilia will
ihn haben, um sich damit zu durchstechen. Odoardo aber muss
erst sehen, ob sie furchtlos den Tod erleiden kann: „Kind, es
ist keine Haarnadel." Da er nun das Mädchen zum Aeusser-
sten entschlossen sieht, graut es ihm doch und er will sich
und ihr einreden, dass es noch nicht so weit gekommen sein
könne ; er warnt sie vor Unbesonnenheit und möchte ihr den
Tod ersparen, wie sie ja selbst dem Prinzen und Marinelli das
Leben erhalten wissen wollte. Aber der Fall ist hier ein
anderer. Der Prinz und Marinelli hatten in ihrer Lasterhaftig-
keit ausser dem Leben schon Alles verloren, also war ihnen
das Leben noch zu gönnen; Emilia aber hatte, wenn sie am
Leben blieb, die Unschuld zu verlieren, die zwar über alle
Gewalt, aber nicht über alle Verführung erhaben war, wie
Emilia sich und ihrem Vater in beredten Worten eing-e stehen
» Lessing's Emilia Galotti. 257
musste. Sie verlangt also noch einmal' dringend den Dolch.
Der Vater gibt ihr endlich das mörderische AVcrkzeug, welches
ihn an das Verhältniss und das Schicksal Orsina's erinnert,
auf ihre zum dritten Male ausgesprochene Bitte, rcisst ihr aber
den Dolch wieder aus der Hand, da sie sich rasch damit
durchstossen wull. Doch hat er sich nun auch von ihrem
furchtlosen und ernstlichen Entschlus.se zum Tode übcrzeuirt.
Dies bestärkt ihn innner mehr in seinem Vorsatze, den er
seiner Tochter durch die Worte anzudeuten suclit, der Dolcli
sei nicht für ihre Hand. Kmilia , welche durchaus den Tod
erleiden will, greift nach einer Haarnadel, um sich damit zu
tödten und bekommt die Rose zu ftissen. Sie wirft sie
herunter, weil sie nicht in ihr Haar gehöre, da ihr Vater sie
zur Buhlerin machen wolle. Dieser Vorwurf, Avelcher den
Vater an die Schande erinnert, die Emilien bevorsteht, falls sie
am Leben bleibt, presst ihm einen Weheruf aus, Avelcher der
Tochter deutlicher zu verstehen gibt, welche That er gegen sie
beabsichtigt. Sie glaubt ihren Vater zu eri'athen, Avird aber
irre an ihm, weil er zaudert, bis sie, indem sie die Rose zer-
pflückt, in einem bittei'n Tone an die That des Virginius er-
innert. Die Art, wie Emilia diese That erwähnt, lässt ihm
keinen Zweifel, dass die Tochter von seiner Hand sterben will:
es ist der directeste Wunsch von ihrer Seite, der ihn ihrer Zu-
stimmung zu dem Morde völlig gewiss macht. Ihre Worte:
..Aber solche Thaten sind von ehedem! Solcher Väter gibt es
keine mehrl" stacheln ihn dergestalt, dass er rasch die That
des alten Römers nachahmt und mit den Worten: „Doch, meine
Tochter" Emilien durchsticht. Aber gleich darauf kommt er
zum Bewusstsein der furchtbaren That und stösst einen Wehe-
ruf über dieselbe aus.
Als im nächsten Augenblicke der Prinz und Marinelli ein-
treten, rechtfertigt Odoardo das Gethane mit den Worten
Emilia's, er habe eine Rose gebroclien, ehe der Sturm sie ent-
blättert, und duldet nicht, dass die Sterbende das Verbrechen
auf sich nimmt : er selbst, ihr unglücklicher Vater, bekennt sich
zu demselben. Dann wendet er sich von der Leiche Emilia's
gegen den Prinzen und klagt ihn als den eigentlichen An-
258 Charakterbilder aus Lessing's Emilia Galotti.
Stifter der That an , obgleich er sein eigenes in dem Morde an
Emilien verübtes Verbrechen eingesteht. „Ich gehe und liefere
mich selbst in das Gefängniss. Ich gehe und erwarte Sie als
Richter — Und dann dort — erwarte ich Sie vor dem Richter
unser aller!"
Crefeld.
Dr. Niemeyer.
1
lieber
das F r a n z ö s i s c h - S p r e c h e n
auf Schulen.
Dass überhaupt die Schüler des Gymnasiums und besonders
der Realschule zu Versuchen angeleitet werden sollen, sich der
französischen Sprache auch mündlich zu bedienen, darüber
herrscht Avohl kein Streit; in welcher Ausdehnung, nach welcher
Methode dies aber geschehen solle, welcher Werth überhaupt
dergleichen Uebungen beizulegen sei, darüber gehen die Mei-
nungen sehr auseinander.
Die entschiedensten Freunde des Französisch-Sprechens, die
Linke, finden wir unter dem Publicum, unter den Eltern der
Schüler. Der Geschäftsmann, der seinen Sohn etwa für den
Kaufmannsstand bestimmt, pflegt das, was er Sprechen nennt,
für den alleinigen Zw eck des Unterrichts in den neuern Sprachen
zu betrachten. Er hat darum im Gemeinderathe für die Errich-
tung einer Realschule gestimmt, er schickt seinen Sohn dorthin,
damit derselbe fertig sprechen lerne und im Stande sei, eine kauf-
njännische Correspondenz in französicher Sprache zu führen.
Was denkt er sich unter Sprechen? Sein Sohn soll im Stande
sein, mit den Gemeinplätzen der gewöhnlichen Unterhaltung auf
Promenaden und Bällen, im Eisenbahnwaggon umzugehen, er
soll im Besitz der unvei'meidlichen Fragen imd Antworten sein,
welche die banale Höflichkeit mit sich bringt. Ob die Fertigkeit
im Sprechen das Resultat eines geist- und herzbildenden Unter-
richts ist, oder ob sie sich auf die Fähigkeit beschränkt , mit den
eingelernten Phrasen eines Guide de conversation geschickt um-
zugehen, das kümmert ihn weniger.
260 Ueber das Französisch-Sprechen auf Schulen.
Die Gegner des Französisch-Sprechens, die Rechte, treffen
wir meist unter den Lehrern selber an, und es lassen sich hier
zwei Parteien unterscheiden. Die äusserste Rechte bilden die
Philologen de la vieille röche, welche an das Dogma von der
allein seligmachenden Kraft des altclassischen Sprachstudiums
und an die Prästanz der altclassischen Literaturen in intellec-
tueller, ethischer und ästhetischer Hinsicht glauben. Das Stu-
dium keiner neueren Sprache, also auch nicht des Französischen,
ist zur formalen Bildung des Geistes geeignet; der französische
Volkscharakter ist ihnen speciell zuwider — ein Widerwille, der
sich zum Theil noch aus den Zeiten der französischen Zwing-
herrschaft herschreibt und durch die Anmassungen der Franzosen
wegen der natürlichen Grenzen Frankreichs neue Nahrung er-
halten hat. Der Franzose gilt ihnen als oberflächlich , arrogant,
auf den Schein berechnet. Seine Literatur ist durch und durch
unsittlich, sagen sie. Jene Feinde des Französischen gehen so-
gar so weit, von der Beschäftigung mit dieser Sprache Gefahren
für den deutschen Volkscharakter, für die deutsche Gründlichkeit
und Biederkeit zu fürchten. Sie missgönnen deshalb dem Fran-
zösichen sogar seinen Platz als Lehrobject, namentlich im Gym-
nasium, und haben, um die Sache schlecht zu machen, für das
Französisch- Sprechen den Ausdruck Pariiren in Umlauf ge-
setzt, nach einer dem Sprachforscher häufig begegnenden Sitte,
dass das Volk, Avelches von einem andern ein Wort borgt, demsel-
ben eine verächthche Nebenbedeutung gibt. „Parier" ist parhren
geworden, offenbar um eine oberflächliche, seichte, papageienhafte
Art des Sprechens zu bezeichnen. So haben die Franzosen
ihrerseits dem spanischen Worte „hablar" vom lateinischen fabulari,
welches, wie „parier" im Französischen, einfach sprechen heis&t,
die Nebenbedeutung des Grosssprecherischen, Prahlenden ge-
geben, indem sie daraus habler machten. Die Spanier dagegen,
um den Franzosen nichts schuldig zu bleiben, nennen den
Schwätzer „parlador." So ist das edle Ross im Französischen
„rosse" zur Schindmähre geworden; unser Buch als „bouquin"
bezeichnet eine Scharteke, unser Herr in „here" einen armen
Teufel, unser Land als „lande" eine unfruchtbare Haide.
Die gemässigte Rechte ist für möglichste Beschränkung der
Sprechübungen, weil sich ein einigermassen befriedigendes Re-
Ueber das Franzosiscb-Sprechen auf Schulen. 261
sultat doch nicht erreichen lasse. So sagt der preussische Schul-
rath Landfermann in Coblenz im Octoberheft der Mützell'schen
Zeitschrift für das Gymnasialwesen, Jahrgang 1855: „Fertigkeit
im mündlichen Gebrauche moderner fremder Sprachen wird in
Schulen, auch in Realschulen, erfahrungsmässig nicht gewonnen,
weil es nicht möglich ist inmitten deutscher Umgebungen. Was
in Schulen in den neueren Sprachen erreicht werden kann, ist
sicheres und leichtes Verstehen des in der fremden Sprache Ge-
schriebenen, eine leidliche Aussprache und ein guter Anfang im
correcten , schriftlichen Ausdruck. Damit ist denn der nötliige
Grund gelegt zur Aneignung jener Fertigkeit, wenn dazu Ge-
legenheit und Bedürfniss sich aus dem Verkehr mit Angehörigen
des fremden Volkes ergibt." — In der fünften Versammlung
deutscher Realschulmänner, welche im September 1853 zu Braun-
schweig abgehalten wurde, hielt der Institutsdirector Dr. Precht
aus Bremen einen Vortrag über französische Sprechübungen,
und es wurde bei der Gelegenheit von den Gegnern, namentlich
Dieckmann aus Hannover, angeführt, dass das Sprechen dem
reiferen Alter zukomme, so dass man nicht vorgreifen dürfe.
Die Schule könne nur wenig Zeit dazu einräumen; deshalb solle
man die grammatische Behandlung mehr hervorheben. Nöldeke
aus Hannover bemerkte, dass die Schüchternheit der Knaben dem
Gedeihen der Sprechübungen im Wege stehe. — Es wird auch
wohl gegen Sprechübungen eingewandt, dass einem solchen Un-
terrichte nur die befähigtsten folgen , Avährend die Classe selbst
nicht gefördert wird ; es werde also eine kostbare Zeit damit
vergeudet, die mit Lesen und Uebersetzen besser ausgefüllt
werden könnte.
Versuchen wir jetzt, vom Standpunkte des Centrums nach
beiden Seiten hin unsre Meinung zu begründen. Jenen ersten,
deren einziges Feldgeschrei: „Sprechen, sprechen!" ist, muss
erwiedert werden, dass ihr Zweck auf der Schule schlechthin
imerreichbar sei. Dazu gehört jahrelanger, täglicher Umgang
mit Franzosen ; dazu reichen nicht die vier wöchentlichen Stun-
den der Realschule und noch weniger die zwei Stunden des
Gymnasiums aus , zumal in vollen Classen , in denen auf die
Masse gewirkt werden muss und für Berücksichtigung des In-
dividuums nur wenig Zeit bleibt , wo der Einzelne verhältniss-
262 lieber das Französisch-Sprechen auf Schulen.
massig wenige Fragen erhalten kann. Also die Zeit reicht nicht
hin, um jene zu befriedigen ; die Schule ist aber auch gar nicht
der Ort, um Gegenstände der gewöhnlichen Unterhaltung des
gemeinen Lebens ausführlich zu besprechen. Wäre jener Zweck
erreichbar, wenn man den gesammten französischen Unterricht
darauf einrichtete , so dürfte man ihn dennoch nicht erstreben,
da die andern Zwecke, welche die Schule mit dem Sprachunter-
richt erreichen will, formale Bildung durch das Studium der
Grammatik, Bereicherung mit den Ideen der fremden Völker,
Bildung des Schönheitssinnes u. s. w. darunter leiden würden.
Wem nur an jener Fertigkeit gelegen ist, der muss an den
Privatunterricht und an Fachschulen, z. B. Handelsschulen,
verwiesen werden.
Wenn die erste Partei , die unverständigen Freunde des
Sprechens, mit Leichtigkeit abgewehrt werden kann, so Avird
der Kampf schwieriger bei den Gegnern , die aus dem eigenen
pädagogischen Lager sich erheben. Ich muss hier Punkte be-
rühren, über welche die Entscheidung sehr schwer ist, und über
welche schon oft mit und ohne Erbitterung gestritten worden
ist. Ich bekenne mich im Wesentlichen zu einem Anhänger
der von Mager in seiner Schrift: „Ueber Wesen, Einrichtung
und pädagogische Bedeutung des schulmässigen Studiums der
neueren Sprachen und Literaturen" (Zürich 1843) ausgespro-
chenen Ansicht : dass die hergebrachten Redensarten von der
Excellenz und Prästanz der alten Literaturen nur Redensarten
sind, die nur für die bloss ästhetische Betrachtung wahr sind.
In intellectueller Hinsicht befindet sich unter den Werken der
Alten verhältnissmässig ebensoviel Geistloses und Unnützes als
unter den Neuern. Wer wird die Naturwissenschaften aus den
Alten lernen wollen? In ethischer Hinsicht muss den Schriften
der Neueren der Vorzug eingeräumt werden, insofern das Chri-
stenthum unserm Leben, Denken und Dichten einen Inhalt ge-
geben hat, der, verglichen mit dem Inhalte der antiken Welt,
gradezu als der bessere, menschlichere bezeichnet werden muss.
Natürlich darf man die französische Literatur nicht nach den
ephemeren Erzeugnissen der Romanschriftsteller beurtheilen, wo-
mit die geschäftige Industrie der Uebersetzer unsre Leihbiblio-
theken füllt — Erzeugnisse, deren sich die bessern Franzosen
Ueber das Französisch-Sprechen auf Schulen. 203
selbst schämen und die dort vielleicht weniger gelesen werden
als bei uns. Neben einem Voltaire und einem Paul de Kock
nennt Frankreich einen Pascal, einen Bossuet die Seinigen.
Haben uns die Alten AVerke von vollendeter Schönheit geliefert,
zeigt ihre Gescliichte vollkommen abgerundete Charaktere, ist
Griechenland das Paradies des Menschengeistes: so sind die
Neueren doch wahrhaftig nicht arm an ästhetischen Meister-
werken; sie haben die Kunstformen der Alten nachgeahmt und
neue erfunden. Die bloss ästhetische Betrachtung ist auch nicht
die höchste, auf welche es in der Schule ankommt.
Nun aber die formale Bildung, welche die Grammatik ver-
mittelt ? Auch hier kann ich dem Griechischen und Lateinischen
einen unbedingten Vorzug nicht einräumen. Die starke Aus-
prägung der lateinischen Sprachformen, der synthetische Cha-
rakter der alten Sprachen, der analytische Charakter der neueren
hat seine eigenthümlichen Vorzüge , und ich kann auch Mager
nicht beitreten, der in seinem Buche: „Die deutsche Büi'ger-
schule" das Latein von den Realschulen ausschliessen will. Auf
Einzelnheiten kann ich hier nicht eingehen ; Hauschild hat in
neun Vorträgen (Leipzig 1847) die Bildungselemente der deut-
schen, französischen und englischen Sprache zusammengestellt,
und nachgewiesen, dass das Zünglein der Wage gar oft zu
Gunsten der neueren Sprache sich neigt.
Sind also die neueren Sprachen würdige Objecte der Bil-
dung des heranwachsenden Geschlechts, so muss auch die Be-
deutung der Schreib- und Sprechübungen zugegeben werden,
als integrirende Theile eines fruchtbringenden Unterrichts , und
ich fordere sie, mit der gehörigen Beschränkung natürlich, ebenso
für das Lateinische und Griechische auf den Gymnasien. Sprech-
übungen sind ja nichts als mündliche Extemporalien. Durch
Schreiben und Sprechen wird die fremde Sprache erst im Be-
wusstsein zur Klarheit gebracht; es ist die Praxis zu der im
grammatischen und onomatischen Unterricht empfangenen Theo-
rie, die Bewegung, wodurch das Genossene erst in Fluss kommt,
in Fleisch und Blut verwandelt wird. Es soll das Sprechen
kein blosses Abfragen auswendig gelernter Phrasen sein, kein
blosser Gedächtnisskram mit trivialem Inhalt, sondern der
Schüler soll zum Ausdruck des eigenen Gedankens angeleitet
264 Ueber das Französisch-Sprechen auf Schulen.
werden; die Leetüre soll den Stoff, einen würdigen Inhalt ge-
währen. Es ist mir daher nicht recht verständlich, warum
Lüdecking auf der oben erwähnten Versammlung verlangte, dass
die Leetüre nicht den Stoff der Sprechübungen hergeben solle.
Von den Schülern werden die Sprechübungen stets mit dem
grössten Interesse ergriffen, und die Zeit wird doch wohl am
vortheilhaftesten auf das verwandt, was die Schüler am Hebsten
thun, vorausgesetzt natürlich, dass es zur Sache gehört, die
darauf verwandte Zeit ist ja auch für alle andern Uebungen
nicht verloren; geläufiges Lesen, Cori*ectheit im Schreiben lernt
der Schüler zugleich mit; Avenigstens gewinnt er diese Fertig-
keiten in Verbindung mit jenen desto leichter. Soll die Gym-
nastik der Sprachwerkzeuge, des Ohres und des Gedächtnisses,
für welche die Sprechübungen wirken, eine der Schule unwür-
dige sein? Wird nicht der Schüler durch die Fragen in der
fremden Sprache zu weit grösserer Spannung, zu intensiverer
Aufmerksamkeit gezwungen, und so diese geistige Gymnastik
dazu beitragen, dass die Passivität und Receptivität, zu der ein
grosser Theil der Schüler hinneigen, überwunden werde?
(Schmitz, Anleitung für Schulen zu den ersten Sprechübungen
in der französischen und englischen Sprache, Greifs wald 1856,
Vorrede.)
Hier ist auch der Ort, ein Wort für den praktischen Nutzen
der Sprechübungen zu sagen, auf den jene warmen Freunde des
Sprechens zu viel Gewicht legen. Stand und Beruf stehen
allerdings in einem wesentlichen Verhältniss zu den angebornen
Anlagen und Neigungen der zu bildenden Individuen. Keine
Schule in der Welt gibt oder soll geben eine ganz abstracte
Bildung. Wir bilden den Menschen nicht in abstracto; wir bil-
den Knaben, Deutsche, Christen, Kinder des neunzehnten Jahr-
hunderts ; wir bilden auf den Gymnasien durch die alten Sprachen
zu den sogenannten gelehrten Berufsarten ; auf den Realschulen
durch die Sprachen der modern -europäischen Culturvölker, der
Deutschen, Franzosen und Engländer für den Beruf des büi'-
gerlichen Lebens, für den Kaufmannsstand, das Postfach und
andere Berufsarten, welche gradezu eine Sprachfertigkeit erfor-
dern. — Denen endlich, welche wie Landfermann gegen Sprech-
übungen sind, weil man es auf Schulen doch nicht zu etwas
Ueber das Französisch-Spr echen auf Schulen. 265
Ordentlichem, zur Fertigkeit bringen könne, lässt sich mit
Schmitz in dem angeführten Buche entgegenhalten, dass nicht
nur die Fertigkeit, sondern auch einige Fertigkeit einen
Werth habe. Fertigkeit ist überall relativ; relativ ist auch die
Fertigkeit nur, Avelche die Schule in der Muttersprache mitgibt.
Landfermann erkennt selbst einen Anfang im correcten schrift-
lichen Ausdruck für etwas "Werthvolles an ; warum soll derselbe
im mündlichen Ausdruck zu verachten sein?
Nach der Frage, warum Sprechübungen, ist eine zweite
über das Wie derselben zu beantworten. Sollen die Sprech-
übungen zu einem einigermassen befriedigenden Resultate füh-
ren, so müssen sie schon auf der untersten Stufe begonnen
werden. Wenn auch im Anfang manches unverstandene Wort
an den Ohren einzelner Schüler vorüberrauscht, so werden sie
sich doch allmälig an die fremden Laute geAvöhnen, und die
natürliche Schüchternheit, welche dem Sprechen entgegentritt,
wird leichter in den unteren als in den oberen Classen über-
wunden. Dazu gehören freilich auch in den unteren und mitt-
leren Classen Lehrer des Französischen, welche des Sprechens
mächtig sind. Wird dagegen diese Arbeit dem Lehrer der
oberen Classen allein überlassen, so lässt sich nicht viel erwar-
ten. Ich kann deshalb der Meinung von Bach und Nabert auf
der mehrerwähnten Versammlung nicht beipflichten, dass es hin-
reiche, wenn nur in den Oberclassen oder gar nur in der ersten
Classe Sprechübungen angestellt werden. Zwischen dem Ver-
stehen eines Wortes oder einer Redensart bei der Leetüre und
dem selbständigen Gebrauch derselben beim Sprechen liegt ein
langer Weg, der nicht ohne Weiteres übersprungen werden kann,
um in Prima nach blosser Leetüre sofort mit dem Sprechen an-
zufangen. Eine Frage von untergeordneter Wichtigkeit ist die,
ob für die Sprechübungen besondere Stunden anzusetzen oder
ob sie nur gelegentlich vorzunehmen sind. Dies mag von der
Individualität des Lehrers und der Beschaffenheit der Uebungen
selbst abhängen. Einige derselben sind gelegentlich anzustellen 5
andre nehmen eine bestimmte Zeit in Anspruch.
Woher soll der Stoff zu den Sprechübungen genommen
werden? Ich antworte: 1) aus der Grammatik; 2) aus der
Leetüre; 3) aus andern Lehrobjecten , namentlich aus der Ge-
266 Ueber das Französisch-Sprechen auf Schulen.
schichte, Geographie, Naturgeschichte; 4) aus dem Leben der
Schüler. Ueber jeden der vier Punkte einige erläuternde Worte.
In Bezug auf die Grammatik empfehlen sich Flexionsübungen,
bei denen der Lehrer in französischer Sprache fragt, und Ana-
lysen des Lesestückes , wobei nach den Satz - und Redetheilen
gefragt wird. Die grammatischen Regeln werden nach und
nach in französischer Sprache mitgetheilt und vom Schüler
wiederholt. Endlich können die nöthigsten Homonymen und
Synonymen und die mündliche Correctur der Exercitien und
Extemporalien in der fremden Sprache mitgetheilt werden.
Die Leetüre lässt sich nach der z. B. im Plötz'schen Ele-
mentarbuche angedeuteten Methode der Questionnaires auch in
sachlicher Hinsicht zum Gegenstand der Sprechübungen machen,
und es kann diese Uebung, wie jene der grammatischen Ana-
lysen, schon auf der untersten Stufe begonnen werden, da es
nur der Kenntniss einer ziemlich beschränkten Zahl von Aus-
drücken, der Fragwörter, des avoir und etre bedarf, um sie
vorzunehmen. Mit der wachsenden Sprachkenntniss der Schüler
wird der geschickte Lehrer diese Questionnaires immer weiter
auszudehnen und in freierer Weise zu handhaben wissen. Daran
schliesst sich das selbständige Wiedererzählen eines Lesestücks,
das Amplificiren, Variiren, Imitiren des gegebenen Inhalts und
in den oberen Classen das Referat über die Privatlectüre und
das eigentliche Interpretiren.
In den obersten Classen mag auch ab und zu der Versuch
gemacht werden, ein Examinatorium über den geschichtlichen,
geographischen und, wenn der Lehrer derselben gewachsen ist,
auch über den naturwissenschaftlichen Lehrstoff anzustellen.
Der Lehrer kann hier entweder selbst fragen oder das gegen-
seitige Examiniren der Schüler bloss leiten.' Viertens kann man
den Schüler auch wohl einmal veranlassen, über seine Personalien
u. s. w. sich französisch zu äussern, indem er das von dem
Lehrer vorher mitgetheilte Material von Wörtern und Ausdrucks-
weisen anwendet. Auch hier kann der Lehrer die Fragen stel-
len oder die Schüler sich fragen und antworten lassen. Als die
höchste Spitze des Sprechunterrichts möchte ich endlich den
nach Umständen in Prima anzustellenden Versuch eines Dis-
putatoriums über gestellte Thesen ansehen.
Ueber das Französisch-Sprechen auf Schulen. 267
Soll sich der Lehrer hierbei eines sogenannten Guide de
conversation bedienen oder nicht? Ich für meinen Thcil gestehe,
dass ich die Einführung eines solchen Buches nicht für nöthig
halte (d. h. in der Schule, im Privatunterricht dürfte es sehr
gute Dienste leisten). Ein grosser Theil dieser Anleitungen
entbehrt einer zweckmässigen Anordnung und enthält eine Masse
in Frankreich selbst veralteter oder selbst nie in Gebrauch ge-
wesener Wörter und Kedensarten, eine Menge trivialer Unter-
haltungen mit Schneider, Schuster, Bäcker, Zollbeamten, die
dem Leben des Schülers fern lieo-en. Die erwähnten Mäno-el
suchen Plötz im Vocabidaire systematique und Schmitz in seiner
Anleitung zu beseitigen. So ordnet der erste die Worte nicht
nach den ßedetheilen, wie Bigot und andere, sondern stellt mit
den nach Materien geordneten Substantiven die durch Ablei-
tung zugehörigen und die gewöhnlich damit verbundenen Ad-
jectiven und Verben, so wie die sich anschliessenden Gallicismen
zusammen — ein entschiedener Fortschritt über Bigot, Coursier
und Konsorten, da die alphabetische Ordnung für das Memo-
riren die unpassendste ist, und das Gedächtniss des geistigen
Anknüpfungspunktes entbehrt. Die gewöhnlichen Gespräche für
das gesellige Leben lässt Plötz ganz weg: „weil man mit dem
Memoriren ganzer Dialoge keine Geläufigkeit im selbsständigen
Ausdruck, sondern nur Gewöhnen an sinnloses Nachbeten er-
ziele." Doch gibt derselbe Verfasser von der dritten Auflage
an im Anhano; eine Anzahl Unterhaltuno;en nach Art der Cau-
series parisiennes von Peschier ohne deutsche Uebersetzung als
Anwendung der wichtigsten Kapitel des Vocabulaire.
Dagegen besteht das Schmitz'sche Buch aus Fragen und
Antworten über Personalien, Begrüssungen, Zeit, Wetter, Auf-
stehen, Ankleiden, Essen, Trinken, Schule, Grammatik, Ge-
schichte, Geographie, Naturgeschichte.
Bei dem Gebrauche des Schmitz'schen Buches, welches nur
73 Seiten einschliesslich der 10 Seiten langen Vorrede enthält,
ist man genöthigt, Vocabeln hinzuzudictiren, wenn man den Ge-
genstand einigermassen in der wünschenswerthen Ausdehnung
behandeln will, w^ährend man die Anleitung zu Gesprächen,
die Formirung von Fragen und Antworten bei Plötz vermisst.
In der Vorrede befinden sich allerdings einige Andeutungen
208 Ueber das Französisch-Sprechen auf Schulen.
darüber und für den geschickten Lehrer, der die Sprache voll-
ständig beherrscht, mögen dieselben wohl ausreichend sein.
Ist ein solches Buch in der Schule nicht eingeführt, so ist
man freilich genöthigt zu dictiren ; indessen hat das Schreiben
gerade in den neueren Sprachen mit ihrer schwierigen Ortho-
graphie sein Gutes. Man kann ja auch die zu dictirenden
Materialien von den Schülern selbst erst übersetzen lassen, so
dass dem Dictiren das Mechanische genommen wird. Ich komme
also schliesslich darauf zurück, dass ich die Einführung eines
Guide de conversation nicht für unentbehrlich halte; dagegen
wünsche ich, dass das Elementarbuch nicht bloss grammatisch
fortschreite, sondern mit Rücksicht auf das Sprechen die nöthig-
sten Materialien nach und nach mittheile. Dem Zwecke der zu
erlangenden Sprachfertigkeit kann auch die Leetüre eines sorg-
fältig gewählten , sittlich reinen Theaterstücks dienen : diese ist
insofern wohl nicht durchaus zu verwerfen, wie Robolsky in
einem Aufsatze über die französische Leetüre in den oberen
Classen (der höheren Bürgerschule) thut.
Noch ist zu der allgemeinen Methodik der Sprechübungen
zu bemerken, dass der Lehrer nicht allein spreche, sondern alle
Schüler zu beschäftigen suchen müsse; dass die Schüler end-
lich sich gewöhnen müssen, in der Regel in vollständigen
Sätzen und nicht bloss mit einzelnen Worten oder Lauten zu
antworten.
Ich schliesse mit den Worten Mager's, S. 70: „Die Sprach-
fertigkeit lässt sich beim öffentlichen Unterricht, namentlich in
zahlreichen Classen nichtsehr weit treiben; dagegen gewinnen die
Schüler, wenn der Unterricht in den drei oberen Classen in der
fremden Sprache ertheilt wird, die Kunst des Hörens, sie ler-
nen das in einer fremden Sprache Gesprochene verstehen — •
was weniger leicht ist, als Viele meinen, wogegen das Sprechen
weniger schwierig ist, als gewöhnHch geglaubt wird.
Bromberg.
Dr. Weigand.
Zur ErläuterunfT
W. Sliakspeare's Antony und Cleopatra
Das historische Trauerspiel Antony and Cleopatra gründet
sich auf die von Sir Thomas North 1579 veranstaltete englische
Uebersetzung von Plutarch's Lebensbeschreibung des Antonius,
welche sich hinwiederum auf die französische Uebertraffung durch
M. Jaques Amyot stützt. Shakspeare, welcher auch anderen
Werken damaliger Zeit über die alte Geschichte nicht fremd war,
schliesst sich ihr möglichst genau an, so zwar, dass er der eigenen
Worte seiner englischen Quelle sich sehr häufig bedient.
Wir besitzen von diesem Drama keine Quartausgabe. Zum
ersten Male begegnen wir ihm in der Gesammtedition der Folio
von 1623 — The Tragedie of Anthonie and Cleopatra — und
entbehren daher der Vergleichungen , die bei anderen Stücken
uns oft so interessante Aufschlüsse über Entwicklung und Ab-
änderung, Plan und Ausführung geben und den Combinationen
zur Aufliellung schwieriger Stellen einen Anhalt verleihen.
Vorgänger in Behandlung desselben Stoffs hatte Shakspeare
bekanntlich für verscliiedene seiner Stücke und so findet sich
denn auch in dem Londoner Buchhändler-Reffister folgrender für
Symon Waterson gefertigte, bezügliche Eintrag: A Booke en-
titled the Tragedie of Cleopatra, October 19, 1593, welches, da
S. Waterson mehrere Werke des engl. Dichters Sam. Daniel
verlegte, höchst wahrscheinlich eine Ankündigung des 1594 unter
gleichem Titel erschienenen Dramas Daniel's ist. — Ein späterer
Eintrag für Edw. Blount lautet: A Booke Called Anthony and
Cleopatra, May 20, 1608. Verschiedene Kritiker, wie z. B. Ma-
lone, Chalraers, Drake, beziehen denselben auf unser Drama,
Archiv f. n. Sprachen. XXni. 18
270 Zur Erläuterung von
und nehmen dem entsprechend ohne Weiteres das Jahr 1607
oder 1608 als Abfassimgszeit an, obgleich diese Annahme durch
keinen weiteren Anhalt unterstützt wird, als dass Edw. Blount
einer der Verleger der Folio von 1623 war und von dem-
selben zugleich mit obigem ein ,,Buch Pericles" (a Booke call-
ed Pericles, May 2, 1608) eingeführt Avurde. Da der Shak-
spearen zugeschriebene Pericles aber im Jahre 1609 Ton einem
ganz andern Verleger (Henry Gosson) gedruckt wurde, das
unbestimmt bezeichnete „Buch Pericles" folglich ein ganz von
jenem verschiedenes Werk sein kann; anderntheils auch die
Ausgabe des Pericles von 1609, obgleich ihr (anscheinend
fälschlich) Shakspeare's Namen vorgedruckt ist, von den Ver-
legern also auch von Edw. Blount in der Collection von 1623
selbst nicht einmal aufgenommen (resp. nicht als rein Shak-
spearisch anerkannt) wurde, so ist das aus jenem gleichzeitig
erschienenen Opus zur Bestimmung der Abfassungszeit des Shak-
spearischen Dramas Antonius und Cleopatra entnommene Argu-
ment ein völlio; unsicheres und haltloses. — Ebensowenis; trägt die
gleichzeitige Einführung des Dramas : A Yorkshire Tragedy, May
2 , 1608 in den Stationers - Registern das Geringste zur Fest-
stellung der Verwandtschaft Shakspeare's mit jenem „Buche
Anthony and Cleopatra" bei, um so weniger, als, wenn dasselbe
(A Yorksh. Trag.) wirklich von Shakspeare verfasst sein sollte,
der ihm beigefügte Zusatz (written by Will. Shakspeare) bei
dem gleichzeitigen Eintrag eines so viel bedeutenderen Werkes
unseres Dichters schwerlich unterlassen worden wäre.
In Ermangelung unzweifelhafter äusserer Anhaltspunkte wer-
den wir mehr auf innere Gründe verwiesen, um die Entstehungs-
zeit annähernd bestimmen zu können. Fassen wir nun Verschie-
denes, wie z. B. Gegenstand, Zusammenhang, Styl und Versbau
des Stückes genauer in's Auge, so finden wir unverkennbare Ab-
weichungen von früheren Arbeiten des Dichters und Ueber-
einstimmungen mit denjenigen Werken, welche seiner letzten
Periode angehören. Der Blank-Verse, in welchem mit Ausnahme
einiger familiären Unterredungen (cf. Act I, Sc. 2 — II, 2, 6
und 7. — III, 5.) nahezu das ganze Stück geschrieben ist, ver-
räth in seiner oft an's Harte streifenden, den rhythmischen W^ohl-
klang völlig verschmähenden, ungebundenen Form (einzelne
W. Sliakspeare's Antony and Cleopatra. 271
Stellen, z. B. II, 2 des Enob. malerische Schilderung sind ab-
sichtliche Ausnahmen) die spätere Zeit Shakspeare's. Eben
so deutet die durchaus ungesuchte, der Dichterkraft sich
ganz bewusste Ausf'ührungsweise erhabener Gedanken, die
Sicherheit, mit der der Dichter, obwolü genau, ja wörtlich, der
geschichtlichen Quelle sich anschliessend, dennoch so klar und
entschieden die Avichtlgcren Beziehungen der vorgeführten Per-
sonen herausgreift und ordnet und die Masse der Ereignisse
bewältigt, auf die Jahre errungener IVIeisterschaft. Dem auf dem
Schachbrette sich siegreich dünkenden Spieler nicht unähnlich
weiss er in der gegebenen Form ein sonst von Andern in pedan-
tischer Rcgelrichtigkeit geführtes Spiel einer höheren Auffassung
und Schlussführuno- c^enial unterzuordnen. — Ueberall lässt sich
eine gereifte, gleichsam abgeschlossene Lebensanschauung in und
zwischen den Zeilen lesen. Shakspcare hat sich, vielleicht schon
durch Ben Jonson (der dem Ruhm der Classicität nachjagte)
veranlasst, jedenfalls aber w^ohl durch Montaigne, dessen „Essays"
er fleissig studiren mochte, geleitet, in seinen späteren Jahren
der Benutzung und Darstellung des Alterthums mehr zugewendet.
Ihm war der zuletzt grenannte französische Schriftsteller aus der
englischen Uebersetzung des Florio (1603), von der ein Exemplar
mit Shakspeare's eigenhändigem Naraenszug im brittischen Mu-
seum aufbewahrt wird, him-eichend bekannt und das von Mon-
taigne seinem Landsmann und Zeitgenossen J. Amyot und durch
diesen Uebersetzer dem Plutarch gespendete Lob musste auf
den Dichter ohne Zweifel anregend einwirken und ihn zu tieferer
Erforschung dieser Geschichtsquelle und des Alterthums über-
haupt anleiten. — AVie dem nun auch sey, seine Römerstücke
zeigen uns eine herrliche, tiefe Auffassung römischer Denk- und
Handlungsweise und sind keinen Falls ausser Zusammenhang
mit dem gründlichen Studium der alten Zeit entstanden. Dieses
vorausgesetzt werden wir für ihre Entstehung auf eine gereifte
Lebenszeit hingewiesen, auch wohl zum Theil auf Avenitjer ausser-
lieh in Ansprucli genommene Tage, dergleichen sie der Dichter
ganz besonders nach dem Abgange von der Schaubühne, aus
der Residenz und dem bewegteren Leben finden musste. Denken
wir an die geregelte, bisher so angestrengte Thätigkcit Shak-
speare's für die Bühne, an die übrigen sich drängenden, zum
18*
272 Zur Erläuterung von
Theil mehrfach überarbeiteten Productionen seiner männlichen
Jahre, so ist die (zuerst von Kniglit besonders hervorgehobene)
AValnscheinlichkeit sehr gross, dass namentlich Antonius und
Cleopatra und Corolian zu seinen letzten Werken gehören mögen,
vielleicht wohl gar seineu Nachlass bildeten. Die Nachwelt hätte
in diesem Falle davon die prima cura erhalten, was auf das
vorliegende Stück vornehmlich Beziehung finden würde, insofern
seine Anlage mehr als geniale Conception, denn als stricte
Bearbeitung für die Bühne gelten kann, in seiner zur Aufführung
weniger geeigneten Gestalt mehr einen literarisch-künstlerischen
als praktischen Zweck zu verfolgen scheint.
Nehmen wir dazu die Versicherung der Herausgeber der
Folio von 1623, dass unser Stück zu den bis dahin ungedruckten
gehöre, die Wahrnehmung, dass es ebensowenig wie die anderen
Römerschauspiele nebst Cymbeline und Timon v. Athen trotz
der sorgfältigsten Nachforschungen weder irgendwo als Shak-
speare'sches Stück genannt, noch auch von Zeitgenossen über-
haupt erwähnt oder (was bei anderen vorliegt) als auf der Bühne
o-egeben irsfend wo angemerkt worden ist, so erstarkt die An-
nähme einer sehr späten Abfassungszeit immer mehr. — Zu
bemerken wäre hier noch, dass die Aufnahme von Antonius und
Cleopatra in die Folio von 1623 ohne Eintheilung in Acte und
Scenen und ohne Personenverzeichniss erfolgte. Während die
beiden letzteren Auslassungen häufiger vorkonimen, erregt erstere
(die der Acte), welche, ausser dem fragmentarischen Timon v.
Athen und späteren Ueberarbeitungen des Dichters (Romeo and
Juliet, Hamlet, Henry VI. P. H und HI) nur noch bei Troilus
and Cressida sich findet, einiges Aufsehen. Wenn solche der
offenbaren Nachlässigkeit der Herausgeber nicht zugeschrieben
werden soll, so würde die Vermuthung entstehen, dass die be-
treffenden Manuscripte Shakspeare's, aus welchen (z. B. Romeo
and Juliet) die Folio corrigirt wurde, in seinen letzteren Jahren
für einen eudgültigen Abschluss der Eintheilung noch Spielraum
gelassen, resp. noch nicht völlig vollendet gewesen und von den
Herausgebern, ob aus Pietät oder Mangel an Selbstvertrauen
bleibe dahingestellt, in dieser ünvollständigkeit ohne Weiteres
abgedruckt worden seien, als der ganze Nachlass des Dichters
zur Herstellung; einer Gesammtauscabe gesammelt wurde.
W. Shakspoare's Antony and Clo op atr fi. 273
Ueber vielen der späteren AVerke des unsterblichen Britten
schwebt unläugbar eine trübe Wolke, sie liegen im Schatten
einer sehr verdüsterten Stimmung. Ja noch mehr, sie werden
zum Ausdruck eines titanischen, Welt - stürmerischen Kingens
und Kämpfens, das das Gebäude der hergebrachten sittlichen
und gesellschaftlichen Ordnungen aus seinen Fugen zu sprengen
droht, um auf seinen Trümmern neue zu errichten. Davon geben
Hamlet, Lear, Macbeth, Othello etc. hinlängliches Zeugniss.
Doch wir bemerken daiin wieder auch eine gesetztere Richtung,
eine zwar noch sehr ernste, aber mehr zur Ruhe gekommene
Stimnmng in seinen l^ömer-Stücken. Die Saiten, welche früher
so straff angezogen waren , so schreiend ertönten , sind weniger
grell und rauschend fTCWorden. Der Dichter scheint der stür-
menden Periode entrissen und durch Vertiefung in sich selbst,
durch Studium, namentlich der Philosophie und Geschichte des
Alterthums jene Störungen mehr bewältigt und künstlerisch sich
unterworfen zu haben. Xach dem Gewitter des schwülen Tages
grollt noch in den letzten Stunden der Donner in dumpfen, maje-
stätischen Schlägen. Schon das Eintreten abnehmender Jalu-e
bringt eine ruhigere Haltung mit sich, sänftigt die Seele, und
das, was an sittlichen Gebrechen der Zeit und dem Individuum
zur Last fällt, wird unparteiischer betrachtet und gemässigter
abgewogen. Unser Drama zeigt aus diesem Grunde wohl auch
nicht (von der Walil des Gegenstandes ganz abgesehen) die
Hervorhebung massgebender sittlicher Charaktere und "Wen-
dungen, wie wir es an anderen Productionen Shakspeare's ge-
wohnt sind. Es hat, ohne sich deswegen auf die Seite der sitt-
lich-Gleichgültigen zu schlagen oder absichthch das Laster als
solches zu verscliönern, doch eine Art der Darstellung gewählt,
in der er im demüthigenden Conflicte der Interessen und Pflichten
kein mit Begeisterung entworfenes Ideal durchbliken lässt, ge-
schweige denn, dass er sich die Mühe gäbe, denselben durch Auf-
stellung von Gcgenbildern geradehin zu paralysiren. Die ganze
Fassung ist objectiver als sonst, gleich als freue es ihn selbst,
eine Linie gefunden zu haben, auf der er Alles mehr dem Strome
der Thatsachen und dem Gerechtigkeitsgefühle des Lesers über-
lassen könne. Fand er vielleicht zugleich selbstquälerisch in dem
Abfalle seines Helden von dem Leben der That zu dem des
27-1 Zur Erläuterung von
Genusses eine geheime Uebereinstimmung mit der Aufhebung
seiner eigenen bisher so thätigen Stellung im öffentlichen Leben
vmd überdem im Charakterbilde der Cleopatra eine willkommene
Erscheinung, das Geschlecht, welches ihn so anzog und doch, wie
es scheint, so unglücklich werden Hess, in jener Mischung zu
geben, welche es unentschieden lässt, ob mehr vom Engel oder
Dämon, mehr Süsses oder Bitteres in ihm zu finden sei? (Man
vergleiche hier nebenbei die Worte, Avelche der Dichter dem
satirisch-räsonnirenden Enobarbus I, 2 in den Mund legt („Why
give the gods a thankful sacrifice? When it pleaseth" etc.), aus
denen gleichsam die Stimmung eines Mannes spricht, der seine
eigene Lage bitter genug fühlt.) Shakspeare's eheliche Ver-
hältnisse scheinen niemals recht befriedigender Art gewesen zu
sein. Wie mochte es auch anders sein, da er, ein unreifer
Jüngling noch so schnell, so offenbar übereilt, aus der Sphäre
seiner niederen Verwandtschaft sich eine Lebensgefährtin erwählt
hatte, die nach seinem Eintritt in die Hauptstadt, als er Unter-
kunft und Ehre, Freunde und Gönner, ja selbst königliche Pro-
tection gewonnen hatte, niemals würdig befunden wurde, an seiner
Seite zu erscheinen. Schwerlich aber mochte das dem Dichter,
dem ruhmreichen Schöpfer der anziehendsten Frauengestalten,
dessen Testament bekanndich eine so auffallende Gleichgültigkeit
gegen seine Frau an den Tag legt, mehr zum Bewusstsein
kommen, als damals, wo er aus höheren, geräuschvollen Kreisen
scheidend im häuslichen Leben seine Befriedigung hätte finden
können, in jener Zeit als zugleich Englands schlaff geführtes
Regiment, die Entartung der Bühne und das Hereinbrechen einer
befangenen, fanatisirenden Zeitrichtung wie so manches Andere
ihn mit trüber Aussicht in die Zukunft erfüllen musste, der ihn
nur höhere, künstlerische Beschäftigungen einigermassen entheben
mochten. Nehmen wir hierzu noch schliesslich die Bemerkung
des seit 1602 in Stratford upon Avon lebenden Geistlichen John
Ward (dessen Tagebuch in England neuerdings aufgefunden
wurde), dass Shakspeare in dem Rufe gestanden habe, nach seinem
Abgange von London jährlich 2 neue Schauspiele für die Bühne
bearbeitet zu haben, so gestaltet sich die Wahrscheinlichkeit
immer mehr, dass Antony and Cleopatra, Avie es ein Product
völliger Reife ist, so auch als ein Erzeugniss der letzteren
"W. Shakspeare's Antou)- and Cleopatra. 275
Lebensjahre des Dichterfürsten zu betrachten sei. — Shakspeare
zeigt in der Anlage und Kntwicldung seiner Dramen eine
merkwürdige Miscliung von selbständig producirendcr Kraft und
Aneignung des Fremden. Der reiche Dichter bindet sich nicht
selten an einen dürftigen Stoff, wenn er ihn auch sofort als Ma-
terial für einen geborenen Herrscher verarbeitet. Er, der Er-
finder neuer zauberhafter Geschöpfe und llegionen ist bewun-
dernswürdig in der Verherrlichtmg alter oft höchst unbedeutender
Novellen, ^Märchen und Sagen und erwählt sich selbstgezogene
Schranken, einen kleinen Kreis engbemessener Begebenheiten,
um ihn mit dem Füllhorn seiner eigenthümlichen Gaben zu
überschütten, mit dem Hauche seiner schöpferischen Gedanken
zu beleben. — AI. er ebenso bewundernswürdig wie in der Be-
handlung jener kleinen alten Geschichten ist er in der Bewälti-
gung und Organisirung reicher, weltgeschichtlicher Stoffe. Ein
Zeugniss dafür ist auch das vorliegende Drama. Ohne die
historische Treue zu verletzen, ohne der äusseren AVahrheit der
Charaktere zu nahe zu treten, ohne durch die Anhäufung der
Ereignisse seinen Blick beirren zu lassen, schafft er eine idea-
lisirte Wirklichkeit, Avelche sowohl einer tieferen Auffassung- des
Ganges der Geschichte förderlich ist, als auch die Regeln der
Kunst befriedigt und die Forderungen der Bühne in Betracht
zieht. Der Dichter will offenbar hier der Historie möglichst
gerecht bleiben, um derselben das ihr schlechthin zukommende
Interesse zu wahren und beabsichtigt zugleich ein Lebensbild,
das den Reiz an sich wirkender Anziehungskraft übt. Da nun
freilich die historischen Vorgänge zu ausgedehnt, zu vielseitig
sind, um in allen ihren Beziehungen harmonisch an's Licht
treten zu können, so leidet darunter die Einheit der Handlung
nicht nur, sondern auch die Charakteristik. Jedes Motiviren,
auch der einfachsten Bezüge, nimmt immerhin der übrigen Dar-
stellung, der Entwicklung der leitenden Ideen imd Personen,
vielen Kaum weg. Ein welthistorisches Gemälde solcher Art
muss daher, wenn es überhaupt aufgestellt werden soll, mehr
oder weniger skizzenhaft bleiben. Aber auch hierin zeigt sich
die wahre Künstlerhand Shakspeare's. Den rapiden Flug der
Ereignisse beherrscht sie mit sicheren Zügen; die Zeichnung, ob
sie uns auch (durch ihn selbst verwöhnt) unvollständiger er-
276 Zur Erläuterung von
scheint, verräth völlig den Meister und auch das Colorit wirkt,
unvernachlässigt, mit zum grossen Erfolge.
Suchen wir nun die Grundidee unseres Dramas im AU-
o-emeinen zu erfassen, ohne uns in specialisirte Deutungen zu
verlieren, so möchte wohl die bereits berührte Wahrnehmung
dabei leitend sein, dass Shakspeare hier einen äsdietisch be-
handelten doppelseitigen Zweck, politischer und zugleich sitdicher
Art, vor Augen gehabt haben dürfte. Er schildert die Abnahme
soAVohl des Römerthums, als auch der damaligen sittlichen Welt-
zustände und lässt daraus indirect die Nothwendigkeit neuer
staatlichen Formen und Lebensbedingungen resultiren. Der ord-
nende Geist der Zeit oder besser gesagt, die götthche Welt-
ordnung offenbart sich trotz alles Entgegenringens menschlicher
Bestrebungen. Das Römerreich und mit ihm die ganze gebildete
Welt war in jener Zeit auf die Stufe ausserordentlicher Macht-
entwicklung und Reichthümer erhoben, zugleich aber auch da-
hingekommen, wo die Gesetze allein nicht mehr hini-eichen, den
Zusammenhang zu erhalten und die übertriebenen Ansprüche zu
zügeln. Vergebens ist da die Erneuerung der Formen des alten
Republikanismus, wo der Geist der Republik fehlt, vergebens
das Streben eines edeln Brutus und seiner Freunde nach Frei-
heit, wo man wegen Mangel sittlich- freier Anschauungen die
äussere Freiheit nicht mehr ertragen kann und der Verwegenheit
und Grösse des Einzelnen in trunkener Begeisterung entgegen-
jauchzt. Individuelle Grösse hat in erschlafften Zeiten immer
etwas Berauschendes. Was der Masse fehlt, das sucht sie am
Einzelnen. So deutet denn der Zug zur Alleinherrschaft, welcher
, eigentlich von patriarchalischen, unentwickelten Zuständen ausgeht,
ebenso naturgemäss wieder auf übertriebene, aufgelöste Zeit-
verhältnisse und erweist sich in ihnen als politische und sittliche
Nothwendigkeit. Wer nun die Zeichen der Zeit versteht und
fühlt, sieht sich gern als Werkzeug höherer Schickung an. Aber
nicht Jeder ist ein Günstling des Glücks, so wenig als er selbst
(oft bei trefflichem Willen uud günstigen Anlagen) zur Führung
der Ereignisse immer taugt. Nicht ist es gerade das gute Herz
oder die ungestüme Dreistigkeit und brausende Hitze, Avelche
den rechten Imperator kennzeichnen. Weder ein Lepidus noch
ein Pompejus vermögen sich im Ringen um die oberste Leitung
^Y. Shakspeare"s Antony and Cleopatra. 277
zu behaupten. Aber auch reicher begabte Charaktere, "wie ein
Antonius es war, sind, -wenn sie der Entschiedenheit und sitt-
hchen Ordnung ermangchi, in solchen Zeiten nicht gUicklich.
Sie unterliegen der Versuchung der Zeit. In den Perioden des
sittlichen Verfalls siegt allein die Stärke des nüchternen, Ehr-
barkeit zeigenden Verstandes, behauptet sich nur die eiserne
Consequenz und gewinnt den Thron. Nur INIenschen solcher
Art, ob auch sonst unvollkommen, sind in höherer Hand brauch-
bare Werkzeuge zur Vermittlung ihrer Zwecke.
Neben der angedeuteten allgemeinen Grundrichtung bemerken
wir auch eine Vertretung specicller, persönlicher Interessen, welche
der dramatischen Verhandlung den Stempel einer Liebes-AfFaire
aufprägen. Die Benennung des Stückes — Antonius und Cleo-
patra — deutet auch seinen besonderen Inhalt an. Es entwickelt
sich vor unseren Augen ein Verhältniss zweier Personen, das
in seinen kleinen Zuständen mit dem politischen Hergang ge-
nau verflochten ist und ihn , kann man sagen , in namhafter
Hinsicht abspiegelt. Der Held dieser kleinen Welt ist zugleich
der Beherrscher der grossen, mid der Gegenstand seiner Liebe
greift als bedeutender politischer Factor in den Gang der Welt-
ereignisse ein. Wie nun z. B. Troilus und Cressida ein Spiegel-
bild im Kleinen von dem wenig sittlichen VorAvurfe des troja-
nischen Krieges darstellt; so giebt uns auch das Verhältniss
von Antonius und Cleopatra ein x\bbild der sittlichen Zustände
ihrer Zeit. Es reflectirt denselben Grad der Verfeinerung, Halt-
losigkeit und Corruption und fülu't für sich nicht minder den
Beweis, wie wenig ohne Anschluss an eine feste, sittliche Ord-
nung in der Macht wie im Genuss die individuelle Freiheit er-
langt und behauptet werden kann. So gehen denn, kann man
sagen , beide Richtungen dasselbe Ziel verfolgend in einander
auf und geben der Welt die zwar so einfache aber immer von
Neuem nöthige Lehre, dass die Menschheit nur in dem weisen
Mass gegenseitiger sittlicher Beschränkmig und in nie ermüdendem
Erstreben und Aneignung idealer d. h. göttlicher Forderungen
in ihrer Anwendung auf die Güter dieser Welt, ihre Bestimmung
mit Glück verfolgen und erreichen kann. Solcher AVeise führen
uns deren Inhalt und Zeit des gewählten Gegenstandes an den
Eintritt einer neuen Weltgestaltung, an die Schwelle des Christen-
278 Zur Erläuterung von
thiims und wir erkennen auch an diesem trefflich gezeichneten
Bilde wankender menschlicher Zustände, dass die Zeit, die einen
Octavian als Augustus verlangen und ertragen konnte, zur Er-
neuerung durch höhere Eimvirkung reif geworden war.
So ofienkundig diese Grundanschauungen auch entAvickelt
und verbunden werden, so ist doch auf den ersten Blick zu
sehen, dass unser Drama etwas loser in seinem Gefüge, un-
vermittelter in seiner Ausführung dasteht als andere Werke Shak-
speare's. Dies liegt einestheils, wie bemerkt, an der gewaltigen
Masse des geschichtlichen Stoffes, der hier zu verarbeiten war,
anderntheils aber auch an den Hauptcharakteren selbst, die sich
dem geschichtlichen Charakter analog, meist in Gegensätzen
bewegen. Die Launenhaftigkeit und Willkür derselben ergreift,
wenn man so sagen darf, den Dichter selbst und die Wechsel,
Wunderlichkeiten und Uebertreibungen ihres Gebahrens, wie nicht
minder ihrer Schicksale, ihres Glückes, bedingen und spiegeln
sich in der Verbindung des Ganzen. Daher neben der häufigen
Veränderung und dem gelockerten Zusammenhang derS cenen
das Hastige, gleichsam Springende, Oppositionelle in den Vor-
gänoen, Reden und Richtunsren. Wir haben eben nur ein in
grossen, starken Zügen unterworfenes Bild vor uns. Ausführ-
licher ist allein die tragische Entwicklung gehalten und sie
musste es wohl auch, da in ihr die im Leben bewiesene Un-
M'ürdigkeit und Haltlosigkeit der Hauptcharaktere ausgeglichen
und die sittliche Anforderung des Zuschauers ihre schliessliche
Genugthuung finden musste.
Im Ganzen wie auch in den kleinsten Nebenbeziehungen zeigt
sich, Avie bemerkt, eine grossartige Weltanschauung, welche auf
dem schlüpfrigen Thema nicht ausgleitet; die Ausdrucksweise
ist erhaben, sicher und präcis. Man fühlt sich bald von dem
Hauche eines Meisters umweht, der die stattlichen Hallen des A\-
terthums neubelebend durchdringt. Er selbst tritt gleichsam an
die Seite seiner Geschöpfe, die er aus jenen alten Tagen um sich
versammelt, wie Minerva zu ihrem Schützling, kämpft^ liebt und
duldet mit ihnen, ja er ist in jedem begeisterten Moment ganz mit
ihnen Eins. Je tiefer wir eindringen, desto mehr werden wir
uns ergriffen fühlen von dem Ideenreichthum dieses Stückes,
seinem Farbenschmuck, seiner historischen Treue, seiner reinen
W. Shakspcare's Antony and Cleopatra. 279
AVahihcit, seiner Darstellung des menschlichen Herzens, seiner
sprachlichen Grösse. — ,.üf all Shakspeare's historical plays,"
sagt der berühmte Colcridgc, „Antony and Cleopatra is by far
the most Avonderful. The Iiighest praise or rathcr form of praise of
this play which I can ofFer in my own mind, is the doubt -which
the pernsal always occasions in me, whcther the Antony and
Cleopatra is not, in all exhibitions of a giant power in its strength
and vigour of maturity a formidable rival of Macbeth, Lear,
Hamlet and Othello."
Bemerkenswerth ist die Einflechtung des Komischen, von
der das Drama Julius Cäsar nichts bietet. Jedenfalls absicht-
lich. In jenem Drama kämpfen in den Helden des wechselnden,
sinkenden Römerthums doch gewaltige, einander gegenüber-
stehende Principien, welche den Scherz durchaus nicht auf-
kommen lassen, hier dagegen nur mehr aufeinander eifersüchtige
Nebenbuhler, die in ihren unvermeidlichen Schwächen imd sitt-
lichen Blossen den Vorwurf zur Ironie und Persiflage selbst
darreichen. Dort ist der ganze Grundzug ein ernsterer (bei
offenbar geringerem Grade dichterischer Schwermutli), obgleich
nicht persönlich so ergreifend, dass ihm zur Erleichterung der
Stimmrmg des Zuschauers eine Erheiterung beigemischt werden
müsste, hier dagegen leichter und leichtsinniger, mithin mehr
Spielraum zu flüchtigem Scherz. Dieser Scherz gibt sich mit-
hin als charakterisirendes Moment, als Abspiegelung des Inhalts,
nicht al)er wie sonst bei Shakspeare, als leichte Folie zur Dar-
stellung düsterer Farben.
Gehen wir nun zur Eintheilung der Acte und Scenen über,
so können es auch hier, da die Folios keinen genügenden An-
halt verleihen, nur innere Gründe sein, welche über die Berich-
tigung und Feststellung des Vorhandenen entscheiden. Eine vor-
läufige dem logischen Zusammenhang entsprechende Zusammen-
stellung wird geeignet sein, die dramatische Eintheilung besser
zu überblicken.
Acl I.
Sc. 1. enthält eine Einleitung zur Schilderung beider Haupt-
personen und ihrer Umgebung. Sc. 2. Cleopatra's Gefolge.
EntSchliessung Antony's zur Trennung von der Cleopatra. —
280 Z u r E r I ii u t e r u n g V 0 n
Sc. 3. Abschiedsscene zwischen Beiden. — Sc. 4. Octavian's
u. Lepidus' Auftreten und Urtlieil über Ant. — Sc, 5. Fort-
setzung der Verbindung zwischen dem abwesenden Antony u.
der Cleop. — Sc. 6. Pompejus u. Gefolge treten auf und ent-
falten ihre Beurtheilungen der Triumvirn u. ihre Plane. —
Act II.
Sc. 1. Eine Aussöhnung itler Triumvirn erscheint durch
Verlobung Antony's mit der Octavia befestigt. — Sc. 2. Vor-
zeichen der Lostrennung Antony's von seinen eingegangenen (poHt.
u. ehel.) Verbindungen. — Sc. 3. Einleitung zur Verbindung
der Triumvirn mit Pompejus. — Sc. 4. Eindruck von Antony's
Vermählung auf Cleopatra. — Sc. 5. Aussöhnung der Trium-
virn mit Pompejus. — Sc. 6. Festgelage der Verbündeten. —
Sc. 7. Bewältigung der Parther durch Antony's Truppen.
Act III.
Sc. 1 . Abschied Antony's u. seiner Gemahlin von Rom. —
Sc. 2. Cleopatra's fortdauernde Liebe und Eifersucht. — Sc.
3. Beginn neuer Misshelligkeiten zwischen Anton, u. Octavian.
— Sc. 4. Lepidus' Absetzung u. Pompejus' Tod. — Sc. 5.
Völliger Bruch zwischen Octavian u. Anton. Rückkehr Octavia's
zum Bruder. Sc. 6. Vorgänge vor — und Entschliessung An-
tony's zu einer Schlacht mit Octavian. Sc. 7. Schlacht bei Ac-
tium. — Sc. 8. Trostlose Stimmung Antony's nach seiner Nie-
derlage.
Act IV.
Sc. 1. Octavian in Aegypten. UnterAverfungs vorschlage
der beiden Besiegten daselbst. — Sc. 2. Heimliche Unterhand-
lungen Cleopatra's von Anton, entdeckt u. geahndet. — Sc.
3. Octavian verwirft die Ausforderung zum Zweikampf u. be-
schliesst eine Schlacht. — Sc. 4. Schmerzlicher Abschied An-
tony's von seinen Dienern. — Sc. 5. Mysteriöse Vorbedeutungen
über Anton. — Sc. 6. Dessen Vorbereitung zur Schlacht. —
Sc. 7. Abfall des Enobarbus. — Sc. 8. Dessen Reue. ~ Sc.
9. Ein Siegsblick für Anton. — Sc. 10 Rückkehr des triumphir.
Siegers zur Cleopatra. — Sc. 11. Ende des Enobarbus. — Sc.
W. Sbakspeare's Antony and Cleopatra. 281
12. Letzte Niederlage Antony's. — Sc. 13. Cleopatra's Flucht.
— Sc. 14. Versuchter Selbstmord des Antony. — Sc. 15. An-
tony's Abschied von Clcop. u. sein Tod. /
Act V.
Sc. 1. Eindruck der Todesnachricht auf Octavian. — Sc.
2. Tragisches Ende der Cleopatra. Scliluss.
Oder mit kürzeren Worten: der erste Act enthält im All-
gemeinen die Einführung der Hauptpersonen (resp. Rivalen),
— im Besonderen (die persönlichen Beziehungen zwischen An-
tonius und Cleopatra betreffend) die Losreissung des Antonius
von der Cleopatra. —
Der zweite Act: Die Aussöhnung Antony's mit seinen Neben-
buhlern. — Seine Ileirath mit der Octavia.
Der dritte Act: Seinen Bruch mit dem Hauptgegner. —
Rückfall zur Cleopatra.
Der vierte Act: Seinen Untergang nach vergeblichen Unter-
handlungen, — Das Unglück ein Prüfstein der Liebenden.
Der fünfte Act: Den tragischen Abschluss, welcher sowohl
den Streit um die AVeit als auch die Differenzen der Liebenden
endigt und ihre mangelhaften Beziehungen läutert und verklärt. —
Die 1. Scene des II. Actes dürfte (wie oben geschehen ist)
mit allem Rechte dem L Acte zuzuweisen sein. Denn die Ein-
i'ührung des S. Pompejus als einer für den Gang der Ereig-
nisse sehr eintlussreichen Person gehört offenbar in die Ein-
leitung des Stücks, welche Act I. bildet. Ausserdem liegt der
AVendepunkt von Antony's weiterem Ergehenin seiner Annäherung
an die bisher feindseho Q-estimmten Colleg-en, welche daher
schicklich den Beginn von Act. II bildet. — Zugleich deuten
die gereimten Schlusszeilen der erwähnten Scene auf einen be-
sonderen Ruhepunkt, einen nachdrücklicheren Abschluss der-
selben und geben mithin der Aenderunji^ aus innern Gründen
einen zwar weniger wichtigen aber doch immer sehr bemerkens-
werthen äusseren Anhalt.
Auch die 1. Scene des III. Actes dürfte ebenso rechtmässig
auf Act II. zurückzuverlegen sein. Denn sie ist einestheils nur
eine wichtige Beziehungen im Leben Antony's behandelnde Epi-
sode, welche Vorgänge berichtet, die i'ür den Fall der Aus-
282 Zur Erläuterung von
söhnung von Antonius bereits vorgesehen worden waren (cf. II,
2 (1)), mithin in genauestem Connexus mit den von dem
Friedenswerke des erneuerten Triumvirats abhängigen Be-
gebnissen stehen und daher als Folge des Bisherigen,
nicht als Anfang und Ursache einer neuen Wendung der
Dinge aufzufassen sind. (Obgleich der hartnäckige von Plu-
tarch ausführlich geschilderte Widerstand der Parther für An-
tony's Lebensgeschichte, namentlich sein Verhalten in Aegypten
sehr einflussreich war, so hat ihn doch Shakspeare als ausser
dem Bereiche seiner Anlage gelegen nicht als massgebend be-
trachten können.) Anderntheils wird in dieser Scene (gegen
Ende) auf das bis dahin ungestörte Bleiben des Antonius zu
Rom angespielt (he purposeth to Athens). Da nun aber der
neue Act selbstverständlich in einem gewissen Gegensatz oder
anders gesaijt, auf einer decidirten Fortentwicklunosstufe dem
vorherigen gegenüber zu stehen, resp. die Abtrennung des An-
tonius von seinen Bundesgenossen zu behandeln hat, so tritt die
Einleitung dieses veränderten Verhältnisses passender Weise mit
der wirklich stattfindenden Abreise Antony's nach Athen ein. Act
III. würde also mit Scene 2 bisheriger Eintheilung zu beginnen
haben, worin Collier's alter Corrector gleicher Meinung ist.
Schwieriger erscheint die Bestimmung über den Anfang des
IV. Actes: Unseres Erachtens dürfte derselbe mit der 10 Scene
von Act III bisheriger Eintheilung beginnen, wofür folgende
Gründe anzuführen sind. Nach der Schlacht bei Actium tritt
in politischer Beziehung eine Art Kuhepunkt für unser Drama
ein, eine Zeit des Zusehens und Beobachtens. Antonius trachtet,
wenn auch eine Aussöhnung in früherem Sinne nicht mehr
möglich ist, nach einem friedlichen Abkommen mit seinem
Gegner, er sucht zu unterhandeln. Diese Unterhandlungen,
welche die Ausforderung zum Zweikampf als letzten Verzweif-
lungsversuch in sich schliessen, bilden ein Ganzes, gehören un-
getrennt zusammen und eröffnen eine neue Phase in dem Glücks-
wechsel des Haupthelden. Auch ist der Anfang eines neuen
Turnus auf dem Boden alter Schuld und alter Herrlichkeit das
Auftreten und Benehmen der Liebenden in trauriger Lage dort,
wo früher das Glück und Wohlleben sie schmeichelnd umgab,
ein weiteres Bestimmungsmoment für die bezeichnete Annahme,
W. Shakspeare's Antony and Cleopatra. 283
welcher nebenbei die gereimten Schlusszeilen von Scene 9 zur
Unterstützung dienen.
Den V. Act lässt Collier's Anonymus mit der 13. Scene
des IV. Actes beginnen. Die Bestinmiung hierüber möchte
mehr als offene Frage zu betrachten sein, da eincstheils der
völlige Hingang mit der versuchten Selbsttödtung erst ein tra-
gisches Ganze bildet und die o;ereimten Endzeilen dieser Scene
hierbei förderlichen Anhalt bieten; anderntheils aber auch der
von dem Dichter der Geschichte ganz analog festgestellte Ab-
schluss der persönlichen Beziehungen zwischen den Haupt-
charakteren vor ihrer völligen Trennung als ein den Ausgang
des Ganzen mitbedingendes JNIoment an den Schlussact ein An-
recht zu beanspruchen im Stande ist.
Die von J. P. Collier vor einigen Jahren aufgefundenen
Emendationen enthalten für unser Stück nur Einiges von Be-
deutung und bleibt es immerhin auffallend, dass manche gegen-
wärtig viel unklarere Stellen und Worte von dem Corrector,
scheinbar aus Versehen oder weil er nichts Besseres zu geben
wusste, übergangen wurden. Derselbe scheint überliaupt bei
seinen Aenderungen mehr gewisse subjective Lieblingsabsichten
verfolgt, als gerade die für das Verständniss schwierigen Stellen
einer Läuterung unterworfen zu haben. Doch ist, um nicht
ungerecht zu erscheinen, immer zu bedenken, dass ein Zeit-
genosse oder ein dem Leben und den Werken einer grossen
Zeit noch ganz Nahestehender viele Anspielungen und Bezie-
hungen derselben als sich von selbst verstehend übergeht und
üljerhau})! die Gegenwart nicht jener Erklärungen so bedarf, die
der Nachwelt erst zum besseren Verständniss verhelfen.
Bei der genaueren Betrachtung der Charaktere des Stücks
fällt vor allen anderen der PLauptheld desselben, Antonius, in
die Augen. P> erinnert mit vollem Rechte an seinen historischen
Namen. Shakspeare hat die Grundzüge, welche er in den Ge-
schichtswerken, insbesondre bei Plutarch vorfand, genau bei-
behalten, ihnen aber, wie dem Dichter frei steht und gebührt,
eine etwas veredelte Färbuno; o-egeben, sodass sein Portrait in
der allgemeinen Fühmmg die historische Natur wiedergibt imd
doch zugleich freie Genialität beurkundet. Wie der Antonius
der Geschichte so bietet auch der Shakspearesche glänzende
284 Zur Erläuterung von
Anlagen, tritt mit bedeutender Befähigung auf die Bühne des
Lebens, bleibt aber weit hinter den Erwartungen, die er erregt,
zurück. Die Ursache davon liegt in seiner besonderen Indivi-
dualität und Umgebung. Seine Natur zeigt eine eigenthümliche
Mischung, eine Zusammenstellung von einander widersprechenden
Elementen, welche unausgeglichen, seinem Leben eine unbe-
friedigende Wendung geben. Wir bemerken an ihm das leben-
digste Gefühl für Ehre und alles Grosse und Edle, verbunden
mit einem feinen, sicheren Ueberblick seiner Umgebung, mit
einem Worte Verstand und Herz, aber leider nicht ebensoviel
Willenskraft und Consequenz. Rechnen wir eine bedeutende
Beigabe sinnlicher Naturanlage hinzu, welche ihn der Versuchung
und dem Genuss in die Arme führt, so finden Avir in ihm die-
jenige Art von Menschen repräsentirt, welche sich eher der
Empfindung als der Entschliessung hingeben, eher hochfliegende
Wünsche nähren, als männliche Plane mit nüchternem Ernste
betreiben. Charaktere dieser Art haben nicht selten Grosses
geleistet und in der Weltgeschichte ihre Namen berühmt gemacht,
aber nur dann, wenn ein begeisterter Augenblick sie hinriss
oder eine äussere Nöthigung sie drängte. Denn sie hängen
mehr von ihrer Umgebung als von sich selbst ab. Fremde
Einflüsse bringen sie zu Thaten, die werth sind von Dichtern
besungen zu werden, oder aber sie ersticken und erschlaffen völlig
ihre Widerstandsfähigkeit und Thatkraft. Von solchen ist unser
Held Einer zu nennen. Wir dürfen ihn indess seinem Vorgänger
im Julius Cäsar nicht geradezu an die Seite stellen. Denn wie beide
Stücke äusserer Behandlung nach ein sehr verschiedenes Gepräge
aufweisen, so ist auch der eine Antonius (vom Historischen ganz
abgesehen) nicht dem anderen völlig identisch, der diesseitige
keinesAvegs die absolute Fortsetzuno; von jenem. Unser Antonius
ist nicht jener blutdürstige Unterzeichner der Proscriptionen,
nicht der verschlagene Schmeichler derer, die er hasst, nicht der
verstellungssüchtige Unterhändler mit der Gegenseite, nicht der
listige, gewandte Volksredner, der die Menge bearbeitet.
Er ist von alle dem geradezu das Gegentheil und muss daher
für sieh betrachtet werden. — Eine anziehende, besonderes
Interesse erweckende Erscheinuns: sollte aber ohne ZAveifel der
Antonius unseres Dramas nach dem AVillen seines Schöpfers
W. Shakspeare's Antony and Cleopatra. 285
sein. Diese Intention unseres Dichters müssen wir festhalten,
ohne uns im A'oraus einem Vorurtheil oder ^volJ sar einer An-
wandhmg von modern-liberaler Abneigung gegen dem Bekämpfer
der Volkspartei hinzugeben. Eine scheinbar unter sich unverträg-
liche, bei Trägern von welthistorischen Namen sonst wenig vorkom-
mende Mischung wird uns hier geboten, eine Zusammenfassung
von anerschaffener Grösse und unbesonnener Erniedrigung, von
imponirendcr Kraft und weicher Dahingebung, von edler Stand-
haftigkeit und Aufgebung alles Selbstvertrauens, von würdevoller
Selbstbeherrschung und gemeinem Abfall ins Gebiet der Sinn-
lichkeit, von wohlwollendem Entgegenkommen und bündiger
Verachtung gegen die Aussenwelt, von gesundem Urtheil und
krankhafter Bethörung. Er fühlt sich offenbar zuviel, dem ver-
meintlichen Ahnherrn Hercules nach Shakspeare's Anschauung
nicht unähnlich, in seinem Eeichthum unter den kleinen Seelen,
die ihn umgeben und blickt etwas gleichgültig auf die Behauptung
des Weltregiments hernieder, das ihm unter feiler Dienstbarkelt
des Morgenlandes so mühelos zu Theil geworden und ihm lange
nun fast werthlos scheint. Die reine, schwärmerische Liebe
hat anfänglich nichts an ihm. Eine solche hätte den schlafenden
Löwen auch bald erweckt und zu höherem Ziele schneller be-
rufen. Es sind zuerst nur mehr sinnliche, berauschende Flam-
men, denen sein üebermuth sich vöUig hingiebt. Diese schürt
er so lange, bis sie ihn wie mit einem Zaubergürtel umschliessen,
den er vergebens mit schwachem Muthe zu durchbrechen über-
nimmt, sein innerstes Heiligthum umzüngeln, alle Ausgänge ent-
zünden und versperren und im allgemeinen Ruin, dem er am
Ende nicht mehr ausweichen kann und mag, ihn verzehren.
Wie Hercules jener verderblichen Liebesgabe zum Opfer ver-
fällt, so vermag auch er dem Nessusgewebe der Aegypterin
sich nicht zu entreissen. Die Umstrickunfj; brino;t ihm den Unter-
gang, läutert aber auch seine Richtung, lässt ihn seine schlum-
mernden Kräfte zusammennehmen und so die schmachvoll preis-
gegebene Selbständigkeit im Tode sich erringen. Die Ge-
legenheit, die ihm geboten war, römische Grösse durch orien-
talischen Luxus zu zerrütten, stand seiner Vertiefung in sich
selbst im Wege und wand ihm den Scepter der Alleinherrschaft
völlig aus der Hand. Nur der Sturm völligen Missgeschicks
Arcliiv f. n. Sprachen. XXIII. 19
286 Zur Erliiuterung von
treibt ihn dem Hafen zu. Die Zaubergewalt, welche ihn den
Kampf gegen seine Nebenbuhler im Weltregimente nur schwä-
cher bestehen Hess, den Sieg über sich selbst gar unmöglich
machte, und ihn in ihr Schicksal verflechtend dahinrafft, verliert
zuletzt ihre niedere, dämonische Macht und wird ihm zur Kraft
eines höheren reinem Gebietens , verklärt sich in jene Gewalt,
welche den über Tod und Grab hinaus dauernden Bund der
Seelen schafft. Nach allen SchAvankungen und Anfechtungen
weiss unser Antonius sich völlig Eins mit seiner Cleopatra
und ruft mit wahrer, inniger Ueberzeugung und Sehnsucht, der
bereits als todt Betrauerten entgegen:
I come my queen !
Where souls do couch on flowers, we'U hand in band,
And with our sprightly port make the ghosts gaze etc.
So können wir denn diesem Charakter, welcher bei allem
Leichtsinn, bei Sinnlichkeit, Uebermuth und Mangel an Festig-
keit, doch auch wie als Freund so als Gebieter und Krieger
die glänzendsten Eigenschaften zeigt, soviel Grossmuth und Her-
ablassimg, Offenheit, edlen Stolz und persönlichen Muth ent-
faltet, unsre innige Theilnahme in aller seiner Verschuldung
nicht entziehen. Seine Tugenden, auch wo sie die eines Ver-
schwenders zu nennen sind, halten seinen grossen Fehlern gar
sehr die Wage. Der Zuschauer und Leser fühlt, wie die Woge
der Schuld ab- und zuschwankt, wie meisterhaft die Anlässe
zur Ehrenrettung und zur Verwerfung von dem Dichter vertheilt
worden sind, indess die dunkle Wetterwolke des den Schuldigen
treffenden, ihn läuternden Gerichts nicht aussen bleiben kann,
vielmehr am Horizonte sich immer lauter ankündiget und
heraufzieht.
Ihm zur Seite steht würdig Cleopatra. Sie ist ganz für
einen Antonius geschafifen. Ihr Charakter ist nicht minder eine
bewundcruswerthe Conception, eine Vereinigung von Eigen-
schaften, w^elche blenden, bezaubern und verwirren. Man ist
bei ihr ganz besonders in Verlegenheit, ein einheitliches Gemälde
zu entwerfen und eine logische Consequenz zu finden, da sie
gleichsam aus Thorheiten und Widersprüchen zusammengesetzt
ist. Eben so anmuthig als geistreich, verschlagen und doch
gemüthvoll, heftig, ja tobend und hinwiederum so sanft und
W. Shakspeare's Antouy and Cleopatra. 287
seelenvoll, leichtsinnig und doch oft in ernster, schwermüthiger
Hoheit, launenhaft und anderwärts unverrücklich deternimirt in
ihren P^ntschlicssungon, sehr versinnliclit und dann wieder doch
sittlicher Grazie theilhaft — tritt sie uns entgegen. Sie wechselt
überraschend schnell in ihren Stimmungen. Die schlaue Berech-
nung maclit naiven, unverkünstelfen Geständnissen Platz und
der beleidigende Spott räumt warmen, innig gemeinten Wünschen
seine Stelle ein. So erblicken Avir in ihr denn die leicht erregte
orientalische, königliche Frau, welche der Anziehungskraft ihrer
körperlichen und geistigen Vorzüge sich bewusst, aller morgcn-
ländischen buhlerisclien Künste Meisterin, sich selbst damit
schmeichelt, die Helden ihrer Zeit unter ihr Joch beugen zu
können. Alle ihre Schritte begleitet jenes bezaubernde Etwas,
das der Männer Herzen auch gegen ihren Willen so leicht Fes-
seln anlegt. Obgleich Herrschsucht, Sinnlichkeit, Neid, Stolz,
Schadenfreude, Treulosigkeit und Wankelmuth bei ihr zu Hause
sind, obgleich unser sittliches Bewusstsein schwer von ihr ver-
letzt wird, fühlen wir uns doch seltsamer Weise wie von dä-
monischer Zaubergewalt stets von Neuem zu ihr angezogen.
Sie scheint das Vorrecht zu haben, bis an den „Wendepunkt von
Allem was wir hassen- anzustreifen. Antonius ist ihr anfänglich
nur der königliche Sclave am Siegeswagen und mehr ein Werk-
zeug als Ziel ihres Strebens, welches zugleich Ehrgeiz und
Eitelkeit vor Augen hat. Sie preisst sich in schlauer Coquetterie
olücklich, eine solche Eroberung»: gemacht zu haben. Bald aber
fühlt sie sich von ihm mehr als sie anfänglich wohl will ge-
fesselt. ^\ie ein Blitz aus heiterer Luft stürzt der schreckliche
Moment seiner Losreissung auf sie hernieder. Die Trennung bringt
ihr ihren Verlust und die Tiefe ihrer Empfindungen zu klarem Be-
wusstsein. Welche Sehnsucht nach Antonius in ihrer Einsamkeit!
Welcher Fassung- und Glieder-lähmende Donnerschlag für sie die
entsetzliche Nachricht von seiner Verlobung! Wie ängstlich lauscht
sie den Berichten über Octavia, die Nebenbuhlerin. Wie hascht
sie überall nach der geringsten Aussicht auf Wiedervereinigung!
Als sie ihn wieder hat, schwankt freilich in der Versuchung des
Schicksals ihre Treue. Doch die Bande, welche sie umschlungen
halten, werden gerade durch das Uebermass des Unglücks auch
für sie inniger und fester und bewirken zuletzt einen Grad
19*
288 Zur Erläuterung von
von "Welt- und Menschen - verachtender Hingebung. Die Hin-
o-ebung wird zur Schwärmerei. Auch Cleopatra ist eine Andere
geworden. Ihre ganze Lust bleibt jetzt, wie vorher der Gedanke
an den Genuss der Welt, der Gedanke an den Tod, um, wenn
auch im Reiche der Schatten, den Avieder z.u besitzen, der ihr
Eins und Alles ist, ob hier oder dort. Aber diese höhere Kich-
tung ihres Wesens tritt, wie wir gewahr werden, nur nach hef-
tigen Stürmen ein. Selbst im Tode noch ringt die bewusste
Sinnlichkeit mit der heiligen Glut seelenvoller Zärtlichkeit und
sie muss, wae irgendwo gesagt wird, sogar im Sterben noch
Luxus entfalten. Dessenungeachtet bcAveisst ihr Ende eine
Seelengrösse, die ihr Leben nicht so gekannt hat und der Dichter
hat ein Recht sie mit den Worten von hinnen gehen zu lassen:
Husband, I come,
Now to tliat nanie my courage prove iny title,
I am fire and air; niy other dement
I give to baser life etc.
Die Schilderung der Cleopatra, wie Shakspeare sie uns
gibt, erinnert sehr an die Portraits zweier königlicher Neben-
buhlerinnen seiner Zeit, Elisabeth von England und Maria Stuart.
Eine Reminiscenz an erstere scheint namentlich mit denjenigen
Scenen verbunden zu sein, welche die Unterredung Cleopatra's
mit dem Boten, der Octavia's Verlobung ankündigt, darstellen.
Nicht minder liegt es der unbefangenen Prüfung nahe, dass auch
die bezaubernde Anmuth der schottischen Königin, ihr gewaltiger
Anreiz, den sie (selbst im Kerker unter dem Drucke schwerer
Leiden) auf die Männerwelt ausübte, ihr Wankelmuth, ihr Ver-
fall in die Sinnlichkeit neben so herrlichen geistigen Vorzügen,
ihre körperliche Schönheit und Gewandtheit im Umgange, die
mystische Färbung (welche dort das streng-katholische Religions-
bekenntniss, hier die aegyptische Zauberkunst darleihen), die An-
flüo;e edlen Trotzes im Leben der Uncrlücklichen und ihre schwär-
merische Hingebung an den Gegenstand ihrer Liebe neben
bewiesener Untreue u. dgl. mehr in der Ausführung des Ge-
mäldes der aegyptischen Königin dem Dichter vorgeschwebt
haben mögen.
Der den beiden vorausgegangenen zunächst stehende mit
ihnen verflochtene Charakter ist Enobarbus. Auch hier gefällt
W. Shakspeare's Aiitony and Cleopatra. 28D
sich der Dichter in Contrasten. Dieser Freund und Diener
Antony's ist ein Muster soldatischer Einfachheit, Offenherzigkeit
und Derbheit und doch gewandt Avie Wenige in geistreichen
Spielen des "Witzes. Er bildet einerseits den Typus der nüch-
ternen Reflexion in dem Kausche versinnlichter Gegenwart, kalt
im Urtheil, schneidend in seiner lakonischen Kürze und ist doch
anderntheils so beredt, in dichterischen Ausdrücken und Be-
schreibungen sich ergehend und voll tiefen, warmen Gefühls.
Es ist kaum Einer seinem Herrn mehr ergeben und in guten
Kathschlägen so bewandert und eifrig — und dennoch wird er
ihm untreu. Man sieht, der Diener wandelt im Schatten seines
Herrn, ist auch ein Kind seiner Zeit, fällt auch den Ver-
suchungen und Geschick seiner Umgebung. Nicht selten ge-
mahnt es den Leser, als brauche ihn der Dichter (in einer Be-
ziehung dem griechischen Chor entsprechend) zum Ausdrucke
einer aussen stehenden (öffentlichen) Meinung, gleichsam zu
einer Folie der dichterischen Auffassung in humoristischer Weise,
Clown -artig die Mitte haltend zwischen Scherz und Ernst,
Xaivetät und selbstl)ewusster Spöttelei. Wahrhaft rührend ist
schliesslich seine Keue und sein Tod. Er stirbt in der That
an gebrochenem Herzen. Gleich der Cleopatra kann er ohne
Antonius nicht mehr le))en und verstärkt so durch seine im Tode
sich gleichfalls bewährende Liebe zu diesem das Interesse,
welches wir an der Hauptperson nehmen.
Octavian (Cäsar) bot dem Dichter mannigfache Schwierig-
keiten, da Augustus als Günstling des Glücks in den Weltbe-
gebenheiten auftritt und als solcher seine Geschichtsschreiber
finden musste, welche der Nachwelt weit mehr von dem Glänze
und dem Verdienste des Mächtigen, als von seinen Schatten-
seiten zu berichten hatten. Gleichwohl durchschaute Shakspeare
vollkommen seinen Charakter und gab ihm nur was des Kaisers
ist, doch nicht gerade unser Herz, ob er ihm auch seinen Vor-
zügen und seinem Ixihen Berufe gemäss die gebührende würdige
Stellung einräumt. Octavian ist ganz das Bild des vorsichtigen,
nüchternen, ehrbegierigen Staatsmannes, der sein erhabenes Ziel
unverrücklicli im Au^e immer auf der Grenzlinie zAvischen auf-
richtigem Handeln und geheimer Intrigue Avandelt. Er ist, was
man den vor der Welt völlig rechtlichen Mann nennt. Er kann
290 Zur Erläuterung von W. S.'s Antony antl Cleopatra.
den Senat, seine Freunde, ja die ganze öffentliche Meinung zum
Zeugen aufrufen, ob er bis daliin übel gehandelt habe. In der
Zeit schwankender Entscheidung ist er noch gutmüthig der Ver-
mittlung zugethan, schämt sich aber freilich dann nicht im vollen
Siegsglück, nach der moralischen Vernichtung Antony's des Ri-
valen Tod von Cleopatra zu verlangen. Doch die Weltlage
fordert ja die völlige Wegräumung des Störers allgemeiner Eini-
ffunor und Friedens, und so ma«' er denn auch vor seinem Ge-
wissen selbstzufrieden eine untadelhafte Eechtlichkeit sich zu-
erkennen. Seine unfehlbare Besonnenheit, die selbst im Rausche
des Bundesmahls auf Pompcjus' Galere ihn nicht völlig verlässt,
seine kalte durch Nichts alterirte Berechnung und seine rühm-
liche sittliche Strenge stempeln ihn schon im Voraus zum Sieger
und verleihen den verführerischen Züo-en im Bilde der Gegen-
Seite einen anziehenden Contrast.
Der gutmüthige, schwache Lepidus ist selbst den Dienern
eine Zielscheibe des Spottes und muss, wäre es auch nicht ge-
rade so in der Geschichte begründet, von der Bühne abtreten,
als nur noch Spielraum für zwei mächtigere Gestalten übrig bleibt.
Octavia ist nur in wenigen Zügen uns vorgeführt. Wir
erkennen in ihr die sanfte, Versönlichkeit-athmende Frau von
ausgezeichnet sittlicher Haltung, deren Schönheit und Jugend,
wie Agripjia sagt, sie des besten Gemahls würdig mache. Der
stolzen Sonnenblume des Mittags oreo-enüber rührt sie dem stil-
len Veilchen gleich durch die Gewalt anspruchloser Reize, treuer
Standhaftigkeit und Liebe.
Iras, Charmian, wie auch Alexas und Mardian spiegeln
den niederen Grad intellectueller und sittlicher Bildung der
Dienerschaft eines üppigen Hofes ab, an welchem die bald
liebenswürdige, bald abschreckende Laune einer Frau gebietet.
Aberglauben und Sinnlichkeit treten in ihrer Schilderung in den
Vordergrund. Sie sind der Gebieterin, welche die Gabe be-
sitzt, auch sie zu fesseln, völlig ergeben und beide Dienerinnen
gehen in rührender Treue mit in den Tod. Sextus Pompejus,
eine offenherzige, verwegen-ehrliche Abenteurernatur , gleichsam
der Repräsentant des verfallenden derben Römerthums, zieht
vorübergehend unsre Blicke auf sich.
Agrippa und Mäcenas, Octavian's kluge, wohlrathende
Freunde, sind für das vorliegende Drama von geringerer Be-
deutung imd entfalten, so berühmt ihre Namen auch in der Ge-
schichte geworden sind, hier kein besonderes organisches Leben.
Von den anderen Nebencharakteren erwirbt sich Eros, den
Frauen der Cleopatra ähnlich, durch seine aufopfernde Hingabe
unsere Bewunderung und Liebe.
Carl B 1 u m h 0 f.
Zur
Kritik, Erklärung und Uebersetzung Sliakspere's.
Wenn icli mir erlaube , einige Beiträge zur Kritik und Erklärung
Shakspere's vorzulegen , so lässt sich sogleich von selbst folgern , dass
ich nicht zu denjenigen gehöre, welche in den Ruf einstimmen: Shak-
spere und kein Ende. Es ist allerdings wohl nicht zu verkennen, dass
auch dieser Ruf seine Berechtigung hat. Er ist von denen ausge-
gangen , welche des leeren ästhetischen Geschwätzes müde waren , das
sich über Shakspere so oft breit gemacht hat, oder welche die Ueber-
zeugung hatten, dass die rein Shakspere'sche Form des Dramas in
neuen Schöpfungen auf unsre Bühne zurückzuführen eine Unmöglichkeit
sei. Sonst ist sicherlich von keiner Seite in Abrede gestellt worden,
dass trotz aller Bemühungen und Anstrengungen so vieler wackerer
Gelehrten für Shakspere's Werke noch überall Etwas zu thun übrig
bleibt; es ist bekannt, wie viel noch in der neuesten Zeit für die Auf-
hellung der Quellen mancher Shakspere'scher Stücke, für die Erfor-
schung des Lebens des Dichters, für die Chronologie seiner Arbeiten,
ja für Kritik und Erklärung einzelner Stellen, auch nach Steevens und
Malone, geleistet worden ist. Dass unsre in vielen Beziehungen mit
so grossem Recht berühmt gewordenen Shakspere-Uebersetzungen, wie
namentlich die von Schlegel und Tieck, doch noch nicht für völlig ge-
nügend angesehen werden dürfen, hat erst neulich in seinem Buche
über Shakspere Dingelstcdt behauptet, und es hat gewiss Jeder zu-
gleich mit Theilnahme und Freude vernommen , dass nach so vielen
Uebersetzungsversuchen der Dramen des grossen Briten eine neue Un-
ternehmung dieser Art angekündigt wird. Wenn auch die Ausgaben
endlich und die Abdrücke des Originals, welche in England und bei
uns erscheinen, so zahlreich sind, dass sie alle kennen zu lernen und
292 Zur Kritik, ErklUrung und
einzusehen fast eine Unmöglichkeit wird selbst für diejenigen, welche
aus Shakspere's Werken ein ganz besonderes Studium machen; so ent-
geht gleichwohl dem Kenner nicht, dass die Schwierigkeilen des Textes
und der Erklärung immer noch nicht alle beseitigt sind, vielleicht
schwerlich alle jemals werden beseitigt werden können. Shakspere
gleicht in diesem Punkte den classischen Schriftstellern des Alterthums,
welche seit Jahrhunderten den Philologen zu thun aufgegeben haben
und noch Jahrhunderte hindurch zu thun aufgeben werden. Um so
mehr ist zu bedauern , dass , mit welcher Einsicht und echt philologi-
scher Kritik die engliscljen Herausgeber zum Theil auch gearbeitet
haben, dennoch eine eigentlich philologische Ausgabe Shakspere's noch
nicht vorhanden ist; ich meine eine Ausgabe, welche an allen Stellen,
wo verschiedene Lesarten vorkommen , die Quelle der aufgenommenen
Schreibweise angibt, welche ferner die unsichern oder unverständlichen
Stellen bezeichnet und die Conjecturen aufführt, durch welche der Text
zur Verständlichkeit hergestellt worden ist ; welche endlich die Erklä-
rungen bei Seite lassend, die nur den Anfänger in die Bekanntschaft
mit Shakspere einführen sollen, dagegen die Erläuterungen beibringt,
die selbst dem Belesenen und dem Kenner zum einsichtsvollen Ver-
ständniss nöthig sind. leh gestehe, dass beim Niederschreiben der fol-
genden Zeilen das Bedürfniss einer solchen Ausgabe sehr lebhaft bei
mir gewesen ist.
Neben einigen Erklärungen und Uebersetzungsversuchen einzelner
Verse gebe ich auch mehrere Conjecturen , durch welche ich den mir
verdorben scheinenden Text herzustellen suche. Wenn sie nicht alle
für gelungen angesehen werden sollten, so werden sie theihveise doch
vielleicht dazu dienen, eine bessere imd gründlichere Erklärung der von
mir mit Unrecht angefochtenen und verdächtigten Lesart hervorziu'ufen,
als bisher von den Herausgebern und Commentatoren gegeben worden /
ist. Wiewohl diese Conjecturen zum Theil seit mehr als zehn Jahren
aufgemerkt worden .^ind, habe ich dennoch jetzt, bei Begründung der-
selben, die Delius'sche Ausgabe, welche mir grade zur Hand war, zu
Grunde gelegt, auf Johnson, Steevens, Malone etc, mich nur da zurück-"
beziehend, wo Delius entweder nichts angemerkt hat, oder wo seine
Ausgabe noch nicht erschienen ist. Hat daher Delius bei Abfassung
seiner Anmerkungen eine bessere Erklärung der englischen Commenta-
toren, als die, auf welche ich mich beziehe, vernachlässigt, so trifft ihn
die Schuld, nicht mich, dem die neueren englischen Ausgaben in der
Uebersctzunp: Sli akspere's. 293
letzten Zeit nur auf dem beschwerlichon "Wege der Benutzung im Lese-
zimmer der königlichen Bibliolliek zu Gebot gestanden haben.
Manche der hier folgenden Bemerkungen sind in der Berliner Ge-
sellschaft für die Beförderung des Studiums der modernen Sprachen
vorgetragen worden und auf die mir gemachten Einwendungen habe
ich Rücksicht genommen. Namentlich bin ich Herrn Princc-Smith für
einige Winke verpflichtet.
1) Timon of Athens IV, 3 gegen Ende sagt Flavius, der Haus-
hofmeister :
Tliat which I show, heavou knows, is merely love,
Duty aiul zeal to your unmatched niiiid,
Care of your food and living: and bclieve it,
My most honour'd lord,
For any benefit, tliat points to me,
Either in hope, or present, Fd exchange
For tliis one wish, that you had power and wealth
To requite me, by making rieh yourself.
Delius bemerkt hierzu (zu den Worten: For any benefit u. s. av.): „Die
Construction ist nicht so fortgeführt, wie sie begonnen Avurde, da dem
Sinn nach entweder zu construiren wäre: For any benefit etc. = was
irgend ein Gut betrifft u. s. w. l'd exchange it , = so würde ich es
austauschen; oder auch: l'd exchange any benefit etc." Schon die
geschraubte Erklärung zeigt, dass die Stelle verdächtig ist: um sie ver-
ständlich zu machen, bedarf Delius der Einschiebung eines durchaus
erforderlichen Objects it, das im Texte fehlt. Dazu kommt, dass for
in der Bedeutung was anbetrifft, Avie das französische quant ä — oder
pour, schwerlich anders als zu Anfang eines unabhängigen Satzes,
nicht in der Mitte eines Satzes oder zu Anfang eines abhängigen Satzes
stehen darf, wie hier, am allerwenigsten, wenn in demselben Satze for
noch einmal und in ganz andrer Bedeutung vorkommt , und noch we-
niger als am allerwenigsten, wenn die Präposition for das natürliche
Regime des Zeitworts to exchange ist (to exchange something fo r some-
thing). Was aber am meisten die Verdorbenheit des W^orts for be-
weist, ist Folgendes. Das, Avas Flavius besitzt, ist the Avish, that you
liad power and A\'ealth to requite me , by making rieh yourself; er be-
sitzt dagegen nicht, Avas er nennt: any benefit, that points to me,
either in hope, or present. Nun aber, Avcnn er sagt: l'd exchange any
benefit — for the A\'ish — : so spricht er offenbar so, als wenn er any
294 Zur Kritik, Erklärung und
benefit — bescässe, und dagegen the wish — eintauschen möchte; was
jedoch, wie ich ausdrücklich, um nicht niissverstanden zu werden, be-
merke , nicht von der Stellung der Präposition for vor dem Substantiv
the wish herrührt, sondern in der Voranstellung dos Worts any be-
nefit vor dem andern the wish seinen Grund hat. Es ist daher wohl
kein Zweifel, dass gelesen werden müsse:
Not any benefit, that points to me etc.
Das Object geht, wegen seiner Bedeutsamkeit, dem ganzen übrigen Satz
voran, und das vorangehende not macht gleich deutlich, dass any be-
nefit dasjenige ist, was Flavius nicht besitzt. Auch philologisch lässt
sich die Entstehung der falschen Lesart leicht erklären. Der Abschreiber
(oder Drucker) irrte sich in den Zeilen und schrieb (oder druckte), als
er bei dem Verse Not any benefit war, das nach zwei Zeilen folgende
for hin, welches er , als er sich endlich zurecht fand und richtig any
benefit setzte, stehen liess. Aehnliches ist bei den alten Dichtern sehr
oft vorgekommen; wenn wir Collier glauben, auch bei Shakspere.
S. In troduction XXIII, S. 16 etc. Die Emendation gewinnt an Wahr-
scheinlichkeit noch dadurch, dass die Redensart, I would change oder
exchange (im Wunsche) ohne Negation schwerlich vorkommt ; vergl.
z. B. As you like it III, 2. 'Tis a fault I will not change for your
best virtue etc. Hier in der Stelle aus Timon hat Jeder den Sinn
richtig herausgefühlt und ist deshalb, Avie das öfter vorgekommen
ist, über die falsche Ausdrucksweise, ohne Anstoss zu nehmen, fort-
gegangen.
2) Macbeth I, 7.
But in these cases
We still have judgment here; that we but teach
Bloody instructions, which being taught, return
To plague the inventor. Tliis even-handed justice
Commends the ingredients of cur poison'd chalice
To our own Ups.
Zu this even-handed justice merkt Delius an: „Das demonstrative this
weist auf das vorhergehende judgment hin, insofern der justice nur der
Verwalter des judgment ist." — Dann wäre also this even-handed
justice diejenige Gerechtigkeit, welche jenes judgment, und zwar hier
in dieser Welt, austheilt, denn es heisst we still have judgment here,
also die sich auf Erden geltend machende Gerechtigkeit, Avelche unab-
hängig von den ewigen Folgen, die Dinge dieser Welt verwaltet;
U e b e r s e t z u n g S li a Iv s p c r e " s. 295
iiiul indem diese Gerechtigkeit even - luuided genannt wird, scheint sie
von der ewigen Gerechtigkeit, — besunders da Macbetli auf diese niclit
rücksichtigen zu Avollen Aoi-her gesagt hat. — unterschieden zu werden,
der das Epitheton even - lianded nicht zukomme: eine Vorstellung,
welche Shakspere aucli nicht einmal in Älacbetirs IMund gelegt haben
kann. Das Epitheton cven-handed zeigt vielmehr, dass ganz allgemein
von der Gerechtigkeit — ich brauche wohl nicht erst zu sagen, dass
ich von der menschlichen Rechtsptlege nicht sprechen will — , sondern
von der Weltordnung überhaupt, die auf Erden sowohl wie im zu-
künftigen Leben einem Jeden das Seinige gibt , die Rede ist. Dann
aber passt das beschränkende this nicht, mit welchem auf die Strafe in
dieser Welt allein zurückgewiesen wii'd. Besser als es von Delius ge-
schehen ist, würde man, um this zu vertheidigen , sagen, Macbeth
meine unter justice die allgemeine Idee der Weltgerechtigkeit und füge
this hinzu, w^eil ihm diese Idee eben im Augenblick lebhaft, fast ver-
körpert, vor der Seele schwebt: was allerdings dem visionären Cha-
rakter Macbeth's, der später sogar den „Gedankendolch," welcher ihm
den Weg zum Morde zeigt, vor seinen leiblichen Augen erblickt und
nach ihm greift und ihn anredet, durchaus angemessen wäre. Ver-
gleicht man aber die beiden oben angeführten Salze der Rede Macbeth's,
so sieht man leicht, dass der zweite eine weitere Ausführung des ersten,
eine im Wege der Verallsemeineruno^ aus dem ei'sten gezogene Folge-
riing ist. Das aber grade drückt das Adverbium thus aus, wenn es
am Anfange des Satzes steht: „so also." Nachdem der Goldsmith'sche
Vicar beschrieben hat, wie er und seine Familie in Einzelheiten verfuhr
und handelte, schliesst er: Thus Ave lived several years in a State of
much happiness; und gibt mit diesen Worten die Verallgemeinerung
ihrer Lebensweise und die aus den vorher angeführten Einzelheiten zu
ziehende Folgerung an. Auch bei Shakspere ist ohne allen Zweifel
zu lesen :
Thus eveu-handed justice
Commends the ingredients of our poison'd chalicc
To our own lips.
So ist thus häutig bei Shakspere; Merchant of Venice III, 2:
Thus Ornament is but the guiled shore
To a niost dangerous sea.
lieber die Verwechslung von this und thus, die auch sonst vorkommt,
sehe man Collier S. 10, der es a common error nennt. Die Verbesse-
29G Zur Kritik, Erklärung und
rung, auf welche ich von selbst gekommen bin, ist übrigens nicht neu;
Monc Mason hat sie zuerst gemacht; sie findet sich in dem corrigirten
Folio - Exemplar Collier's ; und lierrig hat sie ebenfalls schon aufge-
nommen.
3) King Henry V. act III, 5.
Bar Harry England.
Gegen die Erklcärungen A-on Delius kann man nicht genug auf der Hut
sein. In der neunten Anmerkung zu dieser Scene sagt er : „England
ist auch, hier = König Heinrich, der nachher Harry England
genannt wird'' (nämlich in den oben angeführten Worten). — Dass
der König eines Landes durch den Namen dieses Landes bezeichnet
wird, ist etwas Gewöhnliches; so King John I, L
K. John. New say, Chatillon, what would France vrlth us?
Chatillon. Thus, after greeting, speaks the king of France;
wo the king of France gleichsam die Erklärung des vorangegangenen
France abgibt. Und so im Hamlet abwechselnd Denmark und the
Dane für the king of Denmark, Norway für the king of Norway etc.
Aber dass Hany England statt Harry of England sollte gesagt wer-
den können , bestreite ich durchaus ; und Delius , der so oft hat
Philip of France, Fortinbras of Norway und nie anders im Shakspere
hat müssen drucken lassen , hätte nicht so leichthin einen so sonder-
baren Sprachgebrauch aufbringen sollen. Man bemerkt dabei, wohin
Jemand kommen kann, wenn er eine Stelle oberflächlich ansieht. Delius
construirt die Worte falsch. Der König von Frankreich sagt:
For your great seats, now quit you of great shames ;
Bar Harry England, that sweeps through cur land
With pennons painted in the blood of Harfleur.
Wie dies zu verstehen, lehrt das Folgende:
Go down upon Lim, — you have power enough —
And in a captive chariot into Roan
Bring him our prisoner.
Nicht den Weg durch Frankreich sollen sie dem Könige von England,
der jetzt durch Frankreich zieht, versperren: sondern sie sollen ihn,
obgleich er jetzt noch durch Frankreich zieht, — er ist ohnehin schon
auf dem Rückzuge nach Calais, — von England abschneiden und ihn
gefangen nehmen. Die obigen Worte sind also so zu verstehen: Sur-
round Harry and bar him England; umringt ihn, und schneidet ihm
England, den Rückweg nach England ab, oder : versperrt ihm England ;
Uebersetzung Shakspere's. 297
so dass Harry in den obigen "Worten der Dativ und England der Ac-
cusativ ist. Was aber Delius in Irrthum gebracht hat, nämlich der
Umstand, dass das Kelativum that sich nicht auf das letzte Wort Eng-
land , sondern auf ein vorhergeliendes, Harry, bezieht, das wird, glaube
ich, kaum irgend wem als tSehwierigkeit erscheinen. AVer sich aber
daran stossen sollte, der vergleiche JMidsummer-niglit's dream IH, 2.
In Hcrmia's love I yield you up niy part
And yours of Helena to nie beciucath,
Wboni I do love, and will do to my doath;
wo auch whom sich nicht auf mc, sondern auf Helena bezieht. Und
so öfter.
4) King John IV, 1.
Well, sec to live! I will not touch thine eyes
For all the treasure, that thIne uncle owes.
Delius bemerkt hierzu: „Sieh, damit du lebest, insofern das Leben erst
durch das Gesicht ein wirkliches Leben ist." — Steevens: ,,Continue
to enjoy the means of lifo" und Malone: „live and live with the means
of seeing." — — Im Englischen braucht man bekanntlich to look in
der Bedeutung „bedacht sein auf etwas." King Richard IL I, 3.
Alas I looked —
to make mine own away.
Dasselbe im Allgemeinen bedeutet hier to see ; hauptsächlich ist dann
See to live = look to live; sei darauf bedacht oder sieh zu, dein Leben
zu erhalten; von mir wenigstens hast du nichts mehr zu besorgen
(wohl aber von Andern, die König Johann, — auf mich allein sich
nicht verlassend, — um dich zu ermorden abschicken könnte). Aber
indem Shakspere statt to look hier sehr bezeichnend und ausdrucksvoll
to see gebraucht, legt er noch die Nebenbeziehung hinein: „und zwar
mit deinem Augenlichte" : look to live and live seeing oder look to live
and see. Die Erklärungen IMalone's und Steevens' sind daher deni
Sinne nach richtig und nur in ihrer Fassung nicht deutlich genug, um
den Wortlaut mit zu erläutern , den ich durch meine Auseinander-
setzung schärfer und genauer glaube angegeben zu haben. Ich würde
es nicht gethan und auch nicht für nöthig gehalten haben, wenn Delius'
Bemerkung mich iiicht dazu aufgefordert hätte. Uebrigens kommt to
see bekanntlich in der blossen Bedeutung von to look vor ; z. B. Mid-
pummer-night's dream III, 2.
Hy some illusion see thou bring her here.
298 Zur Kritik, Erklärung und
King John III, 3.
And, ere our Coming, see thou shake the bags
Of hoarding abbots.
5) King John III, 2.
Enter the bastard with Austria's head.
Bast. New, by my Hfe, tbis day grows wondrous bot;
Some airy devll hovers in the sky,
And pours down mischief. Austria's head he there,
While Philip breathes.
Delius bemerkt hierzu: „to breathe Luft schöpfen, sich ausruhen von
einer Anstrengung, hier von der Arbeit des Kampfes" (eine Bedeutung,
die to breathe ganz gewöhnlich hat; und so bei Shakspere, King
Henry IV., I. p. V, 4.
We breathe too long;
Henry IV., III. p. II, 3.
* *I lay me down a little while to breathe etc.)
„Mit Philip bezeichnet der Bastard sich selbst , wie ihn König Johann
ebenfalls gleich nachher anredet, ohne zu beachten, dass der Bastard,
seit er zum Ritter geschlagen war, Richard hiess. — Im alten König
Johann wird der Bastard durchgehends Philip genannt." ■ — Ich halte
diese Erklärung für ganz unstatthaft. Dass König Johann den Bastard
Philip nennt, bei seinem Taufnamen, , nicht bei seinem Ritternamen, ist
erklärlich; er thut es hier, um recht familiär und vertraulich zu spre-
chen ; und eine Ungewissheit des Publicums konnte nicht stattfinden,
da man sah, gegen wen der König sich wandte. Dass aber der Bastard
sich selbst so nennen sollte, ist wenig wahrscheinlich. Er antwortet
im ersten Act dem James Gurnet, der ihn so genannt hat: „Philip?
sparrow! — James;" würde also, wenn er sich bei einem Namen nennt,
wohl Richard sagen. Aber es ist überhaupt nicht Shakspere's Sprach-
gebrauch, andre Personen als Könige sich bei ihrem Namen nennen zu
lassen; so sagt wohl Richard III. zu sich selbst Richard, und Hamlet
nennt sich mit diesem seinem Namen: es ist das eine nur dem Pomp
der Könige und der Prinzen angemessene Ausdrucksweise. Auch sagt
der Bastard sonst immer I ; z. B. II. act am Ende :
AVell, whiles I am a beggar, I will rail.
Ueberzeugender freilich als diese Bemerkungen sind andre Rück-
sichten , — Gründe der dramaturgischen Motivirung und des gesunden
Menschenverstandes. Heissen nämlich die Worte:
Uebersetzung Shakspcre's. 299
Austriii's hcad, lle tliere,
■\Vhile Philip breathes,
Oesterreichs Kopf, liege da, während Philipp sich ausruht: so ist die
einzig erdenkliche Älotivirung des Auftretens des Bastards der Wunsch,
sich ein wenig auszuruhen , und es ist gar nicht einzusehen , warum
er das vor dem Publicum thun will ; und dass er grade jetzt und hier
Oesterreichs Kopf niederwirft, — so muss man glauben, — geschieht
ebenfalls zu dem Zweck, sich besser verpusten zu können; wobei man
etwa annehmen muss, dass der Kopf des Herzogs (als blockhead wahr-
scheinlich sehr schwer) ihn daran hindert, mit Bequemlichkeit Athcm
zu schöpfen; und man muss ferner annehmen, dass er, wenn er sich
ausgeruht hat, den Kopf wieder aufhebt und mit ihm in die Sclilacht
zurückkehrt; denn liege hier, während ich Athem schöpfe, sagt doch
wohl: habe ich Athem geschöpft, hebe ich dich wieder auf. Dazu
kommt noch , dass der Bastard gar keine Lust zeigt , sich auszuruhen ;
denn eigentlich sagt er noch in demselben Athemzuge zu King John:
But on , my liege ! for very llttle pains
AN'ill bring this labour to an happy end.
So wird denn wohl nichts übrig bleiben , als , wie es schon Schlegel
gethan hat, Philip von dem französischen König zu verstehen ; alsdann
ist to breathe athmen, leben; und der Bastard sagt: Oesterreichs Kopf
liege da, so lange der König Philipp noch lebt. Der Bastard hat es
nämlich darauf abgesehen, — und das erfährt man eben hier, — auch
den König Philipp zu tödten ; und bis er ihn wird gelödtet und seinen
Kopf vom Rumpf getrennt haben, soll der Kopf des Herzogs von
Oesterreich hier an einem sichern und dem Feinde nicht zugänglichen
Ort am Boden liegen, um später mit dem Kopf des Königs von Frank-
reich zusammen oder auch allein als Siegeszeichen aufgehoben zu wer-
den. Dadurch ist das Auftreten des Bastards zugleich auf das ge-
nügendste motivirt: er kommt, um sich seiner Trophäe zu entledigen
und sie zugleich an einem Ort , wo er sie nach der Schlacht wieder-
finden könne, zu verwahren, Uebrigens verlangt diese Erklärung auch
der einmal feststehende Sinn der Redensart while I breathe, wliiles I
breathe, so lange icli lebe. Ich will für diese Bedeutung der Partikel,
für welche Hunderte von Beispielen ohne Mühe aufgesucht werden
können, ausser dem schon oben angeführten Verse, nur noch eine Stelle
hersetzeu :
300 Zur Kritik, Erklärung und
John hath seized Artliur, and it cannot be,
That, whiles warm life plays in that infant's veins,
The misplaced John should entertain an hour,
One minute, nay, one quiet breath of rest.
Wie schon bemerkt, hat Schlegel die Stelle richtig aufgefasst; er über-
setzt wortgetreu: „derweil noch Philipp athmet;" deutlicher: so lang
Philipp noch lebt.
6) King John II, 2.
Cit. A gi-eater power than we denies all this ;
And, tili it be undoubted, we do lock
Our former scruple in our strong-barred gates,
Kings, of our fear; until our fears, resolv'd,
Be by some certain king purg'd and depos'd.
Dies die Art, wie Delius die Lesart der Fol. interpungirt. Er bemerkt
dazu: „So die Fol., nur dass sie hinter gates ein Kolon, hinter kings
kein Komma setzt. Kings ist Vocativ, die häufig wiederkehrende An-
rede an beide Könige, welche eingeschoben ist, in das zusammengehö-
rende our strong-barred gates of our fear, d. h. our gates strong-barred
of our fear — unsre von oder vermöge unsrer Furcht starkverram-
nielten Thore. — Die meisten Hgg. lesen mit Tyrwhitt King'd of our
fears. — Vielleicht ist auch in der Fol. fear aus Verwechslung mit
dem dai'auf folgenden fears an die Stelle eines andern Worts getreten
und Shakspere schrieb vielleicht kings of ourselves." — Was Delius
in der Erklärung seiner Lesart meint, müsste doch wohl, auch bei Shak-
spere, heissen :
we do lock
Our former scruple in our gates strong-barred,
Kings, by our fears.
Tyrwhltt's Conjectur leidet an demselben Fehler; ich bin überzeugt,
Shakspere hätte, wenn er das sagen wollte, was Tyrvdiitt ihn will
sagen lassen, geschrieben: King'd by our fears; ausserdem lässt sich
wohl schwerlich eine Stelle finden, wo to king die Bedeutung to govern
hätte; bei Shakspere sicher kommt es nur in der Bedeutung zum König
machen vor; und das Beispiel, das Tyrwhitt dafür anführt, King
Henry V., II, 4.
she (England) is so idly king'd,
ist ganz anders aufzufassen; king'd ist hier provided with a king, und
idly king'd = provided with an idle king; in derselben Weise sagt
Uebersetzung Sliakspere's. 301
Falstaff King Henry IV,, II. p. I, 2 : „An I could get me but a wife
in the stews, I were nianned, horsed and wived.'" Man vergleiche zu
Shakspere's Gebrauch des Wortes noch Richard 11., V, 5.
Then am I king'd again; and, by and by,
Think, that I am unking'd by Boh'ngbroko. —
Die Lesart der Fol. ist vollkommen richtig. Der Bürger sagt : „Bis
einer von euch, — Johann oder Philipp, — sich durch Recht oder
Macht als unser wahrer König zeigt , sind wir unsre eignen Könige ;
da wir aber selbst in Zweifel (scruple) und Furcht (fear) sind, so sind
wir nur kings of our fear, weil wir jetzt nichts haben als diese unsre
Furcht; und wir hören auf, unsre eignen Könige (d. h. Könige unsrer
Furcht, die unser einziges Königthum ist) zu sein, wenn durch den
rechten und wirklichen König unsre Furcht, die uns zu Königen machte,
aufgelöst, vertrieben und abgesetzt (oder abgelegt) ist." In ähnlichem
Sinne heisst es in K. Richard 11., IV.
Bolingbr. I thought you had been willing to resign?
K. Rieh. My crown, I am ; but still my griefs are mine.
You may my glories and my State depose,
But not my griefs: still I am king of those.
d. h. king of my griefs; my gi-iefs are mine; and I have nothing left
but griefs ; therefore I am only king of these my griefs. Man bemerke,
dass wie im K. John depose nicht zu kings , sondern zu fears gehört,
so auch hier als Object von depose nicht king, sondern glory und State,
d. h. das , was Jemanden zum König macht , hinzugefügt ist. Man
wird sich übrigens leicht überzeugen, dass zwischen diesen beiden Stellen
noch eine andre grosse Aehnlichkeit herrscht. Nachdem ihm — so
sagt Richard 11. — glory and State genommen sind, ist er nicht mehr
König von England; er ist aber immer noch König, aber nur king of
his griefs; würden ihm auch diese genommen, so folgt, würde er über-
haupt nicht mehr König sein. In gleicher Weise sind die Bürger kings
of their fear ; werden ilinen diese fears genommen , so sind sie nicht
mehr ihre eignen Könige, sondern wiederum dem rechtmässigen König
unterthan. Alan mag den Ausdruck an unsrer Stelle gesucht, sehr
herausgesucht finden, ich glaube aber, dass Shakspere ihn gebraucht
hat, und bin überzeugt, dass die Vergleichung der andern Stelle aus
K. Richard II. die eigenthümlicho Anschauungsweise und den etwas
sonderbaren Gedanken des Dichters deutlich an's Licht stellt. — Nichts
kann matter sein , als Delius' Conjectur king of ourselves. Sollte er
Archiv f. n. Sprachen. XXIII. "jO
302
Zur Kritik, Erklärung und
wirklich nicht gemerkt haben , dass in der Lesart der Fol. kings of
our fear viel prägnanter enthalten ist kings of ourselves who are in
fear, Avho have nothing but fear, whose whole kingdom is our fear?
Oder sollte er auch nicht eingesehen haben, dass das folgende tili our
fears be deposed ein vorhergehendes fear voraussetzt? Oder endlich
nicht für nöthig halten , dass auf kings of ourselves folgen müsste : tili
we be deposed?
7) Two gentlemen of Verona I, 2 sagt Julia zu ihrem Kammer-
mädchen Lucetta, w^elche den Auftrag hat, ihr einen Brief von Proteus
zu überreichen:
Julia.
Lucetta.
Julia.
Lucetta.
Julia.
Lucetta.
Julia.
Lucetta.
Julia
Lucetta.
Julia.
Lucetta.
Julia.
Lucetta.
Julia.
Lucetta.
Julia.
Some love of yours hath writ to you in rhyme.
That I might sing it, madam, to a tune:
Give nie a note: your ladyship can set-.
As little by such toys as possible.
Best sing it to the tune of Light o'love.
It is too heavy for so light a tune.
Heavy? belike it has some bürden then.
Ay; and melodious were it, would you sing it.
And why not you?
I cannot reach so high,
(nimmt den Brief, den sie längst zu haben wünscht,
stellt sich aber vor dem Mädchen so, als wäre sie weit
entfernt, solche Briefe annehmen zu wollen).
Let's see your song! (da sie siebt, dass er von Proteus
an sie selbst gerichtet ist) How now, minion?
Keep tune there still, so you will sing it out:
And yet methinks, I do not like this tune.
You do not?
No, madam , it is too sharp.
You, minion, are too saucy.
Nay, now you are to flat,
And mar the concord with too harsb a descant:
There wanteth but a mean to fill your song.
The mean is drown'd with your unruly base.
Indeed, I bid the base for Proteus.
This babble shall not henceforth trouble me.
Here is a coil with protestation.
[Tears the lettre.]
Das zweite base — natürlich nur dieses , nicht auch das erste — er-
klärt Steevens „a challenge." Ausführlicher wird von andern Com-
raentatoren base erklärt: Prison base, or prison bass a rustic garae,
U eher Setzung Shakspere's. 303
which consisted chiefly in running, so called perhaps from the place
"vv'hence begins fhe running; also ein Spiel, unserm Malzeck etwa oder
dem Balirlauf, Barrelauf, jeu de barre, entsprechend. So kommt es vor
Cymbel. V, 3.
He with two striplings (lads more like to tun
The country base, than to conimit such slaughter).
Demnach würde hier base in Lucetta's Antwort in einem andern Sinne
zu nehmen sein, als in Julia's Worten; diese meint Bass, jene Barre-
lauf; oder, wenn man die ganze Phrase in's Auge fasst, diese: die
mittlere Stimme wird von deinem ungefügigen Bass ertränkt und über-
tönt; jene (indem nämlich to bid so viel ist als to offer und to bid a
base also herausfordern heisst): in der That, ich fordere (oder forderte)
Sie für Proteus, an Proteus' Stelle, heraus. So etwas aber, dass in
einer Antwort oder auch im. Verlauf einer Rede ein Wort in einem
andern Sinne genommen wird als vorher, ist nichts Seltenes bei Shak-
spere und gradezu eine Hauptquelle seiner puns. So spielt er öfter
mit den verschiedenen Bedeutungen des Zeitworts to lie ; den cobbler
im Julius Caesar I, 1 lässt er sagen: Nay, I beseech you, sir, be not
out with me, yet, if you be out, I can mend you ; in Two gentlemen
of Verona sagt Panthino : Away, ass, you will lose the tide und Launce
erwiedert: It is no matter, if the ty'd were lost; for it is the unkindest
ty'd, that ever man ty'd ; und als Panthino fragt : What's the unkindest
tide, erklärt Launce: Why, he that's ty'd here, Grab, my dog. So in
Romea and Juliet, wo, auf die Worte der Amme zu den Musikanten :
Honest good fellows, ah, put up, put up !
Too well you know, this is a pitiful case,
während die Amme mit den Worten a pitiful case einen bedauerns-
werthen Fall meint, der Musikant antwortet:
Ay, by my troth, the case may be amended,
unter case das Futteral seines Instruments verstehend , und den Zu-
schauern ein Loch in demselben zeigend. Aehnliche Beispiele sind
häufig, so häufig, dass ich es nicht für nöthig halte, noch mehr der-
selben anzuführen. — Wem es also in dieser Stelle , von der jetzt die
Rede ist, nur darauf ankommt, die Worte zu übersetzen, der wird die-
selben nicht für verdorben halten. Wer aber den ganzen Zusammen-
hang des Gesprächs und die durchweg in demselben festgehaltene bild-
liche, vom Singen eines Liedes hergenommene Ausdrucksweise in's Auge
fasst, dem muss Lucetta's Antwort: In der That, ich fordere für Pro-
20 •
304 Zur Kritik, Erklärung und
teus heraus, selbst wenn man diesen Worten den Sinn unterlegt: ich
will Sie für Proteus fangen, Sie für Proteus gewinnen,*) selbst dann,
sag' ich, muss diese Antwort bedenklich und ungehörig erscheinen.
Auch die Erwiederung Julia's geht nicht auf die neue Bedeutung,
welche angeblich Lucetta dem Wort base gibt, ein, sondern, indem sie
beim Zerreissen des Briefes sagt: Here is a coil with protestatiou ;
hier ist ein Geräusch, ein Getöse mit Einspruch, zeigt sie, dass sie bei
der musikalischen, oder, wenn man lieber will, bei der akustischen Be-
deutung des Worts base stehen bleibt ; sie sagt damit : durch dieses
Geräusch unterbreche ich den ganzen Zwiegesang. Es ist mir daher
nicht zweifelhaft, dass gelesen werden müsse:
Indeed, I did the base for Proteus.
To do ist to perform; so kommt es namentlich im Sommernachtstraum
vor; I, 2 Bottom: That will ask some tears in the true performing
of it: if I do it, let the audience look to their eyes; und ebendaselbst,
auf Snug's Frage: Have you the lion's part written? pray you , if it
be, give it me, for I am slow of study ; sagt Quince : You may do it
extempore, for it is nothing but roaring; und III, 1 derselbe: This
green plot shall be our stage ; this hawthorn brake our tyring house ;
and we will do it in action, as we will do it before the duke; und V, 1
Hippolyta : He says, they can do nothing in this kind ; Taming of the
shrew induct. that part was — naturally performed; — thou didst
it excellent. Wenn also I did hier heisst: I performed, so sagt Lucetta :
dass ich so im Bass sprach, kam daher, weil ich für Proteus ein gutes
Wort einlegen wollte, weil ich statt seiner die Werbung übernahm,
und gleichsam seine Stimme aus meinem Munde kam; oder — um den
Wortlaut genauer auszudrücken — : in der That , ich führte die Bass-
begleitung durch, die eigentlich Proteus für sich selbst hätte durch-
*) Ich setze Warburton's vollständige Erklärung hinzu:
The Speaker here turns the allusion (which her mistress employed) from
the base in music to a country exercise Eid the base: in whIch some pursue,
and others are made prisoners. So that Lucetta would intend, by this, to
say: Indeed I take pains to make you a captive to Proteus' passion. He
uses the same allusion in bis Venus and Adonis:
To bid the wind a base he now prepares.
And in his Cymbeline he mentions the game
lads more like to run
The country base.
Ueber Setzung Shakspere's. 30y
führen sollen, die eigentlich Proteus' Sache war. Alsdann geht base
auf das obige bürden zurück :
it hath some bürden tben;
Ay, and melodioiis were it , would you sing it.
Denn diesen bürden eben, die Brumm- oder Bassstimme, die das Lied
begleitet, muss man auf Proteus beziclien. So erst werden die sämmt-
lichen Ausdrücke in dem witzelnden und nur in Andeutungen vor sich
gehenden Dialog deutlich. Das Lied light o' love hatte keinen bürden
oder Bassbegleitung, wie man aus Much ado about nothing JII, 4 er-
fahrt, wo es heisst: clap us into light o' love; that goes without a Jjur-
den ; das Lied dagegen, welches Lucetta der Julia vorschlägt, hat einen
bürden, der melodisch zum Liede passen würde; d. h. Proteus und
Julia würden eine passende und prächtige Ehe abgeben. [Uebrigens,
glaube ich, irrt nicht, wer annimmt, dass Siiakspere, wie er in solchen
Fällen so oft thut, zugleich die andre Bedeutung von bürden, Last, mit
im Sinne hat.] Für Lucetta ist das Lied zu hoch, d. h. Proteus steht
zu hoch über ihr, als dass sie selbst Anspruch auf ihn machen könnte.
Dagegen übernimmt sie den mean , die Mittelstimme, die Vermittlung,
die Stelle der Vermittlerin; da aber Julia die Sache übel aufnimmt und
meint, die Mittelstimme wäre durch den Bass Lucetta's verdorben wor-
den, erwiedert sie: ich habe allerdings dadurch, dass ich Proteus' Brief
abgegeben habe, seine Partie (das ist die Basspartie) ausgeführt. So
auch wird indeed am Anfange jenes Satzes erst gerechtfertigt; denn
man kann es und man kann im Deutschen „in der That" natürlich
nur da gebrauchen, wo man das, was eben gesagt worden ist, durch
Wiederholung und Aufnahme eben desselben bekräftigt, nicht aber, wo
man etwas Anderes sagt; mit I did the ba.<;e sagt Lucetta dasselbe,
was Julia gesagt hatte, nur in etwas anderer Weise und so, dass man
nun erst den Schlüssel zum genauen Verständniss des ganzen Dialogs
bekommt; mit I bid tlie base sagte sie dagegen etwas Anderes und
durfte mit dieser Redensart nicht indeed gebrauchen. Indeed ist =
the mean is drowned by my unruly base ; dahinter passt nur . for I
did tho base for Proteus; nicht aber: for I bid the base. Richtig sagt
der Musikant in der oben citirten Stelle aus Romeo and Juliet: by my
troth; denn wenig oder gar nicht an den Tod Julia's denkend, fallt
ihm bei dem Ausdruck der Amme a pitiful case nur das zerrissene
F'utteral seines Instruments ein ; by my troth ist ^^ the case is pitiful.
— Bürden von der Bassbegleitung kommt unter Anderm auch As you
SOG Zur Kritik, Erklärung und
like it III, 2 vor: I would sing my song without a bürden: thou
bringst me out of tune. [Von der Begleitung eines Liedes durch einen
ganzen Chor, oder genauer der Ausführung des Rundgesanges oder
Refrains, sagt man bekanntlich to bear the bürden ; z. B, in der Bühnen-
anweisung As you like it IV, 2.] Und in demselben Sinne braucht
Shakspere das Zeitwort to bass, Tempest IV, 3.
the thunder,
That deep and dreadful organ-pipe, pronounced
The name of Prosper ; it did bass my trespass.
Vergleicht man diese beiden Stellen mit einander, so geht deutlich her-
vor, dass man völlig berechtigt ist, auch an unsrer Stelle bürden und
base als gleichbedeutend und auf gleiche Weise auf Proteus bezüglich
zu fassen. Es lässt sich endlich auch leicht der Grund der Verderbung
der Worte , von denen hier die Rede ist , einsehen. Das für I per-
formed the base stehende und darum ungewöhnlichere I did the base
konnte bald durch ein Versehen in die sprichwörtliche und darum sehr
gewöhnliche Redensart I bid the base übergehen. Und diese Redensart
selbst haben Wurburton und Malone durch Conjectur, nach meinem
Dafürhalten durchaus richtig , eingesetzt , Venus und Adonis :
Sometimes he scuds far elf, and there be stares ;
Anon he Starts at stirring of a feather:
To bid the wind abäse he now prepares.
Das hier kaum verständliche abäse, demüthigen , erniedrigen, das,
wenn es auch von dem Winde sollte gesagt werden können, dennoch
gar nicht in den Sinn passt , verwandeln Warburton und Malone in
„a base;" „nun schickt er sich an, den Wind an Schnelligkeit heraus-
zufordern."
8) Henry VI., II. p. 11, 1 haben die Ausgaben:
What Cardinal, is your priesthood grown peremptory?
Tantaene animis coelestibus irae?
Churchmen so bot? Good uncle, hide such nialice;
Whit such holiness can you do it.
Die Verse sind unrichtig geworden durch eine Versetzung des Worts
cardinal. Es muss heissen :
What is your priesthood grown peremptory?
Tantaene animis coelestibus irae?
Churchmen so bot? Good uncle, hide such malice!
With such holiness, cardinal, can you do it?
U ebersetzung Shakspere's. 307
Cardinal ist zweisylbig genommen, -wie kurz darauf:
Cardinal, I am with you.
^A'hy, how now, luicle Gloster.
Oder:
The cardinal's not my better in the field;
und so sehr oft grade in Henry VI. (und Henry VIII. etc.). — Aber
nicht bloss der Vers verlangte diese Umstellung, auch das Wort ho-
liness verlangt, dass cardinal neben ihm stehe, weil ausgedrückt werden
muss von Gloster, dass Carlisle's ganze Heiligkeit darin besteht, dass
er Cardinal ist. Und dann erst stehen, wie in dem lateinischen Verse
animis coelestibus nnd tantae irae, so in den englischen Worten einander
gegenüber priesthood und peremptory , churchmen und hot , good uncle
und such malice , the holiness of a cardinal und to do it, d. h. such
nialice oder to speak diabolical calumnies. Dass aber uncle vorhergeht,
hindert nicht die nachherige Anrede cardinal ; in derselben Weise grade
wechselt Gloster auch sonst ab , in derselben Scene und in der ersten
Scene des ersten Acts.
Collier sagt mit Beziehung auf diese Stelle: „The second line
(nämlich with such holiness can you do it) as it Stands in all the early
copies, is imperfect and prosaic; the corrector of the folio 1632 states
that two small words have been omitted , and bis emendation is better
than either of those offered by Warburton and Johnson : he gives the
two lines thus :
Churchmen so hot? Good uncle, hide such malice;
And with such holiness you well can flo it.
Das soll, ironisch, heissen : with such holiness you well can hide such
malice; ein Sinn, dem das hinzufügende and einigermassen widerstrebt.
Auch zeigt Suffolk's Antwort: No malice hinter do it, dass man do it
verstehen muss do such malice und nicht hide such malice. Dieselbe
Antwort zeigt , dass man well anders als ironisch nicht fassen könne ;
auch würde das nichtironische well hier sehr mattherzig sein. Ferner
wird durch Collier's Emendation der erste von den vier übrigen Versen,
der sehr lahm ist, nicht hergestellt. Endlich sieht man nicht ein , wie
die Lesart sollte ^■erÄorben, und neben der Auslassung von zwei Wör-
tern you seine Stelle sollte gewechselt haben. Meine Verbesserung
setzt voraus, dass im Bühnenmanuscrij)! zu : your priesthood das Wort
cardinal als eine Erklärung war hinzugeschrieben worden und so in den
808 Zur Kritik, Erklärung und
Text kam ; eino Wiederholung zu vermeiden, wurde es beim Druck im
vierten Verse weggelassen.
Die von Collier oben erwähnten Conjecturen Warburton's und
Johnson's sind :
With such holiness can you de it? Do what? The verse wants a
foot ; we should read
With such holiness can you not do it?
Spoken ironieally. By holiness he means hypocrisy: and says, have
you not hypocrisy enough to hide your malice? Warburton.
The verse is lame enougli after the emendation, nor doos the
negative particle improve the sense. When words arc omitted, it is
not often easy to say what they were, if there is a perfect sense without
them. T read, but somewhat at random:
A ohurchman, with such holiness can you do it?
The transcriber saw churchman just above , and therefore omitted it in
the second line. Johnson. — Der Letztere hat wenigstens richtig be-
merkt, dass der Zusammenhang eifordere, to do it zu verstehen to do
such malice.
Ich zweifle nicht im Geringsten , dass vor allen diesen Verbesse-
rungsversuchen, sowohl wegen des Sinnes, als auch wegen des Verses
und wegen der Leichtigkeit der Aenderung, meiner Emendation der
Vorzug gebührt.
9) All's well that ends well IV, 4.
But, o stränge men,
That can such sweet use inake of what they hate,
When saucy trusting of the cozen'd thoughts
De61es the pitchy night.
Offenbar muss gelesen werden :
When saucy trusting of" the cozen'd thoughts
Deties the pitchy night.
Schon die natürliche Wechselbeziehung zwischen saucy trusting und to
defy zeigt es.
Wenn freches Zutrau'n der verlockten Sinne
Trotz beut pechschwarzer Nacht. ^
d. h. sich nichts daraus macht, dass pechschwarze .Nacht ist ; so dass
die Sinne, von Liebesgluth angefacht und erhitzt, lieben, obne zu fragen
und ohne zu wissen, wen sie lieben, ja sogar lieben, wo sie sonst
Uebersetzniig Shakspere's. 309
hassen, und zufrieden mit der Aufregung di-r Phantasie, um von Neuem
entzündet zu werden, den Anblick reizender Schönheit nicht bedürfen.
Wenn diese verwegene Hitze der aufgeregten Phantasie (saucy trusting
of the cozen'd thoughts) sie nicht anfeuerte , — gibt Helena zu ver-
stehen, — würden die Sinne, um von Neuem angespornt zu werden,
erst sehen wollen, und die Anregung durch die ihnen gefälligen Reize
erwarten, und also die gänzliche Finsterniss nicht dulden, der zu trotzen
ihre verliebte Gluth und die Einbildung, dass sie ihre wirkliche Ge-
liebte umarmen, sie befähigt. Die ganze Vorstellung, die hier zu
Grunde liegt, ist eine Lieblingsbeobachtung Shakspere's, die er unter
verschiedenen Gelegenheiten in etwas verschiedener Weise wiederholt.
So sagt Jago im Othello II, 1 : When the blood is made dull with
the act of sport, there should be — again to inflame it and to give
satiety a fresh appetite — loveliness of fa\our etc. — Ich fürchte,
defiles ist hier gesetzt worden von einem Abschreiber oder dem Drucker,
wegen des Worts pitchy. Pitch und to defile kommen im Sprichwort
pitch defiles vor; so Henry TV., I. p. II, 4: There is a thing, Harry,
which thou hast offen heard of and it is known to many in our land
by the name oi' pitch ; this pitch , as ancient writers do report, doth
defile. Love's labour's lost IV, 3 : They have pitched a toil ; I am
toiling in a pitch (womit Byron die schwarzen Augen Rosalinens
meint); pitch, that defiles; defile, a foul word. Henry VI., II. p
II, 1 : And like to pitch defile nobility, und so ein Dutzend Mal. Für
diejenigen, welche in der obigen Stelle defiles in Schutz nehmen möch-
ten, bemerke ich noch , dass für einen pun oder quibble hier gar keine
Veranlassung ist (wie man vielleicht in dem Ausdruck: defiles the
pitchy night zu finden geneigt sein könnte); und dass das Gehässige,
ja Herabwürdigende, welches in dem Worte to defile liegt, auf Helena,
und noch dazu in ihrer eigenen Auffassung, in ihrem eigenen Urtheil,
in ihrer eigenen Aeusserung, zurückfallen müsste: vor welcher Un-
schicklichkeit ich , durch meine Lesart , den zarten Charakter Helena's,
ja was mehr ist, die ganz nach Recht und Pflicht handelnde Gattin
in Schutz nehmen möchte, welche durch die Liebesnacht in keiner
Weise defiled ist [ganz eigentlich dagegen sagt Diana V, 3 : Ile knows
himself, my bed he hath defil'dl und daher diese Liebosnacht auch
nicht defiled nennen kann.
Ich f^ige noch die Erklärungen der enj^lischen Commentatoren
hinzu , damit man sehe , zu welch' einer ganz irrigen Auffassung der
310 Zur Kritik, Erklärung und
Stimmung und der Meinung Helena's das Wort defiles ihnen Veran-
lassung gegeben hat.
„Defiles the pitchy night," sagt Warburton, „i. e. makes the
person guilty of intentional adultery. But trusting a mistake cannot
make any one guilty. We should read and point the lines thus:
When fancy, trusting of the cozen'd thoughts,
Defiles the pitchy night.
i. e. the fancy as imagination , fhat he lay with his mislress , though
it was indeed his wife, made hini incur the guilt of adultery. Night,
by the ancients , was reckoned odious , obscene and abominable. The
poet , alluding to this , says with great beauty Defiles the pitchy night
i. e. makes the night more than ordinary abominable."
Wirklich, einen solchen Gedanken sollte Helena haben können in dem-
selben Augenblick, wo sie in der Erinnerung an die Hochzeitsnacht —
denn das ist sie für sie — schwelgt ! (o stränge men , that can such
sweet use make etc.) Man vergleiche V, 3 : 0 my good lord, when I was
like this maid, I found you wondrous kind. Und Avenn sie nicht grade
an Bertram's Sünde theilnimmt, bleibt sie nicht immer schuldig, ihn zu
einer Sünde verführt zu haben ? Und wenn das , müsste sie sich nicht
einen Vorwurf darüber machen , dem geliebten Mann Veranlassung zu
einer Sünde gegeben zu haben ? Zudem liegt die Sünde nicht in der
That Bertram's, sondern in seinem Irrthum . sie ist nur intentional adul-
tery; aber eine intentional adultery beging er nicht in dieser Nacht
bloss, sondern von dem Augenblick, wo er, obgleich verheirathet, Diana
verführen wollte ; warum ist also diese Nacht grade so abominable ?
Und damit — das verlangt einmal defiles — die Nacht erst abominable
werde, ist noch eine Conjectur nöthig: fancy für saucy! denn, wie die
Worte im Text lauten, ist weiter von Sünde nicht die Rede: ,, trusting
a mistake," sagt Warburton selbst, „cannot make any one guilty." Nun
denn also , sage ich , fort mit defiles , a word which defiles extraordi-
narily the whole passage. — 5,The conjecture (of Warburton) ," sagt
Johnson, „is truly ingenious, but, I believe, the author of it, will
himself think it unnecessary, when he recoUects that saucy niay very
properly signify luxurious and by consequence lascivious." Aber die
Vorstellung von intentional adultery scheint er von Warburton ange-
nommen zu haben. Wer erwartet auch Zartgefühl von Samuel John-
son! 0 ihr Dichter, was würdet ihr zu euren Commentatoren sagen!
Ü ebersetz ungSliakspere's. 311
10) Cymbeline, III, 4 sagt Pisanio zu Imogen, die sich entschlossen
zeigt, Britannien zu verlassen :
Pis. I am most glad
You think of other place. The embassador
Lucius the Roman, comes to Milford-Haven
To-morrow. Now, if you could wear a mind
Dark as your fortune is; and but disguise,
That, -which, to appear itself, must not yet be,
But by self-danger: you sbould tread a course
Pretty and füll *) of view : yea, haply, near
The residcnce of Posthumus : so nigh, at least,
That, though his actions were not visible, yet
Report should render him hourly to your ear,
As truly, as he moves.
Imog. O, for such means!
Though peril to my modesty, pot death on't,
I would adventure.
Pis. Well, theu, here's the point!
You must forget to be a woman etc.
Es handelt sich hier um die Worte: Though peril to my modesty,
not death on't, I wonld adventure. Ich vv^eiss wohl, dass diese Les-
art unter gewissen Voraussetzungen und noch dazu in doppelter Con-
structionsweise verständlich ist. Man kann construiren: Though peril
to my modesty, but not death were oder be on it, I would adventure
it, und : Though I would adventure peril to my modesty, but not would
adventure death on it. Nach der ersten Constructionsweise muss man
annehmen, dass Pisanio in seinen Worten eine Verkleidung in einen
Pagen oder einen Mann schon so deutlich bezeichnet hat, dass Imogen
diesen seinen Vorschlag erräth und äussert: Wenn auch Gefahr für
meine Sittsamkeit dabei sein sollte und nur nicht der Tod die Folge
davon ist, wollte ich es wagen. Aber Pisanio hat sich so deutlich
noch nicht ausgesprochen ; er hat nur gesagt, sie dürfe, bei Lebens-
gefahr, das, was sie ist, nicht scheinen, und darunter kann Imogen
natürlich zuerst nur denken, dass sie nicht blicken lassen dürfe, dass
sie die Prinzessin ist ; dass sie aber an die Verkleidung in einen Mann
jetzt noch nicht denken kann, zeigen Pisanio's nachherige Worte: You
must forget to be a woman. Nimmt man aber j)eril to modesty, ohne
*) Privy, yet füll, Collier.
312 Zur Kritik, Erklärung und
beschränkende Beziehung auf die Verkleidung, in seinem allgemeinen
Sinne, dann sagt Imogen etwas ihrer Unwürdiges ; was dem Engländer,
so allgemein gesagt, modesty (Ehrbarkeit, Keuschheit) und peril to
modesty (Gefahr für die Schamhaftigkeit) bedeutet und sagen will,
sieht man z. B. aus Othello IV, 2.
O thou public commoner!
I should make very forges of my cheeks,
That -vvould to cinders biu-n up modesty,
Did I but speak thy deeds.
Ausserdem schliesst, was Pisanio bisher gesagt hat, den Gedanken an
Tod keineswegs aus. Im Gegentheil, er spricht von self-danger für
den Fall, wo sie erschiene, was sie ist ; er nennt den Römer Lucius,
und Imogen miiss bei der Erwähnung des Landesfeindes erst recht an
Todesgefahr denken, da sie wohl voraussetzen darf, dass Lucius, wenn
er erfahren haben sollte, dass sie die Prinzessin ist, die Tochter des ihm
damals schon feindlichen Britenkönigs leicht könnte imibringen lassen.
In beiden Beziehungen würde also die obige Lesart, nach ihrer ersten Con-
structionsweise, verwerflich sein. Bei der zweiten Constructionsweise
ist die Sache noch übler; denn Imogen sagt gradezu : „Ich möchte
wohl meine Ehrbarkeit, aber nicht mein Leben dabei in die Schanze
schlagen." Wie das mit Imogen's Charakter — dem reinsten und
zartesten, den die Dichtkunst schuf — in üebereinstimmung gesetzt
werden soll, sehe ich nicht; wohl aber sehe ich in dem ganzen früheren
Theil dieser Scene, dass sie sich den Tod fast wünscht, und nur nicht
durch Selbstmord, sonst auf jede Weise, ihr Leben gern endigen will.
Dass man on't auch für of it, d. h. of my modesty (so dass also peril
to my modesty und death of my modesty entgegengesetzt wären) hat
verstehen wollen, führe ich der Vollständigkeit wegen auf, glaube aber
diese Erkläiungsweise nach dem Obengesagten nicht weiter widerlegen
zu brauchen. *) Dagegen lässt sich, ohne Aenderung der Worte, durch
*) So scheint Johnson die Stelle aufzufassen, wiewohl es nur mit Mühe
aus seinen Worten herausgedeutet werden kann. Ich setze seine ganze An-
merkung hierher:
„I read:
Through peril —
i. e. I would for such means adventure tbrough peril of modesty;
I would risque every thing but real dishonour." Joluison.
Uebcrsetzung Shakspere's. 313
blosse Versetzung der Zeichen, der schönste und für Imogen's Lage
passendste Sinn herausbringen. Man interpungire :
Though peril to my modesty not, — death on't
I would udventure.
d. i. though I would not udventure peril to my modesty, yet death on
it I would adventure: wenngleich ich einer Gefahr für meine Sittsam-
keit mich nicht aussetzen möchte ; — dem Tode will ich mich gern
dabei aussetzen. Damit stimmt aufs Beste die Erwiederung Pisanio's :
Well then, here's the point. Nun gut denn, das ist eben der Punkt,
nämlich : ob Sie glauben, durch Verkleidung in einen Pagen ihrer Sitt-
samkeit nicht zu nahe zu treteri; ob Sie glauben, ohne Schaden oder
Nachtheil für Ihre Ehrbarkeit so weit gehen zu dürfen, dass Sie sich
in einen Pagen verkleiden. Ich raüsste mich sehr irren, oder die von
mir vorgeschlagene Interpunktion stimmt besser als die übliche zu dem
so überaus zarten und keuschen und doch in ihrer Liebe so todes-
muthig entschlossenen Charakter Imogen's. Der plötzliche Einsatz:
death on't — am Ende des Verses, — ist so weit entfernt, etwas An-
stössiges zu haben, dass er vielmehr die grösste Schönheit ist und mehr
als viele Worte die schnelle und muthige Entschiedenheit Imogen's,
welche . sie in der ganzen Scene zeigt, malt, und einer guten Schau-
spielerin hier die bedeutendste Wirkung, den grossartigsten Effect ver-
schaffen miisste. Für die Richtigkeit meines Verständnisses der Stelle
spricht noch eine durchaus überzeugende Probe. Es versteht sich von
selbst, dass man Jemanden zu beruhigen sucht über das, was er fürchtet.
Nach meiner Erklärungsweise fürchtet Imogen für ihre Sittsamkeit,-
nicht für ihren Tod. Dass aber ihre Sittsanpkeit keine Gefahr laufen
werde, darüber beruhigt offenbar Pisanio Imogen, indem er in Betreff
des Lucius, dessen Page sie werden soll, sagt: for he is honourable,
and, doubling that, most holy.
11) King Henry VI., III. p. I, 2.
(a sllght contention)
Rieh. About that which concerfis your grace and us:
The crown of England, father, which is yours.
York. Mine, boy? not tili king Henry be dead.
Wahrscheinlich :
Mine, boy? no : — not tili king Henry be dead.
Wie leicht beim Schreiben oder Drucken no vor not wegfallen konnte,
ist wohl deutlich.
314 Zur Kritik, Erklärung und
12) Antonio and Cleopatra I, am Ende, sagt Cleopatra:
Get me ink and paper ! he shall have every day
A several greeting, or Pll unpeople Egypt.
Im letzten Verse muss es wohl heissen :
he shall have every day
A several greeting: I'll unpeople Egypt.
Ich will jeden Tag einen Boten mit einem Briefe an ihn abschicken
und dadurch (durch das Abschicken so vieler Boten) Aegypten ent-
völkern. Or würde voraussetzen, dass Cleopatra zuerst an ein anderes
Mittel dächte , ihre Briefe fortzuschicken, als an Boten ; dass diess
nicht der Fall ist, zeigt die ganze vorhergehende Scene.
13) Tempest V.
His mother was a witch and one so streng,
That could control the moon, make flows and ebbs
And deal in her comraand, without her power.
Hierzu bemerkt Collier: The words J, without her power" have
naturally occasioned considerable discussion, in which Malone hinted
that Sycorax might act by a sort of „power of attorney" from the
moon , while Steevens strangely supposed that ,, without her
power" meant „with less general power." All difficulty, however, is
at an end, when we find the manuscript-corrector of the folio 1632
marking „without" as a misprint, and telling us that it ought to have
been „with all":
That could control the moon, make flows and ebbs
And deal in her command, with all her power.
that is, Sycorax could „make ebbs and floods," matters in the com-
mand of the moon, with all the power exercised over the tides by the
moon. The error of the press here is, we think, transparent. — Dann
muss man in her command, d. h. in the command of the moon, ver-
stehen: in dem Gewaltbereiche des Mondes. Das Einzige, was gegen
diese Emendation spricht, ist, dass man gar zu geneigt ist, beim Lesen
oder Hören „her" wegen seiner Stellung im Satze auf Sycorax und
nicht auf the moon zu beziehen. Wer „her" nur auf Sycorax beziehen
zu können glaubt, kann daher lesen
And deal in her command without their power:
wo dann their auf the moon, flows and ebbs zu beziehen sein würde.
Alsdann ist in her command so viel als in her command over them, in
coramanding them ; without their power muss dann erklärt werden, ohne
1^ UebersetzungShakspere's. 315
dass sie Macht haben oder behalten. Dass eine Möglichkeit dieser Er-
klärungsweise vorhanden ist, davon kann man sich durch Beispiele
leicht überzeugen. Sage icli : I did it without their knowledge, so meine
ich : Ich that es, ohne dass sie Kenntniss (davon) hatten ; warum sollte
I did it witliout their power nicht heissen können; ich that es, ohne
dass sie Maclit (darüber) hatten? I did it in a manner that they had
no power, that they had lost all their power ? — Es kommen zwar nur
Verbalia in einer solchen Verbindung vor ; aber als solches kann power
(pouvoir) immer angesehen werden. — Daraus ergibt sich denn endlich
eine Erklärung der gewöhnlichen Lesart für die, welche keine Aende-
rung haben wollen, und welche sich nicht daran stossen, „her" auf das
entferntere Femininum „the moon'* zu beziehen. In her command heisst
dann Avie bei der CoUier'schen Lesart: in dem Gewaltbereiche des
Mondes, und without her power, ohne dass er (der Mond) Macht hat,
Macht behalten hat, so dass er seine ganze Macht an Sycorax hat ab-
treten müssen. Dies ist die Erklärung, welche Malone muss gemeint
haben; und nur seine ungeschickte Ausdrucksweise kann Collier Ver-
anlassung gegeben haben, seine Auslegung lächerlich zu machen.
14) All's well that ends well III, 6.
Bertram. ^V'hy, de you think, he will make no deed at all of this that
so seriously he does address himself unto?
First lord. Nene in the world, but return with an invention, and clap
upoD you two or three probable lies: but we have almost
embossed him, you shall see bis fall to-night; for, indeed, [he
is not for your lordship's respect.
Zu dieser Stelle bemerken die Commentatoren : To emboss a deer is to
enclose him in a wood. Milton uses the sarae word.
Like that self-begotten bird
In the Arabian woods embost
Which no second knows or third. — Johnson.
It is probable that Shakspeare was unacquainted with this Avord in the
sense which Miltou aftixes to it, viz. from emboscare Ital. to enclose
in a thicket.
When a deer is run hard and foams at the mouth, in the language
of the field, he is said to be embossed. So in the induction of the
Taraing of the shrew:
The poor cur is imboss'd.
31G Zur Kritik, Erklärung und .,
Again, in Albunazar:
I am embossed
With trotting all the streets.
Again in Monsieur Thomas, 1639:
A boar emboss'd takes sanctuary in bis shop
And twenty dogs run after.
Again in Swetnam Arraign'd, 1620.
Hast thou been running for a wager, Swash?
Thou art borribly emboss'd.
Again in Warner's Albion's England, 1602:
For lo, afar my chased beart inibost and alraost spent. — Steevens.
Das Wort embossed kommt ausser der von Steevens angeführten Stelle
vor bei Shakspeare: Timon oi" Athens V, 2.
Timon hath made bis everlasting mansion
Upon tbe beached verge of the salt flood,
Which once a day with bis embossed frotb
Tbe turbulent sorge shall cover;
also in der Bedeutung swelling, tumefied; ferner As you like it II, 7:
And all tbe embossed sores and headed evils,
That thou with licence of free food hast caugbt,
Wouldst thou discharge into the general world;
-wiederum in der Bedeutung tumefied; ferner King Lear II, 4.
thou art a boil,
A plague-sore, an embossed carbuncle
In my corrupted blood;
auch in der Bedeutung tumefied ; nicht anders Henry IV., I. p. III, 3.
thou — embossed rascal, zu FalstaflF gesagt ; endlich Antonio and Cleo-
patra IV, 1 1 :
he is more raad
Than Telamon for bis shield! the boar of Thessaly
Was never so emboss'd.
d. h. tumefied, swelling with rage. — Sonst wird das Wort bei Shak-
spere nicht gefunden. Bei Spenser kommt embossed noch vor in der
Bedeutung des französischen emboister, emboiter, d. i. covered, z. B.
embossed with arms. Diese Bedeutung, ohnehin, wie ich glaube, nur
der vorshakspere'sehen Zeit angehörig, passt bestimmt nicht für unsre
Stelle. Nimmt man auf Shakspere's Gebrauch Rücksicht, so würde
auch an unsrer Stelle embossed heissen in-itated, incitated oder tumefied
Uebersetzung Shakspere's. 317
with pride. Aber was soll hier diese Bedeutung? Das Alles liegt
einigermassen schon in Bertram's Worten : this that so seriously he does
address liimself unto. Und warum ist almost hinzugesetzt? Die Natur
des Wortes embossed in dieser Bedeutung gestattet die Beschränkung
durch almost kaum; es will nicht recht passen: wir haben ihn beinahe
schon in Hitze oder Harnisch gebraclit, besonders wenn der Graf, wel-
cher von Parolles' Verhalten in Kenntniss gesetzt Averden soll, selbst
schon gesagt hat , dass derselbe so ernstlich darauf bedacht ist , sein
Unternehmen auszuführen. Zudem, dass er embossed oder gebläht ist
zu seinem Unternehmen , die Trommel Aviederzuholen , bringt allein
seinen Fall noch niclit zu Wege; denn er kann ja innner, wie auch der
erste Lord sagt, mit einer Lüge im INIunde wiederkehren ; so ein Barsch
wie Parolles musste ,,attrapirt" werden , wenn er zu Fall gebracht
werden soll. — Aber die von JSteevens hier angenommene Bedeutung
passt ebenfalls nicht hierher ; denn matt gehetzt ist Parolles nicht, auch
noch nicht beinahe; denn die Hetzjagd soll erst beginnen. Von einem
Fuchs, den man zu Tode hetzen will, auch wenn man schon die Vor-
bereitungen dazu tritft, kann man nicht sagen : we have almost emboss'd
him, sondern man muss sagen: he will soon enough be embossed, we
shall have him soon enough embossed. Die einzige Bedeutung , die
noch übrig bleibt , ist also embossed = enclosed , welche freilich Stee-
vens für nachshakspere'sch hält. Alan müsste dann mit Johnson an das
Bild des von dem Jäger umstellten Wildes denken ; vorausgesetzt, dass
ein solcher Gebrauch in dem Worte ehibossed = enclosed liegen könne:
denn das von ihm aus Milton angeführte Beispiel führt wenig dahin.
Sieht man aber auf die übrigen Ausdrücke, so ist deutlich, dass nicht
von einem Umstellen des Wildes , sondern von dem Fangen desselben
in einer Falle die Kede ist. „I with a troop of Florentines," sagt der
erste Lord, „will suddenly surprise him ; such I will have, Avhom, I am
sure, he knows not from the enemy. We will bind and hoodwink
him etc." Auf diese Vorbereitungen sich zurückbeziehend , sagt der-
selbe: „I must go look my twigs (gewöhnlicher wäre wohl to my
twigs; und er meint offenbar lime-twigs) ; he must be caught." Und
nachher , als er entlarvt worden ist , sagt Parolles selbst : „Yet , who
"would have suspected an a m b u s h , where I was ta k en ?" Man möchte
also denken: „Warum lesen wir nicht an unsrer Stelle statt embossed
lieber ambushed d. i. entrapped , taken in an ambush , oder doch : we
have almost an ambush ready for him?" Das Schlimme ist nur, dass
Arcliiv f. n. Sprachen. XXIII. 21
318 . Zur Kritik, Erkliirung und
to ambush diese Bedeutung gar nicht hat, sondei'n immer heisst, in den
Hinterhalt legen. Auch ist es meine Meinung keineswegs, durch diese
Conjectur Shakspere ein Wort in einer ganz neuen und von der ge-
wöhnlichen völlig abweichenden Bedeutung zu oetroyiren. Sondern es
erwächst nun die Aufgabe für die Erklärer, durch Stellen älterer Schrift-
steller nachzuweisen, dass, Avie ambushed derjenige ist, der in einen
Hinterhalt gelegt worden ist , cnibossed dagegen denjenigen bezeichnet,
dem ein Hinterhalt gelegt worden ist : — eine Bedeutung, die an unsrer
Stelle, wie ich gezeigt habe, nothvvendig ist. Die blosse Versicherung,
auch eines Engländers, dass dies der Fall sei, genügt bei einem Worte,
Avelches in dieser und ähnlichen Bedeutungen längst ausser Gebrauch
gekommen ist, nicht; eine Parallelstelle müsste die Gewissheit ver-
schaffen, dass man das Wort in dem hier durchaus erforderlichen Sinne
auffassen dürfe. Finden sich solche Stellen nicht , so bleibt das Wort
emboss'd hier verdächtig.
15) King John III, 1.
It is religion tliat dotb make vows kept;
But thou hast sworn against religion,
By what tbou swear'&t against the thing thou swear'st
And mak"st an oath the surety for thy truth
• Against an oath : The truth, thou art uasure
To swear, swears only not to be forsworn;
Else what a mockery should it be to swear!
• But thou dost swear only to be forsworn;
And most forsworn, to keep what thou dost swear.
Zum sechsten dieser Verse sagt in der 62. Anmerkung Delius (dessen
Lesart ich oben angegeben habe): „to swear ist ^ schwören, beschwö-
ren, und = schwören lassen, eidlieh verpflichten. Der Sinn der Stelle
ist also: die Wahrheit, von der du nicht gewiss bist, dass du sie als
solche beschwörst , verpflichtet dich eidlich nur so weit und insofern,
dass du keinen Meineid thust. — Malone las swear only und construirte
demnach: thou art unsure to swear the truth, swear (Imperativ) only
not to be forsworn. Damit würde aber der in den folgenden Versen
fortgeführte Gedankengang unterbrochen." — Dass to swear sollte
factitiv gebraucht worden sein , das wäre eben nichts Seltenes ; man
sagt ja so oft jto swear one Jemanden schwören lassen, einem einen
Eid abnehmen; to be sworn durch einen Eid verpflichtet sein; K.
John IV, 1. yet am I sworn, and I did purpose, boy, with this same
Uebersctzung Sliakspere's. 319
very ivon to burn theni out. Gleichwohl lassen sich gegen Dclius'
Erklärung beträchtliche Bedenken vorbringen. Einmal bleibt es auf-
follcntl, dass, während zu dem so oft in den obigen Worten vorkom-
menden Zeitwort to SAvcar überall sonst Philip als Subject dient , bei
diesem swears aber mit einem Male the truth Subject wird. Sodann
nimmt Delius ohne Weiteros an, dass „schwören lassen" (einen Eid
abnehmen) immer mit „eidlich vorpflichten'' gleichbedeutend sei. Dies
ist aber nicht der Fall. Denn „eidlich verpflichten" heisst: 1) einen
Eid abnehmen; 2) in Folge eines Eides zu etwas nöthigen. „Schwö-
ren lassen" hat nur die erste Bedeutung. Jene erste Bedeutung kann
nur Personen, die zweite nur Sachen zum Subject haben. Und weil
„schwören" lassen nur die eine Bedeutung von ,, eidlich verpflichten"
hat, so kann man zwar statt „schwören lassen" stets „eidlich verpflich-
ten", statt ,, eidlich verpflichten" nicht immer ., schwören lassen" sagen.
Ich kann für: „Ich verpflichte Jemanden eidlich" auch sagen: ,,Ich
lasse ihn schwören"; aber statt: „Ein Versprechen verpflichtet ihn
eidlich" nicht auch : „Das Versprechen lässt ihn schwören". In Folge
dieses Irrthums über die beiden deutschen Verba, der sie ihn beide
durcheinderwerfen liess , ist Delius dazu gekommen , dem Zeitwort to
swear, das nur ,, schwören lassen" heissen kann, auch die Bedeutung:
,,iu Folge eines Eides zu Etwas nöthigen" oder schlechthin von „to
oblige" zu geben, und eine Sache zum Subject desselben zu machen,
die nie Subject zu demselben sein kann. Somit muss man Malone's
Verbesserung annehmen , gegen welche Delius Einwendungen erhebt,
die ganz ungerechtfertigt sind. Denn Malone construirt so nicht, wie
Delius ihn construiren lässt, sondemi: the truth, which thou art unsure
to swear, swear only not to be forsworn ; so dass the truth Object von
dem Imperativ swear ist, der seinerseits sagen will : thou shouldst swear.
Und da auf diese Weise der Satz genau den Sinn bekommt, den Delius
aus seiner Lesart herauslesen möchte, so ist klar, dass von einer Unter-
brechung des Gedankenganges nicht mehr bei jener, als bei dieser die
Rede sein kann. Uebrigens ist swear only keine Aenderung von Ma-
lone; Warburton, .Johnson etc. haben nicht anders gelesen. Woher
die Lesart stammt, habe ich nicht aufßnden können.
IG) Romeo and Juliet III, 4 gegen Ende, sagt die Amme:
Romeo
Is banishcd; and idl the world to nothing
Tbat he dares ne'er come back to challenge you;
21*
320 Zur Ki-itik, Erklärung und
Or, if he do, it needs must be by stealth.
Then, since the case so Stands as now it doth,
I think it best you married with the county.
O, he's a lovely gentleman!
Romeo's a dishclout to him; an eagle, madani,
Hath not so green, so quick, so fair an eye,
As Paris hath. ßeshrew my very heart,
I think you are happy in this second match,
For it excels your first: or if it did not,
Your first is dead; or 'twere as good he were,
As living here, and you no use of him.
In dem letzten Verse erklärt Delius (nach Johnson: ,,in this world"):
„living here lebendig hier auf Erden." — Dass here das heissen könne,
ist gar keine Frage; ob es an dieser Stelle so gesagt werden durfte, ist
sehr fraglich. Der Gegensatz von to be dead ist einfach to live; to be
on earth oder to live here ist der Gegensatz von to be in heaven , to
live in eternal life. Folglich bringt here, wenn es die Bedeutung on
earth hat , eine Beziehung hinein , welche in diese Stelle nicht gehört,
und die selbst dann auch nicht hierhergehören würde , wenn man an-
nehmen wollte, dass die Amme mit diestm Worte eine Zuriickbeziehung
mache auf Juliet's Aeusserung
My husband is on earth, my faith in heaven.
Zudem ist der Sinn der Amme so wenig metaphysisch, dass solche Ge-
gensätze von irdischem und himmlischem Leben , auch in der vorüber-
gehendsten Anspielung, ihr durchaus fremd sind. Das Wort here ist
also überflüssig. Aber es ist ausserdem zweideutig, da es leicht Jemand
in seiner eigentlichen Bedeutung in this place nehmen könnte; und
dann sagt die Amme etwas Falsches , da Romeo eben nicht an dem-
selben Orte mit Juliet lebt, sondern aus Verona verbannt ist. Und
diese Erwähnung der Verbannung, oder doch der Entfernung, welche
der Amme nothwendig im Sinn liegen muss, fehlt, so wie die Worte
jetzt lauten, gänzlich. Deshalb conjicirte Hanmer, auf halbem Wege
stehen bleibend, hence statt here. Und was soll endlich der construc-
tionslose Schluss and you no use of him? Man müsste sich doch having
dazu ergänzen , and you having no use of him ; eine Auslassung, die
selbst für die Sprache der Amme zu hart ist. Sie spricht überhaupt
sonst nirgends elliptisch : und naturgemäss lässt Shakspere wohl den
gedankenvollen Tiefsinn, aber nicht die flache Geschwätzigkeit sich in
Ucberse t zu 11 g Sh;iks[)ore's. 321
Ellipsen ergehen. Diese und alle anderen Schwierigkeiten fallen so-
gleich fort, sobald man liest :
As living where von have no use of him
Eu"r erster Mann ist todt, — so gut als todt,
D;i dort er lebt, wo llir ihn nicht geniesst.
Die Aenderung ist jedoch zu beträchtlich. Vergleicht man mit dersel-
ben die gewöhnliche Lesart, die mir verdächtig ist, so wird man darauf
geführt, dass Shakspere hier geschrieben haben möchte:
As living where have you no nsc of him.
Yöu hat sollen betont Averden ; darum hat es der Dichter in die Arsis
gebracht ; die Amme will sagen :
Lebt er, wo Ihr doch seiner nicht geniesst;
oder, um es deutlicher auszusprechen : as living where another lady —
not you — has all use of him : worin zugleich eine für die Amme so-
wohl, als für den Fall selbst sehr natürliche Insinuation liegt. Dann
aber Uisst sich leicht erklären, wie, nachdem have, vielleicht in einer
Abkürzung, für and gelesen worden war, where in here übergehen
musste.
Dass der Betonung wegen das Pronomen, um in die Arsis zu kom-
men, hinter das Verbum tritt, zeigt unter hundert andern Stellen King
John n, 2.
And two such shores to two such streanis, made one,
Two such Controlling bounds shall you be, kings,
To these two princes, if you marry them.
In Relativsätzen allerdings ist , der Verwechselung mit Interrogativ-
sätzen wegen, die Stellung des Subjects hinter dem Zeitwort seltner:
aber sie kommt doch vor; Macbeth V, 7.
Hail, king, for so thou art. Behold where Stands
The usurpcr's cursed head.
Tempest IV, 1.
Thy turfy mountains where live nibbling sheep.
"Wer aber zweifeln sollte, dass auch dem Pronomen in Relativsätzen
(oder was in diesem Falle dasselbe ist, in abhängigen Sätzen) diese
Stellung gegeben worden sei , der vergleiche AU's well that ends
well III, 4.
That bare-foot plod I the cold ground upon.
322 Zur Kritik, Erklärung und
Love's labour's lost I, 1,
Study me how to please the eye indeed,
By fixing it upon a fairer eye;
AVho dazzling so, that eye shall be his heed,
And give him light that was it blinde d by.
Wenn in diesen Stellen, in welchen für die Umstellung kaum ein Grund
vorhanden ist, das Pronomen hinter das Zeitwort treten konnte, um wie
viel eher konnte es in der obigen Stelle geschehon, wo die Umstellung
bewirkte, dass das Pronomen in die der ausdrucksvollen Betonung
günstigste Stelle kam. Wem aber durch die angeffihrten Stellen die
Stellung des Pronomens noch nicht gerechtfertigt erscheint, mag die
andre Fassung vorziehen. Die alte Lesart dagegen mag behalten und
sich, so gut er kann, erklären, wer mit einem Sinn zufrieden ist, der
auffallend nahe an dem Nichtsinn vorbeislreift.
17) King John IV, 1.
And with my band at midnight held your bead
And, like the watchful minutes to the hour,
Still and anon chcer'd up the beavy tinie
Saying, What lack you? and AVhere lies your grief
Or, What good love may I perform for you?
Hier bemerkt zu den Worten like the watchful minutes to the hour,
Delius: „Wie die Minuten, die in ihrer steten Aufeinanderfolge immer
wachsam sind, die Stunde hinhalten, so hielt Arthur immer wieder und
von Neuem die Zeit hin, die dem kranken Plubert so schwer verstrich. —
Vielleicht construirte Shakspere aber minutes watchful to the hour." —
Wenn Shakspere so hätte construiren wollen, so hätte er auch die Wör-
ter so gestellt, besonders da der Vers, es zu thun , ihn durchaus nicht
hinderte. Man sieht aus der Doppelerklärung, dass Delius in der Auf-
fassung der Stelle gänzlich unsicher war. JNIit Recht muss er bei der
ersten Erklärung , die er gab , sich gefragt haben , und muss sich ein
Jeder fragen: Wie kommt die Präposition to dazu, das auszudrücken,
was in der obigen Erklärung durch hinhalten wiedergegeben ist und
was, beiläufig gesagt, durch hinhalten sehr schlecht ausgedrückt ist
und durch auflieitern viel besser wäre ausgedrückt worden ? Man nehme
an, es stände in dem obigen Verse
And, as the watchful minutes do the hour;
alsdann würde das Zeitwort to do, wie das so oft der Fall ist, die Wie-
derholung des gewöhnlich vorangehenden, hier erst noch folgenden,
Uc'b ersetz ung 8 Ijuksperc's. 3'i3
eigentlichen Zeitworts des Salzes ersetzen , welches in unsrer Stelle to
cheer up ist. Dass ein erst noch folgendes Zeitwort durch to do ver-
treten wird, kann allerdings nur in einem Nebensatze vorkonnnen, der
zum Hauptsätze, auch wenn er vorangeht, doch, seiner Natur nach, als
nebenherlaufend und begleitend gedaclit wird. Vollständig sagt, unter
jener Voraussetzung, Arthur: And in thoif sanie manncr in wliich the
watchful niinutes cheer up the heavy tinie, I still and anon cheer'd up
the heavy tinic. Wie die immer Avachen JMinuten durch ihr unablässi-
ges Tiktak die (dem Einsamen) schwerfällig vergehende Stunde auf-
heitern und beleben luid ihr Verlaufen leichter erscheinen lassen : —
nebenbei verdient es wohl bemerkt zu werden, dass ein passenderes Bild
von einem Gefangenen nicht gewählt werden konnte; — so erheiterten
meine von Minute zu iMinute erfolgenden Fragen Euch bei Eurer Krank-
heit die schwere Zeit und Hessen Euch das Vergehen derselben weniger
beschwerlich und langweilig erscheinen. Es ist aber nicht statthaft zu
vermuthen, dass Shakspcre geschrieben haben könnte
And like the watchful minutes do the hour;
denn like, als wesentlich dem zusammengezogenen Satze angehörig,
kommt niemals mit einem Zeitwort vor. Es ist auch durchaus über-
flüssig, irgend etwas zu ändern. Denn to, ,,im Verhältniss zu" oder
„gegenüber" leistet genau denselben Dienst, den das Zeitwort to do in
Vertretung eines andern Zeitworts verrichtet; K. John IV, 2.
And like a shifted wind unto a sail,
It makes the com-se of thoiights to fetch about.
d. h. And as a shifted wind makes a sail to fetch about, so it makes
the course of thoughts to fetch about; wofür auch kürzer hätte gesagt
werden können: as a shifted wind does a sail, it makes the course of
thoughts (to) fetch about. Taming of the shrew II, 1.
Thongh little fire grows great with little wind,
Yet extreme gusts will blow out fire and all:
So I to her.
d. h. So I (an extreme gust) will blow out her (who is, as it were, a
fire). As you like it, IV. 3. why, she defies me , like Turk to Chri-
stian i. e. as a Turk does a Christian. Die Berücksichtigung dieses
Sprachgebrauchs hätte der ersten Erklärung von Delius die ihr fehlende
Stütze gegeben und hätte ihn davor bewahren müssen, zu vermuthen,
es wäre to the hour mit watchful in Verbinduncr zu setzen. Diese Ver-
324 Zur Kritik, Erklär uiig und
keiinung der Function des Wortes to in iinsror Stelle ist bei Delius um
so auffallender, da er in der zweiten Scene desselben Acts von King
John die Präposition unto ganz richtig erklärt.
18) Tenipest I, 2.
Abborred slave,
Whicb any print of goodness will not take.
Es ist gar keine Frage, dass which hier Subject, any print Object ist.
"Wenn will richtig sein soll, muss man annehmen, dass Prospero diese
Worte beiseit spricht ; und abhorred slave nicht Anrede an Caliban ist.
Dem aber widerspricht die Auslassung des Artikel an; an abhorred
slave müsste es doch wolil heissen, wenn Prospero diese Worte für
sich sagte. Wenigstens so immer in demselben >Stück, 11, 2. a most
seurvy monster; an abominable monster; a most ridiculous monster;
Two gentlemen of Verona III , 1. An unmannerly slave, that will
thrust himself into secrets ! u. s. w. Warum nicht auch hier an abhorred
slave, noch dazu, da der Vers es gestattete? Dazu kommt noch, dass
Prospero schwerlich Veranlassung hatte , was er gewiss schon so oft
beim Anblick Caliban's gedacht hatte, jetzt für ^ich zu wiederholen:
Sinn und Zweck und Wirkung hatten die Worte nur, wenn sie an Ca-
liban gerichtet wurden. Und dass sie an Caliban gerichtet wurden,
beweist Alles , was vorhergeht, Alles, was nachfolgt : vorher : Thou
most lying slave; — I have used thee, Filth as thou art, with human
care; and lodged thee — tili thou didst seek — ; und unmittelbar nach-
her: I pitied thee, Took pains to make thee speak etc. Wenn aber
hierdurch festgestellt ist, dass die Worte abhorred slave zu Caliban ge-
sprochen werden, so sehe ich nicht ein,-- wie es anders als wilt heissen
kann. Wenigstens hat Shakspere nie anders geschrieben, als dass er
hinter dem Relativum die Person des Zeitworts hat folgen lassen, wel-
cher das vorhergehende (oder hinzuzudenkende) Personalpronomen an-
gehört.
Macbeth I, 5.
Hail, king that sbalt be.
King Lear I, 1.
Fairest Cordeha, that art most rieh, being poor.
King Lear IV, 2.
Milk-liver'd man,
That bear'st a cheek for blows.
Ucbcrsctzung bluikspcre's. 325
Richard II., IV.
Make me, that notliiiig liavo, witli nolhiiig grieved.
K. Henry VI., I. p. IV., 5.
Flight cannot stain tlie honour you havc won
But niine it will, that no exi)Ioit havc douu.
King Henry VI., III. p. I, 1.
Ilad I been therc wliich am a .silly woman.
Ritliard III., I, 2.
O God, which this blood mad'st, rovenge his death!
0 earth, which this blood drink'st, revenge his death!
Ibid.
For doing worthy vengeance cm thyself,
That didst unwortby slaughter upon others.
Und so immer. "Wenn also die sonst überall gültigen Grundsätze der
Kritik auch bei der Herausgabe Shaksperc's zur Anwendung kommen
müssen, so muss der T strich, den ein unachtsamer Drucker dem letzten
1 entzogen hat, ihm und Shakspcre zurückgegeben werden. Redden-
dum Caesari quod est Caesaris. Das ihm dadurch wieder verschaffte
Eigenthum ist nicht bedeutend ; auch handelt es sich weniger um die-
ses, als darum, ob man einem Buchdruckerburschen mehr zu glauben
hat, als »Shakspere tmd der Vernunft.
19) King John V, 2 sagt der Bastard
B)' all the blood, that ever fury breath'd,
The youth says well.
Schlegel übersetzt :
Bei allem Blut, das je die Wuth gehaucht,
Der junge Mann spricht wohl.
Ganz unverständlich für einen Jeden, der nicht mit der blossen Ahnung
dessen, was Avohl hätte gemeint sein können, zufrieden gestellt ist; eine
von den Uebersetzungsweisen , von denen man mit Desdemona sagen
könnte :
"What doth your si)ecch import?
1 understand the fury in your words,
. But not your words.
Man merkt, es soll etwas recht Wüthiges gesagt werden, aber man weiss
nicht was. Bei keinem Herausgeber habe ich etwas über diese Zeile
gefunden; und doch ist es leicht möglich, dass sie dieselbe nicht alle
326 Zur Kritik, Erklärung und
auf gleiche Weise verstanden, oder, wenn das, fraglich, ob sie dieselbe
richtig aufgefasst haben.
Vor Allem hat man sich , um zu einer sichern Erklärung zu ge-
langen, deutlich zu machen, ob fury Object oder Subject ist.
Das Nächstliegende ist, fury als Object zu Aassen, und dann würde,
to breathe fury so gesagt sein, wie das so oft, selbst im gewöhnlichen
Leben gebrauchte lo breathe vengeance, ne respirer que vengeance, ne
respirer que fureur etc. Dass das Object bei dem Dichter auch in einem
Relativsatze, in welchem das Relativum Nominativ ist, dem Zeitwort
vorangeht (von den Fällen, in welchen es zwischen Hülfszeitwort und
Participium oder Infinitiv steht, spreche ich nicht), dafür finden sich
allerdings weniger Beispiele, als für das Vorangehen des Objects in an-
dern Sätzen; aber doch genug. So, ausser dem in der vorigen Num-
mer behandelten Verse des Sturms und den drei andern dort aus Rieh. II.
und Rieh. III. angeführten Stellen, Timon of Athens V, 5.
Here He I, Timon, who, alive, all living men did hate.
Hamlet n, 2.
Who this had seen, with tongue in venom steep'd,
'Gainst fortune's state would treason have pronounc'd.
Hamlet IH, 3.
The instances that second marriage move,
Are base respects of thrift, but none of love.
As you like it III, 2.
And thou, thrice-crowned queen of night, survey
With thy chaste eye, from thy pale sphere above,
Thy huntress' name, that my füll llfe doth sway.
Troilus and Cressida V, 2.
discourse,
That cause sets up with and against itself.
Ibid.
Within my soul there doth commence a fight
Of this stränge nature, that a thing inseparate
Divides more wider, than the sky and earth.
Othello I, 3.
And of the Cannibals that each other eat.
Ibid.
He bears the sentence well, that nothing bears
But the free comfort, which from thence he bears.
Uebersetzung Shaksperc's. 327
Tim. Ol" Atli. IV, 2.
To have liis ponip and all wluit slate Compounds.
K. Rieh. III., IV, 4.
My damned soii that thy two swect sons smother"d.
Äleich. of Ven. II, 7.
Avhich this proniisc carries —
wlio tlils insci'iption bears —
Sonie thero be that shadows kiss.
lind ausserdem noch au einigen andern Stellen. Der Grund, weshalb
die ausgebildctere und sorgfältigere Sprache sich dieser Ausdrucksweise
— mit Ausnahme mancher noch jetzt in der Poesie gestatteter Wen-
dungen — enthielt, ist derselbe, der den Römern im accusativus cum
infinitivo zwei Aceusative verwehrte: die dadurch entstehende Zweideu-
tigkeit. Shakspere selbst stellt diesen Vergleich an und belehrt über
diesen Punkt der Grammatik. Im II. Tlieile von Henry VI. liest der
Herzog von York die Weissagung, welche der Beschwörer Bolingbroke
dem aufgerufenen Geist in den Mund gelegt hat :
The duke yet lives, that Henry shall depose,
But him outlive and die a violent death ;
und dazu bemerkt der Herzog von York:
Why, this is just:
Ajo te, Aeacida, Romanos vincere posse.
Wenn also dergleichen Beispiele , wo dem Relativum , als Subject, das
Objoct unmittelbar und noch vor dem Verbum folgt, nicht allzuhäufig
sind, so kommen sie doch vor. Sprachlich lässt sich also die Auffassung
von fury als Object rechtfertigen ; und solche Zusammensetzungen, wio
lust-breathing, Tarq. and Lucr. 1 etc. sprechen auch noch einigermasson
dafür. Hätte Schlegel die Stelle so verstehen wollen, dann hätte er
vor dem Substantivum Wuth den Artikel fortlassen und überhaupt über-
setzen müssen:
Bei allem Blut, das jemals \\'uth geschnaubt.
Aber was für einen Sinn gibt, selbst bei diesem, deji Mund etwas voll
nehmenden und nicht selten (mit völliger Absichtlichkeit Shakspere's)
an den Bombast mancher älteren, z. B. Marlow'scher Stücke, erinnern-
den Bastard Faulconbridge, die Redensart: das Blut schnaubt Wuth?
Ich sollte meinen, diese Sprechweise: ,,Wuth schnauben" könne nur
mit Beziehung auf eine Person, nicht aber von ihrem Blut gesagt wer-
328 Zur Kritik, l^^rkliirun ü: und
den ; und eine Prosopopöie dieser Art sei nicht bloss kühn und gesucht,
sondern gradezu abenteuerlich. Anzunehmen aber, dass blood hier,
wie in dem Ausdrucke a young blood füra youth, von Personen
gemeint sei, hindert das dabeistehende Adjectivum all.
Nach meiner Ueberzeugung darf man die andre Erklärungsweise
nur hören, um die erstere sogleich zu verwerfen ; und sie entscheidet
zugleich, wie ich hoffe, die Frage, in welchem Sinne fury aufgefasst
Averden muss. Shakspere hat fury als Subject gefasst. Faulconbridge
sagt: Bei allem Blut, das jemals eine Furie angehaucht d.h. entflammt
hat, Fury, eine Furie steht ohne den unbestimmten Artikel, der be-
kanntlich nach ever, wie im Französischen nach jamais, de ma vie etc.,
fortbleibt. Der Dichter hat ohne Zweifel eine Stelle Ovid's in den
Metamorphosen IV, 490 vor Augen, wo es heisst:
Moustris exterrita conjux,
Territus est Athamas: tectoque exire parabant.
Obstitit infelix, aditumque obsedit Erinnys.
Nexaque vipereis distendens brachia nodis,
Caesariem excussit. Motae sonuere colubrae:
Parsque jacens humeris, pars circum tempora lapsae,
Sibila dant, saniemque vomimt, linguasque coruscant.
Inde duos mediis abrumpit crinibus angues;
Pestiferaque manu raptos immisit. At illi
Inoosque sinus Athamanteosque pererrant,
Inspirantque graves animas; nee vulnera membris
Ulla ferunt: mens est, quae diros sentiat ictus.
und nachher:
Dumque pavent illi, vertit furiale venenum
Pectus in amboi'um praecordiaqu^ intima movit.
Man vergleiche auch Metam. II, 800.
Jussa faclt; pectusque manu ferrugine tincta
Tangit; et hamatis praecordia sentibus imjilet
Inspiratque nocens virus, etc.
Die Schlangen der Tisiphone zischen bei Ovid und hauchen Zorn in die
Brust der Ino und des Athamas ; die Furie selbst giesst ihr Gift der
Raserei in ihr innerstes Herz, also in ihr Blut. In gleicher Weise ist
hier bei Shakspere von Leuten die Rede, deren Blut die Furie ange-
haucht und mit Wuth und Zorn entflammt hat. Und ähnlich sagt
Shakspere an einer andern Stelle. Henry VI., III. p. I, 2.
The sight of any of the house of York
Is as a fury to torment my soul.
Uebersetzung Shakspore's. 329
Die Furien waren die beliebtesten mythologischen Figuren für Anspie-
lungen uml liildor der älteren Bülmenstiioke ; daher logt Shakspere in
Pistol's Mund die "Worte, K. Henry IV., II. p. V, 4.
Rousc up revenge froiu ebon den witli feil AU'cto's snake.
und eben da, 3.
Then, Pistol, lay tliy head in Furios' lap.
und im Midsummer-niglit's dreani lasst er Pyramus ausrufen:
Approach, ye furies feil!
Um so mehr passt die Redensart nach der obigen Auslegung in den
Mund des Bastards, den Shakspere nicht selten an den braggardism der
älteren Bühnenstücke — aber mit unvergleichlichem Humor — anstrei-
fen lässt. Er lässt ilui auch selbst cracker, brabbler u. s. w. nennen.
Aber wie kommt das Zeitwort to breathe dazu, die Bedeutung zu
haben, welche in der eben vorgetragenen Erklärung ihm beigelegt wor-
den worden ist ? Alan denke, es stände im Texte :
By all the blood that evcr fury breath"d on,
und Niemand würde gegen den Ausdruck in obigem Sinne irgend etwas,
wenn auch Jeder sehr viel gegen den Vers, einzuwenden haben. Die
Präposition hat Shakspere, wie er es auch in andern Redewendungen
bisweilen thut, fortgelassen; so AU's well that ends well HI, 6.
I must go lock my twigs; he shall be caught;
statt to my twigs. Andre Dichter thun dasselbe; Milton: Who shall
find out bis uncouth Avay o'er the vast abrupt, ere he arrive the happy
isle; und besonders scheint dieser Gebrauch häufig gewesen zu sein am
Ende der relativen Sätze; wie K. John III, 1.
Bat thou hast sworn against religion,
ßy wliat thou swear't-t against the thing ihou swcar'st,
d. h. against tlie thing thou swear'st by oder which tliou SAvear'st by.
Die Ellipse: breath'd für breath'd on ist, nach meinem Dafürhalten,
nicht auflTallender , als die nicht den geringsten Anstoss erregende im
Macbeth I, 8.
And the very ports tlicy blow ;
— eine Stelle, die, wenn sie relativ gefasst wäre (the very ports that
oder which they blow), mit der unsrigen, nach meiner Erklärung, ganz
parallel liefe.
Hätte Schlegel die Stelle so verstanden, wie ich eben auseinander-
gesetzt habe, so hätte er übersetzen müssen :
330 Zur Kritik, Erklürung und
\ Bei allem Blut, das Furien je entflammt.
Er durfte nicht sagen: „die Wiith", denn die Wuth ist nicht das von
Aussen her wirkende Agens, sondern die im eignen Innern des Men-
schen hervorgebrachte Gemüthsbewegung, nicht das Hervorbringende,
sondern das Hervorgebrachte. Offenbar hat er hier, um zu verdecken,
dass er sich nicht zu entscheiden Aveiss , ob fury Subject oder Object
ist, so übersetzt, dass man aus seinen Worten das Eine wie das Andre
beinahe gleich gut — oder vielmehr gleich schlecht — herausnehmen
kann: gewiss in der Absicht, die Möglichkeit der doppelten Ausle-
gung auch seiner Uebersetzung zu erhalten, freilich auf eine Weise, die
beide Auslegungsarten völlig undeutlich und den Sinn unverständlich
macht.
Zu diesen Auslegungen kommt nun noch eine dritte, welche ich
nicht vorenthalten darf.
Als ich die obige Auseinandersetzung im Verein für das Studium
der neuern Sprachen gegeben hatte, ei'hielt ich von Herrn Prince-Smith
ein Schreiben, aus welchem ich die hierhergehörige Stelle heraushebe:
It occurs to nie that we have in English an obsolete expression :
,,to breathe a vein" — to bleed, to give vent to a vein.
But as it is evidently rathor to the blood than to the vein , that
vent is given , Shakepeare's words, yesterday evening discussed, may
perhaps be translated:
,,Bei allem Blut, das Wuth je fliessen liess."
This Interpretation appears to me to be quite admissible , and helps us
over the difficulty of regarding „fury" as an accusative preceding the
verb by which it is governed.
Aus meinem Antwortschreiben setze ich gleichfalls die betreffende
Stelle her.
As to the Interpretation given in your letter to the passage of
K. John lately discussed, 1 freely confess, that I cannot yet adopt your
opinion. In saying to breathe a vein, or to give vent to — , the mean-
ing is evidently to make a hole in — (properly for the purpose of
admitting air ; vent = hole, Troil. and Cress. V, 3. Look how thy
wounds do bleed at many vents;) and I do not know in what manner
a hole may be made in the blood, and therefbre suppose that no one
ever has said ,,to breathe blood" for „to let blood".
Uebersetzung Sbakspere's. 331
20) King John III, 4.
So, by a roaring tempest on tbe flood,
A whole armado of convicted sail
Is scatter'd and disjoin'd l'rom fellowship.
Dass Shakspere bei einzelnen Stellen Ovid vor Augen gehabt hat, habe
ich in dem vorigen Abschnitt angenommen. Am deutlichsten zeigt
es sein Tarquin aiul Lucrece, welches aus den Fastis (II, 721 ilg.)
erweitert ist und in welchem manche Ausdrücke, Beschreibungen und
Vergleiche Ovid's sich herauskennen lassen. Auch verglichen seine
Zeitgenossen Shakspere gern mit diesem römischen Dichter. Francis
IMoore in seinem ,,Palladis Taniia , Wit's Treasury: being the second
part of Wit's Commonwealth, London 1598" — ich citire aus Delius'
Vorrede zu King John — sagt: As the soule of Euphorbus was thought
to live in Pythagoras, so the sweet worthie soule ofOvid lives in melli-
fluous and hony-tongued .Shakspeare; witness bis Venus and Adonis,
his Lucrece, bis sugred sonnets among bis private friends. Mag Shak-
spere immerhin nur ,,for some tinie the free grammar school of his
native town" besucht haben, und mag er auch hier nur das wenige La-
tein, — the small Latin, wie sein Freund Ben Jonson sagt — welches
er kannte, habe erlernen können: immerhin lebte er in einem literarischen
Jahrhundert und mit Freunden, welche scholars waren ; aus deren Um-
gang er mit den poetischen Werken des Alterthums (in Uebersetzungen)
bekannt werden musste; und viele Ausdrücke und Anspielungen führe
nicht nur auf Ovid und Virgil, sondern auch auf andre Dichter, auf
Homer, vielleicht sogar auf die griechischen Tragiker. Oder führt etwa
nicht die Strophe in Venus und Adonis
At ihis Adonis sniiles, as in disdain,
That in each cheek appcars a pretty dlmple;
Love made those hollows, if himself were slain,
Ilc miglit bc buried in a tomb so simple:
Foreknowing well, if tliere he came to He,
AA'hy, there love lived, and there he could not die.
entweder auf Iloraz, Od. IV, 13, 5.
nie (Cupido) virentis
doctae psallere Chiac
pulchris cxcubat in gcnis;
oder auf Sophocles, Antig. 783.
'Eqws —
OS ev fifü.ay.cäs Tta^etaie
7'epviSoi tvi'v/^f-vEii — ?
332 Zur Kritik, Erklärung und
Denn die Vorstellung, dass Amor auf den Wangen (oder in den AVan-
gengrübclienj eines Mädchens (oder eines Jünglings) Wache hält (oder
stirbt und wieder auflebt), ist eine so eigentliümlich antike Spielerei,
dass sie nur auf dem Boden des Alterthums erwachsen sein kann. Der
Nachweis aller Stellen , in denen Shakspere etwas von den Alten ent-
lehnt, würde eine interessante Abhandlung geben und könnte allein den
hier kurz berührten Gegenstand erschöpfen.
Dann aber würde , zusammen verglichen mit der Chronologie der
einzelnen Stücke, das Ergebniss einer solchen Untersuchung hinwiederum
einiges Licht verbreiten können über Shakspere's Bildungsgang. Dass
Shakspere z, B. als er [Titus Andronicus] Two gentlemen of Verona,
den II. und III. Theil von Henry VI., schrieb, frisch von der Leetüre
von Ovid's Metamorphosen und Virgil's Aeneis kam, beweist wohl der
Umstand, dass in diesen Stücken die meisten Anspielungen auf die
Fabeln oder auf Ausdrücke jener Gedichte vorkommen; es beweist es
am Ende auch wohl der Gebrauch de& immer doch nur bei den Gebilde-
teren üblichen Worts metamorphosed , welches Shakspere auffallender
Weise in des clown Launce's Mund legt : was er schon in jener Zeit,
wo seine Objectivität sich eben glänzend entwickelte, schwerlich gethan
hätte, wenn Ovid's Gedicht es ihm selbst gerade damals nicht so sehr
geläufig gemacht hätte. In den auf die obengenannten Stücke fol-
genden Lust- und Trauerspielen nehmen die Anspielungen auf die
alten Dichter — selbst in den Dramen , in denen wegen des antiken
Gegenstandes dazu wohl Veranlassung wäre — schnell ab, um zu-
letzt fast ganz zu verschwinden ; und schon zur Zeit der Abfassung
des zweiten Theils von Henry IV. konnte er sich durch den Mund und
in der Person des Fähnrichs Pistol — ancient Pistol — über das frü-
her gebräuchliche Umherwerfen mit antiken Wortbrocken und Namen
lustig machen; denn das sollen doch die Worte: to Pluto's damned lake
— with Erebus and tortures vile — compare with Caesar's, and with
Cannibals and Trojan Greeks — Come, Atropos, I say und, ähnliche.
Ich muss einige von den Stellen, in denen Shakspere auf Ovid
und Virgil sich bezieht, hier hersetzen, um mit der Art und Weise,
wie er es thut, für die über diesen Abschnitt gesetzte Stelle aus King
John eine Parallele ziehen zu lassen.
Two gentlemen of Verona III, 1.
Uebersetzung Shakspere's. 333
Why, Phaethon [for thou art Merops sonj
Wilt thou aspire to guidc the heavenly car
And with tby daring folly burn the world?
I, 2.
Fire, that is dosest kept, burns most of all,
aus den Metamorph. IV, 64.
Quoque magis tegitur, tectus magis aestuat ignis.
1,3.
Thus have I shunned the fire for fear of burning
And drench'd nie in the sea, where I am drown'd,
mit Anspielung auf Icarus; Henry VI., II. p. III, 2.
With füll as many signs of deadly hate,
As lean-faced Envy in her loathsome cave.
(Ov. Met. II, 760); V, 1.
"Whose smile and frown like to Achilles spear
Is able with the change to kill and eure.
(Ov. Met. XII, 112.) Durch Virgil dagegen sind veranlasst Henry
VI., n. p. III, 2.
Bat Aeolus would not be a murderer.
ibid.
To sit and witch me, as Ascanius did,
When he to madding Dido would unfold
His father's acts, commenc'd in burning Troy.
K. Henry VI., IH. p. III, 2.
ril play the orator as well as Nestor,
Deceive more slily than Ulysses could,
And like a Sinon, take another Troy.
IV, 8.
Farewell my Hector and my Troy's true hope.
i. e. spes fidissima Teucrum.
Die Berücksichtigung der Art nämlich, wie Shakspere die alten
Dichter benutzte, scheint mir auch in kritischer Beziehung nicht ohne
Ausbeute zu sein. Nirgends ahmt Shakspere bloss nach; nirgends
übersetzt er eigentlich ; wenn er auch Sentenzen wie Worte , Beschrei-
bungen und Bilder entlehnt, so schafft er sie doch nach seiner Eigen-
thümlichkeit überall um, als wenn er Horazens in andrer Beziehung
ausgesprochene Vorschrift „ex Graeco fönte parce detorta" gekannt
und hierbei angewendet hätte. Aus dieser Anschauung heraus glaube
Arcliiv f. 11. Sprachen. XXIll. 22
334 Zur Kritik, Erklärung und
ich einen Ausdruck unsrer Stelle gegen unnöthige Conjecturen verthei-
digen zu können.
Statt des allerdings auffälligen convicted conjlcirte Pope collected
und Johnson nahm diese Lesart auf; Delius setzt gar connected. Aber
collected ist Avegen whole arniado überflüssig, connected nicht bloss
überflüssig, sondern, in dem gemeinten Sinne, schwerlich im Sprach-
gebrauch begründet. Collier's Exemplar hat convented ; und er selbst
erklärt den ganzen Ausdruck a whole armado of convented sail „a
fleet that had been convened at some port to bring aid to the Dau-
phin." Ob so etwas bei diesem ganz allgemein gehaltenen Gleichniss
gedacht werden dürfe, oder von dem Dichter gesagt werden konnte,
ist äusserst fraglich ; besonders da der Dauphin (oder vielmehr König
Philipp), der in jenem Augenblick in Frankreich ist, und noch dazu
bei Angers, gar keine Hülfe von der See her erwarten konnte. Es ist
dies ein Fall, in welchem Collier, sonst in seinen Bemerkungen sehr
vorsichtig und überlegt, sich wohl arg versehen hat. Dagegen ist con-
victed, vorausgesetzt nur, dass es die Bedeutung overcome, oder auch
nur confounded haben kann, völlig passend. Ehe die Schiffe von ein-
ander getrennt werden können, muss der Sturm ihrer Herr sein. Nun
hat zwar die oben angeführte Bedeutung das lateinische Zeitwort con-
vincere nicht; wohl aber das englische to convince; z, B. Cymbeline
I, 5. Your Italy contains none so accomplished courtier to convince
the honour of my mistress; — wenn es für eine so bekannte Sache der
Beispiele bedarf. Shakspere hat aber, dem gewöhnlichen convinced
(und con\ine'd gesprochen), hier convicted vorgezogen, nicht nur, wie
mir scheint, des an dieser Stelle wirksameren härteren Klanges Avegen,
sondern auch , um an das lateinische victus zu erinnern. Denn bei
diesem Gleichniss der zerstreuten Flotte hatte er ohne Zweifel die Be-
schreibung Virgil's im 1. Buche der Aeneide, V. 120 flg. von dem
Sturm und der Zerstreuung der Flotte des Aeneas im Sinne. Der
roaring tempest erinnert an Stridens aquilone procella; convicted sail
an Jam validam Ilionei navem, jam fortis Achatae, et qua vectus Abas
et qua grandaevus Aletes vicit hiems; is scatter'd and disjoined from
fellowship an Disjectam Aeneae toto videt aequore classem. Uebrigens
vertheidigt Todd , auch ohne auf die Virgil'sche Stelle irgend welche
Rücksicht zu nehmen, dennoch convicted gegen Johnson; und dafür
dass Shakspere dies Participium in der Bedeutung von overcome möchte
Ueberse tzuiig Shakspere's. 335
gebraucht haben, lies.-ie sich noch anführen, das.s er in dein Sinne von
überführt nur convict braucht, K. Rieh. III., I, 4.
Before 1 be convict by course ol" law.
Wie sehr aber Delins iiTle, wenn er zu dieser Stelle niederschrieb:
„Die Folio hat convictcd, was die Hei'ausgeber = besiegt erklären, eine
Bedeutung, die, wenn sie auch nachweislich wäre, in den Zusammen-
hang hier wenig passen wiirde, da nicl^t von besiegten, sondern von
durch Sturm zerstreuten Schificn die Rede sein kann:"' wie sehr, sag'
ich , Delius in dieser Bemerkung sich irrte , zeigt das Virgil'sche vicit
hiems: wenn Shakspere, wie, ausser Collier, die englischen Heraus-
geber jetzt wohl alle annehmen, convicted im Sinne von overcome ge-
schrieben hat, so meint er natürlich nicht besiegt von Feinden, sondern
besiegt vom Sturm.
Wer endlich nicht zugeben will, dass convicted mit Bezug auf die
Virgil'sche Stelle, um an victus zu erinnern, von Shakspere gebraucht
worden sei, der kann dennoch convicted beibehalten und verstehen con-
victed by the band of heaven, confounded. Ich, für mein Theil, gebe
der andern Erklärung unbedingt den Vorzug.
Denn ähnliche Wortbildungen aus dem Lateinischen wie convicted
aus victus hat sich, wie ich glaube, Shakspere auch sonst noch erlaubt.
So, to renege von nego unmittelbar statt des üblichen fo deny gebildet,
[Ich finde to renege ausser bei Shakspere nur aus einem Schreiben
Karl's I. angeführt, der es wahrscheinlich von Shakspere entlehnt hat.]
Ant. and Cleop. 1, 1.
bis captain's heart,
Which in the scuffles of great fights hatli burst
The buckles on bis breast, reneges all temper.
King Lear 11, 2.
such smiling rogues as these
Renege, affirm and turn tbeir halcyon beaks
With every gale and vary of their masters.
Alan wird leicht bemerken, dass zwischen diesem Worte (to re-
nege) und dem obigen (convicted) die Analogie der Bildung besteht,
dass, während wegen renegado aus nego renege, so im andern Falle
wegen to convince aus victus convicted gebildet worden ist. Auch
gehört hierher to allege für to alledge (in der Abküi-zung der dritten
Person 'leges für alleges) unmittelbar von allegare abgeleitet , um so
22*
336 Zur Kritik, Erklärung und Uebersetzung Sbakspere's.
passender, weil von einer Anführung aus dem Lateinischen die Rede
ist und nur weniger passend deshalb, weil das Wort einem Bedienten,
der noch dazu das Italienische für Latein hält, in den Mund gelegt
wird, Taming of the shrew I, 2.
Nay, 'tis no matter what he 'leges in Latin.
Dies Wort to allege für to alledge können freilich auch wohl schon
andre Schriftsteller vor Shakspere gebraucht haben; und ähnlich ist
es mit to convive, Troilus and Cressida IV, 4 gegen Ende:
First, all you peers of Greece, go to my tent;
, There in the füll convive we;
Avenigsten kommt dieses Wort in den gleichzeitigen Schriftstellern öfter
vor. Stelled aber, das viele Herausgeber für Stellated von dem latei-
nischen stellatus erklärt haben, K. Lear III, 7.
The sea with such a storm, as his bare head
In hell-black night endur'd, would bave buoy'd up
And qnench'd the stelled fires,
kommt ganz einfach von dem alten Zeitwort to stell = to fix; Tarquin
and Lucrece, 207.
To this well painted piece is Lucrece come,
To find a face where all distress is steU'd.
21) King Henry IV., I. p. V, 1. haben die Ausgaben, die ich
eingesehen habe:
In both cur armies, there is many a soul,
Shall pay füll dearly for this encounter.
Der zweite Vers ist unvollständig, da es doch gewiss Niemandem ein-
fallen wird zu betonen encounter. (Man vergleiche Cyrab. II, 5 and
she — Should from encounter guard.) Sollte nicht gelesen werden
müssen
Shall pay füll dearly for this here encounter.
Und vielleicht hat das unmittelbar darüber stehende there dem Ab-
schreiber oder Drucker Veranlassung gegeben, here wegzulassen.
Berlin. H. J. Heller.
Des
Martin US Poloiius
Chronik der Kaiser und Päpste,
in deutscher Uebersetzung
aus der ältesten Handsclirift des vierzehnten Jahrhunderts
S an -M arte (A. Schulz).
i
E i n 1 e i t u 11 g.
Die Sorgfalt und Genauigkeit in der Chronologie, die rück-
lialtlose Wahrheitsliebe, die fromme christliche Gesinnung, das
klare fiiessende Latein und der Geschmack in der Auswahl imd
Darstellung, welche des Marti nus Polonus Chronik der
Kaiser und Päpste auszeichnen, haben deren Verfasser
ebenso berühmt, als die Aufnahme oder Einschiebung der bösen
Geschichte von der Pap st in Johanna in dieselbe berüchtigt
gemacht. Das Erstere bezeugen die zahlreich durch fast ganz
Europa verbreiteten Handschriften seines Werkes (in Pertz'
Archiv für ältere Geschichtskunde Bd. III., V. und VII. sind
fünfzehn Manuscripte der ersten und mehrere sechzig der zwei-
ten Redaction namhaft gemacht), sowie die Anerkennung, welche
ihm von Zeitgenossen und Nachfolgern gezollt w^ard; das Letztere
bestätigt der alte und zur Zeit der Reformation auf's Neue ent-
brannte Kampf über die Wahrheit oder Fabel von der verrufe-
nen Päpstin, welcher auch später von katholischer Seite zu Gun-
sten der Reinheit des päpstlichen Stuhls wiederholt aufgenommen
ward.
Martin US, vom Prediger - Orden , und wie er sich selbst
nennt, Pönitentiar und Capellan des heiligen Vaters, und zwar
des Nicolaus III. , der auf Johann XXI. folgte , und nicht des
Innocencius IV., der 1254 starb, war weder aus Schottland,
noch aus Carsula oder Cascina in Umbrien, noch aus Böhmen,
sondern wahrscheinlich aus Troppau in Oberschlesien gebürtig,
und erhielt umthniasslich wegen dieser seiner Herkunft den Bei-
namen Polonus. ]\Iit Unrecht und in Folge von Verwechs-
lung hat man ihn zum Erzbischof von Cosenza oder Benevent
gemacht. Vielmehr ward er 1278 vom Papst Nicolaus III. zum
340 Martinus Polouus.
Erzbischof von Gnesen ernannt. Allein noch vor Antritt des
neuen Amtes starb er auf der Reise dahin im Jahre 1279 zu
Bologna, und sein Grabmal in der Kirche des heil. Dominicus
daselbst trägt die Inschrift : „Hie jacet Martinus Polonus ordinis
praedicatorum. Archiepiscopus Gnesnensis." Hieraus erhellt,
dass Alles, was die Chronik seit 1277 oder 1278 enthält, nicht
mehr von Martin selbst herrührt. Ihren ersten Entwurf hat er
später noch einmal, wenn nicht öfter, mit Zusätzen redigirt,
deren bedeutendster die Beschreibung der Stadt und die Ge-
schichte von der Erbauung Roms bis zu Octavianus Augustus
ist; von Jüngeren ist sie vielfach fortgesetzt und zum Theil
sehr bedeutend ergänzt und auso-edehnt worden." Daher weichen
die Handschriften der zweiten Redaction sowohl im Inhalt als
im Schlusspunkt ausserordentlich von einander ab ; diejenigen
aber werden als die lautersten Quellen zu erkennen sein, worin
er selbst die Absicht kundgibt, die Geschichte bis zum Papst
Nicolaus III. führen zu wollen.
Die lateinisch abgefasste Chronik ist bis jetzt dreimal
o;edruckt worden :
1) Coloniae, a. 1616. 4. von Fabricius Johannes Caesar-
ex vetustissimo Manuscripto der ersten Redaction ; sie beginnt
daher mit Octavian, und es fehlt ihr die Geschichte Roms seit
Erbauung der Stadt. Auch fehlt die Johanna Papissa, und an
der betreffenden Stelle eifert der Herausgeber in einer Anmer-
kung gegen die ketzerische Basler Ausgabe des Operinus,
welche dieselbe zum Aergerniss der heiligen Kirche aufge-
nommen.
2) Basileae, a. 1559. 4. mit dem Marianus Scotus zu-
sammen, per Jacobum Parcum, expensis Johannis Operini, nach
dem Euldaer und Vorauer Codex der zweiten Redaction.
3) Antwerpiae, 1574, 8; cum notis SufFridi Petri, nach
fünf verschiedenen Handschriften der zAveiten Redaction, und
durch eine grosse Menge zum Theil sehr ausführlicher Zusätze
die Baseler Ausgabe an Umfang weit überragend.
Die Bedeutung, welche dieser Chronik beigelegt ward, be-
kundet sich auch durch ihren Uebergang in die Volkssprache.
In Per tz' Archiv, 1. c. V, S. 192 wird einer florentinischen
Bearbeitung und Fortsetzung der ersten Redaction der Chronik,
Martinas Polonus. 341
der Stiulj zu Neapel erwähnt, die mit lo()8 endigt, wo Al-
brecht's 1. Erniorduno- mit kurzen Worten «i-edaeht wird. Nach
Bd. VII. Ö. {)6ß 1. c. ist. ein zweites Exemplar in Florenz, bibl.
Magliabecchiana, Nro. 48, Classe 48, palchetto I. aufgefunden.
Auch an mehreren deutschen Uebersetzungen und Be-
arbeitungen fehlt es nicht. Nach Wilken's Geschichte der
Heidelberger Büchersammlungen (Heidelberg 1817, Oswald) be-
finden sich darin unter den deutschen Handschriften:
a. (p. 35(3, 1. c.) Nro. CXXXVH. Pap. 15. Jahrh. 242 IM
Fol. mit Bildern, in drei Büchern: 1. „Hie vohet sich an des
buches capittel — wie Kome gebuwen ist vnd wer es zum ersten
aneving." 2. Von den heiligen Oertern. 3. Von den Päpsten.
b.^(p. 362, 1. c.) Nro. CXLIX. Pap. 15. Jahrh. gespult.
Col. 319 Bl. Fol. 1. Poncianus. 2. Unsere Chronik in drei
Büchern wie Nro. 137. Anfang: „Die zit vnd stunde vnd die
getad der Romischen keyser vnd der Bebeste so han ich bruder
Martin ein penitencier — disz gegenwertige Buoch gedichte etc."
c. (p. 364, 1. c.) Nro. CLIV. Pap. 15. Jahrh. 405 Bl. Fol.
1. Bl. : 1. Die Chronik in zwei Büchern. Anfang: „Die zit
vnd stund vnd die gctat der Romischen keiser und der bebst
so han ich bruder martin ein penitentzer vnd capellan vnssers
helligen vatters des bapsts disz gegenwirtig buch gedacht zu
nemende uz mancherley Croniken," etc. Dem ersten Buche,
das mit Heinrich VII. schliesst, sind gereimte Erzählungen von
den Kaisern Theodosius und Julianus angehängt.
d. (p. 369, 1. c) Nro. CLVII. Pap. 15. Jahrh. gespalt.
Col. 155 Bl. Fol. 1. Die Chronik. Bl. 1. Anfang: „Anno
domini MCCCLXVIH. Avanne es sich wol fuget, vnd nutz ist
zu wissen den maistern von der gotlichen kunst vnd ander ge-
lerten lewten,*' etc. Ende : „Hie hat die Cronik ain ende von
den keysern vnd von den pebsten vnd wart auz geschriben do
man zalt von Cristi geburt Tausent vierhundert iar vnd in dem
neundenvndzwantzigsten Jar. an dem hailigen crist habent von
mir bansen zückcniaünst."
Nach ^Ilttheilung des Herrn Bibliothckdirector, v. Lichten-
thaler besitzt die königl. Hof- und Staatsbibliothek zu München
zwar keine vollständige Uebersetzung der lateinischen Chronik
des ^lartin Polonus, wohl aber zwei Handscluiften des 15. Jahr-
342 Martinus Polonus.
Hunderts, in denen das Chronikon theilweise benutzt ist,
nämlicli :
e. Cgm. 696. Chronik von Rom vnd den romischen Kai-
sern (ausgezogen aus der Chronik des M. P. und fortgeführt
bis auf Kaiser Friedrich III. , 1440. Benutzt sind hi^r: L. I.,
c. 1. 3. 4. 5. 8. L. IL, c. 1. 2. und von c. 8 das Ende;
c. 4 fehlt ganz; ferner c. 5 — 18. L. III. fehlt ganz. Probe:
„In der iar zall als rom gestanden was funff hundert vnd XL
iar da wurden gesant lucius palo tarentinus nardo radhern von
rom gen hanibal vnd stritten mit in pey den gassen tanasa vnd
verlorn den streitt vnd wurden erschlacjen XLIllI tausent man
der romer. da mochten die romer nicht mer gestreitten wan in
dem streitten wurden erschlagen emilius paulus Rathern ares
vnd die hern von dem pretorio vnd der senat dreyssig edel hern
vnd L tausent ze fusz vnd L tausent ze rosz vnd farco ain
rather floch zu neuwfio mit L ritter vnd die romer hetten kainen
zweifFel es wer der jungest tag ir stat gewesen vnd auch nach
des signust zu band köret hanibal zu der statt zu ainer ge-
zugnusz ains grosens sigs. (S. Fol. XIII b. unsers Manuscripts.)
f. Cgm. 316. Hier sind benutzt: L. I., c. 2 auf Fol. 1 v.
(nach der Baseler Ausgabe). Von Fol. 12 v. an beginnt der alte
Text des M. P. in der Cölner Ausgabe von 1616, Fol. 4b.
Dieser Cölner Ausgabe folgt die Uebersetzung bis Fol. 90 v-,
dann folgt die Fortsetzung bis a. 1435. „Hie hat die Cronik
ain ende von den kaysern vnd von den pebsten vnd wart auz
geschriben do man zalt von Christus gepurt Tausent vierhun-
dert vnd in dem funff vnd dreyzzigesten jar an dem nechsten
mentag nach Esto michi. — Hernach vindet man geschriben
von mangerlay sachen die auz andern püchern genomen sint
vnd auch gerecht sint zu dem ersten also," etc. etc. (z. B. aus
Conrad v. Megenberg, Buch der Natur). Probe: „Von Grcr
gorio dem VH. von Tuscan geparn. Fol. 83 v. (M. Pol. L. IV.,
c. 167). Gregorius der sibent was geporen von Tuscan der
l)csaz den stul zwelff iar ainen manat vnd vier tage vmb sein
loblich leben Avart er ze pabst erweit. Disen pabst vieng Cen-
cius ain prefecte an der Cristnacht do er die ersten messe ge-
sang in vnser frawen munster der grozzern das da haizzet ze
vnsers herrn crippen vnd lait in in seinen Türen vnd die Romer
Martinas Pol onus. 343
prachen desselben nacht den Türen vnd losten den pabste vnd
vertreiben Cencium von der stat. Diser pabst macht ain con-
ciliuni von zehen vnd hundert pyschoffen in dem er ze panne
tet den kaiscr hainrich den dritten wanne er der romischen kir-
chen ir avgen wolt zertaylt habn vnd darnach kom er zu dem
pabst zc Lamparten vnd do stund er mit plozzcn füzzen auf
sue vnd eyse etwe lange vmb puz vnd wart doch kavm ledig
von dem panne. Darnach besamneten sich vil pyschofF ze Ka-'
venna die auch der pabst gepannet het vnd machten ze pabst
Gumbertum den pyschoff von Ravenna mit des kaisers rahte
vnd nanten in dementem" (die entsprechende Stelle muss in
unserm jNIanuscript auf den verlornen Blättern gestanden halicn).
Nach ferneren iVnfragen bei den Bibliotheken zu Wien,
München, Leipzig, Wolfeubüttel und Berlin sind daselbst fernere
derartige Manuscripte nicht vorhanden und bekannt; zu beson-
derer Freude gereichte es mir daher, aus der Bibliothek des
verstorbenen Geh. Eeg.-Rath Lepsius zu Naumburg a. d. S.
das Manuscript einer Aollständigen üebersetzung des M. P. mit
der Erlaubniss zu dessen Herausgabe zu erhalten, welches
alle übrige Manuscripte dieser Art an Alter bei
Weitem übertrifft.
Es ist ein Pero-amentcodex in kl. Folio von 149 Bl. in
SchAveinsleder gebunden, worin jedoch leider Bl. 74 — DG incl.,
Bl. l:2!l, wo die Papissa ihren Platz hätte finden müssen, und
Bl. 137 — 144 incl. fehlen, und vor dem Einbinden schon gefehlt
haben, da »Spuren gewaltsamen Ilerausreissens, ausser bei Bl.
129, nicht sichtbar sind. Die Schrift ist neugothische Minuskel,
mühsam, mit der grössten Genauigkeit, ganz gleichförmig und
sehr sauber von einer Hand geschrieben. Es kommen nur we-
nige und einfache Abkürzungen in der gewöhnlichen Weise vor,
ein Apostroph für die Endungen er und us , der Querstrich
über der Silbe für n, d, um und am, z. B. in von, vnd, eccle-
siara u. s. av. Die Ueberschi-iften sind roth, die Initialen roth
oder blau; andre Farben kommen nicht vor. Die Sätze sind
durch rothe oder blaue Trennungszeichen geschieden ; die Zeilen
sind interliniirt ; jede Seite ist in zw^ei Spalten getheilt, die durch
Seitenlinien einirefasst sind. Das Pergament ist stark und nicht
eben fein. Nach Form der Schrift imd Sprache kann der Co-
344 Miirtinus Polonus.
dex niclit lange nach der Zeit geschrieben sein, bis zu welcher
er die Geschichte selbst führt. Die Kaiser- und Papstgeschichte
ist nicht, wie in mehreren lateinischen Handschriften, neben ein-
ander, sondern hintereinander geschrieben, die der Kaiser voran,
und sie reicht bis zu Kaiser Ludwig's IV. Tod a. 1347, die der
Päpste bis Clemens V. u. 1315.
Fol. LXVllII. macht das Manuscript ohne Weiteres einen
Sprung von 1273 bis 1308 und beginnt mit Heinrich VH. eine
von Martin Polonus und dessen Fortsetzern ranz unabhänffig-e
Erzählung. Wäre diese vom Schreiber selbst verfasst, so hätte
er sich wohl als Autor zu erkennen G-e^eben. Gleichwohl ist
es mir nicht gelungen, einen lateinischen Chronisten zu ermit-
teln, den er hier übersetzt haben könnte. Albertinus Mussatus,
bist. Henrici VlI., Chron. Ludovici IV. bei Perz, desgleichen
des Herward ab Hohenburg und was sonst an Chroniken dieser
Zeit bei Reuber, Burmann, Eccard, Pistor, Muratori u. s. w.
zu finden, steht mit dieser Erzählung ausser allem Zusammen-
hang , und scheint sie in der That für ein literarisches
Novum gelten zu dürfen. — Es würde der Verlust der Blätter
74 — 96 mehr zu beklagen sein, wenn es nicht sehr wahrschein-
lich wäre, dass der Schreiber wirklich seine Kaisergeschichte
mit Ludwig's IV. Tode geschlossen habe; indem er sie schon
weiter als die der Päpste geführt hat und in dem vorgesetzten
Index sich kein jüngei'er Kaiser als Ludwig IV. verzeichnet
findet. Ja es werden überhaupt die Fol. 74 — 96 im Index gar
nicht allegirt, daher wohl anzunehmen, er habe die fehlenden
Blätter ganz leer gelassen , um Raum zur Fortsetzung der
Kaiserchronik zu lassen, Avie solches öfter vorkommt, und auch
hier am Schluss der Papstchronik die volle Seite zwar liniirt,
aber nur bis zur Hälfte der zweiten Colonne beschrieben ist,
ohne dass ein Schlusszeichen oder gar eine Schlussbemerkimg
hinzugefügt wäre.
Sagittarius (Introduct. in bist, eccles. p. 72; 1694, 4.)
bemerkt: „Ceterum superiori annoetiam vidi antiquum exemplar
Germanice versum inque membrana concinne satis scriptum,
Coburgi apud Johannem Ludovicum Zollmann ICtum summe
doctum ac prudentem, et Consiliarium Saxonicam amplissimum,
Martinus Polo aus. 345
qui dono id accepcrat ab Augusto Carpzovio, pracfecto Bran-
deiiburgico-^Magdeburgensi in iiionastcrio ad Salain Dei Gratia
dicto. Et dignus profecto hie est über, qui sive scparatim,
sive cum aliis ejusceniodi scriptis prodeat." Die von ihm an-
geführten Anfangs - und Schhissworte stimmen so genau mit
unserm Manuscript, dass es kaum einem Zweifel imterliegt, es
sei eben dasselbe, welches er gesehen, und der Amtin. Carpzov
in dem damals vor nicht lanij;er Zeit aufgehobenen Kloster
Gottesgnaden bei Calbe a. S. an sich genommen. Zur Er-
mittelung, ob es etwa aus dem Scriptorio dieses Klosters her-
vorgegangen , habe ich die im hiesigen königl. Provinzialarchiv
befindlichen Urkunden dieses Klosters eingesehen, deren Hand-
schriften aus der Mitte des 14. Jahrh. aber schon so wesentlich,
und zwar in Verschlechterung, von der Schrift unsers Manu-
scripts abweichen, dass es damit keinen Zusammenliang haben
kann; seine Sclu'iftzüge gleichen vielmehr den besten des di-ei-
zehnten Jahrhunderts, als den Jüngern des vierzehnten. Wie es
in die Hand des letzten Besitzers gekommen , ist nicht zu er-
mitteln gewesen, indem eine Notiz sicli darüber nicht vorgefun-
den, und sind auch Bemerkungen über frühere Besitzer nicht
darin befindlich. Die Sprache ist hochdeutsch mit einigen we-
nigen und ziemlich folgerecht festgehaltenen niederdeutschen For-
men , die Verwandlung des a in o häufig , doch nicht immer,
z. B. Ochen, gemolet, noch (nach), Avont (für want, wähnt);
die augenscheinlich falsch geschriebenen Namen sind dennoch
deutlich geschrieben, und eigendiümlich ist ihm, oft für Teutsche
oder AUeraannen Tuscan, und für Gothen Schotten zu schreiben,
auch mit Tuscan andre wilde Völker zu bezeichnen. Welche
Ausbeute die Geschichte und Sprache aus dieser Schrift zu
ziehen vermag, müssen wir an andrer Stelle den Fachgelehrten
überlassen, und beschränken uns nur auf einen kleinen Auszug
der besonders auffälligen AVörtcr, mit der Bemerkung, dass in
der Regel das Manuscript den lateinischen Text in höchst prä-
cisem und treffendem Kerndeutsch wiedergibt, in einigen Stellen
sich aber auch eine solche Unkcnntnisss des Lateinischen, Flüch-
tigkeit und jNIissverstand kund gibt, dass es schwer zu erklären
bleibt, wie dieselbe Person so Treffliches und daneben so Mangel-
haftes wiederzuiicben vermochte.
346
Martinus Pol onus.
Antloz. vmb antloz. devotionis caus.
107 a.
ayden. maritus filiae. 20c-
Begrebede. sepultura. HO''-
besagen, accusare. 109 c.
besatzen. statuere, praecipere.
bescheiden lieb, rationabilis. lOG-i-
b et Uten, exponere. 120 ^•
betz. pacis osculum. 114b.
bistel. postes. 48a.
bit zeichen, exenipluni. llO".
Greiz, circus.
Ehte. persecutio.
eimer. urna. 22 c
einberikeit. uuio. lOSd.
endellch. dih'gens. 25 J-
entenken. cooperire. 42c.
er lieh, gloriosus. solenniter. 103 b-
ertbidme. terrae motus. 37c.
erwerg. venerabilis. 43c.
ey gen Schaft, servitus. 122»-
Freyiich. libere. G9b.
furbrucke. porticus. 127 d.
Gazzen. vicus.
geiegde. venatio.
gemachtsam. commodus. 25a.
gerkamern. sacrarium. 123».
gestan. favere. 130c.
geuelHg. apertus. 8a.
gewere. verus. 23 c
gezweiulinge. gemelli. S^^-
girig. gyrig. avarus. 110b.
girikeit. avaritia. llOb.
Heimelich, societatem requirens.
I6c.
hergraf. patricius. 44''.
hinder sich farn. secedere. Il6c.
hole, crypta. 109fi-117b. voragoGd.
Kint dez Wunsches, fortunatus.
1 9 c.
kretze. cantus (pullorum , galli).
104 c.
krieg, schisma.
Lantherren. optimates. 49a. hä-
renes. 147 c.
lauben. tugurium. ßb.
lute. gens.
Malatscher. leprosus. 122b. i22d. '
m ans Iaht, homicidium. 40 c.
missehalten, dissentire. 103».
munster. monasterium. 116». I20b.
basilica, ecclesia.
mutte. modius. Ißc.
Naht werk. s. werkwesen.
nuwen. nisi.
Partige. schisma. 53a.
patte. patrinus. 104d.
poj'en. compedes. 10».
Rat her. Senator,
raven. succidere. 38 d-
rilich. magnificus. 24 fi. liberalis. 25 d.
ritte (m.) febris. 47b.
ritter. miles.
ritt er Schaft, militia. milites.
roch, foetor. 11 b.
runs. alveus. 2b.
ruwer. poenitens. llGc.
Sent, sende, synodus.
schirmen, dimicare. 25»-
schirmer. gladiator. 24b.
sitik. morosus. 19'1-
s mache it. blasphemia. 33 b.
stören, destruere.
suhte, suchte, infirmitas; morbus,
suther. Inquisitor. 120 b.
Tedingen, tractationes. 145b.
tote, patrina. 104 J.
trom. trabs. 118b.
Unberhaft. steriHs. 5 7 »•
Vb erhör er. auditor. 100»-
vberlegen. deponere. 41 d.
verbos-en. deformare. 20c. depra-
vare. 25 »•
verdacht, externiinatus. 37c.
vergeben, gratis. Sc venenare. 1 1 c
veriehunge. confessio.
verrihten. regere. 119b.
ver rügen, rügen, accusare. lOßb.
vertragen, parcere (judicio fiituro).
40».
vmb gen. ambire. I08b.
vmb reiten, anibire. 65 d.
IM a r t i n ii s I* o 1 o n u s. 347
vnge machtsam. incommodus. 25'>- wilen. veliim. 105 ''•
vorster. forostarius. 51»- Wirtschaft, convivium. 59»-
Wandelung, translatio. 126:» Zertriben. exercere. 26'^-
werk wesen. natura, operatio(Clnisti) zucken, rapere. 3 "J«
43''». Zukunft, adventus. lOOc
werung. duratio. 2«- ■ zuriten. iniiietus 14»-
widersetzzen. restitüere. 119-»- zuvurt. adventus. 09 1^-
Die Vergleichung des Manuscripts mit den drei lateinischen
Drucken hat ergeben, dass die Uebersetzung'nach keiner der
bei diesen Ausgaben benutzten Handschriften gefertigt ist, son-
dern ihr eine andre, jedoch der zweiten Redaction, zum Grunde
liegt. Um jedoch ihr Verhähniss zu jenen Ausgaben näher an-
schaulich zu machen, ist Alles, was unser Manuscript
mehr hat, als die eine oder die andre Ausgabe, cursiv ge-
druckt, und am Kande die Au.'<gabc (und zwar durch A., d. h.
Antwerpener; B. , d. h. Baseler; C. , d. h. Cölner) bemerkt,
gegen welche das Mehr sich findet. Wenn dagegen die eine
oder andre Ausgabe mehr hat als das Manuscript, ist es durch
A-|-. B-|-- ^ -\-- firii Kande bemerkt. Somit wird dieser Ab-
druck hierdurch auch den Besitzern der lateinischen Drucke und
Manuscripte von Werth sein , indem die Zusätze der zweiten
zur ersten Kedaction des Lateinischen dadurch zugleich mit er-
sichtlich werden. Diese Zusätze selbst aber vollständig in den
Noten nachzutragen , Würde nicht bloss , besonders wegen der
höchst ausgedehnten Zusätze der Antwerpener Ausgabe, fast
den doppelten Raum dieser Schrift in Anspruch genommen,
sondern auch eine fast vollständige Revision der Texte der la-
teinischen Ausgaben erfordert haben, wozu andre Hülfsmittel
und Kräfte gehören, als der Herausgeber zu bieten vermochte.
Gleichwohl hoflPt er auch in dieser Gestalt damit einen willkom-
menen Beitrag zu einer künftioen kritischen Ausjjabe des la-
teinischen ^Nlartinus Polonus geliefert zu haben, avozu ein reicher
Apparat in den Collectaneen von Sagittarius auf der Bibliothek
zu Wolfenbüttel bereits aufgesammelt ist: indem die Ueber-
setzung der Zeit des Autors noch so nahe steht, dass er nur
eins der ältesten Manuscripte desselben benutzt haben kann. —
Die Marginalien zeigen, dass die Uebersetzung sich dem Fuldaer
Codex der Baseler Ausfi;al)e am meisten nähert, oeoen die Cölner
mancherlei mehi-, gegen die Aiitwerpener aber unendlich weniger
348 Marti nus Pol onus.
hat, und in der Chronologie oft von allen dreien merklich ab-
weicht, obwohl auch in diesem Punkt die lateinischen Hand-
schriften die auffallendsten Differenzen bieten. Eben deshalb
schien es hier von Erheblichkeit, dieselben kurz in den Noten
zu vermerken. Der deutschen Schrift des Manuscripts ist für
den Druck die lateinische aus graphischen und typischen Grün-
den vorgezogen , und sind auch die kleinen deutschen Zahlen-
buchstaben durch die grossen römischen Zahlen wiedergegeben.
Die übrigens nie zweifelhaften Abkürzungen sind vollständig
ausgeschrieben. Da das Manuscript um fast ein Jahrhundert
älter als die andern bekannten Uebersetzungen , so niusste die
grösste Treue beim Abdruck erster Grundsatz sein , weshalb
ich mir auch bei offenbaren Schreibfehlern keine Aenderungen
erlaubt habe, indem auch sie zur Charakteristik der Handschrift
gehören; noch weniger wären Conjecturen gestattet gewesen.
Was in Parenthese steht, ist entweder eigne Correctur des
Schreibers in der Linie, oder am Rande Zusatz von seiner Hand.
Schliesslich kann ich nicht unterlassen, den geehrten Biblio-
thekvorstehern, Herren Geh. Reglerungs-Rath Pertz zu Berlin,
F.Wolf zu Wien, v. Lichtenthaler zu München, Schöne-
mann zu Wolfenbüttel und Herrn Prof. M. Haupt zu Berlin
den verbindlichsten Dank für die mir so äusserst bereitwillig
gewordene Unterstützung und gegebene Auskunft hier öffentlich
auszusprechen.
Magdeburg.
Der Herausgeber.
M a r t i 11 u s P o 1 o n u s.
Diz ist der kqiserTauel mit iren
Folia.
namen gesetzzet nach dem
II. Fridericus .... LXV.
Abece.
I. Focas . .
. XL.
I. Adrianus . .
I. Anthonius . .
II. Anthonius . . .
III. Anthonius . . .
FoUa.
. XXIII.
. XXIIIIv.
. XXVI.
. XXVI.
I. Gayus .
I. Gordianus
I. Gallus . .
1. Gracianus
. XX.
. XXVI.
. XXVH.
. XXXII.
I. Alexander . . .
. XXVI.
I. HeHus . .
. XXV.
I. Aurelianus . .
. XXVII.
I. Honorius .
. XXXIIL
I. Ai-chadius . .
. XXXII.
I. Heinricus
. LHI.
I. Anastasius. . .
. XXXVI.
II. Heinricus
. LVL
II. Anastasius. . .
. XLIIIL
ni. Heinricus
. LVII.
I. Arnolfus . . .
. LL
IV. Heinricus
V. Heinricus
. LVin.
. LX.
I. Berngarius. .
. LH.
VI. Heinricus
. LXIII.
n. Berngarius. . .
. LH.
VH. Heinricus
. LXVIIIL
III. Berngarius. .
. Lni.
VIII. Heinricus
. LIII.
IUI. Berngarius. .
. LIII.
I. Julianus
. XXX.
I. Claudius . . .
. XX.
I. Jobinianus
. XXXI.
I. Commodus
. XXV.
I. Justinus
. XXXVL
IL Claudius . .
. XXVIL
I. Justianus
. XXXVII.
I. Clarius . . .
. XXVIII.
IL Justinus
. XXXVIII
I. Constantinus .
. XXIX.
II. Justianus
. XLIII.
II. Constantinus .
. XXX.
in. Justianus
. XLIHI.
III. Constantinus .
IV. Constantinus .
. . XLI.
. XLIL
I. Karolus.
II. Karolus.
III. Karolus .
. XLVIL
V. Constantinus .
VI. Constantinus .
. XLV.
. XLVII.
. . LI.
I. Cunradus . .
II. Cunradus . .
III. Cunradus . .
. . LH.
. LVI.
. . LXI.
I. Leo . .
IL Leo . .
III. Leo . .
im. Leo . .
. . XXXV.
. . XLHI.
. . XLIIIL
. . XLVIL
I. Domicianus .
, . XXI.
I. Ludwicus
. . XLVIII.
I. Decius . . .
. . XXVIL
I. Lotharius
. . XLVIIIL
I. Dyoclecianus .
. . XXVIII.
IL Ludwicus
. . L.
I. Eraclius . .
. . XL.
III. Ludwicus
nil. Ludwicus
. . LH.
. . LXXIL
I. Florianus . .
. . XXVIII.
IL Lotharius
. . LHI.
I. Fridericus . .
. . LXII.
ni. Lotharius
. . LXI.
Archiv f. n. Sprachen. ]
ÜOII.
23
350
Martin US Polonus.
I. Marcus .
IL Martinas
I. Maximianus
I. Martianus
I. Mauricius
I, Michahel
I. Nero . .
I. Nerua .
I. Nychoforus
I. Octauianus
I. Otto. .
II. Otto. .
III. Otto. .
mi. Otto. .
I. Phylippus
I. Probus .
I. Plorianus
II. Phylippus
I. Seuerus.
I. Tyberius
I. Tytus .
I. Trayanus
I. Tacius .
1. Theodosius
II. Thyberius
III. Thyberius
II. Tneodosius
III. Theodosius
I. Valwa . .
I. Vespasianus
I. Valerianus .
I. Valeiicianus
I. Valens . .
I. Valerius
I. Zeno . . .
Folia.
XXIIII.
XXVI.
XXVI.
XXXV.
XXXIX.
XLvn.
XX.
XXIL
XLVII.
XVIII.
LIII.
Lim.
LV.
LXIIII.
XXVI.
XXVIII.
XLIIII.
XXV.
XX.
XXI.
XXII.
XXVIII.
XXXII.
XXXIX.
xLin.
XXXIIL
XLV.
XXL
XXVII.
XXXL
XXXL
XXIX.
XXXV.
Daz ist die Tauel und die zal
der bebste nach dem Abece.
Folia.
L Cristus LXXXXIX.
I. Anacletus .... CII.
I. Alexander .
I. Anicetus .
I. Antbereos .
I. Anastasius .
II. Anastasius .
I. Agapitus .
I. Agathe . .
I. Adrianus .
n. Adrianus .
111. Adrianus .
m. Anastasius .
IL Agapitus .
IL Alexander .
im. Anastasius.
IUI. Adrianus .
in. Alexander .
IUI. Alexander .
V. Adrianus .
I.
IL
I
III.
IIIL
V.
VI.
IL
HL
VII.
III.
IIIL
V.
I.
VIII.
VI:
VII.
VIIL
IX.
XL
X.
Bonifacius .
Bonifacius .
Benedictus.
Bonifacius.
Bonifacius .
Bonifacius .
Bonifacius .
Benedictus.
Benedictus.
Bonifacius .
Benedictus .
Benedictus.
Benedictus.
Bonifacius
strichen)
Bonifacius
Benedictus,
Benedictus.
Benedictus.
Benedictus,
Benedictus.
Benedictus
I. Cletus .
I. Clemens
I. Calixtus
(dur
ch-
Folia.
CIIL
CV.
CVIII.
CXIIIL
CXVIL
CXVIIL
CXXII.
CXXVI.
cxxx.
cxxx.
CXXXIL
CXXXII.
CXXXVII.
CXLL
CXLL
CXLII.
CXLV.
CXLVII.
CXV.
CXXII.
cxx.
CXXI.
CXXI.
CXXII.
CXXIII.
CXXIIL
CXXIII.
CXXXIIL
CXXIX.
CXXXL
CXXXIIL
CXXIL
CXLVIII.
CXXXIIL
CXXXIIL
CXXXV.
CXXXVI.
CXLVIIIL
CXXXVII.
CI.
CIL
CVII.
M a 1- 1 i 11 u s P o 1 o IUI s.
351
Folia.
Folia.
I.
Cornelius
. . . cyiii.
VII.
Gregorius . .
. CXXXVII I
I.
Celestinus
. . . CXIIII.
VIII.
Gregorius . .
. CXLHL
I.
Constaiitiiu
js . . . CXXIIII.
IX.
Gregorius . .
. CXLHIL
n.
Constantiii
US . . . CXXVI.
X.
Gregorius . .
. CXLVL
ir.
Giemen.'^
. . . CXXXVII.
II.
Gelasius . .
. CXL.
ir.
Calixtus
. . . CXL.
II.
Celestinus
. . . CXLI.
I.
Hylarius . .
. CXVI.
III.
Celestinus
. . . CXLIII.
I.
Honorusda . .
. CXVIII.
IUI.
Clemens
. . . CXLVI.
I.
Honorius . .
. CXXI.
IUI.
Celestinus
. . . CXLV.
II.
Iloiiorius . .
. CXL.
VII.
Clemens
. . . CXLIII.
IIL
Honorius . .
. CXLIIII.
V.
Celestinus
. . . CX1.VIII.
IIIL
Honorius . .
. CXLVIIL
V.
Clemens
. . . CXLVIIII.
I.
Ignius . . . .
. Clin.
I.
Dyonisius .
. . . CIX.
I.
Julius . . .
. CXI.
j.
Damascus .
. . . CXIII.
I.
Innocencius .
. cxniL
I.
Deus dedit
. . . cxxr.
I.
Johannes . .
. cx\in.
I.
Deo datus
. . . CXXII.
II.
Johannes . .
. cxvni.
I.
Damasus
. . . CXXXVII.
IIL
Johannes .
. CXIX.
IIU.
Johannes . .
. CXXII.
I.
Buaristus
. . . CHI.
V.
Johannes . .
. CXXHI.
I.
Eleutherius
. . . CVI.
VL
Johannes . .
. cxxnii.
I.
Enticianus
. . . CIX.
VII.
Johannes . .
. CXXIIIL
I.
Eusebius
. . . CX.
VIIL
Johannes . .
. cxxx
I.
Egenius
. . . CXXVIII.
IX.
Johannes . .
. CXXXL
II.
Egenius (ro
th durch-
X.
Johannes . .
. CXXXII.
strichen
).
XI.
Johannes .
. CXXX.
III.
Egenius .
. . . . CXLI.
XII.
Johannes . .
. CXXXIII.
xin.
Johannes (roth <
urchstrichen).
I.
Fabianus
. . . CVIIl.
XI IH. Johannes . .
. CXXXIII.
I.
Feli.x .
. . . CIX.
XV.
Johannes . .
. CXXXHII.
II.
Felix
. . . CXIL
XVI.
Johannes . .
. CXXXHII.
m.
Felix .
. . . CXVII.
XVII.Johannes . .
. CXXXIIIL
IUI.
Felix .
. . . cxvin.
XVIII.Johannes . .
. CXXXV.
11.
Fabianus
. . . cxx.
XIX.
Johannes .
. CXXXV.
I.
Formosus
. . . CXXXI.
XX.
Johannes . .
. . CXXXVI.
XXI.
Johannes .
. CXL VII.
I.
Gayus .
. . . CIX.
n.
Innocencius .
. . CXL.
I.
Gelasius
. . . CXVII.
in.
Innoceneius .
. CXLHI.
I.
Gregorius
. . . CXX.
mi.
Innocencius .
. CXLV.
II.
Gregorius
. . . CXXIIII.
V.
Innoceneius .
. CXLVII.
III.
Gregorius
. . cxxv.
IUI.
Gregorius
. . . CXXVIII.
I.
Linus . . .
. . CL
V.
Gregorius
. . . CXXXI III.
I.
Lucius . . .
. . CVIIL
VI.
Gregorius
. . . CXXXVI,
I.
Liberius . .
. . CXH.
23*
352
Martinus Polonus.
Folia.
I. Leo CXV.
n. Leo cxxm.
m. Leo cxxm.
nn. Leo CXXVIL
V. Leo CXXIX.
VL Leo CXXXI.
Vn. Leo CXXXIL
L Laudo CXXXIL
VliL Leo CXXXIII.
IX. Leo CXXXVIL
n. Lucius CXLL
IIL Lucius CXLIL
I. Marcellinus .
. . CIX.
I. Marcellus . .
. . CX.
L Marcus . . .
. . CXI.
,1. Martinus . .
. . CXXXI
n. (Martinus ausradirt.)
III. Martinus .... CXXXII.
IUI. Martinus .... CXLVIII.
V. (Martinus ausradirt.)
I. Nycolaus
n. Nycolaus
m. Nycolaus
nn. Nycolaus
L Pius . .
I. Poncianus
I. Pelagius
I. Paulus .
I. Pyscalis
II. Paulus .
II. Pyscalis.
n. Pelagius
I. Romanus
I. Syxtus .
L Sother .
I: Stephanus
IL Syxtus .
CXXIX.
CXXXVII.
CXLVII.
CXLVIII.
cmi.
CVIL
cxrx.
CXXVI.
CXXVIII.
CXXX.
CXXXIX.
cxx.
CXXXI.
CHI.
cv.
cvin.
cvin.
I.
I.
m.
I.
I.
I.
I.
I.
n.
m.
IUI.
I.
V.
VI.
n.
VII.
VIII.
II.
III.
IX.
Siluester
Syriens .
Syxtus .
Simplicius
Symachus
Syluerius
Seuerinus
Sysinnus
Stephanus
Stephanus
Stephanus
Sergius .
Stephanus
Stephanus
Sergius .
Stephanus
Stephanus
Siluester
Sergius .
Stephanus
I. Telleforus
I. Theodorus
IL Theodorus
I. Victor .
I. Urbanus
I. Virgiiius
I. Valentinus
n. Victor .
III. Victor .
II. Urbanus
III. Urbanus
IUI. Urbanus
I. Christoforus
I. Zozinaus. .
I. Zepherinus
I. Zeno . .
I. Zacharias .
FoHa.
CXL
cxin.
CXV.
ex VI.
CXVIL
CXVIII.
CXXII.
CXXIIII.
cxxv.
CXXVI.
CXXVIL
cxxm.
CXXX.
cxxxr.
cxxxv.
CXXXIL
CXXXIL
CXXXIIII.
CXXXI.
cniL
CXXIL
CXXXI.
CVL
CVIL
CXIX.
CXXVIII.
CXXXVII.
CXXXVIII.
CXXXIX.
CXLIL
CXLVL
CXXXI.
cxini.
CVL
cxxni.
cxxv.
Martinus Pol onus. 353
I«
Wanne ez sich wol fuget vnd nutze ist zu wissen
den meistern von der «-otlichen kunste . vnd andern ge-
lerten luten die zit vnd die getat der Romischen keyser.
vnd der pebste. So han ich bruder mertin ein
penitencier vnd ein capplan vnsers heiligen c.
vaters des pabstes dis gegenwertig buch gedacht
zu nemen uz manigerleye croniken. von der tat vnd
der zit der keyser. vnd der pebste. vnd wil es machen
in ein puch nach der iarzal vnsers herren ihesu Christi.
Vnd von Octauiano dem ersten keyser. also nach ein-
ander i) zu zelen die keyser vnd die pebste ^is an
Ny colaum den pabest tieft namen den dritten.'^) a. r. c.
vnd wanne die keyser vnd die pebste in der stat zu
rome gewesen sint. vnd sunderlich dar gehorent. so I^-
dunket mich gut sin daz ich von der stat gelegenheit
etwas sage, durch daz ich des pas wege vnd ordenunge
gewinne von den keysern vnd den pebsten zu sagen,
vnd also han ich genomen dis gegenwertige werk ein
teil von der schHft Tyti liuii. vnd von der croniken c.
orosii. vnd von den croniken damasci^) des pabstes.
vnd der getat der pebste. vnd von den kroniken honici
Sutrini *) des pyschofes also genant . von den jiebsten tnd c.
von den keysern. vnd von den Croniken pauli des dya-
cones vnd Cardinalis von Rome. von keysern vnd von
pebsten . vnd aber von den Croniken Gylbertis von keysern c.
vnd von j^ebsteii. vnd von den croniken richardes eines
munches von Clonias •^) vnd von den Croniken Gervasii.
1) deduxi in una pagina. Eo anno D. quo creati fuerint,
ponendo Pontifices: in alia pagina eoontra sub eisdem annis,
eo anno quo creatus quisque fuit, ponendo Imperatores. A. B. C.
2) Johann XXL, A. B, - Clemens IV., C.
3) Damasi papae de gestis Pontif. A. B. C.
*) Bonisii ep. Sutrini. A. B.
5) Cluniacensis. A. B. C.
3f,4 Martinus Polonus.
vnd von den Croniken Estodli . *) von den Croniken
Ic. Gotfridi von viterbie . von den brudern der kronilcen
Belvatenum . -) vnd etliche von dem passlonal der liei-
llaen.
Vo n de 71 vier k u n ig r i c h e n.
Von erst ist ze sagen ^) von den vier kunigi'ichen
zum ersten von dem Homischen riche. daz das iimgest
loaz. zu dem andern mole von weihen j^ersonen rome an-
ving. zum dritten mole zu weihen ziten rome anvinh. zu
dem vierden mal von der geschieht tvie rom an vink. zu
dem fünften mal von den richtern vnd der herichtunge
von der rome zu nam vnd gepezzert wart . vnd darvmb
als Orosius saget vnd schribet sarde Augustino von angenge
der loerlde Ins an die zit daz rome gemachet ivart des
!'!■ loaren vier tuse72t iar. vier hundert, vnde LXXXIIlIiar.
vnd also von angenge der iverlde bis an die zuhinft vnsers
herren Jhesu Christi. Waren fünf tusent hundert vnd
nun vnd nunzig iar. und also vindet man vnder den an-
dern riehen vierew die die grosten gewesen sint nach den
vier enden der werlde. daz waz babylonisch rieh, daz an
vink bi Abrahames ziten. Cartagines riche gegen mitten
tage, tvart bi den ziten der richter vnder Coladuc.^) do
kartago gepuwen wart. Macedonisch rieh gegen septentrion.
daz an vink von alexandro bi der machabeen ziten. Ro-
rnisch riche . voji der sunnen vndergange . daz an vink p>i
Romulo. Vnder den vier riehen zwei die mittelste^i sint
die minsten . aber daz erste vnd daz iungeste sint die
IIa. grosten an dem geicalte vnd von langer xoerunge. viul als
die hystorien von babylonie sagent von Nyno des xvip
1) Methodii, A. B. — Escodii, C.
-) Ex chronicis fratris Vincentii Beluacensis.
■') Die ganze Beschreibung und Geschichte Roms bis zu Octa-
vianus Angustus fehlt in C.
0 sub Thohi duce. A. B.
Malt in US Polunii5!. 355
Se77ieramis was. vnd machte l/a/i^//onie. Also gcwan rome
iren anvank von Proca *) die romeli froioe was. Als oro-
sius seit, vnd als von dem ersten iar. daz Ninus richsent
piz daz semeramis habylon die stat machet, do vergingen
vier vnd sechzig iar also vergingen von dem ersten iar.
vntz daz prothus richsen begonde . piz daz Roma gestiftet a. -f-
wart von Romrdo sechs '^) vnd sechzig iar. vnd der kimig
Oyrus störte vnd herte Bahi/lonie. hi der zit Esdre. vnd
zacharie der propheten . daz er ging also . do der kunig
Cyrus ein ,grozes teil des kunigriches von orient het be-
twungen . do keimte er gegen Babylonie . die die beste was II i>.
under den andern steten. Vnd kam an Eufraten daz
wazzer . vnd an ein ander toazzer vnd do einer siner ritter
nicht allein der kunst siinder der schönste . do er den Jurt
solle suchen, do ertrank er in dem wazzer. do wurt der
kunig betrübet vmb den ritter den er so liep hette. vnd
swur in sinem zorn . daz grozze wazzer also dünne ze-
machen. daz es nieman an sin knie ginge, daz ouch ge-
schach. Wanne er hiez ez zej'teilu drtrch ein wites velt in
vier hundert vnd sechzig runse. Also leitet er daz kreftig
Wasser Eufraten von der stat babylon. daz vor enmitten
do durch ran. Vnd also für er in die feintstat feintlich.
von der orosius spricht, daz es vngloublich si. vnd daz si
von menschlicher kraft ymmer mochte geivunnen werden II c-
oder zerstöret. Wanne si gelegen waz vnd ist noch an
einer grozen wite des veldes vnd sere preit. Vnd waz von
vier orten gemacliet . vnd die rinkmour waz fünfzig kloftern
hohe, vnd fünf kloftern brait. vnd waz von gepacken zie-
geln gemouret. vnd legt die darein gezogen, vnd die niour
het von oben an hundert erein porten. vnd der vmbvank
waz ein vnd fünfzig meyle xveit. noch vil mere schribet
Orosiu^s von der stat. a.-|-
Do ro m e an v i n g.
In der zit do Rome an vink. do woren vergangen von
angenge der loerlde vier tusent vier hundert, vnd achzig
') Proca, qui proavus Roiimli fuit. A. ß.
-) quatuor, A. B.
356 Martinus Polonus.
vnd vier iar . vnd waz nach dem daz Troye geiounnen
loart vier hundert iar vnd fünfzig iar. ^) Do der hunig
Achas in Judea richsejit. e daz die stat Rome gestiftet
II d. wart. Do waren vil kunige in ytalia dem lande . vmh die
gegen da sider Rome gepmven wart. Daz waz zum ersten
Saturnus . den vertreip sin sun Jupiter vz grecea dem lande.
A. B, vnd warf ime sine hoden vz als einem caphan. V7ul
also flöhe Saturnus sinen sun Jupiter vnd kam in schiffen
vber mer in ytaliam die gegen, do sider Rome gepuwen
wart, vnd lag do verborgen in weiden vnd in puschen von
der vorhte sines sunes. vnd dar vmh wart daz lant Terra
latina genant . von dem icorte latet . vnd der Saturnus lerte
daz volk von dem lande huser puwen . vnd daz ertrich ar-
beiten . vnd wingarten pflantzzen . vnd lebten als lute . icanne
vor konden si niht arbeiten vnd lebten als vihe . und azzen
III '1 aichehi. vnd ander wilde frucht. vnd ein teil iconte^i m den
holen steinen . etliche 7nachten htäten von lobe dar vnder si
lagen, vnd dar vmb daz er si lerte recht leben, do ivart er
ir kunig vnd ir got geheizzeti. Also puwet er ein stat von
der vorhte sines sunes niht verre von Rome. die nante er
nach sinem namen. Saturniam. die nu heizzet Sutrinum.
do daz erste körn in dem lande geseet wart . uf einem
A. B. preiten velde. das heizzet grassus. vnd nach Sa-
turno richsent Pyrus^) sin sun. vnd dar nach Faunus sun
latinus. derselbe latinus bezzert latin spräche, vnd sint die
latin nach ime genennet, vnd die vorgenanten kunige. rich-
sent hundert vnd fünf zig iar. e daz eneas in daz lant kam.
von dem die komen die Rome puweten.
Von den personen ze Rome.
III b. Die persone die Rome pauwten. die namen vrsprung
vnd anvang von Enea. der ein herzöge loaz von Troye.
wan do troye geiounnen wart, daz geschach bi der zit do
der kunig abdon in Judea richsent. vnd loaz vor der zit
daz Rome gestiftet wart dru hundert . vnde drizig iar. 3)
') 432, A. 404, B.
2) Picus, A. B.
3) 432, A.
Martinas rolonns. 357
vnd daz geschach casus do heleiia gezucket wart in kriechen,
do sivuren die kriechen alle zu hauffen. vnd füren init
tusent schiffen für troye. vnd lagen zehen iar do vor. vnd
gewnnnen si. vnd waz strites vnd vrluges do geschehe daz
heschnhet Omerus. vnd daz alsus Troye gewunnen vnd
zerstörtet. Do für eneas. vnd Anchises sin vater von danne
mit ztvelf schiffen, i) vnd komen in Syciliani. Do Anchises
sfarp . vnd do si solten schifen in ytaliarn . Do nam si
ein sturmwint. vnd fürte si in Affricam. do eneas von Ulf-
Dytone der kuniginne sere geminnet wart . vnd kotcfte in
zeletste zu der. e. vnd ku'tzlich dar ytach. do liez er si
alda hlihen. vnd für in ytaliani. vnd kam in die gegen,
do tyheris daz xvazzer in daz mer ßuzzet. Do karn ime
ein stimme für in einem trome . die sjiracJi. . gank zu dem.
kunige euandero . der do richset über die siben berge, daz
loaz an derselben stat. do sider rome gepuwen icart. ivanne
er loil striten loider den kunig latinum. vnd du seit ime
helfen . icanne dir ivirt Natham 2) daz riche in ytalia . vnd
daz du mir gloubest. so gib ich dir zu Wortzeichen, wenne
du dar körnest . so vindest du vnder einen widen paume ein
weizze Sau . mit drizzig iungen weizzen verhleinen . vnd von
der gesicht wart darnach ein stat gepuwen. die piz an Hl'^-
disen hutigen tag Albanum geheizzen ist . vnd do der kunig
evander Eneam ersach. Do wonde er . er ivere vint . vnd
reit ime gewajmet engegen. Do Eneas das gesach. Do
nam, er einen ast eins olpaumes. vnd weist ime den zu
einem zeichen dez frides noch der alten gewonheit. loanne
loer uz einem lande in daz ander für . der fürte einen
oleypaum ast zu einem zeichen daz er ftnint icere. vnd do
also der kunig Euander vnd eneas zu sammen komen.
Do swuren si ein arider zu helfen, wider den kunig lati-
num . vnd do der kunig Turnus der in Tuscia tvaz . vnd
kam dem kunige latino ze hilfe. loan er het sin tochter.
vnd si Straten mit einander. Do slug der kunig Turnus
von Tuscan. Evander s sun zu tode. der hiez Palas . vnd IVi^.
») 22, A.
2) quia tibi debetur, A. B.
358 Martinus Polonus.
des grab vnd sin lichnani umrden sider funden zu Rome.
nach keyser heinrichs zit dez andern. Als hernach ge-
A.+ schrihen stet. Und do Turnus erslagen loart. Do nam
Eneas sin tcip Lauiniani die latinen tochter waz ze wihe.
Vnd do noch latinen tode. Do loart Eneas kunig über
daz latinesch rieh . vnd dez dritten Jares . von daz Troye
zestoret ivart. Do starp Eneas. Do nam Aschasius. Eneas
sun daz riche . den er mit ime von Troye prahte vnd
puivet do die stat albanum. daz waz bi sampsones ziten.
do der richter loaz in israhel. von der stat ivurden die
kunig e albani genant, die vor- latini hiezzen. Vnd also
richsent . Aschauius acht vnd zwenzig iar. i) vnd starp. Do
het lauinia einen sun. den trug si do ir man Eneas starp
IV 'j- vnd der waz geheizzen Postimus . wan er nach sines vaters
tode geporn ivaz. vnd hiez ouch Syluinus. xva7i er in einem
walde gezogen waz. vnd der richsent nach aschauio.
XX Villi, iar.^) vnd alle die kunige die von dem komen
die wurden Siluini gehezzen . die vor Albani ivaren genant,
vnd nach dem postimo richsent Eneas sin sun. nach dem
Eneas richsent latinus Siluinus . L. iar. bi dez ziten loaren
die lüissagen Jath^) vnd nathan. bi dem kunige Davides
ziten. aicch liset man. daz karthago bi siner zit gepuioen
het. nach detn richsent Albasilicius . XL. iar^) pi kunig
Salomons ziten. Nach dem richsent Egyptus der ouch hiez
Achis Sihdnus. XXIIII, iar. bi der zit waz Roboam
kunig in Judea. Nach dem richsent Capissilinus. XX VIII.
IV c- iar . do aza kunig waz in Judea. Nach dem richsent Car-
pentus Siluius. XIII iar. bi Josaphates ziten in Judea.
Nach richsent Tliyberius Siluius. IX. iar^) bi Ochozias
ziten des kuniges in Judea. von dem Thyberio geivan Ty-
beris daz ivazzer sinen namen. wan ez hiez vor albula.
vnd do '^Tliyberius darinnß ertrank, do loart daz wazzer
') 38, A. 18, K.
^) 39, A.
3) Gad, A. B.
^) 39, A.
s) 8, A.
Martinas Pol o n u s, 3 'i 0
nach hne ucnant. Also si'it Ti/ins liidtis. nid nach don
richsent Agrijipa Siluins. XL. iar. hi Achat in Judea.
vnd hi den ziten ivaz Omcnis in kriechen. Nach dem
richsent Aremuhis Silimift. XIX. iar. hi Jonas zit in Ju-
dea. Nach dem richsent Auentns. XXXIII. iar.'^) der
oucJi der stat einen namen liez. loan er in dem teil be-
graben icart. vnd loaz bi Ananiaz'^) ziten des kuniges in
Judea. Nach Auentino richsent sin suii Protha. XXXIII. IV 'i
iar . 3) bi der zit Josie des kuniges in Judea. Nach dem
7'ichsent sin sun Aniulus . XLIII. iar. "*) der verstiez prn-
der munitorem von dem riche. bi Joachim^) dem kunige
in Judea. vnd der Munitor het ein tochter hiez Rea. die
loaz in dem tempel einer gottinne. wanne si waz schon,
vnd hi der slief heimelichen einer hiez mars. vnd gewan
zwen sun. der wart einer genant Romtdns. der ander Re-
mus . vnd ir muter Rea . loart lebendig begraben vmh die
7}iissetat. daz si sich heimelichen het lazzen minnen. wanne
ez geivonheit waz. welhev frowe also missetet. die hegmb
man lebendig. vnJ die zivei kint. Romulus vnd Remus.
lüurden geworfen in einen pusch pi dem wazzer Tyberius
vnd wurden geseuget von einer ividfinne. vnd do vant si V"-
ein hirte der hiez famulus.^) der trug si heim sinem wibe.
die hiez Lau7'encia. vnd die waz ein schönes loip. vnd liez
sich minnen vmb gäbe, vnd geican do mit so vil . daz si
ir nachgeburen Lupam nanten . vnde von dem namen. lour-
den der bösen frou-en huser genant Lupamaria. vnd do
die selben. Romulus md Remus gewuchsen, daz si man
wurden. Do samrnenten si zu in hirten vnd morder . vnd
slugen Amulium ze tode. der iren vater Munitoren von
dem nche het gestozzen . vnd satzten in vnder an daz rieh,
vnd also von den zwein Romido vnd Remo tcart Rom.
0 37, A.
2) Amasiae, A. B,
3) 23, A. B.
*) 44, A.
•■>) Joathan, A. B.
'') Faustulus, A. B.
360 Martinus Polon US
die von Enea kutnen loaren . der von Troye geporn loaz
A. gepuwen vnd genant nach dein daz Troye gestoret wart.
V'- vierhundert fünf zig vnd vier iarA) als Orosiut? sprich et.
Wie Rome an ving.
Wie Rome an vink. vnd ir gelegenheit hewiset vns
Estodius . 2) vnd sprichet also. Dar nach do noes kindes
gepauwet den turn der scheidunge der spräche. Do ging
noe mit etlichen sines gesifides . in ein schif. vnd komen
in ytaliajn gevarn niht verre von der stat do Rome liget
vnd puwet do ein stat nach sinem namen genant . vnd starb
auch alda. Do kam Janus sin sun . vnd Janus Japhetis
sun sin neue . vnd Chames ein laritman des landes vnd
pniwet ein stat alda vnd loart ime daz riche. vnd die stat
hiez Janiculum. vnd vnd puwet dar über die Teyfer einen
palast . daz yiante er Janiculum . vnd daz loaz an der stat . do
nu stet die kirche sant Johannes ad Janiculum . vnd bi der zit
V c. Jcam Saturnus der ouch Nemrot hiez . vnd dem uz gesniten
wart 3) von sinem sun Jone . in des egenanten Janus rieh,
vnd machet ein stat mit Janus helfe do nu daz Capitoliuni
stet, vnd in den tagen kam der kunig von ytalia zu Jano
vnd Saturno mit den luten von Syracusana vnd putoet
ouch ein stat alda bi dem wazzer albula . daz dar nach
Tyberis wart genant . vnd dar nach kam Hercules sin sun.
vnd puwet ein stat in dem Capitolio. als varro schribet.
Nach dem kam der kunig Tybris von Orient mit sinem
Volke, vnd machet ein stat bi dem wazzer Tyberim. Dar
nach kam Euander der kunig von Archadia mit sinen
luten. vnd machet ein stat an dem berge Palatino. Auch
kam der kunig Corneliam ^) mit sinem her . vnd puioet ein
Vd. stat do bi in dem tal. do kam Elaucus^) Jouis Enenkel.
vnd puwet ein stat ouch do bi. Dar nach kam Rem ^)
1) 432, A.
2) Methodius, A. B.
^) eunuchisatus, A. B.
'') rex Corybantii, A. B.
5) Glaucus, A. B.
ß) Romain veniens, A. B.
Martiiitis Polonus. 361
En&as tohter mit vil luten von Troye. vnd puwet ein stat
ouch do hi. vnd Auentinus der albanischen hinig. der
puwet ein stat do hi. an dem berge Auentino, vnd dar
nach in der zit do vergingen von daz Troye zustoret wart
vier hundert iar. fünfzig iar. vnd vier iar.^) Do kam
Romulus der geborn waz von dem hinige Priami von Troye.
do sin bruder Rejnus tot xoaz . vnd er. XXII. iar alt icaz.
an der. XV. kaiende des Meyen. vnd vmb vink dise stet
alle mit einer muren . vnd machet ein stat . vnd hiez die
nach siyieni namen Roma, vnd komen in die stat ze iconen
mit loiben vnd mit kinden die herren Sabinenses . Alba-
nenses . Toschalanenses . Politanenses . Sycanenses . Cama- VI»-
mnenses Campenatinen . Lucani. vil bi Alledie. Edel lute
in ytalia dem lande, vnd die stat hat dri hundert tum.
vnd. LX. vnd an dem vmb kreize der stat sint. XXII.
mile. on daz uher die Tyfer ist. vnd on die stat Lomo-
nam.') vnd mit den zwein ist Rome. XLII milen wit. a.-\-
Vo n p orten der stat rotne.
Das sint die pforten von der stat. Zum ersten von
der pforten Camena. 3) die do heizzet sant paulus parte hi
Remus grabe. Vnd die parte Apia die do get zu dem,
xcege. do sant peter zu unserm herren sprach. Domine
quo vadis daz do heizzet katacumba . vnd die p)orte Lcdina
bi sant Johannes ewangelister der in dem ole gepraten a. b.
irart. vnd die parte Asinaria wider Lateran . vnd die p orte
metronij. do der pach in der stat fluzzet vnd die porte
Lauicaria. die die grozzest ist. vnd ist hi dem heiligen Yl^.
kruze. vnd die porte Thaurina. die nu heizzet sant Lau-
r enden porte. und die porte. Jumentana^). die get wider
sant Agnesen. vnd die porte Scdaria. get icider Sabinam.
vnd die jjorte Pinciana. die stat bi sant felicis in pincis
kirchen . vnd die porte ßaminea bi der kirchen vnser frowen.
') 432, A.
2; civitatem Leoninam, A. B.
^) Capena, A. B.
') Numentana, A. B.
362 Marti nus Polonus.
daz do heizzet de populo. vnd do get ynan vz zu der pvucke
mcdi7ium^). vnd die prucke'^') Collum, die ist hi dem tem-
piel Adriani. hi sant jieters prucke vber die Tyfer sint dry
porten. vnd in der stat Lendna^) dry.
Von den palasten.
Daz groste Palast ivaz enmitten in der stat. vnd waz
nach dem vmb ringe der werkle gemachet. Aber daz pa-
last Romidi. bi der lauben ßstuli . ^) daz jjalast Neronis
VIc. ^t( Lateran bi der kii^chen Marcelli vnd petri. Daz palast
Sxisurriamiin . do nu ist die kirehe dez heiligen Creuzes.
Daz palast dez frides do Ronndus satzete ein guldin sulen
vnd sprach . diz palast sol niht vallen . piz ein maget ein
kint gebirt . daz palast Traiani . daz palast Adriaid . do
die Calumpna stet. Daz palast Claudij bi pantheon. Daz
palast pantheon^) bi der andern Columpnen. Daz palast
Neronis uf dem spital dez heiligen geistes bi sant peter.
Daz palast Camilli. Daz palast Julij. dez keisers. do er
begraben wart. Daz palast Cromacij. Daz palast Eufa-
miani. An dem berge Auetifum. Daz palast Tyti vnd
vespasiard vswendig der mur. Ad, Cathachumbas. Daz
palast Constantiiii . do stet ein erin roz. vnd ein erin man
dar iif der heizzet Constaticius . vnd ist doch nit Con-
Yl fi- stancius pilde. sunder eins andern mannes . der waz so
stark vnd so kune der ving einen gewaltigen kunig der het
Rome besezzen. vnd praht in in die stat. vnd also icart
die stat gelediget von dem here. vnd dem man zu eren
wart daz bilde gemachet. Daz palast domiciani. vber die
Tyfer zu dem guideinen brote. Daz palast Olympiadis.
do sant Laurencius gebraten ivart. Daz palast Octaidani.
do die kirehe stet sant Siluester zu dem houbt. Daz 2>alast
Veneris bi der krieschen schule. Daz pa^as^ Cyceronis.
') ponteni Milvium, A. \i.
2) 1. porte.
3) Leonina, A. B.
'') tugurium Faustuli, A. B.
^) 1. Antonini.
INI ;ir tili IIS Pol onus. 363
Do nu ist daz hus der kiiulcr vtul petri leonis. Daz palast
Kathaline. do sant Anthoniushirche stet do hi stet ein stat
heizzet die helle. Wanne hie vor hi der alten zit. stunt
do ein hol. do für uz ging, daz der stat grozzen schaden
tet. vnd do kam einer hiez Marcus curcius vnd liez sich
gewapent werfen in daz hol. vmb die stat erloset wurde VII«-
von der plage, vnd do er dar in geioorfen wart, do tet
sich daz ertrich zu . vnd also wart . die stat erloset von der
plage, vnd die palast die do heizzet J'erme. daz sin dise
daz j)alast Tenne. Antonianie. Tyheriane. Nepociane.
Maximiane. Luciniane. Ih/ocleciane . Ohpnpiadis. Agrip-
p)ine . Aleacandiine.
Von dem Cap)itolio.
Capitoliwn daz ivaz ein hauht der werlt. do die liat-
herren vnd die Senator es innen xeonten. die alle die loerlt
herihten. vnd daz Vorderteil des Capitolij . loaren holtz vnd
siechte^) muren alvmbe bewart, mit golde . vnd mit glas.
Daz es ein sjnegel icere allen den die ez ansehen. In
dem obersten teil dez Capitolij holtz.-) loaz ein tenqiel dez
gotes Jouis. Dar inne stunt ein guldin sul. dar uf saz VII '^
Jörns in einem guldenin Trome.'^) do waz auch ein temp)el
genant Asilium . in dem wart erslagen. der keiser Julius
vnder dem Capitolio . do lit ein marmelsteinenbilde.'^) a. b.
do waz ouch ein tempel louis. Do nu ist sant Mer- a. b.
tin.^) do waz ein tempel der scheppfunge. zu sant Adriano
loaz ein tempel refugij . zu sante Sergio waz ein tempel
concordie . zu Canajyata . icaz ein tempel der gottinne Ce-
rens vnd Telluris. Daz tempel veste der gottinne. daz
man seit, daz die helle, vnd der drak lige in der kirchen
sant Cosmas vnd Damians . loaz ein tempel des gotes
assisi. 6) Hinder sant Cosma xvaz ein tempel des gotes
') altis et firniis, A. B
2) arcis, A. B.
3; 1. trone
*) ubi jacet siinulaclirnin MaimM-tinuiii, A. i>.
5) Sta Maria, A. H.
'^) teinplum Asyluii), A. H.
364 Martinas Polonus.
des frides. Dar vher ivaz der tempel Romuli. zu vnser
A. i\.-\- frowen der nuwen. waz ein tempel der got dez fridez vnd
der miltekeit vor dem Coliseo icaz ein tempel der sumien.
VII <=• Daz tempel daz do hiez Septisolium. daz waz mit seulen
gemachet, vnd waz der simnen. vnd dez monen Tempel.
vnd waz nahent hi sant Sabinen'^) Tempel, vnd do waz
gemacht ein kertzstal mit einem Hecht von einem stein
heizzet ahiston. 2) der ivaz eines enzundet. vnd künde in
furhaz niemant erleschen . vnd dar vmbe heizzet die stat
Abiston ivanne man alda machet die wizzen stolen. der
heiserinne. Aber zu sant Sabinen hinder einem altar stat
ein bilde vnsers herren daz er selber molet. vnd der kreiz
prischi Tarquinij . der do waz zioischen dem berge Aluen-
tum. vnd dem grozzen palast het zwo porten ein gen Orient,
vnd ein gen Occident. vnd waz von tounderlichr schone,
vnd waz also gemachet, daz der Romer kehier den andern
Vlld- erzürnet an der schauivunge des spiles. des man do pßag-
vnd do stunden zioei erin ros pi. ietweder eines in der
hohe der porten. vnd die icaren verguldet. die stunden qIso
ordenlichen . daz si die ros die man do reit rizten . vnd
die ros fürt der heiser Constantinus mit ime zu Constan-
tinopel.
An dem berge Exquilino . zwischen unser froioen der
grozzern . vnd lateran . do nach schule 3) vnd alle pilde
funden lourden. Do loaz ein tempel hiez cyprwn *) zu vnser
frowen. zu fontana waz ein tempel Fauni. do der aptgot
Jtdiano dem keiser zu sprach, vnd in betröge, zu sant
peter ad vincula. loaz der tempel veneris der gottinne.
A. B. An dem berge Celto^). do nu ist ein teich^) dez kei-
sers . do ivaz ein tempel Jouis des gotes. vnd dyane der
Ylll^- gottinne . bi deii mermerin rossen, do waz ein tempel Sa-
1) Balbina. A. B.
2) Asbeston, A. B.
ä) 1. sule . columnae, A. B.
*) Cymbrum, A. B.
*) In monte Julio, A. B.
^) mensa, A. B.
Martinns Pol onus. 365
turnini rml haclii . do iior/i ir bihh' l'ujent . v)id war vinh VlII «■
die marmereinen ros gemadit ivurden. daz sage ich hirtz-
lichen bi keiscr Tybenns ziten homen die iungen philosophie
i'on JRome prasicellis . vnd fida^) genant, vnd gierigen zu
male nacheilt, vnd der keiser fragte si. icar vmh si nackent
gingen. Dez antwurten si also . V7id sprachen . icanne vns
alle ding ploz sint vnd geuellig . vnd daz ivir alles icerlt-
liches ding versniehen. vnd. daz nit besitzzen. vnd waz du
sagest heimelich . vnd über lid . daz ist vns allen erkant.
vnd do der keiser bevant daz si war seifen, da machet er
in dar zu ein memorial. daz man ir do bi gedenken solte.
daz nu ist zu vnser frowen liotundum. Do waz ein tem-
pel der gottinne Cybiles die ein inuter loaz der gote von
dem puice dez tempels liset man hie nach, do man von VIIIIj-
dem keiser domiciano seit, zu der graden vmz der tempel
der sunnen . zu sant Stephan Rotundum . waz ein tempel
fauni. zu dem Elephanto. icaz ein tempel Sibille . vnd ein
tempel Cyceronis. do nu ist die kirche der kinder petri
Leonis. Do ist ouch ein kerker Juliani . 2) do ouch sant
Nyclaus kirche stet, do bi ist ouch ein tempel Jouis . zu
dem heiligen engel. do ivaz daz tempel Seuerianum. zu
dem guldin vmbhang . loaz der tempel der gottinne Mi-
nerue. An der niedern prucke.^) loaz ein temp)el dez gotez
fauni. zu sant Stephan in dem loier. waz ein tempel der
hiez Olonitreum.'^) daz vz Ginstallen alzemale waz ge-
machet, vnd die knnst Astronomia mit allen den zeichen
dez himels icaz dar an gemachet, vnd daz zerstört fiant
sebastianus vnd Tyburcins. Cromacius sun. als man liset VIII e-
zu vnser frowen vber die tyfer . do xcaz ein tempel Raucn-
natinum. vnd icaz ein hus dez dienstes do man die ritter
inne mietet, die dem Senat vergeben dienten, vnder dem
Janiculo icaz ein tempel Gorgonis. in der inseln. ivaz ein
temjyel Jouis vnd Eschulapij . der got. dise vnd vil ander
>) Praxiteles et Phidias, A. B.
2) Tullianus, A. B.
^) Ad pontein Judaeorum, A. B.
'*) Colosseum, A. B.
Archiv f. n. Sprachen. XXUI. 24
366 Marti nus Pol onus.
Tempel, vnd palast der ratherren. der heiser vnd der Se-
natoren vnd prefecten. vnd der burger der stat. vnd Rom
loaren mit lounderlichen geherde gemacliei. vnd gezieret
von golde vnd von silber von ere von helfenjyain. von edelen
steinen, vnd von merhelsieinen maniger varbe.
Wie rom an ving.'^)
Wanne xcir nu berihtet. vnd gesaget haben von der
gelegenheit des piaves zu Rome. An muren. an Turnen,
an porten. an tempeln. mit den die stat gepuivet xoaz So
VIII d. sullen wir nu furbaz sagen von den die si berihten in iren
tagen . daz loirdest ordenlichen wege haben zu sagen . von
den keisern nach den ersten rihtern . vnd dar vmb als
Romidus vnd Renius die ersten loaren die Rom stiften.
■ Also loaren si ouch die ersten an der herschaft, vnd do
si. XVIII. iar alt loaren . wanne si gezweinlinge waren.
Do sammenten si hirten morder vnd diebe. vnd machten
ein kleines stettelin an dem berge palatino. mit dem stette-
lin vnd 7nit Tyrannide'^) hetwungen si vnder sich alle die
stete .^ die andern die do bi gepuwen waren, vnd an dem
dntten iar. Do die stat Rom gepuwen icart . do wart Re-
mus erslagen mit einem hirten stap. von einem hiez For-
bius 3) der loaz hertzoge Romuli sines bruder . wanne die
zwen gebruder kriegten vmb die ivissagunge der wien die
IX^- si beide sahen, loanne als livius saget, daz si gezwinlinge
waren vnd glich alt icederre. dirre dar vmb oberster rnhter
were. über di stat. daz liezzen si an die wissagunge der
loien . vnd dar vmb ging ir itwederre uf den berg Auen-
^ tinum mit den sinen . do begegenten Remo zum ersten siben
wien. vnd Romido . XIIII. xoien. Do sprach ietweder. sin
ivissagunge ivar getvesen Remus. dar vmb wanne er sin
loien bi erste sach . Romidus . wanne siner vogel mer icaz.
vnd also komen si ze kriege . daz Remus in der schar er-
slagen wart. Do kam Romulus in die stat . do er allein
1) De rectoribus et regimiue urbis, A. B.
2) per tyrannideni, A. B.
■0 a Fabio, A. B.
Martinas Polonus. 367
richsent in der stat. vnd erweit hundert der ehesten an
den rat. vnd nante si Senatoren . vnd erweit oucli tusent
man zu striten die er ritter nante. von dem u'orte mille.
vnd do die stat also zu kam. do ketten sin Inte in der l^h.
stat nit wip . vnd ringen den litten Sabints . ir tocider vnd
ir vyip . vnd namen si zu xoihen . vnd dar vmb ketten die
salnni. ein grozzes vrluge mit Romulo. vnd Ronmlus ge-
siget in an. vtid mackten do einen fride mit in. . Dar
nack Icom Homulus In einer brücke.'^) die waz genant
Capree. Do vmb zock in ein grozzes weter. von donren
vnd von plitzzene sckozzen. Also daz in niemayit geseken
mokte. vnd ivart also gezucket vnder die goter quirini.
vnd wart mit in gekeiliget. Nack Romulo berikten Sena- a. -f-
tores . die er gemacket ket. die stat andertkalp iar. Dar
nack xcart einer ricksent der kiez Numaponpilius zu Rom.
XL. iar-) bi der zit Ezecliie. der kunig loaz In Judea.
vnd der ordent von erste den rittern solt zu geben, vnd IX«".
legte ouck zwen monen zu dem Jar. Januarium vnd Fe-
hmarium. bi der zit waz ouck Sibilla erictea nack disem A.-f-
ncksent . Tidius Hostilius bi der zit do manasse kunig waz
in Judea. der TuUus trug von erst purpiirein cleider. vnd
nack langem fride . mackte er .ein vrluge mit den luten.
Albanus, die von Rom wonten. XV TU. mile. vnd mit
den luten Fenedacus.^) die. XII. mile wonten von Rome.
vber Tifberim daz tvazzer. vnd gesiget den alben an. Do
er gereicksent. XXXII. iar. do verprant in ein iceter von
dem kimel in sinem kus mit allem sinem kusegesinde. Bi
den zifen ivaz ein ander Sibille . die genant waz von Satne.
ouck wart die stat Sysanium'^) gepuwen bi den selben
ziten . vnd wart dar nack genant. Constantiuopolim. narji A.-f-
dem. Ricksent der vierde Romesche kunig. der kiez Aiickiis. IX''-
bi der zit ricksent Josijas In Judea. der puwet nf dem
mere. XVI. mil von Rome die stat Ostiam. vnd ricksent.
') paludera, A. B.
0 XLJ., A. B.
3) Fidenates, A. B.
^) Byzantiiim, A. B.
24*
368 Martinus Polonus.
s
XXIII. iar . vnd machet die ersten prucke AncJms über
die tiher ztinschen dem berge Auentino . vnd Janicido.
Nach dem harn der fünfte Roynisch kunig Priscus. Tar-
quinius. vnd richsent . XXX VI J. iar . bi der zit xvaz Joa-
chim kunig in Judea . der machet den kreiz . do die Romer
ires spiles pßagen zu triben. vnd p)mcet och die graben,
die den unßat vz den heimelichen kameren in die Tyfer
trugen, der begonde ouch von erste daz Capitolium zu
machen von erst . vnd loart dar vmb geheizzen daz Capi-
tolium. loanne do inan den grünt do zu grub, do ivart
Xa- ein haubt do fiinden ane corper. Nach dem richsent
serimis Tulius der sechste romische kunig. bi der zit Se-
dechie dem kunige in Juda. der machet die graben vmb
die muren der stat. vmb daz machte er ze erste, daz man
die zinse vf hübe, do von man vor niht loiste. ze letzste
slug in ze tode tarquinius. der lioffertige. bi der zit ging
ein plage 'vber die Juden . wanne si der kcddeien kunig
Nabuchodonosor . vink do Sedechias ir kunig xcaz. Dar-
nach . Tarquinius superbus der icaz der sibende romisch
kunig vnd richsent. XXXV. iar. bi der zit dez kuniges
Cyrus . vnd der erdacht alle vangnisse . vnd. pinunge vnd
keten vnd in daz eilende ze senden kerker vnd poyen . vnd
der selbe wart verstozzen von dem riclie. von sines sunes
A. B. toegen Tarquinius des sechsten der einer frowen hiez
X'^- Lucrecia . die ein edel ivip waz von kunne vnd ouch von
iugent ir ere nam . vnd die selbe froioe von der schäm irs
Vaters vnd irs tnannes . vnd irre magen. vnd ertötet sich
selber, vnd also wart Tarquinius von Rom vertriben. vnd
ßohe zu dem kunige Clusio von pornsene . ^) der sament
ein grozes her von dem Ttscan, vnd ouch ander lute. vnd
kam ze Rom. biz an die stat der Tyber bi dem jyalast
Janiculi. vnd brahte die stat in grozze vorhte. vnd machte
ze letzste einen friden mit den Romern. vnd besaz Acri-
ciam. -) Nach Tarquinio dem hoffertigen gingen die kunige .
abe van dem riche in der stat Roma, daz die biz an die
I) ad Porsennam regem Clusinuui, A. B.
-) Aretium, A. ß.
]\I:irtinus Pol onus. 369
zit gerichsent hoben, zwei hiouleii nid vierzig /a;-.') vnd
do satzten die Romer die ratherrcn an daz riche. vnd die
stat ze berillten . also daz ie zicen ratherren die stat be-
rilden soUeJi ein iar. rnd dar vnd» niht danne ein iar. Xc-
doj: keiner zestark noch zehoch/eriige wurde an demgeicalte.
vnd dar vmb wurden ie zwene geweit, ob ir keiner vnrecld
der gemein xeolte tu)i. daz im des der ander wider teere,
vnd biz an die zit gie Romische gewalt vnd ir rieh biz
an den fünf zehenden stein . teanne man do die mil mit den
steinen vnder schiet. vnd do icurden zwen an daz ampt
gesatzt. Liuius vnd Bratus-) genant, vnd bi der zit starp
zu Rome. Auarogoras . ^) vnd Pictagoras . Aristotiles . vnd
Piatonis iunger . der waz . X VIII. iar alt. a. -f-
Von Rom.
In der iarzal von daz Rom gemachet wart zwei hun-
dert vnd rier iar vnde XL. iar. I)o icaz Lunius^) der
erste Ratherre gemachet ze Rome. bi dez ziten die Inte
Sabi7ii vrlugten vf Rom mit eine>n grozzen vrluge vnd mit X^i-
grozzer kraft, vnd dar vber er weiten die Romer einen der
ir houbtman ivere vber die ratherren . bi den ziten . wart
auch ein zxveiunge vnder den Senaten, vnd der gemein ~c
Rom. bi den ziten wart babylonia zerstöret, von Cgro dem
kunige von persia als hie vor gesclirieben ist. ■
von dem daz die kunge — . ^)
In dem. XVI. iar. von dem daz die kunige ze Rome
niht mere richsenten vnd ie ziven ratherren ein iar dez
riches pßagen. do klagte daz gemein rolke. daz in die
ratherren vnd der Senaten getvalt. vnd vnreht teten . vnd
wurden ander rihter gesatzt vber die ratherren die hiezzen
Tribuni . daz si der gemein rihter ivem vnd schirmer.
') 241, A.
-) Lucius et Brutus, A. B.
3) Anaxagoras, A.
*) Brutus, A. B.
*) de binis Consulibus, A. B.
370 Martinas Polonus.
von der stat anevang.
In der iarzal dru hundert iar von der stat ane vang.
XI a- do wurden die gesetzte der stat athenis ze Rome gesant
in. X. tauein geschrihen. vnd die Romer taten zwo dar
zu. als Liuius Tytus seit, an der iar zal als die stat ge-
machet icart. dreic hundert iar.'^) do lourden die ratherren
abgesetzet von dem geriht in der stat. an der iarzal'^) von
der stat an vank wurden die lute vegentes betwungen von
den Romern . hi Äsicerus ziten dez kunges in Juda . hi
den selben ziten Senones galli striten mit den Romern bi
dem wazzer alba . vnd die Romer lourden siglos . vnd wart
die stat alle gewunnen biz an daz Capitolium daz ouch
verloren wart, dayine die gans die dar vf stimt. die wecket
die Romer vf mit grozzem geschreie . wanne si slieffen von
A.-j- der müde dez strites.
von daz rome gemacht. ^y
An der iar zal von daz Rom gemachet, dru hundert
XI b. vnd. LXV. iar do wurden tribuni an der ratherren stat
geordent. Do wart die stat peneste *J betwungen von den
Romern bi dem wasser allia.^) vnd. VIII ander stette.
die vnder dem gewalte der stette peneste ivaren. bi den
selben ziten ging ein grozze plage von sterben vber die stat
Rom. wanne enmitten in der stat tet sich die erde uf. vnd
erschein do ein ßq/mme . als die helle . vnd von dem bösen
röche der dar vz ging, verdarbte vil lute in der stat. als
ouch hie vor geschriben ist . do man seit von den palasten,
vnd dar vmb füren die lute galli von der stat. vnd einer
von den gallen . hiez einen kempfen von den Romern . der
mit ime stritte für beide her. vnd der Romer kempfe ge-
siget. vnde nam den andern den er het erslagen. einen
1) 301, A. B.
2) fehlt, a. 315 a. u. c, A. B.
3) De tribunis, A. B.
-'') Praeneste, A. B.
5) Albula, A. B.
Marfinus Poloniis. 371
gxddin riuk von dem Judse. vinl tet den an sinen liah.
vnd da)' nach icart er vnd alles sin kiinne Torquaü ge- XI f-
helzzen . In den selben ziten . irart Alexander PhiUppus
sun (jehorn . ron olimpia irart lang Macedomim der Inte,
des getete grulich vnd lotnderlie/i loaren. Als man sehrdief
an einem sundei-lichen hueh. In den selben ziten machet a.+
apixis Claudius ein ratherre ron JRome den weg apiam in
der stat zu Rome, bi den selben ziten wart arimium ze
Romeniola vnd braienium ze Sampnio *) zivo stet gebinven a. b.
V071 den Romern.
von Ro m e. -)
In der iar zal von daz Rome gepinren icart. dm a.-|-
hundert^) vnd. XX VI. iar. do starp der kunig philippus
Macedomim. vnd ivart Alexandra sinem sun daz rieh.
vnd der pmcet vnd betwank alle lant in Orient . vnd hoffent
onch Occident betwingen . do der. XII. ior gerichsent. do
wart ime vergeben bi der selben zit . do die Romer bc-
gonden g>jvaltig tcerden. Do wurden si angeurluget von X['i-
den Samniten. die gesezzen waren an der m,itteln zwischen
Campania. vnd apulia. die trugen guldin vnd silberin
ivajfen. daz icaz vmb Campaniam daz lant. daz gar rieh
icaz von dem mere . vnd von dem gewinne dez landes. vnd
dez selben landez houbtstat hiez Gamma . *) vnd waz als
groz als karthago oder Roma, vnd zu dem ersten wurden
di' Samniten vberwunden von den Romern. vnd gesigten
doch den Romern an zum letsten. lagen si also gar nider.
daz ir über hundert tusend erslagen tvurden in maniger
wise. vnd ir kunig icart gevangen mit den andern, vnd ir
stat wart zemole^) zerstöret von den Romern. Auch ge-
wunnen die Rotner nie strenger viende danne die Samp-
niten waren.
>) Ariminuiii in Rouiandiola et Benoveritum in Samnio, A. H.
2) De nativitate et vita Alexandri inagni, A. De Alexandra
magno, B.
3) 426, A. B.
*) 1. Capua.
*) funditus, A. B.
372 ' Martinas Polonus.
von daz Rome gemachet toart.^)
In der iar zal von daz Rom gemachet wart, vierhun-
XITa. dert und. XLIII.iar.^) do satzten sich die Tarenti ivider
die Romer, vnd smelden in ir boten, do si zu in santen.
vmh daz gciounnen si sache mit in ze krigen . vnd heten
grozze helfe von den. Finitinis . ^) vnd hesanten ouch an ir
hilfe. ich'tumden^) kunk von kriechen, der kam über mere
mit. LXXX. tusent mannen zu fuzze. vnd mit. VI. tu-
sent vnd. XX. helf ändert.^) vnd kam in ytaliam. vnd
het ein hertes vrluge mit den Romern vnd gewan ouch di
von kartagine an sich ivider die Romer . wanne die stat
kartago waz groz. vnd ein houbtstat dez landes Affrice.
vor. LXXIL iaren.^) e. daz Rome gemachet wurde, vnd
ivanne si so mechtig icaz . do loolte si Siciliam daz lant.
A. -[- vnd ander Inseln dez meres beschif'men vor den Romern.
daz si in keinen gewalt teten . vnd an der iarzal . '^) von
XII t>. daz die stat gemachet tvart . do kam Ilannibal der alte mit
einem vnzelUchen volke. vnd drizzig^) helfanden geschiff'et
in Syciliam . vnd begegenten ime do. Oneo ^) vnd Cai/us
Ratherren von Rome . vnd uberivunden in . vnd nanien ime
waz er het. Also daz er selbe kume entran. Atilius Re-
gulus ein Ratherre von Rom. do er kerte gegen kartagine
der stat. vnd het betwungen die kunige die vil volkes heten.
vnd dert Romern . LXXIII. ^^) stete in Aff'rica dem lande
woren vndertan worden . vnd do er kam an ein ivazzer
hiez Bagrada . do slug er ein slangen die toaz . XX. vnd.
C. fuzze lang . die ime siner lute vil ertötet het. vnd den
') De Tarentinis, A. B.
2) 444, B.
3) finitimorum, A. B.
"*) Pyrrhum, A. P).
6) equitum vero VII inilibus et CXX elephantis, A. B.
6) CCLXX, A. B.
^) 484, A. 483, B.
8) quadraginta, B.
9) 1. Cneo.
»0) 74 civit., A. B.
RIartiniis Polonus. 373
tet er scJdnden. vnd sant sin hat zu rome. vnd zeleste
wolten die hartagines einen friden machen mit in. dez
wolde er niht . vnd besammenten sich mit den luten vz
dem lande affrica vnd striten mit ime . vnde tcurden die
Romer sifflos . vnd ir houhtman Regidus wart gevangen. XII f-
vnd in keten geslozzen . vnd gefurt gen kartagine. do duz
emilius *) vemani ouch ein Ratlierre von Rome . daz sin
geselle also swerlich ge fangen lege, der fürt ein her in
affricam daz lant. mit drinhundert schiffen, vnd von kar-
thagine die hegegenten ime mit so vil luten. imd icurde
ouch alda iiberwicnden . von Emilio.
v 0 n d a z ro m e g e ni a c h e t. 2)
In der iar zal von daz die stat gemachet icart. Fünf-
hundert vnd. VIII. iar. do geschach der stat ein grozze
plage. Do Lucanus Quifdus Caiulto in Aulio^) Ratherren
ze Rom ivaren . do ging die Tyfer vz . wanne si groz von
Regenne icaz worden, vnd prach alles daz nider. daz in
der stat waz gejnaven . uf slechtem lande . bi derselben zit.
bi Summij^) bi Gaij Valerij Ratherren in der stat Quamen.
die. IX. Galli.^) vnd vrlugten an die Romer . mit mani- XII t'-
gerley vrluge . ligurna . ^) vnde wurden überwunden von.
den Romern. vnd die selben lute galli sint grimmes ge-
mutes vnd sterker von übe denne ander lute. vnd rehte als
si an dem anvange kreftiger sint. Also schier verget ir
kraft, vnd werdent ploder danne di wip. daz an in ver-
suchet ist . als Orosius schribet.
wie Rome g emachet."^)
In der iar zal von daz Rome gemachet wart, fünf-
hundert, vnd. XXXIII. iar. do kam Hannibal der keiser
') et Fulvius, A. B.
2) De repentina subversione, A. B,
3) Lucio Catulo, Aulo Mantio Coss., A. ß.
'S) Sempronii, A. B.
5) novi Galli, A. B.
6) in Liguria, A. B.
■>) De Aiiibale, A. B.
374 Martinus Polonus.
von Affrica in Hüpaniam vnd hesaz die stat Sagujitinum.
die der Romer loaz. die zerstört er. vnd walte der Römer
boten niht für sich lazzen . hi der selben zit . bi Publio
A. B. Cornelio Scipio V7id Sempronio Ratherren komen. Han-
nibal. in ytaliam wider die Romer . vnd hieb einen weh.
XIII •>• durch die velse. vber die berge pirreneos . mit grozzer
arbeit . vnd vrlugie . vnd loaz sin her hundert tusent fuz-
hite. vnd. XX. tusent man ze rossen, dem ivider reit
A. B. Cornelius Scipio ein Ratherre ze Rome . bi Tycino. vnd
verwuntet hannibalem^) gar ser an dem zu leiten, vnd dar-
A. B. nach wart Cornelius , vnd die Romer alle erslagen vil
nahe vnd. gesigten. daz vernam Sympronius der Ratherre
A. B. tvie ez sinem gesellen Cornelio 2) ergangen waz . vnd
kerte her wider von asulia . 3) vnd streit mit hannibale bi
A. B. dem wazzer Trebea. vnd verloz do alle sin lute. vnd
entweich htm allein. Do hanibal gen Tuscan kerte. do
viel ein so grozzer sne an den berge?i . Appenninis . daz
ime sin helfande vnd ander sin vihe verdürben vor kelde.
XIII ij ivanne er ouch wol wüste ßamineum den ratgeben vnd rat-
herren allein in den gezelten bliben sin. dar vmb Ute er
dez bcdder. daz er in funde vngeioarnet. vnd ime also
angesiget. vnd vernam atich daz Flamineus kam vnd zöget
A. B. vz gegen ime bi dem see. drasimenum . vnd mit listen
vmb zoch in hannibal. daz er an allen enden verloz. vnd
also vielen von den Romer. XXV. tusent man. vnd. VI.
tusent lüurden gevangen.
von Rome.^)
In der iar zal von daz Rome gemachet wart. Fünf-
hundert vnd. XL, iar. Do wurden gesant. lucius Paulus
Carentinus Narco . '') Ratherren von Rom gen Hanibal.
vnd striten mit ime bi der gazzen Canosa. vnd verluren
') Hannibal eum graviter viilneravit, A. B
2) Scipio, A. B.
3) a Sicilia, A. B.
') De Lucio Aemilio, A. B.
*) Lucius Aemilius Paulus et Publius Tercntiiis Varro, A. B.
ISIartinus Polonus. 375
den strit. vnd wurden erslagen. XL IUI, tusent man der
Romer. Do mohten die Romer niht viere gestriten. Wanne
in dem xirlxige xcurden erslagen JEnilius Paulus ratherren.
Ares^) V7id die herren von dem pretorio. vnd der Senat. XI1I<-
A'-X'A''. edeler herren . vnd fünfzig tusent m,an ze fuzzen.
vnd. XL. tusent ze rossen . vndFarco^) ein ratlierre. flöhe
zu Nennisio .'^) mit fünfzig rittern. vnd die Romer hetten
keinen ztoifel. ez u-ere ein iungster tag irre stete geicesen.
vnd nach der sigmcnß. zehant h'rte Ilannibal gen der stat.
vnd zu einem gezugnisse. eines so grozzes gesiges. do
sante Hannihal zu kartagine. dru mtitte guldener vingerlin.
die er von erslagener luie henden zoclt. Als Orosixis schri-
bet. vnd die Romer verzwifelten also sere . 'daz si xcolten
fliehen vz der stat. loanne daz Scipio Aflricamis der do
waz ein Trihunus die ritter mit hlozzen siverten si betxvank
ze blihen. Do kouften die Romer von gemeinen gelte
knehte. vnd machten die ze Rittern, vnd gedacht Junius
dictator also genant, an die alten getat die Romulus tet. Xlll<>-
vnd machet die ritter zu sinem her morder vnd diebe. vnd
aller hande hose lute. der waren sehs tusent man. do er-
manneten aber die Romer die von erste gar verzwifelten.
vnd Orosius spncliet. der do het gesehen die ritterschaft
ze Rome. wanne ez alles loaren ietweder eigen knechte,
oder kint an den Jaren . oder morder . oder die von scha-
den entivichen ivoren. oder hose reihte, der keiner wirdig
toaz der ritterschefte . vnd der Senatus waz aller vernuwet.
von der stat r o m e. *)
Li der Jar zal. von daz die stat gepuwen loart.
fünfhundert vnd. XLIII. iar. do brahte hannihal ein reis
von Campania. vnd kam mit. IX. tusent mannen ze a. n.
Rom. do ersraken die Römer gemeinlich also sere. daz
si zemal verzagten . do Reffen die frowen uf die icer von
>) consulares, A. B.
2) Varro, A. B.
^) Venusium, A. B.
*) De Anibale et Scipione, A. B.
376 Martinus Polonus.
Xlllla der' muren. vnd trugen stein dar uf. vnd loolten von der
mure geioorfen haben, vnd kam hannihal mit sinem her.
biz an die porten Coloniam. i) I)o kam Siluius ^) der
orerste Rotherre mit den Romern gegen ime. vnd do si
zesamen solten varn. do kam ein grozzer regen mit einem
hagel gemiscliet daz si kum entließen in die gezelt . vnd
do ez schon toart. do wolten si aber ze sammen sin do
kam ein noch grozzer regen danne vor. vnd musten aber
ßiehen in die gezelt. Do bedahte sich hannibal daz daz
urluge ivider got iver . vnd kerte von der stat. Darnach
wart Scipio affricanus in hyspaniam gesant von den Ro-
mern, vnd an dem ersten zu riten gewan er die nuwen
kartaginem. Do vant er grozzen schätz von golde vnd
Xllllb. von Silber vf kxmftigen solt den rittern zegeben. vnd vink
ouch aldo Magonem hanibals bruder. vnd den sant er ze
Rom. Do Scipio in hyspanie gesiget do für er in Affricam.
vnd streit mit dem hertzogen der Penoren ^) genant ivaz.
vnd slug den ze tode tnit . XL. üisent mannen . do er daz
alles vei'wustet. do sariten die von kartagine zu hannibal.
vnd enbuten ime daz er in zehilfe kerne. V7id do hannibal
daz vernam. do zogeie er vz ytalia. vnd alle die ritter
die ime niht gevolgen mohten. die slug er zu tode. vnd
also kayn er ze karthagine . vnd wurden beidersit tedingen
vmb fride. vnd konden niht eintrehtig iverden. vnd wurden
die von kartagine siglos. daz hanibal ntit vier ritten'^)
kume entfioch. Do für Scipio in die stat kartaginem.
vnd gewan ouch die.
von Ro me.^)
In der iar zal. von daz Rome gemachet wart, funf-
XIIlIc- hundert, vnd. XLVI, iar.^) Do namen die vrluge die do
1) ColHnam, A. B.
2) Fulvius, A. B.
3) et facta pugna cum Poenis, A. B.
■*) 1. rittern.
5) De punico hello, A. B.
'•) 566, A. B,
Martlnus Polonus. 377
hiezzen punica ein ende, vnd zehant do viengen an ander
vrluge aber an mit den von Macedonia. vnd daz hielte
Flameus der fünfte *) ein ratherre . vnd nach vil vrluges
gesiget er den Maeedonien an. vnd gab irem kungej^hilipp
einen fride. vnd die Romer die vnder Ilannibal verkouft
xourden. die wurden tvider praht. mit heschornen haubten
zu einem zeichen, daz in der dienst, vnd die eigenschaft
were zemaJe abe geivisehet . vnd aber dar machet der kunig
antiochus ein vrluge mit den Romern . vnd kam vber mer
gevam. vz dem lande Asya. Europam dem lande.-) dem
kam hannibal von Africa zu. vnd gesellet sich heimelich
zu im. do tvart Antyoclais vberwxmden. von Lucio Cor-
nelio vnd Marco . Scipione . Atilio . ^) ratherren von Rome.
vnd hanibal kam von erst in den schiffen Anthyochi. vnd XlIII'i-
ßoch in den. vnd machte Anthyochus einen fride. mit Sci-
pione. vnd den Romern. vnd also vberslahe ich vil vrluge.
Jde mit kurtzzen ivorten. vnd daz loaz daz Macedoniscli
vrluge. . a. b.
V on ro m e. *)
In der iar zal. von daz Rome gemachet tcart. VI.
hundert vnd zioei iar. vnder Imcio Censorino . vnd Marco
Maulino ratherren. hub sich daz dritte punisQh vrluge.
loanne do der senatus ze rat tvurden kartaginem ze ver-
tilgen, do füren die ratherren zu mit Scipio affricano. der
do Tribunus lodz . vnd beruften die kartaginenses ze sam-
men. vnd gebuteii in daz si in geben allen iren harnasch
vnd ir schif. daz geschach. darnach hiezzen si aber die
Romer . daz si zehen tusent schrit hindersich von dem mere
entwichen, do wurden si so gar sere beswert. daz si do XV »
Icuren. mit strit lieber zesterben. denne daz si loolten also
entwichen, vnd erweiten ziven astinbales^) die ir her leiter
') Quintus Flainlniu:?, A. V>.
'■') in Europam transiens, A. 15.
^) Cornelio Scipione t-t Marco Atilio Glabrione Coss., A. B.
••) de tertio ptinico hello, A. B.
'•>) duos Asdrubalcs, A. B.
378 Martinas Po Ion US.
weren. vnd machten wappen von silber vnd von golde.
vnd die gelegenheit der stat kartaginis waz alsus . daz in
einem graben vmh die muren daz mere gink. mer damie
dru tusent schritte lang an die gegent die man uf tet des
veldes halb. Do waz ein mure. XXX. fuzze tief mit ge-
vietten steinen gemuret. vnd ivaz. XL. cloftern hoch, vnd
LXX. die do heizzent jyirse . vnd hat hitzel nie danne
, tusent schritte lang, vnd do kartago von Scipione. vnd
von den r atherogen geiounnen loart. do gaben ir sich in
iren dienst. XXX. tusent man. vnd. XXV. tusent frowen.
vnd die andern die in der stat lieber icolten verbrinnen in
XV b. dem füre denne si den Roynern ivolten dienen, vnd also
wart kartago an gezwult. vnd hrante. XVII. tage^) on
vnderloz . vnd also iqart daz der stat ein stein niht gantz
bleib. Do waren vergangen . VII. hundert iar . vnd in dem
ersten dar nach, vnd also nam daz dritte vrh(,ge ein ende,
daz do hiez bellum punicum . in dem vierden Jare . wanne
daz urluge weret. XX. iar.
von rom.^)
In der iar zal. von dem daz Rome an vink. VI.
hindert vnd. VI. iar. daz waz dez selben iar es do kar-
thago zerstöret wart. Pigneo Cornelio Lenuilo. Lucio
ratherren . do icart Chorucus ^) die namhafte . vnd die
richest stat. vnd allez daz lant Achia xoai't betwungen.
vnd zerstöret von den Romern. vnd do die stat waz an-
gezündet, do toaz so vil side vnd aptgoter von silber vnd
von golde . daz ez on zal 7vaz . daz floz vnd smieltz ze
XV<:'Same?i. vnd loart ein nuwe metalle daz hiez Cornicum.^)
vnd alle die vaz die ma7i dar vz machet die heizzen noch
vasa Cornicia. Bi der selben zit vnder Seruio vnd Flaco ^)
ratlierren. loart ze Rome ein kint geborn von einer dirnen
0 16, A. B.
2) De Cneo Cornelio, A. B.
^) Corinthum, A. B.
•*) Corinthum, A. B.
5) Servio Flacco et Quinto Calpurnio, A. B.
Martinus Polonus. 379
daz het vier fu~:e . vnd vier hende . vier oxigen . vier oren.
vnd ztven zumpen. vnd vier hoden. Audi in Sicilia der
berg ethna. warf grozces für vz alicmh in die gegen.
Auch huh sich in Sycilia daz dienstlich vrluge. ^) JJaz
nit die Homer allein ervert. vnd erschrecket auch sunder
die ratherien. Auch icas Sicilia daz erlichest '-) laut,
wanne si tourden manger snoden herschaft heiwungen . den
si dienen mnsten.
von ro m e. 3)
In der iar zal daz Home gemachet wart. VI. hun-
dert vnd. XXIIII. iar.^) do hiezzen die Homer die stat
hartagincm in ajfrica . vnder Celio Lucio vnd Cyto Fla-
miiieo ratherren . vnd daz waz in don . XX. iar^) nach XV wi-
dern daz si gestoret wart, und die hmounge geschach von
den Romern . die santen ir gesinde dar . die die stat icider
huiveten. In den ziten wart ein grozze zweiunge . zwischen
ßano.^) vnd Gracco vnd Ratherren . vnd der stat ze Rome.
Bi den ziten warf der berg ethna . vz furig fiammen iner
daime ie. vnd verprant die stat Cathenensem. vnd von
dem plage. Santen die Senatus von Rome. X. iar vz ir
zinse.
V on ro m e. '^)
In der iar zal von daz Rom gemachet icart. VI.
hundert vnd. XLI. iar. Do vrlugten Gneus. Maulinus,
rnd Quintus. Scipio .^) Ratherren von Rome wider zim-
bros vnd die Tuscan . ^) V7id Ambronas . Gallos vnd Ger-
mania, die wurden des eintrechtig. daz si den Romischen
gewalt vertilgen ivolten. die wurden doch ze letste vber- XVI «•
') bellum servile, A. H.
■') miserior, A. B.
^) De Lucio Caecilio, A. B.
■') 628, A. ß.
•■) 23, A. B.
••) Flavio, A. H.
') De Caio Munlio, A. B.
**) Cujus Manlius et Quintus Caepius, A. B.
'••) CymViros Theutonicos, A. B.
380 Martinus Folonus.
komen. ivanne ze ersten wurden der Römer erslagen.
LXXX. tusent man. vnd Marcus Emilius ein Ratlierre.
vnd zwen siner sune. vnd. XL. tusent man der Colonen,
also daz nilit wanne zelten man enpfluhen. die die leide
mere hin heim hrahten . vnd do die Tuscan vnd die Cumbri
in ytalien komen in grozzer kelle, vnd dar nach loolten
gemache haben mit spise vnd mit tränke vnd mit bade do
lourden . Quintus vnd Catulius *) etigegen in gesant . die
vielen vber si vngewarnet . vnd . e . si sich gesalzten zu
strit . do vbencunden si die grozzen menge . ouch nil on
iren schaden, vnd also wurden ir erslagen. hundert tusent.
vnd. XL. tusent. vnde. LXX. tusent gevangen. vnd die
sich selber . vnd ir iungen ertoten . noch wiplicher tobheit.
XVI 'j- der vnzelUch vil icaz. vnd zu einer gedenknisse dez grozen
glukes. machten die Romer einen lemp)el. von wunderlicher
gezierde . der noch hüte ist genant . zu vnser frowen der
grozzen.
von Rome.-)
In der iar zal von daz die slat Rome gemachel icart.
VI. hundert, vnd. XLV. iar. nach dem vrluge der zim-
bern vnd der Tuscan . do wart Rom so gar geswechet von
kriege vnd von partis. die si in der stat hellen vnder ein-
ander . daz si ze leiste nach gar vergangen waz . wanne
daz Maurius Quintus.^) ein Ratherre daz betrübet volk
mit senften worlen gestillet, vnd die erslug er die den krieg
an vingen.
von Rome.^)
In der iar zal von daz Rome gemachet wart. VI.
hundert . vnd . L Villi, iar . vnder Julio dem keiser . vnd
Lucio Marco . ratherren . harte wunder da geschahen . vnd
die Romer sere erschreckten vmb daz. ivanne bi den Ca-
>) Catulius, A. B.
2) de intestino bello, A. B.
^) Marius quiuto Consul, A. B.
'') De Jullo Caesare, A. B.
Martinus Polonus. 381
cajjtiuos 1) do si di lyrot solten brechen in der Ritterschaßß) XVIc
do ran hlut dar vz. vnd zu den Samneten hi Benevento
tet sich die erde uf . vnd ging ein ßamme dar vz uf hiz
an den hhnel. vnd alle die Tier die bi den hden pflegent
ze iconen. die liezzen stelle vnd fider . vnd lieffen mit
iemerlichem geschrei ze ivalde. vnd nach dem. danne die
hiinde die von natur heimelich sint. die lieffen vmb mit
iemerlichem Indien als die ivolje. dcz bezeichenunge zehant
darnach vz ging . ' ivanne der keiser Jxdius verlos einen
grozzen stnt. vnd entran selber kume. Poncius .^) der
Hhter icart überwunden, vnd in maniger pit'ovincien wur-
den die Romer siglos also vil daz der Senatus ein cleit
antaten von tnirikeit. daz cleit hiez Saga, vnd santen
daz ouch dem heiser Julio. daz er es an tete. Aber do XVI <••
Julius vnd Pomj)eius ir vinde vberwunden. do taten si
daz cleit vz. Dar nach besaz pompeius Ascalum die stat.
vnd geioan si vnd slug iren kunig. vnd. LXXX. tusent
lute der Masoren *) tot. Bi den selben ziten hub sich an
vrluge. vnder den burgern. dar nach daz vor nie mere
geschach. icanne der ratherren. vnd der Senaten, waren
etliche leider asillam. vnd etliche mit silla. xvider die an-
dern also daz der Romer manig tusent wurden erslagen.
vnd daz Quintus Catulus sjn'achen zu Silla. mit weihen
wir nu ze leiste gesigen gewappent in dem stnte . die slahen
icir danne zetode one were, vnd on ivappen. vnd uf daz
wort salzte Silla zu erste die tauein zu machen der be-
schrihunge in daz eilende, vnd in die ersten beschribunge XVIIa-
fünf hundert man vnder den waren ratherren. vnd also
wurden die Ratherren entweder beschriben oder erwürget
vnd also daz zoch sich uf zehen iar. daz do von stürben
vnd beschriben icurden hundert tusent. vnd fünfzig tusent.
Do starb ouch Silla. vnd nam der krieg ein ende, vnd
Pompeius betivank die lant in Onent zu einem grozzen
teil. vnd. XXII. kunige da mit.
») Tarentinos, A. B.
2) per convivia, A. B.
3) Pompejus, A. B.
'S) 18000 Marsoruiu, A. B.
Archiv f. n. Sprachen. XXIII. 25
582 Martinas Polonus.
von Rome.'^)
In der iar zal von daz Rome gemachet ivart. VI.
hundert, vnd. LXXXXIII. iar. hi dem keiser Gayo. vnd
Lucio hihulo ratherren. do lourden dem keiser Julio ge-
geben drie i^rovincien . mit . VI. legionibus . vnd luten . der
ist ieclich. IX VI. vnd. VI. hundert, und. VI. tusent.
die wurden ime hevolhen fünf iar . daz waz gallia . vher
die Alpes, vnd Gallia disseit alpen. vnd Licius^) galliani
XVI Ib. Comatani . vnd die galliani kriegten mit einem steten vr-
luge . wider die germanos . daz der Rin allein scheidet.
vnd der keyser betwank gallos. der vil erslagen wart, vnd
wüstet die stat Treuerim zu letste machet er ein brücke
A.-j- über den Rin. vnd für in Germaniam. vnd nach dem
daz der keiser die gallos betumngen het. do für er wider
gen Rom . do ivart im der Trisor mit dem schätze vor
beslozzen mit pompeius rat . vnd icart niht enphangen.
Do brach der keiser den Trisor uf . vnd nam den schätz,
vnd zöget in anninium 3) zu dem legionen . vnd zoch dar
nach alpes zu niassilia. vnd für von danne zu hyspania.
wider pompeius lute. vnd kam in ytaliam wider, vnd
machte . LXXXVIII. schar . uz sinem her . ze letste nach
grozzem kriege . den die Romer ivider ein ander hetten.
XWUc- Do ßoch 2)07npeius her in asiam daz lant. vnd kam von
danne in egyptum . vnd do slug in ptolomeus der kunig
zu tode in Egypto . vmb die fmntschaft Julij dez keisers.
Also zöget der keiser pompeio noch, vnd kam in alexan-
driam. vnd besante für sich daz houbet pompeij . vnd sin
vingerlin . do er daz sach . do weinet er gar sere . do kam
der keiser loider ze Rome . vnd wart dictator Ratherre ge-
machet, vnd für in ytaliam^) zehant wider die pompeiarios
vnd betwank die. vnd zogt ivider zu Rome. vnd hielt do
daz fursten ampt . III. iar . vnd . VII. monen . vnd loart
1) De Cajo Caesare, A. B.
2) Illlricus, A. B.
3) Ariminum, A. B.
■*) Hispaniam, A. B.
Martinus Polonus. 383
do erslagen. von verretnisse. Bruti vnd Cassi. vnJ also
umz Rom berihtet rnder kimige von Romulo ziten . II. hun-
dert vnd. XLVII.iar.'^) vnd vnder den ratherren. Uli. a.-\-
kundert. vnd. XLIIII. iar hiz an Julium den heiser. XVII J-
vnd Jidius der keiser sta7-b an dem . VI. vnd fimfzigsten
iar. sines altes, vnd sin corper luart verhrant noch der
getwonheit. vnd daz volk satzte inie ein starke Mermelin
sid . hundert . vnd . XX. fuzze hoch . vnd machten sin grab
dar uf en mitten in der stat. vnd ivart die sul Julia ge-
heizzen. vnd an dem hundertsten tage vor sinem tode. do
viel ein donre stral von dem himel bi der sul nider die
ime gemachet ivaz. vnd slug dar abe einen buchstaben.
ein C. vnd an der nechsten nacht vor sinem tode . do
füren die slof kamern uf vnd zu so sere. daz er vz dem
bette lief, vnd loonte ez loolte daz hus nider vallen. vnd
dez selben tages. do er in daz CapitoUum ging do wur-
den ime brief gegeben . die uf iren tot geschribeii woren.
vnd het er die ze hant gelesen, so were er nit erslagen. XV^III»-
vnd do man in tot trug, do vant man die brief e in siner
hant beslozzen. Do sprach der ochse zu dem ackerman.
hirtzlich bezeichent^) iner lute. danne kom. war vmb
iagest du mich so sere.
von Rom e. ^)
Ä7i der iar zal von daz die stat Rom gemachet wart.
VII. hundert, vnd. X. iar. do Jidius der keiser gestarb,
do kam Octauianus sin neue, den nam man an daz riche.
wanne do er noch ein Jungeling waz. Do kam er gen
Rome vnd vbet sich . vnd sin manheit in einem ieclichem
sirit. er vaht ouch fünf strite bella Ciuilia. daz vrluge
Mutinense. daz vrluge Philippense. daz vrluge Persinum.
daz vrluge Sycidum. daz vrluge Atticum.
von Rome.
An der iar zal. von daz die stat Rome gemachet XVUl^-
1) 267, A. 241, B.
2) deficient, A. B,
3) De Octaviano Augusto, A. B.
25'
384 Martinus Polonus.
toart. VII. hundert, vnd. XXV. iar. Do harn der heiser
Augustus von Orient, vnd het die rieh do hetwungen. vnd
harn hin ze Rome. Do wart er zu ersten geheizzen Augu-
stus von den Romern . daz er den gemeinen nutz gemert
het. vnd der naine heclihet sinen tiach komen. der in be-
zeichent die obersten wirdekeit vf ertriche des riches. der
in hriechischer zungen heizzet. Monarchia. von do Octa-
uianus Augustus ivart genant, do zoch er mit eiiieni her
in hyspaniam . vnd alle die andern lant vnd ricli . betwanh
er mit sinen heimzogen vnd amptluten. bi den selben ziten
hetwang er Pannoniam daz nu vngern ist genant mit sinem
stlefsun den er dar sante. vnd tilget die mit mangem tot-
slage. vnd dar nach Germaniam daz sich von vngern
y^^llc zxdiet biz an den Rin. wan als Orosius seit, vnd Solinus
von den wazzern in Germania, daz ist die Elbe, die
ßuzzet von Peheim. vnd die entspringet^) in Merhern.
vnd die vilse entsjyringet in Polan. vnd durch daz lant
wider daz mere in die Germaniam . harn Tyberius von des
heisers wegen mit ziveilf leigionibus von Rittern, vnd vr-
lugten tvider si . III. iar . vnd daz vrluge waz den Romern
so groz vnd vorchtsam daz als Swetonius seit, daz in nie
kein vrluge so schedelich wart, ane daz vrluge Cartagi-
nense . ivanne si zu Germania . III. legiones von rittern
A.-(- verlier?!.
von dem keiser Octauiano dem Augusto.^)
Nach vnsers herren ihesu christi geburt. richsent
Octauianus der keiser. XLIII. iar. 3) vnd waz ein
XVIII d. Romer von geburt. Sin vater hiez Octauianus ein Se-
nator, von der muter waz er geborn von Enea. vnd
waz neue dez keisers Julij. vnd waz an ime ein wünsch
der werlde. in einem gewalt. ouch wart sin glich nie.
') et Grutales i. e. Odera, qui nascitur in Moravia, A. B.
-) Hier beginnt in A., B., C. der Paralleldruck.
3) 1. 14.
Martiniis Polcmus. 385
wanne er on alle bosheit wa/,.') vnd lohte nach luste.
Er pflag bl. XII. Juncfrawen ze sloffen, ouch sahen in
die Römer also schon ze Avesen. daz in nicmant vnder
engen mohtc an sehen, vnd waz so gluckhaft, daz er
alle die werke im zinshaft machte, vnd sprachen zu ime.
Avir wellen dich an beten, wanne gut ist in dir. wer
des niht. dir niohten alle dink niht als glucklich gen.
vnd daz vers])rach er. vnd bat dez ein frist. vnd dez
besant er zu im Sibillam von Tyburtina. ein wissaginne
vnd seit der. Avaz im die lute lietten für geleit. do bat
Sibilla. m. tage frist. ime dar uf ze antworten, vnd XIX«-
vastet dri tage, vnd noch dem dritten tage, antwurt si
dem keiser also, ze einem zeichen des o;erihtes ist die
erde von sweizze naz . von himel ist komen eweclich
künftig et cetera. Do zehant tet sich der himel uf . vnd
kam ein lieht uf in. vnd sach in dem himel die schön-
sten iuncfrowen sten. ob einem alter die het ein kint
an irem arme, vnd des gesihtes Avundert in sere. vnd
horte ein stimme die sprach, diz ist der alter des gotes
sunes. Do zehant do viel der keiser uf die erden . vnd
betet ez an . vnd do er die gesiht seite den Senatoren
dez Avundert si sere. diz fresiht «xeschach in dez keisers
kamern Octauiani. in dem Capitolio daz nu ist A'nser
frowen kirche in dem alter, vnd do Octauianus zu Rome
käme Avider A'on Orient. A'nd do gesiget hat. mit dri- XIX''-
ualtiger signuft. Do wart er gegruzzet von den Ro-
mern mit dem namen augustus . Avanne er den gemeinen
nutz dez riches gemcrt het. A^ad also betAvank er alle
lant. vnd slug der von Germania vil zu tode. A'nd ving
ir. XL. tusent. vnd fürt die in galliam. vnd satzte die
aldo an dem rine zebliben. Also Avart nie man seliger
uf ertriche ze striten . XLIIII. iar. die Avil er dez riches
wielt allein, vnd. XII. iar mit Anthonio . der anthonius
waz auch ein Romer. vnd also Avart er ouch bcromt
daz er die etat mit ziegel. vnd mit mcrbel liez zieren. a.-{-
') neque vitiis cariilt, A. B. C.
386- Martinus Polonus.
vnd an dem . XXIIII. iar i) sines riches starb virgilius
A.-j- ze brunduöia. vnd wart sin gepein gefurt. gen Napels.
Bi Octauianus ziten waz ein namhaft Tabern vber die
Tyfer. die wart genant Eruentoria^) AA'anne die ritter
XIXc- von sinem solde verdienten daz si vertoten mere kurtze-
wil. vnd alda floz ein brunne in der nacht mit olei. do
got seborn wart, do hat sider Calixtus ein kirchen o;e-
machet vnd gepuwen vnser frowen. Also starb Octa-
uianus Augustus in dem iar sines alters an dem riebe.
LVI. iar 3) bi der stat Etalta in Campania wart er be-
graben in dem velde marcio. Auch luart hi sinen ziten
c. gerechent die zal der hurger zu Rom. dru hundert tusent.
A. + vnd. LXXX tusent.
Tyberius richsent.
Tyberius richsent. XVIII. iar. biz an daz iar
daz got gemartert wart, der waz Octauiani stief sun.
vnd tochterman. vnd waz och ein kint dez Wunsches.
k.-B.c.vnd ein grozzer trinker dez ivines. vnd waz wise vnd
gluckhaft in dem wappen. vnd waz wol geleret der
XIX (1- Schrift vnd wol spreche, vnd doch eines unsteten hertzen.
wanne er piniget die sinen. vnd die fremden dicke von
A. -f vnschulden . vnd starp in Campania. in dem XVIIl.
iar.*) sines riches. vnd. LXXXVIII. iar sines alters.
dez die lute alle fro waren. Auch war er sitik mit
allen sinen werken, bi sinen ziten wart der meister
Ouidius in daz eilende gesant. er machet ouch poncium
pylatum richter der Juden . an der stat seit Josephus
in der Juden hystorien . ein meister ein lobelich gezuge-
schaft von Christo, vnd sprichet. bi den ziten waz
Jhesus ein wise man. ob man in einen man sol nennen.
vnd waz ein wurker vnd ein lerer wunderlicher werke.
A.-}- vnd zoch an sich mit siner lere vil der Juden, vnd der
1) 26, A. B. 25 C.
*) 1. emeritoria.
3) 77. Attela, A. B. G.
*) 23, C.
Martinas Polonus. 387
Heiden. Also nach vnsers lierren niartcr richsent Ty-
berius fünf iar. bi den ziten Avart poncius pilatus in
daz eilende gesant zu vienne in purciundia. iimb vil ^^"^
Sache die er wider den keiser tct. vnd vnib grozze ar- a.-{-
beit die er do leit stach er sich selben ze tode . auch
wart herodes mit sinem wibe herodiade in daz eilende
gesant ze vienne von Tyberio. vnd stürben do beide
revviclich. diz waz der herodes. vnder dem sant Jo-
hannes enthaubtet wart, vnd vnser herre c-ot iremartert. a.-I-
Gaius. der euch genant waz Galigola. richsent
III. iar. vnd. VIII. monde.i) vnd waz der Boste der
ie wart . wanne er beslief zwo siner tochter . -) die eine
gewan ein tochter . die minnet er euch . er waz Neue a. b. c.
Tyberij dez keisers. Jeronlmus seit von dem ersten c.
Gayo 3) dem keiser wurden alle Romischen kunge keiser
genant. Der seihe Gayiis do er so vil boskeit getreih mit c.
tmkusch vnd mit andern bosheit. Do ivart er erslagen ze XX h-
Rome in dein palast. a.-\-
Claudius richsent. XIIII. iar. vnd. XXVIII.
tage.^) waz Caligolus veter vnde machet ein vrluge wi-
der die von Britania. vnd etlich inseln enseit Britanie
betwank er auch an daz riebe, die hiezzen Archades,
der lebt. XLIIII. iar . s) vnd Avart nach sinem tode ge-
heihget. vnde zu den gotin genant er het keinen gedank.
wanne do sin wip erstochen wart. Dar nach kurtzlich
laff er in siner kamern. vnde frogte war vmb sin frowe
niht zu ime kerne, vnd er waz ouch zu allen ziten vnd
an allen steten vngeordent an siner spise . vnd an sinem
tränke. Er het loib hiez Messelena, die icaz so rnkusch c.
daz si sich heimelich liez minen . in den bösen husern.
vnd zeletste offenlich einen ieclichen . dez genüget si niht
>) 3 ann. 10 mens. 8 dies, A. B. C.
2) sororibus, A. B. C.
3) Julio, C.
'^) 14 ann. 7 mens. 29 dies, A. B. — 28 dies, C.
5) 64, C.
388 Martinus Polonus.
XX c- vnd zohe ouch ander edel froioen mit ir in die hosheit.
Do diser Claudius sterben solde . do satzte er von sines
wibes rot sinen Ayden. Neronem in daz riebe, vnd ver-
A.-|- sties sinen sun i) do von. Bi diz Claudius ziten kam
sant Peter 2) ze Korne, vnd berihtet do die Cristenheit.
c. XXV. iar. bi den selben ziten erschein der fenix in
Agypto . der vor VI. Imndert iar . in Arabia erschineyi
waz . inan seit aucli . daz er lebe . VI. hundert iar . vnd
sich danne iunk mache in dem für. Er ist ein vogel groz
als ein Are. vnd uf dem hoxdjte gehronet als ein hane.
vmb den hals ist er goltvar . an dem hinderteil purper var.
A.-\- an dein zagel rosen var. vnd pleich.
Nero richsent. XIII. iar. VII. monde. vnd. VIII.
tage 3) . der verboste romisch rieb vnd minret ez. Er
vischet mit gülden netzen . die man mit guldinen . vnd
XX d. mit sidenen seilen zocb. vnd erslug einen OTozzen teil
des senatus . vnd waz allen guten luten vint . vnd er
erslug vil siner frunde sin wip sin bruder sinen meisten
vnd zündet die stat an. vnd waz der enste ehter der
Cristenheit. dar vmb wart er verlozzen vor allen Ko-
A.-\- mern vnd von den Senaten ein vint gezalt vnd ein vint
der stat. Bi sinen ziten wart sant Jacob vnsers herren
bruder gemartert. Er tet ouch Senacam sinen meister.
A. B. c. vnd hiez ime lo^zen in einem bade . daz er starb an siner
angesiht. In der zit wurden die Juden dem rieh vn-
gehorsam vnd wart vespasianus dargesant von Nerone.
A. B. c. auch tet vespasianus *) allen sinen fleiz . daz sant peter.
vnde sant paulus gemartert wurden. Also do die Rö-
mer Neronem suchten vnd wolten in erslahen . vmb daz
XXI a- die stat waz verbrant von ime. vnd vmb ander bosheit.
die er begangen het. do flöhe er in den palast. do si
ime nach iageten. do stach er sich selber ze tode in
1) Britannicum, A. B. C.
2) et Paulus, A. B,
3) 29, A. B. 19 C.
^) Nero, A. B. C.
Martinus Polonus. 389
der vor stat. zwischen sal.iriain viid Numentanam . in
der vierden wil i) der stat. vnd do azzen in die avoH'c.
von dem seit Swetonius . daz er so böse waz . daz er
an dez menschen Hbe kein stat noch gehde reiner oder
vnreiner ahtet danne daz ander . vnd do von erloubet
er den sinen ketzzern alle bosheit. Er tet kein cleit a. b. c.
mehr an. danne daz einstunt. Er besluck auch an kei-
nen dingen so erlichen als an puAve wanne die gezierde
sines palastes. vnd sines wappen . waz alles von golde
vnd von silber. vnd von edelm gesteine. von helfinpeine.
vnd von so grozzer koste, daz vnzusagen ist. Bi disen
ziten do wart der Coliseus uf gci'ihtct. der waz hundert XXIb.
fuzze-) hoch. a.+
Vespasianus 3) richsent. XL wochen . vnd. IX.
iar. vnd. XXII. tage.*) der wart keiser gemachet, bi
Palestino dem here . er wart verborgcnlich tjeborn . vnd
mit guter behendekeit, vnder ime wart die Judescheit
betwungen von Römischen reichen. Diser vnd sin sun
Tytus gewunnen Jerusalem . vnd dar vmb gewunnen in
die Römer sere lieb. Er starb von der Rure. vnd do
er sterben solde do richtet er sich uf vnd sprach: Ez
ist niht reht. daz ein keiser Hgende von dem ertriche
scheide, hie wart er euch von Claudio in germaniam.
vnd in Britaniam gesant . vnd streit do mit den vinden
ze . XXXII. molen.-^') vnd die sterckesten vnd die besten
betwanck er vnder daz riche. a.-}-
Tytus.
Tytus richsent. III. iar. der stört Jerusalem mit XXIc-
sinem vater vespesiano. vnd alle die gezierde dez tem-
pels sante er ze rome in den tempcl dez frides als Je-
') 1. mil. milliarium, A. B. C.
2) 140, A. B. 107, C.
3) Galba in A., B., C. ist übergegangen.
'S) 9 ann. 10 m. 12 d., A. B. 9 ami. 11 m. 22 d., C.
*) 32, A. B. tricies et bis, C.
390 Martinus Polonus.
i'onlinus seit, diser Avaz also volkomen an allen tugenden.
daz er geheizzen wart ein wollust menschlichen kunnes.
er liez ouch die bhben in der ersten fruntschaft die
wider in gesworn heten. Er waz also milte. daz er
niemant verzech der in bat. Er wart begraben do er
starb in dem stetelin . do sin vater begraben wart . vnd
so grozze clage vnd weinen waz vmb sinen tot zc rome.
c. daz sin ze vil waz. Alleine der vater grozzer hujent toere.
doch furkam in der sun an tilgenden . daz man in für den
vater erte an der schrift vnd vnder der gemeinen rede.
Domicianus richsent. XIII. iar.^) vnd. V. raonde.
XXI '1- Der Mez Joluinnem eio angeUstarn von Ejiheso füren zu rom.
A.B. c. vnd liiez in setzen in daz sident olei. vor der porten la-
tina . dar vz er gink vnverseret. Diser domicianus waz
Tytus bruder. an den ersten iaren waz er gut vnd
senftemutig an dem riche . zehant dar nach beging er
so vil vntugent. daz er daz gut wort sines vaters vnd
eines bruders zumale swachet. Er erslug die eldesten
von dem Senatu . vnd waz der erste der sich got hiez
nennen . vnd wolt kein sul in dem Capitolio lazzen
setzzen wanne die guldin oder silberin were . er tet
Johannen! evangehstam in patmos senden, vnd tot der
Cristenheit die andern anuechtunge noch nerone. vnd
wie er vespasianus sun were. doch waz er im vnglich
an tugenden . wanne er ouch verhaszet waz von allen
XXII a- luten. do wart er erslagen von den sinen in dem palast.
an dem iar sines alters . XXXVI. iar . vnd wart mit
vneren begraben, bi sinen ziten wart gemartert. Dyo-
nisius mit siner geselleschaft . vnd sant Lucianus der
saut peters Junger waz. die sant Clemens ze sammen
schicket, vnd si in Galliam sante. Bi disen ziten do
wart gemachet daz tempel pantheon. daz nu ist zu vn-
ser frowen der Rotunden, vnd von dem wart es ge-
machet, die Senatores vernamen. Daz die von Persia
sich satzten an daz rieh, vnd wolten dar gesant haben
1) 3, A. B. 13, C.
Miirtinus Polonns. 39t
einen prcfecten von der stat . der het dri tage frist üicli
ze beroten, vud do er in einer naht also lag. vnd also
entslief. do erschein ime ein wib die sprach, daz er
gelobet einen tempel ze machen in ir ere. als si in
wiset. si wolt ime helfen daz er n^esiffet wider die Per- XXIIb.
scn. vnd nante sich Cybelin ein muter aller goter. Do
globt ir Agrippa der prefecte. vnd ging des morgens
fru fui' den Senat vnd saget ime die 2;esihte. vnd also
sant in der Senatus mit vil gezierde mit schiffen vnd
mit Inten vnd mit fünf Icgionem . mit rittcrn in persiam.
vnd betwank si mit alle.
Nerua.-
Nerua richsent. I. iar. vnd. Uli. monde. der
widerrufte alle die ding die. Domicianus setzet. Er
liez ouch Johannem evangelistam vz dem eilende von
patmos wider varen zu Epheseos. a.+
Trayanus richsent. XIX. inr J) der betwank
Asiam. vnd Babiloniam. vnd für do in Judeanj noch
allcxandro. diser tet der Cristenheit die dritten ehtc.
daz waz von siner diener rate, vnd niht von sin selbes XXII c,
willen . er waz geborn . von dlenstluten vz hyspania.
vnd wart in Gallijs bi Agrippa keiser gemachet in
ytalia vnd bereitet vnd meret daz rieh vil nach Augusto.
er für in dem roten mere biz in indiam . vnd mähte
schif alda mit den er daz lant Indiam verwüstet. Er
waz gemeine vnd siecht gen den Romern . vnd gen allen
landen, vnd waz grusam^) gen sinen frunden steteclich.
xnd do er wider kam gen per-siam noch grozzem lobe
vnd signunft. do starb er vnderwegen von der rure.
Sin gebein wart ze sammen gelesen in einen guldinen
eimer. vnd ze Rome gefurt. vnd vnder ein sule gcleit
do an dem markte . den er gemachet het . vnd die seul
heizzet nach sinem namen Traiana. vnd ist. LX. vnd
0 18, C.
a) überaus, A. B. C
392 Martinus Polonus.
hundert^) schuhe hoch also wart er von den keisern^)
XXII '1- begraben, vnd vnder die gote gezalt. vnd zu sinem
lobe ewicHch ist in dem Senat gemachet, daz man den
fursten rufFet. vnd daz sehget Augusto. vnd pezzert
Traiano. 3) Under ime wart' gemartert sant Ignacius.
,der Junger waz sant Johannes ewangelisten. "vnd ein
Bischof, anthyochus. Wanne do Traianus kam vnd
o:esio;et het. vnd het den Cristen ^edrot. do beofegrent
er im vnd verlach daz er Cristen Avere. der wart mit
ysen gebunden vnd zu Rome gefuret. vnd gemartert,
vnd do sin hertze ze kleine stucken gesniten wart, vnd
do stunt Cristus name an einem ieglichen stucke mit
guldinen buchstaben. geschriben. Bi der selben zit
bluet astachius der vor placidus hiez. vnd waz meister
der ritterschefte des keisers Trayani . dem Cristus er-
XXnia. schein an einem geiegde zwisclient eines Idrzes Jwrti. vnd
A. B. also nu do Cristus irae vor seit, do leit er mit wibe
vnd- mit kinden grozze arbeit. Bi der zit verbrant der
tempel pantheon von einem himelschen für vnd wart
dar nach wider gemachet. Bi der zit lebte plinius ora-
c. tor . der den heiser senftet von der eläunge der Cristen-
Jieit. uHinne er im scJireih daz (e?') niht vhels an in funde.
danne daz si den goten nicht opferten, vnd daz si Vortage
xif stu7iden vnd Cristum lohten zu einem got. Bi disen
ziten icart Symon vnd Cleophas Jacohi Mumen sun vnd
A.-f- auch bischof icaz nach ime gemartert.
Adrianus.
Adrianus. Traianus sun. richsent. XXI. iar. der
betwank die Juden zu dienen, zu dem andern mole.
XXIUb. die vngehorsara waren worden vnd besetzet die stat
Jerusalem mit andern luten. Diser waz ze allen dingen
lobelich. vnd machet vil nuwer gesetzte, vnd hiez ein
') 140, A. B. C.
2) SC. solus intra urbem sepultus, A. B. C.
•■') ut in Senatu Principibus non aliter acclamaretur nisi
felicior Augusto melior Tr aj ano, C. — adamaretur — tyranno, A. B.
Martinas Polonus. 393
sul In siner er machen in der stat. vnd Avie daz er
Traianus neue Avere, so heizzet^) er doch die ere die
Traianus het. vnd hiez drie prouincien von dem riche
komen . daz waz Syria . Mesopotanea . vnd armenia die
Traianus gemachet het. vnd wohc ouch Daciam hin
haben gelazzen do werten im die frunde vnd erschreck-
ten in. daz er do von Hezc. ^^'anne do Traianus. Da-
ciam gewan. do brahte er von danne. ein vnzellich
menge mit hiten gen Kome. Die dicker musten arbeiten
vnd wo man ir bedorfte. Do machet er fride in dem
riche. die wil er lebte. Er waz ouch wolgespreche in
latinischer vnd in kriecher zungen. vnd waz endelich
vnd sorksam vmb den Trisor. Er starj) zu Campania XXIII c-
in dem . XXI. iar sines riches. Der Senat wolt im
niht gotlich ere erbieten, doch erwarb ez sin nachkom-
men an dem Senat daz man in heiliget als die andern,
vnd der Adrianus. machet Jerusalem wüder. vnd gebot
daz man keinen Juden dar inne liez . sunder Cristen-
lute. Do wart die stat Caluarie do got gemartert wart a. u. c.
in die stat begriffen mit den muren . daz vor vz wendig
lag. vnd wanne er hiez Elius Adrianus. do nante er
die stat Jerusalem nach sinen namen Elya. vnder ime
Avart gemartert ze Rome. die heilige Juncfrowe Seraphia
geborn von Anthiochia. vnd wonte in einem huse. mit
einer gar edelen frowen hiez Sabina. die si bekerte zu
Cristen glouben. vnd do sant Serapia gemartert wart. XXIII ^i-
do läse sant Sabina ir gebein zesammen. dar. vmb wart
si ouch gemartert. Diser Adi'ianus gebot mit sinen a. b, c. -|-
brieuen. daz nieman die Cristen toten solde. on rede-
liche Sache einer bosheit. Also do er den gemeinen
nutz der stat vnd dez richs mit rechtlichen Sachen ge-
ordent vnd gci^chicket het. vnd do zu Athcnis ein Biblio-
cetam von wunderlichen werke gemachet het. do starb
er zu Campania. Bi den ziten der gotes dienst zu ersten c.
in kynevhischer gewanheit in kriechen begangen ivart. Orien-
talis der vor in Abraharnische loart begangen.
') gloriae invidens, A. 13. C.
394 Martinus Polonus.
Anthonius der . .
Anthonlus der milte richsent. XXII. lar. vnd
dri monen. Diser gewan den namen der milde dar vmb.
XXIIIIa. Wanne in allen landen do erlemant vant der umb schulde
oder bekumert waz den loste er. Er waz Adrianus
tochterman. vnd waz milde wider dieCristen. vnd rich-
sent so senfteclich. daz er von schulden milde, vnd ein
vater waz. Nach sinem tode wart er begangen als Ro-
mulus . vnd starb in sinem dorfe Ortam . XII. mile von
der stat. vnd wart gezalt vnder die gote. vnd wart ge-
heiliget. Bi der selben zit waz Galienus der artzte ze
Kome. bi der selben zit lebte ouch pompeius Trogus
von hyspanie . der alle die hystorien von der zit Niniuen
des riches Assyria biz an die zit dez keisers ze Latin
machet vnd teilet die in. XLIIII. teil der buch Con-
pendium. aber kurzerunge machet Justinus sin iunger.
vnd der selbe Justinus machet dem keiser Anthonio ein
XXIIII'^ buch von der regeln der Cristenheit. vnd machet in do
mit milde vnd senfte gen der Cristenheit. Diser An-
thonius waz so milde daz er niemant herte waz. vnde
brufet wie er die guten erte. Man seit von ime daz
er spreche ich wil lieber nach der gewonheit *) einem
burger leben behalten denne tusent vinde ertoten, der
het ein tochter die zwen schirmer mit ein ander vehten
sach . vnd entprant in dez einen minne so sere . daz si
do von siech wart . vnd wart irem man Marco Anthonio
daz sagen, dem rieten die ertzte von Caldea. daz er
den schirmer tet erslahen. vnd die frowe mit dem blute
bestrichen, daz er verguzze. vnd do daz geschach do
A.B.-(- verginge ir die liebe, vnd wart gesunt. s
Marcus.
Marcus Anthonius der gewere richsent mit
sinem bruder. Lucio. Aurelio . Commodo. XIX. iar.
XXIIIlc von dem vink Roma an zwen keiser mit ein ander zu
•) exemplo Scipionis, A. B. C.
Martinus Polonus. 395
haben. Diser der M-art gar biderbe . doch wart die
cristenhcit gepinget von sinen dienern mit der vierden
verehtunge. Bi diser zit wart der gemein nutz mit gar
gelichem rehtem berihtet . vnd von den amptluten wenik.
vnd do der eine starb, vnd der ander richsent. do wur-
den si in Asya in Gallia in Oriente vnd in üccidente
vil hite gemartert vmb Cristenglouben. In Asya wart
gemartert sant Policarpus mit . XII. siner gesellen. In
GalHa ze phyladelphia Sant Justus ein bischof von
Luo;dum mit jjar vil ander lute. Wer mohte disen
Marcum niht billirh loben. Er waz von sinen ersten
iaren gar senftmutig. Er waz von keinen dingen vber-
mutig. vnd hielt die lant in grozzer tugent vnd mildi-
keit mit g-eben. Er waz rilich noch der si^'nuft. ErXXIIII'i-
starb in pannonia. vnd wart geschriben gemeinlich von
alten luten vnd erlich vnder die lute *) gezalt. Bi dez
ziten lebte die heilige Juncfrowe Braxedis die die toten
begrub, vnd für sich selber bat daz si got ouch neme
von diser werlde mit der marter. des wart si von gote
erhöret, vnd starb och an der marter. vnd für gen
himel. Do diser kciser keiser Marcus geurlugt wider
die Germanos. vnd die Solanos. vnd dieGlanacos. vnd
die Assamatos. ^) Also daz der Trisor geleret waz von
gute . daz er den rittern nit nier het ze geben. Do
wolle er den Senat nocli daz lant niht betrüben vmb
fifut ze geben . vnde nam sine guldenin vaz . vnd siner
frowen gezierde. vnd verkoufFt die. daz er den rittez'n
ze geben hete. vnd do er y:esiget. do bessert er daz XXV*'^-
niht alleine, er machte ouch allen landen ir tribut lihter.
Commodus.
C 0 m m o d u s A u r e 1 i u s richsent nach Aurelio.
XIII. iar. mit Lucio anthonio. Dirre Commodus. An-
thonij sun. hette glucklich strit wider die Germanos.
er gedahte. Septembrem den monade ze nemen nach
1) 1. gote.
2) öclavos, Giauocos, et Sarmatas, A. ß. Glaucos, C.
39G Martinus Polonus.
sinem namen. Er wart ouch verbost von sines wibes
vntugent. vnd gink schirmen mit den luten in Anphy-
teatro. vnd starb eines gehen todes. mit so grozzem
hazze der lute. daz man in nante einen vint alles
A. -j- mensclilichen kunnes. sin nam waz zu tutsche der ge-
machtsam. vnd waz doch allen liifen vngemachtsam.
vnd wart erwürget in dem huse vegali. ^) Discr sante
XXV'J- philippum einen edeln Romer in Egyptmii genant in
Alexandriam mit siner Tochter Eugenia. vnd zwene
A.n.c.smie^) Protho vnd Jacincto. do solde er ein rihter sin
dez landes . vnd sin tohter Eugenia cleidet sich in mannes
cleider heimlichen, vnd für in ein munches closter. mit
A. B. c. iren brudern protho vnd Jacincto . vnd nante sieh euge-
nius . vnd waz so gar frum . daz si wart zu Apte ge-
setzet do der apt gestarb, vnd do waz ein böses wib
die waz geheizzen Meliuitia. die enpran in irre liebe
von do ir Eugenius der apt ir bosheit verseit. do rüget
si in vor allen den munchen vmb ein notzogunge . vnd
wart braht für iren vater der waz rihter des landes.
vnd wart an gesprochen vmb die vorgenanten schulde.
A. B.c. vnd do si stunt vor dem rihter irem vater. vud ir hru-
der bi ir. Do reiz si ire cleider von irem halse . vnd
XXV c- liez iren vater sehen daz si waz Eugenia sin tochter.
A. B. c. vnd Prothus vnd Jacinctus sin sune. Do wart vater
vnd muter getauft vnd alles ir gesinde . vnd wurden fro
des fundes der kinde . vnd daz wib die si an sprach,
die verprant von einem für von liimel.
Helius Pertinax.
Helius Pertiiiax vndSeuerus richsent. XVIII.
iar . dirre Helius bat den Senat . daz liezzen sin wib
keyserinne wesen. vnd sinen sun keiser. Do antwurt
ime der Senat . daz er sich lizze genügen . daz er rich-
sent mit vnwillen ze leiste, do wart er erslagen in einem
kriege vnder den rihtern vnd dem pretorius vnd Julio
0 Vestali.
2) eunuchis suis, A. B. C.
Martinus Polonus. 397
dem melster. 1) Diser helius pertinax avuz ein alter a.b. c.-|-
man. vnd an allen sinen dingen sieht, vnd räch sieh
allen dingen keinem. A.-f-
Seuerus richsent. XVII. iar. Er waz ouch ein
vrluger. vnd waz vvol gelert in kriechscher vnd latin- XXVJ.
scher zungen. vnd waz ze fragen endelich. vnd ze ge-
ben rilich. Diser Seuerus tet die die fünften verehtunse.
der Cristenheit in der manig heiige in manigen landen
wurden gemartert, ^^^d den Iconcius-) Orietus wart
enthaubtet. vnd liez Orienem mit. VI. sinen brudern.
vnd ir mutter ein witteben, vnd do der selbe Orienes
waz . XVII. iar . alt . do waz er so wol geleret in
gramatica. bi der'zit wart gemartert, yreneus ein bischof a. d. c.
zu lugthuie mit vil anders Volkes. Also starb Seuerus
in britania. daz nu heizzet Anglia Eborati. Diser Se-
uerus waz kark . vnd eines grimmigen mutes . vnd streit c.
vil strite do ez ime glucklichen ging. Er betwank die
Parthos . vnd Arabes . vnd brahte vil der lande wider
an daz riche. Der selbe waz ouch ein meister in dem XXVIa-
rehten. er w^az ouch ein gut philosophus on die grozzen
ere die er in striten gewan. ze letste het er ein vrluge
in Britanie vnd betwank daz . vnd zu einer Sicherheit
die lant zu behalten die er gewunnen het. machet er
einen graben von einem raere . biz an daz andre hun-
dert mil . vnd XXXII. mil. Diser loaz zu erste ein vogt c.
vnd kam also von einem anipt hiz uf daz andere, vntz
daz er keiser wart. Diser ivaz ouch der erste vnd der
letste geborn von Affrica.
Anthonius von karcalla richsent . VII. iar . vnd
sin sun Seuerinus. Diser Anthonius waz Seuerus sun.
vnd waz gar ein boswiht. vnder ime waz in Ercia^)
') seditioiie Practorianorum niilltum, ft Salui scelere obtrun-
catur, A. B. C.
2) pater Origencs, A. B. C.
3) Ilicricbo, A. B. Virclio, C.
Archiv f. n. Sprachen. XXÜI. 26
398 Martinus Pol onus.
funden die fünf erbiinge i) der schrift. Diser Anthonius
waz noch grimmer der siten denne der vater. vnd waz
XXVI b- so vnkusche . daz er sin stiefmuter nam zu wibe. Also
do er ein reise samment Avider die partes . do starb er
bi der stat Edyssam. in dem. Vll. iar sines riclies.
Marcinus^) richsent ein iar. mit sinem sune. vnd
A.+ do wart er erslagen.
Anthonius richsent. III. iar. bi dez ziten wart
die sehste der ernuwunge der schrift funden. Diser An-
thonius waz also vnkusche . daz kein stucke waz von
vnkusche. er wolde ez zertriben. ze letste wart er er-
slagen von der ritterschaft . Aiid die sinen mit ime er-
slagen.
Alexander richsent.
Alexander richsent. XIII. iar. diser wart von
dem her genant keiser. vnd von den Senaten augustus.
Er hielt die ritterlichen zucht gar herteclich. vnd hielt
bi ime assessorem whnanum ^) der ein meister waz die
XXVIc- reht zei rihten. vnd betwank die lute persas. die Ro-
mer heten in Hep. In Gallia ze Moguncia wart ime
der hals abe geslagen von den rittern . bi den ziten waz
Origenes noch den Aposteln, der beste lerer, vnd an
heilio;em leben in der Cristenheit . do beg-onde er machen
manigerleye bucher. vnd het stetes sitzzen. VII. Junge-
linge, vnd. VII. Juncfrowen die bucher schriben von
sinem munde . vnd schreib so vil daz Jeronimus sprach,
er het gelesen. VI. tusend volumina. oder pucher die
er gemachet het on episteln. vnd noch vil hellikeit
A. B. 0.+ schribet man von sinem leben, die wir hie geswigen.
c. Meminea des muter ^) wart von o^igenis vnd ander lerer
Cristen . vnd dar vnib slug st ir sun der keiser ze tode.
A.-{-sa7it ypolitus jiyschof ze portuensi icaz bi den ziten.
1) quiula editio, A. ß. C. ernuwunge.
2) Macrinus, A. B. C.
^) Ulpianum, A.
") Mammea, mater Imperatoris, A, B
Martinus Polonus. 399
Maxi minus richsent. III. iar. der waz der erste XXVI ''■
der von einem ritter ze keiser wart gemachet, on des
Senates rat . er verchtct och die Cristen . vnd betAvank
die germanos. vnd die persaz.i) ze letste verliezzen in
die ritter vnd wurde er vnd sin sun Maximinus dar
nach ein kint waz tot geslagen.
Gordianus richsent. VI. iar. Fabianus wart
habest zu Kom von der wisunge dez heihgen geistes
der ob sinem houbt in einer tuben wise erschein", vnd
sprach, du wirdest zu Kom pischof gewihet. Dirre
Gordianus do er die von persia betwungen het. vnd
gen Kome kam . do wart er ershigen von der verretnisse
phiHppi. A, K. c-f-
Philippus. vnd sin sun philippus . richsent . VII.
iar . diser der waz ein Cristen keiser worden von Fa- a. b. c
Viano dem pabst. bi dez ersten iare waz die zal tusent
iar erfüllet von der stat anvank. dar vmb die Körner XXVII a.
o-rozze hochzeit vnd freude begino-en an dem tag-e ze
eren. vnd die hochzit wert dri tage vnd dri naht.
Diser waz getouft von sant poncio dem marterer in der
stat. Nycena in der provincia. dise beide wurden er-
slagen von dem her . der vater ze Rome . der sun zu
veron. vnd der sun waz eines so grimmes mutes. daz
in niemant künde lachen machen. Dise zwen keiser.
liezzen iren schätz sant Syxto dem babste. vnd der
heiligen Cristenheit . die Decius der minner der niht. c.
keiser waz von saut laurencio vordert als man liset in c.
siner legende. Diser jMlipjnis der elter. loaz so volkomen
an Cnsten glouhen . daz er snelleclichen sin siinde bildet
vnd gotes lichnam enpking an dem ostertage offenlicli vor
aller der gemeine.
Decius richsen. IL iar vnd. IUI. monden. vnd XXVII b.
waz böse an allen dingen, vnd Avaz doch wise in dem
Wappen. Er hazzet die armen, vnd tet der Cristenheit
1) Tarthos, A. B. C.
26'
400 Martinus Polonus.
die . VII. verehtunge. Er waz geborn von der nidern
pannonia . vnd wart erslageii in dem pannesclien vrluge.*)
Gallus mit voll u.
Gallus mit vollusiano richsen. II. iar. vnd.
IUI. monen . vnd starb von dem swellenden buche . bi
der zit waz sant Ciprianus bischof zu kartagine.
valerianus.
Valerianus mit sinem sun gallieno riclisent.
XV. iar. diser betwank die lant. Gotland. Greciara.
Macedoniam vnd Asiam. dirre fürt ein reyse in Meso-
potamiam . vnd zu Jerusalem . vnd wart vberwunden.
von Sapore dem kunge von persia. vnd betwungen von
ime in einem vnerlicheu dienst. Avanne als lange er
lebte . so troet ime der kunig Sapor uf sinen hals für
XXVII c. einen Stegreif wenne er uf sin phert wolde sitzen. Do
diser valerianus an vinck richsen. do verehtet er die
Cristenheit so vil . daz mani«; heilioe sin blut vergoz
vnder ime. Do wart gemartert sant Cyprianus sant
Martinus sant Lucius der pabst. Galyenus rihtet von
erste daz rieh, vnd den gemeinen nutz biderbclich.
vnd dar nach liez er ab vor fulheit. vnd wart böser
danne vor. vnd dar nach wart er erslagen von verret-
c. nisse Aurelij des rotgeben . '^) von valeriano vnd Galyeno
xoart decius kunig. vnd noch heiser niht. vnd vnder dem
wart sant Syxtus vnd sant Laurencius gemartert . loanne
do Sant Syxtus fiir in hyspaniam. vnd vant die zwen
iungen . Laurencium vnde Vincencium . die fürt er mit ime
gen Rome . vnd Liaurencius bleib aldo mit ime . do für
XXVII '•• vincencius wider in hyspaniam . vnd loart do gemarter
vnder dyocleciano.
Claudius wart keiser gemachet. 7nit ivillen des
A. B. c. ScJiates . vnd richsent ein iar. vnd. VIII. monen. 3) der
') in bello Barbarico, Ä. B. C.
-) ducis.
3) 6, C.
IStartinnp Polonus. 401
hetwank die Gotos. die beten gewüstet INTyricum ') vnd
Maccdoniani die laut, vnd diser C'Iandius -wart vber-
"Nvunden von den Tiiscan.-) vnd starb in einer suchte. a.+
Aurelianus.
Aurelianus richsent. V. iar. Diser verchtet auch
die Cristen. vnd den sluo- ein donerslaj; daz er doch
niht starb. Er waz geborn von dacia repesi . ^) vnd
waz mechtig an vrluge. Er betwank die Schotten'')
strengiclich zu ßinf moleii. Er waz der erste der edel a. b. c.
gestein machet in sin kröne. Er machet ouch die rink-
niur der stat sterker denne si vor waz. vnd einen tem-
pel der sunnen. dar inne er vil goldes vnd gesteines
worchte. vnd satzte den baten swinen fleisch zu ezzen. XXVIII«-
Auch kam er in Gallias. vnd machte do gar g-rimme
gebot wider die Cristen. zu Senonis martert er sant
Columban. vnd vil ander lute mit ime. zu Anstisio^)
hiez er ouch vil lute martern. Ein stat in Gallia hiez
Genabium die nant er nach sinem namen Aurelianam.
vnd wart ze letste erslagen. von sines knchtes verret-
nisse . vnd wart vnder die gote gezalt.
Dacius*-) der richsent. Yll. monde.'^) Er waz
wise vnd milde . vnd mohte siner tilgend niht wol be-
wisen wanne er kurtzlich starb.
Probus **) richsent. VI. iar. vnd. TU. monade.
der betwank zwcn kunge. bi der zit stunt uf die ket/.zerie
Manucheus in dem lande. Er waz der erste genant waz
ein barbarus. vnd seit sich doch ein manucheum.^) Er
') Illyrlcum, A. B. C.
*) victis Alemannis, A. B. C.
3) de via Ripeiisi oriundus, A. B. de Dacia Ripensi, C.
*) Gothos, A. B. C.
5) Altisiodori, A. B. C.
6) Tacitus, A. B. C.
') 1 ann. 6 mens., C.
*) A. B. setzen Florian vor Probns.
") Persa genere, acer ingenio, moribus Barbarus. Manes priino
dictus: sed per adjectionem Manichaeum sc dixit, A. B. C.
402 Martinus Polonus.
XXVIII b- sprach claz zwen anvange weren einer guten dinge,
einer dez lichtes . vnd einer der vinsternisse . vnd brahte
vil siner nach komen in die irrunge. Dirre probus wart
erslagen von den rittern bi der stat Snircino. i)
Florianus^) richsent. zwei iar vnd. XII. tage. 3)
der Avart tot geseit von einem aderlazzen. Er tet nie
kein dink. daz wirdig were zu verschriben.
Clarius.
Clarius mit sinen sunen Carnlo'^} vnd nume-
rlano richsent. IL Iar. er waz an allen dingen böse,
vnd verdarb in einem deinem wazzer . sin sune wurden
ouch beide erslagen.
Dyocleclanus. vnd maximlanus richsent.
XX. Iar. DIser dyocleclanus waz von einer helmelichen
A. B. c. geburte. vnd loart heiser gemachet von dem her. Er ver-
brante die bucher der Cristen gar vnd verehtet die
Cristen. X. iar. In aller der Crlstenhelt. Er waz der
XXVIII c- erste der edel gesteine in sin schuhe vnd sin cleider tet
machen . Avanne alle fursten vor Ime niht wanne purpur
trugen, ze letste wart er verstozzen von dem riche.
vnd starb von der vergift. Er waz geborn von damacla.
vnd machet maximlanum zu einem kunge. vnd sant den
A. B. c. in galllam ivider die purgunden s) die mit grozzem ge-
walt sich satzten wider daz riche. die gestillet er. vnd
vnder wegen begegenten Ime die Thebei. sant Maurl-
clus mit siner schar, vnd daz die nIht wolten ophern
A.-f-den goten vnd an Crlstum Jähen, do hiez er sl mar-
tern . daz sl wllliclichen Uten . vnd also let dyocleclanus
in Oriente . vnd Maximlanus In occidente die kirchen
zerstören, vnd die Cristen lute ertoten, vnd die ver-
1) Sutrinum, A. B. Sirminum, C.
2) Glorianus, A.
3) 39 dies, alias 2 annis, A. B. 2 ann., C.
■i) Carus, Carinus, A. ß. Clarus, C.
*) contra populum Rusticorum, A. B. C.
M art i uns Poloniis. 403
ehtuuge der Cristenheit. ^\az aller groste. wanne si XXVIII <'•
were. X. iar. wer niht oppfern wolte den guten den
slug man ze tode. do wart ze rume Gayus der babst
gemartert, vnd jNrarcellinus der wart babst erweit, bi
dez ziten waz so grozze verehtung . der Cristenheit.
daz bi. XXX. tagen, vnib vnd vnib in den landen
XXII. tusent von mannen vnd von frowen oreniartert
wurden. Also daz der babst Marcellinus von vorhten
den goten oppfert. doch kam er zu ruwen . vnd gab
vrteil vber sich selber daz er soIde verstozzen sin von
dem babst ampt. vmb sin missetat. die er begangen
het . vnd wart dar nach von dyocleciano gemartert . bi
der selben zit wart gemartert ze Kome. Anastasia die
Juncfrawe . Sant sebastianus . sant Agnes . sant Lucia
zu meylant . Geruasius vnd prothasius . sant Agatha,
sant Gorgonius. sanctus Quintinus Crisogonus zu der XXIX >»•
stat Egea . Cosmas vnd damianus prüder. In dem lande
Frigida^) ein gantz stat. die cristenlute waren die wur-
den verbrant daz niemant vz quam in britania. vnd in
Gallia . -) Avaren vil die Cristenlute toten vnd vertilge- a. b. c.
ten. Do icort ouch sant Georgius gemartert . vnd also ^' ""
dar nach, do starb dyoclecianus in Britania von vergift.
vnd setzet sinen su7i Constantinum der ein Jcehs sun icaz
ze heiser in Gallia. Do der heiser icart. do wart er den
bürgern vnd den andern laten liejJ vnd ham gen Home
leider Mdxencium den die Homer ketten gemachet . vnd der
waz so böse . daz er hein bosheit schuhet vnd gesiget von
dem zeichen dez hruzes daz ime gewiset icart vnder (ZemXXIXt»
icart sant hatherina gemartert.
1) Phrygia, A. ß. C.
-) et Anglia, A. B. C.
(Fortsetzung folgt.)
Sitzungen der Berliner Gesellschaft
für das Studium der neueren Sprachen.
In der Sitzung vom 19. April wurde zuvörderst ein Auszug aus
der Correspondenz der auswärtigen Mitglieder niitgetheilt. Herr Ha-
mann in Potsdam verspricht Beiträge auf deutsche Spraehkunst be-
züglich, Herr Ihne in Lrivei'pool eine lexieographische Arbeit, in der
zugleich eine Schilderung des englischen Volkslebens gegeben werden
soll. Herr Schmitz in Greifswald theilt mit, dass er ein Werk: Ency-
clopädie des philologischen Studiums der neueren Sprachen in vier
Theilen, unter der Presse hat, Herr Tycho Mommsen in Oldenburg
fibersendet den ersten Bogen einer kritisclien Ausgabe der Doppeltexte
von Romeo and Juliet, und erbittet die Unterstützung der Gesellschaft
für die Gründung einer Shakspeare-Actiengesellschaft, deren Ziel sein
soll 1) eine kritische Zusammenstellung des alten überlieferten Textes,
2) die Publication einer Reihe von Abhandlungen erläuternder, histo-
rischer, ästhetischer, dramaturgischer Art. Seinem Briefe fügt er ein
eigenhändiges Schreiben Payne Collier's bei. Herr Düntzer in Cöln
übersendet einen kleinen Aufsatz : Goethe in Ilmenau im Anfange de
Septembers 1783 (siehe Archiv XXIH, S. 205 ff.).
Herr Philipp berichtet darauf über eine Abhandlung von Borel :
Malherbe und Ronsard, Herr Sachs über Jähnsch : Beiträge zur Lexi-
cographie des Französischen, Herr Büchsenschütz über die zweite Aus-
gabe der Uebersetzung des Parzival von San Marte (Archiv XXIH,
S. 200, 202, 161).
Zu den durch die Abreise der Herren Andresen und Pröhle er-
ledigten Aemtern eines stellvertretenden Vorsitzenden und eines stell-
vertretenden Schriftführers werden gewählt: zum ersteren Herr Pro-
fessor Petermann, zum letzteren Herr Dr. Holtze.
Für die Bibliothek der Gesellschaft wurden von Herrn Dr. Corte
folgende von ihm verfasste Schriften eingesandt: 1) ein Programm des
Zerbster Francisceums : Probe einer englischen Uebersetzung A-on
K. W. Krüger's griechischer Sprachlehre, 2) die Liebenden von Teruel,
Sitzungen der Berliner Gesellschaft etc. 405
Trauerspiel in fünf Aufzügen, frei dem spanischen Sd'ieke desselben
Titels von Don Juan Eugenio Ilartzenbiiscli naeligedielitet.
Sitzung des 4. I\Iai. Nachdenj der Vorsitzende von den einge-
gangenen Uriefen und Arbeiten Nachriciit gegeben und einige zuge-
schickte Bücher zur Beurtheilung vorgelegt hat, spricht zuerst Herr
Heller über Shaksp. K. John V, 2 :
By all the blood, t.hat ever fury brcath'd,
The youth says well.
Zur Aufliellung dieser und anderer Stellen, namentlich auch der con-'
victed sails (ibid. HI, 4) ver^yies der Vortragende auf den Einlluss,
den das Studium der Alten, namentlich Ovid's und Virgil's, auf An-
schauungSAveise und DIction Shakspeare's unverkennbar geübt hat ;
speciell für jene beiden Stellen 'vergleicht er Ovid, Met. IV, 490 und
II, 800 und das Virgil'sche vicit hiems naves.
Darauf las der Vorsitzende einen von Hei-rn Weigand einge-
sandten Aufsatz: .,Ueber das Französischsprechen in der Schule." —
Der Verfiisser zeigt in demselben, dass die ge\yöhnliclie Anforderung
des Publicums, der Schüler solle zu geläufigem Hersagen der im ge-
meinen Leben am häufigsten vorkommenden Redensarten angeleitet
werden, der Schule unwürdig ist. Er verwahrt sodann die neueren
Sprachen gegen den Vorwurf, dass ihr Werth für formale Bildung
gering sei, ihr Studium in der Schule daher von untergeordneter Be-
deutung, zumal da selbst der praktische Gewinn einer Fertigkeit im
mündlichen Gebrauche derselben auf Schulen nicht erzielt weide. Im
Gegensatz gegen diese Extreme glaubt der Verfasser, dass einige
Fertigkeit im Sprechen erreicht werden könne und — schon um der
schweren Kunst des Hörens willen — angestrebt werden müsse. Dazu
habe man schon auf den untersten Stufen mit Sprechübungen zu be-
ginnen, den Stoff aber, wie er des Näheren ausführt, aus der Gram-
matik, aus der Leetüre, aus den historischen Unterrichtsgegenständen
und aus den persönlichen Verhältnissen der Schüler zu entnehmen ; mit
Disptitatorien könne man günstigenfalls auf der höchsten Stufe ab-
schliessen. Eine lebhafte Debatte knüpfte sich an diese Vorlesung.
Herr Heller bemerkt, der Verfasser hätte Realschule und Gymnasium
aus einander halten sollen. Herr Herrig erwiedert, selbst auf dem Gym-
nasium werde bei rechtem Betriebe der Sache eine ziemliche Fertigkeit
im Sprechen gewonnen. Herr Härtung will auch für das Lateinische
Sprech lilmngen. Herr Mann erklärt die mündlichen Uebungen bei
jedem Sprachunterricht fiir erspriesslicher als die schriftlichen. Herr
Kleiber weist die Unzulässigkeit der Forderung nach, dass die Schule
es zu vollkommener Fertigkeit im Sprechen bringe, ist mit dem Ziel
und der Methode des Verfassers im "Wesentlichen einverstanden und
zweifelt nicht am Gelingen, sobald nur hinreichend gebildete Lehrer vor-
handen seien. Herr von Thrämer, als Gast anwesend, meint, dass
der Schüler überhaupt nur ausnahmsweisse eine fremde Sprache
40G Sitzungen der Berliner Gesellschaft
sprechen lerne ; könne doch selbst in den russischen Ostseeprovinzen '
selten ein Abiturient das Russische geläufig sprechen, obwohl dieser
Unterrichtsgegenstand — dem übrigens weder Abneigung noch Un-
fähigkeit der Schüler, noch ausserordentliche Schwierigkeiten der Er-
lernung im Wege ständen — ganz besonders bevorzugt sei. Herr
Kleiber entgegnet, dass es dann an der Methode liegen müsse; bei
ausschliesslich grammatisch-kritischer Behandlungsweise lerne man keine
Sprache, auch die eigene Muttersprache nicht einmal, sprechen. Zum
Schlüsse weist Herr Heller auf die Wichtigkeit der Hörübungen hin.
Den I.Juni berichtet der Vorsitzende über die eingelaufene Coi're-
spondenz. — Dann spricht Herr Heller über vier Stellen Shakspeare's.
Zuerst zeigt er die Unhaltbarkeit der Delius'schen Erklärung von Bar
Harry England (King Henry V., act IIF, 5) ; auch unternahm Niemand
aus der Gesellschaft eine Vertheidigung der Delius'schen Uebersetzung.
Dann bespricht er folgende Stellen: King John IV, 1, Well, see to
live, King John HI, 2, While Philip breathes (in dieser Stelle bezieht
er mit Schlegel gegen Delius Philip auf den König von Frankreich,
nicht auf den Bastard) und King John H, 2. In dieser Stelle liest er,
wie die Folio: kings of our fear, nicht: kings, ofourfear, und erläutert
sie durch King Richard II, 4, wo der König sich king of griefs nennt.
Herrn Hartung's Erklärung, der kings of our fear als Apposition zu
gates fasst, fand vielseitige Unterstützung. — Herr Sachse referirt dar-
auf über die vier ersten Nummern des Anzeigers für Kunde der deut-
schen Vorzeit, Organs des germanischen Museums zu Nürnberg. —
Herr Sachs trägt nachsiehende Studien zur Geschichte der englischen
Grammatik vor, welche vielfach discutirt werden.
,Jcli will In flen folgenden Zeilen nicht eine Geschichte der englischen
Grammatik schreiben, zu der unter Andern Hunter in seinem textbook of
Englls!) Grammar und Goold Brown in seiner Grammar of English Gram-
mars einzelne Notizen zusammengetragen haben, welche auch Schmitz in
der Einleitung zu seiner brauchbaren Grammatik benutzte; ich will nur ver-
suchen, einige fernere Beiträge zusammenzustellen und die bedeutendsten
Werke zu cbaraktcrisiren, welche sich mehr oder weniger speciell mit dem
Studium der englischen Sprache beschäftigt haben. Im Ganzen gilt übrigens
noch Blair's Wort in den Lectui-es I, 157: The Genius and Grammar of
the English, to the rtproach of the country, have not been studied with
equ.'d care (sc. as the French) or ascertained with the same precision.
Die ältesten Versuche, welche in dieses Gebiet einschlagen, obwohl
man sie kaum Grammatiken nennen kann, sind mehr glossenartig gehaltene
Werke, deren Zweck es war, Bewohnern des britischen Eilandes fremde
Sprache zugänglich zu machen, die uns aber mittelbar auch mancherlei An-
deutungen über das heimische Idiom geben. Dahin gehört die hinter
Somner's Dictionarium Saxonico-latino-anglicum (Oxon. 1GÖ9. Fol) abge-
druckte Grammatica latino-s axonica des Abtes Aelfric, welche sich
selbst als excerptiones de Prisciano minore einführt und als ein frühzeitiges,
die einzelnen Redetheile nach Art der alten lateinischen Granmiatik durch-
nehmendes Werk in angelsächsischer und lateinischer Sprache in Icxika-
hscher Beziehung von Bedeirtung ist. Ein ähnliches Interesse nehmen einige
ältere Werkchen in Anspruch, welche darauf berechnet waren, das Studium
der französischen Sprache zu erleichtern; 1) das Gedicht des Gautier
für das Studium der neueren Sprachen. 407
de BIblesworth aus dem XIII. saoc., tretys (\ue Ganter de Bibele.swortli
fist a niadame Dyonisie de INIounchensy, das icli aus dem Ms. Mus. Britan.
Arundel 220 (4. pareheniin. XIV'. saec. ]i. 297) co])!)'! und mit der ctwa.s ver-
stümmelten Copie in der Biblioiliek von Corpus C'ln-i^ti Collef^^e zu Cam-
bridge Nr. 450 (Fol. 241—2.=)!) und dem INIiddlehiller Ms. 833G vergliehen
habe, das aber bis jetzt noch nicht heransp;ej,a'ben ist. Die genannte Dame
.«oUte aus diesem Opus, Avelehes in Iranzüsischen Versen die Ilauptbefreben-
heiten des Lebens von der Wiege an mit englischen Glossen durchgeht,
französiseh lernen, und es kann wohl als eines der ersten Vocabularien für
die englische und französische .Sprache angesehen werden. Die seltene, bei
Wynkyn de Worde gedruckte prosaische Grammatik der französischen
Sprache (British Museum Biblioth. Greuvill. 7570) here begyiineth a lytell
treatyse for to lerne Englysche and Frensche. 12., ist die üobertson'sche
Methode in nucleo. Sie soll in beiden Sprachen in die am meisten ge-
brauchten Phrasen einführen und enthält auf den zwölf Seiten stets Inter-
linearübersetzung. Sie fängt an :
Here is a good boke to lerne speke frensche in the name of the father
Very ung bon livre a apprendre parier francoys cn nom du pere
and the sone . . .
et du fiz . . .
Diese und einige andere solche Erstlingsversuche, wie endlich die erste
französische Grammatik, welche einen Engländer, Falsgrave, zum Ver-
fasser hatte, das von Genin neu edirte, zuerst 1530 veröllcntlichte
Esclarcissenient de la langue Francoyse geben, wenn auch nur in zweiter
Linie, Kenntniss vom Standpunkte einer Sprache, welche damals ausser
Landes noch wenig geachtet war. Denn lange nachdem Bonnetto Laiini
in der f^inleitung zu " seinem Tresor die oft citirten Worte zum Lobe
der französischen Sprache geäussert hatte: que francois est plus deli-
taubles lengages et plus communs que molt dautres, durfte noch Claudius
Dur et US in seinem tresor de riiittoire des langues de cet imivers (Col.
I6l3) die folgende Bemerkung machen: „Cette langue angloise est si peu
estimee des estrangers, qui vont cn Angkterre, qu'il y en a peu i\m veu-
lent sc pener de l'apprendre et de la parier, si se ne sont les serviteurs ou
facteurs pour l'usage des choses utiles et lu-cessaires k la vie lesquelles de-
pendent du menu peuple, qui ne scait parier autre langue." Grammatische
Studien wurden wesentlich gefördert durcli die sogenannte Paul's Acci-
dence, ein I.tIO erschienenes Compendium der lateinischen Sprache für
Engländer, zu dem Colet dean of St. Paul's die englisch geschriebene Ein-
leitung und den Namen, sowie Lily den syntaktischen Theil lieferte, und
durch das am Meisten in jenen und noch in späteren Zeiten gel)rauchte *)
Handbuch der lateinischen Grammatik, Lily's oder King Henry's Gram-
mar, als dessen früheste vollständig zusammengestellte Ausgabe nach zu-
verlässigen Untersuchungen die vom Jahre 1542 anzusehen ist. Wie die
Entwickelung der englischen Sprache, besonders in .syntaktischer Beziehung,
vielfach durch das Lateinische becindusst wurde, so lehnte sich auch die
Grammatik vielfach an die als Muster aTigenommene Behandlung der latei-
nischen Zunge.
Die erste eigentliche Grammatik der englischen Sprache aber, veröH'ent-
licht drei Jahre vor Puttenham's art ofenglish pocsie, ist William Bullo-
kar's Booke at large for the amendment of Orthographie for English
Sj)eech, über das mir keine weitern Nachweisungen zu Gebote stehen, und
desselben Autors bref grammar for English, 158C, in der B. selbst
*) So sagt Wither Abuses stript I, 1: Nor any whit for Grammar
rules to seeke, in Lilies Latine nor in Camdens Greeke . . .
408 Sitzungen der Berliner Gesellschaft
sagt, sie sei the first gramniar fnr englisli that ever waz, except my gram-
mar at large. Ich niuss mich hier begnügen, dieses Buch nur zu nennen,
wie ein zweites aus der nächstfolgenden Zeit, das als in Beziehung zu gram-
matischen Untersuchungen stehend citirt wird, das mir aber ebenso wenig
liier einzusehen möglich war; ich meine das von VVharton in seiner History
of English poetry lU, 323 citirte Werk von Verstegan „Restitution
of decayed Intelligence. Antwerp. IGOS. 4., dessen Autor schon 1587
in Antwerpen das theatrum crudelitatum heraeticarum herausgab. Nach der
englischen Grammatik Ballokar's, dessen Name übrigens bald noch einmal,
aber mit dem Vornamen John als der eines Autors eines englischen Lexi-
cons erscheint: „An english expositour of hard words. IGlG," erschien zu-
nächst wieder eine lateinisch geschriebene von Dr. Alexander Gill:
„English grammar treated in Latin. 4. London 1621," welche aber bald
durch Ben Jonson's English grammar for the benefit of all
strangers verdunkelt wurde. Dieser Dichter, dessen „partiaiity for the
classic; tongues and learnod sock" sprüchwörtlich geworden sind, basirte
sein Werk auch wesentlich auf das Latein; ihm ist grammar „the art of
true and well speaking a language: the writing fs but an accident" Er
behandelt die einzelnen Redetheile nach der althergebrachten AVeise, gibt
mancherlei Regeln zur Abhülfe der englischen Pseudographie, die aber zu
lange schon herrschend sei als dass eine Abhülfe wahrscheinlich, citirt viel
aus lateinischen alten und spätem Grammatikern, wie in den neun Kapiteln
der Syntax aus Gower, Lydgate, Chaucer; stellt aber unter den schätzens-
werthen Regeln manche hin, die er selbst in seinen "NA'erken sonst nicht be-
folgt hat. So z. B. sagt er prince habe im Genitiv princi's, welches miss-
verstanden zu d(;r monströsen syntaktischen Form the prince bis house ge-
fülu't habe; während doch zwei seiner Stücke den Titel Sejanus his lall
und Catiline his conspirary führen, und in Every man in his humour 3, 2
,. Sir Revis his horse vorkommt; unter den Pronominen führt er its noch
nicht an, das freilich in der englischen Bibel niemals, aber zweimal bei
Jonson selbst und bei Shakspeare vorkommt. Wenn Ben Jonson, dessen
Buch Hörne Tooke Litroduction S. 5 „the first (as well as the best) Eng-
lish grammar" nennt, sich eng an die lateinische Grammatik anschloss, so
wählte sein nächster Nachfolger auf diesem Gebiete, J. Wallis, der Vater
der englischen Philologie, wie ihn Nares (Elements XXIV) mit Recht nennt,
gar wieder die Sprache Cicero's und Priscian's, um seine Gramm atica
linguae anglicanae zu schreiben, welche zuerst 1653 in Oxford erschien,
wo der Autor seit 1G49 Savilian professor of geometry war. Wenn er auch
in der Vorrede S. XXV seinen Vorgängern vorwirft, dass sie „ad latinae
linguae normam haue nostram anglicanam nimiura exigentes multa inutilia
praecepta tradiderunt, quae a lingua nostra sunt prorsus aliena," so hat er
sich doch auch wesentlich an dieselben Vorbilder angeschlossen und in seinen
gelehrten, vielfach auf das Hebräische und die classischen Sprachen Rück-
sicht nehmenden W^erke die hergebrachte Anordnung befolgt: er behandelt
in fünfzehn Kapiteln pronunciatio, Substantiv, artikel, praepositiones, adjectiv,
comparativ, pronomen, verb, auxiliare, to be, to have ; dnzwischen syntak-
tische Regeln bezüglich des Accusativs und Nominativs; verba anomalia; ad-
verbia, conjunctiones, praepositiones noch einmal, interjectiones ; dann 125
bis 191 etymologia; endlich 191 poesis. Auf Seite 199 folgt die praxis
grammatica, in der das Vaterunser und das Symbolum analysirt werden.
Ein solches Werk, so hoch es auch bei dem geriihmten Scharfsinn seines
Verfassers über etwa gleichzeitigen für den praktischen Gebratich geschrie-
benen Machwerken stehen nochte, als z. B. Milk for Children, a piain
and easie method teaching to read and write von J. Thoraas, London 1658,
bleibt doch bedeutend hinter den Anforderungen zurück, die wir jetzt an
eine gute Grammatik machen ; noch weniger aber kann bei aller Spitzfindig-
keit des Autors das folgende Opus uns befriedigen, das in unser Gebiet
für das Studium der neueren Sprachen. 409
einschlügt; wir meinen Bishop Wilkins*) Essay towjirds a real character
and a i>hilo.sophical lannuajie, London 1(JG>S, aus dem Booth in seinem ana-
lytical dictionary einen interessanten Abschnitt excorpirt, das Monboddo of
the origin and progress of hinguage (E(hnbiirgh 1774) S. 440 — 482 aus-
führhch bespricht und für ein nicht praktisch andwendbares Erzeugniss
eines Genius erkUirt. Nach einer Einleitung über den Irspruiig der Sprachen,
über Alphabete und deren UnvoUkomnicnhcit stellt \V. in einem Universal
philosophy betitelten Abschnitte in zwölf Kapiteln allgemeine Bcgrillc auf,
unter die er mit fast ermüdendem Streben nach logischer Uuterabtheihnig
und Schematisirang die einzelnen Worte der Sprache zu rangiren versucht
(regulär enumeration and description of all those things and notions to which
names are to be assigned) : dann folgt die i)hilosoi)hical grannnar, worin
er in acht Kapiteln die einzelnen Kedetlieile bespricht unil auch wieder mit
mathematisch genau abgezirktdten und sogar durch Bilder erliinterten Scheina's
je in das ihnen zukonunende Fach des grossen Kepositoriums einschachtelt.
S>?hr unbedeutend ist das kurze Ka]iitel von der Syntax, worin er fast nur
von Stellung und Accent der Rede liandelt, und nachdem er noch in Kap.
10 — 14 über Buchstaben und ihre Auss[)rache geredet, geht er im vierten
Theile seines Buches zu seinem llauptzwi-cke über, der Aufstellung einer
neuen philosophischen Sprache, die er, künstlieh selbst construirt hat und
deren Vorzügliehkeit er dadurch recht in's Licht zu stellen sich bemüht, dass
er zum Schluss das Vaterunser in fiüilzig Sprachen hinter einander vorliihrt
und sein Machwerk als einundfünlzigste darauf prangen liisst, welche uns
trotz Monboddo's lobender Aeusserungen darüber doch nur als eine ziemlieh
unfruchtbare Arbeit hat erseheinen können.
Einige gelegentliche Beitrage für grammatische L^ntersuchunjren lieferte
Henr. Spelman **) in seinem Glossanum archaeologicum, London 1G87, nach-
dem die eigentlich anglische Lexicographie durch Minshew's grosses Lexi-
con in elf Sprachen (1617), ..Guide into the tongues" und durch Kider's
„Latin and English Dictionarie" gef"ördert war; doch machte sich auch hier
der Einfluss eines allzu pedantischen Studiums der alten Sprachen bald
geltend und führte manche Autoren auf Abwege, wovon uns ,, The new world
of English words or a general dictionary" von E. IMiiUips, London 1G58,
Fol., mit seinem gelehrten ^V'uste ein recht deutliches Beispiel gibt.
Ln Jahre 1(J89 erschien in Oxford ein Werk, das für eine gründlichere
Erforschung der englischen Sprache in wissenschaftlicher Beziehung Bahn
brach, die lateinisch gesehriebcnen Institutioncs grannnaticae anglo-saxo-
nicae et Moeso-gotieae von G. Hickes, 4., worin nach den herge-
brachten Principien der lateinischen Grammatik in fünfzehn Kapiteln erst
die verschiedenen Kedetheile lateinisch behandelt, dann quaedam re-
gulae syntaxeos (?4) promiscue positae mit Beispielen aus den beiden
Sprachen begründet werden; es folgt darauf eine islandische Grammatik und
Lexicon von Ranolph Jonas, die aber nur die Aceidence, keine Synta.x
enthält, ein Vorwurf, den wir überhaupt einer grossen Zahl von Graunnatiken
machen müssen, dem ja selbst Grimm in seinem herrlichen Buche nicht ganz
ausgewichen ist, wiihrend auch Diez's syntaktischer Theil gt'gen den ersten
gehalten dürftig genannt werden kann, obwohl Monboddo mit Recht von
der Syntax sagt (S. 339, vol. III), sie sei the last, but the hrst and principal
part, beiiig that f'or which every other part of the art is intended.
\\'ichtig für die Behandlung der -lateinischen Grammatik und somit auch
von unmittelbarem Einflüsse auf die englische waren des laborious and ju-
dicious (Tooke I, 292) Rieh. Johnsou's 170G erschienenen Grammatical
*) Who is fairer and more intelligent than any of them (Tooke I, 292).
**) Tooke I, 412: I hardly venture to say that I believe the correct
and exact Spelman is here mistaken.
410 Sitzungen der Berliner Gesellschaft
Conimentaries (8. 400 Seiten), die sich besonders gegen Lily richteten; be-
deutender aber wirkte sein Namensvetter, Dr. Johnson, durch sein 1755
erschienenes Lexicon, dem er eine Geschichte der enghscben Sprache auf
29 und eine englische Grammatik auf 14 Seiten, mit etwa zehn Zeilen Syntax
meist das Phonetische berücksichtigend, voranschickte. Dieses von Todd
neu herausgegebene Werk, über das auch die Ausgabe von Dr. Johnson's
Werken durch Murphey (London 1816) im zweiten Bande Notizen enthält,
hatte wie sein Verfasser seiner Zeit unbedingte Autorität, wenn auch frei-
lich jetzt Manches antiquirt oder umgestossen ist und Booth S. 70 mit Recht
von iinn sagt, er sei au authority, which, if not great among grammarians,
is powerful aniong the people (cf. Johnson's life by Boswell ed. Croker.
London 1839. 10 vol. 8.).*) Bald nach diesem x'cin für das Praktische
beabsichtigten und in vielen tausend Exemplaren und Auszügen im Volke
verbreiteten Werke erschienen „The principles of the English language di-
gested for the use of Schools" by J. Elphinston. London 17G6. 12. in
vier Abschnitten : Accidence, Etymology, Syntax in acht Theilen nach der
hei'gebrachten Bestimmung der Redetheile, Pi-osody (S. 298); einen ähn-
lichen Gang befolgt Jos. Priestley, The rudiments of English
grammar. London 17G8. 8., der alle Abschnitte in Fragen und Antworten
abhandelt und auf den ersten leichtern und einfachem Theil bis Seite 200
noch in zwölf Paragraphen notes and observations for the use of those who
have made sorae proficiency in the language folgen lässt, die manche feine
Bemerkung über Sprachgebrauch gibt und Fehler gegen die Syntax in zahl-
reichen Beispielen aus den gelesensten Autoren der ihm zunächst voran-
gehenden Zeit rügt. Blair I, 208 nennt ihn useful, by pointing out several
of the errors into which writers are apt to fall. Von secundärer Bedeutung
war Ray 's in demselben Jahre mit Priestley erschienene complete collectlon
of English proverbs, London 17G8; sehr einflussreich aber, weil das Er-
zeugniss eines scharf denkenden Kritikers. A short introduction to English
Grammar by Lowth, London 1767, whose grammar (wie Booth S. 77 sagt)
has been plundered by many of bis suceessors without being imi)roved. Blair,
lectures I, 207, nennt sein Buch the gtammatlcal perfonnance of hlghest
authority that has appeared In our time; Horace Tooke, Introduction 5, sagt:
üur English grammar may be sufficiently and easily le<arned Irom the excellent
Introduction of Dr. Lowth; doch tadelt er ihn auch mitunter (I, 258, II,
471). Zwar sagt er in der Vorrede, dass die englische Sprache vielleicht
von allen europäischen die einfachste in Form und Constructiou sei (S. V)
[ein Urthell, das sich besser ausnimmt als Monboddo's f^rklärung, Fran-
zösisch und Englisch seien mongrel dialects, corruption of better languages,
S. 75]; aber doch darf man nicht genaue Forschungen unterlassen und her-
gebrachte Fehler aus dem Volksmunde in die Schriftsprache einschmuggeln.
S. VI : The construction is so easy and obvious, that our grammarians have
thought it hardly worth while to give us any thing like a regulär and syste-
matical syntax. The English Grammar that has been last presented to the
*) Sehr scharf kritisirt es H. Tooke, I, 219: „lils grammar and history
and dictionary of what he calls the English languages are in all respects
(except the bulk of the latter) most truly contemptible Performances ; and
a reproach to the learning and industry of a nation, which could receive
them with the slightest approbation. Nearly one third of this dictionary is
as much the language of tiie Ilottentots as of the English . . . it appears to
be a work of labour, and yet Is in trutli one of the most idle peribrmances
ever ofi'ered to the public" etc. — Campbell, Rethoric I, 405, urtheilt über
ihn: „Dr. Johnson notwithstanding his acknowledged learning, penetration
and ingenulty, appears sometimes, if I may adopt his own expression „lost
in lexicography."
für das Studium der neueren Sprachen. 411
public and by tlie person best qualified to have given us a perfect one (Dr.
Johnson), comprises the wliole Syntax in ten lincs, fbr this reason, „be-
cause cur hinguage has so little inde.xion, that its construction neither re-
quires nor admits many rules."' Lowtli gibt trotzdem viele Ivcgoln und kri-
tisirt Fehler, welche von Autoren dagegen gemaclit sind, in dem 20J Seiten
uml'assenden Werke. Eine vielfach neu aufgelegte Grannnalik, die aber auch
mannigfachen Tadel verdient, ist die von Tooke I, 2'Jb kurz kritisirte von
Green wo od.
Wir kommen jetzt zu zwei Bachern, die, von bedeutenden, geistreichen
Älannern verfasst, manches recht Gute Heferten, aber wohl in England ent-
schieden überschätzt sind; wir sprechen von Harris und Tooke. j. Harris
(I 1780) war ein speculativer Kopf, der in seinem gelehrten \\'erke Hermes
or a philosophical iuquiry concerning universal graunnar (3 ed. 8. Lon(h:)n
1771) streng construirend und iiberall auf die classischen Sprachen recurrirend
weniger ein specielles Lehrgebäude chn- englischen (irannuatik gab, als i'Än
mitunter etwas zu hoch geschraubtos ithilosophisches Buch voll scharfsinniger
Bemerkungen über die voi-züglich von ihm geehrten alten Sprachen, aus
denen die graunuMtischcn Begrille logisch entwickelt werden, und gelegent-
lieh über die englische. Das erste Buch handelt von den Theilen der Kede,
die für sich allein bezeichnend sind (Substantiv und Atiributive), das zweite
von den auxiliary parts, which are only significant when associated; das
dritte im Allgemeinen von der Sprache, considered with respeCt to meaning
on general ideas. Auch des \'erfassers anderes, nach seinem Tode ver-
öllentlichtes Buch, Philological inquiries, London l 781, trägt denselben
Charakter an sich, bezieht sich aber mehr auf Kritik und Literaturgeschichte
als auf Grammatik, ^^'enh Lowth den Hermes ..the most l)eautitul and per-
fect e.xample of Analysis" nennt, ..that has becn e.xhibited since the days
of Aristotle," so können wir andrerseits nicht mnhin, in manchen Beziehungen
Hooke's Urtheil zu unterschreiben, der in seiner Introduction, jene Worte
citirend, S. 7 sagt: ..I cannot siiy that I have found the periormance to
correspond : nor can I boast of any acquisition from its perusal, e.xcept
iudeed of hard words and frivolous or unintelligible distinctions. ef. 1, 2(>5.
Während er a priori construirend vorging, unternahm John Home Tooke
in seinen 'E:tea TiTsooevra or the Diversions of Purley (London 1798 — 1815.
2 vol. 4., neu edirt 1829 von Richard Taylor, 2 vol. 8.) mit grosser Be-
lesenheit im älteren Englisch (und die sorgsam gesammelten Bei.'^piele geben
seinem Buche ein grosses Verdienst fiir wissenschaftliche Untersuchungen)
die (iranmiatik nach allen ihren Theilen etymologisch zu behandeln, wobei
er das un\erkennbare Verdienst hatte, viele richtige P]tymologien an's Tages-'
licht zu fordern durch Zuriickführung auf das Angelsächsische, besonders
in den Abschnitten von Conjunctionen und Adverbien, indem er richtiger
urtheilte als Tyrwhitt, der sein Glossar zu Chaucer mit den ^^'orten ein-
leitet: .,Ktymology is clearly not a necessary brauch of the duty of a Glos-
sarist ;•• aber während er mit der grössten Verachtung auf andere Gram-
matiker herabsieht (H, 32-2: Johnson says hardily as usual .... and this
is accepted and repented by Malone; I can only say, that this note is worthy
of them both, and they of each other, cf. I, 347. 4 73, Mr. Todd [dessen ge-
tadelte Etymologie aber richtiger ist als Tooke's] knew as little as heart
can wish, concerning the significatLon of any words, H, 149), hat er sich
doch durch sein ganz falsches Princip, fast alle Worte aus Participien ab-
zuleiten, gar zu oft auf Irrwege geführt; *) ihm sind z. B. coward, das ollen-
bar mit codardo zusammenhängt, dastard, ja selbst das franzosische oui
*) Murray, citirt und zurückgewiesen von Tooke's Editor, tadelt, dass
er olt falsch sich auf Tooke gestützt und auf the weaker materialism of
sonie unintelligible modern opinions.
412 Sitzungen der Berliner Gesellschaft
Participien etc. Um noch zwei eclatante Beispiele von Tooke's Etymologien
anzuführen, die uns zum Theil von W. Windham, J. Brückner*) und
Fearn in seinem Anti-Tooke erwähnt werden, so leitet er I, 303 avec ab
= and have that or have that also, and it was formerly written avecque
i. e. avezque, II, 14G Knight := Lnyc, attach^ zusammenhängend mit to
Knit; II, 431 leitet er das Futur ab aus wol, vol, ßovl, ibo sei = iboul,
ibou; so amabo = ama-boul, audiam = audire amo etc.
Monboddo's, mehr dem Harris'schen Wege folgendes Werk „Of the
origin and progress of languages, Edinburgh 1774, enthält in seinem zweiten
Theile unter den Abschnitten of the analysis of the formal part of language,
analysis of the material part of language und composition of language manche
anziehende Bemerkungen, welche der für die alten Sprachen begeisterte und
oft einen Mangel an festen Regeln im Englischen bedauernde Autor (II, 80
the French, in this, as well as in many other tliings, is more regulär than
cur language — ; 11, 82 it is the misfortuue of our language that the use
of it is not so much fixed as of the French ; and whoever will try to reduce
it to rules, will find very near as many exceptions from as instances of the
rule) seinem, gründlichen Studien wohl nicht entsprungenen Opus einfiicht, .
das iibrigens von Tooke vielfach auf das Schärfste (selbst in Bezug auf den
Styl, I, 2G9) getadelt wird (cf. I, 113 etc.) und von dem Taylor sagt, man
werde gewöhnlich recht thun, grade das Gegentheil der dort aufgestellten
Ansichten als wahr anzunehmen (1, 192 Note). Sowohl Beattie als Blair
in seinen Lectures behandeln mancherlei in das (jebiet der Grammatik ein-
schlagende Punkte; der Letztere besonders in der neunten Vorlesung über
Structure of Language, worin er nachweist, wie die Syntax der in ihrer Form
und Construction einfachsten aller europäischen Sprachen (I, 203), der latei-
nischen, sehr verwandt, und im dritten Theil L. XXXVIII, in der er von
englischer Poetik spricht. Beattie ist von Tooke in dessen gewohnter Weise
schnöde abgefertigt mit den Worten (Letter to Mr. Dunning S. 559): The
author would by no means be thought to allude to the common sense
of Doctors Oswald, Reid and Beattie; which appears to him to be sheer
nonsense (cf. I, 265). Sein Buch „the theory of language," London 1788,
enthält besonders im zweiten Abschnitte „of universal grammar" neben
manchen falschen oder sehr hausbackenen Bemerkungen allerlei gute Beob-
achtungen über den Bau der englischen Sprache; er verfolgt im Ganzen den
von Harris eingeschlagenen W'vg der Vergleichung und Begründung durch
die alten Sprachen, die er oft citirt, wobei er das Griechische mit englischen
Buchstaben schreibt. Am schwächsten ist die Lehre von den Modis von
ihm behandelt. Die als Standard angesehene Grammatik aber, die noch jetzt
in den Händen aller Engländer ist, obwohl sie ihrer ganzen Einrichtung nach
mehr eine Zusammenstellung von lose zusammenhängenden Regeln gibt, deren
Befolgung durch einige Beispiele angerathen wird, ist von Lindley Murray,
welcher zuerst London 1795 in einem, später 1819 in zwei Bänden erschien und
nach der die zwei ausser dieser am meisten verbreiteten Granmiatiken von
AV. Lennie, „The principles of English grammar" (1831, 13, edit.), Edin-
burgh, und R. Hiley, „A treatise on English grammar" (1840, 3. edit.),
London, gearbeitet sind.
Ein eigenthümHches Werk ist Cobbctt's „Grammar in a series of letters, "
XXIV. 230 Seiten. 12. 1818, und der Autor stellt sich absichtlich auf
*) Criticisms on the diversions — unter dem Namen Cassander — (wieder
von Tooke selbst, der auch Windhams Malignant and false observations
öfter bespricht, cf. I, 217, in nicht eben höflicher Weise recensirt, wie ja
Tooke überhaupt verbissen unrl grob war und sein Buch vielfach zu Invec-
tiven gegen seine politischen Gegner benutzte.
für das Studium der neueren Sprachen. 413
einen sehr niedrigen Standpunkt und in Opposition zu gelehrter Behandlung
des Stoffes, sein Buch soll vom Volke, sohiiers, sailors etc. gebraucht
werden, und ist in den ersten zwölf der Etymologie und Acci<lenz gewid-
meten, wie in den folgenden die Syntax enthaltenden Kapiteln ein sich nur
ziemlich oberflächlich haltendes Buch.
Thomson's Lexicon (Etymons of English words, Edinburgh.
1S26. 4.) gibt eine Einleitung von 27 Seiten über indo-germanische Etymo-
logie, die manches Gute cnthiUt : in seinem Le.xicon ist nur eine Neigung,
durch Aufnahme seltener aus fremden Sprachen lierübergenommencr V\'orte
Gelehrsamkeit zu zeigen, aufgefallen, wiüirend viele wichtige Worte felden.
Ausführlicher und ein in seiner ganzen Anlage bcachtenswerthes Werk ist
das Analytical dictionary of thc English Language in which the
words are explained in the order of iheir natural affinity von Daniel
Booth. London. 1835. 4. 455 Seiten. Der Autor ist selir belesen in
classischen und modernen, auch in germanischen Sprachen, und bringt in
der sehr ausführlichen grammatischen Einleitung bei Gelegenheit der ein-
zelnen lledetheile manche beachtenswerthe Etymologie. Das Lexicon be-
ginnt mit den Begriffen man, l'emale und entwickelt daraus allmälig in lo-
gischem Eortschritte die übrigen Worte der Sprache; doch ist der Autor
dem sein Buch Benutzenden noch durch einen Index zu Hülfe gekommen.
Von den in neuerer Zeit in England erschienenen Grammatikcu helfen
•wir nur die vielfach gebrauchten heraus von Graham, P^nglish Granmiar,
London 1843, d'Orsey, ,.A duodecimo grammar," Edinburgh 1845" und
Hunter, ,.Textbook of English grammar," das nach der erwähnten kurzen
Einleitung in die Geschichte der englischen Grammatik vierzehn Paragraphen
EtjTnologie, neun elementary und vierzehn supplementary SjTitax, endlich
vier über Interpunction enthält; doch verräth er oft grosse Unkenntniss der
Etymologie, wie z. B. wenn er nay aus n"aie ableitet, um nur ein Beispiel
anzuführen.
Ein epochemachendes Werk, das zuerst Grimm's grosse Forschungen in
England einführte, war A Handbook of the english language for the
use of students by Latham. London. 1851. 8., über das ich hier eben so
kurz hinweggehen kann als über die gleichen Spuren folgenden und wohl
jedem sich eingehend mit dem Englischen Beschäftigenden ebenso bekannten
Werke von R. Chenevix Trench, „ On the lessons inproverbs." London.
1853. 8. und besonders „English, past and present." London. 1855. 8.
Hier wird nach einer Charakteristik der ßestandtheile des jetzigen Englisch
nachgewiesen, was die Sprache und wann sie es für ihren Wortvorrath ge-
wonnen, was sie an Worten im Laufe der Zeit verloren, wie die Bedeu-
tungen der Worte sich verändert haben und wie auch die Orthographie nach
und nach sich wesentlich umgestaltet. Das Werk, das für manche Einzeln-
heiten d'Israeli's „Curiosities of litterature" verpflichtet ist, gibt entschieden
einen der interessantesten Beiträge zur historischen Betrachtung der eng-
lischen Sprache. Bis zu diesen Werken kann man Behn-Eschenburg's Urtheil
über die in England geschriebenen englischen Grammatiken theilen, das er auf
Seite X der Vorrede zur neuen Auflage seiner Grannnatik ausspricht: „Die
in England geschriebenen englischen (irammatiken wollen nichts weiter als
einige praktische Winke geben, die sie nach dem Schema der mittelalter-
lichen lateinischen Grammatik an einander reihciu; ihre Norm ist der Durch-
schnittsgebrauch; höchstens üben sie dann und wann vom Standpunkte der
lateinisciien Grammatik aus eine sehr einfache Kritik und sitzen über die
ersten Denker und Dichter der Nation zu Gericht, die unmittelbar aus dem
eigenthinnlichsten Spracligeist heran.-; gedacht und gesprochen haben. Von
einer Einsicht in die Eigentliümlichkeiten des germanischen Sprachbaues,
einer historischen Kenntniss der (ieutschon Schwestersprache, von einer Bezug-
nahme auf die grossartigen Ent<h'ckungeM der neuern Sprachforschung ist
bei ihnen keine Hede.- — Nach einer Bemerkung Taylor's in Tooke, XVH,
Archiv f. Q. Si-rachen. XXIII. 27
414 Sitzungen der Berliner Gesellschaft etc.
scheint Grant's grammar ein mehr •wissenschaftliches gutes Buch zu sein; doch
habe ich es nicht gesehen.
Von anderen neueren Erzeugnissen wollen wir zuna Schluss nur noch
Fowler nennen, der Lathani's Untersuchungen in seine 1850 in New York
erschienene Grammatik aufnahm, und Goold Brown e's „Grammar of
English Grammars." New York. 1851. Dies letzte Werk ist das Erzeug-
niss von siebenundzwanzigjährigen Studien und eine weitere Ausführung der
1823 erschienen „Institutes of English Grammar" desselben Autors, die nur
dreihundert Seiten umfassen, während dies in Namen und Einrichtung der
„Grammaire des grammaires" etwa gleichstehende Opus 1028 Seiten stark
ist. Nach einer Einleitung in die Geschichte der englischen Sprache und
einigen Notizen bezüglich mancher Vorgänger Browne's auf dem von ihm
betretenen Gebiete folgen die überaus zahlreichen Beispiele for parsing . . .
und die nicht immer zu logisch geordneten Regeln der Orthographie, Ety-
mology, Syntax und Prosody.
Um die in Dffntschland erschienenen englischen Grammatiken eingehend
besprechen zu wollen, müsste man sich mindestens gleich Hercules rüsten,
als er seine Kräfte dem Dienste des Augias widmete; fast jeder Lehrer
schreibt einen mehr oder weniger praktischen Leitfaden tür seinen Unter-
richt und doch sind die auf WissenschaftHchkeit und einiges Verdienst mit
Recht Anspruch machenden Bücher darunter nicht allzu häufig.
Beurtheilnngen und kurze Anzeigen.
Ulfilas. Die heiligen Schriften alten und neuen Bundes in
gothischer Sprache mit gegenüberstehendem griechischen
und lateinischen Texte, Anmerkungen, Wörterbuch, Sprach-
lehre und geschichtlicher Einleitung von H. F. Massmann.
Stuttgart 1857. Liesching. 8.
Ulfila, oder die uns erhaltenen Denkmäler der gothischen
Sprache. Text, Grammatik und Wörterbuch. Bearbeitet
und herausgegeben von Friedr. Ludw. Stamm, Pastor zu
St. Ludgeri in Helmstedt. Paderborn 1858. Schöningh. 8.
Es ist ein erfreuliches Zeichen, dass, trotz der geringen Begünstigung
der deutschen Studien von Oben her, überall im deutschen Volke sich Kräfte
regen, die eifrigst dahin arbeiten, dass auch nach dieser Seite hin die Ehre
der Nation gewahrt werde. Das Studium der deutschen Sprache beginnt
bekanntlich mit den kostbaren grossen Resten des Gothischen. Professor
Mass mann war, wenn irgend Einer, durch seine frühere Herausgabe eines
Theils der gothischen Denkmäler, durch seine jahrelangen gründlichen Studien
der ganzen dahin einschlagenden Literatur — ich erinnere nur an seine
Gothica Mnora in Haupt's Zeitschrift I, 294 bis 393— wohl berechtigt, eine
Sammlung aller gothischen S]irachreste zu veranstalten und das Verständniss
derselben möglichst zu erleichtern. Zu diesem Zweck hat er dem Te.xt eine
ziemlich ausführliche geschichtliche Einleitung vorausgesthickt über die
Gothen nach ihrer physischen und geistigen Existenz, über Ulfilas, über das
gothische Alphabet, über die Schicksale der gothischen Schrillen u. dgl. m.
Ueber das Alles hat schon Herr Hölscher im zweiundzwanzigsten Bande des
Archivs auszugsweise berichtet. Er hat das Verdienst des Herausgebers
richtig gewürdigt, des minder Gelungenen oder Verfehlten dagegen mit
keiner Silbe gedacht. Es ist nicht meine Absicht, die gründlichen und sehr
ausführlichen Ausstellungen des Recensenten in den Göttinger gelehrten
Anzeigen 1857 Nr. 160 zu wiederholen. Dieselben betreuen sowohl die
äussere Darstellung des Textes, die Verunzierungen desselben durch Stern-
chen, überflüssige Häkchen und (Querstriche, die ausserordentlich grosse
Menge von Druckfehlern, als auch ganz besonders die Willkiir in der sonst
sehr verdienstlichen Zusannucnstelliing des griechischen und lateinischen
Textes, endlich auch Fehler und Mängel des Wörterbuchs und der Gram-
matik. Die Ausgabe ist demnach trotz ihrer Zweckmässigkeit und Hand-
lichkeit nicht geeignet, wissenschafilichen Studien zu Grunde gelegt zu
21*
416 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
s
werden und etwa die vortreffliche Ausgabe von v. d. Gabelentz und Lobe
überflüssig erscheinen zu lassen.
Die Ausgabe von Stamm gibt den gothischen Text mit Ausnahme der
kleinsten Denkmäler. Dieselbe stützt sich auf „das v. d. Gabelentz-Löbe'sche
Meisterwerk", verglichen mit der neuesten Ausgabe von Massmann, und auf
Uppström's genauen Abdruck der silbernen Handschrift. Die photographischen
Copien Leo's scheint er nicht benutzt zu haben. Die gothischen Doppel-
buchstaben, die Massmann gegen lateinische vertauscht, hat er wieder auf-
genommen, die in der Handschrift fehlende Accentuirung von ai und au
hat er ebenfalls nicht, ebenso A^enig die Längenbezeichnung von e und o.
Dem Text folgen einige Seiten Lesarten, sodann Grammatik und Wörter-
buch. Die Grammatik ist ausführlicher als die Massmann's ; sie behandelt
auch die Syntaxis, während Massmann sich nur auf die Formenlehre be-
schränkt hat. Das Wörterbuch „bestrebt sich möglichster Kürze" und ist
doch in manchen Artikeln ausführlicher als das in der Massmann'schen
Ausgabe. Eine kurze Einleitung enthält das ^^'ichtigste über Ulfilas und
die gothischen Denkmäler, so dass in der That diese wohlfeile Ausgabe ihrem
Zwecke, Anüüigern und Studirenden in compendiöser Form sichere Grund-
lage zu gothischen Studien zu sein, auf das Vollkommenste entspricht und
alle früheren Hülfsmittel der Art, z. B. die kleinen Bücher von Vilmar und
Hahn, entbehrlich macht.
Dr. Sachse.
Lehrbücher der englischen Sprache.
Unter der grossen Menge der jetzt sich täglich mehrenden englischen
Grammatiken zeichnet sich vortheilhaft aus, da sie einen denkenden prak-
tischen Verfasser verräth, die Schulgrammatik der englischen Sprache
für alle Stufen des Unterrichts berechnet von Dr. H. Behn-
Eschenburg, die soeben in zweiter Auflage, Zürich 1858, die Presse ver-
lassen hat. Es ist gegen die erste Auflage nichts Wesentliches geändert,
ausser dass ein schwieriges Lesestück durch Briefformulare ersetzt und die
Ordnung der syntaktischen Beispiele umgemodelt ist; eine Consecutio tem-
porum ist zuerst hier vom Autor versucht. Der erste Abschnitt, „Einfüh-
rung in die Sprache," geht in 134 Paragraphen erst in grossen Umrissen
den englischen Sprachbau durch; es folgen dann auf diese Regeln von Seite
27 — 103 zum Theil recht passend gewählte und durch den Druck das Lesen
erleichternde englische Lesestücke (6) und (56) Uebungen zum Uebersetzen
aus dem Deutschen. Uebersichten der vorgekommenen englischen Laute
und starken Verba vervollständigen diese Gi'undlage, auf die sich nun in
ähnlicher Anordnung die hundert Paragraphen des zweiten Abschnitts „Er-
weiterte Formlehre" aufbauen. Die Paragraphen 300 — 794 geben die mit
dem Verb beginnende Syntax, welche mit Uebungsstücken, eingestreuten
Fragen etc. die zehn Redetlieile durchgeht, aber stets auf logische Anord-
nung und historische Berücksichtigung der Sprache bedacht ist; dass selbst
die lateinischen grammatischen Begrifle erklärt werden, zeigt, für welchen Kreis
das Buch berechnet ist. Die Lehre von der englischen Wortbildung, nach
Fiedler, von Accent, von Aussprache und Schrift, endlich Noten über eng-
lische Aussprache dtr classischen t-prachen, über Dialekte, Dichterspracbe,
Inteipunction, Apostrophirungen und grosse Anfangsbuchstaben schliessen
bis §. 1000 hin in etwas aphoristischer, aber stets wohldurchdachter Weise
das reichhaltige Buch.
Wer eine andere Methode wünscht, wird vielleicht befriedigt werden
durch das Lehrbuch der englischen Sprache von T. Robertson,
nach den neuesten Auflagen des französischen üriiriuals zum Gebrauch für
Beurthoilungen und kurze Anzeigen. 417
Deutsche bearbeitet von W. Oelsphliiger, Stuttgart 1857. Vierte Auflage.
Das Buoh will keine (iranimatlk sein und eiithiüt nur, wie der Uebersetzer
sagt, einen reichen Schatz von Formen und Mogeln ohne logiselie Ani'ein-
andertblge; die bekannte Methode (nu'hr praktische Richtung als Wissen-
schaftlichkeit) ist hier consc(|uenter als in ßolz's Bearbeitung festgehalten;
doch macht auch hier der Verfasser die Concession, S. 362 — 'ixü eine kurze
übersichtliche Zusanunenstellung der in den 58 Loctionen (welche gegen
früher durch Leseübungen vermehrt sind) vorgekonmienen Formen imd Kegeln
zu geben.
Praktische Schulgrammatik der englischen Sprache. Mit
vielen Uebungss tu cken zum Uebersetzen aus dem Deutschen
in das Englische von Graeser. Leipzig 1857. Der Verfasser eines
praktischen Lehrganges nach Alm's Methode und eines französisch geschrie-
benen Buches für das Englische, wie eines iihidichen in englisciier Sprache
für das Französische beabsiclitigt hier nicht, sicli durcli absolute Vollständig-
keit oder durch \'ertiefung in sprachliche Frobleuie auszuzeichnen. Er gibt
1 — 14 eine Vorschule der englischen Aussfirache, dann eine kurze (rram-
matik, in der z. B. die unregelmiissigen (!) Verba schlecht geordnet sind, und
nach sechs Seiten Uebungen zur AViedcrholung von S. 45 — 134 die wich-
tigsten syntaktischen Regeln mit zahlreichen Exercitien. Die 135 — 157 fol-
genden, mit Vocabeln am Ende (bis 178) verselienen Aufgaben zur Einübung
sämmtlicher Regeln sind für den Schüler anziehend ausgewählt; auf sie folgen
orthographische Regeln und weitere Ausführung früher nur angedeuteter syn-
taktischer Punkte, besonders mit Bezug auf die Präpositionen, endlich be-
sondere Regeln und Ausnahmen für die Aussprache, die in der Vorschule
noch nicht erledigt waren (205 — 230).
Das Lehrbuch der englischen Sprache von Pr i ncc -Smith ,
einem gebornen P^ngländer, der aber schon seit sehr langer Zeit in Deutsch-
land heimisch geworden, hat in seinem ersten Cursus (Berlin 1855— 15 Sgr.)
ganz besonders und mehr als andere derartige Büi her den Zweck, die Er-
lernung der Aussprache zu erleichtern und gibt zu dem Ende, mit einsilbigen
Wörtern beginnend, eine zahlreiche Älenge von Uebungen nebst praktischen
Anleitungen auch für den Selbstunterricht, nebst Interlinearübersetzungen
und eingeflochtenen grammatischen Regeln; ej-*t im 2(3. Abschnitte beginnen
mehrsilbige Worte, und hier ist besonders das Kapitel vom Einfluss des
Tones auf die Ausspraclie und das über die unbetonten Silben hervorzu-
heben. Deutsche Stücke zu nuüidlicher Ueberst'tzung, Regeln liber Betonung,
Schlüssel und umfangreiche Verzeichnisse schliessen das gute Buch, dem wir
bei seiner von vornherein ausgesprochenen praktischen Tendenz den mitunter
sich zeigenden Mangel an tieferen Studien gern verzeihen wollen.
Englische Grammatik in kürzester Form. Erster Theil des
leichtfasslichen Sprachbuches. Dr. A. Riedl. St. Gallen 1855. Dieses Buch
macht die Aussprache im Gegensatze zum vorigen etwas zu kurz ab; an der
Anordnung Hesse sich Manches tadeln, wie auch beim Verzeichniss der zum
Sprechen nöthigsten Worte ein logisches Princip wenig sichtbar ist. Die
unregelmässigen Verba sind alphabetisch, die regelmässigen Formen der
Declinationen und Conjugationen auf einer Tabelle zum Schluss gegeben.
Seite 97 gibt Riedl seine Quellen an, die vor dem nach Ahn'scher Methode
bearbeiteten kurzen Buche den Vorzug der Ausfidn-lichkeit haben. Den
zweiten Theil dieses Buches bilden Easy Themes, leichte Uebungsstücke
zum Uebersetzen aus dem Deutschen ins Englische, wälnend der dritte ein
englisches Lesebuch ist, das nach vorheriger Angabe der bei der durch-
gängigen Bezeichnung der Accentsilben und sonstigen Erleichterungen der
Aussprache angewandton Zeichen und nach einer kurzen Liste von Homo-
nymen 1 — 14 Familiär Phrasen, 15 — 21 Easy lessons of one and two syl-
lables und dann im Ganzen leidlich gewählte grössere Lesestücke gibt.
Noten unter dem Text vertreten bis zu S. 94 das Wörterbuch; weshalb in
418 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
ihnen aber auch Formen analysirt werden, ist nicht recht klar, da der Schüier
doch zum Verstiindniss dieser schon befähigt sein muss, wenn er dieses Buch
in die Hand nimmt. 109 — 1C3 bieten poetische Stücke mit Noten. Wenn
wir auch sonst die Vorführung von Gedichten in guter enghscher Uebersetzung
bilHgen, welche dem Schüler aus dem deutschen Unterricht bekannt sind, so
dürfte doch wohl das, vielleicht durch locale Beziehungen dem Schweizer
mehr geeignet erscheinende The chief of Toggenburg (144) am Wenigsten
hierhergehören, das freilich auch schon in Fölsing steht.
Uebungsaufgaben zum Uebersetzen aus der deutschen in
die englische Sprache, für Anfänger, Dr. Brennecke, Posen 1857,
ist eine mit Hinweisung auf des Verfassers Grammatik in zwei aufeinander-
folgenden Lehrstufen bearbeitete Sammlung von leichten Uebungen zum
Uebersetzen mit Beschränkung auf die wesentlichsten Regeln und gebräuch-
lichsten Wörter. Die erste Lehrstufe enthält 43, die zweite eine gleiche An-
zahl von Uebungen mit darunter gesetzten Vocabeln und mehr oder weniger
ausfuhrlichen Regeln darüber; der Stoff ist passend gewählt „entlehnt aus
der heutigen englischen Weltanschauung und soll beitragen, die Erlernung
der künftigen Universalsprache zu erleichtern."
1. Französische Fibel und erste französische Grammatik nebst
leichten Lesestücken von Dr. M. R. Friedemann. Dritte
verbesserte und vermehrte Auflage. Berlin bei Rud. Gärtner.
1855.
2. Französisches Elementarbuch nebst Vorbemerkungen über
Methode und Aussprache von Dr. B. Schmitz. Erster
Theil: Vorschule der französischen Sprache. Dritte er-
weiterte Auflage. Berlin bei Ferd. Dümmler. 1857.
3. Aufgaben über die Regeln der französischen Sprache für
Anfänger von Alex. Frege. Zweite Auflage. Schwerin
bei Oertzen und Schloepke. 1857.
4. Die regelmässigen und unregelmässigen französischen Zeit-
wörter, ihre Stamrazeiten,^ die Ableitungen und Verwandt-
schaften, von Stolzenburg. Potsdam. 1853.
5. Französisches Uebungsbuch von Fr. Rempel, Professor und
Rector am königl. Gymnasium in Hamm. Erste Abthei-
luno;, für Anfänger. Zweite gänzlich umgearbeitete und
mit Paradigmen vermehrte Auflage. Essen bei Bädeker.
1858.
6. Cours de syntaxe fran^aise ä l'usage de la jeunesse alle-
mande. Munich. 1857.
Nr. 1 der genannten Elementarbücher tritt unter dem bescheidenen
Namen einer Fibel auf. Es ist nicht uöthig, hier auf die Anordnung des
Buches näher einzugehen, da dasselbe bereits in der dritten Auflage und
zwar von 1855 vorliegt und den Lesern des Archivs schon aus einer Be-
sprechung bekannt sein kann, die in demselben der zweiten Auflage ge-
widmet worden ist.
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 419
Was die erste Abtheilung anbotrilVt, auf die es hier als bei einer Fibel
liauptsächlich ankoninit, so scheint die Roilienf'olgo in der Einübung der
Vocale eine etwas willkürliche zu sein. Der Hauptzweck bei dieser Ein-
übung ist, eine reine Au?sj)rache der Vocale bei dem Kinde zu gewinnen;
zu dem Ende ist es aber wohl am f()n]erlichstcn, die Vocale in der Reihe
zu üben, in welcher sie sich der Mundstellung nach aus einander entwickeln.
Beginnt man also mit a und fäln-t mit o in zweiter Stelle fort, so nuiss
nothwendig in dritter Stelle u folgen, nicht aber e, namentlich nicht in
seinen verschiedenen Lautwandlungen (e, e, c [0]). Denmach würden wir
§. 8 zwischen §. 2 und 3 setzen. Ferner leuchtet nicht recht ein, warum
die gedehnten Vocale ä, ö, i, ü getrennt von a, o, i, u geübt werden sollen,
während e im Zusammenhange mit den übrigen Lautwandlungen von e ge-
übt wird. — In Betrefi' des nasalen in (in, im, ein, ain, aim) finden wir
noch immer die Aussprache durch äng bezeichnet, trotzdem doch von allen
Seiten und gewiss mit Eecht die Nothwendigkeit hervorgehoben wird, gra<ie
beim Anfänger auf eine correete Aussprache zu achten. Wenn man auch
sagt: „in lautet ungefähr wie äng," so wird sich der Lernende, dessen
Ohr überdies an feinere Schattirungen nicht gewöhnt ist, wenig an das un-
gefähr kehren und gradezu äng aussprechen. Wo die Analogie der Aus-
sprache im Deutschen mangelt, da lasse man doch lieber derartige Bezeich-
nungen weg; der gut aussprechende Lehrer wird sicher ohne dergleichen
Mittelchen fertig werden, den L'ebrigen aber wird dadurch nicht im Ge-
ringsten geholfen. Dasselbe gilt von un (öng), oin (oäng).
Bei der i^inübung der Consonanten c und g vermisst man die Angabe
der Aussprache derselben vor y; wenn auch cy und gy im Ganzen wenig
vorkommen, so ist doch kein Grund vorhanden, sie an dieser Stelle ganz
zu ignoriren, um so weniger, als in ij. 16 von dem einsylbigen y die Rede
gewesen. Sehr misslich scheint es übrigens auch, als Analogieen für die
Aussprache von g vor e und i die deutschen Wörter geniren, genie an-
zuführen; wenn nun Einer z. B. immer nur schenie und schenieren hat aus-
sprechen hören und ausgesprochen hat, dann wird er auch sagen müssen:
la schelee, las schens?
Ueber die ganze erste Abtheilung können wir uns im Uebrigen nur
anerkennend äussern, wenn auch vielleicht die Uebungen jeder einzelnen
Nummer noch zahlreicher sein könnten. Ganz besonderen Beifall verdient
aber als Beschluss dieser Abtheilung §. 63, Frobeübungen betitelt; auch
dieser würde, erweitert, von noch grösserem AVerthe sein.
Die zweite und vierte Abtheilung schliessen sich in natürlicher Ent-
wickelung an die erste an. Was aber die dritte anbetrifl't, so scheint sie
uns für eine Fibel einen zu beträchtlichen Umfang einzunehmen, denn sie
umfasst zwei Drittel des ganzen Buches (S. CO — 125). Während in einer
Beziehung zu viel gegeben wird, ist auf der andern zu wenig geschehen, da
wir mit Ausnahme der Paragraphen über die adverb. quant. und die präpos.
überall die Beispiele vermissen.
Nr. 2 liegt ebenfalls in erweiterter dritter Auflage vor. Der Verfasser
gibt statt einer Vorrede auf dreiundzwanzig Seiten Vorbemerkungen:
A. über die Einrichtung des Buches und Alethode überhaupt; B. Vor-
bemerkungen zu einzelnen Nummern; C. die allgemeinen Regeln der fran-
zösischen Aussprache. Was in neucn'Cr Zeit vielfach in einem Anhange zu
den Schulbüchern zu sagen beliebt wurde, geht hier dem Schulbuche vor-
aus; aber so wenig wir jene Anhänge in Büchern billigen können, die für
den Schüler bestimmt sind, ebensowenig billigen wir diese Vorbemerkungen,
an dieser Stelle, wohlverstanden. Denn es soll damit keineswegs gesagt
sein, dass dieselben nicht Vortreffliches enthielten. So können wir z. B.
dem Herrn Verfasser nur beiptliehten in dem, was er über den Werth von
Paradigmen sagt: „Ich kann den \\'erth vollständiger Paradigmen, welche
420 Beurtheiliingen und kurze Anzeigen.
dem Schüler nicht viel zu denken und zu machen übrig lassen, nicht ein-
sehen. Wenn der Schüler das Zeitwort avoir richtig und tüchtig eingeübt
hat, so kann er die zusammengesetzten Zeitformen von parier selbst machen,
und es ist viel besser, wenn er sieht, dass er sie selbst machen kann, als
wenn er gleichsam als etwas Neues in aller Breite im Buche sieht: „Per-
lectum j'ai parle, tu as parle etc.
In dem Theile über die li'anzösische Aussprache finden wir auf Seite
XXII in Zusatz .5 eine Bemerkung, die wenigstens an Ungenauigkeit leidet.
Es heisst dort nämlich : „e und u sind in den Verbindungen gi, gu vor
einem andern Vocale stumm (in ge dient e zur Erweichung des s;, in gru
FT 1 . .
dient u zur Härtung des g) : mangeanf , pigeon, gageure ; guerre, guule,
anguille, langue. Ebenso dient e zur Erweichung des c in morceau. " Da-
gegen ist zu sagen ]) dass die Behauptung in ihrer Allgemeinheit eine
falsche ist; es möchte doch schwer werden, neben gageure ein zweites Bei-
spiel hinzustellen, in welchem e vor u stumm wäre hinter g; 2) dass das e
in morceau durchaus nicht dasselbe ist als in mangeant, sondern dass es,
wie in den meisten Wörtern auf eau, z. ß. chäteau, in der Ableitung des
Wortes selbst seine Berechtigung findet.
Was das Elementarbuch selbst anbetrifft, so zeigt sich durchweg das
sehr anerkennenswerthe Bestreben, die Selbstthätigkeit des Schülers anzu-
regen; daher von Regelwerk keine Spur, aber hinreichende Uebungen, so
dass unter verständiger Leitung der Schüler dahin gelangen kann, einen
selbstgefundenen Schatz auch von grammatischen Kenntnissen sich anzu-
eignen. In der Erweiterung des zweiten Abschnitts, dessen Hauptinhalt die
drei regelmässigen Conjugationen sind, befinden sich indessen einige An-
gaben, denen wir nicht beipfiichten können. So heisst es unter Anderm in
Nr. 5 (S. .'3): hair (liassen) wird im Präsens sing. ind. ohne trema ge-
schrieben und einsylbig gesprochen." Logisch richtiger möchte es doch
wohl sein, zu sagen: „hair ist im Präs. sing. ind. einsylbig, deshalb fällt
das trema hier weg." Wie pedantisch diese Bemerkung auch scheinen
möge, so ist sie doch insofern wichtig, als sie dem Kinde das richtige Ver-
hältniss von Ursache und Wirkung zeigt.
Den Beschluss des Buches machen zusammenhängende Lesestücke, denen
ein alphabetisch geordnetes Vocabularium beigegeben ist.
Nr. 3. Die Vorrede gibt in acht Punkten an, was dieses Uebungsbuch
hauptsächlich von Seinesgleichen unterscheiden soll. Wir müssen aber ge-
stehen, dass mit Ausnahme von Nr. 8 alle übrigen Punkte doch schon längst
allgemein als richtig anerkannt worden sind. In Nr. 8 aber heisst es: „Es
sind ni<:ht, wie in den meisten Elementarbüchern, Stücke zum Uebertragen
aus dem Französischen eingereiht. Denn diese verlangen eine Anordnung
nach ganz andern Rücksichten, die mit der nach dem grammatischen Systeme
nicht zu vereinigen ist." Wenn es auch etwas schwer sein mag, beide Arten
von Uebungen in allen Beziehungen in Einklang zu bringen, so scheint es
doch für den Anfänger von wesentlicliem Nutzen zu sein, wenn er beide
Sprachen fortwährend an einander übt und nicht die eine ausschliesslich an
der andern. Dann ist doch aber auch vor Allem auf Einfachheit der Lehr-
mittel, namentlich auf der untersten Stufe zu sehen; das Buch des Herrn
Verfassers macht aber jedenfalls neben seinem Uebungsbuche noch ein fran-
zösisches Lesebuch für den Anfänger nöthig. Doch gehen wir zu dem
Buche selbst. Obgleich es mir Aufgaben über die Regeln der französischen
Sprache geben soll, seinem Titel nach, so sind doch mit besonderer Be-
tonung die Regeln selbst angegeben, und häufig in sehr naiver Form. Um
Beweise für diese letztere Behauptung zu geben, begnügen wir uns, einige
Definitionen und Regeln wörtlich anzuführen. Nr. 1 beginnt gleich fol-
gendermassen: „Verb heisst ein 'Wort, welches darstellt, was Einer thut.
Infinitiv nennt man die Form des Verbs, wenn es sich auf r oder r e endigt."
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 421
In Nr. 2 lieisst es : „Die pewobnliclistc Spruchform ist die der dritten
Person, weiche in der Enduni; t besteht." In Nr. C aber heisst es gar:
„Wenn der Besitzer ein AVort im Phniel ist, dient" etc. etc.
Nr. 4. Obgleich der Herr Verfiisser in kurzen einleitenden Worten be-
hauptet, dass die Zeitwörter, welche dem Sclüiler grosse Schwierigkeiten
bereiten, nach solcher (soll wohl heissen : meiner) Behandlung sich bald mit
Leichtigkeit in ihren verschiedenen Formen anwenden lassen, so hat uns
diese Leichtigkeit bei genauerer Ansicht des Heftchens doch keineswegs
einleuchten wollen. Wir bezweifeln auch sehr, dass dies dann eintreten
würde, wenn wir, wie der Herr Verfasser es fordert, die kleine Tabelle
lleissig benutzten. Für Diejenigen aber, die das Bedürfniss fidden sollten,
neben einer guten Grammatik noch eine solche Monographie über das fran-
zösische Verbum ihren Schülern in die Hand zu geben, würde der Herr
Verfaser jedenfalls sehr gut thun, die Anschauungsweise auseinanderzusetzen,
nach welcher er bei Anordnung der Verba verfahren ist, denn, olT'en ge-
standen, wir wissen nicht mehr anzugeben, was ein regelmässiges Zeitwort
ist, wenn unter dieser Rubrik Verba wie vcnir, prendre, naitre und viele
andere aufgeführt werden, die wir einfaltigerweise bisher iunner für un-
regelmässig gehalten haben.
Nr. 5. Die Rücksichten, welche den Herrn V^erfasser bei Abfassung
seines üebungsbuches leiteten, können den Lesern dieser Zeitschrift durch
eine Besprechung der ersten Auflage (Archiv, J. 1852, 8. 2-' 9) bekannt sein.
Es bleibt uns daher bei Ankündigung der zweiten Auflage nichts Anderes
zu thun übrig, als auf jene Besprechung zu verweisen. Doch sehen wir uns
genöthigt, auf einen ad 2 schon besprochenen Punkt zurückzukommen. Der
Herr Verfasser hat nämlich dieser Auflage eine Zusammenstidlung von Para-
digmen der Declinationen und Conjugationcn beigefügt, und sagt mit Bezug
darauf in der Vorrede: ,.Dem mehrseitig ausgesprochenen Wunsche, dass
dem Uebungsbuch Paradigmen von Declinationen und Conjugationen zur
becjuemen Einübung derselben für die SciiiUer beigefügt werden möchten,
habe ich in einem besonderen Anhange willfahren zu müssen geglaubt,
wenngleich ich selbst solche bei meinem Unterrichte nie vermisst habe."
Es mag allerdings ein bequemes Unteniciiten sein, wenn man sich solcher
mechanischen Handhaben, wie Paradigmen sind, bedienen kann; erfolgreicher,
wenn auch mühsamer ist es aber jedenfalls, wenn man den Schüler dahin
bringt, dass solche Paradigmen für ihn überflüssig sind.
Nr. 6 Dieses Buch ohne Namen (des Verfassers, wohlverstanden") kennt,
trotzdem es sich auf die Erfahrungen eines zehnjährigen Unterrichts in
Deutschland stützt, doch den Aufschwung nicht, den das Studium des Fran-
zösischen, wie überhaupt der neueren Sprachen, in den letzten Jahrzehnten
in Deutschland erfahren hat. Es kennt nur „La Grammaire de Noel et
Chapsal," „la Grammaire selon l'Academie," „le cours theori(jue et pratique
de lansue fran^aise j)ar M. Poitevin," kurzum „les grammaires francaises les
plus generalement suivies et appreecices." Es beabsichtigt, wie es in der Vor-
rede heisst, „de presenter aux eleves et aux instituteurs de langue fran^aise
en AllemagRO une theorie complete et methodique, mais simple et facile,
eclairee par des exemples ä la portee de la jeunesse" etc. Nach Ansicht des
Buches müssen wir gestehen, dass wir diese theorie nicht für complete, be-
sonders nicht für methodique halten können, wohl aber für simple, und wenn
auch nicht grade für facile, so doch für legere. Es möge genügen, an
einigen Beispielen zu zeigen, wie oberflächlich das Ganze, und wie wenig
geeignet es ist, in den (Jeist der Sprache einzuführen.
In dem Kaj)itel „De l'article" heisst es §. 32 (S. 7): Du, des, de la
donnent au substantif tantöt un sens general, comme lorsque je dis: la vie
des hornmes est jjIus courte que celle des cerfs; tantot un sens paititif,
lorsqu'ils equivalent il quelque.
422 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Ibid. §. 34. „On emploie le, la, les avant les adverbes plus, mieux,
moins, quand on veut etablir une comparaison, mais on emploie le invariable,
quand il n'y a point de comparaison, et lorsque les adverbes plus, mieux,
moins modifient un vcrbe ou un autre adverbe. ex. Entre toutes cesjennes
persoiuies vos soeurs sont les plus aimables et elles sont le plus ai-
mables, quand elles se couvrent du voile de la modestie." Findet hier
etwa in dem zweiten Falle (le plus aimables) keine Vergleichung statt?
Gewiss, nur der Gegenstand der Vergleichung ist ein andrer; im ersten
Fall werden verschiedene Personen in Bezug auf dieselbe Eigenschaft ver-
glichen, im .zweiten dagegen verschiedene Grade derselben Eigenschaft in
Bezug auf dieselben Personen.
S. \2, §. 52 heisst es: „L'adjectif possessif leur se met au singulier:
1) lorsque l'objet possede exprime distinctement une seule personne ou une
seule chose; 2) lorsque par sa nature, il ne peut avoir de pluriel; 3) lors-
qu'on enonce un sens general." Wo ist da wohl die verheissene simplicite
und clarte.
Sehr diirftig ist das Kapitel „Emploi des auxiliaires," und dieses Kapitel,
wie das über den Gebrauch der Tempora und Modi, ist doch grade für
Deutsche ein sehr wichtiges und schwieriges.
Wenn wir daher im Ganzen viel an dem Buche auszusetzen haben, so
ist doch andrerseits nicht zu leugnen, dass es auch einiges Gute enthält;
besonders hervorzuheben ist in dieser Beziehung das Kapitel „Accord du
verbe avec son sujet" (§§. 94 — 106) und „de la negation" (§§. 180 — 186);
weniger ausführlich, doch auch recht lobenswerth ist der Abschnitt „du
complement du verbe" (§§. 107 — 113). Crouze.
Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit. Organ des Ger-
manischen Museums. Red. : Dr. Freih. v. u. zu Aufsess,
Dr. A. V. Eye, Dr. G. K. Frommann. Neue Folge, gr. 4.
Nürnberg.
Der Anzeiger für'Kunde der deutschen Vorzeit ist, wie er
ausdrücklich auf dem Titel angibt, das Organ des germanischen Museums
zu Nürnberg und hat mit dem laufenden Jahre den fünften Jahrgang „neuer
Folge" eröffnet. Die letzten Worte sollen bekanntlich nur andeuten, dass
sich der Anzeiger als eine Fortsetzung des von Herrn v. Aufsess im Jahr 1832
unter dem Titel „Anzeiger für Kunde des teutschen Älittelalters" begrün-
deten, dann zuerst in Gemeinschaft mit Mone, endlich von diesem Letzteren
allein unter dem Titel „Anzeiger für Kunde der teutschen Vorzeit" bis zum
Jahre 1839 fortgeführten betrachtet. Der jetzige Herausgeber der Zeit-
schrift, Herr von Aufsess, eben derselbe, welcher auch jenen altern Anzeiger
begründet hat, und die Herren A. v. Eye und K. Frommann, die unter uns
einen guten Klang haben, sprechen sich in dem Vorworte zur ersten Nummer
(Juli 1853) darüber, sowie über die ganze weitumfassende Tendenz dieses
Blattes und seines Anschlusses an das germanische Museum selbst aus. Da-
nach hat nun diese im Allgemeinen noch wenig gekannte Zeitschrift die
grosse Aufgabe, das ganze Material des deutschen Alterthums bis zum sieben-
zehnten Jahrhundert zu umfassen. Sie verfolgt die einzelnen Disciplinen
nach denselben Rubriken, nach welchen das grossartige germanische Museum
in Nürnberg selbst eingerichtet und gegliedert ist Es würde demnach diese
Zeitschrift ganz vorzugsweise die Böckh'sche Auffassung vom Wesen und
Beruf der Philologie zu realisiren suchen, während die übrigen wissenschaft-
lichen Blätter nur partielle Zwecke verfolgen. So z. B. gibt die Haupt'sche
„Zeitschrift für deutsches Alterthum" vorzugsweise Denkmäler und
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 423
grössere Abhandlungen, die Pfeiffer' sc he „Germania" fast ausschliess-
lich Literarliistoriscli-Exegetisches, nobst einigen meistens südiieutschen, zum
Tlieil sehr einseitigen Kritiken; die F rom m ann'schc endlich, „Die
deutschen Mundarten," beansprucht nur, dits Organ für' mundartliche
Studien zu sein.
Ist so die Tendenz des Blattes eine höchst wichtige, so ist auch der reiche
Inhalt wohl geeignet, jedem Freund der deutschen Literatur, oder besser :
deutscher Studien. Interesse und Belehrung zu gewähren. Diesen Inhalt
bilden zuerst „wissenschaftliche Mittlieilungen," dann eine' Chronik des ger-
manischen Museums und Verzeichnisse I. der Geschenke für das Archiv,
II. fiir die Bibliothek, III. für die Kunst- und Alterthumssammlung: ferner
eine Chronik der historischen Vereine; dann unter der Ueherschrift „Nach-
richten" kurze Anzeigen über neu erschienene Werke der betrellenden Lite"
ratur und Angabe der in das Gebiet de.s Museums einschlagenden Aufsiitzc
in andern Zeitschriften. Den Beschluss bilden Vermischte Nachrichten, An-
fragen, Inserate und Bekanntmachungen.
Der Jahrgang besteht aus zwölf in der Regel zwei bis zwei und einen
halben Bogen starken Nummern; der Preis desselben ist massig, etwa zwei
Thaler. Ich beschliesso meinen Bericht mit einer kurzen Angabe der wissen-
schaftlichen Mittheilungen, deren einige nur kurz, andere langer sind und
sich durch mehrere Nummern hindurchziehen. Es sind in den beiden ersten
Nummern der Reihe nach folgende: 1. Heinz Uebertwerchs Lied von Niclas
Muffel 1469, mirgetheilt von Prof. Dr. C Hötler in Prag. 2. Ueber eine
Handschrift des Luarin, von Prof. Dr. K. Bartsch. 3. Zwingli's erste zw i
Schriften, von E. "Weiler in Zürich. 4. Haar und Bart der Deutschen im
Mittelalter, von Jacob Falke. Der Verfosser, einer der Beamten im Ger-
manischen Museum und Herausgeber einer Galerie der Meisterwerke alt-
deutscher Holzschneidekunst, gibt hier nur wegen Beschränkung des Raumes
eine möglichst kurze übersichtliche Darstellung des Ganges, den die Tracht
an Haar und Bart in Deutschland genommen hat. Einige Abbildungen sind
zur Veranschaulichung beigefügt. Die weitere Ausfiihrung soll an einer
andern Stelle stattfinden. 5. lieber die Wappen und Sigille der St;idt
Constanz von Dr. J. Marmor zu Constanz, mit einer Abbildung. 6. Nach-
trägliche Bemerkung über eine alte Spielkarte, vom Kreisgerichtsrath Kuchen-
buch zu Müncheberg. 7. Schuldiger gleiclibedeutend mit Gläubiger, von
Lochner. 8. Ueber die Handschriften der Nürnberper Stadtbibliothek, von
Dr. K. Bartsch, Professor zu Rostock. 9. Altnumistica, von E. Weller in
Zürich. Derselbe bittet die Herren Biblioihekare um Auskunft über mehrere
Exemplare von Joh. Clais satirischem Gedichte, von dem K. Gödecke nur
einige Ausgaben nenne. 10. Wolfgangus Prisbachius, von E. Weller in
Zürich. Der genannte Pseudonymus ist nach Weller Theodor Beza und
Genf der Druckort seiner .Schrift. 11. Die adlige Gesellschaft „zum
Sünflzen" in Lindau, von C. Primbs, Rechtspraktikanten zu Nürnberg. Die
Gesellschaft ist schon vor 138.5 gegründet worden. Der älteste Geselischafts-
oder Statutenbrief ist vom Jahr 1430. Karl V. ertheilt ihr 1.5 51 neben dem
Rechte, dass aus selber jederzeit die drei Bürgermeister und ein Geheimer
zu wählen seien, die Freiheit, auch andere ehrbare Leute in ihre Gesell-
schaft aufzunehmen. 12. Ein altes Taufbecken im Dome zu Osnabrück,
von Dr L. Tross, Oberlehrer in Hamm. 13. Unzuchtstrafen früherer Zeiten,
von A. Birlinger, Cand. theol. in Tübingen.
So mannigfaltig und unterhaltend diese wissenschaftlichen Mittheilungen
sind, ebenso sind es auch (Vw, übrigen Zuthaten des Blattes. Alle Diejenigen,
welche sich für das germanische Museum interessiren, finden hier Alles ver-
zeichnet, was die Verwaltung, den Vorstand, die Gelehrtenausschüsse und
dergleichen mehr betriflt, ebenso den Ungeheuern Zuwachs an Mitteln jeder
Art, besonders an literarischen. Am wichtigsten sind sodann wohl die Aus-
züge aus den Schriften der verschiedenen historischen Vereine (die beiden
424 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
ersten Nummern geben deren dreizehn) und die Hin^Yeisung auf Aufsätze in
Zeitschriften (in den beiden vorhegenden Nummern dreissig). Es werden
zweiundzwanzig Werke angezeigt und nach Inhalt und Werth einer kurzen,
aber gediegenen und gemässigten Kritik unterworfen. Auch unter den ver-
mischten Nachrichten, Bekanntmachungen, Anfragen und dergleichen findet
der Freund deutschen Altertliums mannigfaltige Anregung, und ich glaube
nicht zu viel zu sagen, wenn ich behaupte, dass keine Zeitschrift geeigneter
ist als sie, in das Studium des Deutschen auf eine leichte und angenehme
Weise einzuführen und zu bewirken, dass Jeder, unbeschadet seiner spc-
ciellen Studien, bei dem Gesammtstudium der deutschen Philologie sich be-
theilige.
Nr. 3 und 4 (März und April) enthalten folgende wissenschaftliche Mit-
theilungen: 1. Meister Hermann, ein deutscher Glasmaler des vierzehnten
Jahrhunderts, von Dr. Ludwig Schneegans, Stadtarchivar in Strassburg.
2. Der wahre Name des Bildhauers der Constanzer Domthüren, von dem
selben. 3. Ueber die Handschriften der Nürnberger Stadtbibliothek, Schluss,
von Dr. K. Bartsch, Professor in Rostock. 4. Meister Altswert, von Prof.
Dr. A. v. Keller in Tübingen. 5. Ueber Gambrinus, von Dr. Karl Gautsch
in Dresden. 6. Haar und Bart der Deutschen im Mittelalter, Schluss, von
Jacob Falke. 7. Zum Holen der Speckseite, von Dr. Reinhold Köhler,
grossherzoglichem Bibliothekar in Weimar. 8. Zur Geschichte der Strafe des
Steintragens der Weiber, von Jos. Zahn, Professurscandidaten in Wien.
9. Ueber die Gefangennehmung des Grafen Reinhard von Solms, von Dr.
Johannes Voigt, königl. preussischem geheimen Regierungsrath und Univer-
sitätsprofessor in Königsberg. 11. Freimarkt, vom Archivar Herschel zu
Dresden. 11. Die Inschrift in der sogenannten Bennohöhle, von K. Gautsch
in Dresden. 12. Meister Altswert, Fortsetzung, von Prof. v. Keller. 13. Zur
Geschichte des englischen Seh weisses. 14. Das römische Kastell Aliso und
das Varianische Schlachtfeld, von M. F. Escellen, königl. preussischem Hof-
rath in Hamm. 1.5. Bärenfang im Fichtelgebirge, von Ludwig Zapf in Münch-
berg. 1 6. Der Freistuhl an der breiten Eiche, von J. S. Seibertz, königl.
preust^ischem Kreisgerichtsrath zu Arnsberg.
Den Schluss bilden wieder, wie in den früheren Nummern, die Chronik
des Museums nebst Angabe des Zuwachses zu den Sammlungen desselben;
Chronik der historischen Vereine; Nachrichten aller Art: Recensionen (23
bis 30), vermischte Nachrichten, Inserate und Bekanntmachungen.
Dr. Sachse.
Programmenschau.
Die freie deutsche Arbeit in Prima. I. Von Dr. H. Wendt.
Programm des Gymnasiums in Rostock, 1857.
In dem ersten Tlicile dieser höchst beachtungswerthen Abhandlung,
welcher die Ueberschrift: Allgemeines trägt, gibt der Verfasser zuvörderst
eine kurze historische Darstellung des Entwicklungsganges , welchen die
Methode des deutschen Unterrichts an unsern Gymnasien genommen hat,
und wendet sich sodann zu einem speciellen Punkte dieses ganzen Gebiets,
dem freien deutschen Aufsatz in Prima. Dieser Ausdruck wird folgender-
massen erklärt: *
„Darstellung durch die Schrift ist, wie die mündliche Rede, die sie zu-
nächst vertritt, wie die Sprache überhaupt, zu welcher der Mensch von Naiur
organisirt ist, ilirem Wesen nach Mittheiluug: Mittheilung eines Innerlichen,
eines Empfundenen, Gedachten, im Innern Geschauten. Der Zweck jeder
solchen Mittheilung ist entweder ein innerer, auf sie selbst gewandter, oder
ein äusserer, auf etwas Anderes als sie selbst bezogener, wonach die Mit-
theilung selbst in zwei ihrem Wesen und ihrer Bedeutung nach verschiedene
Arten zerfällt. Die erstere Art, deren Zweck ein innerer, muss angesehen
werden als ein Act der Selbstljefriedigung durch geistiges Schallen, der Be-
friedigung eines im Geiste wie in allem Lebendigen wirksamen Triebes, sich
selber gegenständhch zu sein und zu werden, sich von sich selber abzulösen,
sich darzustellen, und so in objectiver Erscheinung sich selber anzu-
schauen. Hierbei ist die geistige Thätigkeit ganz durch sich selbst besiimmt,
weil auf keinen andern Zweck als auf ihr eigenes Schaffen bezogen, und in-
sofern eine freie, die ihr Gesetz in sich selber hat, aus sich selber anhebt
und in sich selber mit geschehener .Selbstdarstellung zu Ende geht. Pro-
duction ist das eigentliche Wesen dieser ersten Art der Mittheilung.
Die zweite, deren Zweck ein äusserer, ist dadurch in Allem der Gegen-
satz der ersteren Art. Dort ein Act reiner Selbstbefriedigung, hier ein Ge-
schäft, das in fremdem Auftrage vollzogen wird; dort ein eintäches und un-
mittelbares Interesse an der I^Iittheilung, das ganz in dieser selbst aufgeht,
hier ein abgeleitetes und mittelbares Interesse an der Mittheilung als solcher,
deren Zweck ja eben ausser ihr selbst in etwas Anderem liegt, das durch
sie erreicht werden soll, und das so vielfach sein kann als die Beziehungen
des individuellen SeiriS nach Aussen oder zu sich selbst. Denn auch zu sich
selbst kann der Mittheilende in Zwei-kbeziehung treten, ohne dass darum der
Zweck der Mittheilung aufhörte ein äusserer zu sein und ein innerer würde.
Eine schriftliche Aufzeichnung z. B. als Gedächtnisshülfe oder zum Nutzen
und zur Uebung irgend einer geistigen Kraft oder Fertigkeit, wie solche
namentlich in Schulen so häufig vorkommen, hat einen der Darstellung selbst
ausserlichen Zweck, dessen geistige Natur nichts an dem äusserlichen Cha-
426 Programmenschau.
rakter dieses Zweckes ändert. Ferner ist hierbei die geistige Thätigkeit
nicht durch sich selbst bestimmt, die Regel ihres Verfahrens wird ihr nicht
durch ihr Schaffen selbst, sondern durch etwas Anderes, aussen Stehendes
dictirt, zu dem dies Schaffen in Zweckbeziehung steht; es waltet über ihr
nicht ihr eigenes, sondern ein fremdes Gesetz, sie ist insofern eine unfreie,
gebundene, von Aussen beherrschte."
Arbeiten der letzteren Art, eigentliche Uebungen, müssen in der
Schule in Menge vorkommen; die Production schliesst dagegen den Be-
griff' der Uebung aus, denn sie beruht auf dem energischen Hervortreten
eines in allem Leben, dem geistigen wie dem leiblichen, unter gewissen Um-
ständen erwachenden Triebes, womit dasselbe über die Grenzen der Indivi-
duahtiit, innerhalb welcher es zunächst besteht, hinausstrebt, und sich in
einer aus ihm selbst heraustretenden Bildung, die ein Abbild seines eigenen
Seins ist, zu wiederholen unternimmt. Solches Unternehmen ist nun zwar
au Bedingungen geknüpft, deren Vorhandensein vom directen Willenseinffusse
des Subjects unabhängig ist, aber das Productions vermögen und der in
ihm erwachende Bildungstrieb stehen keineswegs ausser dem Bereich mannig-
facher bestimmender und bedingender EinÜüsse. Der Verfasser will es hier-
bei indessen durchaus nicht auf Hervorrufung und Begünstigung der Pro-
duction anlegen, sondern will die Aufgabe der Schule, welche das geistige
Leben der Jugend und seine Entwicklung zu leiten und zu behüten hat, so
verstanden wissen, dass sie die „bei normaler, gesunder Entwicklung von
selbst sich regende Production gewähren lasse und nur dafür Sorge
trage, in massvoller und wohl berechneter Weise derselben Gelegenheit
zu bieten, sich zu zeigen, wo sie sich zeigen wolle."
In Beziehung auf die von mehreren Pädagogen geäusserten Bedenken
über die Zulassung der Production im Jünglingsalter überhaupt bemerkt der
Verfasser, dass auch er der Ansicht über das Verwerfliche der blasirenden
Anforderungen so mancher Lehrpläne beipflichte, dass man indessen vom
pädagogischen Standpunkte nur desshalb vor der Production wie vor einem
Gifte absperren zu müssen glaube, weil man darunter etwas ganz Anderes
verstehe, als die Befriedigung eines naturgemäss im Geiste wirksamen
Triebes, sich selber gegenständlich zu werden. Zur näheren Verständigung
scheint es dem Verfasser nöthig, „in der Natur des geistigen Vermögens
selber , der Seelenthätigkeit im Allgemeinen , die Erklärung desjenigen
Vorganges zu suchen, den er als Production, als productive Seelenthätig-
keit bezeichnet: die Spuren derselben bis in das erwachende Seelenleben
zurück zu verfolgen ; ihr Verhalten während der nachfolgenden Entwick-
lungsphase zu beobachten , den wesentlichen Richtungen nachzugehen, in
welche diese fortschreitende Bewegung jene Thätigkeit naturgemäss weiset;
die Gebiete abzugrenzen und deren Dimensionen nach Breite und Tiefe zu
ermitteln, innerhalb welcher die Production sich je nach den verschiedenen
Alters- und Lebensabstufungen bewegt." — Jede Seelenthätigkeit ist als
ein inneres Wirken und Schaffen, Bilden und Gestalten zu denken: die pro-
ductive Geistesthätigkeit ist deshalb von keiner Alters- und Entwicklungs-
stufe ausgeschlossen und es findet unter den Productionen der verschiedenen
Lebensabschnitte kein Art-, sondern nur ein Gradunterschied statt. Das
eigenthümliche individuelle Leben producirt sich stets in der ihm adäquaten
Weise. Li der Sprache ist Nichts, was nicht in der Seele ist; als Product
menschlischer Organisation ist sie leiblich und geistig bedingt und dasselbe
gilt auch von dem ganzen Verlaufe der Entwicklung des sprachlichen Ver-
mögens im Individuum. Die Produ(!tion besteht demnach in dem bezeich-
neten Sinne in einer Geistesthätigkeit, die jedem Lebensalter zukommt und
als vom Menschengeiste unzertrennlich gedacht werden muss. „Es genügt,
dass das spielende und plaudernde Kind seine ganze Seele blosslegt,
und dabei in tausend eigenthümlichen Combinationen, Erfindungen, Urtheilen
und Einfällen die Selbstthätigkeit und den schaffenden und gestaltenden
Prograramenschau. 427
Trieb kundgibt, der das AVesen aller und jeder Production ausmacht. Ver-
früht, widernatürlich kann also diese Thiitigkeit und können ihre Aeusse-
rungen und Erzeugnisse nirgends heissen, wo sie von selbst und unter
den ihnen ge müssen Bedingungen auftreten . . ,
Sollen demnach schriftliche Productionen, wie ü-üh oder wie spät, im
ausgehenden Knaben- oder im reiferen Jünglingsalter innerer Beruf oder
äusserer Anlass dazu führen mag, vor dem Vorwurf der Priicocitiit, der
Ueberspannung und Unnatur gescliützt stehen, so dürfen sie eben nicht
durch künstlichen Reiz gemacht, sondern müssen, analog den Combinationen
und Erfindungen des spielenden Kindes, von selbst gekommen, freiwillig und
aus innerem Trieb, also auf naturgemiissem Wege entstanden sein. Die
Selbstbestinuuung des Geistes in dem freien Spiel seiner Knifte, das Wolil-
gefiillen, das er an ihrer Thiitigkeit findet, ist der einzige Bestiin-
mungsgrund der Production: die Aufgabe kann und soll nur als
Gelegen heitsreiz und Anregung der Produetionslust wirken.
Sollen ferner dergleichen Pruductionen überhaupt möglich, sollen
sie natürlich und wahr und nicht bloss Schein und 'J'äuschung sein, so
niuss ihnen erlaubt sein, nach Art und Charakter, nach Inhalt und Form
das zu sein, was sie in Berücksichtigung des Alters und der Bildungsstufe,
der Neigung und der Individualitat des Producirenden sein können: ihnen
muss erlaubt sein, in der Kichtung und dem Vorstellungskreise zu liegen
und die Sprache und Ausdrucksweise an sich zutragen, die diesem Alter,
dieser Bildungsstufe und individuellen Begabung natürlich und angemessen
sind . . .
Endlich ist zu jeder Production der volle Seele nantheil nöthig,
das intensive Interesse an dem Gegenstand der Darstellung, welches die
höhere Spannung und Energie der geistigen Kräfte, ihre volle Wirkung auf
einen gegebenen Punkt bedingt. Was aus dem Innern heraus Gestalt und
Bildung gewinnen soll, muss die innere gestaltende und bildende Thiitigkeit
in entsprechender Weise in Bewegung setzen, muss desshalb zu dem indivi-
duellen Denken, Empfinden, Begehren in der allernäclisten und innigsten
Beziehung stehen."'
Nach einer kürzeren Polemik gegen Hiecke, welcher, wie der Verfasser
sagt, von einer falschen Theorie der Production ausging, beleuchtet die Ab-
handlung die Ansichten mehrerer Gegner der freien Production beim Unter-
richte in der deutschen Sprache und behandelt dann in einem zweiten Theile
die Bildung des Stiles. Referent wünscht, dass dieser interessante Abschnitt
in der Zeitschrift vollständig abgedruckt werden möge. Er lautet folgender-
massen:
-Man verlangt vom Lehrer, dass er den Stil seines Zöglings bilde. Es
ist erstaunlich, mit welcher Unbefang-enheit diese Aufgabe gestellt und —
acceptirt zu werden pflegt. Am erstaunlichsten wohl in folgendem, übrigens
alltäghchem Fall. Ein junger Mensch vom Lande wird von seinen Ange-
hörigen in die Stadt gegeben, um hier, nachdem er zu Hause bis zum fünf-
zehnten oder sechzehnten Jahre die Elemente absolvirt, in Jahresfrist mit
einem Cursus im Reiten, Tanzen, Buchführen, etwas französischer Conver-
sation und — im deutschen Stil seine „Ausbildung" zu vollenden. Bald ist,
neben den andern, auch der „Stil-" oder „Deutschlehrer" gefunden: eine
Stunde wöchentlich oder zwei werden ausgemacht, und die Sache geht vor
sich. Aus der Reitstunde kommt der Jüngling in die Stilstunde. Hier er-
hält er, nach Anleitung irgeml eines „Briel'schülers" oder einer „Sammlung
von Materialien zu allen Arten von schriftlichen Arbeiten," die den Lehrer
der Mühe überhebt, die Stofle der Individualität und dem Bedürfuiss seines
Schülers anzupassen, Aufgaben zu Briefen und Aufsätzen, die ihm Veran-
lassung werden, Federn zu zerkauen und Papier zu bcsclireiben — mit
Redensarten, die der Lehrer nacli Miiglichkeit verbessert, und die, als über-
lieferte fertige, conveutionelle Formeln, zu dem natürlichen und sachgemässen
428 ' Programmenschau.
Ausdruck, zur Sprache in eigentlicher Bedeutung, als dem Spiegel und Ab-
druck des eigenen Innern, genau in demselben Verhältniss stehen wie die
Exercitien der Tanzstunde — Arme halten, Beine stellen, Verbeugungen
machen, entree und sortie executiren u. s. w. — zur freien, vom Geflihl und
AiTect und innerem Bedürfniss getragenen Haltung und Bewegung des
Körpers. Dass der Schüler durch diese Schreibereien, die sich um fingirte
Verhältnisse und unwahre Situationen drehen und keinerlei Zusammenhang
haben „mit dem, was in der Reihe der lebendigen Gedanken vorgeht," auch
nur so viel gefördert werde, dass er die gröbsten Fehler und Solöcismen
seines Dialekts nach eigenem Urtheil vermeiden lerne, ist kaum denkbar:
das Höchste ist, dass er eine Anzahl Phrasen und Wendungen über allerlei
Gegenstände und Gelegenheiten an ungelegenem Orte anbringen lernt;
worauf er, um diese „Ausbildung" bereichert, in sein Dorf zurück- oder zu
seinem anderweitigen Berufe übergeht. Und dies hohle Wesen heisst Unter-
richt im Stil!
Aber auch bei anscheinend gründlicherem Verfahren eines regelmässi-
geren Unterrichts, in höheren und niederen Schulen, erscheint Demjenigen,
der Zweck und Mittel eines solchen stiHstischen Unterrichts bedenkt, das
Meiste, was für denselben geschieht und geschehen kann, als nugae, als ein
von dem Bewusstsein dessen, um was es sich eigentlich handelt, mehr oder
weniger verlassenes Beginnen. Sehen wir uns den Gegenstand, um den man
sich bemüht, etwas näher an.
Der Stil ist der Mensch. Das heisst zunächst, der Stil ist Natur. Denn
der Mensch selber, der einzelne in seiner individuellen Bestimmtheit, ist vor
Allem Natur, ist eine ursprüngliche Eigenheit, eine so und nicht anders an-
gelegte Wesenheit, und alle innere und äussere Gestaltung dieses Indivi-
duellen ist lebenslänglich, im Grossen und Ganzen, Entfaltung eines von
Anfang Gegebenen, eines im Keime nach Gehalt und Form Vorgebildeten.
Wenn nun diese angeborne Art den Chrakter des Individuums, wenn sie
wesentlich seine AVeise zu denken, zu empfinden, die AVeit, die ihn umgibt,
und alle ihre Erscheinungen aufzufassen und ihr gegenüber sich lebendig *"
wirkend zu verhalten, bedingt, so ist damit auch über das Verhältniss des
Darstellungsvermögens zur natürlichen Begabung des Individuums entschieden.
Denn wie zuerst der menschliche Charakter überhaupt, der Gattungscharakter
unsers Geschlechts, am reinsten und menschlichsten in Wort und Rede her-
vortritt, so muss dies auch vorzugsweise das Gebiet sein, wo die indivi-
duelle Natur sich in ihrer Stärke zeigt, so muss Naturell und Tempera-
ment und alle ursprüngliche Besonderheit des Einzelnen in der Sprache des-
selben zu vollster Geltung kommen. So ist der Stil zuerst Natur, und dass
dem so ist, liegt im Grossen in allen Literaturen, und liegt noch im Kleinsten
in jedem Blättchen, das uns im menschlichen Leben von Freundes Hand zu
Gesichte kommt, klar vor Augen.
Aber freilich der Mensch ist nicht bloss Natur. Das Ursprüngliche
in ihm ist auf tausendfache Weise durch Bilduugseintlüsse modificirt, die im
weitesten Bereich seiner ganzen Persönlichkeit ihr Gepräge aufdrücken, und
so ist der Stil zweitens auch die Bildung des Menschen. Die Barbarei hat
ihren Stil so gut wie die höchste Bildung und die Verbildung, und keinen
Fortschritt im intellectuellen und sittlichen Leben der Völker und Individuen
gibt es, und keinen Rückschritt, der nicht seine Spuren in ihrer Sprache
zurückliesse. So mächtig nach dieser Seite hin ist der Einfluss der Bildungs-
verhältnisse, dass wir, um von den Völkern zu schweigen, nicht einen
Mann von einiger Bedeutung kennen, der als Schriftsteller, wenn seine Werke
kein ganz kurzes Leben begleiten und dieses, wie natürlich, eine Mehrheit
von Bildungsphasen durchhef, nicht ein Abbild seines Bildungsganges und
der verschiedenen Perioden desselben in der Verschiedenheit seines früheren
und späteran Stils darböte.
So ruht das Darstellungsvermögen und was dasselbe im einzelnen Falle
Programmenschau. 429
charakterisirt, es seien Vorzüge oder Schwächen, durchaus auf der breiten
Unterhifj;e der Individualität, der frcsamnitcn geistigen Organisation, wie diese
theils durch natürliche Anlage, theils durch Bildungseinllüssc näher bestimmt
und entwickelt ist — durchaus bedingt und getragen von grossen und all-
gemeinen Verhältnissen: der Denkthätigkeit, des Anschauungsvernuigens, der
Quantität und Qualität der in der Seele lebendigen Begrirte und Vorstel-
lungen u. s. w. ; und es ist kaum abzusehen, wie neben diesen massgebenden
und entscheidenden allgemeinen Beiiingungen noch einer aparten Ivunst,
einer besondern stilbildenden Veranstaltung ein Recht und eine Bedeutung
zukommen könne. Der Stil ist der Mensch : wer also den Stil anders will,
muss den Menschen anders machen. Dies wird zum Theil unmüglieh
sein, soweit die Individualität von fester natürlicher Schranke umzogen ist,
die keine Kunst und keine Erziehungsweisheit durchbricht oder verrückt;
zum Theil aber, nämlich soweit die Anlage und ihre Entwicklungsfähigkeit
es zulässt, mag es der Einsicht, der Kunst, wenn sie rechter Art ist, ge-
lingen, zumal in einem Alter, wo der individuelle Charakter noch weniger
scharf ausgeprägt, die Natur noch nachgiebiger, die Seele noch allen Ein-
flüssen offener und folgsamer ist. Darauf beruht ja eben alle Möglichkeit
der Erziehung, der Bildung, des Unterrichts, die eine Perfectibilität mensch-
lichen Wesens voraussetzen, ohne welche jeder pädagogische Versuch eine
Thorheit wäre.
An diese pädagogische Kunst also und was sie von allgemein er-
ziehenden Mitteln, von seelenbilden Einflüssen besitzt oder zu
besitzen meint, sieht sich der „Stillehrer" gevTiesen, der im Ernst un<i nicht
bloss zum Spiel, von Innen heraus und nicht bloss auf der Oberlläche, aus
ganzem Zeuge und nicht bloss mit aufgehefteten Flicken und Lappen, den
Stil seines Zöglings zu bessern unternimmt. Von ihr, wenn sie aufrichtig
ist, wird er dann erfahren, erstens dass zur Erziehung, Bildung, Entwicke-
lung des Mensohen das Leben viel, die Kunst wenig thut; zweitens, dass
alle grossen, allgemeinen, durchgreifenden Wirkungen weit weniger von' der
IntelUgenz , als von der sittlichen Kraft des Menschen erwartet werden
müssen. So belehrt (wenn er anders solcher Belehrung fähig ist), wird er
seine Aufgabe in einem andern Lichte sehen, als die Literatur der „Anlei-
tungen zum deutschen Stil" sie ihm erscheinen liess; er wird grösser von
ihr und immer grösser denken, je mehr er sich in ihre Bedeutung vertieft,
so gross zuletzt, dass er, wie stets der Mensch sein Thun, wenn er sich
recht auf dasselbe besinnt, nur mit religiösem Gefühl sie anzublicken wagt.
Denn wenn Erd' und Himmel zusammenwirken müssen, um des Menschen
Seele zu bilden, und diese nur aussprechen kann, wovon ihr zu zeugen ge-
geben ward in ihrem innersten eigensten Leben, so ist der erste und vor-
nehmste Lehrmeister des Stils Er, der Himmel und Erde geschaffen und der
das Leben der Menschen lenkt und ihre Herzen anrührt durch allerlei
Wandel und Schickung, und so ihre Zungen löset. Gleich diesem Meister
in seinen Lectionen in die Tiefen der Menschenseele hinabgreifen, an den
Quell der Gedanken und Gefühle, mit wohlthätiger Erschütterung, mit frei-
machendem Zauberstabe, dass es lebendig zu sprudeln beginnt, und stark,
und lauter, und lieblich, in Wort und Rede, dem Spiegel des Innern — das
dünkt uns die rechte Weise dieses Unterrichts, der seiner wahren Natur
nach nur bestehen kann in einer grossen und dauernden Einwirkung auf den
inneren Menschen, die das Ganze seines Denkens, Fühlens, Wollens erfasst.
Woher diese kommen, wonn sie bestehen müsse, ist bei der Verschiedenheit
der Naturen und Prädispositionen uimioglich im Voraus zu bestimmen ; noch
unmöglicher in den meisten Fällen, solche Einwirkungen nach vorbedachtem
Plane herbeizuführen. Es ist meistens ein bedeutendes Ereigniss seines
Lebens, das den Jüngling, oft plötzlich, zum Manne vollendet, über seinen
Beruf und sein Talent entscheidet : ein grosses Beispiel, eine ungewöhnliche
Lage, ein hohes Interesse, eine leidenschaftliche Neigung regt alle seine
Archiv f. n. Sprachen. XXIII. 28
430 Programmenschau.
Kräfte auf, richtet sie auf Einen Punkt, gibt seiner Einbildungskraft Leben,
seiner Empfindung Tiefe, seinen Gedanken Klarheit und Ordnung. Nun ist
mit allen Gaben, die in der Knos} e ruhten und die nun auf einmal in voller
Bliithe stehen, auch der Stil da. Natürlich ! Der Mensch hat sich selbst
gefunden und so auch die Sprache, die ihm gemäss ist. Nicht dem Unter-
richt des Professors Geliert, der in seinem Prakticum die Aufsätze Goethe's,
des Leipziger Studenten, gleich vielen anderen, mit gewohnter Freundlich-
keit und Sorgfalt corrigirte, dankt dieser den Reiz und die Vollendung einer
Darstellung, die bald die Zeitgenossen und nach ihnen noch Manchen ent-
zücken sollte. Als aber für ihn, der inzwischen „viel mit Menschen gelebt
und ihren Sinn erkannt, viel auch gelitten in seinem Gemüthe," der Augen-
blick der Erfüllung gekommen war, als mit den Ereignissen, die den „Werther"
in's Leben riefen, die entscheidende Stunde geschlagen hatte, da stand
plötzlich, wie durch ein Wunder, die Blume der Schönheit entfaltet da. Und
so schlägt für den Einen in diesem, für den Andern in jenem Anlass die
Stunde, da der Gott in seinem Busen zu reden beginnt — ohne Hülfe und
Zuthun des Stillehrers, der nur dann für seinen Zögling von einiger Bedeu-
tung werden mag, wenn er ausser im Stil auch sonst noch in einigen Dingen,
die zum Leben gehören, obgleich sie nicht alle Tage dahin gerechnet werden,
ihm vomngehen kann: wenn er durch reinen Sinn und Reichthum des Innern
Lebens, eine mannigfaltige Kenntniss, durch Verständniss für das Grosse in
Wissenschaft und Kunst, wie im Leben und in den Geschichten der Menschen,
vor Allem durch sittliche Eigenschaften auf ihn wirken kann. Einem solchen
ireilich mag es gelingen, durch Anregung dessen, was in der Seele des Zög-
lings schlummert, auch ohne dass „Aufsätze" gemacht und corrigirt werden,
und selbst lange vor der Zeit, ihm diejenige Richtung und die Impulse zu
geben, die einst allen seinen Worten und Werken zu Gute kommen werden:
er mag, wenn er das, was die Bestimmung des Menschen und seine Befähi-
gung vollendet — die Gelegenheit, für seinen Schüler auch nicht machen
kann, ihn wenigstens würdig auf ihren Eintritt vorbereiten. Das ist Alles,
was er vermag (es ist aber nicht so ganz wenig und unendlich mehr, als die
herkömmlichen „Stilübungen" auch nur ahnen lassen): ein vorbereitender
Unterricht der allgemeinsten Art, der darin besteht, den Sinn für das Höhere
im Menschen zu wecken.
Soll ich nun aber noch bestimmter als bisher mich aussprechen, was
ich zu solchem vorbereitenden Unterricht rechne, oder welche Einwirkungen
der angedeuteten Art mir vor anderen im directen Zusammenhange mit
der Gabe des Wortes zu stehen scheinen, so hat das Bewusstsein der Zeiten
längst darüber entschieden, dass die Furcht Gottes der Anfang aller
Weisheit ist. Es kann auch keinem Zweifel unterliegen, dass Nichts eine
grössere Gewalt der Rede gibt als die Macht des Glaubens, der sittlich-reli-
giösen Ueberzeugung; nicht bloss in Fällen, meine ich, wo es sich um die
Religion und deren Interessen handelt, wo Luther und Andere grosses Bei-
spiel gaben, sondern ganz allgemein, in geistlichen und weltlichen, bürger-
lichen und bäuerlichen, häuslichen und öffentlichen, grossen und kleinen
Dingen: überall wo es gilt, das unmittelbare Verhältniss des Menschen zur
Wahrheit, seinen ungelösten Zusammenhang mit ihr und seinen unreflectirten
Antheil an ihr auszusprechen. Die Wahrhaftigkeit und die Unbefangenheit,
die Stetigkeit und die Treue, die Kraft und die Milde, die Furchtlosigkeit
und die Bescheidenheit, und alle die höheren Tugenden der Rede, die ihr
bei Freund und Feind den Charakter der Zuverlässigkeit geben und Achtung
verschaffen, können nur aus einem Gemüthe kommen, das fest auf sich selbst
gestellt ist, wie dasjenige, worin der Glaube den Zweifel, die Liebe die Selbst-
sucht, das Ewige das Zeitliche besiegt hat. Was wohlgefällig ist vor Gott
im Herzen, ist auch, wie es über die Lippen kommt, gerechtfertigt vor den
Menschen; und wer sich mit dem Herrn zu besprechen gewohnt ist, ver-
stummt nicht vor den Knechten. Die Kraft, die im Innern haushält, mit
Programmenschau. 431
festem Mass die flutliOiiden Begierdon lenkt und die scluvcifenden Gedanken
ziigelt, die im Handeln gewiss macht und ilio Schritte iler Lebensbahn ordnet,
schreibt auch der Kede ihr Gesetz und zeichnet ihr die Bahn vor, auf der
sie sicher und ohne Unischweif • zum Ziel dringt. Es ist auch tauseudfidtig
erprobt, dass vor dem Wort des schlichten Burgers und Landmannes, des
einfachen Mannes, der keine Studien gemacht als an seinem eigenen Herzen,
und keinen Unterricht gehabt als der ihn lehrte sein Heil bedenken, dass
vor seinem klaren Verstand, graden Sinn, einfaltigen Wort alle Kunst der
studirten Rede, alles Schellengeläute der Wortmacher und Declamatoren, alles
Spinnengewebe der subtilsten Argumentation zu Spott ward. — In allen Lite-
raturen zählen einzelne erhabene Inspirationen des religiösen Geistes zu den
grossartigsten Schöpfungen des Menschengeistes ; doch nicht an diese allein hat
man zu denken, wenn man sich von dem Kinlluss Rechenschaft geben will,
den die still sohafl'ende religiöse Idee von jeher auf die literarische Produc-
tion gehabt hat. Wie alle (jultur mit der Religion beginnt, wie alles tiefere
Geistesleben von ihr durchdrungen und getragen wird, so gibt es au<'li keine
Literatur von einiger Bedeutung, die nicht überall und vorzugsweise in ihren
würdigsten Repräsentanten den Fulsschlag des religiösen Lebens der Völker
und Individuen erkennen Hesse : nur nicht überall so auf der Oberllache,
wie es für Manche nöthig wiire, die sonst Nichts davon entdecken kunnen,
sondern meistens, wie sich gebührt, in der Tiefe, und hier unter gro.-ser
Verschiedenheit der Formen und des Ausdrucks: anders natürlich in einer
gi-ieehischen Tragödie als im mittelalterlichen Minnelied, anders bei einem
Geiste wie Shakspeare als im Sagen- und Mährchenschatz des deutschen
Volkes — nirgends aber vielleicht in vollerer Strömung, als hier auf dem
zuletzt bezeichneten Gebiete. Doch dies nur nebenbei! nicht die Literatur
und ihre Interessen beschäftigen uns hier, nicht aus dem Standpunkt der
literarischen Production betrachten wir die Frage des Stils, eingedenk
der Warnung v. Raumer's, dass wir (auf unsern Schulen) nicht Schrift-
steller, auch nicht künftige Scliriftsteller zu bilden haben, sondern ganz all-
gemein, aus dem Gesichtspunkte des Hausgebrauchs, wenn man will, des
alltäglichen Lebens, im Interesse der nächsten Zwecke, für welche die
Sprache da ist, der Mittheilung und des Gedankenausdruckes im weitesten
Smne. Und wenn hier die Frage ist: A\'ie es zu machen, wenn der Mund
zum Reden sich öflhet, dass "Wohllaut aus ihm hervorgehe? so ist die Ant-
wort: Nicht anders als so, dass er den Ton der Seele wiedergebe und dass
dieser Ton wohl laute. Wenn Misston in der Seele ist," muss auch die Rede
des Mundes misstönend und widerwärtig sein; und wiederum, je höher, je
reiner die Seele besaitet ist, desto reiner, heller muss auch die Rede des
Mundes tönen. Nun hat die Menschenseele keinen höheren und keinen
volleren Ton, als den zum Preise ihres Schöpfers, und wer den entbehrt in
seiner Seele, dess Mund mag reden was und wie er will: es sind nur arme
Worte, hohle Klänge, die nirgends haften, weder im Ohr, das sie mit leerem
Schall erfüllen, noch im Herzen, das sich ihnen nicht öffnet.
Das wäre also die erste Quelle der Wohlredenheit, zu welcher der
Lehrer des Stils heranzuführen, aus welcher der Schüler des Stils mit vollen
Zügen zu trinken nicht versäumen soll; und die zweite fliesst nicht weit
davon: von der Anbetung des Schöpfer ist zu der Liebe seiner Creatur,
zur Freude an allen erschaflenen Dingen der Schritt natürlich.
Der Lehrer des Stils, der nicht Staare abzurichten , noch durch ange-
zogene Drähte Puppen sprechen zu lassen hat, sondern sich an ein beseel-
tes Innere gewiesen sieht, darin die Welt der Erscheinungen sich spiegelt,
und daraus sie mit Klang der Rede hervortönt, kar.n wenig thun als diesem
Spiegel die rechte Richtung geben : die Richtung auf das Lebendige, Wirk-
liche, auf Gestalt und Kraft, dass nicht Schatten bloss und Nebelbilder, son-
dern eine gestaltenreiche, lebendige MClt in Kraft imd Handlung, in Glanz
und Schönheit den Spiegel fülle. Denn darauf kommt es an, wie der Mensch
28*
432 Programmenschau.
im Anschauen, Empfinden, Denken zu den Dingen dieser Welt sich stellt;
"was und wie viel er davon in seine Kreise zieht; mit welchem Antheil,
welchem Interesse, welcher Freude er dies thut: ob ihn das Grosse reizt,
das Schöne fesselt, das Bedeutende, das Ungemeine in frohes Staunen setzt,
und ob er Grosses auch im Kleinen, Sinn und Bedeutung auch in alltäglicher
Erscheinung, das ewig Dauernde im zeitlichen Fluss und Wechsel zu sehen
vermag — oder ob Alles ohne Unterschied, im Leben wie in den Büchern,
in der Gegenwart wie in der Vergangenheit, in den Zuständen der Menschen
wie in den Werken der Natur, vor seinem blöden Aug', seinem stumpfen
Sinn' in gleicher Nichtigkeit und Gemeinheit verschwimmt. Das sollte die
Höhe aller Bildung bezeichnen, dass der Mensch sich im Mittelpunkt aller
Dinge fülilt, dass er würdig und mit Selbstachtung von sich, von seinem
Geschlecht, von dessen Geschichte denkt, dass darum kein menschliches Ver-
hältniss ihm gleichgültig, keine Form und Erscheinung des Daseins ihm be-
deutungslos geblieben wäre. So haben alle grossen Völker, welche Spuren
ihres Daseins zurückgelassen, gedacht und darnach geredet und gehandelt:
so haben sie Alles, was menschlichen Sinnen und menschlicher Forschung
erreichbar war , in den Kreis ihrer Betrachtung gezogen , mit diesem AVohl-
gefallen, diesem hohen Ergetzen haben sie von sich und ihren Werken und
Schicksalen, von Allem, was mit ihnen in Berührung kam, gesprochen, und
haben das Gemeine geadelt, das Formlose gestaltet, das Todte beseelt, das
Flüchtige gefesselt, und so den Augenblick zur Unendlichkeit erweitert und
ihrem kurzen Dasein eine unvergängliche Dauer abgewonnen. Und eben
das hat alle grossen Schriftsteller gross gemacht, dass sie ein hohes Inter-
esse der Welt, die sie umgab, entgegenbrachten, dass sie mit verlangenden
Blicken auf Himmel und Erde hinausschauten und die Fülle des Lebens, das
alles Sein durchdringt, in ihre Seele sogen. Da sanken vor ihnen die Schran-
ken der einzelnen E.xistenzen, zum Gefühl des Alls, der Gemeinschaft aller
Dinge erweiterte sich in ihrer Brust die persönliche Empfindung, und, weil
ihre Seele sich allen Dingen vermählte, waren ihnen alle Dinge traut und
geheim; weil zu ihnen alle Dinge sprachen; und ihr Ohr der Sprache jedes
Dinges erschlossen war, konnten sie wiederum von allen Dingen sprechen;
und weil sie allen Dingen in's Herz schauten, konnten sie zu uns aus dem
Herzen aller Dinge reden , und so die Mittler werden zwischen ihrem Ge-
schlecht und den erschaffenen Dingen allen, in deren Heiligthum sie als Prie-
ster ein- und ausgingen, und den Draussenstehenden verkünden und bezeu-
gen die Herrlichkeit Gottes in seiner Creatur.
Aller höhere Stil fliesst aus solcher energischen Betheiligung des Men-
schen an den ihn umgebenden Dingen. Darum muss der Lehrer des Stils
sich fragen, ob er zur Hervorbringung eines solchen Verhältnisses zwischen
dem menschlichen Innern und der Ausscnwelt, oder zur Kräftigung und He-
bung desselben, die natürliche Begabung vorausgesetzt, etwas thun könne,
und er wird bald erkennen, dass hier jeglicher Ai't von B'ildungseinflüssen,
vornehmlich sittlichen, aber auch intellectuellen, ein weiter Spielraum geöff"-
net ist. Zuerst ist zu erinnern, dass aller Antheil an den Dingen die
Kenntniss derselben, sei es durch Anschauung, Vorstellung oder auf welchem
Wege sie vermittelt sein mag, voraussetzt, dass daher Umfang und Man-
nigfaltigkeit der erworbenen Erkenntniss für den Grad der Betheiligung
an den Dingen nicht gleichgültig sind. Denn wie gross auch die natürliche
Begabung sein möge, mit ihr ist das Object der Empfindung, Anschauung,
des Denkens noch nicht gegeben, vielmehr wird dieses den Seelenthätigkei-
ten erst von aussen, durch unmittelbare oder mittelbare Berührung mit den
Dmgen, zugeführt, und je vielfältiger auf solchem Wege sich jene angeregt
finden, je reicher das Material ist, das dadurch der Anschauung, der Erkennt-
niss geboten wird, desto mehr schärft sich das Gefühl des Zusammen-
gehörens des Menschen mit den Dingen, desto inniger und fester wird
sein Verhältniss zu denselben. Es wächst mit jeder Erkenntniss des Meu-
Proirramnienschau. 433
sehen Antheil an der Welt, und wer viel pesehen, gehört, gelernt und er-
fahren von mensehlichen und natiirliehen Dingen, wer, wohin er blickt, die
Zeiten und die Räume sich mit bekannten (Gestalten füllen sieht, der steht
Welt und Menschen mit ganz anderem Interesse gegenüber , als der leere
Kopf, der mit leeren, nirgends haftenden Blicken auf Himmel und Erde
schaut, für den der Mund der (ieschichte schweigt, und der nichts ahnt von
dem, was der Ertindungsgeist der Menschen, was Kunst und Wissenschaft
seit Jahrtausenden Grosses und Schönes zu Stande gebracht haben. Vor
Allem sind es Kunst und Wissenschaft, welche dem Geist die reichste Fülle
von Anschauungen, Begriffen, Combinationen aller Art erschliessen, die Be-
trachtung durch immer neue Gesithtspunkte reizen, den Blick nach oben und
unten, nach aussen und innen, in Nidie und Ferne, auf Gegenwart und Ver-
gangenheit richten, und so. imlem sie Zeiten und Völker verbinden, das
höchste und mannigfaltigste Interesse an dem Menschen und seinen Werken,
an aller Creatur, an der gesanmiten AN'irkliclikeit unterhalten. Aber auch
unter denen, die nicht Männer der Wissenschaft im strengsten Verstände
sind, deren Leben aber oft nicht weniger voll , und deren Antheil an allem
Guten und Löblichen oft nicht minder gross ist, war eine rege Wissbegierde, ein
rastloser Trieb des Forschens, Bcobachtens. Erkennens, stets charakteristisch
für alle, die durch ihr AVort oder ihre That der Älenschheit angehören.
Natürlich ! denn geistige Rührigkeit , in welcher Sphäre des Lebens und
AVirkens sie sich bewegen mag, verträgt sich nicht mit schläfrigem Beharren
im Kreis der immer gleichen Tage, sie schallt sich fort und fort in neuen
Anschauungen neue Impulse und unterhält und mehrt auf diese A\'eise durch
Zuflüsse von allen Seiten den Reichthum des Innern Lebens, aus dem der
Strom der Rede seinen Ursprung nimmt, der, wenn viele Quellen und Bäche
der Erkenntniss sich in ihn ergiessen . auch mächtig und ohne Hemmung
daher fliesst, der aber in gedankenarmer Steppe des Innern versiegt und
versandet. •
Das Zweite, worauf es ankommt, ist die Ordnung, der Zusammenhang,
worin die erkannten Dinge vor dem erkennenden Geiste stehen, und aus
tausendfachem Einzelnen sich ein Ganzes rundet. Um zu erfahren, „wie
schön sich die weltlichen Dinge zu einander verhalten." nniss ich eben in
ihnen ein Ganzes sehen können : nur <la kann ich mich wahrhaft des P^in-
zelnen freuen, wo es den Gedanken des Ganzen in mir erregt. Dies mahnt
mich, nicht mehr in meine Kreise zu ziehen, als ich übersehen und bewälti-
gen kann. Nur so viel will ich mein nennen, als sich harmonisch zum Gan-
zen meiner Anschauungen fügt: das schlechthin Ungleichartige, Disparate,
das mir keinerlei Anknüpfung an mein übriges Denken und Vorstellen ge-
stattet, will ich lieber entbehren, als mich auf Kosten der innern Einheit
daran bereichern. Es gibt ein unvortheilhaftes Haschen nach Kenntnissen
auf allen Gebieten menschlichen AVissens, das ohne Einsicht lässt, weil es
nur die Gegenstände vor dem Auge häuft, ohne den Standpunkt zu erhöhen
und dadurch den Gesichtskreis zu erweitern. Der Mensch ist das Maass
aller Dinge, sagt der Grieche. Dies ist er in höherem Sinne nur durch die
Einheit seines Denkens und Vorstellens: denn alles Mass ist angenonunene
Einheit. Wo dem Geiste in seiner Bildung diese Feinheit, und mit ihr das
Mass der Dinge verloren geht, da gehört er nicht länger sich selber an, an
^ie Stelle der lichten festen Ordnung der Dinge tritt das alte Chaos. Das
wussten eben jene Griechen so put, deren ganze Bildung sich in engeren
Grenzen hielt, um innerhalb derselben sich harmonisch zu vollenden. Und
darin sind sie musterhaft: denn e.-- ist unstreitig besser, in einem kleinen
Staate vollkommen Herr sein, als einen grossen ohne Macht regieren; und
wenn unsre moderne Bildung in ihrer universalen Richtung nur zu oü einem
grossen, aber anarchischen Staate gleicht, wo Alles auseinander fällt, weil
die Bestandtheile und also die Interes«en zu verschiedenartig, das Band aber,
das alle umschlingen und einigen sollte, zu schwach ist, so weist uns dies
434 Programmenschau.
auf den Weg der Selbstbeschränkung, des Masses in unsern Ansprüchen an
die zu erstrebende allgemeine Bildung, dnss nicht über ihrer zu grossen
Breite die Innerlichkeit und harmonische Durchbildung, über der Mannig-
faltigkeit der Richtungen die Einheit und mit ihr die Starke des geistigen
Vermögens verloren gehe.
An und für sich ft-eilich sind Reichthum, Vielseitigkeit, Beweglichkeit
der geistigen Interessen, wie sich von selbst versteht, nicht bloss nicht ver-
werflich, sondern selbst nothwendige Bedingungen jedes hohem Geisteslebens,
und auch lür die Entfaltung und Vollendung des sprachlichen Vermögens,
wie bereits oben besprochen, von höchster hedeutung; aber ihre volle und
energische Wirkung m dieser wie in jeder andern Beziehung knüpft sich an
ihre gegenseitige Durchdringung und zusammenlaufende Richtung auf ein ge-
meinsames Höheres, worin der B(.'griff' und Lebensinhalt der gesummten Bil-
dung sich einheitlich zusammenfasst. Nicht ein todtes Aggregat von allerlei
Kenntnissen und Fertigkeiten, von vielerlei unvermittelten und unzusammen-
hängenden Begriffen, Wahrnehmungen und Beobachtungen, sondern ein leben-
diger geistiger Organismus ist die rechte Bildung, ein Organismus, der von
Einem Lebensprinzip in allen seinen Theilen und Functionen durchdrungen
und gestaltet, eben dadurch als Ganzes lebemlig und wirksam ist. dass das
Einzelne in ihm als Einzelnes aufhört, in das Leben des Ganzen als aufge-
hobenes INIoment desselben übergeht. Und wie der leibliche Organismus
nicht bloss die Verschiedenheit der Stoffe und Functionen, die seinen Lebens-
process unterhalten, zur Einheit seines Begriffs , der sich lebend entwickelt,
verbindet, sondern auch jedem einzelnen seiner Theile den Begi-iff' und das
Gepräge des Ganzen aufdrückt, so dass der Kundige aus dem einzelnen
Glied und Gebilde auf Art und Gestaltung dieses Ganzen schliessen mag:
grade so sehen wir auch in dem Bildungsleben aller bevorzugteren Völker
und Individuen, aus wie verschiedenen Elementen dasselbe sich gestalten,
und wie verschiedene Einflüsse von aussen es in sich aufnehmen mag, nicht
bloss alle diese Verschiedenheiten in eine organische Einheit und Harmonie
sich auflösen, sondern auch das Prinzip, die Seele dieser Bildung mit solcher
allgegenwärtigen und durchwirkenden Kraft auftreten, dass sich bis in's Ein-
zelnste Allem, was dieser Bildung angehört und was von ihr ausgeht, ihr
Begriff" und ihr Charakterbild kenntlich eindrückt. Von diesem Gesetz inne-
rer Angleichung und Ausstrahlung aus einem Mittelpunkte ist auch die
Sprache, darin eine solche mit sich selbst einige Bddung sich darstellt,
ergriffen: wie mannigfaltig auch, nach Verschiedenheit der behandelten Ob-
i'ecte, oder nach Stimmung und Absicht des Subjects, ihre Töne und Weisen
ilingen mögen, ist sie doch, wie die Bildung, deren Ausdruck sie ist, in
ihrem Grundton immer sich selber gleich, und der Kundige erkennt auch
hier im einzelnen Wort, in der einzelnen Wendung „geliebte, still redende
Züge" des Urbildes. Und so schreiten Völker und Individuen durch Zeiten
und Geschlechter hin, in hoher Eigenthümlichkeit und selbsteigener Schön-
heit voll ausgeprägte Gestalten, dieselben noch nach Jahrtausenden, die sie
im Leben waren, und so in Eins gewachsen mit Allem, was ihnen angehört,
dass es der Mit- und Nachwelt leichter scheint, dem Herkules seine Keule,
als ihrem Gedanken seinen Ausdruck zu entreissen.
Wir fanden also, dass ein lebendiges, reges, fruchtbares Verhältniss des
Menschen zur Welt der Erscheinungen, ein energisches Interesse an mensch-
lichen und natürlichen Dingen, wie es für den höheren Charakter des Stils
in jeder Gattung der Rede als uuerlässliche Bedingung erscheint — so weit
dasselbe, von der natürlichen Begabung abgesehen, durch Bildungseinflüsse
vermittelt werden kann — eine doppelte Voraussetzung hat: einmal eine
breite Grundlage der allgemeinen Bildung, eine vielseitige geistige Berüh-
rung mit dem Leben in jeder seiner Erscheinungsformen, eine reiche und
mannigfoltige Erkenntniss, ein Leben in und mit menschlicher Kunst und
Wissenschaft; dann einen gleichzeitigen Fortscliritt von der Vielheit der
Programmens chau. 435
Bildungsfactoren zur Einheit des BiMungscharakters, eine gegenseitige innere
Durchdringung und Anjik-ichung maniiiglaltiger Momente zur Darstellung eines
einigen, auf sich selber ruhenden organischen Ganzen der sittlichen und in-
tellectuellen Bildung.
Fassen Avir alles Gesagte in ein kurzes AVort zusammen, so ist es dies:
Die aligemeine und die besondere natürliche Begabung, nachstdem Bildung,
sittlich-religiöse wie intellectutUe, und unter Umstünden AiTect und Leiden-
schaft machen den Stil. Wie die Seele des Manschen , wie seine Art zu
denken, zu empfinden, so sein Ausdruck, seine Sprache.
Hiergegen ist alles Andere , was man sonst noch als bestimmend und
massgebend für den Stil bezeichnen könnte, von untergeordneter Bedeutung.
So ist es gewiss, dass der Gegenstand auf die Haltung und Färbung der
Darstellung EinHuss üben umss : mit dem objectiven Unterschiede der Dinge
ist ihre verschiedene Behandlung von selbst gegeben. Aber erstlich ist schon
die Wahl des Gegenstandes für die Individualitiit bezeichnend, und wo die
Wahl verfehlt oder nicht frei ist, wird der Erfolg den Fehler oder den Zwang
rächen: die vielen misslungenen Versuche aller Art, wo Afl'ectation und Un-
natur den Nothstand des Schreibenden kund thun, zeugen davon ! Non onmia
possumus ouines. Weil die Grenzen der individuellen Natur gezogen sind,
gibt es fiir Jeden ein Gebiet des Unmöglichen, von dem der Verständige
■weise zurückbleibt, das der Unverstand zu seinem Schaden betritt. So be-
hauptet die Individualitat auch hier ihr Recht. Zweitens aber gehört dieser
Grundsatz, der Gegenstand mache den Stil, in seiner Allgemeinheit, zu den
allerbedenklichsten der literarischen Production. Allerdings beschränkt die
Natur des Gegenstandes den Schreibenden ; aber wie eng oder weit diese
Schranken sind, das muss dieser selbst sich sagen, das muss seine
Auffassung des Gegenstandes ihm sagen. Ein grosser Spielraum
bleibt auch hier der Individualität zu freiem Schauen und Gestalten. Der-
selbe Gegenstand, dasselbe Thema kann sehr verscln'eden aufgefasst, und
also auch dargestellt werden, und jede dieser Auflassungen und Darstellun-
gen kann berechtigt sein: die \\'ahrheit wie die Schönheit erschienen von je-
her in einer grossen Mannigfaltigkeit von Formen, und erscheinen stets in neuen.
Nur eigensinnige Kritiker, rigoristische Dictatoren des Geschmacks, wie de-
ren die Geschichte jeder Literatur aufzuweisen hat, verschliussen dagegen
ihr Auge, vertreten mit selbstgeschaflenen Regeln und Theorien, die sie in
der Natur der Stoße gefunden haben wollen, den Individualitäten den Weg
und machen die einmal dagewesene Form zum Gesetz für alle künftige Be-
handlung. Aber solche Gest-tzgebuncen waren noch stets von kurzer Dauer:
ein Flügelschlag des Genies verwehte sie, und das Feld war wieder frei,
und Natur, Neigung, Einsicht, innerer Beruf konnten wieder mit dem Gegen-
stande machen was sie wollten, d. h. was sie nach ihrer Auffassung durften.
Denn nicht regellos ist ilir Walten mit den Stollen , vielmehr bis in's Ein-
zelnste durch diese bedingt, aber die Auffassung macht sie zu dem,
was sie sind, und die Auflassung ist des Menschen — und so ist die Be-
handlung, der Stil abermals der I^lensch. Duo cum faciunt idem, non
est idem.
Und dies gilt, wie gelegentlich schon wiederholt angedeutet ward, von den
Völkern wie von den Individuen. Alles, was von der si)rachlichen Darstellung
und deren subjectiven Bedingungen aus dem Gesichtspunkte des Einzelnen ge-
sagt wonlen, findet im Grossen in den National-Literaturen seine Bestätigung.
Auch hier ruht alle Elgenthümlichkeit der Sprache, des Ausdrucks bis in's Ein-
zelnste auf angeVjorner Art, Charakter, Bildung, Geschichte des Volks. Wie die-
ses von Anfang war, wie es unter wechsehiden Einflüssen sich entwickelte, ein
anderes ward und doch dasselbe blieb: so war s(;ine Rede, seine Schrift, sein
nationaler Stil. Blicken wir auf uns selber hin! War nicht unsre deutsche
Sprache un.l ihre Literatur in den anderthalb Jahrtauj-endeu, dass Denk-
mäler von ihr existiren, zu jeder Zeit in Worten und Wendungen, in Stil
436 Programmenschau.
und Redeweise ein treuer vSpiefrel und Abdruck unsrer Nation, der Bildungs-
Ehasen, die sie durchlief, der Vor- und Hücksehritte in dieser Bildung, und
ei allem Wechsel der Form doch wieder in ihrem Grundcharakter sich selber
gleich von Anfang bis heute, „weil von sich selbst der Mensch nicht scheiden
kann?" Und was diese Sprache jetzt ist, wodurch ward sie es? woher
kamen ihr z. B. auch die Fortschritte, die sie noch seit einem Jahrhundert,
seit den Tagen Gottsched's und Geliert's, gemacht hat? Man höre hierüber
das glänzende Zeugniss eines competenten ßeurtheilers, Koberstein's ,
wenn er nach einer kurzen Charakteristik der am Sprachkörper eingetre-
tenen Veränderungen und der Bereicherung des Wortvorraths also fort-
f aljrt : „Am allerbemerkbarsten jedoch zeigt die neue Sprache ihre Ueber-
legenheit über die zunächst ältere in dem Gebrauch, den sie von iliren syn-
taktischen Mitteln, von Idiotismen und von derNüancirung iler Wortbedeutungen
zu machen gelernt hat. Ungleich freier und kühner, geschmeidiger und
mannigfaltiger in ihren Bewegungen beim Satz - und Periodenbau , hat sie
sich mit einer Fülle neuer Wortstellungen und Wendungen bereichert; durch
zahlreiche bildliche Ausdrücke und Idiotismen, die sie entweder aus der Rede-
weise dts Volks in sich aufgenommen oder neu geschaffen hat — zunächst
in Nachahmung fremder Sprachen, dann immer mehr aus dem Geiste des
eigenen Volkes, — hat sie sich sinnlich belebt, innerlich erwärmt und erfrischt,
wieder an natürliche Bewegung gewöhnt und volksthümlich gefärbt; durch
Erweiterung der Begriffssphäre vieler schon vorhandenen Wörter und durch
eigens gebildete sich umfangreich und geschickt genug gemacht, zum Vortrag
der feinsten und abstractesten Gedanken zu dienen; und zuletzt noch durch
ihre sorgfältige, charakteristische und feine Ausbildung in den verschiedenen
Stilarten auch die übrigen Tugenden sich angeeignet, um ein vortreffliches
Darstellungsmittel für jede Gattung der Poesie und der Prosa abzugeben." —
Und nachdem man dies gehört, frage man sich: wie und wodurch ist das
Alles gekommen und geworden ? Und wenn man dann noch den Muth hat
zu antworten: die Stilübungen, die Gottsched und Geliert vor hundert
Jahren in Gang brachten, und die man seitdem ununterbrochen auf unsern
Schulen und Universitäten bis auf diesen Tag in steigender Progression fort-
gesetzt hat, haben es gethan! wenn man den Muth hat zu leugnen, dass
tausend zusammenwirkende grosse, allgemeine, tief in den Geist und das
Leben der Nation greifende Ursachen, Ursachen, wie deren bei uns nie
zuvor so viele und so mächtige zusammengewirkt haben, das Reformations-
zeitalter ausgenommen, dass Genie, Talent, Wissenschaft, Erfahrung, Schick-
sale der Nation und Weltereignisse dies Werk vollbracht haben, dass nur
sie es vollbringen konnten, dass diese Frucht an einem lebendigen Baum
mit tiefen und weitverbreiteten Wurzeln, nicht an einem todten, in den Boden
gesteckten Reis gewachsen ist und wachsen konnte — dann haben wir frei-
lich Vieles umsonst geredet. Dann kommen wir freilich auf unsre „Stil-
schulen" und „Anleitungen," auf lu^sre Gottsched, Adelung, Pölitz,
Falkmann etc. statt auf Luther, Lessing, Goethe, Humboldt etc.
zurück. Dann braucht es auch für unsre Knaben und Jünglinge, um sie zu
trefflichen Scribenten, zu Rednern und Sprachkünstlern zu machen, statt all
des Andern, was sonst mit ihnen vorgenommen wird. Nichts weiter, als jener
„Stilstunden" mit obligaten Uebungen ein oder zwei Male die Woche, von
denen oben die Rede war, und die dann etwa um die Zeit ihrer Confirmation
ein vorübergehendes Bedürfniss werden.
„Aber die Form ! die Form ! Ist denn im Reden und Schreiben nicht
immer ein Doppeltes : Inhalt und Form? Gedanke und Ausdruck ? und gibt
es nicht Vorzüge und Mängel der Form an und für sich? und Regeln und
Vorschriften und Uebungen, um diese vermeiden, jene erstreben zu lernen?
Ist nicht zum reinen, gewandten, schönen Stil die Kenntniss dieser Form
nothwendig ? ist er selber nicht eben die Fertigkeit, sich in reinen und schönen
sprachlichen Formen zu bewegen ?"
Programmenscliau. 437
„Der falschen Vorstcllungsart," sngt K. I'h. Moritz, „wo man das
im Ausdruck sucht, was in der Sache liegt, kann nicht genug ent-
gegen gearbeitet werden, weil der Nachtheil da^■on, in Ansehung der Ver-
stimmung des menschlichen Denkens und Kuipfuidens so gross ist und eine
unzählige Menge misslungener (icistcsjiroducte nur daher iiiren Ursprung
haben.'* l'nd: „In den Lehrbüchern über den iStil scheint die Vorstellung
zu herrschen, als ob eine jede Art des Stils in eines «leden Gewalt wiire
und durch Kegeln füglich erlernt werden kcinnte." — ^^'as ist die Korm ?
ist sie etwas selbständiges V bedingungsloses? durch sich gegebenes V hat sie
eine Existenz für sich? eine Gellung und Bedeutung für sich? entstellt sie
für sich? nach eigenem Gesetz? kann sie für sich angeeignet, entlehnt,
iibertragen werden? und ist sie, falls das möglich, nach der Uebertragung
noch dasselbe was sie vorher war? Alle diese Fragen müssen wir verneinen,
sobald nicht von der Form eines todten, mechanisch zubereiteten Stoffes,
sondern von derjenigen eines lebendigen Seins, es sei ein körperliches oder
ein geistiges, die Rede ist. Das Leben kann nur in bestinnnter, indivi-
dueller Form , die seine natürliche organische Bildung, seine leibliche Er-
st heinunp:, und darum selbst lebendig, nichteine todte Ilülle, ein angepasstes
Kleid, ein zubereitetes Gefäss fiir dasselbe ist, sich darstellen, und die von
dieser Form eben so unzertrennlich, wie umgekehrt die P^onn von dem Leben,
das in ihr und durch sie erscheint. Das werden wir nunmehr wohl von
aller Naturbelrachtung gelernt haben, und die dort gefundenen Gesetze der
Form gelten auch für das geistige Leben. Auch die.'cs hat, wo es erscheint,
eine bestimmte, individuelle Begrenzung in Raum und Zeit, die wir seine
Form nennen. Es erscheint unter andern auch in sprachlicher Form, und
diese sprachliche Form ist eben so wenig für den geistigen Inhalt, das gei-
stige Leben, den individuellen Begriff, der darin erscheint, ein Zufälliges,
Aeusserliohes, Bedingunfrsloses , als z. B. die Blattform und die ganze Bil-
dung der Pflanze für den Begriff, das Leben, das sich in dieser Form und
Bildung individualisirt. Kennen wir den geistigen Inhalt, der sich in sprach-
licher Form darlegt, einen Gedanken, so stehen also Gedanke und Form in
unlöslichem, weil lebendigem, organischem Zusammenhang: jener ist nicht
ohne diese, und diese ist nur, weil jener ist, und ist sowie jener, ihr Inhalt
es verlangt. Beide sind als ein Ganzes aus demselben Schöpfungsacte des
Geistes hervorgegangen , imd bezeugen ihren gemeinsamen Ursprung durch
die Harmonie ihres Daseins und ihres Lebenslaufes. Denn indem ihr
Sein mit tausend zarten ^Vurzelfäden an dem Liben, aus dem es entsprungen
ist, d. h. an dem Geiste des Individuums, des Volkes haftet, bringt es dessen
Art und Eigenthümlichkeit, dessen Beharrliches (seinen Grundcharakter),
aber auch dessen flüssige Natur zur Erscheinung und zeigt alle seine
Metamorphosen. So entwickelt sich die sprachliche Form, bildet und
verbildet sich, sinket und steigt — Alles in L'ebereinstinimung mit
dem geistigen Sein, das sie trägt, und kann darum auch wohl als ein Ge-
wordenes für sich aufgefasst , für die Betrachtung isolirt, als ge-
schichtliche Erscheinung studirt, aber nicht in ihrem Werden beliebig
übertragen, durch Unterricht nicht schlechthin mitgetheilt werden. Denn
auch ihre Nachbildung, wo sie versucht wird, unterliegt denselben
Bedingungen wie ihre erste Entstehung: auch was wir von Andern ent-
lehnen, muss in uns wiedergeboren werden, soll es wirklich als unser
Eigenthum gelten, und diese Wiedergeburt kann nur vermöge übereinstim-
mender Anlage und Bildung geschehen. So kann ein lein gebildeter Kömer
griechische Eleganz und griechischen Formreichthum bis auf einen gewissen
Grad in seiner Sprache nachbilden, aber erst nachdem seines Volkes Bildung,
worin <lie seinige wurzelt, den langen Weg von der altrömischen Einfachheit
und Kusticität bis zur Urbanität des augusteischen Zeitalters zurückgelegt,
und aul diesem Wege tausendfältige materielle und geistige P^inflüsse in sich
aufgenommen und verarbeitet hat. Und eben so kann er selber wieder, dem
438 Programmenschau.
80 Grosses gelang, mit seinen Kunstschöpfungen des geläutertsten Geschmacks,
der feinsten Lebensltlugheit nach Jahrtausenden ein ernstes nordisches Volk,
in der Periode seiner universellen Bildung, zur Nachahmung reizen, die doch
selten gelingt, weil die Natur die geistigen Elemente selten so glücklich
mischt, die öffentlichen Zustände und die persönlichen Verhältnisse selten
ein Talent auf einen so günstigen Boden stellen, als nöthig ist, wenn ihm
eine Form gelingen soll gleich derjenigen, worin uns jener „Lieblingsdichter
aller gebildeten Menschen" noch heute entzückt.
Dies gilt von aller auf Nachahmung der Form gerichteten Bemühung.
„AVas hilft alles Ankünsteln des Fremden? die Kunst kann nicht ohne
Natur bestehen, und der Mensch hat seinen menschlichen Mitbrüdern nichts
Anderes zu geben als sich selbst. Wie über derLileichen Bestrebungen, die
nur auf äusserliche Uebertragung der Form ausgehen, schon eine frühere
Zeit urtheilte, wo besonders Cicero der Gegenstand solcher kindischen
Nachäffung und todten Schulübung war, ersieht man aus der bei v. Raumer
mitgetheilten Stelle des Erasmus im Cicer onianns 1.528. „Es ist ein thörichtes
Beginnen" — sagt jener gelehrte Theolog und Kenner der alten Literatur,
„der erste Philolog, der alle Bildung aus den Quellen d(;s Alterthums schö-
pfen hiess," „aber auch der erste, der die Beschäftigung mit Objecten und
Formen des Alterthums nicht als Mittel zum Zweck ansah" — „in fremdem
Sinne schreiben zu wollen, sich abziunühen, dass Cicero's Geist den Leser
aus unsern Werken anwehe. Du musst alles Mannigfaltige verdauen , was
Du lesend zu Dir genommen und es durch Nachdenken vielmehr in die
Adern der Seele überführen, als in das Gedächtniss oder in einen Index, so
dass der Geist mit aller Art geistiger Speise genährt, eine Rede aus sich
selbst erzeuge, welche nicht nach diesen und jenen Blumen, Laube und Grä-
sern schmeckt, sondern nach dem Wesen und der Neigung Deines Ge-
müthes ; daher der Leser in Deiner Schrift nicht etwa zusammengeflickte
Fragmente Cicero's, sondern das Abbild eines Geistes erkenne, welcher
mit Wissen alier Art erfüllt ist. Die Bienen sammeln den Honigstoff nicht
von einem einzigen Strauch, sondern mit bewunderswürdiger Emsigkeit fliegen
sie auf Blumen und Kräutern aller Art herum; auch gewinnen sie nicht fer-
tigen Honig, sondern in Mund und Eingeweiden bilden sie ihn, erzeugen
ihn dann aus sich, und man ( rkennt in demselben nicht Geschmack oder
Geruch einzelner Blumen, welche sie gekostet." — Hier wird in vortrefflicher
Weise, einer falschen äusserlichen Nachahmung gegenüber, auf den innern
Zusammenhang hingewiesen, der zwischen der Form und ihrem gei-tigen In-
halt besteht. Von beiden mit einander heisst es, dass der Geist, mit gei-
stiger Speise aller Art genährt, die Rede aus sich selbst, aus seinem
eigenen Leben erzeuge, dessen Art und Eigenschaft sie auf diese Weise
in treuem Abbilde zeige.
Was können also alle einseitig auf Ausbildung der Form gerichteten
Bestrebungen helfen? Ist ein Fortschritt in der Form denn nicht an einen
vorausgehenden Fortschritt des sie erfüllenden, vielmehr sie erschaffenden
geistigen Inhaltes, d. h. an eine Steigerung, Erweiterung, Vergeistigung des
innern Lei ens gebunden? Und wird dieser letztere Fortschritt, wo er ge-
macht wird , nicht von selbst und aus innerm Bedürfniss den Fortschritt in
der Form zur nothwendigen Folge haben? Ist es nicht überall so, dass das
höher potenzirte Leben frühere unvollkommnere Formen abwirft, indem es
höhere, freiere, reichere aus sich erzeugt? Jene können eben nicht zurück-
bleiben, weil sie, wie die Entwickelung fortschreitet, als ein Fremdes, dem
Innern nicht mehr Adäquates empfunden, vom neuen Triebe abgestossen
werden. So auf Seiten des körperlichen Organismus, und eben so auf Seiten
des geistigen. Auch hier potenzh't sich, so lange der Process der Ent-
wickelung fortgeht, aufsteigend so weit die angeborne Art und Anlage es
zulässt, mit dem inneren Gehalt des Lebens und der Bildung auch die Form,
worin dieser Gehalt zur Erscheinung kommt, und was mich innerlich be-
Programmen schau. 489
reicliert, den Horizont meiner Anschauung erweitert, und dadurch mein Ge-
miitli befruchtet, was mich geistig erregt und mich wesentlich fördert,
(las fiirdert und bildet micli auch formell.
Hieraus erhellt, d;iss eine hoher entwitkelte sprachliche Form nur von
höherer allgemeiner Entwiekelung, dass ein ausgebildeter Stil nur von dem
pereiften (iciste erwartet werden kann : dass man an frühere Alters - und
Bildungsstufen hinsichtlich der Darstellung nicht Forderungen stellen darf,
die aus innerem Vermögen erst auf einer späteren Stufe befriedigt werden
k()nnen; dass die Sprache, den Ausdruck, den Stil zu bilden, das Geschäft
aller Erziehung und alles Unterrichtes, nicht bloss desjenigen, der von der
Schule au.<;geht, sondern auch desjenigen ist, den das Leben ertheilt : und
dass wenig oder kein Erfolg von einem Verfahren zu erwarten steht, das
diese Seite der Bildung isoliren, sie unmittelbar durch besondere Ver-
anstaltungen, Metboden, Vorschriften und Uebungen mitthoilen zu können
vermeint.
Was aber nicht unmittelbar mitgetheilt werden kann, das kann dennoch
zum Gegenstand des Studiums, der Bcoba(;htung gemacht, und so kann
aueli der Sinn für die sprachliche Form durch Anschauung, Beur-
thcilung, Vergleichung geweckt und geschärft, es kann das Bedürfniss
einer reinen und schönen Form der Rede durch entsprechende Veranstal-
tungen innerlich angeregt und bis zum Grade absoluter Forderung gesteigert
werden? Und eben so setzt doch auch die HersttUunp: solcher Form die
Kenntniss der Mittel, durch welche sie hergestellt wird, so wie des tech-
nischen VerJahrens im Gebrauch dieser Mittel voraus? Da nun, wo von
sprachlicher Form die Rede ist. eben die Sprache das Mittel der Darstel-
lung ist, so kann die Herstelhmg einer angemessenen sprachlichen Form
■icht ohne Herrschaft über die Sprache, die wieder auf einer um-
fassenden Kenntniss ihres materiellen Reichthums, auf gründlicher Erforschung
ihrer Gesetze und Ausdrucksmittel, ihres ganzen geistigen Organismus beruht,
gedacht werden?
."^lles dieses ist wahr, und alles dieses wird durch den gesammten
Unterricht, der alle geistigen Kräfte und so auch das sprachliche Ver-
mögen in Anspruch nimmt und aushihh-t, geleistet und kann nirht ohne ihn
erreicht werden; speciell aber durch da«; Studium der Musterschriften der
Alten und Neueren, das ja von früh auf die Jugend unsrer Schulen in ausneh-
mendem Maasse beschäftigt und als die feste, durch Nichts zu ersetzende Basis
aller hohem Geistesbildung anerkannt wird. Hier bietet sich zum unausgesetzten
Studium der Form die Gelegenheit wie nirgends sonst; hier hat der Schüler eine
Sprache vor sich, die ihm eine unendliche Mannigfaltigkeit von Ausdracks-
formen erschliesst, deren Studium nicht bloss, was das VA'enigste ist, den
eigenen Besitz des Lernenden an Mitteln des Ausdrucks materiell bereichert,
sondern auch formell sein Darstellungsvermögen durch Ausbildung des Sprach-
sinns, durch Uebung der Geisteskraft erhöht; hier hat er Muster alles Stils
und jeder Dar.«!tellungsform unablässig vor Augen, und mag sein Ohr und
seinen Innern Sinn an alle höheren Vorzüjre der Rede, als Lebendi<ikeit,
Geist, Energie, Präcision, Klarheit. Grazie, \\'ohlklang, und seinen Geist an
alle auszeichnenden Attribute der Composition, als Scharfe der Auflassung,
Gründlichkeit, Tiefe, Reichthum , Maass, Uebereinstimmimg, mit steigender
Empfänglichkeit gewöhnen. \\'as könnte ihm diese Schule ersetzen?
Und damit mögen sich immerhin eigens auf den Zweck der Stilbildung
berechnete Anleitungen und Uebungen verbinden, die, wenn sie auch, wie
sich aus dem Vorhergehenden ergibt, für den beabsichtigten Zweck keines-
wegs schlechthin nothwendig sind, ihn vielmehr, wenn in verkehrter, rein
äusserlieher Weise aufgefas.st, nur beeinträchtigen können, doch, vom ein-
sichtigen Lehrer mit dem einsichtigen Schüler vorgenonnnen, denselben an
ihrem Theile mögen *f ordern helfen. Nur auf andere Weise , als man sich
die Sache gemeiniglich denkt: nämlich nicht direct, und so als ob sie die
440 Programmenschau.
beabsichtigte Wirkung unmittelbar zur Folge hätten, sondern indirect,
als formales Bilclungsmittel, insofern sie, durch ihre Richtung auf Form und
Ausdruck, überhaupt den Formsinn bilden helfen, und dadurch, also
mittelbar und in zweiter Linie, dem spcciellen Zweck der Stilhildung dienen.
Sie stehen in dieser Weise auf gleichem Boden mit andern Uebungen, die
auf andern Gebieten, namentlich der zeichnenden und bildenden Kunst und
der Musik, die Seele für die Vorzüge der Form empfänglich machen, so
dass sie auch mit diesen Uebungen ihre Kellen wechseln, und stellvertretend
diese für jene und jene für diese eintreten können. Wie nämlich durch
eingehende Betrachtung von Zeichnungen, Gemälden, Bildwerken etc. das
Auge für die Auffassung künstlerischer Verbältnisse geübt, durch Reflexion
über die angewandten Kuustmittel und das Studium ihrer AVirkungen das
Kunsturtheil geweckt und geschärft, dadurch aber überhaupt die Seele für
Maass und Ordnung und Uebereinstimmung und reinen Ausilruck bereitet
und gestimmt wird, und wie dasselbe Resultat in entsprechender AVeise in
der jNIusik durch Gewöhnung des Ohrs an gesetzmässige Tonfolge, an Me-
lodie und Harmonie erzielt wird: so kann und wird auch eine methodische
Schule des Stils, indem sie die Aufmerksamkeit auf die Formen der Rede,
die Nuancen des Ausdrucks und ihre Angemessenheit fesselt, dieselbe all-
gemein bildende Wirkung nicht -verfehlen. Es ist hier wie dort das Gesetz
der Form, das studirt wird, und das, einmal in die Seele übergegangen, jede
Thätigkeit derselben regeln, und so auch Allem, was dieser Thätigkeit ent-
springt, es sei Wort, Gedanke, Willensäusserung oder was es sei, sein Herr-
schersiegel aufdrücken wird.
Es kommt aber darauf an, dass es wirklich in die Seele übergegangen
sei, ihr Denken und Fühlen innerlieh bestimme; so lange dies nicht geschehen,
wird man vergebens im einzelnen Falle , dem unerschlossenen Sinne gegen-
über, auf den Anforderungen der Form bestehen, eben weil sie dem inneren
Bedürfniss dessen, an den sie gemacht werden, und seiner Fähigkeit nicht
entsprechen. Dies ist der Grund, warum Stilregeln und Stilübungen gemei-
niglich so wirkungslos sind; die hinwieder da überflüssig sind, wo der Sinn
für die Form, wie nicht so gar selten der Fall, von Hause vorhanden oder
durch die gewonnene allgemeine Bildung schon erworben ist. Es ist ersicht-
lich, dass alle Vorschriften über Klarheit, Angemessenheit, Präcision etc.
des Ausdrucks, wenn auch noch so gründlich vom Lehrer erörtert und wenn
auch noch so fleissig vom Schüler einstudirt. Letzterem noch gar nicht die
Fähigkeit mittheilen, im gegebenen Falle zu beurtheilen, was nun klar,
nngemessen, präcis etc. sei, und also das Entgegengesetzte zu vermeiden.
Nicht die Gesetze der Optik und ihr wissenGchaftliches Verständniss .sind es,
die uns das Sehen lehren ; wir sehen ohne ihre Kenntniss, ob auch nach
ihnen, wenn unser Auge gesund, unsre Sehkraft ungeschwächt ist; wo diese
fehlt, verhilft auch jene Kenntniss uns nicht zu Gesichtsempfindungen, wir
tappen trotz ihrer im Dunkeln. So auch der Stilschüler. Er tappt im Dun-
keln, trotz Regeln und Vorschriften, und schreibt unklar, verworren, schwer-
fällig, so lange sein geistiges Auge nicht für klare, reine, gefällige Formen
erschlossen ist: es hilfst ihm nicht, dass man ihm sagt, was sein muss, wenn
er es sich selbst nicht sagt. Wenn aber Lehrer und Schüler es sich
nicht verdriessen lassen, wiederholt und immer wieder die Gesetze eines guten
Ausdrucks zu studiren , die Musterschriften der Alten und der Neueren zu
diesem Zweck einer genauen, in's Einzelnste gehende Analyse zu unterwerfen,
auf jede Feinheit, jede Eigenthümlichkeit, jede besondere Färbung, jede
leise, oft halb verborgene Beziehung des Ausdrucks zu achten, und mit diesem
Studium eigene Versuche in der Composition zu verbinden : so wird diese
fortgesetzte Uebung immerhin dazu beitragen, in dem Schüler die Empfäng-
lichkeit für die Form zu wecken und seine Seele zu bereiten, dieselbe aus
eigenem Vermögen zu erzeugen. Dies ist das Ziel, dem solche Uebung zu-
streben muss, und dies ihr rationelles Princip. Doch täusche man sich auch
Programmenschau. 441
so nicht mit zu grossen Erwartungen von ihr! Sie allein kann schwerlich
geben, was, wenn unsre vorhcrfielionde Betrachtung Recht hat, nicht eine
Willkür li c ii e , mechanische Fertigkeit, die dem Zögling von
aussen beizubringen wäre, und die sich Jeder ohne Unterschied
in gleicher Weise aneignen könnte, der sich gewisse Kegeln
und Handgriffe zu merken und durch Wiederholung geläufig
zu machen wüsste , sondern ein innerlich Bedingtes, der Per-
sönlichkeit und individuellen Begabung Entsprechendes, an
die Subjectivität und ihre gesammte Entwickelung Gebun-
denes ist, das zwar, wie alles Innerliche , zu seiner glu cklichen
Entfaltung günstiger äusserer Einwirkungen bedarf und An-
regung, Vorbild, Zucht nicht verschmäht, aber auch so, auch
unter der Pflege der Kunst, nur organisch wie Blüthe und
Frucht aus innerem Lebenstriebe nach eigenem Gesetz sich
bildet: den Stil.
Ueber die Einwirkung der vergleichenden Grammatik auf die
Metliode des französischen Unterrichts an Gymnasien. Von
W. Hornbostel. Programm des Gymnasiums in Ratze-
burg, 1857.
In der Einleitung weist der Verfasser auf die ausserordentlichen Fort-
schritte hin, welche die Sprachvergleichung in den beiden letzten Jahr-
zehnten gemacht und zieht daraus den Schluss, dass die spi-achvergKichende
Grammatik die Grundlage jedes tiefer eingehenden Sprachstudiums werden
müsse. Jeder Philologe hat sich deshalb wenigstens mit den Resultaten
jener Forschungen bekannt zu machen und sollte über ihre praktische Ver-
werthung beim Unterrichte ernstlich nachgedaeht haben, um eine grössere
Einheit in die Methode des Unterrichis einzuführen und eine engere Ver-
bindung der beiden classisehen Sprachen unter einander und mit der Mutter-
sprache anzubahnen (natürlich nur mittelbar). Für den Unterricht in der
französischen Sprache hat die vergleicliende Grammatik noch weit grössere
Bedeutung, indem liier die zu vergleichenden Objecto ganz in das Gebiet
des höheren Schulunterrichts fallen und die Resultate schon viel sicherer
festgestellt und systematisch geonlnet sind.
Hierauf theilt Herr H. seine Ansichten über die Einwirkung der sprach-
vergleiehenden Grammatik auf die Methode des französischen Unterrichts
all Gymnasien mit, wie sich dieselben während seiner praktischen Thätigkeit
ausgebildet haben. Als allgemeine Grundlage wird ausgesprochen,
dass die französische Sprache schon als Vertreterin der ganzen romanischen
Sprachfamilie für wissenschaftliche Bildung unentbehrlich ist, sie hat die
Aufgabe, das aus dem Studium der classisehen Sprachen gewonnene alige-
meine sprachliche Bewussts^'in zu vermitteln nüt der Form der neueren
Sprachen. Die Muttersprache ist keine wissenschaftlieh erlernte, es bedarf
deshalb eines dritten Sprachobjects, welches wie die französische Sprache
den materiellen Inhalt fler lateinischen Sprache mit dem allgemeinen Cha-
rakter der modernen Sprachformen vereinigt. Soll nun aber der Unterricht
in der französischen Sprache als formelles Bildungsmittel für den Geist des
Schülers von Bedeutung werden, so mu^s er sici» möglichst eng an die Be-
liandlung der classisehen S[)rache anschliessen. Als Ziel, welches der Unter-
richt in in dieser Sprache auf dem Gymnasium zu erreichen hat, wird ange-
geben: „Eine genaue Kenntniss der grammatischen Sprachgeselze, hervor-
gegangen aus gründliclHfm grammatischen Unterriehte , cm leichtes Ver-
ständniss wissenschaftlicher französischer Werke, gegründet auf systematische
442 Programmenschau,
und sorgfältige Leetüre der besten, namentlich der historischen Schriftsteller,
und endlich die Fähigkeit, eigene Gedanken correct und zusammenhängend
in französischer Sprache darzustellen." — Ueber die Methode werden sodann
in aller Kürze einige allgemeine Winke gegeben, und die Abhandlung zeigt
danach ganz speciell, wie im P^inzelnen die Resultate der sprachvergleichenden
Grammatik für den Unterricht am besten verwandt und fruchtbringend ge-
macht werden können. Referent unterlässt es, die speciellere Ausführung
an dieser Stelle weiter darzustellen, empfiehlt indessen die methodische Be-
handlung zu möglichst vielseitiger Behandlung und Prüfung. Manche Punkte
sind mit feinem pädagogischen Tacte behandelt worden, und wenngleich
man nicht überall den Ansichten des Herrn H. beipflichten kann, so wird
doch gewiss jeder Lehrer der Iranzösischen Sprache die Abhandlung mit
lebhaftem Interesse lesen und manche gute Lehre daraus ziehen können.
H.
Ueber die drei ältesten süd- und nordfranzösischen Grammatiken.
Programm des Gymnasiums in Tübingen, 1857.
Die wissenschaftliche Abhandlung zur Feier des königlichen Geburtstages
schrieb Prof. Dr. Wildermuth als Anhang einer ausführlicheren Geschichte
der französischen Grammatiken bis zur Gründung der Akademie. Er be-
spricht, nach einer kurzen Notiz über Gauter de Biblesworth, iiber dessen
Bedeutung noch die unrichtigsten Ansichten im Gange sind und nachdem er
den Grund früher grammaticaler Behandlung der französischen Sprache aus
der Geschichte dieser Spraclie selbst und aus Ilirer früheren Erlernung durch
Fremde abzuleiten versucht hat, zunächst den Donatus provincialis, bei dem
ihm leider noch nicht Guessard's neue Auflage zu Gebote stand (S 7), dann
S. 13 VidaVs Dreita maniera de trobar, endlich S. 18 — 31} Jean Pahgrave's
erste nordfranzösische Grammatik, mit verständiger Kritik der drei Werke.
Das Ganze ist eine mit Kenntniss unternommene Arbeit, die auch den
Laien in dieses Gebiet einzuführen wohl geignet sein dürfte.
S.
Des Grafen Bernardino Rebolledo Selvas Danicas. Von I. Ben-
dixen. Programm des Gymnasiums in Ploen, 1858.
Unter den Gedichten des spanischen Grafen Bernardino Rebolledo (geb.
1.597, gest. 167C) gewähren die „Dänischen W'älder," welche mit seinem
Aufenthalte in Kopenhagen (1648 — 16G2) in Verbindung stehen, auch für
uns ein gewisses Interesse. Der erste dieser beiden Wälder enthält dem bei
Weitem grösseren Theile nach einen Ueberblick über die Geschichte der
dänischen Könige von den ältesten Zeiten bis zur Regierung Friedrich des
Dritten, wobei der Dichter, von den religiösen Verhältnissen ausgehend, die
heidnische Zeit als eine tragische, die des Lutherthums als eine der könig-
lichen Majestät unwürdige, die zwischen 'beiden liegende katholische als die
allein wünsclienswerthe darstellt. Die Tendenz dieser Dichtung ist in der
Einleitung wie am Schlüsse deutlich genug in dem Wunsche ausgesprochen,
dass die katholische Lehre in Dänemark wieder allgemeinen Eingang finden
möge. Der Verfasser der oben genannten Abhandlung hat sich nun die
Aufgabe gestellt, aus der Dichtung, von welcher er die bezeichnendsten
Stellen in deutscher Uebersetzung mitgetheilt hat, nachzuweisen, dass die-
selbe eine Zuschrift des Grafen Rebolledo an den König Friedrich den
Dritten sei, welche den Zweck gehabt habe, jenen Monarchen zu bewegen,
Programmenschau. 443
mit Land und Leuten in den Schooss der katholischen Kirche zurückzu-
kehren, sowie dass diese Zuschrift dem Könige wirkUch übergeben worden
sei. Der Verfasser hat die Einwürfe, welche gegen seine Ansichten gemacht
werden können, wohl in Erwägung gezogen und gestützt auf anderweitige
Zeugnisse desselben Dichters zu widerlegen gesucht. \\'ir gehen auf eine
Kritik seiner Beweisgründe nicht näher ein, sondern wollen hierdurch nur
;iuf jene Dichtung aufmerksam machen, die nach der Ansicht des Verfassers
inmierhin „ein interessantes Document und Actenstück über die Bemühungen
der derzeitigen katiiolischen Propaganda im Norden" sein würde.
Von geringerem Interesse ist der zweite, der Königin gewidmete Wald,
eine poetische Beschreibung des Jagd- und Lustschlosses Hirschholm, von
welcher der Verfasser einen gedrängten Auszug mit eingefügter Ueber-
setzung einzelner iStellen gibt.
^^^^^- Dr. Büchsenschütz.
Miscellen.
Französich: Donner un poisson d'Avril a quelqu'un; deutsch:
Jemand in den April schicken.
Woher der Ursprung dieser Sitte und Redensart? Unter poissson
d'Avril versteht man eine Makrele, die sonst maquereau heisst, weil der
reichlichste Fang derselben im April geschieht. Der Makrelenfang wird am
meisten in Frankreich betrieben, besonders im Canal. Dort wird auch die
Makrele am häufigsten eingesalzen. Weil man von diesem Fische glaubte,
dass er, sobald der Frühling gekommen sei. den kleinen Alsen oder Mai-
fischen (aloses), die man in der Volkssprache Jungfrauen (vierges) nennt,
zu folgen und sie ihren Mannchen zuzuführen pflegte (Furetiere v. maquereau),
so nannte man sie maquereau.x oder Kuppler. Einen solchen Kuppler nennt
man umgekehrt auch einen poisson d'Avril. Donner un poisson d'Avril a
quelqu'un wurde nun also wohl zuerst nur auf Frauen und zwar auf Jung-
frauen angewandt. Indem man einer Jungfrau einen solchen Aprilfisch oder
Kuppler schickte oder gab, wünschte man sie durch denselben zu verführen
und anzuführen; und so entstand der Ausdruck, der allmälig in einem weitern
und unschuldigem Sinne gebraucht wurde und die Sitte des Aprilschickens
hervorbrachte. Das französische maquereau und unser Makler ist dasselbe
Wort, mittellat. macarellus, maquerellus, maquerella. Bei diesem Worte ist
der Ausdi-uck für den Fisch nicht als der erste zu setzen und die Bedeutung
Kuppeln daraus abzuleiten, sondern es ist umgekehrt zu verfahren. Auch
sind die beiden Ausdrücke nicht zu trennen, wie es unter Andern auch von
Diez geschieht. Der Fisch ist nicht mit ihm von macula, Fleck, abzuleiten,
weil derselbe über den Rücken gestreift ist. Auch den Kuppler leitete man
von macula ab, in Beziehung darauf, dass die Kuppler der römischen Ko-
mödie sich eines scheckigen Kleides bedient hätten. Dies weist Diez zurück,
indem ihm die Voraussetzung zu gewagt scheint, dass Frankreich ein An-
denken an die römische Bühne verblieben sei, wovon die andern Provinzen
keine Spur besässen. Dagegen billigt Diez die Deutung aus dem nieder-
ländischen maker, von maken, unterhandeln, althochdeutsch mahhari von
mahhön, machinari, huor-mahhari, leno, und dies scheint richtig. Sonst Hesse
sich auch das hebräische mi'ikar, mächar, mahar, verkaufen, kaufen, herbei-
ziehen, welches besonders seine Tochter verkaufen, d. h. verheirathen, be-
deutet, weil der Bräutigam einen Kaufpreis zahlen musste. Auch wird das
deutsche Mäkler hebräisch durch möcher, Mäklerin durch möcharäh und
mOchereth, Mäklerlohn durch mächär und machar wiedergegeben. Alles,
Miscellen. 445
was mit kaufen, verkaufen und bandeln zusamnicidiängt, kann leicht einen
hebräischen Ursprunp: haben. Jedoch ist dem deutschen Ursprunr; hier der
Vorzug zu geben. Die deutsche Sitte und Redensart: Jemand zum April-
narren machen (engl, to niake an April lool of one), oder ihn in den April
schicken, oder, wie Lessing sagt, zum April schicken, und Goethe, in den
April führen, ist daher sicherlich nicht altdeutschen Ursprungs, sondern aus
Frankreich eingeführt. Alan glaubte, es mochte wohl der Ueberrest eines
alten heidnischen Gebrauchs sein, der von irgend einem heidnischen Feste
herriilirtc. Es findet sich aber im deutschen Alterthura keine Spur davon,
wie J. Grimm bezeugt. Einige haben gemeint, dass es wohl einer Nach-
ahmung des Hin- und Ilerschickcns Christi vor seiner Verurtheilung, von
Hannas zu Kaiphas, von Pilatus zu Hcrodes, sei, welches in den mittelalter-
lichen Oster- und Ta^sionsspielen dargestellt wurde. Sonst läge es auch
nahe, an die im Monat April herrschende Veränderlichkeit des Wetters zu
denken, weil, wenn man sich bei seinen Geschäften oder Spaziergängen auf
das Wetter dieses Monats verliess , man leicht und oft angeführt "wurde.
Auch J. Grimm vermuthet, dass der Gebrauch des Aprilschickens erst in
den letzten Jahrhunderten aus Frankreich uns zugeführt sei, doch sei er
dort seinem Ursprünge nach noch nicht aufgeklärt, jedenfalls hänge er mit
dem Beginn des neuen Jahres im April zusammen, was aber nicht der Fall
ist, wenigstens nicht in der Art, wie Grimm es meint, sondern der Ursprung
ist der oben angegebene ignoble. Der franzosische Ausdruck für diesen
Gebrauch ist auch der eigenthünlichstc und charakteristischste; die übrigen
sind schon abgeschliflTener und allgemeiner. Im Italienischen sagt man:
mandare uno in Aprile per la chiave dell' alleluja, gewiss durch deutschen
Einfluss entstanden und nicht alt. In Spanien ist die Sitte und der Aus-
druck gänzlich unbekannt.
Dr. C. A. F. Mahn.
lieber einige Erklärungen in Niemeyer's Commentar zu
Lessing's Nathan.
(Vergl. die Berichtigungen im Archiv XXI, 337.)
Zu V. 364 erinnert Niemeyer an zwei Bedeutungen des Wortes dürfen,
in denen es bei Lessing im Nathan vorkommt. Der seltenern Bedeutung
des Wortes aber, in der es V. 2821 steht:
Auch soll es Nathan schon empfinden, dass
Er ohne Schwemefleisch ein Claristenkind
Erziehen dürfen!
Der Bedeutung wagen ist weder zu V. 364 noch zu Vers 2821 gedacht
worden. Es hätte dabei an das entsprechende englische dare erinnert
werden können.
Zu V. 451 hat Niemeyer eine Note von Nodnagel abdrucken lassen, die
sicher ebenso falsch ist wie die zu den feurigen Kohlen. Die Lehrer des
Hau können doch, da die Derwische Muhamedaner sind, unmöglich die
Bramah nen sein.
Zu V. 508 wird das Er auf Gott bezogen, ich sehe nicht ein, mit
welchem Grunde. Mir scheint der Dichter an dieser Stelle mit dem unbe-
stimmten Er zu spielen. Man pficgt ja wohl, wenn das Herz von dem Ge-
danken an eine Person ganz criullt ist, vorauszusetzen, das müsse auch bei
Andern so sein und dann das unbestimmte Er zu gebrauchen, wo man einen
Archiv f. n. Sprachen. XXIII. 29
446 Miscellen.
bestimmten Namen nennen sollte. Darüber wird nun die geschwätzige Daja
von Nathan verspottet.
Zu V. 532. Die Erläuterung dieser Worte kann ich nicht für richtig
halten. Auch zeichnet sie sich nicht eben durch Klarheit aus. Mir scheint
die ganze Phrase nichts Anderes zu bedeuten, als was sie dem gewöhn-
lichen Sprachgebrauche zufolge sonst bedeutet: der folgt mir nicht, um sich
die Langeweile zu vertreiben, also: nicht umsonst, nicht ohne Grund. —
Die dann folgende Exposition über die Präposition vor scheint mir eben-
falls unrichtig und dabei übersehen zu sein, dass man früher auch und sogar
gewöhnlich sagte: für die Langeweile, was dann nicht schwer zu deuten ist.
Zu V. 2612 werden die Spenden, von denen daselbst die Rede ist, auf
die Abgabe bezogen, welche die Christen für die Erlaubniss zum Besuche
des heiligen Grabes bezahlen mussten. Diese Erklärung passt weder in den
Zusammenhang, noch verträgt sie sich mit den Worten Saladin's: „Wenn
die Christenpilger mit leeren Händen nur nicht abziehen dürfen." Offenbar
sind jene Spenden auf Almosen zu beziehen, welche Saladin den Christen-
pilgern zukommen liess. Und von solchen erzählt, wenn ich nicht irre, auch
die Geschichte.
G.
Der Grieche Trikupis über die neugriechische Sprache.
Wie verschieden auch die Ansichten und Systeme über die Art und
Weise, die herabgekommene und in verschiedenen Beziehungen verkommene
Sprache der Griechen der neueren Zeit zu behandeln, unter den Griechen
selbst noch vor einiger Zeit gewesen sein mögen: jedenfalls hat sich nun-
mehr diejenige Ansicht als die allein gültige und entscheidende durchgear-
beitet, dass man diese Sprache, die Sprache des Volks, die Sprache der
blossen „Gewohnheit" (awr^dtia), nicht sich selbst überlassen dürfe, dass
man sie vielmehr, weil sie historisch und ihrem wesentlichen Grunde nach
die altgriechische Sprache ist, mit feinem Tacte und mit Geschick auf diese
Grundlage, soweit möglich, und ohne ihr selbst und ihren wesentlichen
Eigenthümlichkeiten Gewalt anzuthun, zurückführen müsse. Dieser richtigen
Ansicht der Griechen selbst kommt nun auch von der andern Seite, nämlich
von Seite der Fremden, besonders auch der Deutschen, die Meinung ent-
gegen, dass die sogenannte neugriechische Sprache eben keine neue, keine
besondere und für sich bestehende Sprache, sondern dass sie mit der alt-
griechischen Sprache eine und dieselbe sei, während man sich früher entweder
gar nicht um die neugriechische Sprache bekümmerte, oder sie damit kurz ab-
fertigte, dass sie — eine eigene Sprache sei, die grade die Hellenisten Nichts
angehe. War die altgriechische Sprache selbst noch zur Zeit, nachdem
Constantinopel in die Hände der Tiü'ken gefallen war, im Volke nicht ganz
ausgestorben, so gilt sie jetzt vielmehr bei einem jeden Verständigen als
noch lebend in der Sprache des Volks, in der Vulgarsprache.
Ohne hier in weitere Details über diesen Gegenstand einzugehen, hielt
ich es unter allen Gesichtspunkten für interessant und für lehrreich, die
neuesten Ansichten eines hochgebildeten Griechen über die neugriechische
Sprache und über ihre Behandlung und Behandlungsweise hier mitzutheilen.
Der Grund und der Zweck ergeben sich von selbst. Der in der Ueber-
schrift genannte Trikupis sagt in seiner: Igo^ia t/;s eXltjvixrjg knavagäoecas,
London 1854, Theil I, S. 9 f. Folgendes:
Was die Sprache anlangt, in der ich meine „'laroQia" zu schreiben be-
absichtigte, so wollte ich einen Mittelweg wählen zwischen Denen, die in
der gewöhnlichen Volkssprache und Denen, die gar zu altgriechisch schreiben;
Miscellen. 447
denn ich habe die üeberzeugung, dans nur dieser Weg die noch unbekannten
Grenzen unsrer Sprache enthalt, wenn wir n;iniliob woUen, was wir müssen,
dass die gesprochene und die 8chrii'tsprache zusammentiillen und Eines und
Dasselbe seien.
Unsre Volkssnraclie ist nicht ohne Reize, und Derjenige ist ohne Alles
ästhetische Gefühl für das Scheine, der sie nicht empfindet und ihrer sich
nicht freut, wenn er die in ihr in reinerer (iestalt verl'assten Schrillen liest.
Sie ist nicht bloss die Tochter der altgriechischen Sprache, etwa in dem
Verhältnisse, wie die italienische Sprache die Tochter der lateinischen ist,
sie ist vielmehr mit der altgriechischen Sprache eine und die nämliche; aber
die Liinge der Zeit hat nach und nach deren unvergleichliche Schönheiten
zum Theii umgestaltet. Indess hat sie sich während des Freiheitskampfes
in einem solchen Grade entwickelt, und sie entwickelt sich in Folge der
mannigfaltigen gesellschaftlichen und politischen Bedürfnisse, welche die neue
Ordnung der Dinge im freien Griechenland erzeugt hat, sowie in Folge der
immer mehr erweiterten Kenntniss der altgriechischen Sprache und des
Studiums der AVissenschaften fortwährend dergestalt, dass sie bereits fähig
ist, allen Gedanken des Menschen, sowie allen Leidenschaften desselben den
rechten Ausdruck zu verleihen, gleich den anderen Sprachen der gebildeten
Völker; allein es ist hierbei nach meiner Ansicht grosse Vorsicht nöthig,
damit wir uns nicht über Gebühr von der Volkssprache entfernen, indem
wir gar zu sehr hellenisch schreiben, und wir nicht unvermerkt dahin ge-
langen, eine doppelte Sprache zu besitzen, die des Volks und die der Ge-
lehrten, etwa wie die alten Aegypter zweierlei Buchstaben hatten, heilige
und profane {S>;uü}S>;). Denn im Irrthum ist Derjenige, der da meint, es
sei hinreichend, wenn das Volk nur das verstehe, was der Gebildete
spricht und schreibt. Auch das Volk muss sprechen und schreiben, wie der
Gebildete. Ich meine dies nicht in Betrefl' der Ausdrucksweise desselben,
indem dies vielmehr mit seiner ganzen Natur und seiner Bildung zusammen-
hängt und Folge seiner Studien ist; ich meine dies auch nicht von den
Worten, die der Gebildete braucht, da das Volk nicht die gleiche Erziehung
mit diesem selbst geniesst, wohl aber meine ich es in Ansehung der Bil-
dung und Beugung der einzelnen Kedetheile. Wie verschieden auch die
Gebildeten und Ungebildeten anderer civilisirter Nationen der Gegenwart
sich ausdrücken mögen : sie haben in der Praxis eine und dieselbe Gram-
matik, und sie bilden und beugen die Namen und Worte auf die gleiche
Weise und verTainden letztere nach den gleichen Gesetzen der Syntax.
Uebrigens ist es auch bekannt und einleuchtend, dass dem Volk eine
Sprache nichts nützt, die es hört oder liest, wenn sie es nicht zugleich an-
zieht und ergötzt; eine dem Gehör ungewohnte Sprache aber kann das Volk
nicht anziehen und ergötzen.
Es ist zu beklagen, dass die meisten unsrer Gelehrten, weil das Lesen
der attischen Schriflsteller sie bezaubert hat, von dem obigen Wege
abgewichen sind und ihre dorische Sprache gar zu sehr nach der attischen
umbilden, gleich als ob die Dorisnien dieser Sprache nicht auch hellenisch
wären. Dieses unüberlegt« Jagen nach Atticismen ist besonders auch darum
zu bedauern, weil es die Schriftsprache gar zu sehr von der Volkssprache
entfernt, ohne dieselbe zu bereichern oder zu reinigen, da sie doch solcher
Reinigung sehr bedarf. Diesem Jagen, das Nichts nützt, aber Viel schadet,
muss nach meiner Ansicht Einhalt gethan werden; denn in ungerechter und
unverständiger Weise werden dabei die allgemein üblichen Eij'enthümlich-
keiten eines griechischen lebenden Dialekts in andere nicht übliche Eigen-
thümlichkeiten eines anderen nichc lebenden griechischen Dialekts umge-
staltet. In der That hat diese Wuth nach Atticismen bei uusern Gelehrten
«o lehr überhand genommen, dass ich selbst, wie sehr ich auch dagegen
bin, gezwungen war, mich darnach in Etwas zu richten und dabei Grund-
sätze ofliänbar zu verletzen, die ich für allein richtig und gesund halte.
29»
448 Miscellen.
Das „Bis hierher und nicht weiter!" muss uns als ein heilsamer Wink gelten,
nicht zwar in Betreff der Bereicherung unsrer Volkssprache, die vielmehr
aus den Schätzen der altgriechischen Sprache hinreichend bereichert werden
kann, wohl aber in Ansehung ihres Mechanismus und ihrer Eigenthiimlich-
keiten. Das Volk ist schwierig, wenn es den Schematismus und die Syntax
seiner Rede ändern soll, nicht aber dann, wenn es darauf ankommt, Worte
aus der Sprache seiner Vorfahren zu lernen, die heutzutage nicht im Ge-
brauch sind. Mit Hinsicht hierauf habe auch ich in meiner „Geschichte"
den materiellen Reichthum der heutigen Sprache auf die angegebene Weise
zu vermehren gesucht; allein ich habe in Ansehung der Bildung und der
Syntax an der herrschenden Regel der Gewohnheit Nichts geändert. *) Die
Sprache ist das Eigenthum des ganzen Volks, und wie sehr Derjenige Lob
verdient, der dies Nationaleigenthum bereichert und vermehrt, so sehr ver-
dient Derjenige Tadel, der es veräussert, indem er es nach seinem Gefallen
vertauscht und verwendet. Statt die Vervollkommnung der Sprache zu be-
schleunigen,' hält er sie auf, anstatt den geistigen Fortschritt des Volks zu
befördern, hindert er ihn. Selbst Korais, der gelehrteste und durch kri-
tischen Scharfsinn am meisten ausgezeichnete Grieche seiner Zeit, der mehr
als jeder Andere auch über unsre Sprache nachgedacht und geschrieben hat,
ist diesen Weg gegangen, und er hat uns entschieden gerathen, keinen
andern Weg zu gehen. Ich selbst habe es mir zur Pflicht gemacht und
habe Sorge getragen, dass meine Sprache rein, verständüch, nicht uneben,
sondern gleichartig und regelmässig sei, und ich habe die Gewohnheiten der
Volkssprache nur verlassen, wo sie selbst sich bereits genügend entwickelt
hatte, und nicht ohne Zurückhaltung habe ich Hellenismen und nur dann
in die Sprache aufgenommen, wenn ich sie deren für fähig und empfänglich
hielt.
Viele unsrer Puristen machen der Volkssprache zum Vorwurf, dass sie
nicht frei sei von Gallicismen und Italicismen.**) Zum Glück ist dies in
neuester Zeit anders geworden, und die neugriechische Sprache ist frei von
fremden Wörtern. ***) Allein — welche Sprache ist ohne fremde Idiotismen ?
und wäre denn etwa selbst die attische ohne solche? Vielmehr sagt sogar
Xenophon, und er sagt es gradezu zum Lobe der attischen Sprache, dass
die Attiker „aus verschiedenen Sprachen der Hellenen und der Fremden
(rolv ßaQßÜQov), aus der einen dies, aus der andern das ausgewählt" hätten.
Und wir^ Niclit- Attiker, wollen noch eifrigere Attiker zu sein scheinen,
als selbst die Attiker!?
Ich habe es irgendwo gelesen und ich habe es oft gehört, dass die in
unsrer heutigen Sprache eingeführten Hellenismen der alten Sprache nach
fünfzig Jahren x^dfclofioi sein würden. Wehe uns, wenn wir, pohtisch frei
und frei in der Wissenschaft, frei im Lichte der Cultur, das die Welt er-
leuchtet, nicht gewürdigt werden sollten, vor dem Ende des gegenwärtigen
Jahrhunderts Schriftsteller zu haben, die da berufen wären, uns den rechten
Weg zu zeigen, den wir ohne alle Gefahr zum Ziele zu gehen haben!
So weit Trikupis. In einer Anmerkung (I, S. 355 f.) gibt er in Ein-
zelnem an, wie er es mit der Reinigung und Regelung der Sprache in Be-
*) Hin und wieder ist dies doch gleichwohl geschehen, indem der Ver-
fasser in reineren grammatischen Formen schreibt, als sie dem Volke ge-
läufig sind und dieses sie kennt.
*•) Man kann hinzusetzen, auch nicht frei von den Einflüssen slavischer
und anderer Sprachen.
**♦) Ganz ist dies wohl noch nicht der Fall. Aber bei ihrer Bildsamkeit
kann sie sich der fremden Ausdi-ücke entäussern, wie sie bereits mit Glück
angefangen hat, dies zu thun.
Miscellen. 449
treif des lenrixäi' gehalten habe. Man muss ihm auch hier dem Grundsatze
nach, sowie im Einzelnen vollkommen Recht geben, selbst wenn es scheinen
will, dass er dabei nicht ganz consc(iuent vcrlahren sei, und er in IManchem
wohl noch weiter hätte gehen können und sollen, um die Sprache zu rei-
nigen und zu regeln, ohne — zu hellenisch, namentlich zu attisch zu
werden.
Zur Kenntniss der neugriechischen Volksdialekte.
Je mehr die Ansicht, dass die neugriechische Sprache keine eigene
neue Sprache, sondern nur die mehr oder weniger verderbte und theils in
Folge fremdartiger Einflüsse verschiedener Art zersetzte, theils in ihren ei-
genen Elementen entartete und herabgekommene altgriechische Sprache ist,
in immer weiteren Kreisen an Anerkennung und an Begründung zu gewinnen
scheint, um so interessanter und um so nöthiger ist es "auch, die neugrie-
chische Sprache in ihren einzelnen Dialekten kennen zu lernen und in den-
selben den Zusammenhang zu verfolgen, der unter ihnen, wie zwischen den,
durch Jahrhunderte, ja durch Jahrtausende von einander getrennten Aus-
drucksweisen eines und desselben Volkes stattfindet. Im Allgemeinen wird
jene Kenntniss auch dadurch befördert, dass man gegenwärtig es sich an-
gelegen sein lässt, einzelne griechische Wörter, die im Volke sich erhalten
haben und in den bisherigen Wörterbüchern fehlen, in den verschiedenen
Theilen der vormals griechischen Lander in Europa und Asien, in welchen
noch griechisch redende Bevölkerungen sich finden, sorgfältig zu sammeln
und auf diese Weise den noch unerschöpften griechischen Sprachschatz zu
Tage zu fördern, der dann auch der griechischen Lexikographie ausser
Griechenland mehr oder weniger zu Gute kommen muss. Indess ist davon
hier weiter keine Rede: vielmehr mag dieser Gegenstand einer andern Zeit
vorbehalten bleiben. Allein es gibt auch noch andere Zeugnisse der ange-
gebenen Art, in denen die Ausdrucksweise des Volks, und sogar noch mehr
und lebendiger sich ausprägt, als in blossen einzelnen Wortbildungen. Da-
hin gehören vorzüglich die Volkslieder, die unter allen Umständen, nament-
lich aber dann, wenn sie einen localen Ursprung haben und eine locale
Färbung an sich tragen, welche in gewissen Dialektformen sich kundgibt,
die interessantesten und bedeutsamsten Aufschlüsse über die Sprache selbst,
wie sie im griechischen Volke fort und fort sich erhalten hat, darbieten und
besonders in die einzelnen Dialekte der neugriechischen Volkssprache die
tiefsten Blicke thun lassen. Schon das, was in dieser Hinsicht Prof. Mullach
in Berlin in seiner schätzbaren „Grammatik der griechischen Vulgarsprache"
(Berlin 1856) — ein Buch, das man den Hellenisten nicht genug empfehlen
kann, — S. 88 f. bemerkt hat, genügt vollkommen, um die Wichtigkeit des
Gegenstandes zu begreifen ; aber im Einzelnen ist es nöthig, den vorhan-
denen Stoff durch genauere Untersuchungen und Forschungen erst noch zu
gewinnen und zu Tage zu fördern, um ihn übersehen und den Gegenstand
erschöpfen zu können. Die Griechen selbst kommen uns hierbei entgegen,
indem sie die, besonders in Ansehung einzelner Dialekte wichtigen Volks-
lieder aus dem Leben des Volks entlehnen und anderweit mittheilen. Ich
meine nichts Unnützes zu thun, wenn ich Einzelnes davon auswähle und von
Zeit zu Zeit zur Verfügung der deutschen Sprachforscher stelle, die das
Gebiet der griechischen Sprache zum Gegenstande ihrer besonderen Studien
machen. Ich beginne mit zwei Volksliedern, die ein Grieche aus Kerasunt
in der Nea Ua^'Sown vom 15. April 1858 S. 48 mittheilt, und aus denen die
Eigenthümlichkeiten des kleinasiatischen Volksdialekts klar zu erkennen
sind. Es schien mir unerlässlich, namentlich auch zur Verständigung über
450 Miscellen.
den Sinn der Lieder, die allernothwendigsten Worterklärungen hinzuzufügen,
und ich habe dabei zugleich die spraclilichen Bemerkungen zum Theil mit
benutzt, die der Einsender selbst in der IlnvdcoQa dazu gemacht hat, die
jedoch nicht allenthalben ausreichen. Gedichtet sind übrigens die Lieder in
dem sogenannten politischen Versmaase, das dem versus tetrameter jam-
bicus catalecticus der Alten entspricht.
Evxv 1' £ o V.
Xptcrs' ftov, va enoXves ') fis 's erav öftnltv^) SevtqOV,^)
l\'a 'Sirss*^ UE tioXXa y.aQTtov y.ai x^afisla^') aXcoväata,
lOV,
N« xijpzav '3) v aTtoy.otfiTjd'ovv 's tov xlcova^i fi rcv XamOv. "
II.
O V s i q 0 i' vsavidos.
Kogäaiov slSsv opofiav, '*) xoifinrat fii tö 'raJov '®) dre, '^)
Kl ovTBS '*) yvEfi^si 10) xni teosT, 20) y.oijuäzai fiova/Jaoa. 21)
MaXlov UE ra TtartXiouaTCL ts --) xal fie xa fin^ildioia ts*
Mn^iXagiraia fi anlsoa, ^^) 7canXci/i.ax anE^Sa Xca, '^)
Nr ETtoixETEv'^''') TOV ETatgo fi, ro VEOv xo TiaXXrjy.dgiv ; -^^y
1) TToicö, BTtoiva {sTioiovv). Die neugriechische Vulgarsprache hängt
ein «, wie an andere Wortformen {rovTova, iy.Eivova, statt rovrov^ Ey.eXvoi'),
so auch an die erste Person der Einzahl des Imperfects des Activums. Sie
sagt imO.ovva, (piXovva^ für Efi'Xovv; hier hat sie für eiroiovra die contra-
hirte rorm indiva. 2) 'OfxäXiv — -roVos oualög, die Ebene, das Flachland.
Die Vulgarsprache bildet solche Hauptworte der zweiten Declination häufig
auf IV, auch ohne dass die Endung ursprünglich lov gewesen. 3) Jirrqov —
dtvSQov. '<) "eSivu, Imperfectum von öivco (ßiSio/it), wie die Vulgarsprache
in gleicher Weise ar>]vM für ioTrj^i sagt. Für i'St.ta sagt sie aber auch
iSovva. 5) XafiEXög für yafirjXög. Schon Homer hat ^eqÖs für |/;o()e, und
die neugriechische Vulgarsprache ändert r] in e, z. B. TisydSi für Tti^yäSi
{vTtoy.oQ. von nriyrj), %t.oa für yriqa, ifisls u. s. w. für i)fi£Xs u. s. w. ^) Negönov
— VEQov. Die Vulgarsprache hat neben vielen andern Formen der hnoxo-
Qigiy.ä auch die Endung auf otzos, wie naiSonov {TtaiSäy.t), y.oQtraÖTtov
ly-opiroäxi) u. s. w. ') "Ovrm' für orav. ») Kivio), die active Form in der
Bedeutung des Mediums (für y.ivovfiai), sich bewegen, kommen. ^) nävE
für Ttdyovv (darans näv, wie nä?, Ttä, Ttä/zei', ttüte für Ttäysis u. s. w.) mit
angehängtem c, das die Vulgarsprache in ähnlicher Weise gebraucht wie «
(siehe Anmerkung 1), indem sie dasselbe an einzelne Casus (yi]onvE für
%TjQnv, TiQvs, rovE für t?^;^, tov), sowie an einzelne Verbalformen (ygdj>ovt'E,
tTt/joaPE u. s. w. für yQafovv, ETcfi^av) anhängt. ^°) jtaoxäoEa. Ohne irgend
eine weitere Erklärung hinzuzufügen, bemerkt der Einsender der beiden
Lieder a. a. O. nur, dass dieses Wort „die Anhöhen" bedeute. Ich selbst
weiss es grammatisch und etymologisch nicht zu erklären. ") A" nQ/ovvrav
= V t'QX,(ovTai. 7tii> für tiCvei, iiivEiv. '-) Jt?s — «tto, «tt'. '•*) KfivTav.
Ueber dieses Wort und dessen Sinn gibt der erwähnte Einsender auch nicht
die geringste Andeutung, und ich muss es, auch ohne nur eine Vermuthung
aussprechen zu wollen, dahingestellt sein lassen, was dasselbe bedeuten könne
Miscellen, 451
und wie es grammatisch zu erklären sei. •') '^loxioi — ay.iä. '^) 'Ö^ofinv —
ovei^of. "') ^ralQj: 0 eraJoos, der Geliebte, wie in der letzten Zeile dieses
Liedes. To 'raTpi (refji), das Liebchen. Aus t6 \al^iv wird liier Tal(jv
(siehe Anmerkung 2). '") 'Wrs — «j't/'». i*') "Orxes — oxe. ''J) Fvsfi^ei,
altgriechisch ixry'jfco. Die neugriechische Vul^arsprache braucht das
Wort YVE(pi^(ii in der Bedeutung tlieils von: erwachen, theils einen Rausch
ausschlafen, sowie das Adjectivum tyrscpos für: munter, nüchtern. '^) Teatl
— rr^^el (siehe Anmerkung 5). -') Momyjooa — uoin/i^, fioit]. '^'-) Tg —
Tt;g, avzTJg. '^) yiyj.eoog — fiy./.t;oog, in der ursprünglichen Bedeutung: der
nichts hat, arm: dann: unglücklich, wie das altgriechische nO/uoi und in
der neugriechischen Sprache uaioog. Indess wird es oft, und so auch hier,
ohne alle weitere Bedeutung von Menschen und Sachen gebraucht, wie das
deutsche: arm. ^i) ^TiegSäXia, vielleicht vom altgriechisclien nioÖouui,
nooSaks'a, mit vorgesetztem «, wie dies häufig in der altgrieclilschen und in
der neugriechischen Sprache vorkommt, in der Bedeutung des Hässlichen, Ekel-
haften, Schmutzigen, soviel als ab.scheulich. Uebrigens ist dies Wort auch oft
ohne tiefere Bedeutung. Die neugriechische Vulgarsprache sagt auch : aTvao-
Sä'/.ios. -^) Ar' tTioiy.exev — ri at' (Tt ra) ETtoiaere. ^Ertoly.a (so z. B. auch
in einem der von mir herausgegebenen trapezuntischen Volkslieder, unter
dem Titel: Mi'r^uoairor, Leipzig, 1849, S. 24, Vers 21), Aoristfürm der neu-
griechischen Vulgarsprache, entweder aus dem altgriechischen Perfectum
TtETioirjy.a entstanden oder einfach In derselben Weise zu erklären, wie ähn-
liche Aoriste der neugriechischen Sprache auf xa, z. B. affjy.a, t&rjy.a,
26) Txa/J.T^y.ccQiv — nak/.Tjy.ä^iov.
Leipzig.
Dr. The od. Kind.
Die Schwierigkeiten correcten Druckes.
Wie möglichste Fehlerlosigkelt bei jedem Druckwerke höchst wünschens-
werth erscheint, so ist sie bei Lehr- und Schulbüchern gradezu unerlässlich,
wenn nicht deren Nutzen mehr oder weniger in Frage gestellt werden soll —
eine Behauptung, die kaum einer nähern Begründung bedarf und welche
heutzutage von der Kritik (z. B. auch In den in diesem Archiv enthaltenen
Beurtheilungen) oft scharf geimg in's Auge gefasst wird. Da nun der Leser-
kreis des Archivs aus Männern besteht, welche wohl fast alle theils selbst
Lehr- und Schulbücher herausgeben, theils solche in ihrem Berufe benutzen,
dabei aber zum Theil mit dem Betriebe einer Buchdruckerei zu wenig be-
kannt sein können, um sich über die Entstelmng von Druckfehlern und die
Schwierigkelten Ihrer Beseitigung völlig klar zu sein, so möchte denselben
eine kurze Erörterung dieses Gegenstandes einiges Interesse bieten, zumal
da dem Einen oder Andern in diesen Zeilen ein Wink gegeben werden
könnte, bei der Herausgabe von Drucksachen im Interesse einer möglichsten
Correctheit Verhältnisse zu berücksichtigen, welche seiner Beachtung bisher
entgangen sind.
Wenn dem Setzer leserlich und correct geschriebene Mauuscripte über-
liefert werden, so wird es ihm bei gehöriger Befähigung und einiger Auf-
merksamkeit nicht schwer fallen, einen ziemlich fehlerfreien Satz zu liefern ;
aber oft genug erhält er Handschriften, bei deren erstem Anblick er nicht
zu entscheiden im Stande ist, ob sie hebräisch, koptisch oder chinesisch ge-
schrieben seien, bis er zu seiner Beruhigung entdeckt, dass sie seine Mutter-
sprache enthalten, deren er hinlimgllch mächtig ist, um wenigstens den
grössten Theil der handschriftlichen KUthsel lösen zu können. Bietet aber
452 Miscellen.
ein solches unleserliches Manuscript eine fremde Sprache, enthält es neben-
bei allerlei orthographische und sonstige Inconsequenzen, constructionver-
wirrende oder überhaupt nur häufige Correcturen und P^inschaltungen (auf
deren genaue Bezeichnung manche Autoren leider sehr wenig Sorgfalt \ex-
wenden), Durchstreichtuigen, die zu viel oder zu wenig Worte tilgen, unver-
ständliche Abbreviaturen, verwischte Stellen,' wortverdeckende Dintenklexe
und Gott weiss was soiist für Uebelstände, und der Setzer besitzt keine
hervorragende wissenschaftliche Ausbildung, so muss seine Arbeit nothwendig
von Fehlern wimmeln.
Und doch wird diese Grundbedingung eines correcten Druckes, ein
leserliches und reinliches Manuscript, ganz gegen das Interesse ihres eigenen
Werkes von so vielen Verfassern ausser Augen gesetzt, abgesehen von der
Ungerechtigkeit gegen den Setzer, dem sein Verdienst durch den auf die
Entziflerung der Handschrift verwendeten Zeitverlust in hohem Grade ge-
schmälert wird. I
..Aber ein Setzer sollte doch den zu seinem Berufe erforderlichen Grad
wissenschaftlicher Bildung besitzen ," wird Mancher entgegnen. Ein Druckerei-
besitzer, bei dem sich ein Autor wegen schlechter Correcturen beschwerte,
entgegnete diesem sehr wahr: „Herr Professor, wenn meine Setzer so viel
Griechisch verständen, um ein solches Manuscript richtig lesen zu können,
so würden dieselben vorziehen, ii'gend welches Katheder zu besteigen, an-
statt sich hier vor den Setzkasten zu stellen." Zur Ehrenrettung des Standes
nmss übrigens bemerkt werden, dass nicht wenige Schriftsetzer einer ziem-
lich bedeutenden wissenschaftlichen Ausbildung sich erfreuen und einzelne
selbst mit manchen in Schulämtern angestellten Philologen sich messen
könnten.
„Nun, so sollte man nur Solchen so schwierige Arbeiten anvertrauen!"
wird man sagen. Hierauf ist zu antworten: Intelligente Setzer sind meisten-
theils nicht in Verlegenheit wegen ihres Unterkommens und ziehen oft den
Austritt aus dem Geschäft einer unvortheilhaften Arbeit vor, falls sie nicht
anderweitig gebunden sind; die unbefähigten dagegen, die des lieben Brotes
wegen sich jede Art von Arbeit gefallen lassen müssen, oder strebsame An-
fänger, welche sich der Uebung und Belehrung wegen einer solchen frei-
willig unterziehen, bilden unter den an schwierigen Manuscripteu Arbeitenden
die Mehrzahl, es sei denn, dass der Verdienst liei solchen Werken auch den
Anspruchsvolleren genüge. Aber bei dem Kostenaufwande, welcher mit
wissenschaftlichen Werken, wenigstens den umfangreicheren, verbunden ist
und welcher den Verleger oder Druckereibesitzer zur grössten Sparsamkeit
nöthigt, wird es diesem in den seltensten Fällen möglich sein, bei solchen
Arbeiten einen vorzüglichen Satzpreis zu stellen, welcher für die durch die
schlechte Beschaffenheit des Manuscripts entstehenden Nachtheile entschä-
digen könnte. Ferner gibt es zwar Zeitperioden, wo viele Setzer arbeitslos
umherreisen, eben so oft aber auch, wo es schwierig ist, deren überhaupt zu
bekommen, wo also für den Principal eine Auswahl zwischen guten und
schlechten Setzern gar nicht ausführbar ist.
Nach Vollendung des Satzes geht nun der Correcturbogen in die Hände
des Correctors, von dem wir voraussetzen wollen, dass er die nöthige Be-
fähigung besitzt. Hierzu gehört aber ausser einer soliden allgemein -wissen-
schaftlichen Bildung vor Allem ein gewisses Spürtalent, verbunden mit einem
geübten Auge; mit diesen Eigenschaften ausgerüstet, wird er schon bei ein-
maliger Correctur den Abzug von fast allen Fehlern reinigen können, falls
dieser in Folge guten Manuscripts deren nicht gar zu viele enthält, dies ist
aber unmöglich im umgekehrten Falle. Es ist eine alte Erfahrung, dass je
mehr Fehler eine Correctur enthält, um so mehr auch übersehen werden^
Die Druckfehler oder richtiger Setzfehler beruhen aber einerseits auf
Schwierigkeiten des Manuscripts und wissenschaftlicher Unfähigkeit der
Setzer, wodurch theilweis oder ganz falsche Worte und Wortformen, also
Miscellen. 453
sinnentstellende und grammatische Fehler entstehen; was aber Stylfchler
bctrifFt, so darf Herr Dr. Sachs, wenn er wieder einmal, wie er es mit vielem
Hecht im 23. Bande des Archivs Seite 204 The Eiiglish Prepositions etc.
thiit, nachlässigen Druck rügen nuiss, getrost davon abstehen, aus Artigkeit
gegen den Verfasser solche Fehler dem Setzer in die Schuhe schieben zu
wollen oder gar dem Drucker, wie er nach Analogie des allgemein üblichen
und auch von mir in diesen Zeilen gebraucliten Ausdrucks „Druckfehler"
statt des richtigeren „Setzfehler" sieh ausdrückt; der Drucker wenigstens ist
an allen Fehlern unschuldig. Wenn aber ein Setzer sich Styländerungen
erlauben sollte, so wird es gewiss wohl nur von einem der intelligenteren
geschehen, wobei schwerlich Verböserungen statt Verbesserungen zu Tage
kommen werden.
Andrerseits beruhen die Fehler auch auf den technischen Manipulationen
des Setzers. Wenn er, um seinen geleerten Setzkasten wieder zu füllen, aus-
gedruckte Seiten auseinandernimmt, um von den einzelnen Buchstaben der
Worte einen jeden in das ihm gebührende Fach des Setzkastens zu bringen
(der technische Ausdruck hierfür ist: Schrift ablegen), so ist es kaum zu
vermeiden, dass nicht bisweilen ein Buchstabe statt in sein richtiges Fach
in irgend ein anderes, besonders ein benachbartes, geräth. Wollte sich nun
der Setzer beim Setzen nach jedem Grifli" in ein Fach erst überzeugen, dass
er keinen falschen Buchstaben erfasst hat, so wäre damit ein allzugrosser
Zeitverlust verbunden; er nimmt vielmehr stillschweigend an, dass dieses
Fach lauter a, jenes lauter b, ein drittes lauter c u. s. w. enthält, und daher
entstehen Fehler wie Tater statt Vater, Blrme statt Blume (Ablegefehler).
Ferner veranlasst die Schnelligkeit des Arbeitens auch viele umgekehrt
stehende Buchstaben (lieSen). Sollten solche kleine Fehler übersehen
werden, so wird das die Kritik, falls dieselben nur vereinzelt vorkommen,
leicht verzeihen können, misslicher aber wird es, wenn solche Fehler sinn-
entstellend sind.
Da quält sich nun bisweilen der arme Corrector ab bei einer Correctur,
die mit Fehlern aller Art so reichlich gespickt ist, dass er selbst oft den
Wald vor Bäumen nicht sehen kann und mancher arge Schnitzer seinem
Blicke entgeht. Traurig ist es, wenn der Zeit- und Geldersparniss wegen
solche Arbeiten mit einer einmaligen Correctur abgemacht werden, indess
wird der Corrector meist noch mit einer zweiten Lesung beauftragt. Aber
da muss er denn zu seinem Aerger auf dem zweiten Abzüge wahrnehmen,
dass der Setzer wegen der Menge der angestrichenen Fehler nicht wenige
derselben und oft recht ärgerliche übersehen hat. Zu den stehengebliebenen
Fehlern gesellt sich nun meist noch ein artiges Sümmchen neuentdeckter
und die zweite Correctur sieht noch so bunt aus, dass wahrscheinlich wieder
der eine oder der andere Fehler vom Setzer übergangen wird, wozu dann
noch diejenigen kommen, welche der Corrector selbst übersehen hat. Denn
auc-h er ist nicht immer im Stande, alle Schwierigkeiten des Manuscripts zu
besiegen und selbst bei den tüchtigsten Fachmännern sucht er oft vergebens
sich Raths zu erholen, ist es ja doch vorgekommen, dass der Autor selbst
eine schwierige Stelle seines Manuscripts nicht zu lesen vermochte.
Der Corrector muss aber, um gut zu lesen, sich in einem von Störungen
freien Arbeitslocal befinden, vor allen Dingen aber gehörige Gemüthsruhe
besitzen. Die Störung derselben z. B. durch Aerger über abscheulichen
Satz oder sonstigen Verdruss wirkt nicht nur höchst nachtheiiig auf sein
geistiges, sondern selbst auf sein leibliches Auge, und dies würde bisweilen
in einem noch höhern Grade geschehen, wenn nicht mitunter wahrhaft gottvoller
Unsinn, der vielleicht, seinem Erzeuger unbewusst, den köstlichsten Humor
von der Welt enthält, sich in die Correctur einschliche und ihn zu einer
gewissermassen entschädigenden und erfrischenden Heiterkeit zwänge. Zu
den Hindernissen für den Corrector, seine Arbeit mit Ueberlegung ver-
richten zu können, gesellt sich noch oft ein anderer Umstand. Verhältnisse,
454 Miscellen.
die im Gechäftsbetriebe einer Buchdruckerei begründet und kaum za besei-
tigen sind, deren nähere Erörterung für Unkundige aber zu weit abführen
würde, machen es bisweilen unerlässlich, irgend einen Bogen bis zu einer
bestimmten Frist in Satz und Correctur beendigt zu haben, wenn nicht das
Geschäft empfindliche Nachtheile erleiden soll. In solchen Fällen kann die
Eile, zu der der Corrector angetrieben wird, nur höchst nachtheilig auf seine
Leistung wirken, und manche unsichere Stelle, über die er sich durch Nach-
schlagen in Büchern Gewissheit verschafft hätte, muss er nun, wegen Mangel
an Zeit dazu, sich selbst überlassen.
Auch der Setzer muss sich dann mit der Berichtigung der Fehler be-
eilen und übersieht aus diesem oder einem andern Grunde Dies und Jenes;
er muss vielleicht einen sinnentstellenden Fehler belachen, er theilt denselben
seinen Collegen mit, es fehlt nicht an mancherlei witzigen Bemerkungen
und dies erzeugt bei ihm eine solche Zerstreuung, dass er den Fehler
bereits berichtigt zu haben glaubt, wenn er nach dem Gespräch mit seinen
Nachbarn wieder an die Arbeit eilt, und so spukt der alte Fehler noch
immer in der Correctur.
?? Die meisten Werke werden vor dem Druck von ihren Verfassern noch
einmal überlesen und so geht denn ein Abzug nach vorhergängiger Berich-
tigung durch den Corrector, wo diese Arbeit nicht vom Verfasser selbst
verrichtet wird, an den Letzteren ab. Nun gibt es Autoren, welche neben
ihren Kenntnissen auch grosses Geschick zum Correcturenlesen und oft so-
gar ein so geübtes Auge besitzen, dass ihnen z. B. in lateinischer Schritt
kaum ein verkehrtes s oder ein eckiger Punkt (est statt est, . statt .) ent-
geht. Solche Autoren dürfen, wenn sie die nöthige Mühe und Zeit auf
ihre Correctur verwenden wollen und der Corrector nur einigermassen ge-
nügend vorarbeiten konnte, auf einen sehr correcten Druck ihrer Werke
rechnen, denn selten wird es geschehen, dass die von ihnen angezeichneten
Fehler übersehen würden, da der Geschäftsführer der Druckerei (Factor)
vor dem Drucke revidirt, d. h. auf einem eigenen Abzüge sich überzeugt,
dass Alles berichtigt ist. Wo keine genaue Revision stattfindet und viel-
leicht der Verfasser auf seiner Correctur sich nicht vollkommen deutlich
ausgedrückt hat, ist diese Sicherheit freilich weniger gross. So wurde z. B.
in einer gewissen üfficin ein griechischer Dichter mit lateinischen Anmer-
kungen gedruckt und der Herausgeber fand auf seinem Correcturbogen, dass
die eine Note nicht in der richtigen Reihenfolge stand. Er schrieb deshalb
neben dieselbe: „Dies gehört weiter hinauf!" indem er dem Setzer so viel
Verstand zutraute, er werde die betreffende Note weiter oben an der rich-
tigen Stelle einfügen. Als der Autor nach Vollendung des Druckes die be-
treffende Seite wieder zu Gesicht bekam, fand er die erwähnte Note noch
immer an jener unrichtigen Stelle, der geistreiche Setzer hatte sie jedoch
jetzt mit dem Zusatz versehen: „Dies gehört weiter hinauf!" (Die einzigen
deutschen Worte im ganzen Werke!)
Ebenso gibt es aber auch eine grosse Anzahl von Schriftstellern, welche
kaum das Geringste von dem nöthigen Spürtalent eines Correctors besitzen,
die trotz ihrer Gelehrsamkeit die crassesten Fehler übersehen. Solchen,
ist kein anderer Ruth zu erthellen, als für einen tüchtigen Corrector
zu sorgen, dem die nöthige Müsse gelassen, mindestens eine zweimalige
Correctur übertragen und die Möglichkeit gegeben wird, vor dem Druck
sich von der Berichtigung der von ihm gezeichneten Fehler selbst zu über-
zeugen. Denn die vom Verfasser zurückgesendete Correctur (Verfasser-
correctur) ist von seiner Seite das Eingeständniss, dass der Bogen so, wie
er ihn zurückgebe, zum Druck gut sei, und die OfTScin hat ihm gegenüber,
falls sie sich genau an seine Correctur hält, keine Verbindlichkeiten, mag
er später noch so viel über fehlerhaften Druck sich beklagen wollen. Bis-
weilen wird eine solche Verfassercorrectur auch sehr mit Unrecht als ein
unantastbares Orakel betrachtet und so mancher Factor, der bei der Revi-
Miscellen. 455
slon noch ein Versehen entdeckt, wird sich die Berichtigung desselben nicht
erlauben, wenn es sich nicht auch für ihn, der im specielliii Falle vielleicht
ein wenig competenter Beurtheilcr ist, ganz evident als solches herausstellt,
während doch auch die Autoren Vieles übersehen, ja aus Uebercilung auch
einmal falsch corrigiren können.
Sehr zweckmässig ist es, wenn besonders bei solchen Verfassercorrec-
turen, auf deren Correctheit man sich nicht vollständig verlassen kann, vom
Factor nicht bloss revidirt (verglichen), sondern der ganze Bogen noch ein-
mal überlesen wird, da er gewiss, wenn er der Sprache mächtig ist, noch
Manches verbessern wird. Einer so vielfachen Jagd bedarf bisweilen ein
auffallender Fehler, um beseitigt zu werden! Ueberhaupt kann ein recht
oftmaliges Correcturlesen nicht dringend genug befürwortet werden, denn
es ist unglaublich, aber durch Erfuhrung bestätigt, wie leicht auch geübten
Augen auffallende Fehler mehrmals entgihen können, die bei nochmaliger
Lesung durch ein violleicht weniger geübtes zufällig entdeckt werden. Der
Gründer der berühmten Firma Tauchnitz in Leipzig wünschte seinen stereo-
tyi'irten Homer fehlerlos herzustellen und gelobte nach zehnmaliger sorg-
fältiger Correctur für jeden noch zu entdeckenden Druckfehler einen Du-
caten, aber nur zu bald musste er die grosse Zahl der Einsendungen von Auf-
findungen derselben recht unangenehm empfinden.
Sollte man es aber für möglich halten , dass nach Absetzung eines
guten Manuscripts durch gute Setzer, nach mehrmaliger guter Correctur
und gehöriger Kevision in einem zum Druck für gut erklärten Bogen noch
Druckfehler neu entstehen können? Folgen wir dem Setzer, der soeben
die RcNdsion vom Factor empfing, an die Presse, wo er dieselbe berichtigt.
Der Factor hat unter Anderm einen Buchstaben angestrichen, welcher sich
zu schwarz abdruckt, indem irgend ein kleiner Gegenstand unter denselben
gerathen ist und ihn über das Niveau der übrigen emporhebt. Der Setzer
versucht, durch das Herausziehen dieses Buchstabens und seiner Nachbarn
aus dem hierdurch entstandenen leeren llaum den störenden Gegenstand
vermittelst seiner Ahle zu entfernen, da es ihm aber nicht gelingen will,
steckt er die Buchstaben wieder hinein und bittet den Drucker, die zum
Behufe des Corrigirens gelockerte Form, d. b. die durch einen Rahmen um-
spannten einzelnen Seiten, wieder fest zusammenzuschliessen, so dass sie
sich in Gestalt einer Platte emporheben lassen, damit er von der untern
Seite her dem Uebelstande abhelfen könne. Der Drucker verspricht ihm,
die Sache selbst in Ordnung zu bringen und thut dieses auch, während der
Setzer sich wieder entfernt. Aber aus der nicht fest genug zusammen-
geschlossenen Form fällt hierbei ein Buchstabe heraus; da derselbe nirgends
anders hingehören kann, als in das hierdurch in der Schriftform entstandene
Loch, glaubt der Drucker, denselben, ohne den Setzer incommodiren zu
brauchen, selbst wieder an den richtigen Ort bringen zu können : er voll-
führt es, aber es passirt ihm nur das kleine Versehen, dass er die obere
Seite desselben nach unten kehrt, und so kann es denn geschehen, dass ein
stellesuchender Candidat, der seinen hochgestelHen Gönner in einem Geburts-
tagscarmen mit dem horazischen „mearnm grande decus columen(|ue rerum"
angesungen hat, vielleicht erst nach Absendung des Prachtexemplars auf
einem anderweitigen Abzug entdeckt, dass .sein Mäcen trotz der sorgfältig-
sten Correcturen als „grande pecus" begrüsst ist.*)
*) Dieses Beispiel eines durch den Drucker veranlassten Fehlers wider-
spricht keineswegs meiner obigen Behauptung von der völligen Unschuld
des Druckers an allen F'ehlern und von der Unrichtigkeit des Ausdrucks
Druckfehler. Denn insofern hier der Drucker die Function des Setzers
übernimmt, ist er als solclier zu betrachten, und begeht durch das falsche
Hineinsetzen des herausgefallenen Buchstabens einen Setzfehler.
456 Miscellen.
Im Allgemeinen hat jedenfalls in letzter Instanz der Verfasser die Ver-
antwortlichkeit des correcten Druckes zu übernehmen, wo derselbe diese
dem Corrector übertragen und ihm die Bedingungen einer sorgfältigen
Correctur gewährleistet hat, fällt dieselbe natürlich auf Letzteren. Die
Kritik möge aber bei ihrer Beurtheilung von Druckfehlern die mannigfachen
Schwierigkeiten nicht vergessen, welche ihre Veranlassung sind, dagegen
bei offenbarer Leichtfertigkeit Seitens des Verfassers, des Correctors oder
der Officin fortfahren, im Interesse des Zweckes von Druckschriften, Nach-
lässigkeiten in der Correetheit auch fernerhin mit aller Strenge zu ahnden.
Braunschweig. ^^ ^ ^^^^^
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(Braunschweig, Westermann.) 1 Thlr. 10 Sgr.
Inhalts - Yerzeichniss des XXIIL Bandes.
A b h a n d 1 u n ff e D. Seite
Vorschlag zu einer Encyclopädle der modernen Philologie. Von Dr. C.
Sachs 1
Ungedruckte Briefe a. d. Nachhisse J. A. Ebert's. Von Dr. A. Glaser 9
Beiträge zur englischen Lexikographie. (Zweiter Artikel.) Von G.
Büchmann 25
Spenser und seine Fairy Queen. Von H. Schmick 39
I. Das Urtheil des Herrn von Sehack über MoKeres femmes savantes 03
IL Moliere und der Conventionelle Standpunkt seiner Zeit. Von Dr.
C. Humbert 100
Bemerkungen über den VIcar of Wakefield. Von Ad. Wagler. . . 141
Sitzungen der Berliner Gesellschaft für das Studium der neueren
Sprachen 155
L Was spricht die Sprache? 221
IL Was bedeuten die Töne? Von Krüger 228
Charakterbilder aus Lessings J^milia Galotti. Von Dr. Niemeyer . 237
Ueber das Französisch -Sprechen auf Schulen. Von Dr. Weigand . 2.')9
Zur Erläuterung von W. Shakspeare's Antony and Cleopatra. Von
Carl Blumhof. 2C9
Zur Kritik, P>klärung und Uebersetzung Shakspere's. Von H. J.
Heller 291
Martinus Folonus Chronik der Kaiser und Päpste, herausgegeben von
San Marte (A. Schulz) 337
Sitzungen der Berliner Gesellschaft für das Studium der neueren Sprachen 40-t
ßeurtheilungen und kurze Anzeigen.
Parcival. Rittergedicht von W. v. J2schenbach. Aus dem Slittelhoch-
deutschen übersetzt von San Marte. (B. Büchsenschütz) . . IGl
Der Harlner am Heerd. Ein lyrischer Cyclus von A. Schults . . . 1C4
Gedichte von Carl Stelter. (Dr. Kruse) IGG
A. Das ethnographische Verhältniss der Gelten und Germanen von Dr.
H. B. C. Brandes. (Dr. Mahn.) 170
B. Gelten und Germanen von A. Holtzmann. (Dr. Mahn.) . . . . l'O
Zur Shakspeare - Literatur. (Dr S.) 174
Grammalres proven^ales de Hugues Faidit et de Rajinond Vidal de
Besaudun. Par F. Guessard. (Dr. S.) 177
Flowers of poetry. By Dr. M. Luedecking. (Dr. Oswald.) . . . 178
Die Schauspiele Calderons, dargestellt und erläutert von F. W. V.
Schmidt. Herausgegeben von L. Schmidt 184
Anleitung, dichterische Sieisterwerke auf eine geist- und herzbildende
Weise zu lesen und sich dauernd anzueignen. Von Dr. Eckardt.
(Dr. Sachse.) 185
Bibliothek gediegener und interressanter französischer Werke. Von
Dr. A. Göbel. (Dr. Weeg.) 180
Vollständiger Lehrgang zur Erlernung der englischen Sprache, von H.
Plate. (IL Schmick) 187
Elementarbuch der Iranzösischen Sprache, von Dr. C. A. Wittenhank.
(F. Brockerhoff.; 188
Hand- und Hülfsbuch der Spanischen Sprache und Literatur im 19.
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Methode von Dr. A. Boltz. (Dr. Buch mann.) 195
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Guillermo de Duve y Huebener. (Dr. Büchmann.) 19C
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Ulfilas. Die heiligen Schriften alten und neuen Bundes. Von H. F.
Massmann. — Ulfila, oder die uns erhaltenen Denkmäler der gothi-
schen Sprache. Herausgegeben von F. L. Stamm. (Dr. Sachse.) 415
Lehrbücher der englischen Sprache 416
1. Französische Fibel und erste französische Grammatik. Von Dr.
M. R. Friedmann. — 2. Französisches Elementarbuch von Dr. B.
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von A. Frege. — 4. Die regelmässigen und unregelmässigen franzö-
sischen Zeitwörter von Stolzenburg. — 5, Französisches Uebungs-
buch von F. Rempel. — C. Cours de syntaxe fran9aise (Crouze) 418
Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit 422
Programmenschau.
Schiller's Wallenstein. Von W. Winterstein. (Dr. Büchsenschütz) 198
Des reformes litteraires operees par Malherbe, von Prof. Borel . . . 200
Französische Etymologien vom Oberlehrer Langensiepen . ... . . 200
Beiträge zur Lexikographie des Altfranzösischen. Von Dr. Jensch . 202
Henry Wadsworth Longlellow von G. Büchmann (H.) 203
The English Prepositions Compared In theirs use with those of other
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Die freie deutsche Arbeit in Prima. Von Dr. H. Wendt 425
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PB Archiv für das Studium
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